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Phà Nomenologische Werkstatt - Teilband 3 - Letzte Phã Nomenologische Darstellung - Die âKrisisâ-Problema Z-Libio

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Eugen Fink Gesamtausgabe | 3/3

Eugen Fink

Phänomenologische
Werkstatt
Teilband 3
Letzte phänomenologische Darstellung:
die „Krisis“-Problematik

https://doi.org/10.5771/9783495995341

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https://doi.org/10.5771/9783495995341

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Eugen Fink Gesamtausgabe
Herausgegeben von
Annette Hilt
Cathrin Nielsen
Alexander Schnell
Hans Rainer Sepp
Holger Zaborowski

Beirat
Damir Barbarić (Zagreb)
Rudolf Bernet (Leuven)
Renato Christin (Triest/Berlin)
Natalie Depraz (Paris)
Giovanni Jan Giubilato (Wuppertal)
Wolfhart Henckmann (München)
Catherine Homan (Milwaukee)
Guy van Kerckhoven (Brüssel)
Pavel Kouba (Prag)
Alfredo Marini (Mailand)
Javier San Martín (Madrid)
Käte Meyer-Drawe (Bochum)
Franz Anton Schwarz (Freiburg)
Christopher Turner (Stanislaus)
Helmuth Vetter (Wien)

Band 3/3
https://doi.org/10.5771/9783495995341

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Eugen Fink

Phänomenologische
Werkstatt
Teilband 3
Letzte phänomenologische Darstellung:
die „Krisis“-Problematik

Herausgegeben von
Guy van Kerckhoven | Ronald Bruzina
Francesco Alfieri

https://doi.org/10.5771/9783495995341

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-495-46305-5 (Print)
ISBN 978-3-495-99534-1 (ePDF)

1. Auflage 2023
© Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023.
Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle
Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung,
vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper.

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verlag-alber.de
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„Aber diese Selbstauslegung des Lebens und im Besonderen der Welt erfahrenden
Lebens ist nicht eine bloße Auseinanderlegung, Analyse einer fertig-festen Sache.
Leben ist, was es ist, als intentionale Leistung und immer neue Leistung, und schon,
dass es das ist, ist eine Auslegung, die nicht eigentliche Analyse ist. Und ebenso,
Leben ist, wo es immer zur Fassung kommt, schon Fortleben, das Leben hinter sich
wie neben sich hat, aber nicht in einer bloß naturalen Äußerlichkeit, vielmehr in der
Innerlichkeit einer intentionalen Tradition. Leben ist durch und durch, können wir
auch sagen, historisch ‹…›“
E. Husserl, „Natur und Geist“, Vorlesung vom Sommer-Semester 1927 (Hus-
serliana XXXII, S. 147)
„These: Philosophieren ist erkennendes Fragen, Wissen und Wissenschaft in
ihrem Inhalt, aber nicht als Haltung des Lebens. Denn als solche ist sie die
Selbstbemächtigung des Lebens, das Spiel um die Freiheit.“
Eugen Fink Z-XX 11b, 1935 oder 1936.

https://doi.org/10.5771/9783495995341

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INHALT
des 3. Teilbands des Bandes
Phänomenologische Werkstatt

Letzte phänomenologische Darstellung:


die „Krisis“-Problematik

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Einleitung der Herausgeber II
Erster Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Einleitung der Herausgeber II
Zweiter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Editorische Notiz zur Textgestaltung
des 3. und 4. Teilbandes der Phänomenologischen Werkstatt . . . . . . . . . 283
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

Abschnitt 1. Zettel und Oktavhefte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291


Z-XVI Dessauer Vortrag, 1935; Cartesianische Meditationen, 1932 . . . 293
Z-XVII Verschiedenes, Dessauer Vortrag, 1935 . . . . . . . . . . . . . 317
Z-XVIII Verschiedenes, Husserls Prager Vorträge, 1934-1935 . . . . . . 325
Z-XIX Verschiedenes, Gespräche mit Landgrebe, 1934-1935 . . . . . . 331
Z-XX Verschiedenes, Gespräche mit Landgrebe, 1935-1936 . . . . . . 347
Z-XXI Aristoteles, Metaphysik, 1937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
Z-XXII Ott-Stunde über Husserls Formale und transzendentale Logik,
1936-1937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
Beilage I Einführung in die phänomenologische Philosophie
(Ott-Stunde 1936) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463
Beilage II Plan der Dissertation von Dorothy Ott . . . . . . . . . . . . 467

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Z-XXIII Verschiedenes, 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
Z-XXIV Hegels Phänomenologie des Geistes, 1938 . . . . . . . . . . . 487
Beilage I Versuch einer Auslegung von Hegels Phänomenologie des
Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
Z-XXV Mosaik, 1937-1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539
V-II Welt und Weltbegriff, ca. 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . 621
V-III Schon verwendete Varia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629
OH-I Mosaik I, 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641
OH-II Verschiedenes, 1935 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653
OH-III Lathebiosas, ca. 1935 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671
OH-IV Mosaik II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681
OH-V Verschiedenes, Dessauer Vortrag, 1935 . . . . . . . . . . . . . 693
OH-VI Verschiedenes, 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707
OH-VII Verschiedenes, 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713
OH-VIII Zur Analyse des ‚Sinn‘-begriffes (Morris-Stunde), 1934 . . . . . 731
Zwei lose Blätter
aus den dreißiger Jahren
M- IV „Bibliographisches E.F.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737

Abschnitt 2. Briefe und Entwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739


Brief an Gaston Berger, Mai 1936
‹ohne Originalsignatur› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741
M-III Grammata (zu Husserls „Krisis“), 1933–38 . . . . . . . . . . . . . . 745
Vorschlag zu Husserl:
Manuskript über „Historie als Ursprungsanalyse“
1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807

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Vorwort

Am Sonntag, dem 26. Mai 2019, morgens um 11.10 Uhr verstarb Prof. Dr.
Ronald Bruzina friedlich in seiner Wohnung in der Old Dobbin Road in
Lexington (K.Y.). Kurz zuvor waren seine Söhne Boku und Noël zu Besuch
gekommen. Seine Frau Machiko und seine beiden Töchter Mikelle und Kara
standen ihm in der Todesstunde zur Seite. Prof. Bruzina wurde 83 Jahre alt.
Seit der Veröffentlichung seiner englischen Übersetzung von Eugen
Finks VI. Meditation – als Sixth Cartesian Meditation. The Idea of a
Transcendental Theory of Method1 – im Jahre 1995 und dann 2004 seiner
hervorragenden Studie Edmund Husserl & Eugen Fink. Beginnings and Ends
in Phenomenology 1928–19382 arbeitete Ronald Bruzina unermüdlich an der
Edition der bislang noch unveröffentlichten phänomenologischen Entwürfe
und Notizen Eugen Finks, die in den Jahren von dessen enger Zusammenar-
beit mit dem Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, entstanden
waren. Von den geplanten 4 Teilbänden dieser in Finks Nachlass aufbe-
wahrten Manuskripte zu seiner „phänomenologischen Werkstatt“ waren
inzwischen die beiden ersten Bände als Band 3.1 und Band 3.2 der Eugen Fink
Gesamtausgabe im Jahre 2006 und 2008 beim Verlag Karl Alber in Freiburg
erschienen.3 Sie dokumentieren auf das Genaueste Finks philosophischen
Werdegang und seine innere phänomenologische Entwicklung zur Zeit der
Doktorarbeit und während seiner ersten Assistenzzeit bei Husserl. Damit
gewähren sie zum ersten Mal überhaupt einen umfassenden und direkten
Einblick in jene Arbeiten, mit denen Husserl seinen jungen Mitarbeiter in
den darauffolgenden Jahren betraut hat: der Ausarbeitung eines „systema-
tischen Werkes“ der transzendentalen Phänomenologie, der Umgestaltung
der Méditations cartésiennes für das deutsche Publikum und schließlich der
Veröffentlichung der in Bernau redigierten „Zeitmanuskripte“, um deren
Fortführung Husserl sich in der späten Freiburger Zeit intensiv bemüht hat.

1 Eugen Fink, Sixth Cartesian Meditation. The Idea of a Transcendental Theory of Method.

With textual notations by Edmund Husserl. Translated with an Introduction by Ronald


Bruzina, Bloomington 1995.
2 Ronald Bruzina, Edmund Husserl & Eugen Fink. Beginnings and Ends in Phenomenology

1928–1938, New Haven & London 2004.


3 Eugen Fink, Phänomenologische Werkstatt. Teilband 1: Die Doktorarbeit und erste Assis-

tenzjahre bei Husserl, EFGA 3.1, hrsg. von R. Bruzina, Freiburg/München 2006; Eugen Fink,
Phänomenologische Werkstatt. Teilband 2: Die Bernauer Zeitmanuskripte, Cartesianische
Meditationen und System der phänomenologischen Philosophie, EFGA 3.2, hrsg. von Ronald
Bruzina, Freiburg/München 2008.

Vorwort 9

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In Vorbereitung befanden sich noch die beiden Teilbände 3.3 und 3.4 der
„Werkstatt“-Ausgabe. Sie erschließen das weite Umfeld von Textentwürfen
und Notizen von Finks Hand, die sich um Husserls Ausarbeitung seiner
Wiener und Prager Vorträge gruppierten, in denen sich das philosophische
Vermächtnis seiner gesamten Lebensarbeit eindrucksvoll zu Wort meldet.
Über diese „letzte phänomenologische Darstellung“ – „die Krisis-Proble-
matik“ – hinausblickend, führen die in Finks Nachlass aufbewahrten Zettel,
Notizen und diversen Materialien in eine äußerst bewegte Zeit hinein, in der
sich, mit Bruzinas Worten, „Ende und Neubeginn“ des phänomenologischen
Philosophierens aneinander rieben. In dieser durch den Kriegsausbruch als-
bald überschatteten Gründungszeit des Husserl-Archivs an der Universität
Leuven legte Eugen Fink zusammen mit Ludwig Landgrebe den Grundstein
zum Aufbau der Gesammelten Werke Edmund Husserls.4 Gleichzeitig ver-
suchte er, durch kritische Reflexion und produktive Tiefenbohrung der phä-
nomenologischen Philosophie eine neue Zukunft zu bereiten und darin den
eigenen Denkimpulsen freies Geleit zuzusichern. Mit diesen im 4. Teilband
gesammelten Zeugnissen von „Finks phänomenologischem Philosophieren
nach Husserls Tod“ schloss sich die Tür der „phänomenologischen Werk-
statt“.
Bereits am 26. April 2018 hatte Ronald Bruzina einen Schlaganfall erlit-
ten. Darüber informiert und in Kenntnis seiner nur langsam voranschreiten-
den Rekonvaleszenz, wurden in ständigem Kontakt mit Frau Machiko Bru-
zina und mit Prof. Dr. Hans Rainer Sepp (Prag) bereits Anfang Juni 2018
Schritte eingeleitet, um die noch laufende Editionsarbeit an den Teilbänden
3.3 und 3.4 der „Phänomenologischen Werkstatt“, wie sie in Bruzinas Papie-
ren und sonstigen elektronischen Unterlagen vorlag, in ihrem vollen Umfang
zu sichern. Am 6. Juni 2018 übersandte Ronald Bruzinas Kollege an der
University of Kentucky, Prof. Dr. Bob Sandmeyer, den „Dropbox-Folder“,
der die gesamten elektronischen Editionsunterlagen einschließlich der in
diesem Zusammenhang erzielten Forschungsergebnisse und der zu diesem
Zweck geführten Korrespondenzen enthielt, wie sie in Prof. Bruzinas per-
sönlichem Rechner gespeichert worden waren. Dank der intensiven Recher-
chen und Bemühungen von Prof. Dr. Dan Breazeale, ebenfalls ein langjäh-
riger Kollege von Prof. Bruzina an der University of Kentucky, konnten mit
Unterstützung von Frau Bruzina zudem sämtliche Editionsmaterialien, wie
sie in Form von Typoskripten oder Kopien in Prof. Bruzinas Arbeitszimmer
aufgefunden wurden, gesichtet, gesondert und schließlich am 25. März 2019
in Verwahrung genommen werden.

4 Vgl. dazu: Husserl-Archiv Leuven, Geschichte des Husserl-Archivs/ History of the Husserl-
Archivs, Dordrecht 2007.

10 Vorwort

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Ein erstes Mal gekreuzt hatten sich unsere Wege in jenen Tagen, in
denen das Leuvener Husserl-Archiv die Räume des alten „Michotte-Labo-
ratoriums“ verließ und in das schöne, vornehme Haus des Präsidenten
des Institut supérieur de Philosophie einzog. Vorübergehend waren die
Mitarbeiter des Archivs in der Wohnung Vesaliusstraße 4 untergebracht, die
Eugen Fink selbst kurze Zeit bezogen hatte, nachdem er im Juni 1940 aus
der Deportation in Süd-Frankreich zurückgekehrt war.5 Dort lernte ich Prof.
Bruzina bei einem seiner zahlreichen Forschungsaufenthalte am Leuvener
Husserl-Archiv kennen. Mit lebhaftem Interesse verfolgte er den Fortschritt
der auf Bitte von Frau Susanne Fink Anfang der 1980er Jahre in Leuven in
Angriff genommenen Herausgabe der VI. Cartesianischen Meditation sowie
der Umarbeitungsversuche zu den Meditationen I bis V.6 Bei meinen wieder-
holten Arbeitsbesuchen in ihrer Merzhausener Wohnung hatte Susanne Fink
mir auch die Kartonboxen gezeigt, in denen die zahlreichen Notizhefte von
Finks Hand, die alle aus der Zeit seiner Assistenz bei Husserl stammten,
bis dahin aufbewahrt wurden. Unser reger Gedankenaustausch setzte sich
im Herbst 1984 fort, als ich wenige Monate vor meiner Promotion an der
Katholischen Universität Leuven nach Lexington reiste und in der Old
Dobbin Road die Ergebnisse meiner Forschungen zu Husserls Manuskripten
und seinem Briefwechsel eingehend mit Prof. Bruzina besprach und ihm
zugleich ausführlich über die in Merzhausen vorgefundenen Nachlassdoku-
mente Eugen Finks berichtete.7
Beherzt entschieden wir, in den darauffolgenden Jahren mit aller Kraft
auf die systematische Erschließung von Finks nachgelassenen Manuskrip-
ten und Notizheften hinzuwirken. Mit dem Erscheinen der zweibändigen
Edition der VI. Cartesianischen Meditation in der Reihe Husserliana-Doku-
mente im Jahre 1988 wurde das philosophische Publikum erneut auf die
einzigartige Rolle aufmerksam, die Eugen Fink in der Entwicklung der
späten Freiburger Phänomenologie seines Lehrers Edmund Husserl gespielt
hatte. Darüber hinaus erkannte man das kritische Potenzial, das Finks
eigentümliche Vorgehensweise nach wie vor für die innere Reform und
Neugestaltung der nachhusserlschen Phänomenologie besaß. Es braucht
daher nicht im Mindesten zu verwundern, dass dieselbe Entschlossenheit der

5 Siehe: Axel Ossenkop, Guy van Kerckhoven und Rainer Fink, Eugen Fink 1905–1975.
Lebensbild des Freiburger Phänomenologen, Freiburg/München 2015, Bild Nr. 444.
6 Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen

Methodenlehre, hrsg. von Hans Ebeling, Jann Holl und Guy van Kerckhoven, Hua Dok
Bd. II/1, Dordrecht/Boston/London 1988; Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 2:
Ergänzungsband, hrsg. von Guy van Kerckhoven, Hua Dok Bd. II/2, Dordrecht/Boston/Lon-
don 1988. Siehe ebenfalls: Eugen Fink, Textentwürfe zur Phänomenologie 1930–1932, EFGA
2, hrsg. von Guy van Kerckhoven, Freiburg/München 2019.
7 Vgl. dazu Bruzinas Bericht in „Einleitung des Herausgebers I“, EFGA 3.1, S. XXV.

Vorwort 11

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Edition der Phänomenologischen Werkstatt Eugen Finks in dem Augenblick
entgegengebracht wurde, wo es galt, sie nunmehr erfolgreich zum Abschluss
zu bringen.
Im Einvernehmen mit den Hauptverantwortlichen der Eugen Fink
Gesamtausgabe Dr. Cathrin Nielsen (Wuppertal), Prof. Dr. Alexander
Schnell (Wuppertal) und Prof. Dr. Hans Reiner Sepp (Prag) – wurde der
Entschluss gefasst, die beiden Teilbände 3.3 und 3.4 exakt nach dem von
Ronald Bruzina im ersten Teilband vorgegebenen „Inhaltsverzeichnis“ zu
gestalten. Dabei konnte auf die Transkriptionsarbeiten zurückgegriffen wer-
den, von denen der Alber Verlag auf ausdrücklichen Wunsch von Ronald
Bruzina einen vorläufigen Vorabdruck hergestellt hatte. Diese Vorarbeiten
zur Transkription und zur weiteren Textgestaltung enthielten zudem eine
Fülle von bibliografischen Angaben und Notizen, die das Ergebnis von
Bruzinas langjähriger Erforschung des gesamten Nachlasses sowie der
Korrespondenz Eugen Finks darstellten. Sie boten darüber hinaus wichtige
biografische Aufschlüsse, die verschiedenen Universitäts- und Kriegsarchi-
ven entstammten, die Bruzina während seiner zahlreichen Forschungsaufent-
halte in Freiburg, Leuven und Colmar konsultiert hatte. Für die endgültige
textkritische Gestaltung der beiden Teilbände 3.3 und 3.4 erwies es sich
allerdings als unerlässlich, auf die einschlägigen Originalmanuskripte als
Editionsgrundlage zurückzugreifen. In dankenswerter Weise stellte Frau
Prof. Dr. Annette Hilt (Cusanus-Hochschule Bernkastel/Kues) sämtliche
Kopien der in Frage kommenden Originale zur Verfügung, die sich zu diesem
Zeitpunkt in der Obhut der von Prof. Dr. Stephan Grätzel geleiteten Eugen
Fink-Forschungsstelle an der Universität Mainz befanden. Der Hauptarchi-
var des Freiburger Universitätsarchivs, Herr Alexander Zahoransky, der den
gesamten wissenschaftlichen Nachlass Eugen Finks betreut, ermöglichte das
systematische Einscannen sämtlicher in Freiburg aufbewahrter Notizhefte,
Manuskriptbündel sowie einzelner Typoskripte.
Ein besonderes Problem stellte allerdings die Frage dar, wie der Inhalt
des Teilbandes 3.4 von dem laut Editionsplan unmittelbar darauffolgenden,
mit „Vom Wesen der Philosophie“ überschriebenen Band 4 der Eugen Fink
Gesamtausgabe abzugrenzen war. Wie aus der im 1. Teilband abgedruckten
„Einleitung des Herausgebers I“ zu den beiden Teilbänden 3.1 und 3.2 her-
vorgeht (ebd. S. XXVI, S. XXVII, Anm. 3 und 4), hatte Ronald Bruzina die
Absicht, den Inhalt des Teilbandes 3.4 nachträglich noch um zwei Abschnitte
zu erweitern. Einerseits war es seine Intention, der Nachwelt eine Reihe von
bedeutenden Dokumenten zu erschließen, die als Marksteine des philoso-
phischen Werdeganges von Eugen Fink in diesen Jahren angesehen werden
können – so u. a. die Bestätigung der Eugen Fink am Institut supérieur de
Philosophie erteilten Lehraufträge 1940 durch den Rektor der Universität

12 Vorwort

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Leuven, das Gutachten zu Finks Habilitationsarbeit „Die Idee einer trans-
zendentalen Methodenlehre“ von 1946, die Erteilung der Lehrbefugnis in
Deutschland nach zwölfjährigem Ausschluss von jeder universitären Tätig-
keit in Freiburg (1933) und schließlich die von Fink verfasste „Politische
Geschichte meiner wissenschaftlichen Laufbahn“8. Andererseits betrachtete
Bruzina Finks am 26. Juli 1946 gehaltene Antrittsvorlesung „Die Vorausset-
zung der Philosophie“9 gewissermaßen als Schlusspunkt seines recht umfas-
senden Editionsunternehmens. In den elektronischen Vorlagen fanden sich
deshalb auch die entsprechenden Transkriptionsarbeiten.10
Es ist ein glücklicher Umstand, dass nach ausführlicher Rücksprache
mit Prof. Dr. Hans Rainer Sepp am 19. und am 21. Dezember 2018 Dr. Gio-
vanni Jan Giubilato, der 2016 in Wuppertal mit einer Arbeit über den jungen
Fink promoviert worden war, als Mitherausgeber des Teilbandes 3.4 gewon-
nen werden konnte. Seine Dissertation Freiheit und Reduktion. Grundzüge
einer phänomenologischen Meontik (1927–1946) ist 2017 als Band 8 der Stu-
dien zur frühen Phänomenologie im Verlag Traugott Bautz erschienen. In
Brasilien, wo Giubilato beruflich tätig war, hat er zusammen mit Anna Luiza
Coli und José Fernandez Weber an der Universität zu Londrina (UEL) einen
Fink-Arbeitskreis gegründet. Ebenfalls aus seiner Hand stammt eine italie-
nische Übersetzung von Finks Dissertation Vergegenwärtigung und Bild.
Beiträge zur Phänomenologie der Unwirklichkeit, mit besonderer Berück-
sichtigung der abweichenden Partien aus der „Preisschrift“, wie sie im Teil-
band 3.1 der „Phänomenologischen Werkstatt“ dem Publikum vorgeführt
werden.11 Dr. Giubilato hatte Prof. Bruzina während eines Besuches in Prag
nur kurze Zeit vor seiner Erkrankung persönlich kennengelernt. Da Giubilato
zu diesem Zeitpunkt die Edition von Band 4 der Eugen Fink Gesamtausgabe
in die Wege leitete, dessen Schwerpunkt die ersten Nachkriegsvorlesungen
bilden, die Eugen Fink in Freiburg gehalten hat, wurden mit ihm die noch

8 Abgedruckt in EF05–75, Bilder Nr. 510–515.


9 Vgl. ebd., Bilder Nr. 546 und 548–549.
10 Aus den verschiedenen, in Bruzinas Papieren aufgefundenen Entwürfen zu einem Inhalts-

verzeichnis für den Teilband 3.4 geht hervor, dass er zusätzlich die Veröffentlichung folgender
nachgelassener Texte und Dokumente in Erwägung gezogen hat: ausgewählte Zettel aus der
Kriegszeit: Z-XXXII und Z-XXXIII, Notizen zur Antrittsvorlesung, Zwei Zettel, mit einem
Brief Eugen Finks an den Dekan der Freiburger Universität vom 18. Juni 1945, Lebenslauf
vom 18. Dezember 1945, Unterredung mit Robert Heiß vom 24. Juni 1946, Briefwechsel mit
Stephan Strasser von September bis November 1946, Brief Walter Euckens an den Dekan der
Philosophischen Fakultät vom 4. Juni 1945, Brief des Dekans der Philosophischen Fakultät
Friedrich Brie an den Rektor der Universität Freiburg vom 14. Juni 1945, Brief Eugen Finks
an die Philosophische Fakultät Freiburg vom 18. Dezember 1945, Brief Walter Euckens an die
Landesstelle für Betreuung der Opfer des Nationalsozialismus vom 6. März 1946.
11 Giovanni Jan Giubilato, Eugen Fink. Presentificazione e immagine. Contributi alla fenome-

nologia dell’ irrealtà, Milano-Udine 2014.

Vorwort 13

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ausstehenden Fragen, die sich auf den Umfang des Teilbandes 3.4 bezogen,
ausführlich erörtert. In gemeinsamer Überlegung mit Hans Rainer Sepp
wurde der Beschluss gefasst, den Inhalt des Teilbandes 3.4 auf die beiden
Abschnitte zu beschränken, die im „Inhaltsverzeichnis“ zu den vier Teilbän-
den abgedruckt worden sind. Der Teilband 3.4 der Phänomenologischen
Werkstatt schließt daher mit der erstmaligen Veröffentlichung der Notizen
Eugen Finks aus seinem Kriegstagebuch, der Eremitie.
Am 1. Dezember 2018 bekundete Prof. Dr. Francesco Alfieri OFM brief-
lich sein offenes Interesse, sich an der Herausgabe der nachgelassenen Werke
Eugen Finks aktiv zu beteiligen und sprach zugleich die Hoffnung aus, durch
gemeinsame Arbeit die Edition des umfangreichen Teilbandes 3.3 zügig
abschließen zu können. Denn gerade dieser dritte Teilband stellte Finks Mit-
arbeit bei Husserl in ein polychromes Licht. Durch seine Veröffentlichungen
zu Edith Stein, Hedwig Conrad-Martius und Gerda Walther mit der Ent-
wicklung der „phänomenologischen Bewegung“ auf das Innigste vertraut,12
lehrte Prof. Alfieri zu diesem Zeitpunkt Phänomenologie der Religion an der
Pontificia Universitas Lateranensis. Seine jahrelange Erforschung des Nach-
lasses von Hedwig Conrad-Martius an der Bayerischen Staatsbibliothek in
München unter der Aufsicht des 2015 verstorbenen Dr. Eberhard Avé-Lal-
lemant ermöglichten es ihm, die wissenschaftliche Leitung der italienischen
Ausgabe des Gesamtwerkes der Phänomenologin beim Verlag Morcelliana
in Brescia zu übernehmen. Zurzeit ist er Dozent für Philosophie an der Uni-
versität Vita-Salute San Raffaele in Mailand und auf Bitten der Familie
Severino Archivar des Nachlasses des Philosophen Emanuele Severino aus
Brescia. Seit 2016 war er gleichzeitig Privatassistent von Prof. Dr. Friedrich-
Wilhelm von Herrmann in Freiburg und veröffentlichte mit ihm zusammen
im selben Jahr das großes Aufsehen erregende Buch Martin Heidegger. La
verità sui Quaderni neri, 2018 die Briefdokumentation Martin Heidegger –
Fritz Heidegger. Carteggio 1930–1949.13 Jüngst wandte er seine Aufmerk-
samkeit der „Lebensphänomenologie“ von Anna-Teresa Tymieniecka zu.

12 Francesco Alfieri, La presenza di Duns Scoto nel pensiero di Edith Stein. La questione

dell’individualità, Brescia 2014; ders., The presence of Duns Scotus in the Thought of Edith
Stein. The question of individuality. Analecta Husserliana, Volume CXX, Dordrecht 2015;
Joshua Sinclair, Edith Stein. Una rosa d’inverno. A cura di F. Alfieri, Brescia 2019; Francesco
Alfieri, Die Rezeption Edith Steins. Internationale Edith Stein-Bibliographie 1942–2012.
Festausgabe für M. Amata Neyer OCD, Würzburg 2012; A. Ales Bello, F. Alfieri, M. Shahid
(Hrsg.), Edith Stein, Hedwig Conrad-Martius, Gerda Walther: Fenomenologia della Persona,
della Vita e della Comunità, Bari 2011.
13 Friedrich-Wilhelm von Herrmann und Francesco Alfieri, Martin Heidegger. La verità sui

Quaderni neri. Filosofia 72, Brescia 2016; Francesco Alfieri und Friedrich-Wilhelm von
Herrmann (Hrsg.), Martin Heidegger – Fritz Heidegger. Carteggio 1930–1949. Filosofia 92,
Brescia 2018.

14 Vorwort

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.
Gerade dieser von Francesco Alfieri mitgebrachte Einfallswinkel seiner For-
schungen ermöglichte es, einer allzu einseitig an Edmund Husserl orientier-
ten Betrachtung der philosophischen Grundintentionen Finks einen Riegel
vorzuschieben und ein feines Ohr für die philosophischen Impulse zu ent-
wickeln, die ihn über den der phänomenologischen Transzendentalphiloso-
phie gesteckten Horizont hinausgetragen haben. Schließlich führte ihn sein
Interesse für Eugen Fink auch dazu, eine zweisprachige (deutsch-italienisch)
kritische Ausgabe eines Seminars herauszugeben, das Fink im Winterse-
mester 1969/70 hielt: „Existenz und Natur (in Anschluß an Cesare Pavese.
Gespräche mit Leukò)“14. Diese Ausgabe wird demnächst im Verlag Morcel-
liana in Brescia erscheinen, wo die Werke Eugen Finks dank des großen
Interesses des Verlagsverantwortlichen Prof. Dr. Ilario Bertoletti seit Jahren
veröffentlicht werden, um die Gedanken des Philosophen auch in Italien
bekannt zu machen.
In dem an den Anfang des 1. Teilbandes gestellten Inhaltsverzeichnis zu
der gesamten Edition der Phänomenologischen Werkstatt kündigte Ronald
Bruzina noch eine „Einleitung des Herausgebers II“ an. Vor Beginn des
3. Teilbandes sollte diese die Leserschaft in die philosophische Problematik
einführen, die sich in den zahlreichen Fragmenten der Teilbände 3 und 4 zu
Wort meldet. Weder in den elektronischen Unterlagen noch in den hinterlas-
senen Papieren von Bruzina konnte jedoch ein annähernd ausgearbeiteter
Vorentwurf zu dieser „zweiten Einleitung“ gefunden werden. Nach dem
Vorbild der von ihm redigierten „Einleitung des Herausgebers I“ haben die
Mitherausgeber daher gemeinsam den Entschluss gefasst, mit Umsicht die
Hauptlinien der inneren Entwicklung zu ziehen, die sich in diesen nachge-
lassenen „Werkstatt“-Dokumenten und Textfragmenten abzeichnet, und
dabei auch eigens die neuen Akzente, die Fink selbst setzte, hervorzuheben.
Von maßgeblicher Bedeutung für die phänomenologische Interpretation
sämtlicher, von Fink in dieser Zeitspanne veröffentlichten oder unveröffent-
licht gebliebenen Texte bleibt selbstverständlich das von Ronald Bruzina im
Jahre 2004 veröffentlichte Buch Edmund Husserl & Eugen Fink. Beginnings
and Ends in Phenomenology 1928–1938.
Wie schon von Bruzina vorgesehen, wurde ein Personenregister für
alle vier Teilbände der „Phänomenologischen Werkstatt“ erstellt; hinzuge-
fügt wurde ein in jeder Hinsicht unverzichtbarer Nachweis sämtlicher in
die Phänomenologische Werkstatt aufgenommenen Originalmanuskripte.
Ronald Bruzina beschloss seine „Einleitung des Herausgebers I“ mit dem
Satz: „Der letzte Band wird ein allgemeines Verzeichnis enthalten, das die

14 Vgl. Eugen Fink: „Zu Cesare Pavese, Gespräche mit Leuko‘“, in: ders., Epiloge zur Dich-
tung, Frankfurt am Main 1971, S. 53–112; im Rahmen der Eugen Fink Gesamtausgabe wird
dieses Seminar in Band 10 erscheinen.

Vorwort 15

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.
Themen der gesamten Ausgabe berücksichtigt.“15 Auf die Herstellung eines
solchen übergreifenden Sachregisters, von dem keinerlei Auswahlkriterien
im Vorfeld geklärt waren, haben die Co-Editoren nach Rücksprache mit den
Herausgeberinnen und Herausgebern der Gesamtausgabe verzichtet.
Mit der Veröffentlichung der Teilbände 3.3 und 3.4 der Phänomenologi-
schen Werkstatt wird also ein Doppeltes vollbracht: Zum einen schließen
die Bände die Herausgabe sämtlicher Materialien ab, die Finks langjährige,
unermüdliche Mitarbeit bei Husserl dokumentieren und eine wesentliche
Ergänzung seiner eigenen ersten philosophischen Werke darstellen. Zum
anderen findet Ronald Bruzinas Bestreben, dieses allzu lang verborgene
Unikum vollständig ans Licht zu bringen und der Öffentlichkeit vorzulegen,
eine abschließende Umsetzung.

Guy van Kerckhoven

15 Bruzina, „Einleitung des Herausgebers I“, EFGA 3.1, S. CII.

16 Vorwort

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.
Abkürzungen

In den Verweisen sind die Seitenzahlen der Originalausgabe oder des Manu-
skripts mit [] versehen.

Archive

HA Husserl-Archiv, Katholieke Universiteit Leuven.


EFA Eugen-Fink Archiv. Originaldokumente seit 2006 im Universi-
tätsarchiv Freiburg i. Br. (Sigle E015).

Husserl

Hua Husserliana, Edmund Husserl, Gesammelte Werke. Ausgabe


begründet von Herman Leo Van Breda; aufgrund des Nach-
lasses veröffentlicht vom Husserl-Archiv (Leuven) in Verbin-
dung mit Rudolf Boehm unter Leitung von Rudolf Bernet,
Den Haag 1950ff. (römische Bandzählung).
CM-Hua I Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. von
Stephan Strasser, Den Haag 1950.
Hua III/1 Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi-
schen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in
die reine Phänomenologie. 3. Auflage, neu hrsg. von Karl
Schuhmann, Den Haag 1976.
Hua III/3 Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi-
schen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und
die Fundamente der Wissenschaften, hrsg. von Marly Biemel,
Den Haag 1952.
Hua VI Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die trans-
zendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phäno-
menologische Philosophie, hrsg. von Walter Biemel, Den
Haag 1954.
Hua X Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–
1917), hrsg. von Rudolf Boehm, Den Haag 1966.

Abkürzungen 17

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.
Hua XV Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem
Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935, hrsg. von Iso Kern, Den
Haag 1973.
Hua XVII Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der
logischen Vernunft. Mit ergänzenden Texten hrsg. von Paul
Janssen, Den Haag 1974.
Hua XVII Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der
logischen Vernunft. Mit ergänzenden Texten hrsg. von Paul
Janssen, Den Haag 1974
Hua XXVII Aufsätze und Vorträge (1922-1937). Mit ergänzenden Tex-
ten hrsg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Dor-
drecht 1989
Hua XXIX Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die trans-
zendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte aus
dem Nachlass 1934–1937, hrsg. von Reinhold N. Smid,
Dordrecht 1993.
Hua XXX/1 Logische Untersuchungen. Ergänzungsband, 1. Teil: Ent-
würfe zur Umarbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede
für die Neuauflage der Logischen Untersuchungen (Sommer
1913), hrsg. von Ullrich Melle, Dordrecht/Boston/London
2002
Hua XXXII Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927, hrsg.
von Michael Weiler, Dordrecht 2001.
Hua XXXIII Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein
(1917/18), hrsg. von Rudolf Bernet und Dieter Lohmar,
Dordrecht/Boston/London 2001.
Hua XLII Grenzprobleme der Phänomenologie. Texte aus dem Nachlass
(1908–1937), hrsg. von Rochus Sowa und Thomas Vongehr,
Dordrecht/Heidelberg/New York/London 2014.
Hua Mat VIII Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934): Die C-Manu-
skripte, hrsg. von Dieter Lohmar, Dordrecht 2006.
Bw Briefwechsel, hrsg. von Karl Schuhmann in Verbindung mit
Elisabeth Schuhmann. Husserliana Dokumente III, Dordrecht
1994 (römische Bandzählung).
HChr Karl Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg
Edmund Husserls. Husserliana Dokumente I, Den Haag 1977.

18 Abkürzungen

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.
Fink

Studien Studien zur Phänomenologie 1930–1939. Phaenomenologica


Bd. 21, Den Haag 1966.
VB/1 „Vergegenwärtigung und Bild. Beiträge zur Phänomenologie
der Unwirklichkeit (I. Teil)“, in: Jahrbuch für Philosophie und
phänomenologische Forschung, Bd. XI (1930), S. 239–309;
neu abgedruckt in: Fink, Studien, S. 1–78.
VI. CM/1 VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzen-
dentalen Methodenlehre. Texte aus dem Nachlass Eugen Finks
(1932) mit Anmerkungen und Beilagen aus dem Nachlass
Edmund Husserls (1933/34), hrsg. von Hans Ebeling, Jann
Holl und Guy van Kerckhoven, Husserliana Dokumente II/1,
Dordrecht 1988.
VI. CM/2 VI. Cartesianische Meditation. Teil 2: Ergänzungsband. Texte
aus dem Nachlass Eugen Finks (1930–32) mit Anmerkungen
und Beilagen aus dem Nachlass Edmund Husserls (1932/33),
hrsg. von Guy van Kerckhoven, Husserliana Dokumente II/2,
Dordrecht 1988.
EFGA Eugen Fink Gesamtausgabe, Freiburg/München: Alber.
EFGA 2 Textentwürfe zur Phänomenologie 1930–1932, hrsg. von Guy
van Kerckhoven, 2019.
EFGA 3.1 Phänomenologische Werkstatt. Teilband 1: Die Doktorarbeit
und erste Assistenzjahre bei Husserl, hrsg. von Ronald Bru-
zina, 2006.
EFGA 3.2 Phänomenologische Werkstatt. Teilband 2: Die Bernauer
Zeitmanuskripte, Cartesianische Meditationen und System
der phänomenologischen Philosophie, hrsg. von Ronald Bru-
zina, 2008.
EFGA 4 Vom Wesen der Philosophie (in Vorbereitung)
EFGA 5.1 Sein und Endlichkeit (in Vorbereitung)
EFGA 5.2 Sein und Endlichkeit, hrsg. von Riccardo Lazzari, 2016.
EFGA 6 Sein, Wahrheit, Welt, hrsg. von Virgilio Cesarone, 2018.
EFGA 7 Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol, hrsg. von Cathrin Nielsen
und Hans Rainer Sepp, 2010.
EFGA 10 Epiloge zur Dichtung (in Vorbereitung)
EFGA 11 Grundfragen der antiken Philosophie, hrsg. von Simona Ber-
tolini und Riccardo Lazzari, 2023.
EFGA 13 Epilegomena zu Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“,
hrsg. von Guy van Kerckhoven, Teilbände 1–3, 2011.
EFGA 16 Existenz und Coexistenz, hrsg. von Annette Hilt, 2018.

Abkürzungen 19

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.
ND Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze,
hrsg. von Franz-Anton Schwarz, Freiburg/München 1976.
EF05–75 Eugen Fink 1905–1975. Lebensbild des Freiburger Phänome-
nologen, hrsg. von Axel Ossenkop, Guy van Kerckhoven und
Rainer Fink, Freiburg/München 2015.
FP-Bw Eugen Fink und Jan Patočka, Briefe und Dokumente 1933–
1977, hrsg. von Michael Heitz und Bernhard Nessler (= Orbis
Phaenomenologicus II/1), Freiburg/München 1999.

Heidegger

HGA Martin Heidegger Gesamtausgabe, Frankfurt am Main: Klos-


termann.
HGA 2 Sein und Zeit, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herr-
mann, 1977.
HGA 3 Kant und das Problem der Metaphysik, hrsg. von Friedrich-
Wilhelm von Herrmann, 1991.
HGA 5 Holzwege, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 1977.
HGA 9 Wegmarken, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herr-
mann, 1976.
HGA 19 Platon: Sophistes (Marburger Vorlesung WS 1924/25), hrsg.
von Ingeborg Schüßler, 1992.
HGA 27 Einleitung in die Philosophie (Freiburger Vorlesung WS
1928/29), hrsg. von Otto Saame und Ina Saame-Speidel, 1996.
HGA 28 Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die
philosophische Problemlage der Gegenwart (Freiburger Vorle-
sung SS 1929), hrsg. von Claudius Strube, 1997.
HGA 29/30 Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit –
Einsamkeit (Freiburger Vorlesung WS 1929/30), hrsg. von
Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 1983.
HGA 31 Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Phi-
losophie (Freiburger Vorlesung SS 1930), hrsg. von Hartmut
Tietjen, 1994.
HGA 32 Hegels Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Ingtraud Gör-

Aristoteles Metaphysik Θ 1–3. Von Wesen und Wirklichkeit


land, 1997.
HGA 33
der Kraft (Freiburger Vorlesung SS 1931), hrsg. von Heinrich
Hüni, 2006.
HGA 41 Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzen-
dentalen Grundsätzen (Freiburger Vorlesung WS 1935/36),
hrsg. von Petra Jaeger, 1984.

20 Abkürzungen

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.
HGA 80.2 Vorträge. Teil 2: 1935–1967, hrsg. von Günther Neu-
mann, 2020.

Kant

KrV Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Raymund Schmidt, Philo-
sophische Bibliothek 37a, Hamburg 1952.

Hegel

PhG Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Johannes Hoffmeister,


Philosophische Bibliothek 114, Hamburg 1952.

Abkürzungen 21

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.
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.
Einleitung der Herausgeber II
Erster Teil

I. Ein anderes Gepräge der Phänomenologie

Als sich an seinem Lebenshorizont der 70. Geburtstag abzeichnete, trug


Eugen Fink sich mit dem Gedanken, die phänomenologischen Vorträge
und Aufsätze, von denen die frühesten in seine Zeit als Assistent von
Edmund Husserl zurückreichten, in gebündelter Form zu publizieren, und
notierte sich – wie der spätere Herausgeber Franz-Anton Schwarz in seinem
Nachwort berichtet – als Titel den Vorschlag: Nähe und Distanz.1 Er traf mit
dieser Titelwahl ohne Zweifel den Kern jener Spannkraft, die sein eigenes
Lebenswerk von Anfang an durchzogen hatte – seit den Tagen, an denen
Edmund Husserl auf den jungen, mit einem außerordentlichen Gedächtnis
begabten Schüler aufmerksam geworden und ihn zu sich gezogen,2 seine
philosophische Weiterbildung mit Takt und Feingefühl gefördert und ihn
schrittweise in die Arbeiten eingeführt hatte, mit deren Abschluss er selber
bis zu seinem Lebensende rang.
In seiner „Einleitung des Herausgebers I“ hat Ronald Bruzina den
Versuch unternommen, den philosophischen Fragenkomplex, der durch
die Veröffentlichung der beiden ersten Teilbände der Phänomenologischen
Werkstatt der Forschung erstmals zugänglich gemacht wurde, sorgfältig zu
gliedern und die Hauptwerke und -themen der Zusammenarbeit zu sondieren,
zu der Edmund Husserl seinen Mitarbeiter in diesen späten Freiburger Jahren
eingeladen hatte.3 Großen Wert legte der Begründer der Phänomenologie zu
dieser Zeit darauf, dass für die beiden Werke, mit denen er sich erneut an
das philosophische Publikum gewandt hatte – die Formale und transzenden-
tale Logik und die Méditations cartésiennes – der richtige Resonanzraum
geschaffen wurde.4 Die Veröffentlichung seiner Logischen Studien hatte

1 Franz-Anton Schwarz, „Nachwort“, in: Eugen Fink, Nähe und Distanz. Phänomenologische
Vorträge und Aufsätze, hrsg. von F.-A. Schwarz, Freiburg/München 1976, S. 323.
2 Vgl. Jan Patočka, „Erinnerungen an Husserl“, in: Die Welt des Menschen – die Welt der

Philosophie. Festschrift für Jan Patočka, hrsg. von Walter Biemel und dem Husserl-Archiv
Leuven, Den Haag 1966 (= Phaenomenologica, Bd. 72), S. XI.
3 Bruzina, „Einleitung des Herausgebers I“, in: EFGA 3.1, S. XXXII–XCVIII.

4 Hua XVII; Edmund Husserl, Méditations cartésiennes. Introduction à la phénoménologie.

Traduit de l’allemand par G. Pfeiffer et E. Lévinas, A. Colin, Paris 1931, nouvelle édition par
J. Vrin, Paris 1947.

Einleitung der Herausgeber II 23

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.
er seinem Assistenten Ludwig Landgrebe anvertraut.5 Dessen Nachfolger
ab August 1928 fiel die Aufgabe zu, die als Fortführung und Vertiefung
der von Martin Heidegger zuvor im Jahrbuch veröffentlichten „Untersu-
chungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“6 gedachten,
in Bernau verfassten „Zeitmanuskripte“ für den Druck vorzubereiten.7
Mit ihm zusammen erwog Husserl die Möglichkeit, eine um mindestens
zwei Meditationen erweiterte, grundsätzlich revidierte Fassung des Urtextes
seiner Cartesianischen Meditationen in die Wege zu leiten. Am meisten
gelegen war ihm jedoch an einem „systematischen Grundwerk“ seiner
phänomenologischen Transzendentalphilosophie, mit dem er unmittelbar in
die besondere Situation der deutschen Philosophie Anfang der 1930er Jahre
einzugreifen gedachte.8
Mit Ausnahme der Ausarbeitung seiner „Preisschrift“ zu einer Promo-
tionsarbeit bei Edmund Husserl und Martin Heidegger, die im Jahre 1930
im XI. Jahrbuch unter dem Titel „Vergegenwärtigung und Bild. Beiträge
zur Phänomenologie der Unwirklichkeit. I. Teil“ erschienen war, und der
Veröffentlichung seines in weiten Kreisen bekannt gewordenen Beitrags
„Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwärti-
gen Kritik. I.“ 1933 in den Kant-Studien und im darauffolgenden Jahr im
Berliner Pan-Verlag, war die gesamte phänomenologische Forschungs- und
Editionsarbeit, die Eugen Fink in den ersten fünf Jahren seiner Assistenz
bei Husserl geleistet hatte, nahezu völlig im Verborgenen vonstattengegan-
gen.9 Der Schleier des Geheimnisses, der diese frühen phänomenologischen

5 Vgl. Ludwig Landgrebe, „Vorwort des Herausgebers“, in: Edmund Husserl, Erfahrung und
Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg 1972, S. XXIIIf.
6 Edmund Husserl, „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins“, hrsg.

von M. Heidegger, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung Bd. IX,
Halle/Saale: Niemeyer 1928; ders., Hua X.
7 Finks Umarbeitung der Bernauer Zeitmanuskripte Husserls ist von Ronald Bruzina im

2. Teilband der Phänomenologischen Werkstatt erstmals ausführlich dokumentiert worden.


Vgl. EFGA 3.2, S. 321–441.
8 Die Texte Husserls aus dem Zusammenhang der Umarbeitungen der „Cartesianischen

Meditationen“ und der Vorbereitung des „systematischen Werkes“ hat Iso Kern im dritten Teil
von Zur Phänomenologie der Intersubjektivität (Hua XV) ediert. Finks eigenständiger Beitrag
zur „Erweiterung“ des Urtextes der deutschen „Meditationen“ ist durch die in der Reihe
Husserliana, Edmund Husserl – Dokumente (Hua Dok) erschienenen Bände II.1 und 2 dem
Publikum zugänglich gemacht worden: Eugen Fink, VI. Cartesianische Meditation, Teil 1:
Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre, hrsg. von H. Ebeling, J. Holl und G. van
Kerckhoven (VI. CM/1); Teil 2: Ergänzungsband, hrsg. von G. van Kerckhoven (VI. CM/2),
Dordrecht/Boston/London 1988.
9 „Von einer Hohen Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg preisgekrönte Schrift:

Beiträge zu einer phänomenologischen Analyse der psychischen Phänomene, die unter den
vieldeutigen Titeln, Sich denken ›als ob‹‘,,Sich etwas bloß Vorstellen‘,,Phantasieren‘ befasst
werden.“ Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde einer Hohen Philosophi-

24 Einleitung der Herausgeber II

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Arbeiten umgab, lüftete sich auch dann nicht, als Fink vor der Verleihung
der Ehrendoktorwürde 1971 durch die Universität Leuven 10 die Originalma-
nuskripte zur Problematik von „Zeit und Individuation“, die Husserl ihm
als persönlichen Besitz überlassen hatte, dem Direktor des Archivs, Prof.
Dr. Herman Leo Van Breda, übergab.11 Wie Frau Susanne Fink mir während
eines Besuches in ihrer Wohnung in Merzhausen persönlich mitteilte, erlitt
Eugen Fink an seinem Lebensabend einen Schlaganfall, auf den eine schwere
Depression folgte; daraufhin habe er eine Reihe von bedeutenden Schriften,
die bis in die ersten Jahre seiner Mitarbeit bei Edmund Husserl zurückreich-
ten, vernichtet.12 Eine Ausnahme bildeten allerdings die „Entwürfe zur
Umgestaltung von Husserls Cartesianischen Meditationen“ und die von
Fink selbst ganz neu entworfene VI. Meditation, die an manchen Stellen
handschriftliche Eintragungen mit Bleistift von Husserls Hand enthalten.
Diese maschinengeschriebenen Entwürfe hat er pietätsvoll für die Nach-
welt aufbewahrt.
Umso bedeutsamer ist daher die editorische Leistung, die Ronald Bru-
zina mit der Veröffentlichung der Teilbände 3.1 und 3.2 vollbracht hat.
Denn nie zuvor wurde der Forschung ein derart umfassender Einblick in
die Masse von Notizen, Entwürfen und Skizzen gewährt, die Fink während
der ersten Jahre seiner Assistenz bei Husserl angefertigt hat. Ihre Durchmus-
terung und behutsame innere Gliederung gestattete es dem Herausgeber,
die Denkanstöße zu identifizieren, die auf Finks produktiven Beitrag zu
Husserls Phänomenologie und gleichzeitig auf sein kritisches Hinterfragen
ihrer stillschweigenden „operativen“ Voraussetzungen ein bezeichnendes
Licht werfen. Dabei machte Bruzina keinen Hehl daraus, dass im Zuge der
Aufdröselung dieses dichten Gewebes von eng miteinander verschlungenen
Arbeiten kaum zu überhörende Divergenzen an die Oberfläche traten.13 Da

schen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., vorgelegt von Eugen Fink aus
Konstanz, Halle/Saale: Karras, Kröber & Nietzschmann 1930; Eugen Fink, „Vergegenwärti-
gung und Bild. Beiträge zur Phänomenologie der Unwirklichkeit (I. Teil)“, in: Jahrbuch für
Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. XI (1930), S. 239–309 (VB); Eugen
Fink, „Die Phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik.
Mit einem Vorwort von Edmund Husserl“, in: Kant-Studien 38, Berlin 1933, S. 319–383; dar-
aufhin in: Pan-Bücherei, Gruppe Philosophie, Nr. 18, Berlin 1934; neu abgedruckt in: Fink,
Studien zur Phänomenologie 1930–1939, S. 79–156. – Für diese und die nachfolgenden Anga-
ben siehe auch: Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Bibliographie Eugen Fink, Den Haag 1970,
sowie: Susanne Fink, Ferdinand Graf, Eugen-Fink. Vita und Bibliographie. Ausgabe des
Eugen-Fink-Archivs an der Pädagogischen Hochschule Freiburg o. J.
10 Siehe EF05–75, Bilder Nr. 1446–1456.

11 Vgl. dazu Bruzina, „Einleitung des Herausgebers I“, in: EFGA 3.1, S. LV–LVI, Anm. 88.

12 Vgl. dazu die genauen Angaben in dem Bericht von Prof. F.-W. von Herrmann, in: ebd., S.

XXXIV, Anm. 16.


13 Ebd., S. XXXII–XXXIII.

Einleitung der Herausgeber II 25

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Eugen Fink selbst seine Notizhefte ständig umgeschichtet und im Laufe
der Zeit durch neue „Zettel“ ergänzt hat, die er in die bereits vorliegenden
Bündel integrierte, war es nicht möglich, sie in eine streng chronologische
Reihenfolge zu zwingen. Ein solches Verfahren hätte die faktisch existie-
renden inneren Arbeitszusammenhänge zerstört, für die diese Bündel ein
untrügliches Zeugnis sind.
Pauschal betrachtet überbrücken die in den Teilbänden 3.1 und 3.2
gesammelten Zettel und Varia, Seminarnotizen und Entwürfe, Umarbeitun-
gen von Husserl-Manuskripten und diversen Dokumente insgesamt einen
Zeitraum von sieben Jahren und reichen von 1927 bis etwa Mitte 1934.
Feste Bezugspunkte bilden zweifelsohne die in dieser Zeitspanne vordring-
lich gewordene Publikation der „deutschen“ Cartesianischen Meditationen,
der Bernauer Zeitmanuskripte und des „systematischen Grundwerkes“.
An diesen steinigen Ufern des Lebenswerkes von Edmund Husserl gehen
die hinterlassenen Notizen, Entwürfe und Anmerkungen Finks vor Anker.
Weniger auffällig, aber nicht minder bedeutsam sind indes die – virtuellen
– „Fluchtpunkte“ heute verschollener bzw. damals nicht zur Ausreifung
gelangter eigener Schriftprojekte, mit denen Eugen Fink sich trug. Zu
erwähnen sind hier: der zweite, der „konstitutiv-temporalen Interpretation“
gewidmete Teil der Studie Vergegenwärtigung und Bild, der auf die „aktin-
tentionale Auslegung der thematischen Phänomene“ im ersten Teil folgen
sollte;14 weiterhin die Erwiderung der von Seiten der Dilthey-Schule an
Husserls transzendentaler Phänomenologie geübten Kritik (II.), die an die
Widerlegung der von der Rickert-Schule gegen sie ins Feld geführten
Bedenken (I.) anknüpfen sollte; schließlich das im Zuge der Ausarbeitung
von Husserls Zeitmanuskripten allmählich Gestalt gewinnende „Zeitbuch“,
das Fink bis zu seinem Lebensende als sein geistiges Eigentum betrachtet
hat und aus diesem Grunde in dem Augenblick zurückbehielt, in dem er
Husserls Originalmanuskripte dem Leuvener Husserl-Archiv aushändigte.
Die in Heft Z-XIV erstmals zur Veröffentlichung gebrachten „Pläne für den
Herbst 1934“15 bezeugen eindrucksvoll, dass diese Projekte, die Fink langsam
reifen ließ, als fortwährende Kristallisationspunkte für die Gedankenmassen
fungierten, die er in dieser Periode in seinen zahlreichen Notizheften fest-
hielt.
Dem im Juni 1933 verfassten „Vorwort“ zu Eugen Finks Aufsatz in
den Kant-Studien „Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls
in der gegenwärtigen Kritik“ ist zu entnehmen, dass Husserl an den Auf-
gaben, mit denen er seinen Assistenten betraut hatte, persönlich Anteil
nahm und mit großer Aufmerksamkeit auf deren genaue Erfüllung blickte.

14 Fink, VB, S. 19.


15 EFGA 3.2, insbes. S. 251f.

26 Einleitung der Herausgeber II

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Dass die „vonseiten der verschiedenen philosophischen Schulen“ an der
Phänomenologie geübten Kritiken „den Grundsinn“ derselben „verfehlten“,
die „Standpunktvoraussetzungen“, von denen die Kritiker sich bewusst oder
unbewusst leiten ließen, den gravierenden „Missverständnissen“, die auf
ihr lasteten, Vorschub leisteten, nahm Husserl sich sehr zu Herzen. Die
„methodische Ausgestaltung“ dieses Grundsinnes erforderte nach seiner
Ansicht eine in wiederholten Anläufen durchzuführende „selbstbesinnliche
Klärung“, und die in immer neuen Stufen sich aufdrängenden Probleme eine
immer wieder neu in Angriff zu nehmende „handanlegende konkrete Arbeit“.
In beides band er den jungen Assistenten ein, der mit ihm „nun schon das
fünfte Jahr in fast täglichem Konnex“ stand.16
Hier ist der geeignete Ort, um kurz auf den besonderen Stellenwert
hinzuweisen, der der zwischen August und Oktober 1932 verfassten VI. Car-
tesianischen Meditation innerhalb dieser einzigartigen Konstellation von
Schriftstücken beizumessen ist, in der eine produktive Arbeitsgemeinschaft
objektive Gestalt angenommen hat.17 Wie das „Zeitbuch“, betrachtete Eugen
Fink auch diese „letzte Meditation“ als sein geistiges Eigentum. Als er im
Nachsommer 1940 aus Leuven in seine Heimatstadt Freiburg zurückkehrte,
wo er sich zunächst verschiedenen Gestapo-Verhören stellen musste, bevor
er im Winter desselben Jahres in die Wehrmacht eingezogen wurde,18 nahm
er das von Husserl mit zahlreichen Anmerkungen versehene Schreibmaschi-
nenexemplar in seinem Gepäck mit.19 Die posthume Veröffentlichung dieser
„apokryphen“ Schrift, die einer kurz nach dem Tode Eugen Finks von Frau
Susanne Fink ergriffenen Initiative zu verdanken ist,20 rückte die Natur
des symphilosophein, zu dem Husserl und Fink sich gegenseitig verbunden
hatten, erstmals ins rechte Licht. Endlich konnte man sich ein klares Bild
davon machen, wie zentrale Passagen des vielbesprochenen Kant-Studien-
Aufsatzes, in denen doch eine erstaunlich neuartige Exposition des die
transzendentale Phänomenologie innerlich bewegenden „Grundproblems“
geboten wurde, den unmittelbaren Niederschlag der intensiven Diskussionen
bildeten, die sich entlang der aufeinander folgenden Umarbeitungsversuche
der „deutschen“ Meditationen zwischen Husserl und Fink entsponnen hatten.
Besonders aufschlussreich war außerdem der Umstand, dass Eugen Fink

16 Edmund Husserl, „Vorwort“ zu: Fink, „Die phänomenologische Philosophie Edmund


Husserls in der gegenwärtigen Kritik“, in: Studien, S. VII–VIII.
17 Vgl. VI. CM/1.

18 Siehe EF05–75, Einleitung: „VIII. Kriegswirren“ und „IX. Wehrdienst“, S. 25–26.

19 Siehe dazu Guy van Kerckhoven, Mundanisierung und Individuation bei Edmund Husserl

und Eugen Fink. Die VI. Cartesianische Meditation und ihr „Einsatz“, Würzburg 2003, das
Kapitel: „Die Resonanz der VI. Meditation in Frankreich“, S. 80–81, insbesondere den dort
zitierten Brief Herman Leo Van Bredas an Fernand Aubier vom 17. Dezember 1945.
20 Siehe: „Vorwort“, in: VI. CM/1, S. XII.

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sich nun selbst auf subtile Weise über die philosophische Grundintention
aussprach, die ihn in dieser Arbeitsphase zuinnerst bewegt hatte – deren
Auswirkungen aber keineswegs ausschließlich auf dieses eine, durchaus
eindrucksvolle schriftliche Dokument eingeschränkt werden sollten.
In einem nach Husserls wiederholter Lektüre der „letzten Meditation“
entworfenen „Vorwort“ gab Fink in knappen Sätzen zu erkennen, dass
die in ihr behandelte Problematik „bei aller Nähe zu Husserls Philosophie
durch den Vorblick auf eine meontische Philosophie des absoluten Geistes
bestimmt“ gewesen sei. Was sich in dieser, die transzendentale Phänomeno-
logie ungeheuerlich radikalisierenden philosophischen Projektion in weiter
Ferne abzuzeichnen begann, war nach Fink nichts Geringeres als eine –
im Zuge der VI. Meditation allerdings noch „unausdrücklich“ vollzogene
– „Reduktion des als individueller Geist beginnenden philosophierenden
Subjekts in die vor aller Individuation liegende Lebenstiefe des absoluten
Geistes“21. Die Sprengkraft, die eine solche von Fink in Aussicht gestellte
„Zurückleitung“ für die transzendentale Phänomenologie Husserls besaß,
trat zunächst einmal darin hervor, dass sie jede voreilige Identifikation
des phänomenologisch reflektierenden Subjekts mit dem „Menschen-Ich“
unterband und den wagemutigen Vorstoß eines „phänomenologisierenden
Ichs“ in die Dimension des „fungierenden transzendentalen Lebens“ einer
„absoluten Subjektivität“ aufs Schärfste vom Geschäft einer phänomenolo-
gischen Ontologie der menschlichen Individualität abtrennte. Allerdings
bot sie der von der transzendentalen Phänomenologie Husserls bis dahin
unternommenen „Konstitutionsforschung“ zugleich eine „kritische“ Flanke.
Für Finks innere Entwicklung ist es kennzeichnend, dass er in einer
im „Dezember 1945“ verfassten „Vorbemerkung“ zur VI. Meditation erst-
mals ausdrücklich auf diese an die Phänomenologie der Cartesianischen
Meditationen adressierte Kritik hinwies, die die zu diesem Zeitpunkt als
„Habilitationsschrift“ eingereichte Arbeit, wenn auch in verhüllter Form,
enthielt. „Die hier entwickelte Fragestellung“, so bemerkt Fink, „stellt die
durchgängige methodische Naivität der Méditations cartésiennes eigens in
Frage“. Diese bestehe „in der unkritischen Übertragung der auf Seiendes
bezogenen Erkenntnisweise auf die phänomenologische Erkenntnis der
Bildung (Konstitution) des Seienden“. Was in dieser an Husserls konstitutive
Phänomenologie gerichteten Kritik als ursprüngliche und genuine Fragedi-
mension wirksam wurde, war in Finks eigenen Worten „die Aporie, ob
und wie der Horizont, von dem her letztlich ‚Sein‘ verstanden werden
soll, selbst ‚seiend‘ ist, ob und wie das Sein der Zeitigung des Seienden

21 Fink, „Entwurf eines Vorwortes“, in: VI. CM/1, S. 183.

28 Einleitung der Herausgeber II

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bestimmbar ist“22. Und „Aporie“ bedeutete hier sinngemäß ein undurch-
dringliches Dickicht.
Die „meontische Philosophie des absoluten Geistes“, auf die Eugen Fink
in zahlreichen Arbeitsnotizen und Entwürfen präludierte, war weit davon
entfernt, der transzendentalen Phänomenologie Husserls einen „Königsweg“
vorspiegeln zu wollen. Sie offenbarte sich vielmehr als der freie Platz
eines philosophischen Fragens, den Fink sich schuf, um „ein zentrales Prob-
lem der konstitutiven Phänomenologie“, auf das er seine Aufmerksamkeit
bereits in den Einleitungsparagrafen zu Vergegenwärtigung und Bild. I. Teil
gelenkt hatte, in seinem ganzen Ausmaß austragen zu können – „einen
Problembestand, den es nicht im Ansatz zu erledigen, sondern in seiner
ganzen drängenden Wucht ausschwingen zu lassen gilt“: „die ontologische
Undurchsichtigkeit der Subjektivität des transzendentalen Subjekts“.23 Die
„topische“ – sich am Faden einzelner Topoi entlang hangelnde – Reflexion
der VI. Cartesianischen Meditation, wie sie sich eben in den Saum des Textes
der Husserlschen Meditationen einschrieb, stellt ihrerseits nur eine Moment-
aufnahme der außerordentlichen Schwungkraft dar, die diese philosophische
Problemstellung besaß. Ihr Schwingungskreis umfängt in Wahrheit die
gesamte Phänomenologische Werkstatt.
An zwei Stellen seiner „Einleitung des Herausgebers I“ zu den beiden
der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Inhalten der Teilbände 3.1 und 3.2
der Phänomenologischen Werkstatt blickt Ronald Bruzina bereits auf die
Aufgabe voraus, die einer zweiten „Einleitung“ zu den sich zu dieser Zeit
noch in Vorbereitung befindlichen Teilbänden 3.3 und 3.4 zufallen würde.
Gemäß dem im Teilband 3.1 abgedruckten Aufriss des „Inhalts“ sollte eine
solche „Einleitung des Herausgebers II“ an den Anfang des Teilbandes 3.3
gestellt werden.24
Am „Schluss“ seiner wegweisenden Einführung in die Phänomenologi-
sche Werkstatt deutet Ronald Bruzina nochmals darauf hin, dass „mit Fink
an Husserls Seite das Fragen eine andere Kraft und eine Beharrlichkeit
gewann, die neue Aspekte einer Phänomenologie eröffnete, die ansonsten
vielleicht dazu tendiert hätte, in ihren Gewohnheiten zu erstarren“25. Das
„andere Gepräge“, das die Phänomenologie in Husserls letzter Arbeitsphase
zusehends erhielt, wurde ihr in erheblichem Maße durch die „überspannende
methodologische Bedeutung“ verliehen, welche die von Fink mit Behutsam-
keit suggerierte „meontische Interpretation“ für eine Analyse besaß, die es
sich zutraute, bis in die letzte Stufe der „konstitutiven Ursprungsdimension“

22 Fink, „Vorbemerkung zur Habilitationsschrift. Dezember 1945“, in: VI. CM/1, S. 184.
23 Fink, VB, S. 9.
24 EFGA 3.1, „Inhalt“, S. XIII.
25 Bruzina, „Einleitung des Herausgebers I“, in: EFGA 3.1, S. XCVII.

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vorzudringen.26 Indem er die Tür der „letzten phänomenologischen Darstel-
lung“ aufstieß,27 blickte Bruzina schon auf die neue Landschaft voraus, die
sich am anderen Ufer erstreckte – von dem Zeitpunkt an, an dem das vinculum
fidei et amoris, das Fink mit Husserl verband, zerrissen wurde und er sich
von seinem Lehrer endgültig verabschiedete. „Die nachfolgenden Bände
werden zeigen“, so notiert Bruzina in einer Anmerkung, „wie Finks Beitrag
zur letzten Entwicklung der Phänomenologie Husserls zu einem Denkpro-
gramm jenseits des Husserlschen Ansatzes wird, das zwar den Wurzeln der
phänomenologischen Philosophie, von der Fink ausging, entstammte, doch
ihn zu einer Unabhängigkeit von der Husserlschen Phänomenologie führte.
Dies darzustellen wird u. a. Aufgabe der ‚Einleitung des Herausgebers‘ in
EFGA 3.4“28.
Wo befindet sich der Ort, von dem man sagen muss: hic Rhodus, hic
salta? Das ist zweifellos die Frage, die jeden aufmerksamen Leser, der das
Labyrinth der Phänomenologischen Werkstatt auszuspähen gewillt ist, in
Atem halten wird. Wenn man, wie Ronald Bruzina, die Gedankenflut, die
sich in den beiden ersten Teilbänden ausbreitet, mit Präzision zäsiert, kann
man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ein Hauch von Überheblichkeit
eine Transzendentalphilosophie jeweils dann anzuwandeln scheint, wenn
sie sich anschickt, die spezifisch phänomenologische Arbeitshaltung einer
strengen Deskription der in der „immanenten Wahrnehmung“ gegebenen
Bewusstseinsakte und ihrer „intentionalen“ Korrelate nicht rigoros beizube-
halten. Hier gilt es allerdings auf die Eigenart von Finks philosophischem
Prozedere zu achten, das uns mit der VI. Meditation bereits auf exemplarische
Weise vorgeführt worden ist. Der „letzte“ Weg, den Fink mit Husserl gegan-
gen ist, war in jeder Hinsicht ein „Rand-Gang“, ein Weg in der Marge der
reinen Bewusstseinsphänomenologie, die sich in der Krisis-Schrift nochmals
dazu aufmacht, sich über ihre Bedeutung für eine künftige philosophische
Grundlegung der Wissenschaften ausführlich zu beraten. Ronald Bruzina
weist darauf hin, dass gerade der Umstand, dass Husserl die dabei von ihm ins
Auge gefasste „Ontologie der Lebenswelt“ wiederum den Erfordernissen des
„erkennenden Geistes“ unterstellte, dazu geführt haben mag, dass es „hier
auch zu den stärksten Divergenzen zwischen Husserls Konzept von Ziel und
Programm der Phänomenologie und dem von Fink als erforderlich anerkann-
ten“ gekommen ist. Ein zweites Mal blickte Bruzina auf die Aufgabe voraus,
die durch eine zweite, zusätzliche „Einleitung“ erfüllt werden sollte, als er
schrieb: „Diese Sachlage und ihre Entwicklung weisen über die ersten drei

26 Ebd.
27 Vgl. die Titelangabe des 3. Teilbandes der Phänomenologischen Werkstatt.
28 Bruzina, „Einleitung des Herausgebers I“, in EFGA 3.1, S. XCVII, Anm. 270.

30 Einleitung der Herausgeber II

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Bände der vorliegenden Edition hinaus: ihnen wird sich die ‚Einleitung‘ des
letzten Bandes widmen.“29
Bei seinem letzten Besuch in meiner Wohnung war Ronald Bruzina noch
voller Zuversicht, auch diese Aufgabe bewältigen und damit das gesamte
Editionsprojekt, das er mit unermüdlichem Eifer über viele Jahre hinweg
vorwärtsgebracht hatte, seinem nahenden Endziel zügig entgegenführen zu
können. Die Mitherausgeber haben gemeinsam den Entschluss gefasst, diese
Lücke in ehrendem Andenken an Prof. Bruzina zu schließen.

II. Wendepunkte

Wer wie Jan Patočka zu Beginn des Sommersemesters Mitte Mai 1933 in
Freiburg eintraf und bei Edmund Husserl und Eugen Fink vorsprach, der
gewann von der sich ihm dort allmählich offenbarenden „philosophischen
Landschaft“30, von „jenem Land der Tiefendimension, die […] in Freiburg
ihren Anknüpfungspunkt an die Wirklichkeit hatte“31, einen nachhaltigen,
ja unauslöschlichen Eindruck. Der damals achtundzwanzigjährige Eugen
Fink nahm durch sein freundliches Wesen den aus Berlin anreisenden
Humboldt-Stipendiaten sofort für sich ein. Durch „sein edles, vergeistig-
tes Physisches“32 wirkte er auf den jungen Kollegen, der ihn „auf den
langen Spaziergängen auf den Hängen des Schlossbergs“ bis zur Kapelle
Sankt-Ottilien hinauf begleiten durfte33 und so „in die weiten Gänge der Phä-
nomenologie“ eingeführt wurde, ungewöhnlich kräftigend ein. „Es war“, so
erinnert sich Jan Patočka, „als ob man mit dem jungen Schelling oder Hegel
gewandert wäre“.34 „Was bei Fink ungemein imponierte, war seine Kunst
des Fragens, die nie auszugehen schien“35. Der Stoßkraft dieses sich in den
Grundsinn der Phänomenologie immer weiter einbohrenden Fragens wurde
Patočka in ihrem vollen Ausmaß erstmals gewahr, als er im Dezember 1976
den von Franz-Anton Schwarz verdienstvoll herausgegebenen Sammelband
Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze in den Händen
hielt. „Denn dieses Bändchen gibt so viele Einsichten in ‹Finks› geistige

29 Ebd., S. LXXV.
30 Brief Jan Patočkas an Eugen Fink vom Ostersonntag 1975, in: Eugen Fink und Jan Patočka,
Briefe und Dokumente 1933–1977, hrsg. von Michael Heitz und Bernhard Nessler (= Orbis
Phaenomenologicus II/1), Freiburg/München 1999, S. 123 (FP-Bw).
31 Ebd., S. 124.

32 Patočka, „Erinnerungen an Husserl“, S. 274f.

33 Brief Jan Patočkas an Eugen Fink vom Ostersonntag 1975, in: FP-Bw, S. 123. Siehe: EF05–

75, Bilder Nr. 267–269.


34 Brief Patočkas an Fink vom Ostersonntag 1975, in: FP-Bw, S. 123.

35 Patočka, „Erinnerungen an Husserl“, S. 276.

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Werkstatt, wie sonst nur weniges. Da sieht man, was er in Husserl erlebte,
jene Kraft der philosophischen Existenz, welche Staunen lehrt über das
alltäglich Selbstverständliche; jenen Impetus zur,Verkehrung‘ der Welt, jene
Tapferkeit des Blicks, welche das Problem ausbildet – dass er vor allem die
Husserlsche Epoché würdigte und die daran sich anschließende Reduktion,
welche für ihn ein Meditationsthema verblieben, weit über die Zusammenar-
beit mit Husserl hinaus.“36 Legte Fink in dem Büchlein Nähe und Distanz
„Rechenschaft ab über sein denkerisches Verhältnis zu den beiden Großen,
zu Husserl und Heidegger, deren weitgehend ebenbürtiger Gesprächspartner
er doch war und als solcher bestimmt erscheinen wird, wenn wieder mal die
Philosophie zu ihren Rechten kommt“37, so hatte Patočka schon während der
ersten Freiburger Begegnungen aus den lebhaft geführten Gesprächen den
unverkennbar eigenen Ton heraushören können, den viele Einwendungen
und Bemerkungen des jungen Assistenten, die ihm zeitlebens unvergesslich
geblieben sind, verlauten ließen. „Husserl und Fink waren damals vor allem
mit der Problematik der phänomenologischen Reduktion beschäftigt als
Schlüssel zum phänomenologischen transzendentalen Idealismus. Fink war
darauf aus, diesen Idealismus als einen kreativen zu interpretieren und die
Analogien zum deutschen Idealismus hervorzuheben, dessen vorzüglicher
Kenner er war, während Husserl selbst nie aufhörte, auf die Bedeutung des
englischen Empirismus hinzuweisen, dem er große Teile seiner Ausbildung
schuldete.“38 Allerdings „betonten Fink und Husserl aber gemeinsam immer
wieder, dass man sich einem konkreten Einzelproblem zuwenden solle,
um von dort her erst die allgemeine Bedeutung der phänomenologischen
Methode verstehen zu lernen“.39 Es entging Jan Patočka dabei keineswegs,
dass in der Art und Weise, in der Fink das „Grundproblem“ der transzen-
dentalen Phänomenologie Husserls neu zu formulieren unternahm, „eine
unthematische Auseinandersetzung mit Heidegger“ ständig, wenn auch nur
unterschwellig am Werke war. Als Patočka „den erlebten Hexenkessel des
Berlins des Jahreswechsels 1932/33“40 gegen das frühlingshafte Freiburg
der dritten Maiwoche 1933 eintauschte, konnte er kaum erahnen, welche
drückenden Sorgen damals auf Husserl lasteten, „die mit dem Schicksal
seines Werkes, dieser ungeheuren, emsigen Arbeit jedes Tages und jeder
Stunde zusammenhingen“41, und welche bedrängenden Schwierigkeiten
den Zukunftsaussichten des aufstrebenden Assistenten entgegenstanden.

36 Brief Jan Patočkas an Susanne Fink vom 23. Dezember 1976, in: FP-Bw, S. 142.
37 Ebd., S. 141.
38 Patočka, „Erinnerungen an Husserl“, S. 275f.
39 Ebd., S. 276.
40 Ebd., S. 274.
41 Ebd., S. 277.

32 Einleitung der Herausgeber II

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„Die zwei Philosophen führten da ein Leben, welches mir damals eine
Neuigkeit war. Sie schienen sich nicht zu kümmern um die bedrückende
politische Wirklichkeit, welche sie umgab und ihre Schicksale nolens volens
bestimmte. Sie hatten ihre Aufgabe, der sie desto eifriger lebten, und gaben
mir damals ein erstes Beispiel dessen, wie außerhalb der lauten Offizialität
ein geistiges Leben im echten Sinne trotz allem gedeihen kann.“42
Aufgrund der heute zugänglichen Quellen muss dieses recht „idyllische“
Bild von der Zusammenarbeit zwischen Husserl und seinem Assistenten
etwas korrigiert werden. Denn gerade in der Zeit, die Husserl selbst in man-
chen seiner Manuskripte als „Revolutionszeit“ kennzeichnete, vollzog sich
ein bedeutender Einschnitt in die bis dahin gemeinsam unternommene phä-
nomenologische Arbeit, der sich für die weitere Organisation der „phäno-
menologischen Werkstatt“ als folgenreich erwies. „Ich bin der absoluten
Gewissheit, dass die konstitutive Phänomenologie und sie allein Zukunft
hat.“ Diese Grundüberzeugung, die Husserl niemals preisgab, hatte ihn auch
während des ganzen Jahres 1932 dazu bewegt, „meine ganze Lebensarbeit
zu einem letzten harmonischen Abschluss ‹zu› bringen und zu einer vertief-
ten Begründung und Selbstbewährung, die ich in diesem Maße nie erhofft
hatte“43. Für die literarische Gestaltung dieses Werkes, das den gesamten
philosophischen Ertrag seiner transzendentalen Phänomenologie für die
Zukunft sicherstellen sollte, setzte er unbeirrt auf die stetige Mitarbeit seines
Assistenten. „Ohne meinen unübertrefflichen Dr. Fink und die Anregung der
täglichen Aussprache mit ihm käme ich nicht durch“, so gestand er dem
englischen Übersetzer seiner Ideen, William Ralph Boyce Gibson.44 Die
erste, vordringlich in Angriff zu nehmende Aufgabe war nach Husserls
Ansicht „die ungeheure Arbeit des Zusammenschlusses meiner unzähligen
unveröffentlichten, höchst differenzierten konkreten Untersuchungen zur
Grundlegung der Phänomenologie“. „Es ist“, so schrieb er Ende Dezember
1931 an Gustav Albrecht, „eigentlich ein ganzes philosophisches System
erwachsen, aber eines völlig neuen Sinnes und Stiles, eben das System der
Methode und Problematik einer absoluten Wissenschaft als einer absolut
begründeten und auf das Absolute gerichteten, also nicht auf spekulative
Konstruktion eines mystischen Absoluten, sondern des aus uns selbst in phä-
nomenologischer Reduktion als Absolutes zu erkennenden und als Urgrund

42 Ebd.
43 Brief Edmund Husserls an William Ralph Boyce Gibson vom 7. Januar 1932 in: Edmund
Husserl. Briefwechsel. In Verbindung mit E. Schuhmann hrsg. von K. Schuhmann. Husser-
liana – E. Husserl Dokumente Bd. III/I-X, Dordrecht/Boston/London 1994, Bd. VI (Bw VI),
S. 141f.
44 Ebd., S. 142.

Einleitung der Herausgeber II 33

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alles für uns Seienden […]“.45 Gerade im Hinblick auf diese außerordentliche
Herausforderung einer systematischen Zusammenschau aller bislang geleis-
teten phänomenologischen Einzelanalysen war Finks tatkräftige Mithilfe für
Husserl von unschätzbarem Wert. „Allergrößten Dank schulde ich meinem
jungen Mitarbeiter Fink. Ein unglaublich begabter Mensch: Ohne die tägli-
che Aussprache mit ihm könnte ich nicht durchführen, was ich vorhabe. Wo
mein Gedächtnis nachlässt, hilft mir seine Jugend, jede Wendung meiner
vielverästelten phänomenologischen Aufweisungen (sozusagen eine Unzahl
mikroskopischer Quer- und Längsschnitte und Präparate) beherrscht er und
in dem Gespräch mit ihm habe ich oft die besten Einfälle, plötzlich sehe ich
die langgesuchten Zusammengehörigkeiten, die innere Ordnung, in der alles
schön zusammenstimmt.“46 Allerdings rechnete Husserl nicht damit, mit
einem solchen allumfassenden „systematischen Grundriss“ seiner transzen-
dentalen Phänomenologie leicht fertig werden zu können. Aus diesem
Grunde hatte er sich dazu entschlossen, „nun doch vorher die Cartesiani-
schen Meditationen in deutscher Sprache und in erweiterter Bearbeitung zu
veröffentlichen. Das habe ich aber zunächst ganz Fink überlassen. Ich lasse
es ihn selbst ausarbeiten und werde es nur überarbeiten. Alles wird natürlich
bis ins einzelne durchgesprochen und vor allem auf die deutsche philoso-
phische Situation Rücksicht genommen (obschon ich mich in keine kriti-
schen Auseinandersetzungen einlasse).“47 Schließlich kümmerte Husserl
sich unablässig um die redaktionelle Gestaltung des XII. Bandes des Jahr-
buchs für Philosophie und phänomenologische Forschung, dessen Erschei-
nen für Sommer 1932 geplant war. In diesem Band sollte voraussichtlich „die
Zeituntersuchung von 1917“48 zum Druck gelangen – „the time-lectures as
they stand, with an introduction by Fink, showing where they stand“, wie
Dorion Cairns in seinen Conversations with Husserl und Fink berichtet.49
Als „Beigabe“ käme ebenfalls der Text des Vortrags in Betracht, den Husserl
im Juni 1931 in den Kant-Gesellschaften von Frankfurt, Berlin und Halle
gehalten hatte und der den auf die philosophische Aktualität unmittelbar
bezogenen Titel „Phänomenologie und Anthropologie“ trug.50 Für „andere

45 Brief Edmund und Malvine Husserls an Gustav Albrecht vom 22. Dezember 1931, in: Bw

IX, S. 79.
46 Ebd., S. 80.

47 Ebd.

48 Brief Edmund Husserls an William Ralph Boyce Gibson vom 7. Januar 1932, in: Bw VI,

S. 142.
49 Dorion Cairns, Conversations with Husserl and Fink (= Phaenomenologica, Bd. 66), Den

Haag 1976, S. 37f.


50 Edmund Husserl, „Phänomenologie und Anthropologie“, in: Hua XXVII, S. 164–181.

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(wertvolle) Beiträge von Dr. Fink und Anderen“51 hielt das XII. Jahrbuch
zudem Platz frei. Wie aus Husserls Brief an Roman Ingarden vom 10. Februar
1932 hervorgeht, kamen für den Druck zunächst einmal der „II. Teil“ von
Finks Dissertation, „(12–15 Bogen allein)“, sowie das im Januar 1931 von
Felix Kaufmann eingesandte Manuskript „Logische Prinzipienfragen in der
mathematischen Grundlagenforschung“ infrage.52
In den politischen Ereignissen, die sich während des Jahreswechsels
1932/33 in Berlin vollzogen, lag nach Jan Patočkas Ansicht „der Anfang vom
Ende Europas, zugleich auch eine tragische Wende des Schicksals der Phä-
nomenologie und so vieler Phänomenologen“53. Und da bildete die tägliche
Arbeitsgemeinschaft, zu der Husserl und Fink sich gegenseitig verbunden
hatten, gewiss keine Ausnahme. Zur Trübung des Arbeitsverhältnisses, das
bis dahin zwischen Husserl und Fink obwaltet hatte, mag zweifellos die Tat-
sache beigetragen haben, dass die hochgestellten Erwartungen, die Husserl
hegte, seine eigene Arbeitskraft bei weitem überfordert hatten. „Die sichere
Aussicht für das Fertigwerden: d. i. für eine einheitliche mehrbändige sys-
tematische Grundlegung der konstitutiven Phänomenologie“54, war zwar
nicht ganz ins Wanken geraten. Aber für sich selbst musste Husserl doch
immerhin eingestehen, dass er „mit allen gewaltsamen Willensentschlüssen,
einen Abschluss zu erzwingen, nicht weit gekommen“55 war. Da er
„an ‹der› großen Systemdarstellung fixiert geblieben“ war, musste er Roman
Ingarden gegenüber alsbald zugeben, „freilich hinsichtlich des Jahrbuches
in Verlegenheit ‹zu sein› – wann überhaupt der Druck beginnen kann“. Was
„die Bearbeitung der ‹deutschen› Meditationen“ betraf, so hatte Husserl diese
„zunächst ganz Dr. Fink für einen Vorentwurf überlassen, nur dass alles
Nötige im Allgemeinen durchgesprochen wurde. Wenn dieser fertig ist, muss
ich aber doch die persönliche Ausarbeitung erst ausführen, was Monate kos-
ten wird“.56 Keineswegs war es eine im Voraus schon ausgemachte Sache,
dass Husserl die Umarbeitungsvorschläge zu den Meditationen, die ihm
Eugen Fink noch während des Sommers 1932 unterbreitete und an die sich
der im darauffolgenden Herbst in mehreren Lieferungen bei ihm eingegan-
gene „Entwurf der Idee einer transzendentalen Methodenlehre“ anschloss,
als eine gültige Grundlage für die definitive Textgestaltung seiner deutschen
Méditations cartésiennes in Betracht ziehen würde. In seinen Conversations

51 Brief Edmund Husserls an William Ralph Boyce Gibson vom 7. Januar 1932, in: Bw VI,
S. 142.
52 Brief Edmund Husserls an Roman Ingarden vom 10. Februar 1932, in: Bw III, S. 283 und

Anm. 216.
53 Patočka, „Erinnerungen an Husserl“, S. 274.

54 Brief Husserls an Adolf Grimme vom 3. Februar 1932, in: Bw III, S. 93.

55 Brief Husserls an Eugen Fink vom 6. März 1933, in: Bw IV, S. 90.

56 Brief Husserls an Roman Ingarden vom 10. Februar 1932, in: Bw III, S. 283.

Einleitung der Herausgeber II 35

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with Husserl vom 4. Mai 1932 notierte Dorion Cairns: „Concerning Fink’s
Ausarbeitung of the Meditations, Husserl said – Fink was absent – that he
would study it through, but the book would be ‚ganz anders‘“.57
Für den jungen wissenschaftlichen Assistenten aber bedeutete diese
Verzögerung der Drucklegung des XII. Jahrbuches, allem voran die ständige
Unklarheit darüber, welches Los den „deutschen“ Meditationen letztlich in
Husserls Augen beschieden sei, einen harten Rückschlag in den eigenen
Arbeiten. Während sich der Horizont um sie herum zusehends verdunkelte,
machten Husserl und Fink in den ersten Märztagen des Jahres 1933 ihrem
Unmut über die diffizile Arbeitssituation, wie Lehrer und Schüler sie wech-
selseitig aneinander empfanden, Luft. Es war wohl als erster Husserl, der
Fink seine Enttäuschung darüber nicht hatte verbergen können, dass dieser
mit den ihm nun doch schon seit mehreren Jahren anvertrauten editorischen
und konzeptuellen Aufgaben nicht weiter vorangekommen sei. „Zeitweis
habe ich ja zweifeln können, ob Sie überhaupt kontinuierlich und mit
angespannter Energie arbeiten. Denn nach Ihren Reden glaubte ich, dass
Sie ziemlich abgeschlossen hätten und es sich nur um Wochen oder gar
Tage handle.“58 Da musste Husserl sich eingestehen: „Ich habe […] nicht
genug Einblick in Ihr Arbeitsleben gehabt, ein persönlicher Zug Ihres Seins
war verhängnisvoll: Ihre Verschlossenheit, und dass Sie nicht genug Mut
hatten, mir einfach zu sagen: Ich habe noch Schwierigkeiten und bin gar
nicht gewiss, ob und wann ich durchkomme.“59 Dass Finks „Jugendkraft
schneller und leichter zuwachsen müsste“, was ihm selbst „soviel Mühe
machte“: „die Verwicklung der konstitutiven Zusammenhänge“, daran hatte
Husserl in den letzten Jahren fest geglaubt und es Adolf Grimme – dem
er seit November 1930 die stetige finanzielle Förderung seines Forschungs-
assistenten verdankte – gegenüber offen ausgesprochen: „Ein besonderes
Glück liegt […] darin, dass ich mir zuletzt noch einen glänzend begabten
Schüler und Assistenten erziehen konnte (Dr. Eugen Fink), der alle Weiten
und Tiefen der phänomenologischen Philosophie, alle ihre schwierigen
Verwicklungen beherrscht, da er alle meine Entwürfe studiert hat und nun
unter meiner Leitung bearbeitet.“60 Wenn Husserl seinem Mitarbeiter „die
bekannten Ausbrüche der Enttäuschung“ diesmal „nicht ersparte“, so neigte
Fink offensichtlich dazu, „die große Sache“, die Husserl ihm anvertraut
hatte, wenn nicht „durch Mutlosigkeit“ völlig „preiszugeben“61, so doch
einstweilig aus der Hand zu geben. Er stellte die regelmäßigen Besuche,
die er schon seit mehreren Jahren dem Husserlschen Haus abstattete, abrupt

57 Cairns, Conversations with Husserl and Fink, S. 71.


58 Brief Edmund Husserls an Eugen Fink vom 6. März 1933, in: Bw IV, S. 91.
59 Ebd.
60 Brief Edmund Husserls an Adolf Grimme vom 5. März 1931, in: Bw III, S. 90.
61 Brief Husserls an Fink vom 6. März 1933, in: Bw IV, S. 90f.

36 Einleitung der Herausgeber II

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ein; zur geplanten Geburtstagsfeier von Frau Malvine Husserl wollte er gar
nicht erscheinen.
Es waren mit Sicherheit „persönliche Gründe“, die Fink zu diesem
höchst außergewöhnlichen Schritt bewegt haben müssen – allem voran die
Angst um die eigene Zukunft. Als er im Juli 1933 einen Antrag an die Hohe
Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft richtete, weil seine Besoldung
durch das Preußische Unterrichtsministerium inzwischen gestrichen worden
war, brach Fink mit dem Stillschweigen, mit dem er seine persönliche
Arbeitssituation bis dahin umgeben hatte: „Meine wirtschaftliche Lage ist
bedrückend und hoffnungslos. Seit dem Abschluss meiner Studien habe ich
von der Besoldung als Husserls Privatassistent gelebt […]. Von meinem
Vater, welcher mit seiner geringen Pension noch für zwei unversorgte
Geschwister von mir zu sorgen hat (zwei Mädchen, die ihm den Haushalt
führen), kann ich keinen Zuschuss erwarten. […] Aus meinem Lebenswillen
zur Wissenschaft heraus entspringt die Bitte um ein Forschungsstipendium.
Die Entscheidung der Hohen Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft
wird für mich Schicksal sein.“62 Solches Bangen vor der immer ungewisser
werdenden Zukunft wollte Husserl mit aller Kraft bannen: „Sie müssen
Ihrer selbst Herr werden und jeden Anfall der Angst sofort als den bösen
Feind ansehen, der Sie schwach machen will. […] Wir können nicht leben
wie andere Menschen, naiv dahin und mit anderen streiten, wir haben den
schlimmsten Feind in uns selbst.“63 Diese Worte klangen nochmals nach,
als Husserl während eines Besuches, den Patočka, Fink, ein japanischer
und ein chinesischer Kollege ihm abstatteten, auf einmal sagte: „Wir sind
hier doch lauter Feinde.“ Auf Patočka und Fink zeigend: „Feinde“. Auf
den Chinesen und den Japaner weisend: „Feinde“. „Und über allen – die
Phänomenologie“.64 „Die Kraft“, so mahnte Husserl, „müssen wir schöpfen
aus der Größe, der unvergleichlichen Größe und Bedeutung der neuen
Philosophie, die uns und niemand sonst anvertraut ist“.65 Vom Glauben an
die „geistige Sendung seiner Phänomenologie“ – wie Patočka bemerkte: „ein
Lieblingsthema Husserls“, wenn es um ihren „Weltbegriff“ ging66 – ließe
er wenigstens nicht ab; die „törichte, ‹seiner› nicht würdige Verzweiflung“
sollte der Schüler inzwischen längst von sich „abgeschüttelt haben“. – „Das
einzig Emotionale, das Triebfeuer, ist die Sache, und der große Glaube
an sie.“67

62 Fink, EFGA 3.2, S. 446.


63 Brief Husserls an Fink vom 6. März 1933, in: Bw IV, S. 91.
64 Patočka, „Erinnerungen an Husserl“, S. 275.
65 Brief Husserls an Fink vom 6. März 1933, in: Bw IV, S. 91.
66 Patočka, „Erinnerungen an Husserl“, S. 275.
67 Brief Husserls an Fink vom 6. März 1933, in: Bw IV, S. 92.

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Im Hinblick auf die – dank der allseitigen Erschließung von Finks
„phänomenologischer Werkstatt“ – uns heute erstmals zur Verfügung ste-
hende Dokumentation muss jedoch die Frage erhoben werden, ob es nicht
auch Gründe in der Sache selbst – der Phänomenologie – gegeben hat,
die dazu beigetragen haben mögen, dass „die beiderseitige Situation noch
schwieriger“ gemacht wurde. Nicht etwa nur schwieriger, als sie es wegen
der immer bedrohlicher werdenden politischen und wirtschaftlichen Lage
ohnehin schon war, sondern auch noch schwieriger, als Husserl sie selbst
eingeschätzt hatte, als er seinem treuen Mitarbeiter ein einstweiliges Verza-
gen unterstellte und sein eigenes fortgeschrittenes Alter dafür verantwortlich
machte, „dass noch nicht Herrschaft gewonnen ‹war› über das, was schon in
den verschiedensten Richtungen durchdacht worden“68 sei.
Auf jeden Fall war klar, dass sich die Aussichten auf eine rasche Veröf-
fentlichung des zweiten Teils seiner Studie Vergegenwärtigung und Bild für
Fink zusehends verflüchtigten. Dichter Nebel senkte sich ebenfalls herab auf
die ihm anvertraute Veröffentlichung des „ersten Teils“ der „Forschungen
zur Phänomenologie der Zeit“ im Jahrbuch, der „sich sachlich an die von
M. Heidegger herausgegebenen Husserlschen Vorlesungen zur Phänomeno-
logie des inneren Zeitbewusstseins anschließen“ würde, über den Fink in
seinem auf den 17. Juli 1933 datierten Antrag verlauten ließ, dass er „jetzt
nahezu fertiggestellt“ sei und „im Bälde wird erscheinen können“.69 Als Fink
Ende der 1960er Jahre die Bernauer Zeitmanuskripte dem Husserl-Archiv
übergab, notierte er diesbezüglich: „Die Ausarbeitung der Bernauer Zeitma-
nuskripte hätte nur einen schmalen Band ergeben.“ Diese Manuskripte
„bestehen aus wenigen Manuskript-Konvoluten“. „Einige der Manuskripte
der Bernauer Zeit sind bereits als Beilage zur Phänomenologie des inneren
Zeitbewusstseins gedruckt worden – was Husserl offenbar entgangen war.“
Die aufgrund dieser „schmalen Manuskript-Basis […] versuchte Ausarbei-
tung […] scheiterte“70. Besondere Aufmerksamkeit verdient aber der
Bescheid, den Fink von Husserl über seinen 202 Schreibmaschinenseiten
starken „Entwurf der Idee einer transzendentalen Methodenlehre“ erhielt.
Diesem Manuskript widmete Husserl gleich mehrere Lektüren, insbesondere
während der ersten Julitage des Jahres 1933, als er sich in Schluchsee aufhielt,
und erneut Anfang Januar des Jahres 1934: „Ich überarbeite“, so schrieb er
zu diesem Zeitpunkt an Felix Kaufmann, „um mein Interesse zu entflammen,
den wertvollen Entwurf der VI. Meditation, den ich schon früher einmal stu-
diert hatte. Dazu die intensiven Verhandlungen mit Dr. Fink.“71 Es steht außer

68 Ebd., S. 91.
69 EFGA 3.2, S. 446.
70 Ebd., S. 439–441.
71 Brief Edmund Husserls an Felix Kaufmann vom 5. Januar 1934, in: Bw IV, S. 201.

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Zweifel, dass diese von Fink ursprünglich als eine „systemtheoretische Stu-
die […] zu Husserls Méditations cartésiennes“ konzipierte Schrift72 unmög-
lich den hohen Ansprüchen genügen konnte, die Husserl noch Mitte 1932 an
seine Umarbeitung der Cartesianischen Meditationen gestellt hatte, als er
darüber an Roman Ingarden mitteilte: „Jedenfalls ist keine Rede davon, dass
ich den alten deutschen Text abdrucke, sei es auch da und dort verbessert –
obwohl er so wohldurchdacht ist. Ich bin zur Überzeugung gekommen, dass
nur eine wirklich konkret-explizierende Emporleitung von der natürlichen
Welt- und Seinshabe überhaupt zur ‚transzendental‘-phänomenologischen
Einstellung und eine konkrete Begründung der Methodik und universalen
Problematik der Transzendentalphänomenologie nützen kann. […] Aber das
erfordert ein so vertieftes Studium, eine solche Bereitschaft, alle selbster-
worbenen philosophischen Überzeugungen ganz und gar nicht mitwirken zu
lassen, dass eigentlich Niemand dazu zu haben war. Auch meine liebsten
Freunde und Schüler nicht!“73 Und da bildete nicht nur Ingarden, sondern
auch Fink keine Ausnahme. Im Mittelpunkt des phänomenologischen Inter-
esses stand unvermindert die Darstellung der transzendental-phänomenolo-
gischen Reduktion und ihrer Tragweite für die Interpretation des Sinnes des
phänomenologischen transzendentalen Idealismus. Gerade mit Bezug auf
dieses zentrale Anliegen der Phänomenologie herrschte zwischen Finks und
Husserls Auffassungen ein tiefer Widerspruch. Nach Fink implizierte die
transzendental-phänomenologische Reduktion eine Zurückleitung „des als
individueller Geist beginnenden philosophierenden Subjektes in die vor aller
Individuation liegende Lebenstiefe des absoluten Geistes“74. Die philoso-
phische Selbstbesinnung des Phänomenologen sollte demnach bei der Rück-
führung der Transzendenz des gegenständlichen Seienden auf die Imma-
nenzsphäre des erfahrenden Bewusstseinslebens gerade keinen Halt machen.
Wie Fink es im Schlussparagrafen seiner VI. Meditation prägnant formuliert,
sei „nicht nur das Seiende in der Gegebenheitsart der ‚Transzendenz‘, son-
dern ebenso auch das Seiende als ‚Immanenz‘, die ganze Welt als das Zusam-
men von immanenter Innerlichkeit des erfahrenden Lebens und von tran-
szendenter Außenwelt“ als „ein einheitliches konstitutives Produkt“ zu
betrachten – der „vor-seienden Prozesse des transzendentalen Lebens“ einer
als „absolut“ zu bezeichnenden „Subjektivität“.75 Diese sei allerdings vom
transzendentalen Ego, soweit es durch selbstapperzeptive Konstitution mit
dem „Menschsein“ zu einer identifizierenden Deckung gelange, grundver-
schieden. Gerade gegen diesen Gedanken, „den Unterschied zwischen tran-

72 EFGA 3.2, Z-XII/2a und Anm. 3, S. 179.


73 Brief Edmund Husserls an Roman Ingarden vom 11. Juni 1932, in: Bw III, S. 285.
74 Fink, „Entwurf eines Vorwortes“, in: VI. CM/1, S. 183.
75 VI. CM/1, S. 178.

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szendentalem Subjekt und dem Menschen noch in die Dimension der Indi-
viduation ‹zu› verlegen“, sträubte sich Husserl. „Husserl bestreitet“, so
gesteht Fink ganz offenherzig im „Entwurf eines Vorwortes“ zu seiner „letz-
ten Meditation“, „dass nur ‚scheinbar‘ der Mensch philosophiere“76 – wäh-
rend es in Wahrheit der konstitutive Weltgrund sei, der in der philosophischen
Wissenschaft als das „Absolute“ „zu sich komme“.
Diese tiefschürfende Differenz zwischen Finks und Husserls philoso-
phischen Grundauffassungen wurde keineswegs allseits ausgetragen. Ganz
im Gegenteil. Als Fink seinen „Entwurf der Idee einer transzendentalen
Methodenlehre“ kurz nach dem Krieg als Habilitationsschrift einreichte und
diese Arbeit in der Form einer VI. Meditation präsentierte, hob er in einer im
Dezember 1945 verfassten „Vorbemerkung“ die besondere Bedeutung her-
vor, die Husserl dieser Schrift beigemessen hatte: „Die anfängliche Abhand-
lungsform“, so hieß es, sei „auf Wunsch E. Husserls umgeschrieben worden,
da er dieses Manuskript als eine sechste Meditation der von ihm geplanten
deutschen Ausgabe seiner Méditations cartésiennes einfügen wollte, um
durch eine gemeinsame Publikation unsere Zusammenarbeit zum Ausdruck
zu bringen“77. In dieser Unterstellung einer uneingeschränkt positiven
Bewertung dieser Schrift vonseiten des Urhebers der Phänomenologie mit
Rücksicht auf die Möglichkeit, sie reibungslos in die „deutschen“ Medita-
tionen in ihrer definitiven Gestalt einzugliedern, trat ihm alsbald Martin
Heidegger zur Seite, der auf die Bitte der Freiburger Fakultät um ein Gut-
achten zu Finks Habilitationsschrift am 23. Dezember 1945 mit einer an Fink
adressierten Postkarte antwortet: „Ihre jetzt gewählte Habilitationsschrift ist
ja durch Husserl selbst autorisiert und bedarf daher unsererseits keiner
Begutachtung mehr.“78 Die von Fink am 1. Juni 1945 verfasste „Politische
Geschichte meiner wissenschaftlichen Laufbahn“, mit der er selber das Habi-
litationsverfahren in die Wege leitete, das von der Fakultät als ein Fall poli-
tischer Wiedergutmachung betrieben wurde, legt jedoch ein eindrucksvolles
Zeugnis davon ab, dass Fink auch zu diesem Zeitpunkt niemanden über die
wahre Natur seiner Mitarbeit bei Husserl habe täuschen wollen. „Diese Mit-
arbeit […] hatte sich von der untergeordneten Assistenten-Tätigkeit bald zu
einer selbständigen, von Husserl als solche immer wieder anerkannten pro-
duktiven Zusammenarbeit gesteigert […]. Husserl, der weit davon entfernt
war, sich in mir einen Paradeschüler zu erziehen, hat meine Mitarbeit vor
allem wegen ihrer stark kritischen Tendenz geschätzt […]. Husserl hat meine
geistige Selbständigkeit gerade dadurch anerkannt, dass er immer meinen

76 Fink, „Entwurf eines Vorwortes“, in: VI. CM/1, S. 183.


77 Fink, „Vorbemerkung ‹zur Habilitationsschrift›“, in: VI. CM/1, S. 184.
78 Postkarte Martin Heideggers an Eugen Fink vom 23. Dezember 1945, in: EF05–75, Bilder

Nr. 530–531.

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produktiven Widerspruch und meine Kritik suchte, die er als Stimulanz zur
Objektivierung seiner schöpferischen Gedanken suchte […]. In dieser Zeit,
in der Husserl die Ernte seines langen Forscherlebens einzubringen ver-
suchte, habe ich für ihn gleichsam als geistiger Katalysator gewirkt.“79 Um
die Frage, ob es sich um einen homogenen Katalysator handelte, der sich in
den flüssigen Stoff einmischend dessen Reaktionsgeschwindigkeit einfach
nur beschleunigte, oder vielmehr um einen heterogenen, der mittels einer
eigenen, festen Substanz die Husserlsche Gedankenchemie gewissermaßen
filtrierte, kam man dennoch nicht herum. Und sie kam schneller als erwartet.
Kaum hatte Husserl seinem Assistenten am 6. März 1933 Mut zuge-
sprochen, sich über die zeitweiligen Rückschläge in der eigenen Arbeit rasch
hinwegzusetzen, sandte Pater Feuling ihm am 8. März das Husserl persön-
lich gewidmete Heft La phénoménologie zu, das die Akten der im Jahre 1932
in Juvisy abgehaltenen Journées d’études de la Société Thomiste enthielt. In
diesem Heft wurde auf Seite 103 aus den Kongressverhandlungen die fol-
gende, durchaus zutreffende Bemerkung von Husserls früherer Assistentin
Edith Stein zitiert: „Bei der Interpretation der Phänomenologie durch Dr.
Fink ist zu bedenken, dass er Husserls Einwirkung erst in den letzten Jahren
erfahren hat, nachdem das Idealismusproblem zentral geworden war; dass er
selbst auch durch Heideggers Schule hindurchgegangen ist, außerdem durch
Fichtesche und Hegelsche Ideen bestimmt.“80 Da beeilte sich Husserl, seinen
Mitarbeiter gegen mögliche Vorwürfe in Schutz zu nehmen. Am 30. März
1933 schrieb er an Daniel Feuling: „Berichtigen muss ich auch, was meine
hochbegabte Schülerin und Freundin, Fräulein Dr. Edith Stein, über Dr. Fink
sagt. Sie selbst war auch – eineinhalb Jahr lang – meine Assistentin, aber
damals noch Anfängerin. Nie habe ich mich ihr gegenüber in dem Maße
ausgesprochen, ihr so systematische Erziehungsarbeit angedeihen lassen wie
Dr. Fink. Dieser ist nun das 5. Jahr in fast täglichem Konnex mit mir; alle
meine gedanklichen Entwürfe (alte und neue) und Horizonte habe ich mit
ihm durchgesprochen, und wir denken gemeinsam, wir sind gleichsam zwei
kommunizierende Gefäße. […] Er war hier zwar auch einige Semester Pro-
fessor Heideggers Hörer, also sein akademischer Schüler, nie aber sein Schü-
ler im philosophischen Sinn. Und ebenso wenig je ,Hegelianer‘. Es wäre ganz
verkehrt zu meinen, dass durch ihn neue, dem konsequenten Gedankenzuge
meiner früheren Entwicklung fremde Gedankenmotive auf mich wirksam
geworden seien. Die konstitutive Phänomenologie, seitdem sie zum ersten
reinen Selbstbewußtsein ihres methodischen Sinnes durchgebrochen ist
(1905 mit der phänomenologischen Reduktion), hat ihre absolut eigene Kon-

79 Fink, „Politische Geschichte meiner wissenschaftlichen Laufbahn“, in: ebd., Bilder


Nr. 510–515.
80 Siehe Husserls Brief an Daniel M. Feuling vom 30. März 1933, in: Bw VII, S. 89, Anm. 4.

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sequenz, ähnlich wie die neuzeitliche exakte Physik seit Galilei. Was also
Dr. Fink sagt, und nur er, ist absolut authentisch, und wenn er (aufgrund
meiner Schriften und Manuskripte) über die Entwicklungsstufen der Phäno-
menologie spricht, so hat das unbedingten Vorzug gegenüber allem, was
meine früheren Hörer sagen können – so vortreffliche, aber nun eigene Wege
gehende Denker sie geworden sind, und so redliche Kritiker (als liebe alte
Freunde). […] Es nützt nicht sehr viel, Thomismus, Kantianismus, Hegelia-
nismus etc. miteinander und mit dem konstitutiven Idealismus zu konfron-
tieren. Arbeit und Leistung vor allen Standpunkten!“81 Solche Schutzvor-
kehrungen vermochten dennoch nicht zu verhindern, dass aufmerksame
Zuhörer aus Finks Darlegungen des Sinnes des „konstitutiven Idealismus“
neue Töne heraushörten, die ihnen befremdlich vorkamen – in deren Bei-
klang ein anderer philosophischer Resonanzboden vibrierte als derjenige, der
in manchen Ausführungen Edmund Husserls mitschwang, mit denen sie seit
der Veröffentlichung seiner Ideen vertraut geworden waren. Außer Husserl
wurde das Finksche Schreibmaschinenmanuskript der VI. Meditation nur
einem sehr beschränkten Bekanntenkreis zugänglich; zu ihren ersten Lesern
zählten Dorion Cairns, Alfred Schütz und Felix Kaufmann.82 Bemerkens-
werterweise hielt Fink den Paragrafen 12, in dem er seine Interpretation des
„konstitutiven Idealismus“ ausführlich dargelegt hatte, zurück, als er das
Durchschlagexemplar seines Manuskripts Gaston Berger aushändigte, der es
nach Aix-en-Provence mitnahm. In seinem 1941 im Verlag Aubier (Éditions
Montaigne, Paris) erschienenen Buch Le cogito dans la philosophie de Hus-
serl bringt Berger den Vorbehalt zum Ausdruck, den Fink diesmal gegen eine
uneingeschränkte Verwendung seiner Schrift formuliert hatte, als er ihm die
Kopie übergab: „Nous avons eu entre les mains le texte d’une Sixième Médi-
tation rédigée par M. Fink, non comme complément éventuel des cinq médi-
tations de Husserl, mais comme document de travail, destiné à servir de base
à ses entretiens avec Husserl […]. Nous ne saurions évidemment utiliser ici
un tel document qui ne présente aucune idée comme définitive et constitue
un moment concret de la recherche.“83
Am 21. April 1933, nur sieben Tage nachdem Husserl das Schriftstück
erhalten hatte, das ihn wie „alle nicht-arischen Dozenten“ in sofortigen
Urlaub versetzte,84 meldete Frau Husserl an ihre Tochter Elisabeth Rosen-
berg-Husserl: „Vor 1. Mai könnten wir nicht fahren, da das Finksche Manu-

81 Ebd., S. 89f.
82 Vgl. dazu van Kerckhoven, Mundanisierung und Individuation bei Edmund Husserl und
Eugen Fink, S. 79f.
83 Gaston Berger, Le Cogito dans la Philosophie de Husserl, Paris 1941, S. 115, Anm. 1.

84 Brief von Malvine und Edmund Husserl an die Familie Rosenberg vom 15. April 1933, in:

Bw IX, S. 419.

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skript für die Kant-Studien noch von Papa durchgegangen und mit einem
Vorwort versehen werden muss.“85 Am 20. Mai 1933 berichteten Malvine
und Edmund Husserl, die von ihrer Reise nach Berlin und daraufhin nach
Locarno zurückgekehrt waren, an Dorion Cairns: „Auch Dr. Finks Assisten-
tengehalt ist gestrichen, ich kann ihn nur wenige Monate halten. Er schreibt
jetzt einen exzellenten kritischen Artikel fertig (gegen die Angriffe bzw.
Missdeutungen der Rickertschen Schule).“86 Wie Ronald Bruzinas ausführ-
liche Recherchen und editorische Arbeiten inzwischen gezeigt haben,
schöpfte Fink nicht nur aus den dicht aufeinanderfolgenden „Assistenzent-
würfen für die Cartesianischen Meditationen“ seit 1930, sondern auch aus
dem großen Reservoir seiner Arbeitsnotizen zu einer geplanten Arbeit über
„E. Husserls Philosophie“, um sowohl den „Entwurf der Idee einer trans-
zendentalen Methodenlehre“ als auch den thematisch eng mit diesem ver-
wandten „Kant-Studien-Aufsatz“ redigieren zu können.87 Einer im 2. Band
der Phänomenologischen Werkstatt zum ersten Mal veröffentlichten Notiz
Finks ist zu entnehmen, dass er aus eigener Hand am 27. Mai 1933 Husserl
einen Vorschlag für das noch zu verfassende „Vorwort“ unterbreitet hat. In
diesem hieß es: „Der nachfolgende Artikel soll eine Reihe von Auseinan-
dersetzungen eröffnen, die von der Philosophie E. Husserls aus mit den ent-
gegengebrachten kritischen Einwänden sich befassen. Von vornherein ist
keineswegs beabsichtigt, die gegnerischen Positionen selbst in ihrem Ver-
hältnis zu der phänomenologischen Philosophie E. Husserls zu charakteri-
sieren, sondern nur die Einwände derselben gegen die Phänomenologie.
Einem Wunsche der Schriftleitung der Kant-Studien entsprechend, erkläre
ich, dass ich mit den Ausführungen Dr. Finks voll einverstanden bin.“88
Tatsächlich sollte auf den mit der römischen Zahl „I.“ versehenen Aufsatz
über „Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwärtigen
Kritik“, wenn es nach Finks Plänen gegangen wäre, eine mit „II.“ gekenn-
zeichnete Lieferung folgen, die der Auseinandersetzung mit der Lebensphi-
losophie „Diltheyscher Richtung“ gewidmet war.89 Aus Finks Arbeitsplänen
für den Herbst 1934 geht hervor, dass er im weiteren Umfeld auch eine Dar-
stellung der „Phänomenologie E. Husserls in der Kritik Heideggers“ ins
Auge fasste, die den an Hegel angelehnten Titel „Differenz des Husserlschen
und Heideggerschen Systems der Philosophie“ tragen sollte.90 Husserls auf
„Juni 1933“ datiertes, in den Kant-Studien abgedrucktes „Vorwort“ war in

85 Brief Malvine Husserls an Elisabeth Rosenberg vom 21. April 1933, in: Bw IX, S. 421.
86 Brief Malvine und Edmund Husserls an Dorion Cairns vom 20. Mai 1933, in: Bw IV, S. 32.
87 Vgl. dazu EFGA 3.2, Z-IX, V/1a, S. 86 und Z-IX, VII/1a sowie die Anm. 6 dazu, S. 88.
88 EFGA 3.2, Z-XI/48a, S. 156.
89 Ebd., Z-XI/25b und Anm. 14, S. 147 sowie Z-XIV, II/1b, S. 252.
90 Ebd., S. 252 sowie Z-X/13a–b und die Anm. 5, S. 121f.

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dieser Hinsicht zurückhaltender, insistierte eher auf die unleugbaren
„Unvollkommenheiten ‹seiner› Darstellungen“, die wohl „an den Missver-
ständnissen mitschuldig waren“, als auf die gegen die Phänomenologie erho-
benen kritischen Einwände. Andererseits befürwortete er Finks recht
anspruchsvolles, keineswegs risikofreies Unternehmen mit allem Nach-
druck: „Auf meinen Wunsch hat es der Verfasser des nachfolgenden Artikels
unternommen, die zur Klärung der prinzipiellen Missverständnisse notwen-
digen Auseinandersetzungen zu entwerfen. Zu einer solchen Aufgabe war er
berufen: von Anfang an hatte ich sein philosophisches Studium geleitet. Seit
dessen Abschluss steht er als mein Assistent, und nun schon das fünfte Jahr,
mit mir in fast täglichem Konnex. Auf diese Weise ist er mit meinen philo-
sophischen Intentionen, aber auch mit dem hauptsächlichen Gehalt meiner
unveröffentlichten konkreten Untersuchungen auf das Vollkommenste ver-
traut geworden. Auf Wunsch der verehrten Redaktion der Kant-Studien habe
ich diese Abhandlung genau durchgegangen, und ich freue mich, nun sagen
zu können, dass in derselben kein Satz ist, den ich mir nicht vollkommen
zueigne, den ich nicht ausdrücklich als meine eigene Überzeugung anerken-
nen könnte.“91
Zu den ersten feinhörigen Lesern des Kant-Studien-Artikels gehörte Jan
Patočka, der noch Anfang Juni 1933 sich mit Fink ausführlich über die Pro-
blematik der transzendental-phänomenologischen Reduktion und über die
Notwendigkeit einer „thematischen Reduktion der Seinsidee“ zum Behufe
der Artikulation der transzendentalen Sphäre unterhalten hatte.92 Seine 1934
in der tschechischen Zeitschrift Česká mysl veröffentlichte Rezension des
Kant-Studien-Aufsatzes fasst in gedrängter Form den Kerngedanken der
Finkschen Ausführungen zusammen. „‹Husserls› Philosophie kann man nur
vom Standpunkt der phänomenologischen Reduktion aus verstehen. Daher
ist Finks Arbeit eine Darstellung der Tragweite der Reduktion. Husserl
versteht nach Fink die Phänomenologie nicht als apriorische Lehre von
der Erkenntnis und will auch die Welt nicht als Apriori darlegen. Eine
Philosophie, die so verfährt, ist im Sinne der Phänomenologie noch nicht
transzendental, sondern mundan – weltlich.“ „Das Thema der Phänomeno-
logie ist […] der Ursprung der Welt selbst. Die Phänomenologie kann
dieses Problem in Angriff nehmen, da sie sich durch die Reduktion in
eine Situation begibt, in der die Welt aufhört, ein gültiger Horizont zu
sein. Indem der Philosoph über die Welt philosophiert, wird er zum phä-
nomenologischen Beobachter und ist als solcher schon nicht mehr in der
Welt.“ „Fink geht hier in seiner Auslegung der Reduktion viel weiter als

91 Husserl, „Vorwort“ zu: Fink, „Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der


gegenwärtigen Kritik“, S. VIII.
92 EFGA 3.2, Z-XII/6a, S. 182f.

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in Vergegenwärtigung und Bild.“ – In den Anfangsparagrafen dieser Schrift
hatte Fink in der Tat ausdrücklich vermerkt: „Die existenziale Interpretation
der phänomenologischen Reduktion als Aufbruch ins Absolute sowie ihres
Zeitsinnes als ‚Augenblick‘ findet in dieser Skizzierung keinen Raum“93.
– „Zur Metaphysik der Reduktion“, so beurteilt Patočka Finks neuartige
Argumentation in dem Kant-Studien-Aufsatz, „gehört sub specie absolut
eine mundane Unbegründbarkeit der Reduktion. Es gibt nach Fink keine
ausreichende menschliche Begründung, die zur Reduktion führen würde. So
ist die Reduktion nach seiner Ansicht ein fortschreitender Akt des Selbstver-
ständnisses des Absoluten.“ Und gerade gegen diesen höchst bedeutsamen
„Wendepunkt“ in Finks Interpretation der phänomenologischen Reduktion
meldet Jan Patočka hier seine Bedenken an. „Das ist etwas, das natürlich
an Hegel erinnert, wie man auch bei anderen Auslegungen Finks an Hegel
denkt (die konstitutive Auslegung hat so bei ihm den Charakter einer
Kreation, keinesfalls den der Rezeptivität usw.).“ Nun wandte sich Patočka
direkt dem von Husserl dem Finkschen Kant-Studien-Aufsatz beigesteuerten
„Vorwort“ zu. „Husserl betont in einem gesonderten Vorwort, dass es bei
Fink keinen Satz gebe, den er nicht unterschreiben würde. Dennoch liegt
in Finks Ausführungen eine gewisse Zweideutigkeit, die kritisch untersucht
werden müsste, damit die Beziehungen zwischen Hegel und Husserl ins
Licht gerückt werden. Die Selbsterkenntnis des Absoluten kann, aber muss
nicht zugleich absolute Erkenntnis sein. Ist es Fink tatsächlich gelungen,
überall den Intentionen seines Meisters treu zu bleiben, wenn dieser in
verschiedenen Aussagen die unausweichliche Relativität jeder noetischen
Anstrengung betont?“94
Es würde sich sehr lohnen, diese Bemerkungen mit den „Einwänden“
zu vergleichen, die Ludwig Landgrebe gegen Finks Ausführungen in seinem
Kant-Studien-Aufsatz geltend gemacht hat, auf die Fink erstmals in einem
leider nur unvollständig erhaltenen Briefentwurf vom 5. Juni 1934 zu ant-
worten versucht hat.95 Denn, wie Husserl noch am 31. Oktober 1933 an Land-
grebe mitteilte, „‹zog› sich die Ausgabe des ausstehenden Heftes der Kant-
Studien unangemessen hinaus – (Gleichschaltung! Liebert ist ausgeschieden
und jetzt in Belgrad)“, „und so können wir Ihnen noch immer die schon im
Juli fertiggedruckte Finksche Abhandlung nicht zugehen lassen, die Ihnen
viel zu sagen hat“.96 Am 8. Dezember 1933 fragte er bei Landgrebe, der sich

93 Fink, VB, S. 15.


94 Patočka, Rezension zu Eugen Fink, „Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in
der gegenwärtigen Kritik“, in: Česká mysl, 30. April 1934 (16), S. 239f.; deutsche Übersetzung
von Michael Heitz und Bernhard Nessler in: FP-Bw, S. 40.
95 EFGA 3.2, S. 481–486.

96 Brief Husserls an Ludwig Landgrebe vom 31. Oktober 1933, in: Bw IV, S. 316.

Einleitung der Herausgeber II 45

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zu diesem Zeitpunkt gemeinsam mit Patočka in Prag aufhielt, nach: „Haben
Sie beide schon die ganz ausgezeichnete Finksche Abhandlung in den Kant-
Studien studiert? Natürlich ist alles durchgesprochen und identisch mit mei-
nen Ansichten. Ich hoffe, dass Sie beide den Konnex mit uns festhalten, und
auf Fragen hinsichtlich schwieriger Punkte (schwierig ist freilich alles) wol-
len wir schon antworten!“97 Am 8. Januar 1934 versicherte Landgrebe ihm:
„Dr. Fink, der mir seine Abhandlung zugeschickt hat, will ich auch ausführ-
lich darüber schreiben, sobald ich sie eingehend studiert und die nötige Ruhe
dazu habe. Vorher will ich sie auch mit Patočka noch genau durchspre-
chen.“98 Und am 11. Januar 1934 antwortete Husserl nach Prag: „Schätzen
Sie es als Glück, dass Sie Patočka, von dem ich auch menschlich viel halte,
neben sich haben. Die Finksche Abhandlung ist unübertrefflich, nehmen Sie
sie nicht leicht. Wir arbeiten täglich zusammen und er ist kein Student, son-
dern ‹ein› gereifter, sehr selbständiger Kopf, der allmählich über meine im
letzten Jahrzehnt außerordentlich fortgeschrittenen Gedanken ganz frei ver-
fügt.“99 Am 6. April 1934 konnte Landgrebe seinem Lehrer melden: „An Dr.
Fink habe ich nun endlich auch geschrieben und ihm eine Reihe von Fragen
und Einwänden zu seiner Arbeit geschickt. Sie sind das Resultat intensiver
Diskussionen mit Patočka, der in Prag der einzige ist, mit dem ich alle diese
schwierigen Prinzipienfragen der Phänomenologie erörtern kann.“100 Es darf
deshalb nicht verwundern, dass Landgrebes Bedenken, obgleich im Kern
anders formuliert, mit den von Jan Patočka in seiner Rezension geäußerten
Reserven in ihrer Grundtendenz übereinstimmten.
Am 18. Mai 1934 versicherte Husserl seinem Schüler Dorion Cairns,
dass „Dr. Fink – ein rocher de bronze – noch ganz der alte und wunderbar
reifend und gereift“ sei, und fügte hinzu: „Wir erwarten Ihre Reaktion auf
Dr. Finks neue Abhandlung. – Ich habe sie mit überlegt, natürlich ist sie
wirklich ‚authentisch‘.“101 Wie sein am 9. Dezember 1933 an Dorion Cairns
gerichteter Brief bestätigt, war der Kant-Studien-Artikel knapp vor Jahres-
ende 1933 erschienen, und Husserl war auf seine Reaktion, da er doch zuvor
lange und intensive Gespräche mit seinem Assistenten geführt hatte, beson-
ders gespannt. „Was sagen Sie zur Abhandlung von Dr. Fink? (Kant-Studien
im neuen eben ausgegebenen Heft.) Wir haben noch keine Separata. Sie
erhalten schon eins […].“102 Und auch Roman Ingarden hatte Husserl die
eingehende Lektüre des Kant-Studien-Aufsatzes von Fink empfohlen. „Viel

97 Brief Husserls an Landgrebe und Jan Patočka vom 8. Dezember 1933, in: Bw IV, S. 319.
98 Brief Landgrebes an Husserl vom 8. Januar 1934, in: Bw IV, S. 322.
99 Brief Husserls an Landgrebe vom 11. Januar 1934, in: Bw IV, S. 324.
100 Brief Landgrebes an Husserl vom 6. April 1934, in: Bw IV, S. 326.
101 Brief Husserls an Dorion Cairns vom 18. Mai 1934, in: Bw IV, S. 44.
102 Brief Husserls an Cairns vom 9. Dezember 1933, in: Bw IV, S. 39.

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wird Ihnen seine Abhandlung im nächsten Heft der Kant-Studien (die inzwi-
schen auch gleichgeschaltet wurden) über die ausgereifte Phänomenologie
des letzten Jahrzehnts sagen.“103 Am 13. Dezember 1933 insistierte er noch-
mals bei Ingarden: „Beachten Sie das neue Heft Kant-Studien mit Dr. Finks
Artikel – alles so, als ob ich es gesagt hätte.“104 – In welchem Maße verrieten
die gedruckten Zeilen des Kant-Studien-Aufsatzes die persönliche Hand-
schrift des Meisters, in welchem Maße bezeugten sie dagegen, dass „der
selbständige Kopf“ des Assistenten doch „ganz frei“ über seine in den letzten
Jahren fortentwickelte Phänomenologie „verfügt“ hatte? Auf diese nicht
aufzulösende „Zweideutigkeit“, die Jan Patočka insbesondere in Finks Aus-
führungen zur „Metaphysik der Reduktion“ verspürt hatte, werfen einige
briefliche Äußerungen Husserls, die wir hier heranziehen möchten, ein
bezeichnendes Licht. Am 19. Mai 1934 teilte er Gustav Albrecht mit: „Die
Finksche Schrift ist natürlich ausgezeichnet. Ich habe sie etwas vor dem
Druck überarbeitet, aber mehr die Verständlichkeit der Darstellung betref-
fend. Er ist so weit, dass alles durchaus gut ist und ich kann wirklich jedem
Worte zustimmen. Er ist doch ein außerordentlicher Mensch und er will sich
nicht einmal habilitieren (er in seinem unbändigen Freiheitsdrang kann frei-
lich nicht Nummer in einer Masse sein), um ganz der Phänomenologie, der
Vollendung meiner Manuskripte leben zu können. Ich hoffe, dass ich auch
weiterhin Mittel für seine Lebenshaltung bekommen kann.“105 Am 7. Okto-
ber 1934 musste Husserl Albrecht gegenüber allerdings wiederum offen
gestehen: „Fink ist als Mitdenker außerordentlich, als Assistent unbrauchbar,
und in seiner seelischen Struktur sehr labil. Es gibt da oft große Sorgen. An
ihm hängt die Zukunft der Phänomenologie – nämlich er ist der einzige, der
meine Manuskripte ausschöpfen, wirklich verstehen und ausarbeiten kann,
wozu eben nicht nur ein schülerhafter Geist, sondern ein produktiv mitden-
kender gehört, Lücken ergänzend, die Entwicklung nachverstehend etc.“106
Anfang Juni 1934 war Husserl „zum Landaufenthalt für den ganzen
Sommer“ nach Kappel bei Lenzkirch gezogen. „Hierher dringt keine unpo-
litische und politische Unruhe“, so teilte er an Alexandre Koyré mit, „und so
bin ich mit einer seltenen Konzentration in meine Arbeiten versenkt. […]
Freilich, die Jahre 1933/34 waren nicht so fruchtbar, wie die glücklichen Jahre
28/33, aber das lag an anderen Dingen. Es war keine Zeit für die Erhaltung
einer reinen, philosophischen Inne‹n›wendung. Immerhin habe ich mich
zusammengenommen und habe mich nicht zerreiben lassen von all den Atta-
quen. Die Kunst phänomenologischer Einklammerung habe ich gelernt und

103 Brief Husserls an Roman Ingarden vom 11. Oktober 1933, in: Bw III, S. 291.
104 Brief Husserls an Ingarden vom 13. Dezember 1933, in: Bw III, S. 294.
105 Brief Husserls an Gustav Albrecht vom 19. Mai 1934, in: Bw IX, S. 100.
106 Brief Husserls an Albrecht vom 7. Oktober 1934, in: Bw IX, S. 105.

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so lebe ich in meiner Zelle immerfort meditierend.“107 War Husserl im Laufe
des Jahres 1933 ständig in der Gefahr gewesen, „die innere Kontinuität in
meiner philosophischen Existenz zu verlieren und aus der Vollendung meiner
Lebensaufgabe herausgerissen zu werden“, wie er am 31. Dezember 1933 an
seinen Kollegen Dietrich Mahnke geschrieben hatte,108 so hatte er „den toten
Punkt“ inzwischen überwunden, indem er zunächst für „Ostern 1934“ die
Veröffentlichung des ersten Bandes eines philosophischen Grundwerkes
über Zeit und Zeitigung ankündigte und zugleich den zeitweise fallengelas-
senen Gedanken wieder aufnehmen wollte, „die Cartesianischen Meditatio-
nen neu auszuarbeiten“.109 Am 8. Januar 1934 hatte er über den Fortgang
dieser Arbeiten an Mahnke mitgeteilt: „Hoffentlich wird mein Werk über die
Zeit wohlgelungen sein. Ich habe große Arbeit noch vor mir – ich muss nun
erst den Entwurf meines Assistenten nach Manuskripten und Gesprächen
selbst überarbeiten.“110 Als Husserl nun Fink nach Kappel einlud, wo er in
der ländlichen Abgeschiedenheit „sofort ‹seiner› philosophischen Horizonte
mächtig geworden“ war und sich „in beglückend intensiver Arbeit“111 befand,
kam es zum zweiten Mal zu einer schweren Vertrauenskrise, für die Husserl
eine seinen Mitarbeiter gelegentlich befallende „Unbeständigkeit“ verant-
wortlich machte – die jedoch ihren tieferen Grund wohl darin fand, dass für
Fink „die Zurückstellung eigener philosophischer Arbeit hinter die Mitarbeit
an einer bereits zu Weltbedeutung gekommenen Philosophie“ zwar „kein
Problem des ‹persönlichen› Ehrgeizes“ war,112 dass er sich dennoch in der
freien Aussprache über diejenigen sachlichen Divergenzen, die der raschen
Erfüllung der ihm durch Husserl anvertrauten editorischen Aufgaben nach
seiner Ansicht in den Weg traten, arg gehemmt fühlte.
Fink berief sich auf sein körperliches und geistiges Unwohlsein, um
Husserls wiederholte Bitte, nach Kappel zu kommen, abzulehnen. Die
Aussicht, den ganzen Sommer an der Reinausarbeitung der ersten Hälfte
der Schrift über die Zeit gefesselt zu bleiben, kam ihm wie „die traurigste
Zeit seines Lebens“ vor. Es verletzte sein Ehrgefühl, wie ein Dienstbote
herbeigerufen zu werden und die Tafel zu decken, dann aber, wenn das
Gastmahl begann und auf die kostbaren Speisen zugegriffen wurde, mit einer
Handbewegung, dass er gefälligst wieder verschwinden möge, abserviert zu
werden. Gravierender waren aber die Beschwerden, die er Husserl vor die

107 Brief Husserls an Alexandre Koyré vom 20. Juni 1934, in: Bw III, S. 361.
108 Brief Husserls an Dietrich Mahnke vom 31. Dezember 1933, in: Bw III, S. 511.
109 Ebd., S. 512.

110 Brief Husserls an Mahnke vom 8. Januar 1934, in: Bw III, S. 515.

111 Brief Husserls an Mahnke vom 4. Juni 1934, in: Bw III, S. 516.

112 Fink, „Politische Geschichte meiner wissenschaftlichen Laufbahn“, in: EF05–75, Bilder

Nr. 510–515.

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Füße warf, dass dieser nämlich durch sein wiederholtes Eingreifen in die
ihm bislang unterbreiteten Texte „Umformungen“ vornehmen könnte, die,
selbst wenn sie den Sinn der Grundgedanken des Assistenten nicht völlig
verunstalteten, so doch den klaren Blick auf das, was nach Fink grundsätzlich
auf dem Spiel stand, durch neue Einzelheiten wieder zu verstellen drohten.
Husserl versuchte, die Interjektionen auf seine warme Empfehlung, in
Kappel „frische Höhenluft zu holen“ und mit ihm „anregende Gespräche
zu führen“, damit „der Spuk alsbald verflogen“ sei, abzuwehren. Er fand es
durchaus nicht „tragisch“, dass sich die Reinausarbeitung des ersten Bandes
seiner Manuskripte über Zeit und Zeitigung erneut hinauszog, weil sein
Mitarbeiter damit „gedanklich“ nicht „ganz fertig“ geworden sei. „Damit
finde ich mich bald ab, da es mir bei meinen eigenen Arbeiten auch so zu
ergehen pflegte.“ Der rege Gedankenaustausch mit Fink war ihm aber nach
wie vor ein dringendes Bedürfnis, „um noch ordentlich im Gang zu bleiben“.
Er versicherte seinem jungen Weggenossen: „Sie sind seit Jahren schon nicht
mehr mein ‚Assistent‘. Sie sind nicht mein Sekretär, nicht mein geistiger
Bedienter. Sie sind mein Mitarbeiter und zudem mein Seminar, meine Lehr-
tätigkeit.“ Nun traf Husserl im Hinblick auf die Gestaltung seiner künftigen
Zusammenarbeit mit Fink eine weittragende Entscheidung. „Ich verzichte
[…], überhaupt noch, an dem Werke über die Zeit mitzuarbeiten. Ich gedenke
es erst nach dem Drucke zu lesen, es wird also ausschließlich Ihr Werk sein,
obschon aufgrund der von Ihnen als Ausgang genommenen Manuskripte.
Es scheint mir, dass Ihnen diese Selbständigkeit, die Sie freimacht von der
Sorge, dass ich an Ihrem Werk Umformungen vornehmen möchte, das Leben
und Arbeiten erleichtern wird.“113 Er fügte hinzu: „Obwohl ich das nicht so
ganz verstehen kann, da Sie ja an Ihren beiden Abhandlungen sahen, wie
wenig meine ‚Mitarbeit‘ und ‚Kritik‘ an der geistigen Gestalt Ihres Ganzen
und an den Einzelheiten verändert hätte (aber wohl ein wenig verbessert).
Aber, wie gesagt, ich werde so nicht mehr tun, ich glaube, ich kann und darf
es nicht mehr.“114
Während Finks philosophische Grundintention in dem Entwurf einer
VI. Meditation bislang nur in verhüllter Form hervortreten, ja höchstens als
„Problem exponiert“ werden konnte, in der Art und Weise, wie sie in seinem
Kant-Studien-Aufsatz zusehends an Profilschärfe gewann, aufgrund der
umfassenden Dokumentation der vorwiegend im 2. Teilband der Phänome-
nologischen Werkstatt gesammelten Arbeitsnotizen jedoch eine vielfältige
Bereicherung und Klärung erhalten hat, kann Husserls eigener Beitrag zu
Finks 1934 in Die Tatwelt veröffentlichtem Aufsatz „Was will die Phänome-

113 Brief Husserls an Fink vom 21. Juli 1934, in: Bw IV, S. 93f.
114 Ebd., S. 94.

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nologie Edmund Husserls? Die phänomenologische Grundlegungsidee“115
erstmals anhand der in Band 3.2 als „Beilage“ zu der Mappe Z-XII gedruck-
ten „Einlage“ von Husserls Hand sowie ihrer Transkription durch Fink ein-
gehend studiert werden.116 Dass Husserls am 21. Juli 1934 getroffene Ent-
scheidung ihre Auswirkungen nicht verfehlte, geht aus Finks Arbeitsplänen
für den Herbst 1934 hervor. Denn in diesen verdichtete sich eine „erste
Sammlung und Bestandsaufnahme und Vergewisserung der Stromrichtung
des eigenen Denkens“ zu einem Arbeitsprojekt mit dem Titel „System der
Philosophie im Grundriss“. Zugleich mehrten sich Finks gedankliche Ent-
würfe für „eine erste philosophische Arbeit“ über „Weltbewusstsein und
Welt“ bzw. über „Weltbewusstsein und Weltganzheit“. Seine Notizen deuten
darauf hin, dass er die stille Hoffnung hegte, sich mit diesem Arbeitsthema
künftig zu habilitieren.117 Kaum zehn Tage später, Ende Juli/Anfang August
1934, erhielt Husserl in dem Schwarzwalddörfchen, wo er „den schönsten
Landaufenthalt seit Jahrzehnten“ verbrachte,118 die Einladung des Interna-
tionalen Komitees des VIII. Internationalen Kongresses für Philosophie, der
vom 2. bis 7. September 1934 in Prag stattfinden sollte, brieflich zur „gegen-
wärtige[n] Aufgabe der Philosophie“ Stellung zu nehmen. In wenigen
Wochen entwarf er einen „Brief an den Kongress“, der seiner Meinung nach
„wohl zu lange geraten“ sei, sowie „eine begründende Abhandlung, evtl. als
Vortragsersatz zum Vorlesen im kleinen Kreise“. „Aber der Abschreiber hat,
oder besser meine schlechte Stenographie hat, versagt“, so Husserl bedau-
ernd in einem Brief an Roman Ingarden.119 In einem am 2. September 1934
von Kappel nach Prag abgegangenen Brief erörterte Husserl Jan Patočka
gegenüber, wie es zu diesem peinlichen Vorfall gekommen war und wie es
um die eingesandte Abhandlung bestellt sei. „Ich habe, wie Sie wohl wissen,
an Prof. Rádl eine in den beiden letzten Wochen rasch entworfene Abhand-
lung senden lassen, zur Begründung meiner etwas paradoxen Stellungnahme
in der vom Comité an mich gestellten Frage über die gegenwärtige Aufgabe
der Philosophie. Ich dachte dabei daran, dass sie, oder Stücke aus ihr, in
einem kleinen Kreise phänomenologisch Interessierter, vorgelesen bzw. zur
Diskussion gestellt werden könnten. […] Leider konnte mein sehr schwer
leserliches stenographisches Ur-Manuskript hier oben in dem einsamen
Schwarzwald-Dorfe nicht zur Maschinenschrift gebracht und von mir hier
sogleich noch redigiert werden. Das nach Freiburg gesandte und dort kopierte

115 Zuerst in: Die Tatwelt 10 (1934), S. 15–32; jetzt in: Studien, S. 157–178.
116 EFGA 3.2, Beilage, S. 237–247.
117 Ebd., Z-XIV, II/1a–b, S. 252; vgl. Z-XV/105a, S. 308.

118 Brief Malvine und Edmund Husserls an Gustav Albrecht vom 7. Oktober 1934, in: Bw IX,

S. 104.
119 Brief Husserls an Roman Ingarden vom 31. August 1934, in: Bw III, S. 296.

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Manuskript konnte aber, da es eilte, mir nicht mehr zur Redaktion eingesen-
det werden. Leider sehe ich nun, bei der Durchsicht des mir zugekommenen
Durchschlags, dass der Text von höchst sinnentstellenden Lesefehlern durch-
setzt ist, also mein Zweck mit der Einsendung der Abhandlung an das Comité
bzw. an Herrn Prof. Rádl nicht erfüllbar ist. […] ich bitte Sie ihm gelegentlich
in meinem Namen mitzuteilen, dass ich diesen Vortrag par distance zurück-
ziehen muss. Bitte senden Sie mir das Manuskript, sobald Sie freie Zeit
haben, zurück.“120 Es war tatsächlich Eugen Fink, der unter erheblichem
Zeitdruck eine maschinenschriftliche Abschrift des fraglichen stenografi-
schen Manuskripts hatte herstellen müssen – der, wie Husserl doch wusste,
gerade in diesen Wochen „durch Überspannung ‹seiner› Kräfte sich
und ‹ihm› das Leben schwer macht‹e›“121. Am 26. November 1934 konnte
Husserl jedoch an Roman Ingarden melden: „Dr. Fink ist wieder in großer
Form. Die Einleitung zum I. Bande des Zeitwerkes ist durch Rücksichtnahme
auf die historisch aufgetretenen Versuche einer Theorie der Zeit sehr umge-
staltet worden und ist schon fast ein ganzes Buch. Es wird aber ein schönes
Werk werden und ein wirklich fundamentales.“122 Durch die tragische Wen-
dung, die sich an seinem Lebensende vollzog, bleibt uns die Ausschöpfung
dieser Quelle der frühen philosophischen Gedankengänge Eugen Finks für
immer versagt.

III. Ein Seminar für ausländische Pilger

In seiner am 2. April 1971 ausgesprochenen „Laudatio für Eugen Fink“ hat


der Begründer des Leuvener Husserl-Archivs, Prof. Herman Leo Van Breda,
kurz die besondere Stellung geschildert, die der junge, hochbegabte Assistent
Edmund Husserls in den 1930er Jahren eingenommen hatte. „Die Emigration
seiner meisten Schüler, bedingt durch den stark anwachsenden Antisemitis-
mus, hat zur Folge, dass der alternde Husserl im damaligen Deutschland mehr
und mehr vereinsamt. In Freiburg selbst wird Eugen Fink dadurch von 1933
ab und bis zu Husserls Tode im Jahre 1938 der fast einzige deutsche Hörer
seines Meisters. Seine unerschütterliche Treue und das kongeniale Verste-
hen, das er auch für Husserls verästeltste Gedankengänge aufzubringen weiß,
sind für den isolierten Greis – nebst der Liebe seiner Frau und der Treue
weniger alter Freunde – die wärmenden Sonnenstrahlen in seinem tragischen

120 Brief Husserls an Jan Patočka vom 2. September 1934, in: Bw IV, S. 425–426; Husserls
Brief erschien zuerst in den Actes du Huitième Congrès International de Philosophie à
Prague, 2–7 Septembre 1934, Prag 1936, S. XLI–XLV.
121 Brief Husserls an Fink vom 21. Juli 1934, in: Bw IV, S. 93.

122 Brief Husserls an Roman Ingarden vom 26. November 1934, in: Bw III, S. 298.

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Lebensabend. Mehr und mehr wird überhaupt in diesen Jahren der Privatas-
sistent zum Mitdenker und zum stellvertretenden Lehrer für die ausländi-
schen Pilger-Philosophen.“123 Wie Ronald Bruzina im 2. Teilband der
„Werkstatt-Ausgabe“ richtig bemerkt, „war ‹es› üblich, dass Husserl seinem
Assistenten die Unterweisung seiner Hörer überließ“124, zumal der Meister
an seinem Lebensabend die philosophische Einsamkeit wiederfand, die einst
seine Anfänge geprägt hatte. Am 29. Dezember 1930 schrieb er dazu an
Gustav Albrecht: „Mit der Universität habe ich wenig Fühlung, da hier in
Baden dummerweise der Emeritus nicht mehr an den Fakultätsarbeiten betei-
ligt, also zu den Sitzungen nicht eingeladen ist. Ich halte auch gar keine
Vorlesungen, nicht mal Seminarübungen, um meine alternden Kräfte ganz
und gar zusammenzuhalten. Ab und zu kommen wir mit jüngeren Freunden
zusammen, zugerechnet die 2 netten japanischen Professoren, für die ich alle
14 Tage ein Privatissimum in meiner Wohnung halte (8–10 Abende), an dem
auch der eine oder andere meiner alten Schüler (aus der letzten Freiburger
Zeit) teilnimmt.“125 Es sollte deshalb nicht verwundern, dass der kaum 25
Jahre alte, von der Preußischen Regierung frisch besoldete Assistent kurz
nach seiner Rückkehr aus Chiavari die Betreuung des „Japaner-Seminars“
im Wintersemester 1930/31 übernahm, an dem Tomoo Otaka, Jisho Usui,
Mayumi Haga und Goîchi Miyake teilnahmen, und in diesem Rahmen einen
„Vortrag“ hielt. Gleichzeitig widmete er den Arbeiten von Tomoo Otaka, die
unaufhörlich um Husserls Problematik der Intersubjektivität kreisten, meh-
rere „Stunden“, in denen er in wiederholten Anläufen auf eine wesentliche
Erweiterung und Modifikation der phänomenologischen Analytik der Ein-
fühlungsintentionalität drängte.126 Für Finks philosophische Grundorientie-
rung war es kennzeichnend, dass er gleich zum Einstieg in diese stellvertre-
tende Lehrtätigkeit, die er für den emeritierten, sich aus dem Lehramt
weitgehend zurückziehenden Gelehrten leistete, Hegels „Vorrede“ zur Phä-
nomenologie des Geistes zum Gegenstand seiner Unterredungen und nach-
haltigen Reflexionen wählte.
Tatsächlich war es, wie Ronald Bruzina angedeutet hat, bemerkenswert,
„dass Fink im selben Semester (WS. 1930/31) die Vorlesungen Heideggers
über Hegels Phänomenologie des Geistes hörte“127. Wie Van Breda in seiner
„Laudatio“ bereits auf überzeugende Weise dargelegt hat, „kann auch seine

123 Herman Leo Van Breda, „Laudatio für Ludwig Landgrebe und Eugen Fink“, in: Phäno-
menologie heute. Festschrift für Ludwig Landgrebe, hrsg. von W. Biemel (= Phaenomenolo-
gica Bd. 51), Den Haag 1972, S. 3–4.
124 EFGA 3.2, Z-VII/1a, Anm. 1., S. 3.

125 Brief Edmund Husserls an Gustav Albrecht vom 29. Dezember 1930, in: Bw IX, S. 76.

126 Zum „Japaner-Seminar“, vgl. EFGA 3.2, Z-VIII; zu den „Otaka-Stunden“ ebd., Z-VII;

zum „Japaner-Vortrag“ ebd., Z-VII/Reihe XVI, S. 28 sowie Anm. 20.


127 EFGA 3.2, S. 71.

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innere Annäherung zu einigen von Martin Heideggers wesentlichsten Thesen
in metaphysicis für Fink nicht beinhalten, dass er unter den gegebenen
Umständen Husserl den Rücken ‹zuzu›kehren“128 gedachte. Vielmehr rückt
die von Fink kurz vor der Abreise nach Chiavari entworfene „Disposition
zum ‚System der phänomenologischen Philosophie‘“ seine entschiedene
Hinwendung zur „Wissenschaft des Absoluten“ erstmals ins rechte Licht.
Während der ersten Wochen des Chiavari-Aufenthaltes arbeitete Husserl,
wie er am 23. September 1930 an Dorion Cairns schrieb, „mit meinem treff-
lichen Assistenten Dr. Fink an einem neuen systematischen Entwurf der
transzendentalen Phänomenologie (Problematik bis hinauf zu den ethisch-
religiösen, bis zu den ‚metaphysischen‘ Problemen)“.129 Zu diesem Zeitpunkt
ging auch der am 13. August von Fink skizzierte „Systementwurf“ bei Hus-
serl ein, in dem er nicht nur die regressive Abbau-Analyse der Phänomeno-
logie um eine progressive, „konstruktiv“ verfahrende Aufbau-Analyse berei-
cherte, die in die Sphäre der „Ur-Intentionalität“ vorzudringen versuchte,
sondern außerdem erstmals „die Grundzüge einer phänomenologischen
Metaphysik“ entwarf. Die Philosophie erschien Fink dabei als eine „Funktion
des Absoluten“, in der sich die „transzendentale Tendenz des Zu-sich-selbst-
Kommens“ des weltkonstituierenden Lebens vollendete. Indem er „die abso-
lute Subjektivität“ – den schöpferischen Weltgrund – zur allseitigen Enthül-
lung bringt, erweist sich der Philosoph als ein „Geschäftsführer des
Weltgeistes“.130 Während des „Japaner-Seminars“ erläuterte Fink die innere
Motivation, die ihn dazu bewegte, sich mit solcher Entschiedenheit der Phä-
nomenologie des Geistes zuzuwenden. „Hegel von der Phänomenologie
Husserls ‹her› zu interpretieren heißt nicht, aus der Phänomenologie des
Geistes eine Analytik des Bewusstseins zu machen. Dies wäre die verkehr-
teste Interpretation. Sie ist so wenig eine psychologische Analytik des
Bewusstseins wie Husserls Phänomenologie. Für Hegel wie Husserl handelt
es sich nicht um eine Ontologie der Region ‚Bewusstsein‘, oder, wenn es
hochkommt, um eine Ontologie des ‚Subjekts‘ (des Menschen), sondern um
die Grundlegung der Philosophie im Absoluten. Die Bestimmungen des
‚Absoluten‘ bei Hegel als ‚Vernunft‘, bei Husserl als ‚konstituierendes
Bewusstsein‘ sind ‚spekulative Bestimmungen‘. Für Hegel ist die Phänome-
nologie des Geistes der Weg des endlichen Geistes zum absoluten Wissen;
für Husserl ‚transzendentale Phänomenologie‘ = Entfaltung der Reduk-
tion.“131

128 Van Breda, „Laudatio für L. Landgrebe und E. Fink“, S. 4.


129 Brief Edmund Husserls an Dorion Cairns vom 23. September 1930, in: Bw IV, S. 25.
130 VI. CM/2, S. 8f.
131 EFGA 3.2, Z-VIII/2c–d, S. 72.

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Dass Fink den Sinn des Weges der Husserlschen Phänomenologie
analog zu Hegels Aufstieg vom „endlichen zum unendlichen Erkennen“
auffasste – und zwar als Einbruch der transzendentalen Erkenntnis in das
„Geheimnis der Weltschöpfung“132 –, deutet darauf hin, dass er die Husserl-
sche Lehre von der transzendental-phänomenologischen Reduktion einer
tiefgreifenden Verwandlung unterzog, wie insbesondere seine von November
1930 stammenden Notizen eindrucksvoll belegen.133 Denn Fink musste sich
eingestehen, dass „bei Husserl die Phänomenologie un-spekulativ“134 sei.
Und diese Feststellung bedeutete für ihn nun, dass „sich in ihr allererst der
Ernst für den letzten und einsatzschwersten Kampf“135 bilden sollte, der die
Phänomenologie von der gängigen Ansicht, „eine bloße Wissenschaft vom
Bewusstsein, also eidetische Erforschung der konstituierenden Bewusst-
seinsgestaltungen“ zu sein, endgültig befreien sollte. Die Begründung der
Philosophie im Absoluten implizierte demnach eine ungeheuerliche Radika-
lisierung der Tragweite der transzendental-phänomenologischen Reduktion.
„Philosophie“, so notierte sich der junge Fink, „ist das Durchbrechen des
Weltgefängnisses, das Über-das-Sein-Hinauskommen, ist der große Exzess
des Menschen in Gott“.136 In immer neuen Ansätzen versuchte er nun, die
im ersten Teil von Vergegenwärtigung und Bild zwar in Aussicht gestellte,
allerdings nicht zur Ausführung gelangte „existenziale Interpretation der
transzendental-phänomenologischen Reduktion“ – als „Aufbruch ins Abso-
lute“ – am Leitfaden der Hegelschen Phänomenologie des Geistes in ihrer
inneren Konsequenz zur Darstellung zu bringen. „Philosophie“, so heißt es
auf seinen verstreuten Zetteln, „ist weder Ontologie des ens realissimum;
noch ‚Phänomenologie des Bewusstseins‘, noch fundamentalontologische
Analytik der menschlichen Existenz“137. „Philosophieren ist ursprüngliches
Denken“, das in keiner „Ontologie“ zur Ruhe kommen kann – die sich
vielmehr „aufhebt in ihrer Bestimmung als Meontik“.138 In dieser Gestalt
einer „Meontik als Philosophie des Ursprungs“139 kristallisierte sich Finks
philosophische Grundintention allmählich heraus – die in seinen ersten
phänomenologischen Beiträgen bis zum Entwurf einer VI. Meditation aller-
dings nur in verhüllter Form zum Ausdruck gelangen konnte. Dass die
transzendental-phänomenologische Konstitutionslehre dabei zusehends ein
„kosmogonisches“ Gewand erhielt, dürfte den aufmerksamen Lesern der

132 Ebd.
133 Ebd., Z-VII/Reihe XIV/3a f., S. 22f.
134 Ebd., S. 23.
135 Ebd.
136 EFGA 3.2, Z-VII/Reihe XIV/11a, S. 26.
137 Ebd., S. 25f.
138 Ebd., Z-VII/Reihe XIV/7a, S. 24.
139 Ebd., Z-VII/Reihe XXI/15a, S. 63.

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wenigen phänomenologischen Aufsätze, die Fink in diesen ersten Assistenz-
jahren veröffentlichte, nicht entgangen sein. So schrieb Fink auf einem der
vielen Merkzettel aus dieser Zeit folgende Sätze nieder: „Die konstitutive
Phänomenologie Husserls ist ein Ansatz, die Versprechungen einzulösen, die
der Deutsche Idealismus gegeben hat. Die Konstitution der Welt aufzuhellen,
ist nach Husserls Wort, Gott das Geheimnis der Weltschöpfung abzulau-
schen“140.
Den Gegenpart zu dieser durchaus gewagten Neuinterpretation der tran-
szendental-phänomenologischen Konstitutionsanalytik bildete die ungeheu-
erliche Verschärfung der von Husserl behaupteten „Vorweltlichkeit“ des rei-
nen Ego – im Sinne eines „Vor-Seins“ des transzendentalen Lebens. Dazu
äußerte Fink sich wie folgt: „Solange man das Eigentümliche der Reduktion:
die Rückführung auf die Prä-mundaneität nicht klar sieht, die transzendentale
Sphäre nur wie irgendeine Erweiterung des Alls des Seienden nimmt (als ob
zum weltlich Seienden noch das bislang unentdeckte transzendentale Sei-
ende dazugekommen wäre) – solange ist es unmöglich, den Sinn der ‚Kon-
stitution‘ und des ‚transzendentalen Idealismus‘ zu verstehen. Die Reduktion
aber führt notwendig auf die fließende Gegenwart des konstituierenden
Lebens. Die innere Gefahr der konstitutiven Phänomenologie besteht im
Rückfallen in den gemeinen ontischen Sinn des Idealismus.“141 Bereits die
ersten Ausführungen Finks anlässlich des von ihm übernommenen „Japaner-
Seminars“ ließen deutlich erkennen, dass für ihn die Phänomenologie Hus-
serls keineswegs zur Ruhe kommen könnte in einem, in einer allgemeinen
Übersicht darstellbaren, philosophischen Gebäude, sondern dass sie viel-
mehr „eine Bewegung des Wissens ‹sei›, die heute am Lebensabend des Phi-
losophen noch vor entscheidenden Aufbrüchen steht“142. Aus dem von
Ronald Bruzina im 2. Teilband der Phänomenologischen Werkstatt mit gro-
ßer Sorgfalt erschlossenen weiteren Umfeld der Arbeitsnotizen Finks geht
erstmals hervor, dass der junge Assistent das Blickfeld seiner Hegel-Inter-
pretation nicht auf einen Kommentar zur „Vorrede“ der Phänomenologie des
Geistes beschränkte, sondern im Fortgang seiner Tiefenbohrungen in die
Phänomenologie Hegels Logik und Encyclopädie ebenfalls in Betracht
zog.143 Dabei wurde immer deutlicher, dass für Fink „die transzendentale
Subjektivität (die zum ersten Male Husserl freilegte und somit die erste ent-
scheidende Überschreitung der Weltbefangenheit vollzog) aber nur Stufe im
Gang der Philosophie zum Absoluten“144 war. Unter dem Gewicht seiner

140 Ebd., Z-VII/Reihe XXI/10a, S. 61.


141 Ebd., Z-VII/Reihe XXI/11a, S. 62.
142 Ebd., Z-IX/49d, S. 108.
143 Ebd., Z-XI/71a, S. 166.
144 Ebd., Z-XI/67a, S. 165.

Einleitung der Herausgeber II 55

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anhaltenden Hegel-Interpretationen verwandelte sich folglich Finks Kon-
zeption des „Phänomenologie“-Begriffs grundsätzlich. Phänomenologie ist
für ihn nicht länger nur eine „Auslegung des Weltphänomens als des Reduk-
tionsresultates“ – Phänomenologie bedeute vielmehr „als meontischer Ter-
minus den Logos des philosophischen Urphänomens: der Theophanie des
Absoluten: Weltsturz“145. „Die Phänomenologie“, so erläutert er die tiefgrei-
fende Verwandlung, die ihr Begriff erfuhr, „ist nur begreifbar aus der spe-
kulativen Grund- und Urbestimmung der Philosophie als Entnichtung des
meontischen Prozesses der Weltwerdung, der Theophanie des Absoluten, der
Selbstverwirklichung, des Weltsturzes, der Emanation und Ausschweifung
Gottes“.146 Und korrelativ betrachtet er „die phänomenologische Reduktion
als Entmenschung, d. i. als das Durchsichtigwerden der Maske der existenten
Subjektivität“147. Wie er schon während des gemeinsamen Arbeitsaufenthal-
tes mit Husserl in Chiavari ausgeführt hatte, sei „Philosophieren katastro-
phales Denken, das Zu-Ende-denken des Menschen. Im Philosophieren, das
einsätzig eine Menschenmöglichkeit ist, geschieht die große Selbstverleug-
nung des Menschen. Der Mensch verleugnet sich um des Absoluten willen.
Philosophieren – das ist der Aufstieg der Seele aus der dunklen Höhle des
Menschentums und das Zurücktreten in sie, wissend um das Licht. Philoso-
phieren – das ist der weiteste Sprung der Menschensehnsucht, der größte
Exzess und heilige Wahnsinn“148. In seinen privaten Notizen bemüht sich
Fink darum, das „eschatologische Moment der phänomenologischen Reduk-
tion“, die „Peritrope der Weltentwicklung“, die dieses Moment innerlich
durchziehende „Heimkehrsehnsucht“ – das „rätselhafte Heimweh“, das das
„Einbrechen in Gott“ begleite – in Worte zu fassen.149 „Das Faktum der phä-
nomenologischen Reduktion“ bedeutet ihm „das Sich-ergreifen-lassen von
der Selbstbewegung des absoluten Geistes: die Gebrochenheit als Aufge-
brochenheit in Gott“, „die Absolution“.150 Und diese vollzieht sich als „Ver-
kehrung der Entstellung“151. Denn „der Mensch ist das entstellte Absolute –
das Eingestellte in die Welt“152.
Der von Fink geforderten „schrittweise[n] Tieferlegung der Reduktion“
entsprach sinngemäß auch die „korrelativ tiefergehende Charakterisierung
der natürlichen Einstellung“ – der von Husserl in den Ideen als „General-
thesis“ bezeichneten „Weltgläubigkeit“ des natürlichen Erfahrungslebens

145 Ebd., Z-XI/69a–b, S. 165f.


146 Ebd., Z-XI/71a, S. 166.
147 Ebd., Z-XI/72a, S. 167.
148 Ebd., Z-VII/Reihe XVII/27a, S. 47.
149 Ebd., Z-VII/Reihe XVII/26a-28a, S. 46f.
150 Ebd., Z-XI/79a, S. 169.
151 Ebd., Z-XI/72a, S. 167.
152 Ebd., Z-VII/Reihe XVIII/3a, S. 51.

56 Einleitung der Herausgeber II

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– „bis zur me-ontischen-spekulativen Charakteristik der Weltbefangenheit
als Horizont des Seins“.153 Zum „terminologischen Vorzug des Ausdruckes
‚Weltbefangenheit‘ für Husserls Terminus ‚natürliche Einstellung‘“ notierte
Fink sich Folgendes: „Die phänomenologische Reduktion (radikaler gefasst
als me-ontische Absolution!) ist nicht die Entdeckung einer neuen Seins-
dimension; nicht macht der Philosoph statt – wie in den traditionellen
Philosophemen – der Welt zum Thema ‚die Region des reinen Bewusstseins‘,
sondern er macht die Welt zum Thema, aber nicht mehr in der Befangenheit
der Weltgläubigkeit stehend, sondern in der absoluten Entschränktheit ste-
hend: die Welt als das Ende des me-ontischen Prozesses des Weltsturzes –
oder das Sein als Gewordenes des konstitutiven Werdens. Die phänomeno-
logische Reduktion führt aus der Befangenheit in die Unbefangenheit. Die
‚Einklammerung‘ als das Sich-freimachen, als der Schmerz des Erwachens,
als das Weh, das sich der absolute Geist selbst antut“154. Mit der Charakte-
risierung der Welt als „Ende des me-ontischen Prozesses des Weltsturzes“
schuf Fink einen fruchtbaren Boden für die Verwendung einer Kategorie, der
erst im Laufe der VI. Meditation eine zentrale Rolle zuwachsen sollte – der
Kategorie der „Endkonstituiertheit“. „Zur Weltbefangenheit“, so erläutert
er diesen Grundgedanken, „gehört als ein Moment: die Eingefangenheit
in die Natur, die Unterworfenheit in den Waltungszusammenhang des
Kosmos: die kosmische Selbstapperzeption: die Eingelassenheit in das Sei-
ende, Überlassenheit an die Welt, die Verlassenheit: das Außer-sich-sein“.155
„Im Leben der absoluten Subjektivität“, so führt er weiter aus, „geschieht
der Selbstabsturz, das Außer-sich-geraten, das ‚Sich-anders-werden‘: die
Entstellung, das Sich-einsenken in die Natur, die Ver-ohnmächtigung der
absoluten Mächtigkeit; die Knechtschaft des Geistes“.156 Mit der „Entstel-
lung des Absoluten“ zielte Fink zweifellos auf eine Radikalisierung des
von Husserl am Leitfaden der „verweltlichenden Selbstapperzeptionen“
analytisch aufgewiesenen „Mundanisierungsprozesses“ des von ihm freige-
legten „reinen Ego“. Die „kosmische Selbstapperzeption“ besaß für Fink
einen „generativen“ Charakter, der sich grundsätzlich einer „egologischen
Auslegung“ entzieht, vielmehr in die „vor-individuelle Lebenstiefe“ des
Geistes zurückreicht. „Die Selbstapperzeption“, so notierte er sich, „die
das In-der-Natur-Sein des Menschen konstituiert, kann man bezeichnen
als ‚generative Selbstapperzeption‘: hier liegen die fundamental-philosophi-

153 Ebd., Z-XI/74a, S. 167.


154 Ebd., Z-XI/77a, S. 168.
155 Ebd., Z-XI/82a, S. 170.
156 Ebd.

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schen Probleme der Phänomene der Sexualität, des Lebensprozesses, der
überindividuellen Naturmächtigkeit usw.“.157
Bereits als er im August 1930 seinen „Systementwurf“ niederschrieb,
hatte Fink in seiner nur flüchtig umrissenen Skizze einer „progressiven“ bzw.
„konstruktiven“ Phänomenologie angedeutet, dass nach ihm „die traditionel-
len Ursprungsfragen“, die sich bislang auf unsere „Weltvorstellung“ bezogen
hatten, künftig in „Analysen der Urintentionalität“, des „unbewussten“,
„instinktiven“ Trieblebens verwandeln sollten.158 Aus Finks vereinzelten
Notizen geht allenfalls hervor, dass nach seiner Überzeugung „die Selbstap-
perzeption (d. i. Verendlichung), durch welche das transzendentale Subjekt
sich als einbegriffen in den großen Naturzusammenhang auffasst“, „sich
nicht konstitutiv aufklären“ ließe, „indem man“, Husserls Vorbild folgend,
„nur die kinästhetischen Phänomene des Waltens im Leib und der durch
sie erfolgenden Objektivierung des Leibes selbst analysiert“159. „Die Tiefe
der Weltbefangenheit“, so beschließt er seine Ausführungen, „ist in Hus-
serls Theorie der phänomenologischen Reduktion keineswegs angezeigt.
Weltbefangenheit und Entstellung: das weltbefangene Subjekt: der Mensch
ist, inmitten des Seienden, ein Seiendes. Das existente Subjekt ist die
Entstelltheit des absoluten Subjektes. Unterworfenheit: Eingesenktheit in die
Natur, Generation, Geburt, Tod, Geschichte.“160 Und: „Die Weltbefangenheit
zu durchbrechen ist […] die Verwandlung, die den Anfang der Philosophie
darstellt“161. „Die Weltbefangenheit ist ein zentraler Titel für die Problematik
der phänomenologischen Philosophie, sofern sich in ihrer Bestimmung die
Ganzheit der Philosophie ins Spiel bringt. Sie ist mit einer intuitiven Deskrip-
tion überhaupt nicht zu erreichen.“162 „Anfang der Philosophie: ‚absolut
denken‘, katastrophal denken.“ – „Denken des Ursprungs.“163 Mit diesen
Parolen griff Fink auf den ersten „Entwurf“ vor, den er Ende Dezember 1930
und Anfang des Jahres 1931 Husserl unterbreitete – mit dem er das bis in
den Januar 1934 hinein anhaltende Gespräch mit dem Meister eröffnete, das
unaufhörlich um den „Ansatz einer me-ontischen Philosophie“ kreiste.164
Ein letztes Gedankenmotiv Finks, das wesentlicher Bestandteil jener
„Grundbegriffe“ ist, die das Grundgerüst seines Entwurfs einer „phänome-
nologischen Metaphysik des Geistes“ bildeten,165 verdient unsere volle Auf-

157 Ebd.
158 VI. CM/2, S. 8.
159 EFGA 3.2, Z-XI/85a, S. 171.
160 Ebd., Z-XI/Reihe XCIII/1a, S. 175.
161 Ebd.
162 Ebd., Z-XI/74a, S. 167.
163 Ebd., Z-XI/79a, S. 169.
164 VI. CM/2, S. 10f.; EFGA 3.2, Z-X/19a, S. 123.
165 Ebd., Z-XIII/39a, S. 223.

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merksamkeit. Das Thema des „transzendentalen Scheins“ taucht tatsächlich
erstmals in Zusammenhang mit „Hegels philosophischer Explikation des
Absoluten“ auf, und zwar als „die Schwierigkeit der Bestimmung des Ver-
hältnisses von (me-ontisch-entzeitigter) Philosophie und Erscheinung der-
selben in der Zeit“166. Es erhob sich für Fink die Frage, „inwiefern die (me-
ontische) spekulative Explikation mit dem Schein behaftet ‹sei› (notwendig
er Schein), das Absolute objektiv zu explizieren: als das Umfassendere
(‚Konkrete‘), Überindividuelle, ‚Weltgeist‘“. „Worin“, so fragt sich Fink,
„gründet der Vorzug der ‚objektiven Bestimmungen‘ vor den ‚subjektiven‘
für die me-ontologische Verwandlung? Die ‚Erscheinung‘ der Philosophie
und das Prinzip des ‚Scheiterns‘. Die Wahrheit der Philosophie wird als
‚erschienene‘ absolute Unwahrheit und Wahrheit, der Zeit überlassen, die
der Tendenz des Absoluten, sich verschlossen zu halten, unterworfen wird:
und dennoch ist alle philosophische Wahrheit in diesem Streit allein mög-
lich.“167 Von Anfang an war Fink sich dessen bewusst, mit diesen Fragen kein
Randproblem zu berühren, sondern ein „methodisch zentrales Problem“168,
das ihn im weiteren Verlauf seiner „spekulativen“ Umdeutung der phäno-
menologischen Transzendentalphilosophie dazu zwingen würde, es – nach
Kantischem Vorbild – in einer „transzendentalen Methodenlehre“ in seinem
vollen Gehalt zu entfalten und nach seinen philosophischen Konsequenzen
zu ermessen. „Der transzendentale Schein“, so erläutert Fink diese von ihm
neu eröffnete Problemstellung, „entspringt aus der Notwendigkeit, die me-
ontische Natur der absoluten Subjektivität mit ontischen Begriffen zu expli-
zieren. Wenn nach Kant die ‚transzendentale Dialektik‘ die notwendige Ver-
strickung der menschlichen Vernunft in unlösbare Widersprüche infolge der
Anwendung der Bestimmungen der Erscheinungen auf Dinge an sich (also
der transzendentale Gebrauch der Kategorien) ist, so ist umgekehrt, phäno-
menologisch gesprochen, der ‚transzendentale Schein‘ gegründet in der
Unangemessenheit ontischer Begrifflichkeit (Begriffe beheimatet im Reich
der Erscheinungen) für die Explikation der ‚Dinge an sich‘ (‚transzendentale
Subjektivität‘)“169. Es ist auffällig, dass Fink deren Reichweite, um diese
Problematik zum Tragen zu bringen, in seinen ersten Versuchen entspre-
chend weit fasst. „Der transzendentale Schein besteht phänomenologisch-
me-ontisch in mannigfaltiger Beziehung: 1. in der phänomenologisch-me-
ontische[n] Ausdrücklichkeit: Problem des me-ontischen Satzes 2. im
Nichtunterscheidenkönnen von phänomenalen Charakteren, die der Weltbe-
fangenheit zukommen, die keine transzendentale Entsprechung haben.

166 Ebd., Z-XI/Reihe XCII/3a, S. 174.


167 Ebd., Z-XI/Reihe XCII/3b, S. 175.
168 Ebd.
169 Ebd., Z-XI/78a, S. 169.

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(Problem der Entstellung). Methodik der ‚Integration‘!! ‚Tod‘, ‚Schicksal‘,
‚Ohnmächtigkeit‘ sind keine transzendentalen Charaktere des absoluten
Subjekts.“170 Gerade mit Rücksicht auf die zweite „Form“, in der sich das
Problem des „transzendentalen Scheins“ für ihn abzeichnete, weist Fink den
Vorwurf zurück, dass „die me-ontische Philosophie die phänomenalen Cha-
raktere der weltgebundenen Subjektivität überspringt, indem sie sie einfach
in ein transzendentales Gegenteil auflöst“171. „Die me-ontische Philosophie“,
so wendet er gegen diesen Vorwurf ein, „illusioniert nicht die Endlichkeit,
sondern destruiert sie me-ontisch“172. Welche Bedeutung Fink einer me-
ontischen „Destruktion“ der „ersten deskriptiven Phänomenologie – in der
Endlichkeit“173 beimaß, bezeugen – eindrucksvoll – folgende Sätze: „Die
Phänomenologie für immer auf Deskription festlegen zu wollen, ist ein
absurdes Missverständnis ihrer lebendigen philosophischen Intention:
gegenüber der traditionellen ‚großen‘ Philosophie, die in der Unbestimmtheit
der großen Programme und Entwürfe verblieben ist, restauriert sich in der
anfangenden Phänomenologie der Sinn der echt philosophischen Erkenntnis
als einer Arbeitsmethode. Das Reich des Deskribierbaren ist aber begrenzt;
diese Grenze findet aber nur die in analytisch-deskriptiver Methode fort-
schreitende Phänomenologie selbst; die ‚ontische‘ Restriktion und der ‚trans-
zendentale Schein‘ umzeichnen das Feld berechtigter und notwendig gefor-
derter Deskription. Wo aber die Phänomenologie vorstößt in das ‚Me-
ontische‘, hebt sie selbst die Möglichkeit deskriptiver Darstellung auf und
rechtfertigt den spekulativen Satz aus der methodischen Einsicht in das
Spannungsverhältnis absoluter me-ontischer Explikation zur gewöhnlichen,
weltbefangenen, in der Weltlogik verstrickten Sprache“174. Weit davon ent-
fernt, nur ein Einzelproblem zu berühren, traf die Problematik des „trans-
zendentalen Scheins“ die beabsichtigte phänomenologische Restitution der
Spekulation in ihrem Kern. Mit ihr erhob sich nämlich die Frage nach dem
Wesen und der Eigenart der „spekulativen Aussage, bezogen auf das Abso-
lute (qua Me-ontisches)“. Nichts Geringeres als „die Logik der Philosophie“
selbst stand damit auf dem Spiel. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass
sich Fink schon während der – insbesondere dem 2. Teil der „Vorrede“ zur
Phänomenologie Hegels gewidmeten – Sitzungen des „Japaner-Seminars“
intensiv mit der Frage nach dem Eigenwesen des „spekulativen Satzes“
befasste.175

170 Ebd., Z-XI/81a, S. 170.


171 Ebd., Z-XI/83a, S. 170.
172 Ebd.

173 Vgl. Husserls Manuskript A VII 17/14b, zitiert in van Kerckhoven, Mundanisierung und

Individuation, S. 55f. sowie Anm. 90.


174 EFGA 3.2, Z-XI/87a, S. 172.

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Bot denn die von Fink so im Ausgang von seinen Hegel-Interpretationen
allmählich philosophisches Profil gewinnende „me-ontische Philosophie“
der von Husserl bislang dem Publikum vorgetragenen „allgemeinen Ein-
führung in die reine Phänomenologie“ nicht eine kritische Flanke? Stand
dem aufstrebenden jungen Mitarbeiter von Anfang an jener Freiraum zur
Verfügung, der es ihm gestattete, mit offenem Visier um eine „Grundidee
der Phänomenologie“ zu kämpfen, die „keine Bewusstseinsphilosophie“
mehr sei, „sondern, wenn man so will, Metaphysik“?176 „Aber“, so beeilte
Fink sich hinzuzufügen, „nicht Metaphysik alten Stiles. Die Geschichte der
Metaphysik durch die Reduktion zäsuriert. Weltproblem aufgehoben in das
Problem des Absoluten. […] Phänomenologie die Methode des Wissens, zum
Absoluten zu kommen“177. „Die ontische Auffassung des Absoluten“, so hob
Fink in einer aus dem Notizheft mit der Aufschrift „Mosaik“ stammenden
Bemerkung pointiert hervor, „verhindert die Radikalität der Reduktion:
die Überwindung des egologischen Begriffs des Absoluten“178. Eine solche
Überschreitung der von Husserl in seinen Analysen bislang bevorzugten
engen Einbruchstelle in die Domäne der transzendentalen Subjektivität
implizierte nach Fink, dass gegen die erste, durchaus noch vorläufige Gestalt
der vom Meister geleisteten phänomenologischen Arbeit kritisch Einspruch
erhoben wurde. Sowohl „Husserls Einsatz beim Für-uns-Sein der Welt und
die ontische Argumentation“ als auch – korrelativ – „Husserls Einsatz der
konstitutiven Weltinterpretation bei der Konstitution von Gegenständen“179
bedurften nach der Meinung Finks einer dringenden Revision. Die tieferlie-
genden Gründe für die Notwendigkeit einer solchen Überprüfung der phäno-
menologischen Analytik Husserls erwähnt Fink im gleichen Atemzug: „Die
Unmöglichkeit, Weltformen (Raum und Zeit) und die Selbstapperzeptionen
(Endlichkeit, Gottlosigkeit) mit der Methode der Gegenstandskonstitution
aufzuklären. Alle Gegenstandskonstitution überholungsbedürftig durch die
Weltlichkeitskonstitution (Konstitution der ‚Enthalte‘), diese wiederum über-
holungsbedürftig durch die Selbstkonstitution (‚Entstellung‘)“180. Mit der
sich in diesen Anforderungen meldenden „kosmogonischen Weltinterpreta-
tion“ befürwortete Fink ausdrücklich eine Form des Philosophierens, die,
wenn sie auch zur „spekulativen Philosophie“ des „Deutschen Idealismus“
die gebührende Distanz wahrte, dennoch offenkundig mit ihr darin über-

175 Ebd., Z-XI/90a, S. 173; zum „Japaner-Seminar“, vgl. ebd., Z-VIII/16d–a, S. 81.
176 Ebd., Z-XI/39a, S. 151.
177 Ebd., S. 151.
178 Ebd., Z-XI/34a, S. 150.
179 Ebd.
180 Ebd., Z-XI/34a–b, S. 150.

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einstimmte, dass „Philosophieren“ im Grunde „Zurücknahme der Welt in
Gott“ sei.181
Nicht etwa beschnitt Husserl seinem Mitarbeiter die Flügel in dem
Augenblick, da dieser sich dazu aufmachte, sie zu einem einzigartigen
philosophischen Höhenflug auszubreiten. Die Nüchternheit, mit der Husserl
selbst seine eigene philosophische Situation einschätzte, verband er mit einer
erstaunlichen Großzügigkeit in der Bereitschaft, sich von den anregenden
Gedanken seines Schülers zu minutiösen Analysen anstacheln zu lassen.
Die von Ronald Bruzina über viele Jahre hinweg mit großem Aufwand vor-
bereitete systematische Erschließung der „Phänomenologischen Werkstatt“
Eugen Finks bietet dem Leser demnach nicht etwa nur Aufschluss über
die persönlichen Reflexionen und vereinzelten privaten Gedankengänge,
denen der junge Mitarbeiter zeitweilig nachhing. Sie stellen eine Kontrast-
folie zu den von Husserl mit sanfter Hand beigesteuerten Aufsätzen dar,
in denen Fink mit großer Behutsamkeit und Zurückhaltung sich seine
Stellung zum „Grundproblem Husserls“ zurechtzulegen unternahm. Denn
in vielen seiner Notizen sprach Fink sich in geraffter Form, aber auf eine
pointiertere Weise über die eigenen philosophischen Positionen aus als
in denjenigen Texten, in denen die von ihm nur thesenhaft formulierten,
aber eigenständig gewonnenen Einsichten entlang jener Ausführungen ondu-
lierten, die zumindest den Anschein erweckten, Husserls Grundansichten
noch immer „klassisch“ repräsentieren zu wollen. – Dass eine Auseinander-
setzung mit der „um Vorherrschaft ringenden Lebensphilosophie, mit ihrer
neuen Anthropologie, ihrer Philosophie der ‚Existenz‘“182 unausweichlich
geworden war, davon brauchte Husserl keineswegs überzeugt zu werden,
wie aus dem im Juli 1930 verfassten, Ende Dezember desselben Jahres
im XI. Jahrbuch erschienenen „Nachwort zu meinen Ideen der reinen Phä-
nomenologie und phänomenologischen Philosophie“ unmissverständlich
hervorgeht. Den von dieser „Gegenströmung der Gegenwart“ erhobenen
Einwänden gegen seine transzendentale Phänomenologie, insbesondere „des
prinzipiellen Nichtherankommens an die ursprünglich-konkrete, die prak-
tisch-tätige Subjektivität und an die Probleme der sogenannten ‚Existenz‘,
desgleichen an die metaphysischen Probleme“183, konnte Husserl „keinerlei
Berechtigung zuerkennen“184. „Sie beruhen alle“, so führt Husserl in seinem
„Nachwort“ aus, „auf Missverständnissen und letztlich darauf, dass man
meine Phänomenologie auf das Niveau zurück deutet, das zu überwinden
ihren ganzen Sinn ausmacht; oder m.a.W. darauf, dass man das prinzipiell

181 Ebd., Z-XI/39a, S. 151 und Z-XI/36b, S. 151.


182 Edmund Husserl, „Nachwort“, in: Hua III/3, S. 138.
183 Ebd., S. 140.
184 Ebd.

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Neuartige der ‚phänomenologischen Reduktion‘ und somit den Aufstieg von
der mundanen Subjektivität (dem Menschen) zur ‚transzendentalen Subjek-
tivität‘ nicht verstanden hat; dass man also in einer, sei es empirischen oder
apriorischen, Anthropologie stecken bleibt, die nach meiner Lehre noch gar
nicht den spezifisch philosophischen Boden erreicht, und die für Philosophie
anzusehen ein Verfallen in den ‚transzendentalen Anthropologismus‘ bzw.
‚Psychologismus‘ bedeutet“185. „Ein im Werk stehendes und voraussichtlich
zu Anfang des nächsten Jahres erscheinendes Buch“ – Husserl verwies auf
seine 1931 zunächst in französischer Übersetzung erscheinenden Cartesiani-
schen Meditationen – „wird, hoffe ich, allen, die in dieser hastigen Zeit
für so mühselige und so nüchtern sachlich aufgestufte Theorien Zeit haben,
erweisen, dass eine transzendentale Phänomenologie meines Sinnes in der
Tat den universalen Problemhorizont der Philosophie umspannt und dafür die
Methodik bereit hält; dass sie also wirklich alle vom konkreten Menschen
aus zu stellenden Fragen, darunter auch alle sogenannten metaphysischen,
in ihrem Felde hat, soweit sie überhaupt einen möglichen Sinn haben –
den allerdings erst diese Phänomenologie ursprünglich zu gestalten und
kritisch zu begrenzen berufen ist“186. Anstatt auf eine „nähere Auseinander-
setzung mit der ‚Existenzphilosophie‘“ einzugehen, „was eine eigene große
Abhandlung erfordern“ würde, zog der Begründer der Phänomenologie es
vor, „an seiner alten Überzeugung“ festzuhalten, „dass es in Sachen der
Wissenschaft weniger auf Kritik denn auf getane Arbeit ankommt, die
schließlich standhält, wie viel sie missverstanden und wie oft an ihr vorbei
argumentiert werden mag“187. Zur „kritischen Begrenzung“ des Sinnes „aller
metaphysischen Fragen“ gehörte nach Husserl das unverrückbare Festhalten
an „eidetischer Deskription“ und „intuitiver Ausweisung“ der freigelegten
„Wesensstrukturen der transzendentalen Subjektivität“. „Für die transzen-
dentale Sphäre […] haben wir eine Unendlichkeit von Erkenntnissen, die
vor aller Deduktion liegt, […] und die sich, als durchaus intuitive, jedweder
methodisch-konstruktiven Symbolik entziehen.“188 Die „Reduktion auf das
Transzendentale und zugleich diese weitere Reduktion auf das Eidos“ bilde-
ten nach Husserl in der Tat die „Zugangsmethode zum Arbeitsfeld“ seiner
Phänomenologie, die aus der Hand zu geben er sich streng verweigerte.
„Erst von da an, den schrittweisen Aufweisungen folgend, kann der innerlich
mitgehende Leser urteilen, ob hier wirklich eigentümlich Neues erarbeitet ist

185 Ebd.
186 Ebd., S. 140f.
187 Ebd., S. 140.
188 Ebd., S. 143.

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– erarbeitet und nicht konstruiert, aus wirklich allgemeiner Wesensintuition
geschöpft und beschrieben.“189
„Die Aufgabenstellung […] einer Wissenschaft vom eidetischen Wesen
einer transzendentalen Subjektivität“, so beeilte Husserl sich einem weiteren,
häufig auftretenden Missverständnis vorzubeugen, „beschließt nichts weni-
ger in sich als die Meinung, dass damit schon eine Wissenschaft von der
faktischen transzendentalen Subjektivität geleistet sei“190. An dieser Stelle
berührte Husserl den Quellpunkt ihn innerlich beunruhigender Fragen, die
ihn das eine Mal an die „Dynamik“ des transzendental-phänomenologischen
Reflektierens selbst verwiesen, das andere Mal dazu nötigten, die Fortfüh-
rung der mit dem ersten Band der Ideen begonnenen, aber keineswegs schon
zum Abschluss gebrachten Darstellung seiner phänomenologischen Tran-
szendentalphilosophie erneut zu überdenken, und allem voran die systema-
tische Gliederung der seitdem ungeheuerlich gewachsenen konstitutiven
Forschungen energisch in die Hand zu nehmen. „Judiziert […] der Phäno-
menologe mit seinen gesamten transzendentalen Deskriptionen nicht das
mindeste über die Welt und sein Menschen-Ich als weltlich Seiendes, so ist
es doch sein Ich, worüber er beständig als seiendes urteilt; aber nun ist es das
transzendentale Ich, d. i. das Ich als absolut in sich und für sich seiendes ‚vor‘
allem weltlichen Sein, das in ihm allererst zur Seinsgeltung kommt.“191 Was
bedeutet dieses „Vor-Sein“ des transzendentalen Ego, das immerhin an erster
Stelle „mein eigenes Ich, das des jeweiligen Phänomenologen“ betrifft – in
seinem „in sich abgeschlossenen, in sich selbst zusammenhängenden Eigen-
wesen“?192 Und wie erschließt sich in diesem meinem „reinen“ Ich-leben, in
dieser ausschließlich nur meinem „absolut gesetzten Eigenwesen“ zuzurech-
nenden „Eigenheitssphäre“ das des Anderen? An dieser fraglichen Stelle
wies Husserl zunächst auf die „Unvollkommenheiten“ hin, an denen das im
ersten Band der Ideen dem transzendental-phänomenologischen Idealismus
gewidmete Kapitel litt. Was in diesen Ausführungen – trotz ihrer prinzipiel-
len „Unangreifbarkeit“ – dennoch fehlte, war „die explizite Stellungnahme
zu dem Problem des transzendentalen Solipsismus bzw. zu der transzenden-
talen Intersubjektivität, zu der Wesensbezogenheit der mir geltenden objek-
tiven Welt auf die mir geltenden Anderen“193 – die damit den Sinnesgehalt
einer „Welt für jedermann“ bekam. Einen ersten Entwurf zu einer transzen-
dentalen Theorie der Einfühlung resp. zur Reduktion des menschlichen
Daseins im weltlichen Miteinander auf die transzendentale Intersubjektivität

189 Ebd., S. 142.


190 Ebd., S. 143.
191 Ebd., S. 146.
192 Ebd. und S. 149.
193 Ebd., S. 150.

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hatte er, so präzisiert Husserl, „schon in Göttinger Vorlesungen im
WS. 1910/11“ vorgetragen; eine ausführliche Deskription würde der
V. Abschnitt der demnächst erscheinenden Méditations cartésiennes bie-
ten.194 Was über die Problematik der wahrnehmungsmäßigen Konstitution
einer allen gemeinsamen „objektiven Welt“ hinausdrängend nun „die beson-
deren Apperzeptionen“ anbelangte, „durch die ich selbst mir als Mensch mit
Leib und Seele gelte“ – die also meine Konstitution als psycho-physische
Lebenseinheit betrafen –, vermöge deren ich „in der mir umweltlich bewuss-
ten Welt unter anderen Menschen ‹lebe› und mit ihnen in diese Welt hin-
ein‹lebe›, von ihr angezogen oder abgestoßen ‹werde›, sie werktätig oder
theoretisch ‹behandle› usw.“195, in denen sich also die „Lebenswelt“ als
lebendiger „Wirkungszusammenhang“ auftut und in weiterem Fortgang die
den alltäglichen Besorgnissen zeitweilig enthobene „Welt der wissenschaft-
lichen Erfahrung“ sich schrittweise etablierte, so brachte Husserl die „für den
zweiten Band der Ideen aufgesparten“ Untersuchungen zur materiellen und
animalischen Natur sowie die Analysen, die er an dortiger Stelle den Ich-
problemen, den Problemen der Personalität und – allgemeiner – der Konsti-
tution einer „geistigen Welt“ gewidmet hatte, in Erinnerung.196
Husserl schätzte die kritische Lage, in der sich sein Versuch, die Philo-
sophie durch die Phänomenologie zu reformieren und sie als eine strenge
Wissenschaft neu zu gestalten, mittlerweile befand, nüchtern ein. Da ihm
von solchen, „die zwischen strenger Wissenschaft und Philosophie scheiden
wollen“, der Vorwurf gemacht werde, sich weitgehend in „Intellektualismus
und Rationalismus“ zu verirren und außerdem in seinem „methodischen
Vorgehen“ in „abstrakten Einseitigkeiten“197 steckenzubleiben, hinterlegte er
in seinem „Nachwort“ zugleich ein Arbeitsprogramm für die kommenden
Jahre. Für die konkrete Gestaltung der engen philosophischen Mitarbeit, zu
der Husserl seinen Assistenten zu diesem Zeitpunkt einlud, und damit für
den inneren Aufbau der sich allmählich ausbildenden Phänomenologischen
Werkstatt waren die verschlüsselten, aber trotzdem kaum überhörbaren
Anweisungen, die Husserl in seinem „Nachwort“ gab, von wegweisender
Bedeutung. Man darf sagen, dass sie seinem Mitarbeiter gewissermaßen auf
die Seele gebunden wurden.
Mit der geplanten Revision des deutschen Urtextes der Méditations car-
tésiennes schuf Husserl in der Tat erstmals den Rahmen dafür, dass Fink in
den darauffolgenden Jahren seine Umarbeitungsvorschläge direkt in den
Text der Meditationen eintrug und sie daraufhin nach Kantschem Vorbild in

194 Ebd., Anm. 2.


195 Ebd., S. 149.
196 Ebd., S. 142 und S. 150.
197 Ebd., S. 140 und S. 138.

Einleitung der Herausgeber II 65

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einem separaten „Scholion“ unterbrachte, das er mit der Aufschrift: Die Idee
einer transzendentalen Methodenlehre versah und den alten Meditationen an
die Seite stellte. Wie Fink später, in den Briefen vom 26. Oktober und vom
1. November 1946, die er an Herman Leo Van Breda und an Stephan Strasser,
dem Herausgeber der „deutschen“ Meditationen, abgehen ließ, mitgeteilt hat,
betrachtete er – zurückblickend – „die damals von mir entworfenen Umar-
beitungsversuche samt der neuen VI. Meditation […] als ein Dokument, das
eine gewisse geistesgeschichtliche Bedeutung hat. Diese Entwürfe sind vor
allem deswegen sehr interessant, weil sich Husserl sehr intensiv damit
beschäftigt hat und umfangreiche stenographische Notizen beigefügt hat, die
vor allem in denen zur VI. Meditation das Prinzipiellste enthalten, was Hus-
serl über die Methodik und Systematik der Phänomenologie geäußert hat“198.
Dass im Zuge dieser geplanten Revision Fink den mutmaßlichen „Cartesia-
nismus“ der Husserlschen Phänomenologie zugleich einer unerbittlichen
Kritik ausgesetzt hatte, wurde dabei keineswegs verschwiegen. Am
17. Dezember 1945 schrieb Van Breda diesbezüglich an Maurice Merleau-
Ponty: „Die VI. Meditation ‹ist› ja ein Text von Fink und nicht von Husserl.
Dieser Text, wie auch der Artikel Finks in den Kant-Studien, ist im Grunde
eine Kritik der Grundlagen selbst des Denkens Husserls, obwohl der Autor
seine Opposition zu verbergen wusste, und Husserl selbst in seiner wunder-
baren Naivität dies nicht bemerkt hat, zumindest was den Artikel der Kant-
Studien betrifft“199. Und auf die Anfrage des französischen Verlages Aubier,
der sein Interesse bekundet hatte, diese apokryphe „Meditation“ in Paris zu
veröffentlichen, antworte Herman Leo Van Breda: „Ich mache Sie darauf
aufmerksam, dass die VI. Meditation nicht eine Arbeit Husserls ist, sondern
eine von Fink geschriebene, profunde Kritik des Husserlschen Denkens dar-
stellt. Husserl hat diese Seiten immer wieder gelesen und eine beträchtliche
Anzahl von persönlichen Notizen hinzugefügt. Fink war es nicht recht, dass
diese Schrift verbreitet wurde, da seine Kritik im Grunde genommen sehr
hart war“200.
Mit diesen aufschlussreichen Bemerkungen rückte der Retter des Hus-
serl-Nachlasses und Begründer des Leuvener Husserl-Archivs auch die
Art und Weise, in der Fink von Husserl die Aufgabe übernommen hatte,
sich mit jenen „Gegenströmungen der Gegenwart“ auseinanderzusetzen,
die nach Husserls Ansicht „im äußersten Kontrast zu [s]einer phänomeno-

198 Diese bislang unveröffentlichten Briefe Finks an Herman Leo Van Breda und Stephan

Strasser werden ausführlich zitiert in: Guy van Kerckhoven, Mundanisierung und Individua-
tion, S. 41 sowie Anm. 44.
199 Ebd., S. 83.

200 Ebd., S. 83f.

66 Einleitung der Herausgeber II

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logischen Philosophie“ standen, ins rechte Licht.201 Mit Ausnahme der
einzigen Vortragsreise, die er in diesen Jahren unternommen hatte, und die
ihn nach Frankfurt, Berlin und Halle führte, wo er in den Kantgesellschaften
über „Phänomenologie und Anthropologie“ sprach,202 hatte Husserl das
im „Nachwort zu den Ideen“ gemachte Versprechen, sich künftig nicht
auf die durch gravierende Missverständnisse hervorgerufenen Kritiken sei-
ner Phänomenologie mit großer Ausführlichkeit einzulassen, eingehalten.
Der von Fink für seinen im Jahre 1933 mit beträchtlicher Verspätung
in den Kant-Studien veröffentlichten Aufsatz selbst gewählte Titel: „Die
phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwärtigen Kritik“
bezog sich nicht unzweideutig nur auf die im „I. Teil“ bereits ausführlich
dargestellte „kritizistische Bewertung der Phänomenologie“ von Seiten der
Rickert-Schüler Rudolf Zocher und Friedrich Kreis, und im weiteren Verlauf
auf die im „II. Teil“ noch darzulegenden Einwendungen gegen Husserl,
die die Dilthey-Schüler Georg Misch und Herman Nohl ins Feld geführt
hatten. Er bezog sich – wenn auch nur indirekt – weiterhin auf die drin-
gende Notwendigkeit, dass „die verborgene Motivationsgeschichtlichkeit
der Husserlschen Entwicklung“203 letztlich ans Tageslicht kommen und
die „Grundfrage der Phänomenologie“, die den „Antrieb ihres innersten
Sinnes“ bilde, mit einer gewissen „Gewalt“ von den Mängeln „ungenügender
Ausgesprochenheit“ befreit werden sollte, mit denen sie anfangs deshalb
behaftet war, weil Husserl selbst sich generell „nur in einer vorsichtigen,
zurückhaltenden Weise auszusprechen“ pflegte.204
In welches Spannungsverhältnis zu Husserls philosophischen Grundin-
tentionen Fink selbst damit trat, indem er das noch verschwiegene „Grund-
motiv“, das nach ihm insgeheim die Husserlsche Phänomenologie innerlich
vorantrieb, mit großer Unbefangenheit auszusprechen wagte, wurde inzwi-
schen durch die Edition der zahlreichen Randbemerkungen, mit denen Hus-
serl Finks Umarbeitungsvorschläge zu seinen Meditationen und zur
VI. Meditation versehen hat, in aller Ausführlichkeit dokumentiert. Aus den
von Ronald Bruzina vorwiegend im 2. Teilband der Phänomenologischen
Werkstatt veröffentlichten Notizheften von Finks Hand geht erstmals hervor,
welche kritische Schärfe die Finkschen „Tiefenbohrungen“ und „Sondie-
rungen“ in jenen Bereich besaßen, den er für denjenigen hielt, auf den die
Husserlsche Phänomenologie letztlich abzielte, auf den sie über alle Unvoll-

201 Husserl, „Nachwort“, S. 140.


202 Husserl, „Phänomenologie und Anthropologie (Vortrag in den Kantgesellschaften von
Frankfurt, Berlin und Halle 1931)“, Hua XXVII, S. 164–181.
203 Fink, „Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwärtigen Kritik“,

S. 88.
204 Ebd., S. 100f. sowie S. 94f.

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kommenheiten hinweg, welche den von Husserl selbst bis dahin veröffent-
lichten „Einführungen“ anhafteten, final „hinaus wollte“. „Das Grundpro-
blem der Phänomenologie“, so verkündete Fink an einer zentralen Stelle
seines Kant-Studien-Aufsatzes, „involviert einen Transzensus über die Welt
hinaus, und nicht nur über das innerweltlich Seiende; allerdings nicht zu
einem weltjenseitigen ‚Absoluten‘ hin, wie die dogmatisch-spekulative
Metaphysik, sondern indem sie die Welt erkenntnismäßig ausdrücklich
zurücknimmt in die Tiefe des Absoluten, in der sie an sich – vor der phäno-
menologischen Reduktion – verborgen liegt“205. Eine solche Erkenntnis, „im
Durchgang durch die phänomenologische Philosophie“, „des konstitutiven
Werdens der Welt aus den Ursprüngen des transzendentalen Lebens“, das der
„Weltbefangenheit“ des natürlichen Erfahrungslebens deshalb für immer
„verschlossen“ bleibt, weil es in ihr immer schon „terminiert“ sei, verkör-
perte in Finks Augen den wahren Sinn einer „transzendentalen Welterkennt-
nis“.206 – Entsprach jedoch eine Welterkenntnis, die die Welt „prinzipiell in
die Einheit des Absoluten einbehält“207, das dem natürlichen Weltleben radi-
kal – bis zur Unkenntlichkeit und Ahnungslosigkeit – entgeht, wirklich der
innersten Zielstrebigkeit der Husserlschen Phänomenologie? „Die Phäno-
menologie E. Husserls“, so formulierte Fink plakativ seine Grundüberzeu-
gung in einer – später von ihm gestrichenen – Notiz, „ist ein Durchbruch,
der in seiner Eigenart wohl heute unverstanden ist. Durchbruch in die
‚Dimension des Absoluten‘“208. Aus seiner anhaltenden Beschäftigung mit
Husserls phänomenologischen Analysen auf ihrer bisherigen Entwicklungs-
stufe zog Fink aber zugleich das folgende Fazit: „[…] [W]elche methodische
Gestalt […] überhaupt zulänglich ist, um auch nur das spekulative Urver-
hältnis von Ursprung und Entsprungenheit (Absolutem und Welt), die ‚Phä-
nomenologie des Absoluten‘, die me-ontische Emanation und Selbstverwirk-
lichung ‚Gottes‘ anzuzeigen, ist mit den methodischen Einsichten der
Husserlschen Phänomenologie prinzipiell nicht zu entscheiden“209. Denn die
Husserlsche Phänomenologie berühre bislang „nur randhaft“ die Problema-
tik, in der „in gewisser Weise alle konstitutiven Fragen überhaupt […] ein-
geschlossen sind“, nämlich die Problematik „der ‚Verendlichung‘ des unend-
lichen, absoluten Subjekts in die endliche Selbstbestimmtheit,
Ohnmächtigkeit, Preisgegebenheit, Unterworfenheit der menschlichen Exis-
tenz im Ganzen der Welt“210. „Welchen Sinn eine Analytik der ‚Verendli-

205 Ebd., S. 106.


206 Ebd.
207 Ebd.
208 EFGA 3.2, Z-XV/31a, S. 279.
209 Ebd., Z-XV/22b, S. 276.
210 Ebd., Z-XV/22a–b, S. 276.

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chung‘ (als des spekulativen Urbegriffes) haben mag“211, das war offensicht-
lich die „umfassende Grundfrage“, mit der Fink unaufhörlich rang, die ihn
immer von neuem dazu zwang, auf die Einsichten der Phänomenologie
Hegels – wenn auch nur thesenhaft – zu rekurrieren. So notierte er: „Alle
Konstitution ist letzten Endes […] Verendlichung. Entnichtung zur Existenz.
Vgl. Hegels ‚Selbstverwirklichung des Geistes‘. Das Absolute verendlicht
sich – sich entstellend und entnichtend – zum kontingenten und endlichen
Menschen“212.
In dem Eindruck, den Jan Patočka von seinen Begegnungen mit dem
jungen Fink gewonnen hatte und den er in seinen „Erinnerungen an Husserl“
für uns aufbewahrt hat, dass nämlich „eine unthematische Auseinander-
setzung mit Heidegger bei ihm offenbar ständig vor sich ging“213, lag eine
tiefe Wahrheit. Auf einem der verstreuten Merkzettel gesteht Fink selbst:
„Gerade der Rückschlag der phänomenologischen Philosophie in eine Onto-
logie, […] worin die phänomenologische Explikation des Subjekts als ein
ontologisch relevantes, aber in die Ganzheitsstrukturen erst aufzunehmendes
Unterfangen angesehen wird […], – dieser Rückschlag zwingt als retardie-
rendes Moment den spekulativen Trieb der Phänomenologie zur erneuten und
tieferbrechenden Anstrengung.“214 Es steht außer Frage, dass die von Fink
in die Wege geleitete „me-ontische Revolution“ und die mit ihr einherge-
hende „Durchbrechung der ‚Egoität‘“215 in der Absicht geschah, der „onto-
logischen Erfassung des Subjekts“ – dieser nach Finks Ansicht nur „schein-
bare[n] Revolution“, wie sie von der „Daseinsanalytik“ herbeigeführt
wurde216 – effektiv die Stirn zu bieten. Die „tieferbrechende Anstrengung“,
der Fink sich verschrieb, für die auch das wichtigste aus dieser Zeit erhaltene
schriftliche Dokument, die von ihm ganz neu entworfene VI. Meditation mit
der Aufschrift „Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre“, ein untrüg-
liches Zeugnis ablegt, markierte allerdings zugleich eine Bruchstelle. Es ist
das besondere Verdienst der langjährigen editorischen Bemühungen Ronald
Bruzinas, mit der Herausgabe des 2. Teilbandes der Phänomenologischen
Werkstatt das Publikum erstmals mit denjenigen Notizen Finks bekannt
gemacht zu haben, in denen er seine Divergenzen zu Husserl offenherzig
ausspricht. „Solange man die absolute konstituierende Subjektivität am Leit-
faden des mundanen Seinsbegriffs (oder des Seinsbegriffs überhaupt; denn
die Welt ist das Universum des Seienden!) auszulegen versucht, ist die Gefahr

211 Ebd.
212 Ebd., Z-XV/49b, S. 285.
213 Patočka, „Erinnerungen an Husserl“, S. 276.
214 EFGA 3.2, Z-XV/102b, S. 306.
215 Ebd.
216 Ebd., Z-XV/102a, S. 306.

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unabwendbar, dass diese Auslegung misslingt. So ist z. B. der Begriff der
‚Konstitution‘ nicht verständlich zu machen, wenn die transzendentale Sub-
jektivität als seiend gedacht und somit auch die Konstitution als Verhältnis
eines Seienden zu einem anderen Schon-Seienden oder erst gemachten Sei-
enden verstanden ist. – Erst die me-ontische Fassung der absoluten Subjek-
tivität zeigt die Konstitution als ein me-ontisches Verhältnis, als nicht-onti-
sches; nicht als Verhältnis zwischen Seiendem, sondern […] als Verhältnis
von Ursprung und Entsprungenheit.“217 Und weiter: „Bei Husserl hat das
spekulative Problem des ‚Ursprungs‘ erst den noch ‚unbewussten‘ Ansatz
erfahren. Die Natur des spekulativen Denkens ist für ihn unerhellt. Das
Ursprungsproblem tritt auf in der grobschlächtigen Form der Rückfrage von
der seienden Welt zu einem absolut-seienden Subjekt, für das die Welt eben
ist, was sie ist, also entlang der ‚erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt
Relation‘. Konstitution wird dann gefasst als das leistende Leben des eigen-
ständigen, weltunabhängigen absoluten Subjekts, durch welches die Welt
sich als intentionale Sinngebung aufbaut. Damit wird die zentrale philoso-
phische Problematik der Philosophie unterschlagen […]“218. Diese Kardi-
nalfrage der Philosophie drückt sich nach Fink „in der obersten Bestimmung
der Phänomenologie“ aus. Sie könne „in der Formel gewagt werden: dass
alles ‚Sein‘ (auch das ‚Sein‘ der ‚Subjektivität‘) Resultat eines Werdens ist.
Aber nicht eines ‚seienden‘ Werdens, sondern eines Werdens, das zum ‚Sein‘
führt. Dieses ‚Werden‘ in seiner me-ontischen Natur zur begrifflichen Expli-
kation zu bringen, ist nichts anderes als der Versuch, Gott selbst darzustel-
len“219. „,Konstitution‘ heißt also letztlich Manifestation oder Erscheinung
des Absoluten. ‚Phänomenologie‘ = Erscheinungslehre des Absoluten.“220
Mit Rücksicht auf die von Husserl gelegentlich, wie schon im „Nach-
wort“ zu den Ideen221 oder des Weiteren im Laufe seiner zahlreichen
Randbemerkungen zur VI. Meditation, gemachten Anspielungen auf das
„vor allem weltlichen Sein“ liegende Wesen der „absolut in sich und für
sich seienden“ transzendentalen Subjektivität merkt Fink kritisch an: „Wenn
Husserl Andeutungen macht auf die me-ontische Natur der absoluten Subjek-
tivität, ohne aber radikal zu Ende zu gehen und die volle Tragweite einer
me-ontischen Philosophie zu erkennen, wenn er auch die me-ontische Natur
nur an peripheren Ausgestaltungen erfasst hat – so zeigt doch sein Ausdruck
‚vor-seiend‘ die me-ontische Natur an; aber im Terminus ‚vor-seiend‘ liegt
doch noch ein ontisches Schema (ähnlich wie im quasi-ontischen Begriff

217 Ebd., Z-XV/26a, S. 277.


218 Ebd., Z-XV/6a, S. 271.
219 Ebd., Z-XV/7a, S. 271.
220 Ebd., Z-XV/92b, S. 302.
221 Husserl, „Nachwort“, S. 146.

70 Einleitung der Herausgeber II

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des ‚Werdens‘ bei Hegel), nämlich dass es sich hier um ein chronologisches
Verhältnis handle. Das ‚Vorseiende‘ ist noch nicht seiend im eigentlichen
Sinne usw. Die Zeit fungiert hier noch als Horizont des Verstehens! Deshalb
sagen wir terminologisch: ‚me-ontisch‘!!“222 Dass „der vom naiv-weltgläu-
bigen Leben nahegelegte Stil einer chronologischen Entwicklung, eines
chrono-logisch fassbaren ‚Geschehens‘ überhaupt“ völlig ungeeignet sei,
um „das spekulative Urverhältnis von Absolutem und Welt anzuzeigen“223,
– geschweige denn, dass damit die Problematik der „Verendlichung des
Absoluten“ schon adäquat erfasst wäre – ließ Fink nicht nach, immer von
neuem auf zahlreichen Merkzetteln zu betonen.
Wir möchten jedoch unsere Aufmerksamkeit noch auf eine letzte, bisher
kaum beachtete Bemerkung lenken, die Jan Patočka aus seinen „Erinnerun-
gen an Husserl“ schöpft. Denn sie wirft ein bezeichnendes Licht auf die
inneren Verhältnisse, die zwischen Fink und Husserl walteten – auf die
faszinierende Intrige, die sich zwischen dem Schüler, der nicht nachließ,
auf die „Analogien“ der transzendentalen Phänomenologie zum Deutschen
Idealismus zu insistieren, und dem Meister, der es vorzog, an den Einfluss zu
erinnern, den der englische Empirismus auf seine philosophische Ausbildung
ausgeübt hatte, entspann. „Fink und Husserl gemeinsam betonten aber immer
wieder, dass man sich einem konkreten Einzelproblem zuwenden solle,
um von dort her erst die allgemeine Bedeutung der phänomenologischen
Methode verstehen zu lernen – die ganze Tragweite davon ist mir erst
viel später aufgegangen.“224 Dass die Umarbeitungsvorschläge zu den „deut-
schen Meditationen“, mit denen Husserl seinen Schüler beauftragt hatte, von
diesem unter das Vorzeichen einer „me-ontischen Philosophie des absoluten
Geistes“ gestellt wurden, für deren innere Konzeption eine breitere Aus-
einandersetzung mit der Phänomenologie Hegels unumgänglich geworden
war, ist ein auf der Basis des heute erreichten Standes der editorischen
Erschließung der nachgelassenen Schriften und Notizen Finks aus dieser
Zeit unanfechtbares Forschungsergebnis. Dass Fink dabei auch die unaus-
weichlich gewordene Konfrontation der transzendentalen Phänomenologie
Husserls mit den „ontologischen“ Einsichten, zu denen die von Heidegger
in die Wege geleitete „Hermeneutik der Faktizität“ vorgedrungen war, nach
dem Vorbilde der „Differenzschrift Hegels“ zu gestalten gedachte, bestätigt
nur die Vormachtstellung, die er dem spekulativen Idealismus eingeräumt
hat für die Artikulation seiner aufeinanderfolgenden, oft mit Stillschweigen
umgebenen Versuche, Husserls „Transzendentalphilosophie“ von Grund auf
zu reformieren und „progressiv“ in das vor jeder Individuation liegende

222 EFGA 3.2, Z-XV/26b, S. 277.


223 Ebd., Z-XV/22a–b, S. 276.
224 Patočka, „Erinnerungen an Husserl“, S. 276.

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Quellgebiet vorzustoßen, aus dem das transzendentale Leben sowohl des
„primordialen Ego“ als auch des sich vergemeinschaftenden „Monadenalls“
hervorquillt. Dem Husserl unterbreiteten „Entwurf der Idee einer transzen-
dentalen Methodenlehre“ maß er jedoch nicht die philosophische Bedeutung
bei, dass mit ihr an der „für uns […] allerdings nur in einem Leerbewusstsein
gegebenen“, „offenen“ Systematik der phänomenologischen Transzenden-
talphilosophie bereits letzte Hand angelegt worden sei.225 „Die Architekto-
nik der Transzendentalphilosophie“, so merkt er im ersten Paragrafen der
VI. Meditation an, „kann nicht im voraus entworfen werden, sondern ist nur
im Durchgang durch die konkrete Arbeit aus den ‚Sachen selbst‘ zu entneh-
men“226. Die gesamten Husserl vorgelegten Entwürfe zur Umgestaltung des
deutschen Urtextes der Cartesianischen Meditationen behielt er zeitlebens
zurück. Zu ihrer Veröffentlichung konnte er sich – trotz drängender Bitten
vonseiten des späteren Herausgebers der Meditationen, Stephan Strasser227 –
nicht entscheiden.
Aus den Merkzetteln, die Ronald Bruzina im 2. Teilband veröffentlicht
hat, geht hervor, dass Fink sein philosophisches Interesse erneut in die Rich-
tung einer Fortsetzung seiner preisgekrönten Studie über Vergegenwärtigung
und Bild lenkte – jenen „Beiträge[n] zu einer Phänomenologie der Unwirk-
lichkeit“, mit denen er anschließend bei Husserl und Heidegger promoviert
worden war. Zu deren philosophischem Stellenwert hielt er in seinen Notizen
fest: „Grundsätzlich ist eine zunächst noch führungslos erscheinende, aber
vom Impetus philosophischer Spekulation getragene ‚Einzelanalyse‘ kon-
stitutiver Synthesen und Bewusstseinszusammenhänge intentionaler ‚Kon-
kretion‘ weit eher philosophisch (im Sinne einer ‚absoluten Philosophie‘) als
eine sich in vagen Ganzheitsintuitionen ausschwingende Ontologie, die sich
als Philosophie ausgibt. Eine ‚isolierte‘, d. h. eine die Führungsganzheit aus-
stehen habende Sonderanalyse bestimmter konstitutiver Bewusstseinsgel-
tungen ist prinzipiell ein Einbruchsstollen in das Absolute, wenn auch ein
solcher, der gewissermaßen nur hineingeraten ist und noch keinen Blick frei-
gibt“228. Mit diesen Ausführungen vollzog Fink eine subtile Anspielung auf
die bereits in der Dissertation formulierte, zunächst rätselhaft anmutende
Erklärung, dass seine „vorbereitenden“ Beiträge „angelegt ‹seien› im Hin-
blick auf ein noch verschwiegenes Problem der transzendentalen Phänome-
nologie“229. Den Schleier des Geheimnisses lüftete er nur teilweise, indem
er als „Ziel der Untersuchung“ die „konstitutive Analytik“ von Vergegen-

225 VI. CM/1, S. 8.


226 Ebd.
227 Stephan Strasser, „Einleitung“, in: CM-Hua I, S. XXVIII.
228 EFGA 3.2, Z-XV/57b, S. 289.
229 Fink, VB, S. 10.

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wärtigung und Bild nannte, die von der Absicht geleitet sei, „an Hand einer
konkreten Frage vorzustoßen in die Dimension des ‚absoluten Erlebnisstro-
mes‘ und diesen selbst nach gewissen Strukturen so weit freizulegen, dass
unser Einzelproblem ein ‚Fenster ins Absolute‘ (Hegel) werden mag“230.
„Die Auslegung der Erlebnisintentionalität“, so erläutert er diese von ihm
geöffnete weitere Perspektive, „hält sich selbst innerhalb konstituierter Ein-
heiten, nämlich der Akte, gibt somit kein radikales phänomenologisches
Verständnis. Vielmehr müssen wir sagen, dass die aktintentionale Auslegung
im Ganzen einer phänomenologischen Konstitutionsanalyse selbst nur die
Funktion eines Leitfadens für die im eigentlichen und prägnanten Sinne kon-
stitutive Aufklärung haben kann“231. Damit insistierte Fink erstmals auf das
zwingende Erfordernis einer „neuen Korrelativbetrachtung“, auf „ein
ursprünglicheres Zurückgehen in die temporale Konstitution der Akte
selbst“232.
Es ist die Aufgabe künftiger Forschung, genau zu prüfen, inwiefern die
vorwiegend im 2. Teilband gesammelten „Merkzettel“ zum geplanten
„II. Teil“ von Vergegenwärtigung und Bild schon dazu geeignet sind, „den
Blick freizugeben“ auf die von Fink in der „Einleitung“ seiner Dissertation
lediglich in Aussicht gestellte neuartige konstitutive Aufklärung, die die
aktintentionale Auslegung der reinen Bewusstseinserlebnisse, die vorwie-
gend „gegenstandskonstitutiv“233 orientiert ist, endgültig zu überwinden
gestattet und es in eins damit erlaubt, „das Fenster ins Absolute“ aufzustoßen
– in ein Absolutes, das nicht länger als „Strom reiner Bewusstseinserleb-
nisse“ eines Ego aufgefasst werden kann, sondern gemäß des eigenen „den-
kerischen Vorstoßes“ Finks „in solches“ hinüberleitet, „was ἐπέκεινα τῆς
οὐσίας, jenseits des Seins überhaupt ist ‹:› in die me-ontische Dimension“234.
Erneut nähern wir uns nur mit äußerster Umsicht jenem Bereich, an dem man
feststellen muss: „hic Rhodus, hic salta“ – jener Kreuzung, an der sich Hus-
serls und Finks Wege in die Phänomenologie trennten und wo Fink mit dem
Namen „Hegel“ einen „spekulativen Begriff der Konstitution“ verband,235
eines „konstitutiven Werdens“, das als „Entwicklung des Geistes zur Welt“
resp. als „Verendlichung, Entnichtung zur Existenz“ des Absoluten nichts
Geringeres als den „Weltsturz Gottes“ selbst im Auge hatte.236 Ohne die
Ergebnisse einer solchen sorgfältigen Prüfung vorwegnehmen zu wollen,

230 Ebd., S. 18.


231 Ebd., S. 19.
232 Ebd.
233 EFGA 3.2, Z-XV/71a, S. 293.
234 Ebd., Z-XV/38b, S. 282.
235 Ebd., Z-XV/38a, S. 281f.
236 Ebd., Z-XV/44b, S. 284 resp. Z-XV/49b, S. 285 und Z-XV /110a, S. 310.

Einleitung der Herausgeber II 73

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kann man mit Behutsamkeit aus der Lektüre der diesbezüglichen Merkzettel
schließen, dass Fink bereits im Vorfeld zwei Angebote im Blick auf die Revi-
sion und Reformation einer intentionalen Analytik reiner Bewusstseinser-
lebnisse abgelehnt hat. „Wohl kann man die phänomenologische Analytik
des reinen Bewusstseins (im Missverständnis des transzendentalen Wortsin-
nes ‚Bewusstsein‘) auswerten als eine in umgreifende ontologische Hori-
zonte einzustellende Wesenslehre bestimmter Bewusstseinsstrukturen, somit
bestimmter Weisen des existenzial ganzheitlich voranalysierten ‚Daseins‘.
Aber damit hat man sie um ihre philosophische Bedeutung gebracht. D. h.
soviel wie einen Diamanten als Backstein benützen.“237 Andererseits, so
urteilte Fink, „ist es ein Selbstmissverständnis Husserls, wenn er in Konkur-
renz zur ‚existenzialen Analytik‘ die Problematik der ‚Personalität‘ nur mit
den Mitteln der intentionalen Analyse zu bewältigen hofft. ‚Intentionalität‘
ist nicht die Seinsweise des personalen Subjekts, des Menschen; aus inten-
tionalen Untersuchungen entspringt nicht die Einsicht in das ontologische
Wesen des Menschen. Es ist vielmehr ein Missbrauch, Intentionalität gewis-
sermaßen ohne die konstitutive Problematik thematisch zu machen. Inten-
tionalität ist prinzipiell ein konstitutiver Begriff und führt zur Einsicht in das
Wesen des Menschen, wenn der Mensch als intentional-konstitutives Resul-
tat in Frage gestellt ist. Die Mensch-konstituierende Problemsphäre der
Intentionalität bezeichnen wir terminologisch als ‚Verendlichung‘“238.
Weder der Rückgriff auf eine „ganzheitsstrukturale Auslegung“, wie die
„Hermeneutik der Faktizität“ sie ihm exemplarisch vor Augen hielt, noch die
Anlehnung an eine durch Wilhelm Diltheys lebensphilosophische Auslegung
inspirierte „personalistische Psychologie“ schienen in Finks Augen ausrei-
chende Aussichten dafür zu bieten, die philosophische Frage, die ihn in dieser
Arbeitsphase beschäftigte, zu bewältigen. Wie aus den Schlusssätzen der
VI. Meditation unzweideutig hervorgeht, stand für Fink „nicht nur das Sei-
ende in der Gegebenheitsart der ‚Transzendenz‘, sondern ebenso auch das
Seiende als ‚Immanenz‘, die ganze Welt als das Zusammen von immanenter
Innerlichkeit des erfahrenden Lebens und von transzendenter Außenwelt“ in
einem Horizont letzter Befragbarkeit und Verständlichkeit, und zwar „im
Rückgang auf ‹ihre› transzendentale Konstitution“ in den „Lebensprozessen
der transzendentalen Subjektivität“ – als eine Konstitutionsform, die er in
ihrem Eigenwesen als „vor-seiend“ kennzeichnete,239 vermöge derer „die
mundane Erfahrungsbeziehung als eine konstituierte Situation […] zurück-
bezogen wird in die sie bildende Konstitution“240.

237 Ebd., Z-XV/57a, S. 289.


238 Ebd., Z-XV/63a, S. 291.
239 VI. CM/1, S. 178.
240 Ebd., S. 178f.

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IV. Standhaftigkeit

„Gewiss ist die Phänomenologie eine ‚Methode‘, aber die Methode der radi-
kalisiertesten Selbstbesinnung, der Selbstbehauptung und Selbstverwirkli-
chung des Geistes in der Aufschließung seiner eigenen Lebenstiefe.“241 „Die
aus dem Pathos der Selbstbehauptung des Geistes […] sich zur phänome-
nologischen Reduktion radikalisierende Selbstbesinnung führt schließlich zu
einem Verstehen des zunächst dem Geist undurchdringlichen Seins aus der
geistigen Weltbildung.“242 Es ist unverkennbar, dass bis in seinem 1934 in
Die Tatwelt veröffentlichten Aufsatz, in dem er die „phänomenologische Idee
einer philosophischen Grundlegung“ zum Gegenstand seiner Darlegungen
wählt, Fink den Leser nicht an eine „reine Bewusstseinsphänomenologie“
verwies – womit Husserl wohl vorliebgenommen hätte –, sondern es vorzog,
in vielen der von ihm selbst gewählten Redewendungen nachdrücklich an
eine „Metaphysik des Geistes“ zu appellieren, auf das „Sich-Zurückholen
und Zu-sich-selbstkommen des Geistes in der phänomenologischen Reduk-
tion“ zu insistieren, vermöge derer der sich einer radikalen Selbstbesinnung
Anheimgebende sich aus der „konstituierten Situation“, als der „Situation
der Selbstentfremdetheit des Geistes“ in der sogenannten „natürlichen Ein-
stellung“, befreien243 und damit in der Domäne der „Weltbildung (Konsti-
tution) als Macht und Leben des reinen Geistes“ erstmals festen Fuß fassen
könne.244 Welche Reaktion der besondere Akzent, den Fink der „phänome-
nologischen Grundlegungsidee“ hiermit verlieh, bei den ausländischen
Gelehrten hervorrief, kann man dem Brief entnehmen, den Hasime Tanabe
am 12. Juni 1934 an Fink richtete. Als besonders aufschlussreich empfand
der japanische Kollege den Umstand, dass Fink in seiner neuen Schrift „den
paradoxalen oder dialektischen Anfang der Phänomenologie“ herausstelle,
auf die „nicht-rezeptive“, sondern die transzendentale Subjektivität „positiv
entstehen lassende Leistung der transzendentalen Epoché“ hindeute und in
eins damit „die Eigentümlichkeit der Phänomenologie als nicht-mundaner,
sondern den Ursprung der Welt konstitutiv entdeckender Geistesphiloso-
phie“ ins Licht rücke. „Die Rückkehr des Geistes aus seiner Weltverlorenheit
und Selbstentfremdung zu sich selbst“ deute erst recht die epochale Bedeu-
tung an, die die phänomenologische Reduktion besitze. Dass die „konstitu-
tive Weltinterpretation“, zu der die Phänomenologie vorstoße, einen „welt-
bildenden Charakter“ aufweise, liefere den endgültigen Beweis dafür, wie
wenig sie im Grunde mit einer „Innenpsychologie“ gemein habe, die sich auf

241 Fink, „Was will die Phänomenologie E. Husserls?“, S. 174.


242 Ebd., S. 175.
243 Ebd., S. 176.
244 Ebd., S. 175.

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eine bloße Deskription der „Region“ des menschlichen Bewusstseins
beschränke.245 „Aber Ihre Leistung“, so führte Tanabe weiter aus, „ist nicht
bloße Aufklärung über die Phänomenologie Husserls. Wenn ich nicht irre,
haben Sie durch Ihre Bildung in der klassischen Philosophie, besonders
Hegels, sowohl als in der gegenwärtigen Philosophie, besonders Heideggers,
die Phänomenologie zu radikaler Grundlegung gefordert. Unser Meister als
Gründer der neuen Wissenschaft hat nie eine so klare Einsicht in seine Wis-
senschaft geäußert. Sie haben durch Ihr eigenes Durchdenken die radikale
Grundlegung der Phänomenologie selbst zustande gebracht. Man könnte
sagen, Sie ‹stehen im Begriff›, eine neue Epoche der Phänomenologie ‹ein-
zuleiten›“246.
Was nun aber „die Anzeige des die Phänomenologie beherrschenden
Systembegriffes“ betraf, mit der er seine Ausführungen über die „phänome-
nologische Grundlegungsidee“ beschloss, so beschränkte sich Fink auf den
Nachweis, dass „in der von Husserl durchgeführten Arbeit“ „der Grundriss
einer wirklichen Philosophie des Geistes in seiner vollen Totalität zur
differenzierten, analytischen Ausarbeitung bereits gekommen“ sei.247 In
einer ersten Gruppe sollten jene Forschungen in geschlossener Form dem
Publikum vorgelegt werden, „die der Vorbereitung und dem Vollzug der
Reduktion dienen“. „Die zweite Gruppe“, so deutete Fink an, „betrifft das
konstitutive Problem“, die konkrete Ausweisung der „Weltbildung“ „am
Leitfaden der ontologisch vorgegebenen Gliederung des Seienden“. Die
dritte Gruppe sollte „die höchsten metaphysischen Probleme (wie Gott,
Teleologie, ‚Sinn des Daseins‘ usw.)“ in den „Arbeitshorizont“ der Phänome-
nologie einbeziehen. Gerade diese Probleme boten sich „nicht dem ersten
Zugriff“ dar; zu ihnen „führte nur ein langer und mühsamer Weg“248. Gehörte
es zum philosophischen „Selbstverständnis“ der Phänomenologie, dass sie
sich fortan „in das der Welt und allem Sein vorgängige innerste Wesen des
Geistes versetzt weiß“,249 so schien die Konzeption der inneren Systematik
einer solchen „Philosophie des Geistes“ immerhin recht programmatisch
– „die Möglichkeit einer wirklich gelingenden Interpretation der Welt aus
dem Geiste“ also noch keineswegs gesichert zu sein. „Die Phänomenologie“,
so gestand Fink selbst, „ist keine architektonisch geschlossene, ästhetisch
befriedigende Gedankendichtung, sondern eine Arbeitsphilosophie“250.

245 Brief Hajime Tanabes an Eugen Fink vom 12. Juni 1934, in: EF05–75, Bilder Nr. 281–283.
246 Ebd.
247 Fink, „Was will die Phänomenologie E. Husserls?“, S. 178.
248 Ebd.
249 Ebd.
250 Ebd., S. 177.

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Auch Reverend Edward William Edwards, der Husserl bereits Anfang
Mai 1931 besucht hatte und vom 12. bis zum 18. Januar 1934 erneut in Freiburg
weilte, dankte brieflich für das Geschenk des Tatwelt-Aufsatzes. In den
Gesprächen, die er während seiner Spaziergänge geführt hatte, war Rev.
Edwards auf die Problematik der „Konstituiertheit des Monadenalls“ einge-
gangen und hatte in diesem Rahmen auch die Frage nach der monadischen
„Unsterblichkeit“ gestellt, auf die Fink in Husserls Auftrag am 24. Januar
1934 schriftlich antwortete.251 Was Rev. Edwards in Finks Ausführungen
„persönlich“ getroffen hatte, waren die folgenden, am Schluss des
I. Abschnittes abgedruckten Sätze: „Die Idee der Selbstbesinnung ist,
solange sie immer wieder am Leitfaden der uns vorgegebenen bekannten
Struktur der Zurückwendung eines Seienden (Mensch) auf sich selbst, also
in ihrer ontischen Typik verstanden wird, unvermögend, sich zur wirklich
produktiven Grundlegungsidee der Philosophie zu entwickeln“252. Dass die
Welt nur „von einer prinzipiell nicht-weltlichen Position des Geistes begrif-
fen, geistig bewältigt werden“253 könne, war mit dem Standpunkt, den er
selbst vertrat – und den Fink nun offensichtlich als „un-phänomenologisch“
bewerten musste – kaum vereinbar.254 Am 25. Juni 1934 wandte auch Gaston
Berger aus Marseille sich dankend an Fink für die Zusendung des zuvor in
Die Tatwelt erschienenen „bemerkenswerten“ Aufsatzes und äußerte den
Wunsch, während der Sommermonate nach Freiburg zu kommen.255 Am
14. August 1934 – nur wenige Wochen nachdem es zwischen Husserl und
Fink zu einer deutlichen Aussprache gekommen war – fuhr er gemeinsam
mit Fink nach Kappel zu einem Besuch bei Husserl. In der Kurzanzeige, die
Berger daraufhin in den Études philosophiques veröffentlichte,256 führte er
der Leserschaft „tout ce qu’il y a de tendu et d’extrême dans cet effort ‹de
Fink›“ vor Augen, „de distinguer soigneusement le moi ‚mondain‘ de la
subjectivité pure qui n’est pas dans le monde“. Diese extreme Anspannung
entsprang nach seiner Auffassung der „beständigen Sorge“ darum, die Phä-
nomenologie von jenen philosophischen Versuchen fernzuhalten, „dont on
la rapproche illégitimement, comme la psychologie intentionnelle de Bren-
tano, les essais de Dilthey pour déterminer l’esprit à partir des sciences
morales, ou ceux de l’école de Marbourg pour y parvenir en s’appuyant sur
le fait de la ‚science‘“257.

251 Vgl. EF05–75, Bilder Nr. 248–251; vgl. EFGA 3.2, S. 478–481.
252 Fink, „Was will die Phänomenologie E. Husserls?“, S. 172f.
253 Ebd., S. 173.
254 Vgl. Brief von Rev. Edwards an Eugen Fink vom 10. Mai 1934, in: EF05–75, Bild Nr. 280.
255 Brief Gaston Bergers an Eugen Fink vom 25. Juni 1934, in: ebd., Bilder Nr. 289–291.
256 Études philosophiques 8 (1934), S. 44f., vgl. EF05–75, Bild Nr. 292.
257 Ebd., S. 45 resp. Bild Nr. 292.

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In einer wichtigen Notiz zum Heft Z-XII/2a–b258 hat Ronald Bruzina
darauf hingewiesen, dass „obwohl Fink sich schon 1930 im Auftrag Husserls
mit der Idee einer ‚systematischen Darstellung der Phänomenologie‘ […]
und dementsprechend mit dem Begriff des ‚Systems‘ spezifisch in der Phä-
nomenologie beschäftigte […], ausdrückliche Entwürfe für die Behandlung
des Systems der Philosophie im Grundriss – d. h. nicht nur des Systems der
Phänomenologie, sondern der Philosophie als solcher – erst 1934 deutlich
auf[treten]“. Vor allem in dem Notizheft Z-XIV häufen sich die Entwürfe, in
denen „eine erste Sammlung und Bestandsaufnahme und Vergewisserung
der Stromrichtung des eigenen Denkens“ angestrebt werden sollten.259 Diese
mit „Arbeitsplan für Herbst des Jahres 1934“ bzw. mit „Aufgaben 1934/35“
überschriebenen Skizzen260 – wie es hieß: zu einem „System des sich voll-
endenden Geistes“261 – reichten allerdings über die am Schluss des Tatwelt-
Aufsatzes vorgeschlagene „Gliederung der phänomenologischen Arbeit“
innerhalb des „im voraus umgriffenen Problemraumes“ der phänomenolo-
gischen Philosophie Edmund Husserls262 weit hinaus. Letztere sollte eher
mit dem „Bericht über Husserls unveröffentlichte Manuskripte“ und mit der
„Übersicht über den Hauptinhalt von E. Husserls unveröffentlichten Manu-
skripten“ aus dem Jahre 1933 in Zusammenhang gebracht werden, die Fink
in Husserls Auftrag verfasst und später in einer Textsammlung mit der Auf-
schrift „Grammata“ untergebracht hat.263 Wie Husserl am 11. Juni 1932 sei-
nem ehemaligen Schüler Roman Ingarden berichtete, war er immer noch
dabei, „das System der phänomenologischen Philosophie (als Methodik,
Problematik und als Systemanfang selbst in der ersten Bearbeitung des
transzendentalen Bodens) zu entwerfen“, was „womöglich“ in „ein allge-
meines Grundwerk“ einmünden könnte, obwohl er mit seiner Ausarbeitung
„literarisch nicht so weit“ gekommen sei.264 Den „künftigen Generationen“
wolle er allerdings „einen brauchbaren Nachlass“ hinterlassen, damit sie in
der Lage seien, die ganze Weite seiner Nachforschungen einzusehen. Am
11. Oktober 1933 bestätigte er Ingarden gegenüber, „trotz des 75. Jahres fast
in alter Energie“ weiterzuarbeiten „an meinem Nachlass! Die Zukunft wird
ihn suchen, die Forschung sub specie aeterni wird wieder erwachen und
Zukunft wird wieder schätzen, was Zukunft (echte Zukunft) ist“265. Am
2. November 1933 teilte Husserl seinem polnischen Kollegen nochmals mit:

258 EFGA 3.2, S. 179, Anm. 3.


259 Ebd., Z-XIV/II/1a, S. 252.
260 Ebd., Z-XIV/II/1a, S. 251 resp. Z-XIV/V/4a, S. 255; vgl. Z-XIV/VI/5b, S. 259.
261 Ebd., Z- XIV/V/3a, S. 255.
262 Fink, „Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?“, S. 177.
263 EFGA 3.3, M-III Grammata, Texte Nr. 2 und Nr. 3.
264 Brief Husserls an Roman Ingarden vom 11. Juni 1932, in: Bw III, S. 287.
265 Brief Husserls an Ingarden vom 11. Oktober 1933, in: Bw III, S. 291.

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„Ich ordne und durchdenke weiter meinen ‚Nachlass‘“266. An diesem „Ord-
nen und Durchdenken“ beteiligte Fink sich aktiv, indem er im Oktober 1933
Husserl seine „Übersicht“ vorlegte. Wie schon in dem zuvor verfassten
„Bericht“, so stellte Fink auch in seiner „Übersicht“ die „konkret-analytisch
durchgeführte“ resp. die „sehr weit geführte“ „phänomenologische
Weltinterpretation“ in das Zentrum des philosophischen Interesses, indem er
in ihr den Hauptertrag von Husserls noch unveröffentlichten Manuskripten
erblickte. Das Einteilungsprinzip, das er in beiden Dokumenten der Gliede-
rung der Manuskripte in zwei „Hauptgruppen“ zugrunde legte, war in beiden
Fällen das gleiche. „Gemäß der Systematik der phänomenologischen Philo-
sophie“ gliedern sich die unveröffentlichten Manuskripte Husserls „1) in sol-
che, die den sich schon in der ‚Natürlichen Einstellung‘ (d. i. auf dem selbst-
verständlichen Boden der immer vorausgesetzten Weltgeltung) darbietenden
Problemen gewidmet sind, und 2) in solche, die erst ‹die› mit der ‚phäno-
menologischen Reduktion‘ aufgetauchten ‚transzendentalen‘ Probleme
behandeln. Oder, m. a. W., sie gliedern sich in die Hauptgruppen der munda-
nen (vorphilosophischen) und der ‚transzendentalen‘ (eigentlich philosophi-
schen) Problemstellungen.“267 Dieses Einteilungsprinzip stimmt mit dem,
das er am Schluss des Tatwelt-Aufsatzes für die Gliederung des Problem-
raums der phänomenologischen Philosophie verwendet, weitgehend überein.
Hauptinhalt der „zweiten Gruppe“ bildeten in der Tat die „Manuskripte, in
denen die konstitutive Weltinterpretation auf ihrem ersten Problemboden
entfaltet wird“. Für die – in der VI. Meditation lediglich gestreifte – „Pro-
blematik der auf sich selbst bezogenen phänomenologischen Philosophie“
sowie für die „durch die Reduktion transzendental-phänomenologisch ver-
wandelten Grundprobleme der Metaphysik: Teleologie, Ethik, Theologie“268
– jene Probleme, die nach dem Wortlaut des Tatwelt-Aufsatzes „in der tra-
ditionellen Philosophie nie als Arbeitsprobleme, sondern nur als ‚Thesen‘
aufgetreten“269 waren – sah Fink zwei Abschnitte vor, mit denen er sowohl
seinen „Bericht“ als auch die Husserl vorgelegte „Übersicht“ abschloss.
In seinem Tatwelt-Aufsatz wies Fink darauf hin, dass die bislang von
Husserl publizierten Schriften „lediglich bis vor das ungeheure Problem
der konstitutiven Weltinterpretation ‹geführt› hatten“270. In den noch unver-
öffentlichten Manuskripten Husserls, so berichtete Fink, sei „die konsti-
tutive Weltinterpretation“ wiederum „auf ihre[n] ersten Problemboden“

266 Brief Husserls an Ingarden vom 2. November 1933, in: Bw III, S. 292.
267 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 3.
268 Ebd.
269 Fink, „Was will die Phänomenologie E. Husserls?“, S. 178.
270 Ebd., S. 177.

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beschränkt.271 „Zur wirklichen Durchführung“ sei „die in den Ideen program-
matisch geforderte konstitutive Weltinterpretation“ gekommen.272 Dabei
schieden sich „die Manuskripte zur egologischen (primordialen) Weltkon-
stitution […] von den Manuskripten zur intersubjektiven (monadischen)
Konstitution der objektiven, für Jedermann seienden Welt mit all ihren
Regionen“273 – „Konstitution der ‚Objektivität‘ der Natur, der geistigen Welt,
der Kulturwelt, der weltlichen Sozialitäten usw.“274. Dieser Behandlung des
„konstitutiven Problems“ entsprach die im Tatwelt-Artikel ausgesprochene
Ansicht, „dass am Leitfaden der ontologisch vorgegebenen Gliederung des
Seienden die entsprechenden konstitutiven Theorien, die Ausweisungen
der in der Weltbildung eingeschlossenen Bildung der Natur und aller ande-
ren Regionen des Seienden zur Durchführung kommen“275 sollten. Diese
Leitfadenfunktion, die in Husserls Optik eine Ontologie der vorgegebenen
Welt noch für die Artikulation der weltkonstitutiven Problematik besaß,
dürfte in Finks ersten, noch recht provisorischen Entwürfen zu einem „Sys-
tem der Philosophie im Grundriss“ zunehmend fragwürdig geworden sein.
Die von ihm vorgeschlagene Dreiteilung seines Systems in „Kosmologie,
Phänomenologie des Geistes und Ontogonie (Theologie)“276 enthält in der
Tat keinen expliziten Verweis mehr auf eine „regionale“ Gliederung der
Welt, an deren Leitfaden die im zweiten Buch der Ideen unternommenen
„Untersuchungen zur Konstitution“ sich entfaltet hatten. „Husserls Begriff
der Ontologie“, so notierte Fink schon mit Bezug auf die im I. Teil des
Systems zu entwerfende ‚Kosmologie‘ als Lehre von der Welt und dem
Weltbegriff, „‹ist› nicht ausreichend“277. „Welt als das Ganze des Seienden,
der ‚All-Enthalt‘“, sei „weder in naturaler noch geistesgeschichtlicher (his-
torischer) Einstellung fixierbar“278. Aber, so fügt Fink hinzu, „Heideggers
Begriff ‹ist› auch noch zu eng“279. „Über den bloß geisteswissenschaftlichen
Begriff der ‚Welt‘ ist auch eine wesenhafte Grundstruktur des je ‚seine Welt‘
habenden Daseins aufzuweisen. Dieser ‚existenziale Weltbegriff‘ ist aber
keineswegs der eigentlich kosmologische, ist auch nicht ursprünglicher.“280
„Welt aber ist, das zu zeigen ist die Aufgabe der Kosmologie, ein an sich
bestehender reiner Enthalt. Wenn auch kein Seiendes, keine Menge oder

271 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 3.


272 Ebd., Text Nr. 2.
273 Ebd.
274 Ebd., Text Nr. 3.
275 Fink, „Was will die Phänomenologie E. Husserls?“, S. 178.
276 EFGA 3.2, Z-XIV/V/3a und 4a, S. 255.
277 Ebd., Z-XIV/VI/1a, S. 258.
278 Ebd., Z-XIV/II/2a, S. 253.
279 Ebd., Z-XIV/VI/1a, S. 258.
280 Ebd., Z-XIV/II/2a–b, S. 253.

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ein unendlich großes Ding, so doch unabhängig von der binnenweltlichen
Faktizität des Subjekts.“281 „Die Kosmologie, als der notwendig I. Teil
der Philosophie, fasst die un-naturalistische (‚un-vorhandene‘) Subjektivität
gerade in dieser ihrer weltlichen Seinsweise auf. Die Unvollendetheit des
Geistes in der Welt, sein fragmentarisches Dasein, die Wirklichkeit seines
Außer-sich-seins, seiner Entstellung, ist keine ontologisch-kosmologisch
demonstrierbare Tatsache, sondern das spekulative Faktum schlechthin, d. i.
eine me-ontische Wahrheit.“282 „Pathos der Kosmologie, in der sie selbst erst
möglich wird, ist die Welttapferkeit im Wissen um die Weltgefangenschaft,
[…] die Ergriffenheit vom ‚spekulativen Karfreitag‘.“283
Erneut zeigt sich uns, inwiefern die anhaltenden Bemühungen um einen
Entwurf der inneren Systematik der Lehre von der transzendentalen ‚Welt-
konstitution‘, zu denen Husserl und Fink sich verbunden hatten, eine durch-
lässige Scheidewand bildeten – wie sie gleichsam als filtrierende Membran
fungierten. In Finks „treuen Händen“, so beschrieb Van Breda in seiner
„Laudatio“ die damalige Sachlage, „sollten ‹Husserls› letzte phänomenolo-
gische Errungenschaften deponiert werden, um in ‚besseren Zeiten‘ zur Stil-
lung der ‚Sehnsucht von Jahrhunderten‘ verwendet zu werden“284. „Es wird“,
so schrieb Husserl diesbezüglich an seinen Assistenten am 21. Juli 1934 aus
Kappel, „also Ihnen (wenn Sie noch dabei bleiben, meinen Nachlass zu
übernehmen) schwierige und hoffentlich fruchtbare Vorarbeit geleistet“285.
Indem er die Arbeit an seinen alten Manuskripten „als Verbesserung“ für
„sehr wichtig“ hielt, verzichtete Husserl gleichzeitig „ganz und gar auf sys-
tematische Ausarbeitungen“.286 Die Aussichten darauf, dass der Ertrag seiner
gesamten phänomenologischen Lebensarbeit auf die Dauer in gute Hände
kommen würde, hatten sich dank der Initiative von Jean Hering und der
Bemühungen von Alexandre Koyré und Roman Ingarden für Husserl wesent-
lich gebessert. Wie er in seinem am 7. Oktober 1934 an Gustav Albrecht
gerichteten Brief mitteilte, bestand „unter dem kleinen Kreis meiner
Getreuen der Plan, internationale Mittel zu beschaffen, um ein Archiv (wie
in Prag das Brentano-Archiv) für meine Manuskripte (einige tausend Blätter,
stenographisch) zu begründen und diese nach und nach zunächst so wie sie
sind zum Druck zu bringen, außerdem Fink die systematische Ausarbeitung
zu ermöglichen“287. Dass Fink „sich standhaft mit dem geliebten Meister

281 Ebd., Z-XIV/VIIII/2a, S. 260f.


282 Ebd., Z-XIV/IX/2b, S. 262.
283 Ebd., Z-XIV/10b, S. 263.
284 Van Breda, „Laudatio für Ludwig Landgrebe und Eugen Fink“, S. 4.
285 Brief Edmund Husserls an Eugen Fink vom 21. Juli 1934, in: Bw IV, S. 93f.
286 Ebd., S. 93.
287 Brief Edmund Husserls an Gustav Albrecht vom 7. Oktober 1934, Bw IX, S. 105.

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abschloss“ – der mit einem Ende August 1934 an den Prager Philosophen-
Kongress gerichteten Brief sowie mit einer Stellungnahme zu der an ihn
gestellten Frage „Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie“ seine
„letzte phänomenologische Darstellung“ in die Wege leitete –, dass der
„höchstbegabte Schüler“ Husserls zugleich „stoisch jede Habilita-
tion ‹ablehnte›, da sie durch Untreue dem Meister gegenüber bedingt wäre“,
bedeutete jedoch nicht, dass er die systematische Arbeit an Husserls Nachlass
fraglos übernommen hätte.288 Es entsprach übrigens Husserls hochgespann-
ten Erwartungen, in seinem Assistenten nicht „einen schülerhaften Geist,
sondern einen produktiv mitdenkenden“ gefunden zu haben.289
Eine letzte, kurze Darstellung von Finks Hand, in der dieser auf die phi-
losophische Bedeutung hinweist, die Husserls noch unveröffentlichten
Manuskripten beizumessen sei, ist auf „Januar 1935“ datiert.290 In seinen
„Erinnerungen an Husserl“ hat Jan Patočka ausführlicher davon berichtet,
wie er als „tschechischer Sekretär“ des in Prag gegründeten Cercle linguis-
tique „Husserls Einladung“ angenommen habe, „ihn Weihnachten 1934 in
Freiburg aufzusuchen“. In Prag wurden damals „Pläne geschmiedet“, um
Husserl „die große Sorge um seinen Nachlass“ dadurch abzunehmen, dass
zunächst eine Bestandsaufnahme des gesamten vorliegenden Materials
erstellt wurde und im weiteren Verlauf von den Stenogrammen maschinen-
schriftliche Abschriften angefertigt werden sollten. „Zugleich wurde der
Gedanke gefasst, Husserl zu einer Vortragsreise nach Prag einzuladen.“291
Wie Husserl am 29. Dezember 1934 an Gustav Albrecht schrieb, sei es
„schon höchstwahrscheinlich, dass ich nach Prag soll, dort Vorträge zu halten
[…]. Vielleicht ist das sehr wichtig, um meinen Nachlass vor dem Untergang
zu retten.“292 Zuvor hatte auch Jean Hering ihn zu einem Vortrag nach
Straßburg geladen. Wenn Husserl in diesen neuen Entwicklungen günstige
Vorzeichen sah, so waren es immerhin – in seinen Worten – „vorläufig noch
ungelegte Eier“293. Da Jan Patočka Anfang Januar 1935 aus Freiburg wieder
abreiste, verfasste Fink seinen kurzen Bericht über „Husserls Manuskripte“,
in dem er auf „die dringende Notwendigkeit“ hinwies, dass von den in
Gabelsberger Stenografie niedergeschriebenen Originalen – vorsorglich –
„zum mindesten die maschinenschriftliche, in mehreren Exemplaren anzu-
fertigende Abschrift“ vorgesehen werde. Außer Betracht blieben diesmal die
mit dem Erfordernis ihrer systematischen Interpretation verbundenen Pro-

288 Van Breda, „Laudatio für Ludwig Landgrebe und Eugen Fink“, S. 4.
289 Brief Husserls an Gustav Albrecht vom 7. Oktober 1934, Bw IX, S. 105.
290 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 4.
291 Patočka, „Erinnerungen an Husserl“, S. 281.
292 Brief Husserls an Gustav Albrecht vom 29. Dezember 1934, in: Bw IX, S. 113.
293 Ebd., S. 114.

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bleme.294 In der Darstellung der „universalen Thematik“, auf die sich die
nachgelassenen Manuskripte Husserls bezogen, setzte Fink – im Vergleich
zu dem von ihm vorher beschriebenen „Problemraum“ der phänomenologi-
schen Philosophie – neue Akzente: „[…] Angefangen von einer konkreten
Anthropologie über die Sinngenesis der Wissenschaften, die thematische
Strukturlehre aller Wissenschaften bis zur universalen, alle Regionen des
Seienden einbeziehenden Ontologie durchforschen […] die Manuskripte in
der am Urphänomen des Verstehens: der Intentionalität, orientierten Metho-
dik das ganze Universum des weltlichen Wissens vom Seienden und des
menschlichen Lebensverständnisses, um es dann auf seine ‚transzendentale
Konstitution‘ zurückbeziehen und so in die Dimension einer radikaleren
Verständlichkeit: der Konstitution, einzustellen.“295 Mit der „in der Methodik
intentionaler Sinnbefragung verlaufenden Deskription der ursprünglichen
Lebenswelt, des Menschen in seiner Heimwelt, der vorwissenschaftlichen
Erfahrungswelt im intentionalen Sinnaufbau ihrer Geltungszonen, des Men-
schen in Normalität und Anomalität, in allen seinen elementaren und höchst
differenzierten Verhaltungsweisen“296 schuf die Phänomenologie sich ein
neues Sprungbrett für den Einstieg in die transzendental-konstitutive For-
schung. Finks Plädoyer für eine zügige Herstellung maschinenschriftlicher
Abschriften von den Husserlschen Stenogrammen fand in Prag Gehör. Wie
Malvine Husserl am 17. März 1935 an Gustav Albrecht schrieb, „hat der
Cercle Philosophique in Prag zunächst für 1–2 Jahre Mittel bereitgestellt und
jetzt für 3 Wochen Dr. Landgrebe, der an der deutschen Universität habilitiert
ist, hergeschickt, um eine detaillierte Bestandsaufnahme des vorhandenen
Materials durchzuführen, um dann auch gleich mit dem Abtippen zu begin-
nen und daneben an jene Publikationen heranzugehen, die ihm aus seiner
Assistentenzeit vertraut sind.“297 Als Husserl nun auch vom Wiener Kultur-
bund zu einem Vortrag eingeladen wurde und sich nicht damit zufrieden
geben wollte, „alte Gedanken ‹zu repetieren› und bloß einen höheren Schul-
aufsatz daraus zu machen“, entwarf er „in Überarbeitung der Abhandlung,
die ich zunächst vor dem kurzen Brief nach Prag (dem Kongress) zugesandt
hatte“, eine „wesentlich tiefere geschichtsphilosophische Gedankenreihe“,
wollte aber „nicht darin allein steckenbleiben“ – vielmehr „aufgrund meiner
vielen Untersuchungen darüber eine Grundschrift über phänomenologische
Reduktion ausarbeiten und damit mir selbst und der Welt beweisen, dass ich
noch lange nicht der Vergangenheit angehöre“298. Zu diesem Zeitpunkt nahm

294 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 4.


295 Ebd.
296 Ebd.
297 Brief von Malvine Husserl an Gustav Albrecht vom 17. März 1935, in: Bw IX, S. 115.
298 Brief Edmund Husserls an Gustav Albrecht vom 11. April 1935, in: Bw IX, S. 117.

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er Finks in den Kant-Studien veröffentlichten Aufsatz über „Die phänome-
nologische Philosophie E. Husserls in der gegenwärtigen Kritik“299 erneut
zur Hand. Mit dem Titel des am 7. Mai 1935 in Wien gehaltenen Vortrags
„Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit“ tauchte
zugleich das die literarische Form seiner geschichtsphilosophischen Refle-
xionen prägende Hauptmotiv auf, das daraufhin der „letzten phänomenolo-
gischen Darstellung“, zu der Husserl sich in seinen letzten Lebensjahren
mühsam durchrang, ein lebhaftes Echo verlieh.
Auf die phänomenologische Zusammenarbeit zwischen Husserl und
Fink in der zweiten Hälfte des Jahres 1931 bis zum Ende des Jahres 1933 fiel
ein besonderes Licht durch das persönliche Zeugnis, das Dorion Cairns mit
seinen Conversations with Husserl and Fink der Nachwelt hinterlassen
hat.300 Die in dem vorliegenden 3. Teilband der Phänomenologischen Werk-
statt erstmals versammelten Arbeitsnotizen, Seminarvorbereitungen,
Betreuungsarbeiten von ausländischen Gästen und ausgewählten Briefstücke
von Finks Hand dokumentieren auf eindrucksvolle Weise die Assistenzjahre
1934 bis 1938. In einem am 3. Juli 1959 auf der Husserl-Feier der Universität
Freiburg gesprochenen Vortrag „Die Spätphilosophie Husserls in der Frei-
burger Zeit“ 301 hat Eugen Fink den Versuch unternommen, die einzigartige
Atmosphäre zu schildern, die diese Jahre beherrschte. Er rief in Erinnerung,
dass Husserl „sich nie in einem System eingerichtet“ hatte, dass die neuen
„Zugangswege“, die er zu seiner phänomenologischen Philosophie in diesen
Jahren entwarf, alle „ins Freie führten“, dass „seine eigentliche Spätphilo-
sophie im Nachlass“ liege, in jenen „Meditationen, die sich über Tage,
Wochen und Jahre hinzogen“ und „keine Adresse an einen Leser haben“;
dass der Meister in dieser letzten Arbeitsphase, als es darum ging, den
„Quellgrund“ des transzendentalen Lebens zu erfassen, zu „ominösen
Begriffen“ gelangte, die zwar an „das Vokabular einer ‚absoluten Metaphy-
sik‘“ erinnerten, „in der Sache jedoch weit davon entfernt“ waren; dass „die
unbequeme, herausfordernde und mühsame Philosophie“ dieser Jahre „keine
Parteigänger und keine Jüngerschaft brauchen konnte“, sondern „zuerst
jeden auf den Weg eigener Nachdenklichkeit schickte“.302 Diesen Weg – von
den ersten Gedankenblitzen in seinen Unterredungen mit Husserl während
des gemeinsamen Aufenthalts in Chiavari an bis zu dem im Herbst 1934 ent-
worfenen „Arbeitsplan“, der der „Vergewisserung der Stromrichtung des
eigenen Denkens“ für die kommenden Jahre dienen sollte – hat Fink nie aus
dem Schatten herausgeführt, in dem er sich durch den blendenden Lichtkreis,

299 Vgl. HChr, S. 460.


300 Cairns, Conversations with Husserl and Fink. (Phaenomenologica Bd. 66), Den
Haag 1976.
301 Fink, „Die Spätphilosophie Husserls in der Freiburger Zeit“, in: ND, S. 205–227.

302 Ebd., S. 217, S. 220, S. 224f.

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den das Denken Husserls um sich warf, befand. Und erst als sein 70. Geburts-
tag nahte, entschloss er sich zögernd dazu, in der geplanten Sammlung seiner
phänomenologischen Aufsätze und Vorträge auch erstmals Schriftstücke zu
veröffentlichen, die nahezu 40 Jahre zurückreichten, angefangen von dem
im Jahre 1935 in Dessau und Bernburg gehaltenen Vortrag über „Die Idee der
Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“ über den
auf Dezember 1937 datierten Text „Anfangsparagraphen zu einer geplanten
Schrift über Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls“ bis zu dem
„Nachruf auf Edmund Husserl“ vom Juli 1938.
Von sich selbst gestand Husserl, in diesen Jahren „zum philosophischen
Eremiten geworden ‹zu sein›“, „losgelöst von aller ‚Schule‘“.303 In diese
Zurückgezogenheit begleitete ihn der damals 29 Jahre alte Assistent, der
„sich nicht einmal habilitieren“ wollte, „um ganz der Phänomenologie, der
Vollendung meiner Manuskripte [hingegeben] leben zu können“, wie Husserl
an Gustav Albrecht berichtete.304 Allerdings gab Husserl seinem Onkel darin
recht, „dass ich meine Einsamkeit etwas übertreibe, nämlich insofern, dass
ich nicht allein bin mit meinem Fink. Es gibt schon da und dort Philosophen,
sich nach einer echten Philosophie sehnend, die den Ernst meines Radika-
lismus und stückweise die Kraft meiner Erkenntnis […] erleben. Aber ich
habe nicht ein Publikum offen, so wie jede Philosophie jeder Zeit es hatte.
Aber wohl bin ich sicher, dass es sich von den Wenigen aus einmal bilden
wird.“305 Sehr gefreut hatte Husserl sich auf den Besuch, den Gaston Berger
ihm am 14. August 1934 in Kappel machte. „Seit 10 Jahren studiert er meine
schwierigen Schriften und er zeigte sich so beschlagen, so tief verstehend –
ich wollte, ich hätte in Deutschland auch nur ein halbes Dutzend so Verste-
hender und Mitarbeitender!“306 Mitte November überraschte Ortega y Gasset
Husserl mit seinem Besuch: „[I]ch [Husserl] und Fink ersahen an seinen in
die feinsten und tiefsten Probleme der Phänomenologie hineinreichenden
Fragen“, wie weit er selbst in seiner „streng philosophischen Wirksamkeit“
bereits gekommen war.307 Am 20. Oktober 1934 traf nun auch Charles Morris
aus Chicago in Freiburg ein. „Hierher kam er für 2 Wochen, um wissen-
schaftliche Probleme, die auch in meinen Logischen Untersuchungen behan-
delt sind, mit mir und Dr. Fink durchzusprechen“, so berichtete Husserl über
diesen Arbeitsbesuch an Eduard Baumgarten.308 Zur Vorbereitung dieses

303 Brief Husserls an Roman Ingarden vom 11. Juni 1932, in: Bw III, S. 286.
304 Brief Husserls an Gustav Albrecht vom 19. Mai 1934, in: Bw. IX, S. 100.
305 Brief Husserls an Albrecht vom 26. November. 1934, in: Bw. IX, S. 110.

306 Brief Husserls an Albrecht vom 7. Oktober 1934, in: Bw. IX, S. 105–106.

307 Brief Husserls an Albrecht vom 26. November 1934, in: Bw. IX, S. 111.

308 Brief Husserls an Eduard Baumgarten vom 20. Oktober 1934, in: Bw. VII, S. 25; vgl. dazu:

Husserls Brief an Jan Patočka vom 20. Oktober 1934, in: Bw. IV, S. 428.

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Arbeitsaufenthalts hatte Felix Kaufmann sich am 18. August 1934 aus Wien
brieflich an Eugen Fink gewandt: „Prof. Charles Morris von der Universität
Chicago, der auf einer Studienreise durch Europa einige Wochen in Wien
verbracht hat und jetzt in Prag ist, beabsichtigt im Frühherbst nach Freiburg
zu kommen, um Phänomenologie zu studieren. Er ist ein scharfer, geschulter
Denker, gehört der pragmatistischen Schule Deweys an und arbeitet an einem
Werk über den Symbolbegriff. Daher dürfen ‹ihn› auch die eigentlich trans-
zendentalen Probleme nicht in dem Maße interessieren, wie die mit dieser
Arbeit zusammenhängenden Fragen. Er dürfte etwa 2 Monate in Freiburg
bleiben und möchte bei Ihnen (natürlich entgeltliche) Stunden nehmen. Ich
hoffe, dass Sie einverstanden sein werden. Sie werden sich glaube ich auch
menschlich sehr gut mit ihm verstehen und was die Thematik betrifft, so
kommt er ja bei Ihnen gerade im Hinblick auf den Symbolbegriff vor die
rechte Schmiede.“309 Im Zuge des Paragrafen 10 der VI. Meditation, die
Kaufmann zuvor in Wien zur Lektüre bekommen hatte, hatte Fink bei der
„Analyse der Inadäquatheitsverhältnisse der natürlichen Sprache“ besonders
auf die analogischen und die symbolischen Redeweisen hingewiesen, diese
aber von der „Inadäquatheit der transzendentalen Apophansis“ und von der
Eigenart der in dieser vorherrschenden „transzendentalen Analogie des
Bedeutens“ scharf zu unterscheiden versucht.310 Felix Kaufmann, der sich
gemeinsam mit Roman Ingarden um das Schicksal der unveröffentlichten
Manuskripte Husserls kümmerte und zum Zweck einer internationalen Fun-
dierung der mit ihrer künftigen Publikation verbundenen Druckkosten die
Gründung einer internationalen phänomenologischen Gesellschaft befür-
wortete, hielt es für besonders empfehlenswert, wie er in seinem Schreiben
vom 9. Oktober 1934 mitteilte, dass Husserl diese Angelegenheit mit Prof.
Morris besprechen würde.311 Die im Notizheft mit der Sigle OH-VIII aufbe-
wahrten Zettel sind ein Beleg dafür, dass Fink, Kaufmanns Rat befolgend,
nicht die mit der Problematik des „transzendentalen Scheins“ eng verschwis-
terte Frage nach der Eigenart der transzendentalen Aussage zum Hauptge-
genstand seiner Unterrichtsstunden gewählt hat, sondern – generell – Laut-
und Schriftsprache als ein Medium von Objektivation des Sinnes betrachtet
und in der phänomenologischen Behandlung der durchaus „heterogenen“
Felder von „Sinn“ das Augenmerk zugleich auf die „pragmatische“ Dimen-
sion der Sprache gerichtet hat.
Wie Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp in ihrer „Einleitung der Her-
ausgeber“ zu Band XXVII der Husserliana/Gesammelten Werke bereits

309 Brief von Felix Kaufmann an Eugen Fink vom 18. August 1934, in: EF05–75, Bilder
Nr. 301–303.
310 VI. CM/1, S. 98–100.

311 Brief von Felix Kaufmann an Husserl vom 9. Oktober 1934, in: Bw. IV, S. 204.

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nachgewiesen haben, eröffnete die sogenannte „Prager Abhandlung“ – jene
Abhandlung, die Husserl zusammen mit einem Brief als Antwort auf die vom
VIII. Internationalen Kongress für Philosophie, der vom 2. bis zum 7. Sep-
tember 1934 in Prag stattfand, an ihn gerichtete Frage nach der „gegenwär-
tigen Aufgabe der Philosophie“ verfasst hatte – „die Reihe der ausgearbei-
teten Texte, die zu Husserls letztem großem Werk, der Krisis der
europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenolo-
gie ‹führten›: der Vorträge in Wien und Prag“312. Um die Jahreswende
1934/35, als Fink vorübergehend „zu Hause am Bodensee“ die Weihnachts-
feiertage verbrachte,313 bat der Künstler Robert Kastor, der ein Maleratelier
in Paris hatte, Husserl um ein „Motto“ für das von ihm angefertigte Kupfer-
stichporträt. In mehreren Entwürfen versuchte Husserl, in engem Anschluss
an die vorangegangenen Ausführungen seiner „Prager Abhandlung“, ein
solches Motto zu formulieren.314 In dem Konvolut, das die Husserlschen
Entwürfe enthielt, lag auch ein von Eugen Fink ausgearbeiteter Text, der auf
„Dezember 1934“ datiert ist und offenbar einen „Vorschlag“ für Husserls
Textentwürfe darstellte. Er ist als Text mit der Nummer 6 in die Textsamm-
lung „M III – Grammata“ aufgenommen worden.315
Am 20. Oktober 1934 berichtete Husserl an Jan Patočka: „Frl. Mićić ist
ein prächtiger Mensch und als Phänomenologin wirklich hoffnungsvoll. Sie
versprach hierherzukommen.“316 Am 14. Februar 1935 bestätigte er: „Wir
sind hier in strammer Arbeit und Frl. Mićić hat seit etwa 2 Wochen Unterricht
– sie ist sehr eifrig und gut schon in allen Grundschriften bewandert.“317 An
diesem Privatunterricht, den die aus Belgrad stammende Philosophin von
den ersten Wochen des Monats Februar 1935 an erhielt, dürfte auch Eugen
Fink sich mitbeteiligt haben. Mit Frl. Mićić blieb Husserl auch später in
Kontakt. Als die Druckfahnen mit der zweiten Korrektur des I. Teils der
Krisis-Schrift, der in der von Arthur Liebert herausgegebenen Zeitschrift
Philosophia erscheinen sollte, nicht eintrafen, und Liebert, der nach Belgrad
emigriert war, trotz dringender Nachfrage nicht antwortete, bat Malvine
Husserl Frl. Mićić um Auskunft über den Verbleib dieser Unterlagen.318 Am
5. Mai 1937 schrieb Husserl an Ludwig Landgrebe, dass „Dr. Fink […] jetzt
für […] phänomenologisch wichtige Zwecke vielfach in Anspruch genom-

312 Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, „Einleitung der Herausgeber“, in: Husserl, Aufsätze
und Vorträge (1922–1937), S. XXVIII.
313 Vgl. Husserls Brief an Jan Patočka vom 20. Oktober 1934, in: Bw. IV, S. 428.

314 Vgl. dazu: die Beilage XX in: Hua XXVII, S. 238–239.

315 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 6.

316 Brief Husserls an Patočka vom 20. Oktober 1934, in: Bw. IV, S. 428.

317 Brief Husserls an Patočka vom 14. Februar 1935, in: ebd., S. 429.

318 Vgl. Malvine Husserls Brief an Gerhart Husserl vom 10. November 1936, in: Bw. IX,

S. 253.

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men wird (von Marseille, wo G. Berger uns die Einleitung zu seiner Thèse
geschickt hat, die einfach unglaublich tiefdringend in den Geist der trans-
zendentalen Phänomenologie ist, von Mićić – Belgrad etc.)“319. Das in der
Sammlung „M – III Grammata“ unter der Nummer 16 abgedruckte, von Fink
verfasste „Vorwort“ zu dem Buch von Zagorka Mićić: „Fenomenologija
Edmunda Husserla (Beograd, 1937)“ stammt ebenfalls aus dem Monat Mai
des Jahres 1937.320 Es bringt das „lange und intensive Studium“ in Erinne-
rung, das die Verfasserin „unter der persönlichen Anleitung von Prof. Hus-
serl“ in Freiburg erhalten hatte.321 In seinen einführenden Sätzen bemühte
Fink sich vor allem darum, auf die fundamentale Bedeutung hinzuweisen,
die das Stadium der „zweiten Wirksamkeit“, zu der die Phänomenologie
Husserls inzwischen fortgeschritten war, für das richtige Verständnis jenes
„Grundproblems“ besaß, in dem sich „ihr integraler Sinngehalt“ erstmals
enthüllte. „Die Exposition dieses Problems“, so fügte er hinzu, „ist die ‚phä-
nomenologische Reduktion‘, seine Durchführung die Lehre von der ‚trans-
zendentalen Konstitution‘“322. Die Anzeige des durch die einleitenden
Schriften Husserls vielfach verdeckten „eigentlichen Problems der Phäno-
menologie“ würde Fink nachhaltig beschäftigen – wie der 1939 in der Revue
internationale de Philosophie veröffentlichte Aufsatz „Das Problem der
Phänomenologie E. Husserls“ eindrucksvoll bezeugt.323
Nicht nur mit Belgrad, sondern auch mit Aix-Marseille unterhielt Fink
einen regen wissenschaftlichen Austausch. Gaston Berger war „mit dem
großen Umweg über Freiburg von Marseille nach der Bretagne gefahren,
um ‹Husserl› einen Besuch zu machen“,324 und zusammen mit Eugen Fink
am 14. August 1934 in Kappel bei Lenzkirch eingetroffen. Bei diesem Besuch
schenkte Fink ihm ein Durchschlagexemplar seiner VI. Meditation, mit Aus-
nahme allerdings des Paragrafen 12 über „Die Phänomenologie als transzen-
dentaler Idealismus“, den er zurückhielt.325 Schon im Vorfeld dieser Reise
hatte Berger sich am 25. Juni 1934 brieflich an Fink gewandt. Mit großem
Interesse hatte er Finks Artikel „Was will die Phänomenologie E. Husserls?“
gelesen und wollte diesen in den Études philosophiques rezensieren. Er
drückte zugleich den Wunsch aus, Fink während der Ferien zu treffen und
sich mit ihm „über die Positionen und Lösungen zu unterhalten, die die Phä-

319 Brief Husserls an Ludwig Landgrebe vom 5. Mai 1937, in: Bw. IV, S. 373.
320 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 16.
321 Ebd.

322 Ebd.

323 Eugen Fink, „Das Problem der Phänomenologie E. Husserls“, zuerst in: Revue interna-

tionale de Philosophie I (1939), S. 226–270, jetzt in: Studien, S. 179–223.


324 Brief von Malvine Husserl an Elisabeth Rosenberg-Husserl vom 15. August 1934, in: Bw.

IX, S. 442f.
325 van Kerckhoven, Mundanisierung und Individuation, S. 29 und S. 80.

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nomenologie einnimmt in Bezug auf gewisse Probleme der Erkenntnistheo-
rie, die mich beschäftigen“. Er erkundigte sich zugleich über Husserls Ver-
bleib während der Sommermonate und die Möglichkeit, ihm einen Besuch
abzustatten.326 Berger, der bereits am 26. Februar 1929 Husserl die Ehre
erwiesen hatte, ihn zum „membre correspondant de la Société d’Études Phi-
losophiques de Marseille“ zu ernennen,327 sandte in der Zeit, während derer
Husserl in Rapallo einen Erholungsmonat verbrachte, seinem Assistenten
eine Liste mit Fragen zu, auf die Fink Anfang des Monats Mai 1936 einzu-
gehen sich bemühte. Finks Antworten sind mit dem Titel: „Brief an G. Ber-
ger“ als ein philosophisch bedeutsames Dokument in die vorliegende Edition
des Teilbandes 3 der „Werkstatt“ aufgenommen und der Sammlung „Gram-
mata“ unmittelbar vorangestellt worden.328 In den von Berger an Fink gerich-
teten sechs Fragen drückte sich das zentrale philosophische Interesse aus,
das Berger bei der Ausarbeitung seiner Schrift über Le cogito dans la philo-
sophie de Husserl leitete. Insbesondere auf die beiden erstgestellten Fragen
nach der „Seinsweise“ der transzendentalen Erlebnisse und das Fehlen einer
mundanen Motivation für den Vollzug der transzendental-phänomenologi-
schen Reduktion ging Fink in aller Ausführlichkeit ein. Eine ausreichende
Antwort auf die von Berger zum Schluss aufgeworfene Frage nach der Dif-
ferenz zwischen dem mundanen und dem transzendentalen Apriori und nach
der spezifischen Rolle, die der Ideation innerhalb der transzendentalen
Sphäre zukäme, hätte nach Finks Ansicht „eine kleine Abhandlung“ erfor-
dert. Der rege Gedankenaustausch dürfte sich im darauffolgenden Jahr fort-
gesetzt haben, als Gaston Berger das Kapitel „Position centrale du cogito“
verfasste,329 das er laut Husserls Brief an Ludwig Landgrebe vom 5. Mai
1937 als „Einleitung zu seiner Thèse“ ebenfalls nach Freiburg schickte.330
Nicht aufgenommen in die vorliegende Textsammlung sind Finks Versuche,
auf die zusätzlichen Fragen zu antworten, die Berger in diesem Zusammen-
hang an ihn gerichtet hat. Sie bezogen sich von neuem auf den fraglichen
Unterschied von „Wesen“ und „Faktum“ im Bereich der transzendentalen
Subjektivität und auf die Reichweite einer „apodiktischen Erkenntnis“ des
Transzendentalen. Die maschinenschriftliche Fassung dieser „Entwürfe zu
einer Antwort an Berger“ ist im Nachlass Finks aufbewahrt. Welche Bedeu-
tung Gaston Berger dem brieflichen Austausch gegenseitiger phänomeno-
logischer Grundeinsichten zwischen ihm und Fink beimaß, kann aus der im

326 Brief von Gaston Berger an Eugen Fink vom 25. Juni 1934, zitiert nach der deutschen

Übersetzung von Susanne Fink; vgl. EF05–75, Bilder Nr. 289–291.


327 Brief von Gaston Berger an Edmund Husserl vom 26. Februar 1929, in: Bw. VIII, S. 77.

328 EFGA 3.3, Brief an Gaston Berger.

329 Berger, Le cogito dans la philosophie de Husserl, S. 7–16.

330 Brief Edmund Husserls an Ludwig Landgrebe vom 5. Mai 1937, in: Bw. IV, S. 373.

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Jahre 1941 erschienenen Schrift Le cogito dans la philosophie de Husserl
unmittelbar herausgelesen werden. Auf den Seiten 45, 58, 65 und 77 zitiert
Berger direkt aus dem Antwortbrief, den Fink ihm am 11. Mai 1936 zuge-
schickt hatte; auf den Seiten 56 und 76 bezieht er sich auf den Antwortbrief,
der ihm am 18. April 1937 zugegangen war. Auf S. 115 (Anm. 1) weist Berger
außerdem in seiner Diskussion der von Husserl selbst eröffneten Perspektive
einer „Kritik der apodiktischen Erkenntnis“ auf seine Lektüre und sein Stu-
dium der VI. Meditation hin: „Nous avons eu entre les mains le texte d’une
‚Sixième Méditation‘ rédigée par M. Fink, non comme complément éventuel
des cinq méditations de Husserl, mais comme document de travail, destiné
à servir de base à ses entretiens avec Husserl sur le point qui retient ici notre
attention, c’est-à-dire en quelque sorte sur une ‚théorie de la connaissance
phénoménologique‘. Nous ne saurions évidemment utiliser un tel document
qui ne présente aucune idée comme définitive et constitue un moment concret
de la recherche. Sa lecture et la connaissance de certaines remarques faites
par Husserl à son propos nous montrent cependant d’une part quel intérêt le
fondateur de la phénoménologie portait à ces problèmes – de l’autre l’absence
d’une réponse précise à la question que nous posons ici“ – i.c. die Berger in
Atem haltende Grundfrage nach „l’égo transcendental et sa vie propre“. „Une
telle réponse, pour un phénoménologue, ne saurait d’ailleurs avoir sa source
dans une décision de l’esprit prise après un bref examen. Elle doit naître, en
son temps, du développement patient et progressif des recherches et des ana-
lyses concrètes.“ – Es ist eine Aufgabe künftiger Forschung, mit Sorgfalt zu
prüfen, in welchem Maße die von Berger für seine Studie gewählte Methode,
Husserls Denken einer „historico-teleologischen Reflexion“ zu unterwerfen,
„pour parvenir à la compréhension critique de l’unité totale“, die seine
gesamte philosophische Wirksamkeit „du dedans“ belebt,331 ihr ihre innere
Kohärenz verleiht, mit den unablässigen Bemühungen Finks übereinstimmt,
die „verborgene Motivationsgeschichte“ der Husserlschen Phänomenologie
ans Licht zu bringen.
Die größere intellektuelle Selbständigkeit, die Husserl während des
Kappeler Sommers des Jahres 1934 seinem Mitarbeiter zu gewähren sich
vorgenommen hatte – nicht nur für die Ausarbeitung des sich immer noch
in Vorbereitung befindenden „Zeitwerkes“, sondern auch für das Verfassen
künftiger phänomenologischer Beiträge und Aufsätze –, dürfte Fink in
seinem Vorsatz bestärkt haben, jener „ersten philosophischen Arbeit“ die
Wege zu ebnen, deren Fragebereich es nach seiner Ansicht verdiente,
vorrangig behandelt zu werden: „über Weltbewusstsein und Welt“332. Indem
sich die Arbeitsnotizen zur „Kosmologie“ zusehends mehrten, vollzog sich

331 Vgl. Berger, Le cogito dans la philosophie de Husserl, S. 11f.


332 EFGA 3.2, Z-XIV/II/1b, S. 252.

90 Einleitung der Herausgeber II

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– anfangs noch unauffällig – eine bedeutsame, für Finks philosophische
Weiterentwicklung folgenreiche Wendung. Sie wurde in der Notiz 105a
aus dem Heft Z-XV bereits angedeutet: „Weltbewusstsein und Weltganz-
heit. Phänomenologische Untersuchungen am Leitfaden des kantischen
Antinomienproblems. Grundthese: Die kantische Unterscheidung von kon-
stitutivem Gebrauch der Kategorien und dem regulativen Gebrauch der
‚Ideen‘ ist ein Index für eine zwiefache phänomenologische ‚Konstitution‘:
Gegenstandsbewusstsein und Weltbewusstsein. Kants ‚Grundsätze des rei-
nen Verstandes‘ betreffen Indizes gegenstands-konstitutiver Probleme, die
‚Ideen‘ dagegen Weltganzheit-konstitutive. Oder anders gesagt, die ‚Kate-
gorien‘ sind ontologisch-transzendentale Bestimmungen, die ‚Ideen‘ kosmo-
logisch-transzendentale. Aufgabe einer phänomenologischen konstitutiven
Analytik.“333 Diese besondere Hinwendung zur Kantschen Philosophie
erfolgte allerdings nicht ohne jeglichen philosophischen Vorbehalt, wie
eine weitere Arbeitsnotiz unmissverständlich klarmacht: „Das Problem
der Welt, Kants größte philosophische Leistung, ist trotz der ungeheuren
Einsicht in die nicht-ontische (nicht ‚inhaltliche‘), sondern horizontale
(‚enthaltliche‘) Struktur der Welt, die in der kantischen Scheidung von Kate-
gorien und Ideen (Verstandes- und Vernunftbegriffen) zum Ausdruck kommt,
objektivistisch orientiert. Kant ist, kosmologisch gesehen, ‚Idealist‘: Welt
als subjektive Horizonte des Ideenentwurfs.“334 „Welt ‹ist› also bei Kant
prinzipiell objektivistisch gefasst: eben als das Ganze der Erscheinungen.“
„Das transzendentale ‹Ich› (im kantischen Sinne) ‹ist› a priori-entwerfende
Ermöglichung für den Zusammenhang der Erscheinungen“, wie Fink seine
kritische Stellungnahme zur Kantschen Philosophie erläutert.335
In der im Heft V-II aufbewahrten „Skizze zu der Schrift ‚Welt und
Weltbegriff. Eine problemtheoretische Untersuchung‘“ kam es nun zu einer
breiteren „Exposition“ des „Problems der Welt“, in der Fink, entgegen
der Tendenz der „anthropozentrischen Existenzphilosophie“ die „Weltweite
der Vernunft“ in den Vordergrund stellte336 und dabei erneut auf „Kants
Lehre von den ‚Vernunftideen‘ im kosmologischen Verstande“ verwies.337
„Kant“, so führt er aus, „ist auszulegen als der Entdecker des kosmologischen
Horizontes des Seins des Seienden“338. Als Kants „wichtigsten Beitrag zur
Theorie des Weltbegriffs“ bezeichnet Fink seine „negative Sicherung des
Weltbegriffs gegen ontische Fehlgriffe von Welt“. Zugleich stellt er sich

333 Ebd., Z-XV/105a, S. 308.


334 Ebd., V-IV/7–8, S. 319.
335 Ebd., V-IV/7, S. 319.
336 EFGA 3.3, V-II/1–2.
337 Ebd., V-II/2.
338 Ebd., V-II/4.

Einleitung der Herausgeber II 91

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die Frage, inwiefern Kants „kosmologische Leistung“ von einer „subjekti-
vistischen Interpretation der Weltlichkeit der Welt“, nach der „Welt eine
Vernunftidee von bloß regulativem Gebrauche sei“, abtrennbar wäre.339
„Die Kosmologie als Herausstellung des Welthorizontes des Seins“, so
notierte er sich, „ist die Erledigung jeder ‚idealistischen‘ Hinterwelt“340.
Eine besondere Aufgabe sah Fink allerdings zugleich darin, „in der Schrift
Welt und Weltbegriff bei der Kant-Auslegung das Verhältnis der kantischen
kosmologischen Begrenzung der Seinsidee zu seiner eigenen Metaphysik
der Freiheit (‚Lehre von der intelligiblen Welt‘) auszulegen“341. Die von ihm
dabei aufgestellte „These“ formulierte er folgendermaßen: „[D]er kantische
Begriff des ‚Glaubens‘ (als Verhaltung der postulativen praktischen Vernunft
zu Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) ist ein über den Bereich des Seienden (das
durch die theoretische Philosophie als Einheitszusammenhang der Erschei-
nungen, d. i. als Welt herausgestellt wurde) Hinausmeinen auf solches hin,
was nicht ‚Nichts‘, aber auch nicht ‚Seiendes‘ genannt werden kann und was
als eigentliches Thema der Philosophie (als Gegenstand der ‚Metaphysik im
Endzweck‘) begriffen ist. M. a. W. dieser ‚Glaube‘ ist me-ontisches Meinen,
das in seinem Wesen Sein-übersteigend, weltdurchbrechend ist“342. „Kant“,
so beschließt Fink seine Ausführungen, ist „der kritische Wegbereiter einer
Metaphysik des Geistes, die Me-ontik des Absoluten, d. h. die ‚Gebanntheit
des Lebens in die Seinsidee‘ sprengende Bewegung des inwendigsten Lebens
ist, das so me-ontisch Distanz nimmt zum Sein, es so begreift im Rückbezug
auf die Dimension des Ursprungs.“343 Der Philosophie Kants verdanke man
„die grandiose kosmologisch-ontologische Einsicht in die Welthaftigkeit
des Seins und in die Nicht-Seinshaftigkeit des Absoluten“. Unentbehrliche
„Voraussetzung einer Metaphysik des Absoluten“ sei allerdings „die vor-
gängige Herausstellung der Grenzen der Seinsidee“.344 In der „Herausarbei-
tung der Weltgefangenschaft des Lebens, mit ihren am Bewusstsein der
Weltgefangenschaft sich entzündenden ‚Sehnsüchten‘“,345 erblickte Fink die
eigentliche Aufgabe einer „Kosmologie“ – des „ersten Teils“ eines von
ihm zu diesem Zeitpunkt ins Auge gefassten überwölbenden „Systems der
Philosophie im Grundriss“.
Überschaut man die Notizen, die Eugen Fink im Herbst 1934 unter dem
Titel „Lebensphilosophie und Phänomenologie“ in mehreren Notizheften

339 Ebd., V-II/4–5.


340 Ebd., V-II/8.
341 Ebd., V-II/10.
342 Ebd., V-II/14.
343 Ebd., V-II/15.
344 Ebd.
345 Ebd.

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gesammelt hat, so zeigt sich ein allmählicher Wandel in den Ansichten, die
er in Bezug auf diesen Aufgabenbereich vertrat, den er von seinem Lehrer
übernommen hatte. Die ursprüngliche Zielsetzung, in einer „Fortführung“
des 1934 mit beträchtlicher Verspätung in den Kant-Studien veröffentlichten
Aufsatzes „Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegen-
wärtigen Kritik“ eine Antwort zu geben auf die „Auseinandersetzung der
Diltheyschen Richtung mit Husserl“, die Georg Misch mit seiner in mehreren
Lieferungen in den Philosophischen Anzeiger eingegangenen Arbeit in die
Wege geleitet hatte, rückte zusehends in den Hintergrund. Gehörte eine
solche als „II. Teil“ konzipierte „Fortsetzung“ des Kant-Studien-Artikels
anfangs noch zu den Aufgaben, die Fink im Notizheft Z-XI/25b festhielt,346
so fand sie – als solche – in dem „Arbeitsplan für Herbst ‹1934›“, der in das
Notizheft Z-XIV/II/1a–b aufgenommen wurde, keine Erwähnung mehr.347
In der Liste der „Aufgaben 1934/35“, die im selben Notizheft unter V/4a–b
abgedruckt worden ist, wie in der darauffolgenden „Übersicht“ über die
Arbeitspläne, die unter der Nummer VI/5b wiedergegeben wird, fehlt der
fragliche Themenbereich „Lebensphilosophie und Phänomenologie“ voll-
ends.348 Wie Ronald Bruzina richtig bemerkt, „hat Fink, soweit man weiß, die
Fortsetzung seines, 1934 in den Kant-Studien veröffentlichten Artikels […]
nicht geschrieben“349. Zieht man zudem die in dem vorliegenden Teilband
3 unter der Signatur OH-I erstmals veröffentlichten Notizen Finks, die
zum Teil auf Spätherbst 1934 datiert sind, in Betracht,350 so entsteht ein
vollständigeres Bild von den Gedanken, denen Fink in diesem Zeitraum
nachhing. Als eine „moderne Abart der Reflexionsphilosophie“ bezeichnete
Fink „den Anthropologismus“, der „in seiner naiven Form ‚historistisch‘
begründet“, aber „in seiner gewichtigeren Form selbst ‚systematisch‘“ sei.
Als „Vertreter der naiven Form“ nannte er „Misch und die Dilthey-Schule“,
als „Vertreter der gewichtigeren Form“ kam dagegen an erster Stelle „Nietz-
sche“ in Betracht.351 Spezifisch „reflexionsphilosophisches“ Merkmal des
Historismus sei „die Erlebnisvorgängigkeit des konkreten Menschen vor
seiner Welt“, die „der inneren Erfahrung“ gewährte „Prävalenz“, in der
sich uns sein subjektives Innenleben erschließe,352 mitsamt des Ganzen der
„individuell und kollektiv bestimmten Atmosphäre“, die zu seinem realen
Erlebnisgehalt gehöre.353 Grundsätzlich sei der „Begriff des Lebens“, so

346 EFGA 3.2, Z-XI/25b, S. 146f.


347 Ebd., Z-XIV/II/1a–b, S. 252.
348 Ebd., Z-XIV/V/4a–b, S. 255f. und Z-XIV/VI/5b, S. 259.
349 Ebd., S. 147, Anm. 14.
350 EFGA 3.3, OH-I.
351 EFGA 3.2, Z-XIV/II/1b, S. 252.
352 Ebd., Z-XIV/II/4a, S. 253f.
353 Ebd., Z-XIV/II/2a, S. 252f.

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Fink, in der „Lebensphilosophie“ „konzipiert ‹worden› im Kontrast gegen
einen naturalistischen Ontologismus“. „Lebensphilosophie“ sei „also moti-
visch eine Abwehr der Naturalisierung des Subjekts“.354 In dieser „negati-
ven Frontstellung gegen eine Naturalisierung des Subjektiven“ seien, so
urteilt Fink hier, alle die Begriffe wie „Nietzsches Begriff des ‚Lebens‘,
Diltheys Begriff der ‚Geschichtlichkeit‘, Bergsons Begriff des ‚élan vital‘“
miteinander einig – „in ihrem positiven Gehalt allerdings sehr heterogen“.
Was Fink der Lebensphilosophie vor allem entgegenhielt, war die Feststel-
lung, dass „Dilthey, Nietzsche, Bergson keine eigentlich begrifflich-ontolo-
gische Einstellung ‹haben›, obzwar Nietzsches Begriff des Lebens durchaus
metaphysisch gemeint ist im Gegensatz zum wissenschaftspositivistischen
Begriff Diltheys und dem biologistischen Bergsons“355. Die Lebensphilo-
sophie intendiere zwar das „Leben“, aber fasse es „prinzipiell […] auf
dem Boden der Unbewegtheit des Geistes“. „Erst die Phänomenologie“, so
meinte Fink, „bringt den Geist in Bewegung und damit das Leben, d. i. das
schöpferische Wesen des Geistes, in den Griff“356. Dass Fink innerhalb der
gesamten lebensphilosophischen Tendenz dem Denken Nietzsches eindeutig
den Vorzug gab, dürfte wohl an erster Stelle darin begründet sein, dass sich
in diesem die „Erweckung der kosmischen Ergriffenheit“ vollzog.357 „Die
kosmologische Besinnung“, so schreibt Fink in einer recht bemerkenswerten
Notiz, „muss existenziell geführt sein von der kosmischen Erfahrung, deren
entscheidendster Ausdruck die Philosophie Nietzsches ist: der ‚tragische Pes-
simismus‘, die ‚Optik des Lebens‘, ‚Unschuld des Werdens‘, ‚Jenseits von
Gut und Böse‘“358. Und er fügt hinzu: „Was bei Nietzsche ‚Lebensstimmung‘
ist, muss in die Härte der begrifflichen Erkenntnis übersetzt werden.“359 Aus
mehreren Notizen geht hervor, dass Fink sich mit dem Gedanken trug, diesen
gewichtigen Themen der Philosophie Nietzsches größere Aufmerksamkeit
zu schenken und den wegweisenden Grundsätzen der Lebensauffassung
Nietzsches auf die Dauer in Form von „Aufsätzen“360 die gebührende
Achtung zu erweisen. Dass „die an der ontologischen Bestimmung des
Lebens gewonnenen Grundbegriffe zu kosmologischen Begriffen erweitert“
wurden,361 darin erblickte Fink zweifellos den entscheidenden philosophi-
schen Beitrag Nietzsches.

354 Ebd., Z-XI/II/11a, S. 133.


355 Ebd., V-IV/4–5, S. 318.
356 Ebd., Z-XII/4d, S. 181.

357 Ebd., Z-XIII/29a, S. 221.

358 Ebd., Z-XIII/ XVIII/6a, S. 217.

359 Ebd.

360 Ebd., Z-XIII/24a, S. 219; vgl. das von Fink entworfene „Schema der Nietzsche-Interpre-

tation“ in EFGA 3.3, OH-I/27.


361 EEFGA 3.3, OH-I/26–27.

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Für Husserl, der schon während seines Sommeraufenthaltes 1934 in
Kappel sich an die Hoffnung geklammert hatte, wenigstens einen ersten Band
des „Zeitwerkes“ fertig machen zu können, nachdem er den Vorentwurf zu
diesem im Einzelnen mit Fink durchgesprochen hatte, gehörte die Idee einer
„Nietzsche-Interpretation“, die von der Absicht geleitet war, „die Systematik
seiner Philosophie aus den ohne methodologische Reflexion vorhandenen
Entwürfen und genialen Konzeptionen auszuzeichnen“,362 nicht zu den vor-
dringlichsten Aufgaben, mit denen er seinen Mitarbeiter betraut hatte. Als
Husserl sich nach der Rückkehr von seinen Wiener Vorträgen während des
Sommers 1935 erneut in Kappel aufhielt, setzte er unvermindert großes Ver-
trauen in Eugen Fink, der, laut Husserls Brief an Roman Ingarden vom
10. Juli 1935, „in guter Arbeit an dem freilich überschwänglich schwierigen
und weiten (die ganze Phänomenologie umspannenden) Thema Zeit-Zeit-
konstitution“ sitze. „Leider“, so bedauerte Husserl, „kann ich nicht mitge-
stalten an der literarischen Darstellung, mit ihren von Fink entworfenen his-
torisch-kritischen Einführungen“363. Von weitaus bescheidenerem Umfang
ist der Beitrag, den Fink zur Gestaltung des Wiener Doppelvortrags leistete,
den er am 2. Mai 1935 an seinen Lehrer schickte. In dem vorliegenden
3. Teilband der Phänomenologischen Werkstatt ist er als Text mit der Num-
mer 13 der Sammlung „Grammata“ wiedergegeben.364 Wie Husserl an Ingar-
den berichtet hat, war er „eigentlich ohne fertiges Manuskript“ nach Wien
abgereist, wo er am 7. Mai 1935 im Kulturbund seinen Vortrag hielt, den er
wegen des unerwarteten Erfolges am 10. Mai wiederholte. „Der Hauptsache
nach sprach ich frei – Die Philosophie und die Krisis des europäischen Men-
schentums. Die erste Hälfte: Die philosophische Idee des europäischen Men-
schentums (oder ‚der europäischen Kultur‘), aus ihrem historischen
Ursprunge aus der Philosophie aufgeklärt. 2ter Teil: Der Grund der Krisis
seit Ende des 19. Jahrhunderts […]“365. In seinem „Vorschlag für die Schluss-
sätze des Wiener Vortrags“ – den Husserl laut einer Erklärung Finks tatsäch-
lich vorgetragen hat – nannte Fink als Grund für das Versagen der rationalen
Kultur Europas „die Versponnenheit in ‚Naturalismus‘ und ‚Objektivis-
mus‘“. Die Wiedergeburt Europas „aus dem Geiste der Philosophie“ könne
künftig einzig „durch einen den Naturalismus endgültig überwindenden
Heroismus der Vernunft“ herbeigeführt werden.366 In Anbetracht der seltsa-
men „Offenheit“ der Phänomenologie Husserls – ihrer „Entwicklungsmög-
lichkeit als Lebensphilosophie (Heidegger), als Korrelativismus positivisti-

362 Ebd., OH-I/26.


363 Brief Husserls an Roman Ingarden vom 10. Juli 1935, in: Bw. III, S. 303.
364 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 13.
365 Brief Husserls an Roman Ingarden vom 10. Juli 1935, in: Bw. III, S. 302.
366 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 13.

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scher Haltung (Kaufmann, Schütz) und als Metaphysik des Geistes (meine
Interpretation)“367 – verlieh Fink in seinem Schlusswort auf subtile Weise
seiner Grundüberzeugung Ausdruck, dass für die Verwirklichung unendli-
cher Vernunftziele die Überwindung des endlichen Subjekts, des „fragmen-
tarischen Daseins des Geistes in der Welt“ unausweichlich sei.368 Standhaft
war Fink nicht nur in der seinem Lehrer gehaltenen unerschütterlichen Treue
inmitten einer sich verdüsternden Landschaft. Standhaft war er auch in seiner
Grundauffassung, dass einzig die phänomenologische Reduktion jene
„Mobilmachung der Vernunft“ ermögliche, die uns „aus einer konstituierten
Objektivation herauslöst“, welche „Trägheit, Unbewegtheit des Geistes
ist“369.

V. Verwindung der Seinslässigkeit

Am 17. März 1935 berichtete Frau Husserl Gustav Albrecht von der „uner-
wartet eingetretene[n] Wendung“, die Husserl „der großen Sorge um seinen
‚Nachlass‘“ enthob. „Nun hat der Cercle Philosophique in Prag zunächst für
1–2 Jahre Mittel bereitgestellt und jetzt für 3 Wochen Dr. Landgrebe, der an
der deutschen Universität habilitiert ist, hergeschickt, um eine detaillierte
Bestandsaufnahme des vorhandenen Materials durchzuführen, um dann auch
gleich mit dem Abtippen zu beginnen und daneben an jene Publikationen
heranzugehen, die ihm aus seiner Assistentenzeit vertraut sind.“370 Wie Frau
Husserl ihrem Sohn Gerhart einen Tag zuvor mitgeteilt hatte, war von „einem
glatten Eigentumsverzicht“ in den laufenden Verhandlungen mit Prag keine
Rede. „Was concediert werden muss, scheint zu sein, dass der Cercle Philo-
sophique und später das Masaryk-Institut Publikationen unter eigener Aegide
wird herausgeben dürfen.“ Malvine Husserl rechnete fest damit, dass Ludwig
Landgrebe und nach ihm Jan Patočka „verhandlungsgewandt“ die unent-
behrlichen rechtlichen Abmachungen mit Prag voranbringen würden. „Er
und Fink haben die Vormittage bis jetzt die erste grobe Schichtung vorge-
nommen und nun sind 350 Mappen in 5 verschiedenen Farben bestellt, in die
dann die Manuskripte eingeordnet werden nach festen Gesichtspunkten. Fink
ist absolut nicht irgendwie bei Seite geschoben, und ich habe ihn wohl nicht
besonders erwähnt, weil er ja mit der Prager Organisation nichts zu tun hat,
sondern hier an seiner Arbeit bleibt.“371 Während Landgrebe und Fink in

367 EFGA 3.2, Z-XII/39a, S. 203.


368 Ebd., Z-XIV/V/9a, S. 257.
369 Ebd., Z-XII/24a, S. 195.
370 Brief von Malvine Husserl an Gustav Albrecht vom 17. März 1935, in: Bw. IX, S. 115.
371 Brief von Malvine Husserl an Gerhart Husserl vom 16. März 1935, in: Bw. IX, S. 241f.

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diesen Märztagen gemeinsam die bis heute gültige Einteilung der Husserl-
schen Manuskripte vornahmen, entspann sich zwischen beiden eine Reihe
von philosophischen Gesprächen. Die in dem vorliegenden 3. Teilband unter
der Signatur Z-XIX veröffentlichten Notizen von Finks Hand beziehen sich
großenteils auf den regen Gedankenaustausch, wie er damals zwischen den
beiden Assistenten Husserls stattgefunden hat – nachdem Landgrebe zuvor
bereits ausführlich auf Finks weittragenden Kant-Studien-Artikel reagiert
hatte.372 Die Gelegenheit zu einer offenen Aussprache zwischen Fink und
Landgrebe wiederholte sich noch ein weiteres Mal, als Landgrebe von Ende
Januar bis Mitte Februar 1936 für etwa drei Wochen in Freiburg weilte und
mit Fink zusammen neue Husserl-Manuskripte ordnete. In ihrem Brief vom
14. Januar 1936 an Roman Ingarden berichtete Malvine Husserl nicht nur
ausführlicher über den „vollen Erfolg“, den Husserls Vortragszyklus in Prag
erzielt hatte, sondern auch über den kurz bevorstehenden Arbeitsaufenthalt
von Ludwig Landgrebe: „Dr. Landgebe arbeitet eifrigst an den Abschriften
und ebenso an der Herausgabe der Logischen Studien. Am 23. oder 24. d. M.
kommt er (subventioniert vom Cercle) für etwa 3 Wochen her, um neue
Manuskripte zu holen und wissenschaftliche Fragen durchzusprechen.“373
Am 8. Februar 1936 bestätigte Frau Husserl Jan Patočka gegenüber, dass
Landgrebe während seines Besuches nicht nur „mit seinen Fragen
an ‹ihren› Mann herankommen“ würde, sondern auch „mit Fink conferiert“
habe.374 Die Notizen Finks zu diesen Ende Januar/Anfang Februar 1936
geführten Gesprächen sind als „Reihe XX“ des Notizheftes mit der Signatur
Z-XX in den vorliegenden 3. Teilband der „Werkstatt“ aufgenommen wor-
den.375
In seinen Gesprächsnotizen hat Eugen Fink vor allem Wert darauf gelegt,
die Grundmotive seiner – unvermindert kritischen – Einstellung zur Hus-
serlschen Phänomenologie sowie seiner bedachtsamen Distanz gegenüber
der Existenzialontologie Heideggers ein weiteres Mal darzulegen. Im Zuge
seiner Gespräche nahm er zugleich die Gelegenheit wahr, über das „sich
in Vorbereitung befindende Zeit-Buch“ zu referieren.376 Aus seinen hinterlas-
senen Notizen geht weiterhin hervor, dass er mit Landgrebe über dessen
dem „Erlebnis-Begriff“ gewidmetes, bislang unveröffentlichtes Manuskript
gesprochen hat.377 Auch zu dem 1933 in den Neuen Jahrbüchern erschiene-
nen Aufsatz von Ludwig Landgrebe über „Die Methode der Phänomenologie

372 EFGA 3.3, Z-XIX.


373 Brief von Malvine Husserl an Roman Ingarden vom 14. Januar 1936, in: Bw. III, S. 305.
374 Brief von Malvine Husserl an Jan Patočka vom 8. März 1936, in: Bw. IV, S. 432.
375 EFGA 3.3, Z-XX/Reihe XX.
376 Ebd., Z-XIX/II/8b.
377 Ebd., Z-XIX/II/7a sowie die Anm. 3.

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Husserls“ hat Fink in einigen Zeilen kritisch Stellung genommen.378 Die
von Ende Januar 1936 stammenden Gesprächsnotizen enthalten außerdem
eine Reihe von „Einwendungen“ Finks „gegen Husserls Prager Vortrag“.379
Als eine „Gefahr der Phänomenologie“ bezeichnete Fink „den – bei Husserl
‚intuitionistisch‘ begründeten – ‚illusionären Idealismus‘“, der „basierend
auf einer fehlinterpretierten Erkenntnisvorgängigkeit des Subjekts vor den
Dingen die ontische Undurchdringlichkeit des Seienden überspringt und
die Schwere des weltlichen Lebens verfehlt“380. Auf einem wohl aus
dem Sommer 1934 stammenden, in das Notizheft Z-XIX eingetragenen
Merkzettel notierte sich Fink: „Neufassung des Begriffs der Wirklichkeit:
Wirklichkeit kein gegenständlicher Begegnungscharakter, kein Moment an
den Dingen; sondern Weltcharakter: These: alles in der Welt ist wirklich.
Alles was wirklich ist, ist in der Welt. Sein und binnenweltlich-Sein ist
dasselbe. Kants Restriktion des Seinsbegriffs auf die Welt.“381 Während Fink
„Husserls grundsätzliche Orientierung des Begriffs des Seienden am Begriff
des Gegenstandes“ hinterfragte382 und „Kants negativer Freilegung der Welt“
erneut große Aufmerksamkeit schenkte,383 ermaß er zugleich die Entfernung,
in der sich seine Inangriffnahme und tiefgreifende Verwandlung der Hus-
serlschen „Konstitutionsproblematik“ zur existentialen Analytik Heideggers
nach wie vor befand. In Heideggers „existenzialem Begriff von Welt“
erblickte Fink „eine metaphysische Vertiefung des geisteswissenschaftlichen
Weltbegriffs“. Heideggers „kosmologischer Subjektivismus“ sei wesentlich
durch seine „Luminartheorie der Subjektivität“ geprägt.384 Im Laufe seiner
Gespräche wandte sich Fink nochmals der von ihm im Jahre 1932 entworfe-
nen „Methodenlehre“ zu, die er diesmal mit Nachdruck „als Teil der Meta-
physik der Philosophie“385 bezeichnete. Zur Wesensbestimmung des „phäno-
menologischen Erkennens“ gehöre das „me-ontische Erkennen“, das zum
„ontogonischen Werden“ vorstoße und damit erstmals „den Distanzhorizont
zum Sein“ eröffne – die „me-ontische Differenz“ wahre.386 Dieser Einbruch
der Phänomenologie in die „absolute Dimension“ bedeute aber keineswegs,
dass durch ihn „die ‚Tragik‘ des endlichen Lebens gewichtlos“ werde, son-
dern vielmehr, dass sie „durchschaut wird auf ‹ihre› Konstitution“, d. h. auf
die „Problematik der Entstellung“ des Absoluten. „Das weltschöpferische

378 Ebd., Z-XIX/II/8a, sowie die Anm. 4.


379 Ebd., Z-XX/XX/1a.
380 Ebd., Z-XIX/II/8a.
381 Ebd., Z-XIX/IV/10b.
382 Ebd., Z-XIX/II/2a.
383 Ebd., Z-XIX/I/1a.
384 Ebd., Z-XIX/II/4a.
385 Ebd., Z-XIX/II/3a.
386 Ebd.

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Leben stürzt ab, entstellt sich zum Menschen inmitten des Seienden.“387
Die mit dem „Weltsturz des Absoluten“ einhergehende „Weltbefangenheit“
des Menschen bedingt die für die „natürliche Einstellung“ charakteristische
„Seinslässigkeit“. Zum ersten Male deutet Fink im Laufe seiner Gespräche
auf die beschwingende Kraft hin, die der „Stimmung des enthusiastischen
‚In-der-Welt-Seins‘“ innewohne, auf die „große Sehnsucht“, die das im
Menschen aufsteigende Gefühl der „Weltweite“ durchwirke. Wenn es auch
Finks grundsätzliche Überzeugung ist, dass es letzten Endes nicht der
Mensch selbst ist, der sich dazu ermächtigt, in die „me-ontische“ Dimen-
sion vorzudringen, so enthält das „Heimweh“, das ihn im Enthusiasmus
innerlich ergreift, nach Fink dennoch einen wichtigen Fingerzeig darauf,
den spekulativen Absprung zu wagen, auch wenn dieser immer wieder
„scheitern“ muss. Auf das „Wesen des Enthusiasmus“ wird Fink im Rahmen
eines im Februar 1940 im Philosophischen Kring der Leuvener Universität
gehaltenen Vortrags in aller Ausführlichkeit zurückkommen388 und bei dieser
Gelegenheit an die mit Ludwig Landgrebe zu diesem Thema geführten
Gespräche anknüpfen.389
Als Husserl sich während der Sommermonate des Jahres 1935 ein wei-
teres Mal in Kappel bei Lenzkirch aufhielt, erreichte ihn die Nachricht, dass
er vom Cercle Philosophique in Prag dazu aufgefordert werde, „im Novem-
ber mehrere Vorträge aus dem Bereich der phänomenologischen Philosophie
zu halten“390. Nachdem Fink Dorion Cairns gemäß Husserls Wunsch über
die Fortschritte informiert hatte, die im letzten Jahr in gemeinsamer Arbeit
erzielt worden waren, gab Husserl ihm Bericht über die aktuellen „Mühen
in philosophicis“: „Jetzt arbeite ich leidenschaftlich an dem Vortrag – den
ich in Wien gehalten habe – eigentlich einem reichlichen Doppelvortrag […].
Die geschichtsphilosophischen Meditationen – eigentlich eine weitere Stufe
der Concretisierung der gesamten Phänomenologie, wodurch das Letzte, die
anticipierte Teleologie und die nur erst abgetasteten ‚Randprobleme‘ zur
‚Handgreiflichkeit‘ kommen, ‹nehmen› meinen alten Kopf ganz in
Beschlag.“391 In diesen Wochen bemühte Husserl sich darum, durch die Ver-
mittlung von Felix Kaufmann über Lord Lionel Robbins von der Londoner
School of Economics die Finanzierung der Assistenz Finks für ein weiteres
Jahr sicherzustellen. Die Fink mit Schreiben vom 8. Oktober 1934 gewährte
Verlängerung seines Forschungsstipendiums bei der Notgemeinschaft der

387 Ebd., Z-XIX/II/2a.


388 Eugen Fink, Vom Wesen des Enthusiasmus, Essen 1947.
389 Vgl. EF05–75, Bilder Nr. 414–416.
390 HChr, S. 464.
391 Brief Husserls an Dorion Cairns vom 19. Juni 1935, in: Bw. IV, S. 50f.

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Deutschen Wissenschaft lief am 31. März 1935 unwiderruflich aus.392 An
Felix Kaufmann schrieb Husserl aus Kappel am 9. Juli 1935: „Ich bin seit
Wien in guter Form. Dr. Fink kommt je für einen Tag pro Woche und meistens
wird dabei von früh bis spät philosophiert bis zur Erschöpfung. Auch er ist
in guter Form.“393 Im Vorfeld der für die erste Novemberhälfte geplanten
„Prager Vorträge“ schickte Fink wenige Tage später, am 13. Juli 1935, an
Husserl das „Exposé eines Vorschlags eines Gedankenganges für den ‚Prager
Vortrag‘“, das im vorliegenden 3. Teilband als Text Nr. 12 der Sammlung „M-
III Grammata“ wiedergegeben wird. Knapp einen Monat später, am
14. August 1935, brachte Fink seinen „Vorschlag einer Disposition für den
Prager Vortrag“ nach Kappel mit, der in der Sammlung „M-III Grammata“
ebenfalls der Nummer 12 zugeordnet wurde.394
Seine Ausführungen über „Das Problem der Humanität“, die Fink einen
Monat vor der Verkündung der „Nürnberger Gesetze“ auf dem Reichspar-
teitag vom 15. September 1935 niederschrieb, stellte er nicht von vornherein
in den „politischen Raum“ hinein. Sie traten vielmehr ins Licht jener philo-
sophischen Frage nach dem „Sinn des Menschen“, der er unter der Aufschrift
„Die Bestimmung des Menschen“ in mehreren Notizheften bereits eine Fülle
von Einzelreflexionen gewidmet hatte. „Die prinzipielle Unzulänglichkeit
aller ontologischen Bestimmungsversuche“ des Menschen gründe letztlich
in einem „statisch-stagnierenden Selbstverständnis“, das erst durch die „radi-
kale Selbstvertiefung des Lebens“, wie sie durch die „phänomenologische
Reduktion“ herbeigeführt werde, überwunden werden könne. Auf die
„Skizze“ einer universal-intentionalen Lehre von der reinen Subjektivität
sollte die Darstellung der Problematik der „teleologischen Sinnbestimmung“
der „Lebensganzheit“ folgen – worauf das individuelle und kollektive „per-
sonale“ Leben „in der Tiefe seiner Innerlichkeit hinauswill“.395 Und mit die-
ser Fragestellung wandte die Phänomenologie sich der „Geschichtlichkeit“
zu. „Das Problem der Geschichte als phänomenologisches Problem“, so
meinte Fink, „bedeutet die Frage nach einem direkten, systematischen
Zugang zum letztlich verstandenen Wesen der Geschichte, bedeutet die Auf-
stellung eines philosophischen Begriffs der Geschichte, von welchem aus
alle naiven, unkritischen Begriffe des vorwissenschaftlichen Lebens ebenso
sehr wie diejenigen der geisteswissenschaftlichen Forschungen überholt und
reformiert werden müssen.“396 Mit dem „Aufriss einer ‚transzendentalen‘
teleologischen Innenbetrachtung der Geschichte“ sollte „die mundane mor-

392 Brief von J. Stark an Eugen Fink vom 8. Oktober 1934, in: EF05–75, Bild Nr. 304.
393 Brief Husserls an Felix Kaufmann vom 9. Juli 1935, in: Bw. IV, S. 212.
394 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 12.
395 Ebd.
396 Ebd.

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phologische Außenbetrachtung der Geschichte“ in die Schranken gewiesen,
zugleich aber ihr „relatives Recht“ anerkannt werden.397 Mit Entschiedenheit
wandte Fink sich gegen die offene oder maskierte „methodologische Usur-
pation“ des Universalitätsanspruchs der Philosophie, die durch die unge-
hemmte „Proklamation der historischen Methode als Organon der Philoso-
phie“ gefördert werde. Dass der gänzlichen „Auflösung der Philosophie im
Historismus“ allerdings durch eine „Kritik der historischen Vernunft“ bereits
mit Erfolg entgegengewirkt worden war, dass die aufeinanderfolgenden Ver-
suche zu einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Geisteswissen-
schaften das methodische Primat der Geschichtsschreibung grundsätzlich
hinterfragt hatten – darauf nahmen die bloß „einleitenden“ Ausführungen
Finks noch keinerlei Rücksicht. Die gemeinsam in Kappel geführten Unter-
redungen über geschichtsphilosophische Themen, die sich für den bevorste-
henden Prager Vortragszyklus besonders eigneten, wurden dadurch unter-
brochen, dass, wie Husserl kurz nach seiner Rückkehr nach Freiburg an Felix
Kaufmann meldete, „Dr. Fink gerade auf Ferien daheim am Boden-
see ‹ist› bzw. auf einer ‚Klettertour‘ in Oberbayern“398.
Als Stephan Strasser in Leuven die Herausgabe des ersten Bandes der
Reihe Husserliana – der Cartesianischen Meditationen und Pariser Vorträge
– in Angriff nahm, wandte er sich brieflich an Fink und bat ihn um Auskunft
über die letzte Arbeitsphase Husserls, in der, wie Walter Biemel später in
seiner „Einleitung des Herausgebers“ zu dem Krisis-Band bestätigte, „Hus-
serl ein sehr enges Verhältnis zu Eugen Fink, seinem damaligen Assisten-
ten, ‹hatte›, mit dem er die Arbeit eingehend besprach und der auch das
Hauptmanuskript aus dem Stenogramm abschrieb“399. „Ich hatte das Glück“,
so antwortete Fink am 1. November 1946 auf Strassers Anfrage, „diese Phase
aus nächster Nähe und in einer besonderen geistigen Anteilnahme erleben
zu dürfen.“ „Husserls Methode bei der Ausarbeitung von Vorträgen“, so
erinnerte sich Fink, „war genau die gleiche wie bei der Ausarbeitung von
Publikationen: Husserl schrieb den Text in einem fortlaufendenden Zuge
nieder, ohne vorangestellte oder vorher ausgearbeitete Dispositionen. Das
war das erstaunlichste und mich immer wieder frappierende Phänomen; er
schrieb wie in Trance. Die Gliederung, die Einteilung in Paragraphen wurde
erst nachträglich gemacht. Der Gedankengang wies aber in sich eine solche
geistige Artikulation auf, dass diese nachträgliche Einteilung nicht allzu
schwer war. Bei der Formalen und transzendentalen Logik stammen die
ganzen Einteilungen des Werkes, die Überschriften der Paragraphen von Dr.
Landgrebe, bei den Meditationen und bei der Krisis … von mir. Natürlich

397 Ebd.
398 Brief Edmund Husserls an Felix Kaufmann vom 17. September 1935, in: Bw. IV, S. 216.
399 Walter Biemel, „Einleitung des Herausgebers“, in: Hua VI, S. XIV–XV.

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musste Husserl jeweils sein Placet geben.“ Mit Bezug auf „die Entstehungs-
geschichte der Wiener und Prager Vorträge“ teilte Fink an Strasser weiterhin
mit: „Meines Wissens ist das Thema in Prag und in Wien ähnlich gewesen;
jedenfalls ging aus diesen Vorträgen die Problemstellung des Krisis-Artikels
hervor.“ Und er beschloss seinen Brief mit einem Hinweis auf die verschie-
denen Aufgaben, die er damals als Assistent beim Zustandekommen dieser
beiden Arbeiten Husserls erfüllte: „Ich habe eine Reihe von Entwürfen, die
ich als Husserls Assistent für seine Prager und Wiener Vorträge herauszuar-
beiten hatte.“400 Was die Ausarbeitung der „Prager Vorträge“ betraf, so prä-
zisiert Walter Biemel in seiner „Einleitung des Herausgebers“ zum Krisis-
Band: „Von Fink stammt ein Entwurf zur Fortsetzung der Arbeit […].“ „Die
Krisis-Arbeit ist nicht vollendet. Der in Finks Entwurf angeführte IV. Teil
‚Die Idee der Zurücknahme aller Wissenschaften in die Einheit der Tran-
szendentalphilosophie‘ ist nicht behandelt. Wohl aber finden sich verschie-
dene Aufzeichnungen, in denen Husserl das Wesen der Philosophie gerade
im Zusammenhang mit der Geschichte umreißt. […] Wenn so der Krisis-Text
mit Ausführungen endet, die Husserl als den Erben der großen Rationalisten
in Erscheinung treten lassen, soll das jedoch nicht dazu verleiten, ihn in einer
einseitigen Perspektive zu sehen.“401 Neben diesem „als Beilage XXIX“ zum
Haupttext der Krisis-Schrift abgedruckten „Fortsetzungsentwurf“ Finks
wurde „Finks Beilage zum Problem des Unbewussten“ vom Herausgeber als
„Beilage XXI“ dem § 46 des Krisis-Textes – sinngemäß – zugeordnet. Die
Veröffentlichung dieser beiden Beilagen wurde übrigens – wie Walter Biemel
am Schluss seiner „Einleitung des Herausgebers“ ausdrücklich vermerkt –
von Fink „freundlicherweise gestattet“.402 Außerdem wurde als Beilage III
zu dem § 9a) der Krisis-Schrift: „Galileis Mathematisierung der Natur
a) ‚reine Geometrie‘“, der Text abgedruckt, den Fink zuvor, im Jahre 1939,
unter dem Titel „Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentio-
nalhistorisches Problem“ in der Revue Internationale de Philosophie veröf-
fentlicht hatte.403 Nicht eigens als solche wurden die „Einlagen“ gekenn-
zeichnet, die Fink in Husserls Auftrag redigiert und in den Haupttext
integriert hat. Der vorliegende 3. Teilband der Phänomenologischen Werk-
statt dokumentiert genau die Art und Weise, in der Eugen Fink diese in der
Husserliana-Ausgabe als „Beilagen“ bzw. als „Einlagen“ zum Krisis-Text
edierten Entwürfe in seiner Textsammlung „M-III Grammata“ für die Nach-
welt aufgehoben oder, wie im Falle seines 1936 verfassten „Vorschlags zu

400 Brief von Eugen Fink an Stephan Strasser vom 1. November 1946, in: EF05–75, Bilder
Nr. 568–569.
401 Biemel, „Einleitung des Herausgebers“ zu: Hua VI, S. XV und XXI.

402 Ebd., S. XXII.

403 Vgl. Hua VI, S. 365, Anm. 1.

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Husserls Manuskript ‚Historie als Ursprungsanalyse‘“, separat aufbewahrt
hat.404
Von den ersten Vorbereitungen, trotz arger Gemütshemmungen,405 zum
Prager Vortragszyklus im Oktober 1935 an über die in mehreren wissen-
schaftlichen Gesellschaften zum Teil unvorbereitet, aus dem Stegreif gehal-
tenen Ansprachen und Improvisationen406 während des Aufenthalts vom 12.
bis zum 18. November 1935 in Prag bis zum Erscheinen eines „I. Artikels“
in der von Arthur Liebert herausgegebenen Zeitschrift Philosophia im Januar
1937, dürften die mit der Krisis-Schrift verbundenen philosophischen Refle-
xionen Husserls Kräfte nicht nur ganz in Beschlag genommen, sondern auch
alle anderweitigen Schriftprojekte weitgehend überflügelt und in den Schat-
ten gestellt haben. Das galt nicht nur für die von Ludwig Landgrebe vorbe-
reiteten Logischen Studien, denen Husserl sich erst nach dem Erscheinen des
„I. Artikels“ der Krisis zuzuwenden gedachte, als Landgrebe, wie Malvine
Husserl am 3. Februar 1937 an Alfred Schütz schrieb, „heute für circa 3
Wochen hergekommen“ war.407 Auch das „Zeitbuch“, von dem Frau Husserl
am 15. November 1936 an Roman Ingarden noch zu berichten wusste, dass
„Fink nun auch ‹glaubt›, mit ‹diesem› zum Abschluss zu kommen“,408 dürfte
vorübergehend in den Hintergrund der philosophischen Interessen Husserls
gedrängt worden sein. Welche Bedeutung Husserl der in Ausarbeitung sich
befindenden Krisis-Arbeit beimaß, geht aus dem Brief hervor, den Malvine
Husserl am 14. März 1936 an Gustav Albrecht schrieb. Ihr Mann ‹sei› noch
immer „in großer Fahrt; aus den Vorträgen wird eine größere Schrift, die das
Centrum seiner Lebensarbeit enthält“409. Finks Mitarbeit war nicht darauf
beschränkt, all die redaktionellen Aufgaben wahrzunehmen, die mit der Ver-
öffentlichung des ersten Krisis-Artikels in der internationalen Zeitschrift
Philosophia verbunden waren. Denn Husserl war fest dazu entschlossen, die
Fortsetzungen zu liefern, „ohne die das jetzt gedruckte Stück nutzlos
bliebe“410. Als Thema des „2. Artikels“ nahm Husserl sich vor, „im Ausgang
von einer Kritik der ‚Selbstverständlichkeiten‘, die Kants Theorien fundie-
ren, die Ausweisung des Problems der vorwissenschaftlichen Lebenswelt ‹zu
liefern› und von da aus die Motivation für die wahre ‚kopernikanische Wen-
dung‘, die nie verstandene ‚phänomenologische Reduktion‘“ darzustellen.

404 Siehe EFGA 3.3, M-III Grammata, Texte Nr. 5, 7, 8, 9–11, sowie den Text „Historie als
Ursprungsanalyse“.
405 Brief Husserls an Elisabeth Rosenberg-Husserl vom 9. Oktober 1935, in: Bw. IX, S. 462.

406 Brief Husserls an Gustav Albrecht vom 22. Dezember 1935, in: Bw. IX, S. 122.

407 Brief von Malvine Husserl an Alfred Schütz vom 3. Februar 1937, in: Bw. IV, S. 494.

408 Brief von Malvine Husserl an Roman Ingarden vom 15. November 1936, in: Bw. III,

S. 308.
409 Brief von Malvine Husserl an Gustav Albrecht vom 14. März 1936, in: Bw. IX, S. 125.

410 Brief Husserls an Gustav Albrecht vom 16. Dezember 1936, in: Bw. IX, S. 129.

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„Aber dann muss als,3. Artikel‘ folgen eine radikale Kritik der neuzeitlichen
Psychologie und Psychophysik der gesamten Neuzeit – dann im,Schlussteil‘:
Erleuchtung der Sinngliederung der Wissenschaften und ihres echten Sin-
nes“411. Zur Bewältigung dieser Aufgabe dürfte „das eigenartige geistige
Verhältnis des ‚symphilosophein‘“, zu dem Finks Assistenz sich in den Jahren
nach 1933 fortentwickelt hatte, besonders förderlich gewesen sein.412
„‹Es› gelang mir“, so bezeugte Fink, „den sonst verschlossenen und in seine
Problematik eingesponnenen Denker zu einer Aufschließung zu bewegen,
die den ganzen Reichtum seines Geistes und die Fülle seiner jahrzehntelan-
gen Forschungen mir zugänglich machte“413. Und aus den in dieser merk-
würdigen geistigen Symbiose mit Husserl herangewachsenen phänomeno-
logischen Erkenntnissen schöpfte Fink bei der Betreuung der ausländischen
Gäste, die sich in der Freiburger Spätzeit zu ihrer phänomenologischen Wei-
terbildung bei ihm anmeldeten. Insofern der Schlagschatten, den Husserls
letzte große Schrift geworfen hatte, heute ein wenig zurückweicht, wird es
möglich, die Konturen, in denen sich die philosophische Figur Finks darbie-
tet und uns ihr unverwechselbares Gesicht zukehrt, schärfer wahrzunehmen.
Bereits in den beiden als „Beilagen“ zum Krisis-Text verwendeten
Texten zum „Problem des Unbewussten“ bzw. zum Spannungsfeld zwischen
einer Innenpsychologie und einer „reinen“ Phänomenologie sowie in der
als „Einlage“ gekennzeichneten kurzen Ausführung zum „Konstitutionsbe-
griff“ verraten bestimmte philosophische Akzentuierungen den spezifisch
phänomenologischen Tonfall, in dem Fink die mit diesen Problemstellungen
verbundenen Schwierigkeiten anging. In einer bislang kaum beachteten
„Anmerkung“ zu seinem Aufsatz „Was will die Phänomenologie E. Hus-
serls?“ hat Fink darauf hingewiesen, dass die Phänomenologie von einer
„Immanenzphilosophie“ bzw. einem „ontischen Subjektivismus“ „weit ent-
fernt“ sei und das durch den Vollzug der phänomenologischen Reduktion
erstmals freigelegte „Bewusstseins“-leben „nicht in dem allgemeinen, engs-
ten Sinn des Wortes ‚Bewusstsein‘ zu verstehen“, „das Unbewusste also
immer mit einbegriffen“ sei.414 Keineswegs vertritt die Phänomenologie
einen „Bewusstseinsidealismus“, der aus der Sicht einer Tiefenpsychologie
nur „eine fundierte Dimension des ‚Lebens‘“ darstelle.415 Gerade die trans-
zendentale Phänomenologie zerstöre den Schein „unmittelbarer Gegebenheit
des Bewusstseins“, indem sie „alle vorgegebenen ‚groben‘ Artikulationen
des meinenden Lebens, die Aktintentionalitäten und leicht aufweisbaren

411 Brief Husserls an Rudolf Pannwitz vom 14. April 1937, in: Bw. VII, S. 227.
412 Vgl. Finks Lebenslauf vom 18. Dezember 1945, in: EF05–75, Bild Nr. 526.
413 Ebd.
414 Fink, „Was will die Phänomenologie E. Husserls?“, S. 175, Anm. 1.
415 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 5.

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Horizontintentionalitäten, auf tieferliegende konstituierende Funktionen
zurückführt“.416 Mit der Frage nach dem „konstitutiven Ursprung“ sprenge
sie den „Weltboden“, auf dem eine innenpsychologische Bewusstseinsem-
pirie fortwährend beruhe und stelle die „neuartige und schwer durchzuhal-
tende“ intentionale Analytik in einen „absoluten Horizont“ hinein.417 Die
„konstitutive Forschung“, die die Phänomenologie in die Wege leitet, zielt
demnach, wie Fink in seinem Aufsatz „Was will die Phänomenologie
E. Husserls?“ darlegt, ausdrücklich ab auf das „Verstehen des Alls des
weltlich Seienden aus seiner transzendentalen Sinnbildung her“418. Diese
habe eine „ontogonische“ Tragweite; sie betreffe „das Seiende selbst,
nicht ‹einen› bloßen Bedeutsamkeitscharakter an ihm“419. „Die Weltbildung
(Konstitution) als die Macht und das Leben des reinen Geistes ist nicht als ein
‚objektives‘ Geschehen irgendwo, wenn nicht in der Welt, so doch in einem
metaphysischen Raume vorhanden. Eine solche Vorstellung hat sich von der
ontischen Idee des Geistes, von seiner welthaften Selbstauslegung noch nicht
wirklich befreit. Weltbildung ist überhaupt kein objektiv zu nehmender, in
objektivistischen Kategorien fassbarer Vorgang, etwa als die Schöpfertat des
‚Weltgeistes‘, an der der Mensch partizipiere. Die Weltbildung ist nur in der
subjektivsten aller möglichen subjektiven Haltungen zugänglich […].“420
Eine „Überleitung“ zu dem bedrängenden „phänomenologischen Prob-
lem“ der durchaus noch rätselhaften, keineswegs schon hinreichend aufge-
klärten „Subjektbezogenheit des Seins“,421 das dem Geist die Neufassung
der „Konstitutionsforschung“ im Sinne eines „Verstehens“ des ihm zunächst
„undurchdringlichen Seins aus der geistigen Weltbildung“422 buchstäblich
vor die Füße geworfen hatte, dürften die „Übungen“ geboten haben, die
Fink Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als
Wissenschaft wird auftreten können gewidmet hat. Über den konkreten
Anlass des Unterrichts von Frau Mercedes Alonso, von dem nur die Vorbe-
reitungen zu den ersten Sitzungen aufbewahrt worden sind, ist nichts weiter
bekannt. Vielleicht fand dieser Unterricht im Gefolge des Besuches statt,
den Ortega y Gasset und sein Sohn zuvor, während des Jahreswechsels
1934/35, Husserl abgestattet hatten. Das Fink gewidmete Exemplar von
Miguel de Unamunos Das tragische Lebensgefühl, das Frau Alonso ihm
vermutlich als Dankesbezeugung geschenkt hat, ist auf „Juni 1935“ datiert.

416 Ebd., Text Nr. 8.


417 Ebd., Text Nr. 5 und Text Nr. 8.
418 Fink, „Was will die Phänomenologie E. Husserls?“, S. 175.
419 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 9.
420 Fink, „Was will die Phänomenologie E. Husserls?“, S. 175.
421 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 15.
422 Fink, „Was will die Phänomenologie E. Husserls?“, S. 175.

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Finks Vorbereitungen zu seiner „pädagogischen Interpretation von Kants
Prolegomena“ sind in dem vorliegenden Band unter der Nummer 15 der
Sammlung „M-III Grammata“ wiedergegeben.423 Auch hier zeigt sich der
besondere Einfallswinkel, den Fink für die Lektüre und das Studium der
Kantischen Prolegomena gewählt hat. Denn eben das „Seinsverständnis“
„aus der geistigen Weltbildung“ heraus, das „in der subjektivsten aller
möglichen subjektiven Haltungen“ erfolgen soll, ist nach Fink als das
par excellence „transzendentale“ zu bezeichnen. Die Frage, wie eingrei-
fend die „kritische“ Verwandlung sei, die diese Haltung im Raumfeld der
„dogmatischen“ Metaphysik insgesamt erzeugt habe, ist das eigentliche
Anliegen seiner Zuwendung zu Kants Schrift. Auf zwei Aspekte dieser
expliziten Anknüpfung an Kant möchten wir kurz die Aufmerksamkeit
lenken. Zum einen steuert Fink Kants „transzendentale Fragestellung“ als
„Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik“ in die Richtung einer Dar-
stellung der Problematik der „Transzendentalien“,424 zum anderen hebt er
aus diesem Problemkreis den Zusammenhang von ens und verum heraus
– denn „im Begriff des verum […] verbirgt sich das Problem einer im
Wesen des Seienden liegenden Subjektbezogenheit“. Und damit wird nach
Finks Ansicht „der Angelpunkt der ganzen Kantischen Neubegründung der
Metaphysik“ erstmals sichtbar.425 Finks späteren Arbeiten, insbesondere
den im Rahmen der Erforschung des Zusammenhangs von „Sein, Wahrheit,
Welt“ von ihm erhobenen „Vorfragen zum Phänomen-Begriff“ ebnet diese
„pädagogische“ Einführung in Kants Prolegomena den Weg. Indem sich
nach Kant das Seiende als verum eben „als Erscheinung“ auszeichnet,426
d. h. als ein grundsätzlich „binnenweltlich-Seiendes“, vollzieht sich in eins
damit auch jene Verwandlung, der Fink eine große philosophische Bedeutung
beimisst: „die Verwandlung der rationalistischen Metaphysik […] in die
kosmologische […]“.427 Weil Kant „die Illusion einer erkennbaren Welttran-
szendenz durch die Restriktion der theoretischen Erkenntnis überhaupt auf
den Zusammenhang der Erscheinungen zerstört“,428 könne man es ihm als
seine „große Leistung“ anrechnen, dass er „die Weltbefangenheit in der
Philosophie“ aufgewiesen und durchexerziert“429 habe. „Kants Philosophie
als Kosmologie“430 stellt für Fink in der Tat „die erste Herausarbeitung des

423 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 15.


424 Ebd., Text Nr. 15.
425 Ebd.
426 Ebd.
427 Ebd.
428 EFGA 3.2, Z-XIII/36b, S. 223.
429 Ebd., Z-XIII/XVIII/4b, S. 216.
430 Ebd., Z-XIII/35a, S. 222.

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Problems der Welt“ dar.431 „Aller Rückgang auf das weltbildende Leben“,
so notiert Fink, „ist weltbefangen“432. Während er die volle Weite der
„Weltgefangenschaft“ des menschlichen Geistes durchmisst, enthält Kants
Denken Fink zufolge zugleich einen Ansporn dazu, „die ‚intelligible Welt‘“
nicht länger in ein „Jenseits“, ein „Außerhalb“ als „Welt-Übersteigung“
zu verlegen, sondern ihm erstmals in jener „verborgenen Tiefe“ auf die
Spur zu kommen, „derer der Mensch durch den existenziellen Einsatz“ in
seinem praktischen Leben „teilhaftig wird“.433 „Die Weltgefangenschaft“,
so beschließt Fink, „kann durch keine Philosophie ontisch überwunden
werden, sie ist ontisch unaufhebbar. Die phänomenologische Reduktion ist
keine ontische, sondern me-ontische Aufhebung der Weltgefangenschaft“434.
In „Religion und Spekulation“ erblickt Fink „das dumpfe Wissen um
Befreiung“ aus dem eigentümlichen Bannkreis, der den menschlichen Geist
umfängt und einschließt.435
Nur wenige Tage, nachdem Husserl am 26. November 1935 aus Prag
nach Freiburg zurückgekehrt war, hielt Fink „auf Einladung der Kant-Gesell-
schaft“ am 4. Dezember 1935 in Dessau, am 5. Dezember 1935 in Bernburg
den Vortrag mit dem Titel „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant
und in der Phänomenologie“.436 Da, wie Fink in seiner auf den 1. Juni 1945
datierten „politischen Geschichte meiner wissenschaftlichen Laufbahn“
berichtet, „noch im Jahre 1933 die Phänomenologie auf den Index der uner-
wünschten geistigen Bestrebungen gesetzt ‹wurde› und der Ächtung an
Deutschlands Hohen Schulen“437 verfiel, war dieser Vortrag, dessen Manu-
skript Husserl zur Lektüre vorgelegt worden war, der einzige, den Fink in
den Jahren vor Kriegsbeginn gehalten hat. Nachdem der Vorsitzende der
Kant-Gesellschaft, Arthur Liebert, im Jahre 1933 zwangsemeritiert worden
war und daraufhin nach Serbien emigrierte, Husserl seinerseits im Januar
1935 vom Reichsministerium für Wissenschaft dazu aufgefordert wurde, aus
der von Liebert in Belgrad gegründeten philosophischen Organisation aus-
zutreten und im Jahre 1936 die von Paul Menzer und Eduard Spranger fort-
geführte Kant-Gesellschaft schließlich zum Erliegen kam, bestand wohl kei-
nerlei Aussicht darauf, dass der Text dieses Vortrags für die Kant-Studien
rasch in Druck gehen konnte. Seine Erstveröffentlichung erfolgte im Jahre

431 Ebd., Z-XIII/36b, S. 223.


432 Ebd., Z-XIII/35a, S. 222.
433 Ebd., Z-XIII/52b, S. 227.

434 Ebd., Z-XIII/XVIII/5a, S. 217.

435 Ebd., Z-XIII/XVIII/4b, S. 216.

436 Fink, „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“,

S. 7, Anm.
437 Fink, „Politische Geschichte meiner wissenschaftlichen Laufbahn“, in: EF05–75, Bilder

Nr. 510–515.

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1976 in der von Franz-Anton Schwarz unter dem Titel Nähe und Distanz
besorgten Ausgabe der gesammelten phänomenologischen Vorträge und
Aufsätze Eugen Finks.438 Dass Fink diesen Vortrag mit besonderer Sorgfalt
vorbereitet hat, geht insbesondere aus den in den vorliegenden 3. Teilband
der „Werkstatt“-Ausgabe aufgenommenen Notizheften mit der Signatur Z-
XVI, Z-XVII und OH-V hervor.439 Im Übrigen dürften diese Vor- und Aus-
arbeitungen zum „Dessauer Vortrag“ sich teilweise mit den im Dezember
1935 vordringlich gewordenen Arbeiten zur redaktionellen Ausgestaltung
von Husserls Prager Vorträgen überschnitten haben, wie u. a. aus dem in das
Heft OH-V eingetragenen „Vorschlag für die Schlusssätze“ des Prager Vor-
tragszyklus „Die Psychologie in der Krise der Wissenschaft“ geschlossen
werden kann.440 Einzelne, in das Heft Z-XVII eingeschobene Notizblätter
deuten außerdem darauf hin, dass Fink dem am 13. November 1935 von
Martin Heidegger gehaltenen Vortrag „Vom Ursprung des Kunstwerkes“
beigewohnt hat.441 Im Unterschied zu dem im Jahre 1933 in den Kant-Studien
zur Veröffentlichung gelangten Aufsatz „Die phänomenologische Philoso-
phie E. Husserls in der gegenwärtigen Kritik“ und dem im darauffolgenden
Jahr in Die Tatwelt erschienenen Artikel „Was will die Phänomenologie
E. Husserls?“ wurde im Titel des Dessauer Vortrags „Die Idee der Transzen-
dentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“ diesmal der Name
„Husserl“ nicht ausdrücklich angeführt. Denn keineswegs sei mit der Gestalt
der „anfangenden Phänomenologie“442 der der „Transzendentalphilosophie“
im Sinne Kants zugrundeliegenden „Idee“ einer kritischen Neubegründung
der Metaphysik schon voll entsprochen worden. Indem er sich in die Lücke,
die zwischen den Analysen einer „vorläufigen Phänomenologie“443 und der
„transzendentalen Grundfrage“ Kants aufklaffte, tiefer einbohrte, stellte Fink
die Weichen für eine neuartige Konzeption der phänomenologischen Tran-
szendentalphilosophie als einer „ontogonischen Metaphysik“.444 „Im Vor-
trag“, so notierte Fink auf einem der zahlreichen zur Vorbereitung des Vor-
trags geschriebenen Merkzettel, „muss meine Grundauffassung der
Philosophie deutlich werden“445. Nicht um eine „doxographische“ Darstel-
lung der Husserlschen Phänomenologie, die auf einen Vergleich mit der Phi-

438 Fink, „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“, in:

ND, S. 7-44.
439 EFGA 3.3, Z-XVI; Z-XVII und OH-V.

440 Vgl. ebd., OH-V/9 und /29–36.

441 Ebd., Z-XVII/1a–b und /19a.

442 Fink, „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“,

S. 37.
443 Ebd., S. 40.

444 Ebd., S. 43.

445 EFGA 3.3, Z-XVI/III/1a.

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losophie Kants zielte, bemühte Fink sich in seinen Ausführungen. Aufs Spiel
setzte er nichts Geringeres als „das Wesen der Phänomenologie“. Ihre „im
verdeckten Grunde treibende Intention ist das Abzielen auf eine ontogoni-
sche Metaphysik: ein Verstehen des Seienden im Konstruieren des ontogo-
nischen Prozesses“446. Und gerade dieses, die Phänomenologie als solche
auszeichnende spezifische „Seinsverständnis“ sollte – kontrastierend – von
der Art und Weise abgehoben werden, „wie bei Kant das transzendentale
Problem zu einer Neubegründung der Ontologie führt“447. Dass die in den
„pädagogischen Interpretationen zu Kants Prolegomena“ bereits gezogenen
Grundlinien Nutzen brachten für die Darstellung des „transzendentalen Pro-
blems“ in der Philosophie Kants, wie Fink sie im „Dessauer Vortrag“ seinen
Zuhörern vorgeführt hat, ist unverkennbar. Uns soll an dieser Stelle vorwie-
gend das spannungsvolle Verhältnis interessieren, in dem Finks Phänome-
nologie-Verständnis fortwährend zu der „intentionalen Analytik des
Bewusstseins“ seines Lehrers stand – ein Verhältnis, auf das die in Dessau
und Bernburg gehaltenen Vorträge erneut ein Licht warfen.
Gerade mit Rücksicht auf die intentionale Korrelationsforschung der
reinen Phänomenologie stellte Fink in seinen Arbeitsnotizen die kardinale
Frage, „auf welcher Stufe hier das transzendentale Problem von ens und
verum“ stehe. „Ist das ens = Gegenstand und der Gegenstand = aus Mannig-
faltigkeit subjektiver Aspekte synthetisch aufgebaute Sinneinheit?“ Und er
folgert: „So bedeutsam die Forschungen Husserls sind in der Ebene der
korrelativistischen Problematik, so ist hier das transzendentale Problem noch
nicht gestellt.“ Denn nach Fink „tritt die phänomenologische Philosophie
erst mit der Reduktion in die ‹Ebene› transzendentaler Problematik (des
Bezugs von ens und verum) ein“448. „Der Grundgedanke ist (in der stärksten
Zusammendrängung): die Korrelationsbeziehung von Subjekt und Objekt
wird als solche Problem. Und damit wird die Objektivität der weltlich
begegnenden Objekte und ‹die› Subjektivität des weltlich fungierenden Sub-
jekts problematisch. D. h. das Seiende (ens) wird im Rückbezug nicht auf
die korrelative fungierende Subjektivität, deren bloße Sinnesleistung es ist,
sondern auf eine tiefere Subjektivität verstanden als ‚Gebilde subjektiver
Konstitution‘ (verum).“449 Zu dieser „Tieferlegung“ der Husserlschen Korre-
lationsforschung durch ein phänomenologisch-reduktives Verfahren, das uns
erstmals die Ebene der „transzendentalen Konstitution“ erschließt, gehörte
nach Fink eine entschiedene Zurückdrängung derjenigen Ausgangspositio-

446 Ebd., OH-V/36.


447 Fink, „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“,
S. 43.
448 EFGA 3.3, OH-V/41–42.

449 Ebd., OH-V/42.

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nen, der sie sich in ihrer anfänglichen Gestalt verschrieben hatte. Von Fink
werden zurückgewiesen: „1) die ‚reflexionsphilosophische‘ Gleichsetzung
von Seiendem und Gegenstand (also die Überspringung des Grundproblems
der Ontologie: τί τò ὄν) 2) der ‚Dogmatismus der Egoität‘ (das Verabsolu-
tieren des ‚Ich‘ oder ‚Wir‘, sogen. Monadologie) 3) die Auffassung des
Selbstheitscharakters des Subjekts als ‚gegenständlicher‘ (das heißt Verfeh-
len der Problematik der ‚Entstellung‘)“.450 In diesen operativen Vorausset-
zungen der phänomenologischen Intentionalanalytik drückt sich nach Finks
Ansicht eine „Benommenheit vom Seienden“,451 eine „Gebanntheit in die
Seinsidee“452 aus, die die beginnende Phänomenologie mit der natürlichen
Einstellung des Menschen teile, in der die in ihr zunächst und zuerst wirksam
gewordene „mundane Ontologie“ verwurzelt sei. Diese Benommenheit vom
Seienden charakterisiert Fink als „Seinslässigkeit“, als ein „das gegenständ-
lich begegnende Seiende und vor allem sich selbst als ein Seiendes unter
dem Seienden immer schon sein Lassen“453 oder „In-Geltung- halten“ von
Seiendem überhaupt – als die spezifische „Leistung“ einer „konstituierten
Vernunft“, die „ontischer“ Natur sei.454
Die „transzendentale“ Wendung der Phänomenologie, die sich mit der
phänomenologischen Reduktion vollzog, markierte für Fink den „Übergang
zur Charakteristik der Phänomenologie als ontogonischer Metaphysik“.
Denn im reduktiven Vollzug ereigne sich die „Überwindung der Seins-
lässigkeit“, mit der die Phänomenologie am Anfang vergebens gerungen
hatte.455 „Was ist also das ens? Prinzipiell ‚konstituiertes creatum‘.“ Mit
dieser phänomenologischen Auffassung des Seienden als „Gebilde der
schöpferischen Vernunft“ – der „konstituierenden, der sich selbst zeitigen-
den (seinlassenden) lebendigen Vernunft“– förderte Fink ein verum ans
Tageslicht, in dem er „das prinzipiell Andere als bei Kant“ erblickte.456
„Die ontische Subjektivität […] ist […] gar nicht das eigentliche und
wesentliche Subjekt. Denn dieses ist gerade die verborgene und im Hori-
zont der Gebanntheit in das Sein gar nicht zu Erreichende: Der lebendige
Geist oder – phänomenologisch gesprochen – die transzendentale Subjekti-
vität.“457 Und diese sei „kein ‚Vermögen‘, keine ‚Natur‘ des Menschen,

450 Ebd., OH-V/43.


451 Ebd., OH-V/45.
452 Fink, „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“,

S. 42.
453 Ebd., S. 42.

454 EFGA 3.3, OH-V/44.

455 Ebd., OH-V/44–45.

456 Ebd., OH-V/43–44.

457 Fink, „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“,

S. 42.

110 Einleitung der Herausgeber II

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sondern sein me-ontisches Wesen“.458 „Wenn die Phänomenologie, wie nur
andeutend behauptet werden konnte, das Wesen des Menschen nicht in die
seiende Subjektivität setzt“, so erläutert Fink die für seine Konzeption der
Phänomenologie zentrale These, „ja gerade das Wesen des Menschen für
ontologisch unerreichbar und nur im Durchbruch durch den Seinsbann für
erfassbar hält, dann wird vielleicht gerade dieses nichtseiende, aber auch
nicht nichtseiende Wesen des Menschen der transzendentale Seinsgrund sein,
von dem aus Sein im ganzen verständlich, d. h. irgendwie ableitbar ist.“459
„Das Weltwesen des Menschen“, so notierte er auf einem der Merkzettel,
die er zur Vorbereitung seines Vortrags anfertigte, „= die me-ontische Tiefe
der Weltkonstitution (ontologische Unerreichbarkeit)“.460 Und in seinem
Vortragstext führt er nochmals aus: „Das Fragen der Phänomenologie ist
ein transzendentales, […] insofern der Mensch als das Weltwesen begriffen
wird, weil in der Tiefe seines Lebens die Weltschöpfung geschieht“461.
Und er beschloss seinen Vortrag mit den Worten: „Mag der Anspruch der
phänomenologischen Philosophie, die weltschöpferische Kraft des Lebens
in der Tiefe des Menschen selbst freizulegen, haltbar sein oder nicht; sei es
dahingestellt, ob eine ontogonische Metaphysik ein Ikarusflug der spekulati-
ven Vernunft oder eine Möglichkeit wissenschaftlicher Arbeit ist: Im Fragen
der transzendentalen Frage geschieht – mag ihre Bewältigung scheitern oder
gelingen – der Griff des Menschen nach sich selbst, die Selbstbemächtigung
des Lebens.“462 Indem er „die Vortragsperspektive auf die ‚Phänomenolo-
gie‘“463 gewissermaßen scharf stellte, sprach Fink sich in seinem Dessauer
Vortrag deutlich offener und ungehemmter über die Richtung aus, die er
mit seiner „me-ontischen Philosophie des absoluten Geistes“ verfolgte, als
es zuvor anlässlich des Husserl unterbreiteten „Entwurfs der Idee einer
transzendentalen Methodenlehre“ hatte geschehen können. „Die bestimmte
Grundauffassung der Philosophie, die mich leitet“, hielt er in einer Notiz
fest: „Philosophieren ist der Griff des Lebens nach sich selbst. Philosophie
ist keine ‚Wissenschaft‘, keine ‚Kulturangelegenheit‘, sondern das Wissen
um die schöpferische Macht des Lebens.“464 Diese weltschöpferische Kraft
des Lebens, die sich in der Tiefe des Menschen offenbart, ist „die lebendige

458 EFGA 3.3, OH-V/44.


459 Fink, „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“,
S. 43.
460 EFGA 3.3, Z-XVI/6b.

461 Fink, „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“,

S. 43.
462 Ebd., S. 44.

463 EFGA 3.3, OH-V/22.

464 Ebd., Z-XVII/18a.

Einleitung der Herausgeber II 111

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Vernunft“, die als „konstitutives Fungieren“ „der Geist ist“.465 „Die Möglich-
keit, vom ontischen Menschen zum me-ontischen Geist vorzudringen in
der Selbstbemächtigung des Lebens, ermöglicht erst die Distanz zum Sein,
das Sich-heraushalten, die me-ontische Epoché.“466 Sie stellt die wahrhaft
„transzendentale“ Gestalt dar, zu der Fink die „phänomenologische Epoché“
seines Lehrers radikalisieren möchte. „Um überhaupt die Phänomenologie
als me-ontische ontogonische Metaphysik begreifen zu können, bedarf es
zuvor einer ontologischen Entfaltung des Wesens des Menschen, d. h. der
Erfahrung des Scheiterns aller Versuche, den Menschen als Seiendes zu
begreifen (‚Ontologische Unerreichbarkeit‘).“467 In das phänomenologische
Blickfeld rückte Fink nunmehr das „Weltwesen“ des Menschen. „Ziel der
Philosophie ist die Selbstbemächtigung des Lebens: Der Mensch als Weltwe-
sen.“468 In ihm habe die „Selbstbegegnung der schöpferischen Vernunft zu
beginnen“469. „Die Problematik, die wir als die transzendentale bezeichnen“,
so präzisierte Fink die Stoßrichtung seiner phänomenologischen Gedanken,
„ist somit eine solche nach dem Wesen des Menschen geworden“470. „Mitten
unter dem Seienden ist ein Seiendes, das in seinem Sein nicht aufgeht“471,
das insofern eine „ontologische Paradoxie“ darstellt. Wenn es zunächst und
zumeist als ein „Binnenweltliches“ erscheinen mag, so stellt es immerhin
eine „Lücke im Kosmos“ dar, indem es über die Möglichkeit verfügt,
eine „Distanz zum Sein“ zu wahren, ein „Sich-heraushalten“ aus dem Seins-
zusammenhang zu üben.472 Dieses rätselhafte Wesen, das eine „Brücke“
schlägt, einen „Übergang“473 zu derjenigen Dimension bildet, die aller
naiven Seinssetzung zuvorkommt – dieses Wesen, in dem sich ein Wissen
um „den Ursprung der Welt“ anbahnt, das es heimsucht und zugrunde richtet,
nimmt mit einer „ontogonischen Metaphysik“ das Wagnis auf sich, „den Weg
zur Vollendung seiner weltlich-fragmentarischen Existenz“ zu beschreiten,
sich „der Macht des Seinsspieles“ zu bemächtigen.474 „Auf dem Untergrund
der Einsicht in ‹die› fragmentarische Existenz“ des Menschen formuliert die
„zur konstitutiven Ontogonie entwickelte Phänomenologie“ „das Problem
der ‚Selbstvollendung des Geistes‘“475. Welches Risiko der philosophierende

465 Ebd., OH-V/23.


466 Ebd., Z-XVII/17b.
467 Ebd., Z-XVII/17b.
468 Ebd., Z-XVI/1b.
469 Ebd., Z-XVI/1b.
470 Ebd., OH-V/45.
471 Ebd., Z-XVII/17a.
472 Ebd., OH-V/45; vgl. Z-XVI/1a.
473 Ebd., Z-XVII/17a; vgl. Z-XVI/VIII/3b.
474 Ebd., OH-V/47.
475 Ebd., OH-V/22.

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Mensch damit allerdings eingeht, dass er „sich der Eingelassenheit in das
Seiende ‹zu› entreißen“ versucht und sich „zum selbstmächtigen Versucher
des Seins, zum Weltspieler“ befördern möchte, hat Fink in folgendem Satz
festgehalten: „So gleicht er den Göttern, wie Heraklit von Zeus sagt: ‚Er
spielt mit den Welten‘“476.

VI. Die Hoheit der Philosophie

Am 17. September 1935 berichtete Husserl Felix Kaufmann kurz, dass Fink
auf einer Klettertour in Oberbayern sei und keine Adresse hinterlassen
habe.477 In diesen Tagen, in denen der arbeitsame Kappeler Sommeraufent-
halt kaum verklungen war und die „Bombe vom 15. September“, die Ver-
kündung der Nürnberger Gesetze, einschlug, trug Husserl sich mit dem
Gedanken, „in die alte Heimat zurückzukehren“. „Jetzt ist es so weit“, so
schrieb Husserl an seinen Sohn Gerhart am 21. September 1935, „dass
ich ‹es› wirklich nicht mehr aushalten kann und in Prag alles Erdenkliche
versuchen und sehen werde, was da zu machen ist. Msk., Bibliothek, Hono-
rare – das können sie haben, wenn sie uns Alte nehmen. Ein Werk, ein
Hauptwerk könnte ich noch (wenn ich es müsste) schreiben – aber ist das
hier möglich? Könnte ich nur in Prag so sprechen, dass die drüben sähen,
was ich ihnen und dem Lande zu bringen vermag. So ist das Ende eines
Lebens in und für Deutschland. […] Die Wenigen, Aufrechten, Reinen,
Wahrhaften sind die Auserwählten, in ihnen waltet Gott.“478 Wie aus einer
im Heft OH-VII hinterlegten Notiz indirekt geschlossen werden kann, in der
Fink in wenigen Zeilen für sich festzuhalten versuchte, „was in meinem
30. Jahr sichtlich geworden ist an der ‚Philosophie‘, die in meinem Leben
vielleicht liegen mag“,479 weilte er aller Wahrscheinlichkeit nach während
dieses Nachsommers des Jahres 1935 in der Nähe von Oberstdorf im Ober-
allgäu. Die sich überschlagenden politischen Ereignisse dürften dazu beige-
tragen haben, dass er – der nicht wie Husserl sich das Ende des Lebens ver-
gegenwärtigte, sondern auf die Mittagsstunde zuging, in der das Leben in
einem hellen Licht erstrahlte – noch stärker das Bedürfnis empfand, sich nach
innen zu wenden und auf die Berufung zu hören, die er in sich trug. In der
Stunde der Gefahr, da Husserl seine Familienmitglieder beschwor, „sich zu
einer unüberwindlichen Phalanx von Gottesstreitern zusammenzuschlie-

476 Ebd., OH-V/24.


477 Brief Edmund Husserls an Felix Kaufmann vom 17. September 1935, in: Bw. IV, S. 216.
478 Brief Edmund Husserls an Gerhart Husserl vom 21. September 1935, in: Bw. IX, S. 247.
479 EFGA 3.3, OH-VII/50.

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ßen“,480 sonderte Fink sich im Hochgebirge ab. Im Oytal, im Schatten des
„Großen Wilden“,481 fand er „ein Haus auf den Hügeln des Vorgebirges,
Holundersträucher, ein Kreuz, Ländlichkeit, Kinder, Tiere und ein Leben mit
Wolken, Wind, Tag und Nacht und Jahreszeiten“482. Wenn er nachts aus der
Hütte in das „weißlich blaue Blinklicht der Sterne“ heraustrat, wurde er des-
sen gewahr, dass die „Verknüpfung mit dem Menschlich-Erhabenen, mit dem
Sittengesetz“ ihm nur noch wie „eine grausige Naturferne“ vorkam. Im
„Anblick des gestirnten Himmels“, der sich über ihm wölbte, und des unge-
heuren „Nachschattens“, den der „große Wilde“ um ihn herumwarf, schien
es ihm, als sei „zwischen Jetzt und Tod die ganze Welt eingespannt“. „Nichts
ist wirklich als das Rauschen der Wasser und die Einsamkeit.“483 In der
ländlichen Abgeschiedenheit des Oytals begann Fink sich einer Reihe von
Reflexionen zu widmen, in denen er sich schrittweise seine „Motivation des
Philosophierens“, seine „Auffassung“ vom innersten „Antrieb“, der eine
philosophische Existenz führen mag, zurechtzulegen versuchte.484 Wie aus
den „Plänen für 1938“ hervorgeht,485 dürfte sich Fink mindestens zu diesem
Zeitpunkt mit dem Gedanken getragen haben, seine über mehrere Notizhefte
verstreuten Einzelmeditationen zu einer Schrift unter dem Titel „Hütte im
Oytal“ zu bündeln.486 Mehrere Hefte tragen auf dem Umschlag außerdem
den Imperativ, unter den er in diesen bewegten Tagen sein Leben stellen
wollte: „λáθε βιὠσας = Lebe im Geheimnis“487 sowie – als Symbol – die
Zeichnung eines zunehmenden Mondes über dem Meer oder das Bild zweier
Hunde.488
Es war zweifellos zunächst Husserl gewesen, der in seinem „an den
Präsidenten des VIII. internationalen Philosophen-Kongresses, Herrn Prof.
Dr. Rádl in Prag“ gerichteten Brief vom 30. August 1934 das Thema der
„persönlichen Einsamkeit“ angeschnitten hatte, „in die vorläufig ein jeder in
der Forschung verwiesen“489 sei. „Der Zusammenbruch der Philosophie, und
damit der ‚Zusammenbruch des Abendlandes‘ in unserem echten Sinne“, so
schrieb Husserl an Rádl, „ist so lange nicht endgültige Wirklichkeit, als es
noch eine, wenn auch kleine Gemeinschaft gibt, erfüllt von der echt philo-

480 Brief Edmund Husserls an Gerhart Husserl vom 21. September 1935, in: Bw. IX, S. 247.
481 EFGA 3.3, OH-VII/13.
482 Ebd., Z-XXIII/15.

483 Ebd., OH-VII/13.

484 Ebd., M-IV, zwei lose Blätter aus den 1930er Jahren.

485 Ebd., Z-XXIII/15.

486 Vgl. dazu die Angaben in der Beschreibung zu der Mappe OH-III.

487 Ebd., OH-VI/2.

488 Ebd., die Beschreibungen der Hefte OH-III, OH-IV, Z-XVIII sowie OH-VI.

489 Vgl. Husserls Brief an Emanuel Rádl, in: Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922–1937),

S. 243.

114 Einleitung der Herausgeber II

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sophischen Gesinnung.“ „Die alte Weise der Zusammenarbeit der Philoso-
phen, auch der mit den Wissenschaftlern, ist hoffnungslos. Wirklich einig
sind die echten Philosophen nur in der Gesinnung.“ In dieser Gemeinschaft
der Gesinnung hat ein jeder „in existentieller Entschiedenheit“ die Aufgabe,
die ihm „Philosophie in unserem griechisch-europäischen Sinne“ bedeutet,
„als ‹seine› eigenste, von ‹seinem› persönlichen Dasein schlechthin unab-
trennbare Lebensaufgabe ‹zu› übernehmen.“ Die „persönliche Einsamkeit“,
in die er auf diese Weise gestoßen wird, „kann“, so meinte Husserl, „nicht
streng genug abgeschlossen sein“. „Nur das ist noch möglich, also das unum
necessarium, dass man in eine absolut radikale Besinnung eintritt über den
Sinn der Philosophie; dass man, unter Epoché hinsichtlich aller historischen
Traditionen […], die Frage nach dem Seienden oder dem Seinsfelde stellt,
das durch den eigenen Sinn einer Philosophie vorausgesetzt ist, in der Weise
eines apodiktischen Bodens, für eine Wahrheitsfrage überhaupt.“ „Vorerst
völlig vereinsamt“, so beschloss Husserl, „werden die Philosophen solcher
radikalen Besinnlichkeit sich wieder zusammenfinden können […].“490 In
seinem am 26. November 1934 an Gustav Albrecht geschriebenen Antwort-
brief hatte Husserl den in seinem nach Prag abgegangenen Brief zum Aus-
druck gebrachten „Pessimismus“ angesichts des „Bankrotts“, zu dem eine
unaufhörliche philosophische Geschäftigkeit und Betriebsamkeit geführt
hatte, dadurch zu mildern versucht, dass er seine ganze Hoffnung auf die
nach ihm unumgänglich gewordene Aufgabe „einer radikalen und universa-
len Besinnung“ setzte. „Wer in dieser Gesinnung sich vereinzelt hat und
wirklich den Mut dieses Radikalismus hat, muss zu demselben Gang kom-
men wie ich, und dann ist wieder Philosophie in Gemeinschaft möglich. Erste
Besinnung, ein auf sich selbst sich Stellen und überschauen, was vorliegt, ist
noch keine Philosophie, noch nicht die universale, absolute Wissenschaft.
Sowie sie zu endgültigen Feststellungen kommt, ergibt sich Vergemein-
schaftung, und nur in Vergemeinschaftung hat sie vollwirkliches Dasein.
Denn Ich isoliert in meiner Endlichkeit kann in der Erkenntnis der Unend-
lichkeiten nicht weit kommen.“491
Dem Dreißigjährigen wurde es immer fraglicher, ob er dem Meister
in diese selbstgewählte philosophische Einsamkeit, die im Dienste der
radikalen Grundlegung einer streng wissenschaftlichen Philosophie stand,
folgen – ob er sich in der ihm dabei zugewiesenen „Rolle“ noch länger
finden könne. In einer flüchtigen Notiz vermerkt er missfällig: „Das Zerrbild
des ‚Philosophen‘: der ‚gute Jünger‘, der im Wahne einer Dienstidee lebt
und so sein Leben überschlägt. (Beispiel: Husserls Auffassung des guten
Nachfolgers; eine Rolle, die mir zugedacht ist!). Diese ‚Selbstlosigkeit‘ ist

490 Ebd., S. 243–244.


491 Brief Edmund Husserls an Gustav Albrecht vom 26. November 1934, in: Bw. IX, S. 110.

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von alters her mit allen Gloriolen umgeben worden: der ‚Idealist‘ erschien
immer als die einzige Form des großen Lebens gegenüber dem bloßen
Lustleben der Allzuvielen.“492 In der Abgeschlossenheit des Oytals begann
er das „Tagebuch eines Abseitigen, eines sich Aussetzenden, der mit dem
Aussatz des Selbstdenkens behaftet die Gemeinschaft fliehen muss, in der
es erprobte ‚Rezepte‘ und die Gesundheit des Irgendwiedurchkommens für
die Haltung zum Leben gibt, in der gemeinsam gelebt wird, ‚öffentlich‘
und geregelt, staatliche Fürsorge“493. Großen Wert legte er zuallererst
darauf, sich das eigene Leben „aus allen Verlorenheiten, Versponnenheiten
und Selbstüberschlagungen zurück‹zu›holen“494. „Die Gliederung“ des im
Oytal geführten Tagebuches sollte „durch die allmähliche Verwandlung der
Maxime Λάθε βιώσας geschehen: von der Einsamkeit des Sich-aussondern-
den, der aus den Maßstäben flieht, mit denen man das Leben mißt, und nicht
dem Leben begegnet, bis zur Einsamkeit als Heimkehr ins ‚Geheimnis‘“.495
„Die menschliche Existenz“-Form, zu der Fink zunächst durchfinden wollte,
indem er in der „Ironie“ die Möglichkeit erblickte, „Epoché von allen Rollen“
zu üben, „erste Distanz“ zu dem ihm ständig angedichteten, in Wahrheit seine
Seele beklemmenden „dienstbaren Geist“ gewinnen zu können,496 sollte
allmählich einen noch ungeahnten philosophischen Tiefgang erreichen,
indem sie letzten Endes bis „in das me-ontische ‚Eine‘“497 sich vorzuwagen
beabsichtigte. Den Stufengang des Λάθε βιώσας gliederte Fink demnach
wie folgt: „1) gegen die Öffentlichkeit und unproblematische Weise zu
leben. Also sich Zurückholen aus Staat, Sitte, Tradition. 2) „Verhaltenheit“.
3) Heimkehr in die ‚menschenlose Welt‘: Hochgebirge. 4) Einsamkeit als
Weg zum Selbst. 5) Vom Selbst zum ‚Geheimnis‘“498.
Wenn irgendwann der Punkt erreicht wurde, an dem das vinculum fidei et
amoris, das Fink mit Husserl verband, unwiderruflich zerriss, wenn irgendwo
die Stelle ausgemacht werden könnte, an der der mächtige Abstoß eintrat,
der ihn aus der Planetenbahn, die unaufhörlich um den Fixstern des großen
Phänomenologen kreiste, herausschleuderte – wenn es überhaupt einen Ort
gibt, an dem man Fink selbst begegnen kann, so ist es wohl hier, in den
flüchtigen, in der Hütte im Oytal erstmals hingeworfenen Notizen, die er
hinterlassen hat. Denn hier drückt Fink mit Rücksicht auf den innersten
Beweggrund, der ihn zum Philosophieren beschwingt, seinen „Gegensatz“

492 EFGA 3.3, OH-VII/A/5a.


493 Ebd., OH-VII/24.
494 Ebd., OH-VII/23.
495 Ebd., OH-VII/24–25.
496 Ebd., OH-VII/25–26.
497 Ebd., M-IV/2b, zwei lose Blätter aus den 1930er Jahren.
498 Ebd., OH-VII/24–25.

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zu der philosophischen Überzeugung, die Husserl fest vertrat, unumwunden
aus: „Gegensatz zu Husserl hinsichtlich der Motivation des Philosophierens:
bei Husserl ist die Motivation Wissenschaft als Grundlage eines humanen
Daseins. D. h. ein Humanismus ethischer Art, der eine Säkularisierung eines
religiös-optimistischen Lebensgefühls darstellt. Wissenschaft als autonom
gewordene Religion (Judengott im Hintergrund?). Meine Auffassung vom
Antrieb des Philosophierens ist ‚jenseits von Gut und Böse‘: Philosophie-
ren ‹ist› eine Leidenschaft des Lebens, das ihm Eigenmacht verschafft.“499
Mit Übernahme des Themas der „Eremitie“ von Husserl machte er sich „als
der Don Quijote auf der [sic!] Pilgerfahrt zum unversehrten Leben“500. In der
Einsamkeit erblickte Fink eine Weise der „Selbstzurücknahme des Lebens
aus den ontischen Selbstentfremdungen“501. Und diese „Rückkehr in die
‚Unversehrtheit‘“ vollzieht sich im Philosophieren als „Selbstbemächtigung
des Lebens“.502 „Weltanschaulich“, so verdeutlichte Fink seine Position
nochmals, „kämpfe ich gegen Husserls ‚Geist des 18. Jahrhunderts‘“.503 Wie
seine Bestimmung der Philosophie als „Selbstbemächtigung des Lebens“,
auf die er am Schluss seines „Dessauer Vortrags“ nochmals kurz zurück-
griff,504 sich zu der „versucherischen Existenzform“, in der sie offensichtlich
verwurzelt sei, verhalte, das versuchte Fink in seinen Notizen klarzustellen.
„Die existentielle Philosophie als Reaktion gegen die Unterstellung des
philosophischen Interesses unter die Dienstidee der objektiven Kulturform
‚Wissenschaft‘: aber sie führt zumeist zu einer philosophischen Attitude,
zu der Statik einer Haltung. Demgegenüber setze ich die Philosophie als
eine Lebensbewegung an. Diese Bewegung ist überhaupt nur möglich, wenn
wirklich besteht, was erst die Philosophie lehrt: nämlich Benommenheit,
Versponnenheit und Befangenheit. Diese drei zusammen machen das aus,
was in der Philosophie in Bewegung kommt: die natürliche Einstellung.
‚Versucherische Existenz‘ nicht als ‚Haltung‘, sondern als unablässiges
Hineingehen in Fragen.“505 „Versucherische Existenz: Wir sind: a) benom-
men vom Seienden, b) Versponnenheit in das ‚Apriori‘, c) befangen in der
Welt.“506 Das von Fink geforderte „Hineingehen in Fragen“, in denen die
versucherische Existenzweise erstmals ihre wahrhaft philosophische Potenz
erweist, ist nichts Geringeres als das „Hineinfragen in die Spielräume der

499 Ebd., M-IV/1.


500 Ebd., OH-VII/13.
501 Ebd., M-IV/2a.

502 Ebd., OH-VII/A/2a.

503 Ebd., OH-VII/42.

504 Fink, „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“,

S. 44.
505 EFGA 3.3, OH-VII/14–15.

506 Ebd., OH-VII/23.

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‚transzendentalen Bezüge‘“, wie des Bezugs von ens und verum – demnach
ein „Überfragen des Seins“ schlechthin. Gerade in solchem Fragen offenbart
sich „die Idee der Transzendentalphilosophie“,507 die, wie Fink in seinem
„Dessauer Vortrag“ ausführlicher dargelegt hat, die menschliche Lebensfüh-
rung grundsätzlich tangiert, „1) sofern in der Überfragung des Seins gerade
das unbekannte Wesen des Menschen erscheinen muss“ – „die ontologische
Unerreichbarkeit des Menschen“ an die Oberfläche gebracht wird –508,
„2) sofern in der Auslegung der eigentlichen Subjektivität notwendig das
Ganze des Seienden in seiner Konstitution mit ausgelegt wird“, sie sich somit
an „eine Weise des Lebens“ adressiert, „in welcher erst der Mensch sich Gott
und den letzten Dingen stellen kann“,509 „3) insofern der Mensch als das
Weltwesen begriffen wird, weil in der Tiefe seines Lebens die Weltschöpfung
geschieht“,510 – „das Leben“ demnach „durch das eigentümliche Wissen
(kosmologisch-kosmogonischer Art) eine Verfassung seiner selbst“ besei-
tigt, die als „das Außer-sich-geraten-Sein“,511 als „Entstelltheit“512 bezeichnet
werden muss.
In der Maxime Λάθε βιώσας drückt sich somit „nicht allein das ‚Pathos
der Distanz‘“ aus, „die Verborgenheit des wesentlichen Lebens gegenüber
der Menge, […] nicht allein also das negative Erlebnis der Einsamkeit“,
sondern, wie Fink betont, „das einsame Leben als Leben auf sich selbst zu,
das Leben in der Werkgesinnung des Schaffenden, aber nicht als Gefangen-
schaft im Selbst, sondern als einsames, sich im Werk vollendendes Selbstsein
auf dem Grunde der Offenheit für das Geheimnis der Welt“.513 „Einsam-
keit als Selbsthaftigkeit“, so merkt Fink an, „zerbricht in das me-ontische
‚Eine‘“514. In einem dreifachen Sinne sollte nach Fink die Maxime Λάθε
βιώσας als eine Anweisung verstanden werden, die er im Hinblick auf den
Lebensweg, den er begehen wollte, für verbindlich hielt: „1) ‚lebe abseits‘
(Zurückholen aus der ‚Menge‘, aus den Lebensrezepten der Tradition,
aus dem Scheine gekonnten Lebens; Leben als Problem); 2) ‚lebe in der
Einsamkeit‘ (Einsamkeit nicht Alleinsein, ist unbezüglich zu den Andern,
ist nicht Abseitigkeit des Lebensvollzugs, sondern ist ‚ein-sam‘-Sein als ein
‚Selbst-Sein‘ im Ganzen des Seienden; Beispiel: Leben mit den Dingen, mit
Wind und Stern und Wald und Wasserfall, mit Trauer, Sinnenrausch und

507 Ebd., OH-VII/50.


508 Ebd., OH-VII/23.
509 Ebd., M-IV/2a.

510 Fink, „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“,

S. 43.
511 EFGA 3.3, OH-IV/3.

512 Ebd., OH-IV/7.

513 Ebd., OH-IV/34.

514 Ebd., M-IV/2b.

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Melancholie, im freien Gratwind des Hochgebirges); 3) ‚lebe im Geheimnis‘
(‚Geheimnis‘ ist das Seiende im Ganzen als Erscheinung Gottes, ‚existieren
in der großen Sehnsucht‘, ‚einsames loderndes Feuer in der unendlichen
Nacht der Welt‘.)“515 Mit Vehemenz wandte Fink sich gegen einen „seines
metaphysischen Ursprungscharakters beraubten, profanierten“ Begriff von
„Wissen“. „Sofern Wissen ursprünglich geschieht“, so notiert er sich, „ist es
wesenhaft in der Nachbarschaft des Geheimnisses; steht in der furchtbaren
Spannung, ist prometheischer Raub der Flamme. Wie ‚Licht‘ nur ist, sofern
es in der Dunkelheit ist, ist Wissen nur im Geheimnis.“516 Gerade in der
„Geborgenheit“ einer Lebensform, die sich dem Ganzen des Seienden
verschließe, das sich uns in den „panischen“ Lebensmomenten – „in den
„dichten Momenten unseres Daseins“ – offenbare, sei „Gott durch die Welt
verborgen“, die Spur des Geheimnisses bis zur Unkenntlichkeit verwischt
worden. Die „Selbstbemächtigung des Lebens“, die sich im Philosophie-
renden auf dem Boden des „Staunens“ erhebe, sei im wahrsten Sinn des
Wortes eine „Heimsuchung des Menschen“, die von Schrecken und Entsetzen
durchzittert ist.517 „Die Suchung des unberührten (integralen) Lebens“, die
„den Philosophen als den Heimsuchenden“ zuinnerst ergreift, „ist kein
Suchen in den schon immer gefundenen Bahnen des (entstellten) Lebens,
sondern ist als Hinausgehen über alle eingelaufenen Pfade ein Versuchen,
ein Versucherisch-sein, die große Versuchung, die Wagnis und Gefahr in
einem ist“518.
Aus den hinterlassenen Merkzetteln, die sich, in der „Hütte im Oytal“
begonnen, zusehends zu einer Schrift „Vom freien Leben“ verdichteten –
denn alles Philosophieren ist nach Fink von der Sehnsucht ergriffen, zu „einer
souveränen Existenz“ zu gelangen –,519 geht hervor, dass es mindestens
zweimal zu einer Zwiesprache mit Husserl gekommen ist – die Fink selbst
als „Streitgespräch“ zwischen „dem Gelehrten und dem Philosophen (Wis-
senschaft und versucherische Existenz)“ qualifiziert hat.520 Beide Gespräche
sind wohl als ein Nachklang zu den in den Kant-Gesellschaften von Dessau
und Bernburg gehaltenen Vorträgen einzustufen. Sie fanden am 21. Januar
und am 18. Februar 1936 statt, zu einem Zeitpunkt, als Husserl sich intensiv
darum bemühte, seine Prager Vorträge in Druck zu geben, und auch Ludwig
Landgrebe aus Prag wieder zu Gesprächen mit Husserl und Fink in Freiburg

515 Ebd., Z-XXII/34–35.


516 Ebd., Z-XXII/34.
517 Ebd., Z-XXII/32.
518 Ebd., OH-VII/48–49.
519 Ebd., OH-VI/2.
520 Ebd., OH-VII/36–37, OH-VI/3.

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eintraf.521 Was, so gestand Fink, „in meinem 30. Lebensjahr an der Philoso-
phie sichtlich geworden“ war, war an erster Stelle „die Metaphysik des Spie-
les“ – denn „das Wesen des Lebens = das Spiel“ –,522 zweitens „die Idee der
Transzendentalphilosophie als Überfragen des Seins“, ferner die „kritische
Beleuchtung“ von „Ontologie und Reflexionsphilosophie (Distanz zu Hus-
serl und Heidegger)“, und schließlich „der Naturbegriff der Philosophie als
Selbstbemächtigung (Heimsuchung und ‚versucherische Existenz‘)“.523 Die
eigentümliche Zwietracht, in der er sich ständig zu der „Phänomenologie in
Husserls Durchführung“ befand, wurde, so erklärt er, hervorgerufen durch
die ihr innewohnende Unausgewogenheit zwischen der „spekulativen
Kraft“, die von der „Theorie der Reduktion“ ausgehe, und der „eigentlich
thematischen analytischen Arbeit“, die nach wie vor als ihre wesentliche
Leistung gelte und die auf den „begrenzten Bezirk der Gegenstandskonsti-
tution“ – „(mit Einschluss der Übertragung ‚gegenstandskonstitutiver‘
Methoden auf die angeschnittenen Probleme der ‚Weltkonstitution‘ und
‚Selbstkonstitution‘)“ – eingeschränkt sei. „Ein Zeichen dieser Sachlage“, so
notierte sich Fink, „ist die durchgängige Orientierung des Wesens des Lebens
am ‚Subjekt als Bewusstsein‘. Das bedeutet einen transzendentalen ‚Dog-
matismus der Egoität‘, d. i. das Unvermögen, hinter die Individuiertheit des
Lebens zurückzufragen, und einen ‚Dogmatismus der Statik‘ in der Erfas-
sung des ‚absoluten Lebens‘, d. i. das stationäre Ausruhen in der zunächst
(durch die Reduktion) erschlossenen Dimension des Lebens, im ‚Bewusst-
sein‘. Der Vorwurf ‚Phänomenologie = Bewusstseinsphilosophie‘ einiges
Recht! Husserls ‚transzendentaler Ansatz‘ bei dem ‚ego‘ und seinen ‚cogi-
tationes‘ muss weiter entwickelt werden zum Begriff des ‚Geistes‘.“524
Angelpunkt der von Fink energisch befürworteten „ontogonischen Meta-
physik“, zu der die Husserlsche Phänomenologie sich fortgestalten sollte,
war deshalb auch die Entfaltung eines „Vitalbegriffes der Vernunft“525. Und
gerade die Gegenüberstellung von „Vitalität und Bewusstheit“ wurde zum
Gegenstand der ersten Unterredung mit Husserl.526 „Denken“, so schrieb
Fink, ist „als Sturm, als Leidenschaft, als exzentrische Größe des Lebens“
zu betrachten. „Ich fordere“, so notierte er weiter, „einen strengen, harten,
verwegenen Rationalismus […], der mit einem Wort: schöpferisch ist“527. In
diesem „Vitalbegriff der Vernunft“ drückte sich eine „pathische“ Konzeption

521 Vgl. dazu HChr, S. 472.


522 EFGA 3.3, OH-VI/2.
523 Ebd., OH-VII/50.
524 Ebd., OH-III/27–28.
525 Ebd., OH-II/23.
526 Ebd., OH-VI/15.
527 Ebd., OH-II/23.

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des Geistes aus. „Geist“, so heißt es in einer weiteren Notiz, ist „zunächst
eine dämonische Weise des Lebens, d. i. eine Leidenschaft“528. Mit diesem
„Vitalbegriff des Geistes“ als „dämonischer Naturmacht“ stellte sich Fink
erstmals in Opposition zu der Kantischen „praktischen Vernunft“ und der in
ihr sich dem Menschen erschließenden „intelligiblen Welt“. „Ausrottung“,
so hielt er auf einem seiner vielen Merkzettel fest, „des antik-christlichen
Gedankens der ‚vernünftigen Lebensordnung‘. Todfeindschaft dem Mora-
lismus im idealistischen Gewande“529. Die „Selbstmächtigkeit des Lebens“
führe „aus der Versklavung in Institutionen und Formen des genormten
Lebensvollzugs: Sitte, Gesellschaft usw.“ heraus. „In dem Begriff des
Preußentums“ lag nach Finks Ansicht ein „Wille zur Entselbstung“. Der
„Wille zur Selbstmächtigkeit“ gehorche dagegen der „inneren Notwendig-
keit des ‚Dämons‘ (d. h. des Selbst)“. „Gegen die Verfangenheit des Lebens
in seinen ‚Gebilden‘“, sich gegen die „Entselbstung“ auflehnend, gibt der
von diesem Willen ergriffene Mensch „sich sein Gesetz aus der Fülle und
Mächtigkeit des zum Sein zu bringenden Selbst“. Dieses „Gesetz des
Selbst“, dem er sich unterstellt, ist kein anderes als die Übernahme der „Rolle
des Weltspielers“.530 In der Philosophie nimmt die „versucherische Existenz“
des Menschen ein unerhörtes Wagnis auf sich. „Versklavt in ‚Institutionen‘,
verstrickt in ‚Idealen‘, eingelassen und preisgegeben der Natur, ausgeliefert
dem Kosmos, benommen vom Seienden, eingestellt in die Spielräume des
‚Wesens‘, befangen in der Welt, sich-selbst-entfremdet, degradiert und ent-
stellt, unvollendet und fragmentarisch, revoltiert dieses so metaphysisch
gebrochene Wesen in der Philosophie und vollstreckt in der Vernichtung sei-
ner übernommenen Endlichkeit die Befreiung seiner me-ontischen Selbst-
macht.“531 Ihre spekulative Kraft beweist die „phänomenologische Reduk-
tion“ darin, dass „mit ihr der Mensch metaphysisches Zentrum der Welt wird:
als Stätte der Weltkonstitution, d. i. der Kosmogonie“532. Aber diese Befrei-
ung bedeute zugleich einen „Untergang in Gott“533. Mit der Einkehr in „das
Absolute = das ontogonische Werden“, in „die ‚absolute Dimension‘, die
überhaupt kein Seinsfeld, sondern der Distanzhorizont des Seins“ ist,534 mit
der Offenbarung seiner „me-ontischen Natur“ in der Tiefe des Menschen-
wesens erhob sich die Frage, wie sich die „Heimkehr ins unversehrte“, ins
„integrale Leben“, „jenseits aller Rollen“,535 die der menschlichen Existenz

528 Ebd., OH-IV/12.


529 Ebd., OH-IV/11.
530 Ebd., OH-VI/15–16.
531 Ebd., OH-II/25–26.
532 Ebd., OH-II/56.
533 Ebd., OH-VII/23.
534 Ebd., OH-IV/43.
535 Ebd., OH-VII/32 und /35.

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aufgebürdet sein mögen – bis auf die eine „Rolle des Weltspielers“, der sich
der Mensch in seinem Freisein unterstelle, da sie das einzige „Gesetz“ sei,
das seinem Willen zum Selbstsein voll entspreche –,536 zu dem „,Geheimnis‘
(Gott)“537 verhalte.
Mitte Februar 1936 wurde das „Gottesproblem“ zum Gegenstand einer
Aussprache zwischen Fink und seinem alten Lehrer. Als er von seinen Prager
Vorträgen heimgekehrt war, hatte Husserl, der sich danach sehnte, seinem
Lebenswerk wenigstens einen „relativen Abschluss“ angedeihen zu lassen,
in einem an Gustav Albrecht gerichteten Brief vom 22. Dezember 1935 zu
erkennen gegeben, dass „für mich schließlich die Philosophie mein a-reli-
giöser Weg zur Religion, sozusagen mein a-theistischer Weg zu
Gott ‹ist›“.538 In seinem Gespräch mit Husserl führte Fink aus, dass eine
unbefangene „Analyse des menschlichen Phänomens des religiösen Glau-
bens“ und insbesondere eine Kritik der im „menschlichen Zugang zu Gott“
sich offenbarenden „religiösen Evidenz“, wie sie die offen eingestandene
wissenschaftliche Absicht einer Religionspsychologie oder gar einer Reli-
gionsphänomenologie sei, im Grunde an der philosophischen Frage nach
Gott vorbeigehe. Nicht das „Gottesproblem“, sondern die „Gottesfrage“ sei
das eigentlich philosophische Anliegen. Und hier wies Fink auf den für ihn
bedeutsamen „Unterschied zwischen einer ‚kosmogonischen Religion‘ und
einer personalistischen (moralischen)“ hin. „Husserl“, so merkte er an, „hält
die personalistische (jüdischer Monotheismus) für die philosophisch rele-
vantere, ich umgekehrt. Kosmogonische Religion ist Bewahrung des speku-
lativen Geheimnisses, ist wesentlich nicht Offenbarungsreligion, persona-
listische ist ‚Offenbarung‘“539. Aus Finks Notizen – insbesondere zu den zu
diesem Zeitpunkt erneut mit Ludwig Landgrebe geführten Gesprächen – geht
hervor, dass er, wohl durch die Lektüre von Karl Löwiths Nietzsche-Buch
Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen (Berlin 1935)
angeregt,540 die Frage nach der „Heimkehr ins unversehrte Leben“ und der
Einkehr ins „Geheimnis der Welt“ verstärkt an eine wiederholte Prüfung der
Tragfähigkeit seiner bisherigen „Interpretation der Nietzscheschen Philoso-
phie“ als „Apologie des Lebens“ band. In den Vordergrund trat die proble-
matische Scheidung von „Dionysischem und Panischem“ – die von Löwith
eröffnete Perspektive einer „kosmischen“ Einordnung des dionysischen

536 Ebd., OH-VI/17.


537 Ebd., OH-VII/35.
538 Brief Edmund Husserls an Gustav Albrecht vom 22. Dezember 1935, in: Bw. IX, S. 124.
539 EFGA 3.3, OH-VII/36–37.
540 Ebd., OH-VII/12.

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„Seinsspiels“ als eine entschiedene „Wendung zum Naturalen“ unter der
Vormachtstellung, die dem „Panischen“ zugesprochen wurde.541
Gelegentlich hegte Fink Zweifel daran, ob die an den Anfang seiner
„Reise ins Leben“542 gestellten Einzelmeditationen nicht einem Müßiggang
des phänomenologischen Denkens den Weg ebneten. „Umgang mit Wolken
und Wind und den ziehenden Nebeln im Tal, den flimmernden Sternen und
dem bleichen Mondeslicht in der Nacht des Gebirges ist kein nutzvolles
Geschäft, es kommt nichts dabei heraus. Es ist zu großspurig. Wer so mit dem
Seienden gleich umgehen will und Verkehr pflegen, und nicht mit Haus und
Hof, Pflug oder Verkaufstisch, Maschine und staatlicher ‚Gerechtigkeit‘, hat
zu Recht kaum, wovon er seine Blöße bedecke. Es ist ein rechtes Narrenge-
schäft, eine Windbeutelei und ein Name für den Müßiggang. ‚Arbeiten‘ kann
man nicht mit Stern und Edelweiß. Ein Leben jenseits der Arbeit ist mit Fug
verachtet von den Menschen.“ Aber gleichzeitig bestand er stolz auf die stille
Besinnlichkeit, die seine Seele beglückte, und folgte dem Zuge seines Philo-
sophenherzens. „Dort wo einem Volk die ‚Arbeit‘ als Sinn des Lebens durch
Staatsideologie eingehämmert wird, vergisst es gewiss die überirdischen
Träumereien, die Erfindungen von Müßiggängern, vergisst es das ‚Seiende‘,
und hat eine Fülle lebensnaher Dinge, das ‚wirkliche Leben‘ um sich.
Religionen und Philosophien sind keine ‚Arbeitsleistungen‘ des Menschen-
geschlechts. Opiate für den Arbeitsamen. Gift für das Volk, das werktätige,
Werte = Güter schaffende. Religionen entstehen in einsamen Wüstennächten,
am Meer, und im Wald. – ‚Bergreligion‘ gibt es noch nicht; weil erst
die Neuzeit die Gipfel erkämpfte und die unzugänglichen Wände.“543 Was
er sich in der Stille des Oytals hatte angedeihen lassen, war „Sammlung
meines Lebens: Dichtung zur Dichtigkeit einer wesentlichen Existenz“.
Keine schwärmerischen Ergüsse einer weichherzigen Menschenseele, wenn
sie „den großen Realitäten des Lebens“ ins Gesicht sehe: „Tag, Nacht, Regen,
Sonne, Mond, Sterne, Kälte, Wärme, Nähe, Ferne, Licht, Berge, Wolken,
Wind, Leid, Trauer, Verlassenheit, Einsamkeit Verrat, Untreue, Verstellung,
Angst, Sehnsucht, das Geheimnis, das Geschlechtliche, das Mütterliche,
die Frau, die Geborgenheit, das Kind, tragischer Pessimismus, Krankheit,
Schmerz, Abschied, Wehen in der Zeit.“544 Sondern: Abriegelung, durch
äußerste Gedankenkonzentration, eines „monologischen Denkens“, eines
„Denkens in der Einsamkeit“, gegen die Übergriffe des anmaßenden Zynis-
mus oder des immer rücksichtsloser werdenden Fanatismus, zur Wahrung
des „Selbstseins“, „d. h. des sich selbst Erfahrens in der Eingestelltheit in

541 Vgl. ebd., OH-VII/33–35.


542 Ebd., Z-XVIII/3b.
543 Ebd., Z-XXIII/8–9.
544 Ebd., OH-VII/A/8a.

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das Ganze der Dinge“.545 „,Einsamkeit‘ ist nicht Verlassenheit, Alleinsein,
sondern das staunende Sein inmitten des Ganzen des Seienden.“546 In
Gedanken erwog er: „[D]as Erlebnis des Ganzen des Seienden am See, am
Meer, in Steppe, Wüste und Wald und Hochgebirge ist einem bestimmten
Typus Mensch allein dringlich. Die griechische Philosophie entsprang am
Meer und auf den Inseln (Milet und Samos!).“547 Die „Weltraumweite des
Lebens“ wird dem Menschen zunächst „als Stimmung“ zur Erfahrung, die
„der Blick über Ebenen, Berge und weite Meere, in den Wolkenhimmel,
in die mondhelle Tiefe der Nacht“ hervorruft.548 Und eben diese Erfahrung
hielt Fink in der symbolischen Zeichnung fest, mit der er seine Notizhefte
zu „Lathebiosas“ versah. „Das ‚Inmitten-sein‘ des Lebens im Kreise des
Seienden ‹ist› nicht allein bestimmt durch die ‚Befindlichkeiten‘, in denen
sich die drohende Übermacht des Seienden offenbart. ‚Glanz und Glück fer-
ner Meere‘, ‚leuchtende Firnen und rauschende Wälder‘, ‚die tiefe Lust der
Weltandacht‘, ‚Wolken und Wind‘ und ‚die Seligkeiten der Einsamkeit‘ und
‚die Innigkeiten der blutsverwandten und erotischen Liebe‘“549 – diese Phä-
nomene bilden den „Lebenshintergrund des weltoffenen leidenschaftlichen
Lebensvollzugs“.550 Gerade diese „Wirklichkeitserfahrung“ der welt-offenen
Existenz des Menschen, in der „Wirklichkeit“ sich als ein „Weltbegriff“,551
als ein „im- Sein-Sein“ enthüllt,552 „das Pathos der Weltlichkeit des Lebens
[…] die Erfahrung der Gebanntheit im Sein“ in sich beschließt,553 das
„Moment der Weltbefangenheit“, des unentrinnbaren „Inmitten-seins in der
Wirklichkeit“ zum Ausdruck bringt554 – bildet die Grundvoraussetzung für
„die Genesis des Begriffs der ersten Philosophie aus dem ‚Staunen‘“, für
die „Erhebung zur ‚spekulativen Allgemeinheit‘“ als die Tathandlung, in der
nach Fink Philosophie gründet – „eine Handlung“, die der Mensch „in der
äußersten Einsamkeit und Unzeitgemäßheit“ vollzieht.555
Von den im Oytal verfolgten Gedankengängen dürfte nur weniges zu
Husserl durchgedrungen sein. Im Übrigen enthielten die in Dessau und Bern-
burg gehaltenen Vorträge nur einen schwachen Widerschein der Einzelme-
ditationen, die Fink zunächst seiner Schrift „Lathebiosas“ anheimgestellt

545 Ebd., OH-VII/47–48.


546 Ebd., Z-XXIII/11.
547 Ebd., Z-XXIII/10.
548 Ebd., OH-III/29.
549 Ebd., OH-IV/33.
550 Ebd.
551 Ebd., OH-IV/31.
552 Ebd.
553 Ebd., OH-IV/37.
554 Ebd., OH-IV/31.
555 Ebd., Z-XXIII/17.

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.
hatte. Gerade mit Rücksicht auf die „Motivation“, die ihn dazu bewogen
hatte, „die Seinsgebanntheit des Menschen zum Problem“ zu machen, wies
Fink in seinem Vortrag darauf hin, dass sie „hier ganz unmöglich zur Sprache
kommen“ konnte.556 Nur an seinem äußersten Rande erwähnte er ganz flüch-
tig den „Griff des Menschen nach sich selbst“, die „Selbstbemächtigung ‹sei-
nes› Lebens“, zu der er herausgefordert werde, weil im „Hinausfragen über
alles Sein“ „der Fragende selbst bis an die Wurzel infrage ‹gestellt wird›“.557
Was in den Ausführungen des Dessauer Vortrags völlig ausblieb, war ein
Hinweis auf die in einzelnen Skizzen umrissene „Metaphysik des Spiels“, auf
den „einheitlichen Zusammenhang“ von „Spiel und Für-sich-sein“, von
„Spiel“ als derjenigen Metapher für das Sein des Lebens, die das Sich-zu-
sich-selbst-Verhalten, das Sich-selbst-Verdecken, das Sich-selbst-zurückho-
len-Können ausdrückt, und das „Für-sich-sein“, „dessen Aktualisierung
‚Philosophieren‘ ist“ – einen Zusammenhang also, von dem sich Fink aller-
dings eingestand, dass er „die beiden Gedankenrichtungen meiner philoso-
phischen Bemühungen zusammengehen lässt, die nicht mehr ‚phänomeno-
logisch‘ sind“.558 Dieses Fehlen eines offenkundigen Verweises auf die in
der Auseinandersetzung mit Nietzsches „Optik des Lebens“ erstmals errun-
genen philosophischen Einsichten sollte jedoch nicht darüber hinwegtäu-
schen, dass Fink, wenn es darum ging, die philosophischen Themen zu nen-
nen, denen er sich künftig zuwenden wollte, an erster Stelle die „Metaphysik
des Spieles“ erwähnte und sie der „Idee der Transzendentalphilosophie“
sogar vorangehen ließ.559 In seinem am 19. Dezember 1935 an Ludwig Land-
grebe abgesandten Brief berichtete Husserl, dass „Dr. Fink in Dessau und
Bernburg einen sehr schönen Vortrag gehalten und beiderorts doch Gruppen
von sehr klugen und ernstlich verstehend-fragenden Leuten gefunden ‹hat›,
mit denen er bis tief in die Nacht diskutieren musste. Ich las seinen Text auch
mit Interesse“, so fuhr Husserl fort, „und das gab (Gegenüberstellung meines
und Kants transzendentalen Problems, bzw. Ansatz zur Etablierung einer
transzendentalen Philosophie) auch zwischen uns manch interessante Über-
legungen“560. In seinem Antwortbrief, von dem ein Ende Dezember 1935
verfasster Entwurf erhalten ist, setzte Landgrebe seine Hoffnung auf Husserls
Rat und Hilfe bei der Fertigstellung der Logischen Studien. „Ich habe vor
allem bezüglich der Logik eine Menge Fragen, die ich mit Ihnen und Dr. Fink

556 Fink, „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“,

S. 41.
557 Ebd., S. 44.

558 EFGA 3.3, Z-XXIII/19.

559 Ebd., OH-VII/50.

560 Brief Edmund Husserls an Ludwig Landgrebe vom 19. Dezember 1935, in: Bw. IV, S. 343–

344.

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.
durchsprechen möchte.“ Gleichzeitig freue er sich darüber, „dass Dr. Fink so
guten Erfolg mit seinen Vorträgen in Dessau und Bernburg hatte“561. Die mit
Husserl und Landgrebe während der beiden ersten Wintermonate des Jahres
1936 geführten Gespräche, in denen die in Dessau und Bernburg vorgetra-
genen Gedanken ein lebendiges Echo fanden, wurden alsbald überschattet
durch die „Tipparbeiten“, mit denen Fink betraut wurde, da Husserl den Text
seiner Prager Vorträge mit voller Kraft in druckreife Form gießen wollte und
es deswegen „Großbetrieb“ im Hause Husserl gab.562 Diese Bemühungen,
um die Krisis-Arbeit „auf die höchste mir mögliche Stufe zu bringen“, auf
der sie in Husserls Worten „so etwas wie mein philosophisches Testament“
darstellen würde,563 wurden dadurch unterbrochen, dass er Mitte März an
einer Rippenfellentzündung erkrankte und vom 17. April bis zum 15. Mai
einen Erholungsaufenthalt in Rapallo einlegen musste.564 Aus der Via Dante
schrieb er am 26. April 1936 an seinen Mitarbeiter über sein recht wechsel-
haftes Befinden und die nagende Unsicherheit, ob er sich bald „wieder zu
innerer Sammlung ‹werde› aufraffen ‹können›“565. Als Husserl vom 25. Juni
bis zum 17. September erneut in Kappel weilte,566 wo er sich dazu entschloss,
den „Abschlussplan“ der Krisis-Arbeit erneut zu ändern, da der Umfang der
inzwischen herangewachsenen Ausarbeitungen den ihm zur Verfügung
gestellten Raum des geplanten Doppelheftes in der Zeitschrift Philosophia
„weit überschritt“,567 berichtete seine Frau am 6. August 1936 Elisabeth
Rosenberg-Husserl zunächst einmal über den Besuch, den „Miss Ott vom
Smith College mit Fink und ‹Hans› Lassner“ gemacht hatte. „Ein ganz rei-
zender Mensch, auch von außen gesehen“, so kommentierte Malvine Husserl
die gefällige Erscheinung der Studentin aus dem Smith College (Northamp-
ton, Massachusetts) im Hause Zimmermann. „Sie geht zunächst in die Alpen
und will dann 1 Jahr in Freiburg bleiben.“568
Gegenüber seinem amerikanischen Kollegen Marvin Farber sprach Hus-
serl einige Wochen später, am 19. August 1936, die Hoffnung aus, dass
gemeinsam mit Miss Mary E. Clarke, die sich im Herbst 1933 bei ihm auf-
gehalten hatte und ebenfalls aus dem Smith College stammte, Miss Ott –

561 Briefentwurf Ludwig Landgrebes an Edmund Husserl vom Dezember 1935, in: Bw. IV,
S. 344.
562 Siehe die Briefe von Malvine Husserl an Landgrebe vom 2. und 15. Januar 1936, in: Bw. IV,

S. 345.
563 Brief Edmund Husserls an Landgrebe vom 28. Februar 1936, in: Bw. IV, S. 348.

564 Vgl. HChr, S. 474f.

565 Brief Edmund Husserls an Eugen Fink vom 26. April 1936, in: Bw. IV, S. 95.

566 Vgl. HChr, S. 477.

567 Brief Edmund Husserls an Jan Patočka vom 26. Juni 1936, in: Bw. IV, S. 433.

568 Brief von Malvine Husserl an Elisabeth Rosenberg-Husserl vom 6. August 1936, in:

Bw. IX, S. 476.

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„eine junge ernste Studentin, die Dr. Fink und ich unterrichten“ –, in Zukunft
ein phänomenologisches Zweiergespann bilden würde, das die phänomeno-
logischen Interessen in Amerika vertreten könnte. Denn „Phänomenologie
ist ein Band, das sub specie aeterni verknüpft“, so meinte Husserl.569 Dass
der Kappeler Aufenthalt unter günstigen Vorzeichen begonnen hatte, geht
aus dem Brief hervor, den Malvine und Edmund Husserl gleich zu Beginn,
am 30. Juli 1936, an Felix Kaufmann gerichtet hatten. An Kaufmann, der sich
unermüdlich für die finanzielle Unterstützung Finks einsetzte, konnte Hus-
serls Gattin zu ihrer Freude mitteilen, „dass nun ein glücklicher Zufall ein-
getreten ist, der für ein Jahr Mittel herbeibringt. Durch einen
Besuch ‹Richard› Kroners wurde mein Mann auf die Mendelssohn-Stiftung
aufmerksam gemacht und sein Gesuch hatte binnen kurzem den Erfolg einer
Zuwendung von 1 800 M. für ein Jahr“570. Husserl schrieb Kaufmann: „Ich
sitze hier oben eingekapselt ohne Dr. Fink heraufkommen zu lassen und ver-
zichte, da er in seinem Zeitwerk vorwärtskommen muss, auf die Annehm-
lichkeiten der Aussprache. Im Übrigen habe ich diese ‹Krisis-›Schrift ganz
allein ausgearbeitet und jetzt gebe ich ihr wieder eine neue höhere Gestalt.
Nur wieder mit dem Maschinenschreiben werde ich wieder Dr. Fink Zeit
rauben; im Winter war das viel Zeit, da ich den Text mehrmals
umschrieb.“571 Kaum drei Tage später sandten die Ehegatten Husserl, Fink,
Miss Ott und Hans Lassner an Felix Kaufmann eine gemeinsam unterschrie-
bene Karte zum Dank dafür, dass er sich das Los der Familie so sehr zu
Herzen genommen habe und keine Mühen spare, um die finanzielle Not
Finks zu lindern.572
Reichlichen Gesprächsstoff bot in diesem Kappeler Sommer die Nach-
richt der bevorstehenden Heirat Eugen Finks am 18. August. „Die größte
Neuigkeit ist“, so schrieb Frau Husserl an ihre Tochter Elisabeth, „dass Fink
am 18. August heiratet! Er teilte dies heute in einem sehr netten Brief mit, in
dem er ausführlich darlegt, dass die Braut aus sehr einfachen Lebensverhält-
nissen stammt, sehr lebenstüchtig und sportlich ist und sie beide das Ver-
trauen haben, mit 150 M. auszukommen. Sie entschlossen sich so rasch zum
Heiraten, weil sich ihnen die seltene Gelegenheit einer 2 Zimmer-Wohnung
bot. Wir haben ihm beide sofort sehr herzlich und ohne jeden Vorbehalt
geschrieben.“573 Von Martl Opitz hatten die Ehegatten Husserl schon früher

569 Brief Edmund Husserls an Marvin Farber vom 19. August 1936, in: Bw. IV, S. 75.
570 Brief von Malvine und Edmund Husserl an Felix Kaufmann vom 30. Juli 1936, in: Bw. IV,
S. 230f.
571 Brief Edmund Husserls an Felix Kaufmann vom 30. Juli 1936, in: Bw. IV, S. 231.

572 Karte vom 2. August 1936, in: Bw. IV, S. 232.

573 Brief von Malvine und Edmund Husserl an Elisabeth Rosenberg-Husserl vom 6. August

1936, in: Bw. IX, S. 476.

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ein Bild gewinnen können, als sie Fink zu der Geburtstagsfeier von Malvine
Husserl am 7. März 1936 begleitet hatte, der bei dieser Gelegenheit eine
„geistreiche und poetische“ Ansprache hielt.574 Dass Fräulein Opitz das
Bergsteigen nicht scheute, wird durch eine Aufnahme belegt, die von ihr am
26. Juni 1936 im Donautal bei Tiergarten gemacht wurde, wo sie zusammen
mit Alfred Zwikelmaier, Anni und Alfred Riemensperger und Eugen Fink
eine Klettertour machte.575 Auch Miss Dorothy Ott beteiligte sich – unter
Begleitung von Eugen Fink und seinem Bruder Ernst – im darauffolgenden
Sommer 1937 an einer Kletterwanderung am Gfällmatten im Naturpark Süd-
Schwarzwald.576 Die Nachricht von der Trauung Eugen Finks in der Pfarr-
kirche Glottertal577 verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Besonders die Familie
Landgrebe freute sich aufrichtig, als sie von der Heirat Finks erfuhr,578 der
gleich nach der Rückkehr von seiner Hochzeitsreise in die Arbeiten zur Fah-
nenkorrektur des I. Teils der Krisis-Schrift eingebunden wurde und bei dieser
Gelegenheit „die circa 1 Bogen große Einschiebung“ des „‚Galilei‘-Paragra-
phen“ – des § 9 der Krisis – in Husserls Auftrag abtippte.579 Frau Husserl
ließ nicht nach, auch Roman Ingarden auf dem Laufenden zu halten. „Wissen
Sie,“, so schrieb sie ihm am 15. November 1936, „dass ‹Fink› geheiratet hat?
Ein sehr einfaches nettes Mädchen, die gewiss eine besonders sorgsame Frau
für ihn sein wird.“580 Diese einzelnen Lichtblicke des Kappeler Sommers
konnten jedoch nicht verhindern, dass – trotz der großen „geistigen Anspan-
nung und Produktivität“, zu der Husserl sich während dieser Arbeitsphase
aufraffte – „der Zukunftshorizont stetig kleiner“ wurde; „und plötzlich ist er
gar nicht mehr da“, wie Frau Husserl nüchtern festhielt.581
Der Unterricht, den Eugen Fink Dorothy Ott erteilte, wird im vorlie-
genden 3. Teilband der Phänomenologischen Werkstatt durch mehrere
Schriftstücke dokumentiert. An erster Stelle sind hier die „Lesestunden“ zu
nennen, die Fink im Herbst 1936 der Metaphysik des Aristoteles gewidmet
hat. Die Notizen, die sich Fink zur Vorbereitung dieser Unterrichtsstunden
machte, wurden in dem Heft mit der Signatur Z-XXI gebündelt.582 Bei seiner
Kommentierung und Interpretation dieser Grundschrift der Aristotelischen

574 Brief von Malvine und Edmund Husserl an Jakob Rosenberg vom 8. März 1936, in:
Bw. IX, S. 472.
575 Siehe EF05–75, Bild Nr. 324.

576 Ebd., Bilder Nr. 355–356.

577 Ebd., Bilder Nr. 335–339.

578 Entwurf eines Briefes von Ludwig Landgrebe an Malvine Husserl vom 25. August 1936,

in: Bw. IV, S. 357.


579 Brief Malvine Husserls an Ludwig Landgrebe vom 9. September 1936, in: Bw. IV, S. 358.

580 Brief Malvine Husserls an Roman Ingarden vom 15. November 1936, in: Bw. III, S. 308.

581 Ebd., S. 308.

582 Vgl. EFGA 3.3, Z-XXI.

128 Einleitung der Herausgeber II

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Philosophie nutzte Fink Eugen Rolfes’ im Jahre 1921 im Felix Meiner Verlag
veröffentlichte deutsche Übersetzung. An den „Lesestunden“ nahm außer
Dorothy Ott auch Alfred Riemensperger teil, Finks langjähriger Freund, des-
sen Freiburger Dissertation zur Logik der Frage (1934) Fink mit Interesse
studiert hatte.583 Die Themenwahl des Unterrichts war keine reine Willkür.
Sie geschah im Zuge einer „problemtheoretischen Entfaltung des wesentli-
chen Fragegehaltes der Φιλοσοφία“584. Auch die – übergreifende – Perspek-
tive einer Entwicklung des „Problembegriffes der Philosophie“ war maß-
geblich für die philosophischen Überlegungen, die Fink zur Formalen und
transzendentalen Logik Husserls anstellte, mit denen er das von Frau Ott ins
Auge gefasste Dissertationsprojekt unter dem Titel Das Problem der Evidenz
in der phänomenologischen Philosophie E. Husserls flankierte. Dieser
Unterrichtsstoff, der vom 14. November 1936 bis zum 5. März 1937 behandelt
wurde, wird im 3. Teilband der Werkstatt-Ausgabe in der Mappe mit der
Signatur Z-XXII dem Publikum zur Kenntnisnahme vorgelegt.585 In der
„Beilage“ mit der Nummer „II“ ist diesen Unterrichtsmaterialien der übri-
gens klar gegliederte „Plan“ des Dissertationsprojektes von Dorothy Ott
zugeordnet, der uns einen Einblick in die philosophische Grunddisposition
der von ihr vorbereiteten Schrift bietet.586 Die „Beilage“ mit der Nummer
„I“ gibt den – lediglich als Fragment erhaltenen – Text wieder, den Fink
anlässlich des von ihm erteilten Unterrichts verfasst und dem Dissertations-
entwurf vorangestellt hat: „Einführung in die phänomenologische Philoso-
phie (Ott-Stunde 1936)“.587 Mit den zuvor erwähnten Ausführungen Finks
zum „Problem-Begriff der Philosophie“ steht dieses Fragment in einem
inneren Zusammenhang. Diesen Ausführungen möchten wir im Rahmen
unserer „Einleitung“ besondere Aufmerksamkeit schenken.
Die „Hoheit“, die „Souveränität“ der Philosophie wieder voll zur Gel-
tung zu bringen, war ein Anliegen, das Fink sich sehr zu Herzen nahm. „Die
Hoheit (Souveränität) der Philosophie liegt in ihrer Selbstsetzung, in ihrer
freien Selbsterschaffung.“588 Und diese „Selbstsetzung“, die das Wesen einer
wahrlich „ersten“ Philosophie als „ursprünglichstes Wissen“ auszeichne, sei
im Grunde „eine Spielsetzung des Geistes“. Sie setzt den „Welt-Entwurf“
aufs Spiel, „der immer schon hinter dem Menschen liegt und un-thematischer
Lebensboden ist“589 – so erläutert Fink den nach seiner Ansicht einzig

583 Vgl. EFGA 3.2, Z-XI/58a–b, S. 161f.


584 EFGA 3.3, Z-XXI/III/3a.
585 Ebd., Z-XXII.
586 Ebd., Beilage II.
587 Ebd., Beilage I.
588 Ebd., Z-XXIII/18.
589 Ebd., Z-XXIII/17.

Einleitung der Herausgeber II 129

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gültigen Leitbegriff der Philosophie, mit dem er zugleich einen hohen
Maßstab an seine eigenen philosophischen Bemühungen legt. Die „Hoheit
der Philosophie“ sei in der Tat „interpretierbar aus dem metaphysischen
Begriff für das Wesen des Lebens: aus dem Begriff des ‚Spiels‘“590. „Die
Philosophie“, so fasst Fink diesen Grundgedanken thesenhaft zusammen, ist
„das ‚spielende Sein‘, ‚ὁ θεὸς παίζων‘“591. Dass mit dieser Grundkonzeption
einer „ersten Philosophie“ sein „philosophischer Horizont ‹des Jahres› 1936“
scharf umrissen sei, darüber ließ Fink keinen Zweifel aufkommen. Als die
wesentlichen Komponenten, die zu dieser Grundkonzeption gehörten, hob
er die folgenden heraus: „1) Philosophie als Naturbegriff 2) Philosophie
als Selbstbemächtigung des Lebens 3) Die Metaphysik des ‚Spiels‘ 4) Die
‚Reflexions-Philosophie‘ und ihr philosophisches Recht 5) die ‚Ontologie‘
und ihr Recht 6) Die Transzendentalphilosophie = die Problemsetzung der
Welt.“592 In zweifacher Hinsicht schien diese Wesensbestimmung einer
„ersten Philosophie“ allerdings eine Klärung zu verlangen: zum einen im
Hinblick auf ihr spannungsvolles Verhältnis zum Begriff der „Wissenschaft“;
zum anderen mit Blick auf die mächtigen, oft unterschwellig wirksamen
Tendenzen, aufgrund derer sich ihr grundlegendes Verfahren in das dichte
Gewebe einer „Weltanschauungslehre“ zu verwickeln und zu verstricken
drohte. Unumgänglich wurde nach Fink somit die Aufgabe, den „Problem-
begriff der Philosophie“ von einem „Popularbegriff“ zu unterscheiden, der
durch „die beiden repräsentativen Thesen: A. Philosophie ist Wissenschaft;
B. Philosophie ist ‚Weltanschauung‘“ vertreten wird.593 „Die Einleitung
in die Philosophie“, so führte Fink gleich zu Beginn seines philosophi-
schen Privatunterrichts an, „ist fürs erste notwendig ein Versuch, sich der
Macht ‹des› Popularbegriffs von Philosophie zu entziehen […]. Philosophie
kann nicht vorweg bestimmt werden. Die Erschütterung des Popularbegriffs
von Philosophie ist unsere erste Aufgabe.“594 Weder die Vorgegebenheit
eines thematischen Weltgebietes als Wissensauftrag noch die Vorvertrautheit
und Vorbekanntheit des Menschen mit sich selbst als Basis einer existenzial
verbindlichen Sinnbestimmung seines Lebens können für die Art und Weise,
wie „Philosophie ihrem Wesen nach Selbstbestimmung“595 sei, vorgreifend
in Anspruch genommen werden. Weder ein erkennendes Sich-zur-Welt-Ver-
halten noch die Sinndeutung der menschlichen Lebensbezüge sind von
ausschlaggebender Bedeutung für das Fragen, das die Philosophie übt. „Dort

590 Ebd., Z-XXIII/18.


591 Ebd.
592 Ebd., Z-XX/3a.
593 Ebd., Z-XXII/I/1a.
594 Ebd., Z-XXII – Beilage I.
595 Ebd., Z-XXII/I/1b.

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zu fragen, wo es nichts zu fragen gibt, ist philosophieren.“596 Philosophieren
stellt sich – einzig und ganz – „dem Rätsel des Seins“597. „Der Mensch
ist das Seiende, das in die Rätselhaftigkeit der Welt zurückkehren kann.
[…] Alles Wissen ist Sein zum Geheimnis, ist Raub am Seienden, ist die ver-
wegene Erleuchtung weltalten Dunkels.“598 Angesichts dieses „Wissens“,
das „seinem metaphysischen Wesen noch nah ist, wo es noch die Kraft
der Ursprünglichkeit und des Wagnisses hat“599, bleibt es eine „offene“
Möglichkeit, „ob am Ende ‹die› Philosophie“ nicht „eine eigene Weise der
Wissenschaftlichkeit habe“600. „Im Hinblick auf das Grundphänomen des
menschlichen Lebens: auf das Verstehen von Seiendem“ ist das Philosophie-
ren wiederum „zurückzunehmen in die fundamentale Lebensverfassung der
Unruhe“, von der „das Experiment, das Wagen des Lebens, die Revolution“
zeugen.601 Sie alle bringen den unumstößlichen Nachweis der „Ursprünglich-
keit“, des „schöpferischen Seins“, das im menschlichen Existieren haust
und keineswegs eine geläufige, „sondern eine unbekannte Weise des Seins
des Menschen“ darstellt.602 „Philosophieren ist das exemplarische Sein des
Menschen“, so bekräftigt Fink in einem „Credo“ die von ihm vertretene „Idee
der Philosophie“.603 „Der Mensch existiert als Verstehen von Seiendem (in
der Spannung gegen das Weltgeheimnis).“604 Gegenüber jedem Vorgriff, der
als „falsch und irreleitend“ zurückgewiesen werden muss, „wenn er mehr
als das bloß formale Wesen des Fragens meint“,605 gilt vom philosophischen
Fragen, dass „also alles offen ist“606. Im „Offenhalten, Freihalten von
dogmatischen Theorien“ besteht nach Fink gerade das Wesensmerkmal eines
„Problembegriffs der Philosophie“.607
Zu welchem weiträumigen Plan die allmähliche Aufklärung, zu der Fink
über den philosophischen Horizont kommen wollte und der in der Maxime
„Lathebiosas“ – „lebe im Geheimnis“ – zu einer sehr gedrängten, noch
unzureichend artikulierten Aussprache gekommen war, letztlich geführt hat,
wird durch das als „Reihe XXVIII“ in die Notizen der mit Landgrebe
geführten Gespräche eingeschobene, auf insgesamt vier Blättern ausgebrei-

596 Ebd.
597 Ebd., Z-XXII/I/2a.
598 Ebd., Z-XXII/I/2a.
599 Ebd., Z-XXII/I/2a.
600 Ebd., Z-XXII/IV/2b.
601 Ebd., Z-XXII/I/2a.
602 Ebd., Z-XXII/I/2a und Z-XXII/V/4a–b.
603 Ebd., Z-XXII/I/3b.
604 Ebd., Z-XXII/I/3b.
605 Ebd., Z-XXII/I/1b.
606 Ebd., Z-XXII/I/2b.
607 Ebd., Z-XXII/I/2b.

Einleitung der Herausgeber II 131

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tete Konzept dokumentiert, das Fink unter der Aufschrift „Problembegriff
der Philosophie“ ausgearbeitet hat.608 Von dieser gedankenreichen Aufzeich-
nung gehen insbesondere die beiden ersten „Abschnitte“ zum „Problem-
begriff der Philosophie (I)“ und zur „Grundlegung der Philosophie (II)“
sehr ins Detail. Im Ausgang von Husserls Begriff der „Philosophie als
strenge Wissenschaft“, wie er insbesondere in seinem Logos-Aufsatz an
Profil gewonnen hat, in dem er – kontrastierend – gegen die von Dilthey
verfasste „Weltanschauungslehre“ abgehoben wurde, macht Fink es sich zur
Aufgabe, das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft insgesamt neu
zu überdenken. Den Nachweis eines eigenständigen, spezifisch der Philoso-
phie angehörenden „Wissens“-Begriffes erhofft er vermittels einer erneuten
Lektüre von Kants Prolegomena sowie Hegels Phänomenologie liefern
zu können. Die „Lebensbewegung der wissenden Selbstbemächtigung“,
in der er den Impetus alles wahrhaftigen Philosophierens erkennt, stellt
Fink der existenziellen „Lebensattitude“ eines Nietzsche oder Kierkegaard
gegenüber. Einem aufmerksamen Leser wird nicht entgehen, dass unter
den „dogmatischen Grundlegungsideen“ einer „ersten Philosophie“ bei Fink
nicht nur Descartes, sondern auch „Husserls Interpretation des cartesiani-
schen Ansatzes“ rangiert. Die von Husserl inaugurierte phänomenologische
Rückbesinnung auf „die Welt der vorwissenschaftlichen Erfahrung“ führt
nicht nur zu einer Darstellung der „intentionalen Analytik“ im Rahmen einer
„universalen Korrelationsforschung“. Für die Analyse der „Sinnlichkeit“
verweist Fink uns nachdrücklich an Aristoteles’ De anima. Mit der Thema-
tisierung der „Benommenheit vom Seienden“, von der die ausschließlich
„gegenstandskonstitutive“ Orientierung der phänomenologischen Intentio-
nalanalytik ein untrügliches Zeugnis ablegt, tut Fink einen ersten Schritt in
die Richtung der Aufdeckung einer bislang im phänomenologischen Ambi-
ente noch unzureichend berücksichtigten „Grundproblematik der abendlän-
dischen Philosophie“: der Problematik der „Metaphysik“ als „Frage nach
dem Sein“. Exemplarische Bedeutung für die antike Fragestellung nach dem
Sein haben, so vermerkt Fink, die Metaphysik des Aristoteles und Platons
Parmenides. „Bei Aristoteles“, so hat er in einer weiteren Notiz festgehalten,
die er mehrmals mit Rotstift am Rande anstrich, „ist das Forschen der ‚Ersten
Philosophie‘ ein Fragen nach dem Seienden, Einen, Wahren, Guten. (Hier
liegt der Ursprung der Philosophie als ‚Seinsproblem, Weltproblem, Wahr-
heitsproblem und Gottesproblem‘). [Auch der Ursprung der Metaphysik
als das jeweilige Ganze als ‚Ontologie‘ –,Kosmologie‘ – ‚Psychologie‘ –
‚Theologie‘!!]“.609 – Und gerade diesen vierfachen Gesichtspunkt wählte
er zum Leitfaden für die „Lesestunden“, die er zusammen mit Miss Ott

608 Ebd., Z-XX/XXVIII/1a-4b.


609 Vgl. ebd., Z-XXIII/7.

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der Hauptschrift des Aristoteles gewidmet hat. – Die Problematik der
phänomenologischen „Wesensschau“ und des „apriorischen Weltentwurfs“
leitet die Frage nach der „Intelligibilität des Seins“ in die Wege. Von wegwei-
sender Bedeutung für die Bestimmung des inneren Zusammenhangs von ens
und verum ist die transzendental-philosophische Hinwendung zum „Rätsel
der Subjektivität“. Dieser Wendepunkt, an dem sich der in Finks Augen
entscheidende Übergang von der „korrelativen-fungierenden Subjektivität“
zur „transzendentalen Subjektivität“ abzeichnet, stellt den geeigneten Ort
dar, um anhand einer ausführlichen „Theorie und Geschichte der phänome-
nologischen Reduktion“ das volle spekulative Gewicht des in ihr enthaltenen
epochalen Verfahrens zu ermessen. Denn mit dem Vollzug der transzenden-
tal-phänomenologischen Reduktion zerbricht die „Seinsgebanntheit“, in der
das „mundane Wissen“ eines „entstellten“ Menschentums sich grundsätzlich
verfangen hat. Um die verschiedenen „Wege“ zur Reduktion und „die ihnen
zugehörigen Darstellungsformen“ genau unterscheiden zu können, empfiehlt
Fink – an erster Stelle – die „Textlektüre“ der Formalen und transzendentalen
Logik, weiterhin der Méditations cartésiennes und an dritter Stelle der Ideen.
Eine neuartige Analyse der „natürlichen Einstellung“ liefert erstmals den
ausdrücklichen Nachweis des „kosmologischen Horizontes der Seinsidee“
als des umgreifenden „thematischen Universalhorizontes“, der sich in der
natürlichen Idee der Philosophie ausprägt. Ihr gegenüber profiliert sich die
„phänomenologisch-transzendentale Idee der Philosophie“ als „konstitutive
Ursprungsforschung“ der Welt. Abgewehrt werden sollen die „Gefahr“ einer
voreiligen „Identifizierung der Seinsbildung von Seiendem“ mit der bloßen
„Sinngebung von Gegenständen“ und die mit ihr einhergehende Drohung
einer „subjektivistischen“ Umdeutung der „ontogonischen“ Tragweite der
„Konstitutionsproblematik“. Als „Aufgabenhorizonte“ für die künftige Kon-
stitutionsforschung nennt Fink die „temporalen Konstitutionsaufweisungen“
sowie die „konstitutiven Analysen von Raum, Dinglichkeit usw.“. Der
auf diese Weise eine problemgesteuerte „Grundlegung der Philosophie“
befürwortende Abschnitt schließt mit dem Auftrag, künftig diejenige „Idee
des philosophischen Wissens“ aufzuhellen, die „in der Phänomenologie zur
Vorherrschaft gelangt“.610 Ob diese umfassende und detaillierte „Gliederung
der Problematik“ der „phänomenologischen Philosophie als Arbeitsphiloso-
phie“ über den Zweck einer internen Aufklärung des die philosophische
Gedankenwelt Finks bestimmenden Horizontes hinausgehend außerdem als
„Anleitung“ für die Weiterbildung der phänomenologischen Erkenntnisse
von Frau Ott Verwendung gefunden hat, kann heute nicht mehr ermittelt wer-
den.

610 Ebd., Z-XX/XXVIII/1a-4b.

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Am 23. Januar 1937 rundete Fink „die erste Phase“ der „gemeinsam“ mit
Dorothy Ott geführten „Gespräche“ mit einer „Rekapitulation“ ab. Gegen-
stand der Unterhaltungen war „die Abhebung eines vorläufigen allgemeinen
Aspekts der Philosophie“. Ganz allgemein dargestellt sei das Philosophieren
1) ein „fragend Existieren“, das 2) „tiefer hineindringt in die Rätselhaftigkeit
der Welt“ und 3) innerlich bestimmt wird „durch den Antagonismus von
Spekulation und Analytik“. Die „ersten“ uns begegnenden „spekulativen
Probleme“ sind: „a) der Zusammenhang von menschlichem Verstehen des
Seienden und der Sprache“ und „b) das Wahrheitsproblem“ als „Frage nach
dem Geschehen, das die Enthüllung des Seienden für den Menschen ist“.611
Auf diese erste Phase sollte als eine zweite Etappe des Phänomenologie-
Unterrichts eine „phänomenologische Analytik der Erkenntnis“ folgen, „mit
dem Ziel, durch ‚interne Analytik‘ der Erkenntnis (in phänomenologischer
Methodik der Intentionalanalyse) das spekulative Problem von ens und
verum auf einen wirklichen Frageboden zu bringen“612. Eine solche phäno-
menologische Erkenntnisanalytik bot Aussicht darauf, in weiterer Folge das
Problem der Evidenz in Angriff zu nehmen, wie es „als Perspektive durch
das Ganze der Husserlschen Philosophie“ hindurchleitet.613 Noch am selben
Tage überreichte Fink seinem Lehrer den als Vorschlag verfassten Kurzbe-
richt mit der Aufschrift „Karl Löwith und die Phänomenologie“. Im vorlie-
genden 3. Teilband der Phänomenologischen Werkstatt ist er unter der Num-
mer 18 der Sammlung „M-III Grammata“ abgedruckt.
Karl Löwith hatte auf Empfehlung von Moritz Geiger vom Sommerse-
mester 1919 bis zum Sommersemester 1922 bei Husserl in Freiburg stu-
diert,614 bevor er im Jahre 1923 mit der Studie Auslegung von Nietzsches
Selbst-Interpretationen und von Nietzsches Interpretationen in München bei
Geiger promovierte. 1928 bei Martin Heidegger in Marburg habilitiert mit
der Studie Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen,615 wurde ihm im
April 1935 der Marburger Lehrauftrag entzogen, bevor er im Oktober des-
selben Jahres aufgrund des Reichsbürgergesetzes offiziell seines Amtes ent-
hoben wurde. 1936 erhielt er durch Vermittlung des Philosophen Shuzo Kuki
einen Ruf an die Universität Tohoku in Sendai, an der er bis zum Jahre 1941
lehrte. Finks Bericht muss in Zusammenhang mit Löwiths Tätigkeit in Japan
und dem wachsenden Einfluss, den er im Kreise der phänomenologisch

611 Ebd., Z-XXII/52–53.


612 Ebd., Z-XXII/53–54.
613 Ebd., Z-XXII – Beilage II.

614 Brief von Moritz Geiger an Edmund Husserl vom 5. April 1919, in: Bw. II, S. 108 sowie

die Anm. 59.


615 Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur anthropolo-

gischen Grundlegung der ethischen Probleme, München 1928.

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Interessierten nahm, gelesen werden. Löwiths antisystematische Attitüde,
seine als eine Form „historischer Selbstverständigung“ des Menschen kon-
zipierte „Anthropologie“, deren Aufgabe darin bestand, durch „geschichtli-
che Destruktion“ die „hinter ‚systematischen Theorien‘ liegenden mensch-
lichen Selbstidealisierungen“ zu entlarven, stellte nach Finks Meinung eine
„Gefahr“ dar für die zielgerechte und erfolgreiche Rezeption der transzen-
dentalen Phänomenologie Husserls in Japan.616 Insbesondere befürchtete er,
dass Löwiths „durch einen nihilistischen Agnostizismus“ genährte skepti-
sche Haltung die systematischen Ansprüche der Husserlschen Phänomeno-
logie auf die Dauer unterminieren und letztlich den Boden, auf dem die Phi-
losophie aufruht, „von innen sprengen“ würde. Für Fink, der in seinem am
18. Dezember 1945 verfassten „Lebenslauf“ nochmals daran erinnert hat, wie
er in den Jahren vor Kriegsausbruch „die zahlreichen Ausländer wissen-
schaftlich betreut ‹hat› (mitunter in monatelangen Kursen), die die phäno-
menologische Philosophie Husserls an Ort und Stelle kennenlernen wollten,
so z. B. die japanischen Professoren Takahashi, Usui, Otaka, Miyake, die
amerikanischen Professoren Cairns und Farber und Morris“617, bestand die
wahre philosophische Skepsis nicht in einer Entlarvungsstrategie. Vielmehr
sei sie „eine raumschaffende Grundhandlung des philosophierenden Men-
schen für das Wissen“618. Finks Bericht dürfte Husserl sich wohl zu eigen
gemacht haben, bevor er am 22. Februar 1937 Löwith zur seiner Berufung
nach Sendai brieflich gratulierte. In Sendai lehrten inzwischen die Husserl-
Schüler Satomi Takahashi, Tomoye Oyama und Goîchi Miyake und so
befand Löwith sich tatsächlich „mitten unter meinen alten Freunden“, wie
Husserl mit Feingefühl anmerkte, als er ihm gleichzeitig ein Separatum des
„1. Artikels“ der Krisis-Schrift zukommen ließ. „Hoffentlich gehören Sie
nicht zu den ‚Frühvollendeten‘“, so fuhr Husserl fort, „zu einer fertigen
Position Gekommenen, so dass Sie noch die innere Freiheit haben, Ihre
eigene Anthropologie ‚einzuklammern‘ und auf Grund meiner neuen, gereif-
testen Darstellung zu verstehen, warum ich alle Anthropologie zur philoso-
phisch naiven Positivität rechne und warum ich die Methode der phänome-
nologischen Reduktion als die allein philosophische anerkenne, als die
einzige, die universale Erkenntnis bzw. universale Selbstbesinnung in wirk-
licher Konkretion erreicht.“ In dieser, durch seine neue Abhandlung eröff-
neten Perspektive musste Husserl „nicht aus Eigensinn, sondern innersten
Notwendigkeiten folgend“, die aus dem „eigentlichen und tiefen Sinn der
transzendentalen Phänomenologie“ hervorgingen, „die tiefsinnige Mystik
der modischen Existenzphilosophien und des sich so überlegen dünkenden

616 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 18.


617 Vgl. EF05–75, Bilder Nr. 526–528.
618 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 18.

Einleitung der Herausgeber II 135

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historistischen Relativism‹us› für ein schwächliches Versagen einer kraftlos
gewordenen Menschheit einschätzen, die der ungeheuren Aufgabe auswich,
welche der Zusammenbruch der gesamten ‚Neuzeit‘ ihr stellte und noch
stellt“. Trotz dieser scharfen Ablehnung der mit den Namen „Schelers und
Heideggers“ verbundenen „anthropologischen“ Umdeutung des Ursprungs-
sinnes seiner Phänomenologie wünschte Husserl Karl Löwith „ein reines,
schönes Auswirken Ihrer philosophischen Gaben“ an der Kaiserlichen Uni-
versität Tohoku.619
In einem am 22. Januar 1947 redigierten, allerdings nicht eingereichten
„politischen Lebenslauf“ beschrieb Fink die Jahre, die von der Streichung
des ihm gewährten Stipendiums der Notgemeinschaft der Deutschen Wis-
senschaft bis zu Husserls Tod reichten als Jahre der „inneren Emigration“.
„Nur durch ausländische Hilfe konnte ich […] in Deutschland leben.“ „Ein
mehrjähriges Stipendium der Moses Mendelssohngesellschaft, der London
School of Economics (Prof. Lionel Robbins) und eine amerikanische Hilfe
(Bankier John Ott, Winetka, Illinois)“ ermöglichten es ihm, durch diese
schwierige Zeit zu kommen.620 Für diese amerikanische Beihilfe und finan-
zielle Speisung des von Husserl errichteten „Fink-Fonds“ hatte Frau Ott
gesorgt, die sich – wie Malvine Husserl am 10. November 1936 ihrem Sohn
Gerhart mitteilte – seit ihrer Ankunft in Freiburg „hier auch offenbar sehr
wohl“ fühlte und den beiden Ehegatten Husserls „überaus“621 gefiel. Über
das großzügige Anerbieten von Miss Ott, durch eine finanzielle Zuwendung
sowohl Finks recht hoffnungslose Lage wie auch die „knappe Existenz“ der
emigrierten Familie Gerhart Husserls „aufzubessern“, hatte Frau Husserl am
15. September 1937 ihrer Tochter Elisabeth mitgeteilt: „Sie ist Herrin eines
eigenen großen Vermögens, das sie auch in den Dienst pecuniär unselbstän-
diger junger Wissenschaftler stellt und vielfach schon gestellt hat. Nun, aus
Dankbarkeit und Verehrung für Papa, finanziert sie Fink, dessen Stipendium
zu Ende ist. Außerdem hat sie Gerhart ein von ihr gestiftetes Fellowship von
50 Dollar monatlich zugewendet.“622 Das freigebige Angebot hatte Miss Ott,
wie Frau Husserl ihrer Tochter erklärte, der Familie Gerhart Husserl „vor
etwa 5–6 Wochen“ in einem Brief unterbreitet. Miss Ott, so befand Frau
Husserl kurz zuvor, am 20. August 1937, in einem ebenfalls an Elisabeth
Rosenberg-Husserl adressierten Brief, „ist ein herrlicher Mensch, wie wohl

619 Brief Edmund Husserls an Karl Löwith vom 22. Februar 1937, in: Bw. IV, S. 397f. sowie
die Anm. 1 von Karl Schuhmann zu S. 397.
620 Vgl. EF05–75, Bild Nr. 574.

621 Brief von Malvine Husserl an Gerhart Husserl vom 10. November 1936, in: Bw. IX, S. 255.

622 Brief von Malvine Husserl an Elisabeth Rosenberg-Husserl vom 15. September 1937, in:

Bw. IX, S. 494.

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tut es eine solche Großzügigkeit und Wärme zu erfahren!“623. Und am selben
Tag hatte sie bei ihrem Sohn Gerhart und seiner Frau Dodo Klein nachge-
fragt: „Hast Du […] den Brief von Miss Ott erhalten? Sie sorgt für Fink in
großartiger Weise und ist ‹gewillt›, als Herrin eines eigenen großen Vermö-
gens, liebende Fürsorge auch anderen zuteilwerden zu lassen. In diesem
Monat verlässt sie nach einjährigem Aufenthalt Freiburg und kehrt über Per-
sien, Palästina, Ägypten, Indien, Japan nach Amerika zurück. Eine 6-monat­
liche Reise!“624 Am 14. Oktober 1937 konnte Malvine Husserl ihrem Sohn
gegenüber allerdings „das Befremden nicht unterdrücken, das Papa ebenso
stark wie ich empfindet, dass Du den Brief ‹von Miss Ott› erhalten und meine
mehrfachen Anfragen nicht beantwortet hast. Auch jetzt wissen wir nicht,
wie Du Dich zu ihrem Anerbieten stellst. Sie selbst, so verstand ich es,
erwartete keine Antwort von Dir […]. Miss Ott ist auf ihrer Weltrückreise
momentan in Istanbul, reist dann über Persien, Palästina, Indien etc., Cali-
fornien nachhause.“625 Knapp einen Monat später, am 10. Dezember 1937,
teilte Frau Husserl ihrer Tochter Elisabeth mit: „Eben bringt mir Dr. Fink
eine sehr traurige Nachricht: Miss Ott ist am 18. November nach kurzer
Krankheit gestorben. Papa darf es nicht wissen. Ein großer Verlust für die
Phänomenologie, der sie sich mit dem Herzen verschrieben hatte.“626 Das
unerwartete Hinschwinden von Miss Ott hat Fink, der voraussichtlich vom
1. August 1938 an ein Stipendium von 200 Mark monatlich aus ihrem Pri-
vatvermögen erhalten sollte,627 sehr betroffen gemacht.628
Es steht außer allem Zweifel, dass die Gedanken über den „Problembe-
griff der Philosophie“, die Fink erstmals zu Beginn des Philosophieunter-
richts von Frau D. Ott entfaltet hat, einen fruchtbaren Boden für jene Arbeit
geboten haben, über die er während Husserls Krankheit im Herbst 1937 jeden
Tag mit dem Meister sprach. „Fink“, so berichtete Frau Husserl darüber am

623 Brief von Malvine Husserl an Elisabeth Rosenberg-Husserl vom 20. August 1937, in:

Bw. IX, S. 491.


624 Brief von Malvine Husserl an Gerhart und Dodo Husserl vom 20. August 1937, in: Bw. IX,

S. 263.
625 Brief von Malvine Husserl an Gerhart Husserl vom 14. Oktober 1937, in: Bw. IX, S. 269.

626 Brief von Malvine Husserl an Elisabeth Rosenberg-Husserl vom 10. Dezember 1937, in:

Bw. IX, S. 503.


627 Vgl. die Anm. 196 von Karl Schuhmann zu: Bw. IX, S. 263 (Brief von Malvine Husserl

an Gerhart und Dodo Husserl vom 20. August 1937).


628 Die Archivmappe mit der Signatur Nr. 775 enthält folgende Zeugnisse und Korrespon-

denzstücke, die die enge Beziehung zwischen Frau Dorothy Ott, ihrer Familie und Eugen Fink
dokumentieren: ein Bild von Dorothy Ott am Felsen bei Oberried, einen Brief von ihrem Vater
John Ott vom 27. Juli. 1933, eine Porträtaufnahme von Dorothy Ott, einen an Fink gerichteten
Brief von Dorothy Ott vom 6. September 1937 aus Istanbul, eine ebenfalls aus Istanbul an
Fink gesandte Postkarte von Dorothy Ott vom 3. Oktober 1937, einen längeren Brief von John
Ott an Eugen Fink vom 1. März 1938, der die Umstände ihres unerwarteten Todes schildert.

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14. Oktober 1937 ihrem Sohn, „kommt täglich für 1 Stunde und referiert über
seine Abhandlung,Phänomenologie E. Husserls‘“629. In der Abhandlung
über „Das Problem der Phänomenologie E. Husserls“, von der nur „das
Anfangsstück“ im Jahre 1939 in der Revue internationale de Philosophie
veröffentlicht worden ist,630 knüpfte Fink gleich zu Beginn bei der Frage an,
was es bedeute, „ein philosophisches Problem zu konstruieren“. „Das Prob-
lem der Philosophie“, so führt er aus, „ist ihre ständig sich radikalisierende
Grundfrage, in deren aktivem Entwurf und innerer Entfaltung sich eine neue
Dimension möglichen Wissens bildet und die Selbstaufstellung und Selbst-
begründung einer Philosophie geschieht“631. Auch die Schrift, von der er
wenige Monate später, im Dezember 1937, einen „ersten Paragraphen“ Hus-
serl zur Lektüre überreichte – „Die Entwicklung der Philosophie“632 – stand
nachdrücklich unter dem Vorzeichen des während des Unterrichts von Frau
Ott erstmals in Anschlag gebrachten „Problembegriffs der Philosophie“.
„Das ‚Problem‘ einer Philosophie […]“, so wiederholt Fink fast wörtlich den
an der Spitze des Artikels über „Das Problem der Phänomenologie E. Hus-
serls“ stehenden Leitgedanken, „ist allein das Grundproblem, in dessen Ent-
wurf sich eine neue Dimension möglichen Wissens bildet und die Selbstbe-
gründung einer Philosophie geschieht“633. In beiden, Husserl „während
seiner Krankheit“634 vorgelegten Entwürfen führte Fink weiter aus, dass „der
Problementwurf, die wesentliche Grundhaltung einer Philosophie […] die
Entfaltung der staunenden Frage“ sei.635 „In der staunenden Zukehr zum
Seienden öffnet sich der Mensch gleichsam wieder uranfänglich zur Welt,
findet er sich in der Morgendämmerung eines neuen Welttages, in der er
selbst und alles, was ist, in einem neuen Lichte zu erscheinen beginnt. Das
Ganze des Seienden geht ihm neu auf.“636 „Philosophisches Wissen ist nichts
anderes als die Ausarbeitung des Grundproblems, das In-Bewegung-Halten
des Weltverständnisses. Der Problementwurf ist […] die wachsende und
unablässige Vertiefung einer denkerischen Verwunderung über das Sei-
ende“637. Wenn auch die beiden Textstücke Fragmente größerer Schriftpro-

629 Brief von Malvine Husserl an Gerhart Husserl vom 14. Oktober 1937, in: Bw. IX, S. 268.
630 Fink, „Das Problem der Phänomenologie E. Husserls“, in: Studien, S. 179-223; vgl. die
Anmerkung Karl Schuhmanns Nr. 206 zu dem zitierten Brief von Malvine Husserl in: Bw. IX,
S. 269.
631 Ebd., S. 180.

632 Erstveröffentlicht in: Fink, ND, S. 45–74. Der erste Paragraf trägt im Manuskript die

Überschrift: „I. Das Problem“.


633 Ebd., S. 69.

634 Vgl. ebd., S. 45, Anm. des Verfassers.

635 Fink, „Das Problem der Phänomenologie E. Husserls“, S. 184.

636 Ebd., S. 183.

637 Fink, „Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls“, S. 71f.

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jekte sind, so zeigt doch der „konstruktive Aufriss der phänomenologischen
Problematik“, anhand dessen Fink die „innere Problementfaltung der phä-
nomenologischen Grundfrage“ skizzieren wollte, die nach seiner Ansicht
„nichts anderes als ihre ‚eigentliche Entwicklung‘“, „ihre wesentliche Weise
des In-der-Zeit-Seins“ darstellt,638 dass diesem ein Grundmuster der Gedan-
kenführung zugrunde lag, das dem in den Konzeptpapieren im Detail aus-
gearbeiteten Plan der „Grundlegung“ des philosophischen „Problembe-
griffs“ sehr ähnelte. Denn von neuem hob Fink von der geläufigen
„intentionalen Analytik“ der Bewusstseinsphänomenologie die durch eine
„radikale Reflexion“ erstmals erschlossene Dimension ab, die das aus-
schließliche Forschungsfeld einer Phänomenologie der „ontogonischen
Weltkonstitution“ bilde. Nach wie vor nahmen somit „die Theorie der natür-
lichen Einstellung“ sowie „die Theorie der phänomenologischen Reduktion“
eine Schlüsselstellung bei der Darstellung des die Phänomenologie – insge-
heim – bewegenden „Grundproblems“ ein: nämlich der Frage nach der
„Weltwerdung“ in den Prozessen der „Selbstverwirklichung“ einer ihrem
Wesen nach als „me-ontisch“ zu bezeichnenden „absoluten“ Subjektivität.
Den im Notizheft Z-XXIII aufbewahrten „Arbeitsplänen für das Jahr 1938“
kann man entnehmen, dass Fink eine Fortsetzung seiner Schrift über „Die
Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls“ ins Auge fasste und nebenher
auch den anlässlich der Unterrichtsstunden von Frau Ott in die Wege gelei-
teten „Kommentar“ der Metaphysik des Aristoteles fortführen wollte.639
Seinen Widerstand gegen die lediglich doxografische Darstellung einer
Philosophie als einer „in ihrem Text dokumentierten ‚geistigen Tatsache‘“640
hat Fink in seinem Dessauer Vortrag unumwunden ausgesprochen. „Die
doxographische Methode […] widerspricht in allen ihren Voraussetzungen
dem Wesen der Philosophie sosehr, daß sie – nicht bloß unfähig zur Erschlie-
ßung – gerade die sicherste Weise eines verschließenden Niederhaltens jeg-
lichen Verständnisses bedeutet.“641 Diese Methode, „der sich nahezu alle
Kompendien der Philosophiegeschichte befleißigen“, vermochte es nach
Fink nicht, „den lebendigen Geist einer dokumentierten Philoso-
phie ‹zu› erreichen“642. Am Beginn des Beitrags zum „Problem der Phäno-
menologie E. Husserls“ weist er auf den besonderen Umstand hin, dass „in
Husserls Phänomenologie der Text des Schrifttums das Problem mehr hinter

638 Fink, „Das Problem der Phänomenologie E. Husserls“, S. 185, und: „Die Entwicklung der
Phänomenologie E. Husserls“, S. 72.
639 EFGA 3.3, Z-XXIII/9 und /15.

640 Fink, „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“,

S. 11.
641 Ebd., S. 10.

642 Ebd., S. 15.

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den Zeilen als in den Zeilen birgt“643. Und in dem Schriftfragment „Die Ent-
wicklung der Phänomenologie E. Husserls“ lehnt er die prätendierte „Sach-
lichkeit“ einer Doxografie, „die weithin die Kompendien der Philosophie-
geschichte verseucht“, mit Entschiedenheit ab: „Ihre ‚Sachlichkeit‘ ist keine
solche, die der Natur ihres Gegenstandes gemäß ist, sondern bedeutet eine
[…] krasse Verkennung und Verfälschung der eigentümlichen Natur einer
dokumentierten Philosophie […]“644. Trotz dieses starken Widerstandes, den
er einer auf das Gebiet der Philosophie übergreifenden Lexikografie leistete,
genehmigte er die Veröffentlichung der „kurzen Skizze“, „die aus dem Jahre
1930 stammt und für das Eisler’sche Philosophenlexikon bestimmt war“645.
Am 18. Juni 1937 gab Husserl, der zu diesem Zeitpunkt wegen des Woh-
nungswechsels nach Breitnau „abgeschoben“ worden war, Marvin Farber
Bericht über die in Aussicht stehende Veröffentlichung dieses „Artikels“:
„Über den inneren Zusammenhang aller meiner Schriften, somit über meine
innere Entwicklung wird wohl das Eisler’sche Philosophenlexicon der neuen
Bearbeitung bei meinem Namen Richtiges bringen – falls die von Dr. Fink
seinerzeit entworfene Vorlage wirklich ohne Änderung aufgenommen wor-
den ist.“646 Im selben Brief warnte er Farber: „Hüten Sie sich […] vor aller
Literatur über Husserl. Nur Finks Abhandlungen ausgenommen. Alles
andere ist ganz verständnislos.“647 Und er machte ihn bei dieser Gelegenheit
auf Finks Tatwelt-Aufsatz aufmerksam, an dessen literarischer Gestaltung
Husserl selber mitgewirkt hatte: „Kennen Sie die kleine und schöne Abhand-
lung von Dr. Fink in der Thatwelt?“648 Da der Text des Lexikon-Artikels „als
Husserls eigene Darstellung eingereicht und im Druck nur mit seinem Namen
unterzeichnet“ worden war,649 dürfte diese lexikalische Darstellung seiner
Philosophie Fink nicht schwergefallen sein. Nach der sechsten Lieferung
wurde die Ausgabe des Lexikons „aus politischen Gründen zurückgezo-
gen“650. Als Fink nach dem Kriege das Manuskript des Artikels wieder ein-
reichte, bestätigte er in einer kurzen einleitenden Bemerkung, dass „Husserl
teilweise an der Textgestaltung mitgewirkt hat“651. „Aus diesem Grunde“
haben die Herausgeber sich dazu entschieden, den Artikel „zusammen mit
den anderen kleineren Schriften Husserls“ in die Ausgabe der Gesammelten

643 Fink, „Das Problem der Phänomenologie E. Husserls“, S. 180.


644 Fink, „Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls“, S. 53.
645 Vgl. Hans Rainer Sepp und Thomas Nenon, „Einleitung der Herausgeber“ zu: Edmund

Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922–1937), S. XXIV, Anm. 4.


646 Brief Edmund Husserls an Marvin Farber vom 18. Juni 1937, in: Bw. IV, S. 84.

647 Ebd., S. 85.

648 Ebd.

649 Sepp und Nenon, „Einleitung der Herausgeber“, S. XXIV–XXV.

650 Ebd., S. XXIV, Anm. 3.

651 Ebd., S. XXIV, Anm. 4.

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Werke E. Husserls aufzunehmen.652 Im vorliegenden 3. Teilband der Phä-
nomenologischen Werkstatt wird er unter der Nr. 14 der Sammlung „M-III
Grammata“ dem Publikum allerdings in der Fassung präsentiert, in der er in
Finks Papieren aufbewahrt worden ist.653 Wo der Text von der im Ziegenfuß-
Lexikon veröffentlichten Version abweicht, ist dies eigens in den beigefügten
Anmerkungen angeführt worden.
Während des Unterrichts von Frau Ott kreuzten sich die Wege von Fink
und Ludwig Landgrebe ein weiteres Mal. Am 18. Dezember 1936 kündigte
Landgrebe an, „in den ersten Februartagen nach Freiburg zu kommen;654 am
19. Januar 1937 bestätigte er, „am 2. Februar hinzukommen“655. Als „Vor-
boten“ wollte er „ein Stück der Logik-Umarbeitung“ zuschicken, die er „bis
zum Sommer druckfertig ‹zu› machen“ hoffte.656 Was die Abschriften betraf,
die inzwischen in Prag von Husserls Manuskripten hergestellt worden waren,
so hatte Husserl in seinem Brief vom 14. November 1936 an Landgrebe
darauf hingewiesen, dass es „(wie ich mit Fink besprochen habe) eines Leit-
fadens für die Benutzer ‹bedürfte›, der bei der geplanten archivalischen Ver-
wahrung der Manuskripte diesen beigelegt und zur Benutzung mitdienen
müsste“657. Diese neue Aufgabe nahm Landgrebe sich ebenfalls sehr zu Her-
zen: „Einen Leitfaden für die Benutzung der Manuskript-Abschriften kann
ich vielleicht mit Dr. Fink zusammen bei meinem Besuch herstellen“, so
antwortete er am 18. Dezember 1936.658 Husserl, der nach der letzten Kor-
rektur seines für die Zeitschrift Philosophia vorgesehenen „Artikels“ „nicht
in glänzender Verfassung“ war659 und „durch viel Schreibarbeit“ „Dr. Fink
in letzter Zeit von seiner Arbeit allzu viel abgehalten“ hatte,660 musste Land-
grebe gegenüber gestehen, dass er wohl nicht mehr in der Lage sein würde,
„in Ihre Arbeit einzugreifen und mitarbeiten zu können“661. Immerhin ver-
suchte er während des Besuches von Landgrebe bis zu zwei Mal, „einen
Gedankengang für die notwendige Einleitung in die Logischen Studien zu
entwerfen“. Diese Versuche misslangen, und zwar „aus demselben Grund“,
so meinte Husserl, wie Landgrebes „eigener Versuch einer Einleitung“ miss-

652 Ebd., S. XXV.


653 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 14.
654 Brief Ludwig Landgrebes an Edmund Husserl vom 18. Dezember 1936, in: Bw. IV, S. 362.

655 Brief Landgrebes an Husserl vom 19. Januar 1937, in: Bw. IV, S. 364.

656 Ebd., S. 364; vgl. den Brief Landgrebes an Husserl vom 18. Dezember 1936, in: Bw. IV,

S. 362.
657 Brief Husserls an Landgrebe vom 14. November 1936, in: Bw. IV, S 360f.

658 Brief Landgrebes an Husserl vom 18. Dezember 1936, in: Bw. IV, S. 362.

659 Brief Husserls an Landgrebe vom 25. Januar 1937, in: Bw. IV, S. 365.

660 Brief Husserls an Landgrebe vom 27. Dezember 1936, in: Bw. IV, S. 363.

661 Brief Husserls an Landgrebe vom 25. Januar 1937, in: Bw. IV, S. 365.

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raten war.662 Zu diesem Schluss kam Husserl nach einem erneuten Studium
seines vor acht Jahren veröffentlichten „Grundwerkes“, der Formalen und
transzendentalen Logik. „In diesem Buch ist alles genau enthalten, was wirk-
lich zur Einleitung in die Studien gehört“, so stellte Husserl fest. Zu Land-
grebes Entwurf einer „neuen Einleitung“ zu den Logischen Studien konnte
er „eben nicht Ja und Amen sagen – ebenso wenig als zu meinen eigenen
Entwürfen einer neuen Einleitung“663. Es wurde noch während des Arbeits-
aufenthaltes von Landgrebe in Freiburg verabredet, dass Husserl ihm „den
Entwurf einer neuen Einleitung schicken“ werde, „den ich dann“, so nahm
Landgrebe sich vor, „zur Grundlage der endgültigen Fassung verwenden
soll“. „Einstweilen arbeite ich an der neuen und letzten Fassung des weiteren
Texts fort; Dr. Fink war so freundlich sich bereit zu erklären, ihn stückweise
durchzugehen und mir seine Randbemerkungen dazu zu schicken“, wie er
über den Stand seiner Ausarbeitung der Logischen Studien berichtete.664 „Die
beste, die sachlich geforderte Einleitung“, so erwiderte Husserl in seinem
Brief vom 5. Mai 1937, „wird ein gründliches Referat (analog einer wirklich
gründlich referierenden Rezension) der ‚transzendentalen Logik‘ sein unter
Wiederholung der Ausführungen, in welchen darin schon der geistige Ort
der Problematik der Studien umzeichnet ist“. Und er fügte hinzu: „Mit Dr.
Fink habe ich natürlich alles, was das neue Studium meiner Logik für mich
hinsichtlich der Studien ergeben hat und was ich in Vertiefung Ihrer Einlei-
tung durchdachte, durchgesprochen. Er hätte daher genau in meinem Sinn
(auch in seiner besonderen Kunst vortrefflicher Formulierung) Nützliches zu
sagen.“665 Finks „kritische“ Bemerkungen zu der von Landgrebe verfassten
„Einleitung“, die der Ausgabe der Logischen Studien zugedacht war, sind
einzig in Notizform überliefert worden. Sie werden im vorliegenden 3. Teil-
band der Phänomenologischen Werkstatt als Reihe LXVIII des Notizheftes
mit der Signatur Z-XXV dem Publikum zum ersten Male zugänglich
gemacht.666
An Landgrebes „Einleitungsentwurf“ hatte Husserl vor allem bemän-
gelt, dass er, „von oben und von weitem her“ erfolgt, „nicht das‹jenige›“ böte,
„was die transzendentallogischen Studien faktisch erfordern“. „Das lag
offenbar daran“, so warf er Landgrebe vor, „dass Sie Ihre langen alten Studien
über ‚Erlebnis‘ und Ihre inneren Auseinandersetzungen mit Dilthey und
Heidegger nicht zur befriedigenden Ausreifung gebracht hatten und glaub-
ten, daraus Passendes als neue Einleitung verwerten und so die alte seelische

662 Brief Husserls an Landgrebe vom 31. März 1937, in: Bw. IV, S. 366.
663 Ebd., S. 367.
664 Brief Landgrebes an Husserl vom 6. April 1937 (Entwurf), in: Bw. IV, S. 371.
665 Brief Husserls an Landgrebe vom 5. Mai 1937, in: Bw. IV, S. 373.
666 EFGA 3.3, Z-XXV/LVIII/1a-12b.

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Last loswerden zu können“667. Auf diesen Vorwurf hatte Landgrebe erwidert,
dass in der Formalen und transzendentalen Logik „der Eingang zu den logi-
schen Problemen von denen der Lebenswelt und der natürlichen Lebenser-
fahrung her […] nicht berührt ‹werde›, und es schien mir, dass gerade dies,
wenn auch in aller Kürze, in der neuen Einleitung nachgeholt werden müsste,
wenn die Studien in der heutigen philosophischen Situation erhöhte Durch-
schlagskraft haben sollen“668. Finks an Landgrebes „Einleitungsentwurf“
adressierte „generelle Kritik“ fasste gerade diese von Landgrebe offen ein-
gestandene Grundabsicht einer genealogischen „Rückleitung“ ins Visier:
„Die Einleitung macht nicht das Problem der Schrift zum Expositionsthema:
nämlich, warum […] die Genealogie der Logik zur Analyse ihres Gründens
in der lebensweltlichen Erfahrung werden muss“669. Das Notizheft Z-XXV
enthält außerdem eine Reihe von wertvollen Notizen, die uns einen Einblick
in den Inhalt der von Fink mit Husserl geführten Gespräche vom 12. März,
12. und 13. April, 3. Mai, 27. und 30. Juli sowie 4. November 1937 gestatten.
Es fällt dabei allgemein auf, dass Fink nicht davor zurückschreckte, seinem
Lehrer Einsichten vorzutragen, in denen seine eigenen philosophischen Stel-
lungnahmen zum Ausdruck kamen. So machte er am 12. März 1937 Husserl
den Vorschlag, die phänomenologische Reduktion als ein „methodologisch
reflektiertes ‚Staunen‘“ aufzufassen; das „universale Staunen“ der Philoso-
phie sei als ein „Weltstaunen“ gerade „die Vertiefung des Staunens: d. i. des
Sich-zum-Sein-Verhaltens“.670 Der „ekplektischen Struktur“ des Staunens
und ihrer philosophischen Tragweite widmete Fink in den beiden Schriften
„Zum Problem der Phänomenologie E. Husserls“ und „Die Entwicklung der
Phänomenologie E. Husserls“ eingehende Analysen.671 In der Mappe Z-
XXV mehren sich übrigens die Aufzeichnungen, die zur Vertiefung und
Ausarbeitung des Themas des spezifisch philosophischen Staunens gedacht
sind. Auch in den am 4. November 1937 Husserl vorgetragenen „Thesen“
taucht das „Staunen“ wieder auf, diesmal als eine „Welttrunkenheit der Ver-
nunft“, in der der „Ursprung von Religion, Kunst und Philosophie“ liegt.672
An die „alpine Philosophie“ der „Hütte im Oytal“673 erinnert dann wieder die
Bemerkung, dass das „im Freien Philosophieren = inmitten der Dinge, im
Wind und weitem Raum!“ geschehe.674 An seiner kritischen Grundhaltung

667 Brief Husserls an Landgrebe vom 31. März 1937, in: Bw. IV, S. 367.
668 Brief Landgrebes an Husserl vom 6. April 1937, in: Bw. IV, S. 371.
669 EFGA 3.3, Z-XXV/LVIII/1a.

670 Ebd., Z-XXV/38a-38b.

671 Vgl. Fink, „Das Problem der Phänomenologie E. Husserls“, S. 182f; Fink, „Die Entwick-

lung der Phänomenologie E. Husserls“, 64f.


672 EFGA 3.3, Z-XXV/42a.

673 Ebd., Z-XXV/161b.

674 Ebd., Z-XXV/42a.

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gegenüber der Husserlschen Philosophie hielt Fink unvermindert fest. „Die
Phänomenologie Husserls ist eine Metaphysik der Subjektivität, die das Sei-
ende prinzipiell als Gegenstand, d. i. als ‚Sein für‘ begreift und aus dem
konstituierenden Leben der leistenden Intentionalität ableitet. Dabei
ist ‹die› Intentionalanalyse das wichtigste methodische Prinzip: die analyti-
sche Ausweisung an den originären Quellen ursprünglicher Gegebenheit.
Husserls Philosophie ist methodisch nicht reflektiert genug, um das speku-
lative Element in den Grundgedanken der phänomenologischen Reduktion,
der Konstitutionsidee, der teleologischen Grundauffassung der Historie
u. dgl. bewusst zur Abhebung zu bringen und eine phänomenologische
Begründung des spekulativen Denkens zu versuchen. Vielmehr hält Husserl
seine Phänomenologie für durchgängig analytisch (d. h. aufweisend).“675
Der erste und erstrangige, sowohl der „Bestimmung des Menschen“ als auch
der metaphysischen Problematik der „Intelligibilität des Seienden“ voraus-
gehende „Bereich meines philosophischen Fragens“ gilt somit nach wie vor
„Husserls Phänomenologie“, die es, so vermerkt Fink, „entschränkend aus
der Enge der Gegenstandsphänomenologie, aus der Enge der ‚erkenntnis-
theoretischen‘ Problematik, aus der Enge der ‚internen Analytik‘“ heraus-
zuführen gilt.676
Als Jan Patočka Anfang August 1937 von dem Pariser Descartes-Kon-
gress, dem IX. Internationalen Kongress für Philosophie, an dem er als Mit-
glied des Cercle linguistique de Prague teilnahm, nach Freiburg reiste, „um
Husserl zu sehen und ihm zu berichten“, bemerkte er den Stimmungsum-
schwung, der sich inzwischen in Husserl breitgemacht hatte. „Er wusste“, so
schreibt Patočka in seinen „Erinnerungen“, „von der furchtbaren Ungunst
der Lage und machte sich keine Illusionen – der tschechoslowakische Traum
war für ihn ausgeträumt, das Lebenswerk wieder einer vollkommenen Dun-
kelheit ausgeliefert, für das Land selbst sah er keine Hoffnung“677. Am letzten
Tag seines Aufenthalts erfuhr Patočka, dass Husserl sich eine ernste Verlet-
zung zugezogen hatte. Es folgten die Monate der Krankheit, von der Husserl
sich nicht mehr erholte, während derer er nur noch „in kleinen Rationen mit
Fink philosophieren“ konnte.678 „Eugen Fink“, so beschloss Patočka seine
„Erinnerungen an Husserl“, „sprach über seinem Grab die Worte des
Abschieds. Ich hatte damals für ein halbes Jahr die Herausgabe der tsche-
chischen philosophischen Zeitschrift Ceská mysl zur Aufgabe und konnte

675 Ebd., Z-XXV/125a.


676 Ebd., Z-XXV/29a.
677 Patočka, „Erinnerungen an E. Husserl“, S. 285.

678 Brief von Malvine Husserl an Elisabeth Rosenberg-Husserl vom 13. November 1937, in:

Bw. IX, S. 500f.

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noch eine Übersetzung bringen“ 679. Die von ihm „bei der Einäscherung am
29. April 1938“ gesprochene „Totenrede auf E. Husserl“ stellte Fink später
an den Anfang der mit der Aufschrift „Grammata“ versehenen Textsamm-
lung. Finks „Grabrede“ wird demnach im vorliegenden Teilband 3 als Nr. 1
der Textgruppe mit der Signatur „M-III Grammata“ abgedruckt.680
Husserls „Werkhingabe“681 hat es nicht verhindern können, dass auch
sein letztes Werk ein Torso blieb, der seiner Vollendung harrte. In das weitere
Umfeld der Ausarbeitung des am 15. November 1935 an der Prager Univer-
sität gehaltenen Vortrags Husserls über „Die Krisis der europäischen Wis-
senschaft und die Psychologie“ gehört der undatierte Vorschlag von Finks
Hand, der unter der Nr. 17 der Sammlung „Grammata“ im vorliegenden Teil-
band veröffentlicht wird.682 Finks „kritische Anmerkungen zur ‚wissen-
schaftlichen Philosophie‘ des modernen Physikalismus“ haben zwar nicht
als „Beilage“ Eingang gefunden in den Komplex der der Krisis-Schrift
unmittelbar zuzurechnenden literarischen Um- und Ausarbeitungen. Sie
können dennoch als eine Ergänzung und Erweiterung der Ausführungen
gelesen werden, die Husserl der „Gesamtcharakteristik des neuzeitlichen
physikalistischen Rationalismus“ im § 12 der Krisis-Schrift gewidmet hat
und die er in einer von „Juni 1936“ stammenden, als „Beilage IV“ edierten
Betrachtung über „die Voraussetzung der klassischen Physik“ gedanklich
weitergeführt hat.683 Von dem klassischen Physikalismus, dem eine ontolo-
gische Auffassung und Interpretation des „Seienden an sich“ zugrunde liegt,
möchte Fink den „kontemporären“ des „Wiener Kreises“, der „Carnap-
Gruppe“ bzw. des amerikanischen „logisierenden Empirismus“ unterschei-
den, der eine rein „instrumentalistische“ Auffassung von Wissenschaft ver-
trete und jede ontologische Substruktion aufs Schärfste bekämpfe.684 Die
Selbstcharakteristik des kontemporären Physikalismus als „wissenschaftli-
che Philosophie“ – die „Kampfparole“ dieser „sich zur Philosophie erhe-
benden science gegen die Metaphysik“ – zwingt die Phänomenologie zu
einer kritischen Auseinandersetzung, welche die grundsätzliche Differenz in
der Weise, in der von beiden Seiten der Begriff „wissenschaftliche Philoso-
phie“ angewendet wird, in den Vordergrund stellen sollte.685 „Positiv“ bedeu-
tet eine solche Auseinandersetzung, dass die phänomenologische Kritik „die
Aufklärungsbedürftigkeit der naturwissenschaftlich-mathematischen

679 Patočka, „Erinnerungen an E. Husserl“, S. 286.


680 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 1.
681 Brief von Adolf Grimme an Edmund Husserl vom 6. April 1938, in: Bw. III, S. 112.
682 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 17.
683 Hua VI, § 12, S. 66–68 sowie die Beilage IV, S. 387–391.
684 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 17.
685 Ebd.

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Erkenntnisweise durch eine Sinngenealogie der Wissenschaft aus dem vor-
wissenschaftlichen Leben“ nachweisen müsste.686 Zu dieser Aufgabenstel-
lung gehört auch die Ausarbeitung einer „apriorischen Ontologie“, nicht nur
des „umweltlich begegnenden Dinges“, sondern „des unter exakten Ideen
gedachten Naturgegenstandes“.687 Da der „neupositivistische Physikalis-
mus“ die Funktion „der logisierenden Faktoren“ innerhalb einer „physikali-
schen Einheitswissenschaft“ als rein „instrumental“ bewertet, ergibt sich in
weiterer Folge die Aufgabe einer Diagnostik und kritischen Musterung der
„instrumentalen Auffassung“ der „Logik“ und der „Rationalität“ als sol-
cher,688 und zwar als eine Konsequenz der zunehmenden „Technisierung“
des Wissenschaftsbetriebs.689 Besondere Aufmerksamkeit schenkt Fink den
neuesten Entwicklungen, die sich in den Arbeiten Otto Neuraths und Rudolf
Carnaps abzeichneten. Beide seien darum bemüht, „den letzten Rest von
einer Metaphysik des Gegebenen“ aus den rein als „Protokollsätze“ aufge-
fassten Feststellungen empirischer Tatsachen zu vertreiben.690 In dieser neu-
esten Entwicklungstendenz verspürt Fink das diese philosophische Reform-
bewegung insgesamt treibende Motiv eines „horror metaphysicae“691. Das
Erfordernis, sich über die Natur des transzendental-philosophischen „Wis-
sensbegriffs“ nicht nur mit Rücksicht auf die neupositivistischen, logisch-
empiristischen Tendenzen der Gegenwartsphilosophie die erforderliche
Klarheit zu verschaffen, sondern diesen Wissensbegriff auch unter dem
Gesichtspunkt seiner Herkunft aus der spekulativen Tradition des Deutschen
Idealismus näher zu erörtern, war Husserl nicht ganz entgangen. Im § 56 der
Krisis-Schrift hatte er „die philosophische Entwicklung nach Kant unter dem
Gesichtspunkt des Kampfes zwischen dem physikalistischen Objektivismus
und dem immer wieder sich meldenden ‚transzendentalen Motiv‘“ skiz-
ziert.692 Den „großen Transzendentalphilosophien“ seit Kant, so stellt er fest,
„fehlte durchaus nicht das ernsthafte Wollen, Philosophie als letztbegrün-
dende Wissenschaft zu schaffen, wie sehr man den Sinn letzter Begründung
auch verwandeln mochte. (Man denke z. B. an die nachdrücklichen Erklä-
rungen Fichtes in den Entwürfen seiner Wissenschaftslehre oder an die
Hegels in der,Vorrede‘ seiner Phänomenologie des Geistes)“693. Allerdings
lehnte Husserl es ab, den Erfordernissen einer eigenständigen Begründung
der phänomenologischen Bewusstseinsphilosophie „auszuweichen durch

686 Ebd.
687 Ebd.
688 Ebd.
689 Ebd.
690 Ebd.
691 Ebd.
692 Hua VI, S. 194f.
693 Ebd., S. 204.

146 Einleitung der Herausgeber II

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einen von Kant oder Hegel, von Aristoteles und Thomas sich nährenden
Betrieb mit Aporien und Argumentationen“694. Auch Fink hatte in seinen
Konzeptpapieren zum „Problembegriff der Philosophie“ auf die Notwen-
digkeit bestanden, nicht nur das generelle Verhältnis von „Philosophie und
Wissenschaft“, sondern insbesondere auch „Husserls Begriff der Philosophie
als strenger Wissenschaft“ einer näheren Betrachtung zu unterziehen und den
Leser dabei an „Kants Begriff der Metaphysik als Wissenschaft“ sowie an
„Hegels Begriff der ‚Wissenschaft‘“ verwiesen.695 Die als „Reihe IV“ in das
Notizheft Z-XXII eingetragenen thesenhaften Ausführungen über „den
Begriff der Wissenschaft bei Hegel (nach der,Vorrede‘ zur Phänomenologie
des Geistes)“ bestätigen übrigens das Vorhaben, mit dem Fink sich trug, um
eben unter diesem Gesichtspunkt sich die „einleitenden“ Textpartien zur
Phänomenologie des Geistes von neuem anzueignen.696
Die im vorliegenden 3. Teilband veröffentlichten Notizen des Heftes Z-
XXIV sowie der diesem Heft zugeordneten „Beilage I“ enthalten den Nie-
derschlag der von Fink unternommenen Lektüre und Exegese der einleiten-
den Partien von Hegels Phänomenologie des Geistes.697 „Da die,Vorrede‘
[…] die prinzipiellste Reflexion Hegels […] darstellt“, wie Fink vermerkt,
„wird ihre Textanalyse an den Schluss gestellt“698. Der Takt des gesamten
Interpretationsversuches wurde durch die dreifache „Gliederung der Einlei-
tung“: „I. Kritik des Kritizismus II. Darstellung des erscheinenden Wissens
III. Methode der Ausführung“ vorgegeben.699 Im Rahmen dieser Textex-
egese fand, wie Ronald Bruzina vermerkt hat, vermutlich auch das „Collo-
quium über Phänomenologie des Geistes“ statt, an dem außer Fink Karl
Alpheus und Alfred Seidemann teilgenommen haben.700 Die Notizen zu den
von Fink in diesem Rahmen mit Alpheus geführten Gespräche finden sich
am Anfang des Notizheftes XXIV.701 Seine „Interpretation von Hegels Phä-
nomenologie des Geistes“ hat Fink selbst auf „1938“ datiert,702 das „Collo-
quium“ dagegen dürfte, nach den Angaben von Ronald Bruzina, schon im
Jahre 1937 stattgefunden haben.703 Ob Fink seinen Interpretationsversuch
noch vor oder erst nach dem 27. April 1938 abgeschlossen hat, wurde nicht
überliefert. Während des Sommers des Jahres 1938 erhielt Fink von Husserls

694 Ebd., S. 134.


695 EFGA 3.3, Z-XX/XXVIII/1a.
696 Ebd., Z-XXII/IV/1a-1b.
697 Ebd., Z-XXIV sowie die Beilage I.
698 Ebd., Beilage I.
699 Ebd., Z-XXIV/II/5a; vgl. die Beilage I.
700 Ebd., Z-XXV/77a; vgl. die Beschreibung zu Z-XXIV.
701 Ebd., Z-XXIV/I/4a–b.
702 Ebd., die Beschreibung zu Z-XXIV.
703 Ebd., Z-XXIV/I/4a–b, die Anm. 2.

Einleitung der Herausgeber II 147

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Sohn Gerhart das Angebot, den Husserl-Nachlass nach Amerika zu begleiten
und dort die Erschließung der zahlreichen hinterlassenen Forschungsmanu-
skripte fortzuführen. Auf diesen Vorschlag antwortete Fink erst nach langem
Zögern in einem am 16. Oktober 1938 an Gerhart Husserl adressierten Brief.
Wie er zuvor schon an Frau Dodo Klein-Husserl mitgeteilt hatte, konnte er
„jenen ‚grundsätzlichen Entscheid‘ einer definitiven Verlegung meines
Lebens nach Amerika bei der völligen Undurchsichtigkeit der mich dort
erwartenden Situation noch nicht fällen“. „Die endgültige Verlegung des
Lebens in ein fremdes und nicht nur geistig unbekanntes Land“, so befand
Fink, „ist von einer nicht abzusehenden Tragweite, und dies nicht nur im
Sinne der materiellen Existenz“. „Die innere Richtung meines Lebens“, so
begründete er seinen Vorbehalt, „ist aber bei mir festgelegt in einem Pro-
gramm philosophischer Fragen. Dieses Lebensprogramm werde ich durch
keine Not und keine Verlockungen gefährden lassen. Angenommen ich
würde aber mich für Amerika grundsätzlich und ohne Kenntnis meiner künf-
tigen Lebensbedingungen entscheiden, so wäre das eventuell eine Gefähr-
dung meines Lebenssinnes. Eine Assimilation an Amerika kann ich nicht
aufbringen; die Würfel meines Schicksals sind bereits gefallen.“704 Was „die
Nachlassfrage“ betraf, so wies Fink darauf hin, dass Husserls Forschungs-
manuskripte „der Bearbeitung und Ausarbeitung ‹bedürften›“, dass der
Nachlass „also so, wie er vorhanden ist, noch nicht objektiv vorhanden ‹sei›,
dass er in einem Zwischenreich der Wirklichkeit ‹liege› und um vollends zu
sein einer langen und umfangreichen Arbeit von eingearbeiteten Schü-
lern ‹bedürfe›“. Finks Einschätzung der Sachlage in seinem an Gerhart Hus-
serl gerichteten Brief stimmt mit den Gesichtspunkten überein, die er in sei-
nem „Memorandum über die Nachlassmanuskripte“ angeführt hat.705
Übrigens nahm er sich eben zu diesem Zeitpunkt vor, „durch meinen Artikel
in dem Memorial Volume von Farber über den ‚Nachlass Edmund Husserls‘
einen Aufschluss über die Eigenart und die Bedeutung der Forschungsma-
nuskripte ‹Husserls› ‹zu› geben“.706
Wie die Weichen für das die Phänomenologie künftig beschwingende
philosophische Fragen in den Hegel gewidmeten Ausführungen gestellt wor-
den sind, darüber geben die im Heft Z-XXIV aufbewahrten Notizen Aus-
kunft. Bereits in den am 11. Dezember 1933 mit Karl Alpheus geführten Dis-
kussionen hatte Fink der These von der „Immanenz der geistigen Gebilde im
Leben“, in der sich die typische Form einer „einsatzgebundenen Reflexions-

704 Brief Eugen Finks an Gerhart Husserl vom 16. Oktober 1938, in: EF05–75, Bilder Nr. 381–
383.
705 EFGA 3.3, Z-XXV/60a–b.

706 Brief Eugen Finks an Gerhart Husserl vom 16. Oktober 1938, in: EF05–75, Bilder Nr. 381–

383.

148 Einleitung der Herausgeber II

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philosophie“ ausprägte, als „Gegenmöglichkeit“ „die Immanenz des Lebens
im Geist ‚ταυτὸ νοει̑ν καἱ εἲναι‘“ – „meine Formel“ – entgegengehalten.707
„Immanenz der Idee des Seins im Absoluten und nicht umgekehrt“,708 so
hatte Fink in seinem „Aufriss der Méditations cartésiennes“ seine philoso-
phische Grundstellung noch einmal wiederholt. Während des mit Karl
Alpheus und Alfred Seidemann veranstalteten „Colloquiums über Hegel“
hatte Fink sich gegen die vorgängige „Trennung von Erkennen und Sein“
gewendet,709 die die Grundvoraussetzung des „Korrelativismus“ bilde. „Die
Gefahr des sogen. Idealismus“ – des „subjektiven“ – bestand nach Fink darin,
dass er sich „in einem Dogmatismus der Egoität“ verfing. „Husserls Phäno-
menologie“, so lautete seine Diagnose, „hat die immanente Gefahr der ver-
absolutierenden ontischen Hypostase der Intentionalität“710. Dass Husserl
nun in der Krisis-Schrift dazu überging, den „Sinn der neuzeitlichen Geis-
tesgeschichte“ als „ein Ringen des Objektivismus und des Transzendenta-
lismus“ darzustellen711 und den ihn „leitenden Begriff des ‚Transzendenta-
len‘“ dadurch verdeutlichte, dass er „vordeutend“ „auf einen radikalen
transzendentalen Subjektivismus“ verwies,712 in den die Idee einer „Tran-
szendentalphilosophie“ ihres eigensten Sinnes gemäß, wie er seit der Neuzeit
fortentwickelt wurde, einmünden sollte, stieß bei Fink auf zähen Widerstand.
„Die Neuzeit“, so lautete seine „eigentliche Interpretationsthese“ bei der
Lektüre der „Einleitung“ zu Hegels Phänomenologie, „ist keine grundsätz-
liche Preisgabe der Seinsfrage zugunsten der Erkenntniskritik oder zuguns-
ten einer ‚subjektivistischen‘ Einengung der Seinsauffassung, sondern eine
Verlagerung innerhalb des vierfachen Problemhorizontes der Metaphysik“ –
der „vierfach-einheitlichen Grundfrage nach dem Seienden als Seiendem =
als Einem = als Wahrem = als Gutem“713. „Der Problemverfall (gegen den
Hegel sich wendet, um den Ansatz seiner Problemstellung zu gewinnen) ist
das Auseinanderfallen des Seinsproblems und des Wahrheitsproblems, ist die
Preisgabe der transzendentalen Einheit von ὄν ἢ ὄν und ὄν ὡς ἀληθές in der
Form der plausiblen Trennung von ‚Erkenntnistheorie‘ und ‚Ontologie‘, the-
matischer Seinserkenntnis und reflexiver Bewusstseinserkenntnis; d. h. in
der Form einer korrelativen Unterscheidung von Sein und Erkenntnis. Was
damit preisgegeben ist, ist die totale Seinsimmanenz der Erkenntnis und die
Erkenntnisimmanenz des Seins; das führt notwendig zur Vernachlässigung

707 EFGA 3.2, Z-XIII/36a-40a, S. 222f.


708 Ebd., Z-XIII/46b, S. 225.
709 EFGA 3.3, Z-XXV/79a.
710 Ebd., Z-XXV/86a.
711 Hua VI, § 14, S. 70f.
712 Ebd., § 26, S. 101.
713 EFGA 3.3, Z-XXIV/Beilage I.

Einleitung der Herausgeber II 149

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der ontologischen Bestimmung des Seins der Erkenntnis (und des Erken-
nenden) einerseits und zur Verkennung der prinzipiellen Intelligibilität des
Seins des Seienden andererseits.“714 Hervorgerufen wurde dieser „Problem-
verfall“ nach Finks Ansicht durch das „pseudo-cartesianische Motiv“ eines
überspitzten „Methodismus“, „einer Prüfung der Erkenntnis aus dem Motiv
eines aus Schaden klug gewordenen ‚Misstrauens‘“, durch welche die eigent-
liche – metaphysische – Grundfrage Descartes’ „in zwei Richtungen“ ver-
stellt wurde: „1) als Interpretation seiner Philosophie als methodistischer
Erkenntnistheorie; 2) in der Deutung derselben als einer thematischen Ver-
absolutierung des ‚Subjekts‘, als Wendung zum ‚subjektivistischen Idealis-
mus‘“715. Diese am Leitfaden von Hegels „Kritik des Kritizismus“ sich fort-
spinnende Deutung der geschichtlichen Entfaltung des „transzendentalen
Motivs“ seit Descartes bietet eine Alternative zu dem Muster, nach dem
Husserl die korrespondierenden philosophiehistorischen Partien seiner
Spätschrift ausgearbeitet und dabei auf die philosophische Sonderstellung
Descartes’ bestanden hat.
Über das Schicksal des von Fink geplanten Beitrags zum Gedächtnisheft
für Edmund Husserl unterrichtet uns der 1939 mit Marvin Farber geführte
Briefwechsel. Am 31. Oktober 1938 bestätigte Fink, „dass ich es als eine
Auszeichnung empfinde, an dem Memorial Volume für Husserl mitarbeiten
zu können, und dass ich dafür einen kleinen Artikel über den Nachlass Hus-
serls vorbereiten werde, der die außerordentliche Bedeutung desselben und
zugleich die Schwierigkeiten der Edition behandeln soll. […] Der Artikel
über den Nachlass hätte – neben der für das Bild Husserls notwendigen
Klarlegung des Verhältnisses von Schrifttum (auf dem doch die öffentliche
Beurteilung Husserls basiert) und den als Nachlass vorhandenen Forschungs-
manuskripten (die Husserls eigentliche Philosophie enthalten und unbekannt
sind) – noch die Funktion, die Bemühungen von Herrn Prof. G. Husserl und
seiner amerikanischen Freunde, die Nachlassedition zu ermöglichen, durch
eine klare Information darüber zu erleichtern.“716 Am 26. Januar 1939 konnte
Fink an Farber melden: „Ich habe mich mit Dr. Landgrebe verständigt, dass
ich über das Thema: ‚Der analytische Stil der Philosophie E. Husserls‘
schreiben will. Darin habe ich dann reichlich Gelegenheit, auf den Analy-
senreichtum des Nachlasses ausführlich einzugehen. […] Das entscheidend

714 Ebd.
715 Ebd.
716 Brief Eugen Finks an Marvin Farber vom 31. Oktober 1938. Die im Folgenden zitierten

Briefe Eugen Finks an Marvin Farber sind unter den „Marvin Farber Papers“ im Universi-
tätsarchiv der University at Buffalo aufbewahrt. Aus den zahlreichen Materialien des Farber-
Nachlasses wurden insb. die Folders 6.16 (Fink, Eugen, 1938–1947) und 6.17 (Fink-Landgrebe
Fund, 1946) zur Einsicht genommen.

150 Einleitung der Herausgeber II

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Eigentümliche der Phänomenologie sehe ich […] in der analytischen
Methode der Problembewältigung. Spekulative Thesen, die in ihrer Abs-
traktheit wahr sein mögen, sind phänomenologisch immer noch unentschie-
den, solange die ausführliche intentionale Analyse der fraglichen Phänomene
noch aussteht.“717 Am 25. September 1939 musste Fink auch im Namen Lud-
wig Landgrebes aus Leuven, wohin er emigriert war, an Farber „über die von
uns sehr bedauerte Wendung“ schreiben, „die nun in der Angelegenheit
unserer beiden Beiträge zum Husserl-Gedächtnisband eingetreten ist“. „Der
Ausbruch des Krieges und die Entfesselung der Kriegspsychose mit allen
ihren widervernünftigen Animositäten hat unsere Stellung hier sehr delikat
gemacht“. Fink und Landgrebe wollten um jeden Preis vermeiden, dass ihrer
in Leuven begonnenen Mitarbeit zur Erschließung des dorthin geretteten
Husserl-Nachlasses „durch ein striktes Verbot der deutschen Behörden ein
Ende gesetzt wird“. „Wir haben uns daher nach langen gemeinsamen Über-
legungen sehr schweren Herzens entschlossen, auf die versprochene Mitar-
beit am Gedächtnisheft zu verzichten.“718 Nicht von dieser Restriktion betrof-
fen war allerdings ihre Mitarbeit an dem Periodical, das von der
neugegründeten Phenomenological Society herausgegeben wurde. Und so
konnte Fink am 18. Dezember 1939 an Farber mitteilen: „Ich werde […],
sobald wie möglich, Ihnen einen Beitrag für das Periodical einsenden. Es
wird aber nicht genau der für das Memorial Volume bereitgehaltene Artikel
sein, wohl aber eine Umarbeitung in eine rein sachliche Darstellung. Den
definitiven Titel kann ich noch nicht angeben, aber das Thema ist eine Cha-
rakteristik derjenigen ‚phänomenologischen‘ Erkenntnishaltung, die als
‚intentional-analytische Deskription‘ gleichsam den vor-philosophischen
Habitus der Phänomenologie ausmacht. Ich hoffe damit eine Serie von Arti-
keln eröffnen zu können, die eine kritische Besinnung auf die impliziten Vor-
aussetzungen der phänomenologischen Forschung zum Ziele haben.“719 Am
6. Mai 1940 konnte Fink sein Publikationsvorhaben mit Präzision formulie-
ren: „Der genaue Titel ist Traktat über phänomenologische Forschung; diese
Abhandlung, welche methodische Grundfragen der Phänomenologie behan-
delt, indem sie latente Voraussetzungen der Husserlschen Methodik in Frage
stellt, nicht im Sinne einer Kritik, sondern einer Besinnung auf den impliziten
Entwurf der Idee der Philosophie bei Husserl, soll zerfallen in die Abschnitte:
‚Deskription und Analyse‘ (– dies ist der Teil, den ich Ihnen senden will –),
‚Ideation und Wesenserkenntnis‘, ‚Anschauung und Begriff‘, ‚Gegenstand
und Seiendes‘.“720 Zugleich sprach er Farber gegenüber die Hoffnung aus,

717 Brief Finks an Farber vom 26. Januar 1939.


718 Brief Finks an Farber vom 25. September 1939.
719 Brief Finks an Farber vom 18. Dezember 1938.
720 Brief Finks an Farber vom 6. Mai 1940.

Einleitung der Herausgeber II 151

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„Ihnen ‹später› Teile der großen Schrift, an der ich jetzt hauptsächlich arbeite:
Ontologische Erfahrung zur Verfügung stellen zu können“721.
Erst am 25. Mai 1946 konnte Marvin Farber sich wieder brieflich an Fink
wenden: „[W]e were all very glad to learn that you and Dr. Landgrebe had
survived the war and that both of you are now connected with universities.
“722 Als Fink nun „die enge Zusammenarbeit des Husserl Archivs mit der
Phenomenological Society“ nachdrücklich befürwortete, zugleich seine
„Bedenken gegen eine bloß nach philologischer Exaktheit strebende Editi-
onsplanung“ der Leitung des Archivs gegenüber klarmachte, griff er auf das
Publikationsvorhaben zurück, das er damals für das Memorial Volume in
Aussicht gestellt hatte. „Ich trage mich mit dem Plan, einen Artikel über den
Husserl-Nachlass zu schreiben und darin das Problem seiner vernunftge-
mäßen Edition zu behandeln“, so berichtet er am 4. Februar 1947 an Far-
ber.723 Bereits anlässlich der Gründung der Phenomenological Society hatte
er seine „private Ansicht“ darüber mitgeteilt, wie das philosophische Ver-
mächtnis Edmund Husserls in Zukunft verwaltet werden sollte: „Die
Gemeinsamkeit des Ausgangs von Husserls Philosophie […] besagt […]
nicht ein antiquierendes Verhältnis zu Husserl; sondern die Bewahrung sei-
nes geistigen Erbes geschieht einzig im Weiterfragen. Nur ein Philosophie-
ren, das in sich Zukunft hat, hat auch echte Vergangenheit.“724

721 Ebd.
722 Brief von Farber an Fink vom 25. Mai 1946.
723 Brief Finks an Farber vom 4. Februar 1947.
724 Brief Finks an Farber vom 1. Dezember 1939.

152 Einleitung der Herausgeber II

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Einleitung der Herausgeber II
Zweiter Teil

VII. Die Paradoxien der phänomenologischen Äußerung

Im August 1937 fuhr Eugen Fink zusammen mit Dorothy Ott und seinem
Bruder Ernst für eine gemeinsame Klettertour in den Süd-Schwarzwald.
Kurz darauf, im Spätsommer 1937, nahm er die Redaktion einer neuen
Abhandlung an Angriff: „Die Entwicklung der Phänomenologie Husserls“1.
Der Privatunterricht von Dorothy Ott über die Metaphysik des Aristoteles
war im März 1937 zu Ende gegangen. Seit Anfang August lag Husserl wegen
einer Brustfellentzündung, „die ihn mitten aus der Vollendung seines
Abschlusswerkes herausriss“2, krank im Bett. In diesen Herbsttagen
besuchte Fink seinen Lehrer regelmäßig in der neuen Wohnung Schöneck-
straße Nr. 6, in die Husserl Ende Juni aus der Lorettostraße 40 umgezogen
war. Die ernsten Gefäßstörungen, die die Krankheit nach sich zog, hinderten
Husserl daran, mit ganzen Kräften an die Arbeit zu gehen. „Husserl ist im
Tage nur eine halbe Stunde auf, manchmal ein wenig länger, kann aber nur
mit Stock und Nachhilfe ein paar Schritte machen.“3 Immerhin war er „sehr
stark von der Notwendigkeit durchdrungen, wieder zu Kräften […] kommen
und seine zweite Abhandlung […] machen“ zu müssen4 – d. h. den dritten,
in seinen Augen bedeutendsten Teil der Krisis-Schrift (Teil III/A und B) zum
Abschluss zu bringen. Das schon erwähnte Notizheft Z-XXV aus dem
3. Teilband der Phänomenologischen Werkstatt enthält eine Reihe sehr
detaillierter Notizen, die uns in die Atmosphäre der damaligen philosophi-
schen Gespräche zwischen Fink und Husserl eintauchen lassen. Weil er den
geistigen und philosophischen Bedürfnissen seines Lehrers entgegenkom-
men und ihn wenn möglich bei seinem Genesungsprozess unterstützen
wollte, erschien Fink täglich in der neuen Wohnung und referierte über seine
neue Abhandlung.5

1 Vgl. Fink, „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“, in: ND, S. 45–74.
2 HChr, S. 487.
3 Ebd.

4 Ebd.; vgl. auch Walter Biemel, „Einleitung des Herausgebers“, in: Hua VI, S. XIII–XXII.

5 Vgl. Brief Malvine Husserls an Gerhart Husserl vom 14. Oktober 1937 in: Bw IX, S. 268.

Vgl. auch Fink, „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 45, Fußnote.

Einleitung der Herausgeber II 153

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Die von Husserl selbst „noch während seiner Krankheit vor dem
Tode“6 studierte Fassung dieser Abhandlung enthielt allerdings nur den „ers-
ten Paragraphen“ einer umfassenderen Schrift. Die in dem vorliegenden 3.
und 4. Teilband der Werkstatt gesammelten Arbeitsnotizen gestatten es erst-
mals, ein genaues Bild von dem gesamten Schriftprojekt zu gewinnen, mit
dem sich Fink in dieser Arbeitsphase trug. Besonders aufschlussreich sind
in dieser Hinsicht die Mappen Z-XXV und V-III aus dem 3. sowie die Map-
pen Z-XXVI und Z-XXVII aus dem 4. Teilband. Sie enthalten Entwürfe und
Dispositionen von Finks Hand, die uns Aufschluss über den realen Umfang
seines Projekts und über die von ihm geplanten Fortsetzungen geben. Nach
einleitenden „Erörterungen über den Sinn von ‚Entwicklung einer Philoso-
phie‘“7 im ersten Teil sollte ein zweiter „den Ansatz der Phänomenologie“,
der dritte die Idee einer „intentionalen Explikation“ unter Berücksichtigung
des „Urmodus“ der Intentionalität und des „Systems intentionaler Abwand-
lungen“ zum Gegenstand weit ausholender Ausführungen machen. Danach
ebnete die Phänomenologie der Philosophie erstmals wieder die Bahn zu
einer „Neubegegnung mit dem Seienden“, was in der Maxime „Zurück zu
den Sachen selbst“ – oder der von Fink bevorzugten Formel „Rückkehr zu
den ‚fontes‘“8 – zum Ausdruck kam.
Das Seiende und die Welt im Allgemeinen werden anhand eines Begriffs
von Phänomen bzw. vom „Sichzeigen“ und korrelativ vom Bewusstsein,
dem das Seiende sich zeigt, zum Thema eines analytischen „Inventur“-
Programms, das ins Unendliche wächst, in dem aber ein prinzipieller,
bislang nicht ausdrücklich thematisierter „Entwurf einer Seinsidee“ am
Werk ist, „wonach es zum Sein des Seienden gehört, sich zu zeigen“.9 Mit
ihm gibt es einen entscheidenden „Ruck“ in der Bewegung des Denkens
und vollzieht sich eine weittragende „Wandlung des Seinsproblems in das
Wahrheitsproblem“, und zwar „in der Form der Zugänglichkeit (Selbstge-
bung des Seienden)“, wie Fink in einer Notiz zu „Die Entwicklung der
Phänomenologie Edmund Husserls“ festhält.10 Und aus diesem Grund sei
Husserls „Abkehr vom spekulativen Stil der traditionellen Philosophie […]
keineswegs am traditionellen unkritischen Begriff der Wahrheit zu orientie-
ren“. Der Wahrheitsbegriff der Phänomenologie entspreche einer grundsätz-
lichen Neufassung des Seienden „als Erscheinung, als Phänomen“11. Das
sich zeigende Seiende soll „in seinem eigenen Sein gefasst“ und „nicht

6 So Fink in der Fußnote ebd.


7 Ebd., S. 74.
8 EFGA 3.4, Z-XXVII/66a.
9 Ebd., Z-XXVII/66a.
10 EFGA 3.3, Z-XXV/190b.
11 Ebd.

154 Einleitung der Herausgeber II

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durch Theorien“ verdeckt werden. „Vorurteilslos“, in voraussetzungsfreier
analytischer Arbeit soll man sich der Sache selbst hingeben: „Alle Dinge
sind auf ihren Urgegebenheitsmodus zu bringen und von dort her“ nicht
nur einzusehen, sondern auch sorgfältig zu beschreiben und auf ihre inva-
rianten Wesensstrukturen zurückzubeziehen. Der von Husserl geforderte
Rückgang auf den Urmodus und auf die originären Gegebenheitsweisen alles
Seienden sei das eigentliche „Thema der einsetzenden Phänomenologie“ –
und zugleich ihre erste, nie zu einem methodischen Bewusstsein erhobene
Voraussetzung. „Der Entwurf der Ideen von ‚ursprünglicher Selbstgebung‘“
am Leitfaden des Intentionalitätsbegriffs, so hebt Fink hervor, ist „der erste
konstruktive Akt der phänomenologischen Philosophie“.12
Es ist bemerkenswert, dass gemäß dem ursprünglichen Gesamtplan
der Schrift „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“ auf
die Darlegung der Reduktionsproblematik (IV. Teil) und der Theorie der
Konstitution (V. Teil) (in einem Gedankengang, der durch die Begriffe
„Wissenschaft – Lebenswelt – transzendentale Subjektivität – natürliche
Einstellung – Logik“ hindurchführt) ein Schlussteil folgen sollte, der der
Problematik von „Ens und Verum“13 gewidmet sein und eine Entfaltung
des „Problems des transzendentalen Bezugs von ὄν und ἀληθές“ beinhalten
sollte. Der Ruck in der Denkbewegung des Abendlandes, der sich mit Hus-
serls Phänomenologie vollziehe, sei in seinem innersten Wesen analytisch –
im Sinne einer intentionalen Analytik –, und zwar „im Kontrast zur spekula-
tiven Weise Kants und des Deutschen Idealismus“14. Aus dieser Disposition
geht hervor, dass Fink mit der von ihm geplanten Schrift nicht etwa nur die
Absicht verfolgte, dem Publikum „eine bedingte Interpretation der inneren
Problementwicklung der Phänomenologie“ vorzulegen, die „als Leitfaden
für die Auslegung der Schriften Edmund Husserls“15 verwendet werden
könnte. Seine Gesamtauslegung der Phänomenologie Husserls gehört in
den weiteren Horizont einer Grundkonzeption der Philosophie als einer im
Staunen entspringenden Form radikalen Fragens. Fink zögerte nicht, seinem
Lehrer diese Grundauffassung von Philosophie sowohl schriftlich als auch
mündlich vorzutragen.
Eine Eintragung am Schluss der ersten Reihe von Notizen aus der Mappe
Z-XXVII enthält skizzenhaft die Struktur und die thematische Einteilung des
Anfangsstückes der Schrift „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund
Husserls“, von dem das ausgearbeitete Typoskript im Dezember 1937 vorlag:
„1. Entwicklung = nicht Biographie, nicht Doxographie, sondern Problem‐

12 EFGA 3.4, Z-XXVII/66b.


13 Ebd., Z-XXVII/65b.
14 Ebd., Z-XXVII/55a.
15 Fink, „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 74.

Einleitung der Herausgeber II 155

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entfaltung. 2. Problem (im philosophischen Sinne) ist Staunen (Entsetzen,
‚Fürsichsein‘, ‚Mittler‘, Stillstand und Bewegung der Seinsidee, der Wahr-
heitsidee, der Weltidee und Gottesidee). 3. Problementwurf und Interpreta-
tion.“16 „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“ ist schon
deshalb ein bedeutsames Dokument, weil Fink sich in dieser Schrift mit grö-
ßerer Freiheit auszusprechen wagte als in den anderen frühen Schriften, die
fester an die Publikationspläne gebunden waren, mit denen Husserl sich trug.
Eine aufmerksame Lektüre dieses Textes erlaubt es dem Leser, gleich meh-
reren Denkmotiven in nuce auf die Spur zu kommen, die Fink in der Zeit-
spanne, die durch den 4. Teilband dokumentiert wird, innerlich beschäftigt
haben und die darüber hinaus für die weitere Entwicklung seines Philoso-
phierens von besonderem Gewicht sind.
Charakteristisch für den Fragenkomplex, mit dem Fink sich in den
Problemkreis der phänomenologischen Philosophie Husserls „einbohren“
wollte, sind bereits die Anfangssätze seiner Schrift. Es gebe, so Fink,
„keinen Text, kein Buch, in dem diese Philosophie ihre endgültige und
vollständige systematische Darstellung gefunden hätte“17. Im Ausgang von
dieser nüchternen Feststellung über das „Entwicklungsschrifttum“ Edmund
Husserls untersucht Fink die Weise des „In-der-Zeit-Seins einer dokumen-
tierten Philosophie“ in dreifacher Hinsicht, und zwar 1) als Lebensausdruck,
2) als Lehre und 3) als Problem. Die Auffassung der Philosophie als
eines Lebensproduktes, als Konkretisierung des gedanklichen Lebens eines
Menschen, sei insofern „unfruchtbar und letztlich gegenstandslos“, als der
hier „zugrundeliegende Begriff“ des Lebens und des Menschen „nicht gerade
selbst ein philosophischer“ sei.18 Das gängige Verfahren, etwa nach dem
Vorbild von Karl Jaspers die Philosophie anhand einer Psychologie der
Weltanschauungen zu interpretieren, bedeutet nach Fink das „gründlichste
Sich-Vergreifen am Wesen der Philosophie“, ein drastisches Untertreiben
ihres Eigenwesens „gerade im Horizont der Naivität“, im „Dunstkreis des
naiven Selbstverständnisses“.19 Eher noch sei der Begriff der „Theorie“
dazu geeignet, das zeitliche Dasein einer Philosophie als eines in einem
Text dokumentierten gedanklichen Gehaltes zu erfassen. Jedoch sei „die
in einem objektiv vorhandenen Text erscheinende Philosophie nicht selbst
objektiv vorhanden“ wie der Text, eben weil sie keine Tatsache, kein
physisches „Ding“ sei. Das „Lehre“-Sein einer philosophischen Theorie

16 EFGA 3.4, Z-XXVII/66a.


17 Fink, „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 45.
18 Ebd., S. 48.
19 Ebd., S. 47f.

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bestehe vielmehr in ihrer „Mitteilung“; gerade sie stelle die eigentliche
„Weise ‹ihres› In-der-Zeit-Seins“ dar.20
Indem er mit Umsicht die Ausführungen Martin Heideggers im § 2 von
Sein und Zeit zur „formalen Struktur der Frage nach dem Sein“ paraphrasiert
und neu interpretiert, arbeitet Fink skizzenhaft eine Phänomenologie der
philosophischen Mitteilung heraus. Unüberhörbar sind in dieser die wieder-
holten Anklänge an Hegel. Fink bezeichnet die Struktur der Mitteilung als
„den zweifachen, aber einheitlich verkoppelten Bezug des ‚Aussagens über
…‘ und des ‚Hinsagens an …‘“; das philosophische Sagen, das Aussprechen
von Philosophie, sei folglich nicht mehr ein innerer einsamer Monolog, son-
dern bereits ein „Hinausstellen“ der Gedanken „in die Sphäre intersubjekti-
ver Verständlichkeit“. In diesem Sinne impliziert jede philosophische Lehre
eine Selbstaufstellung der Philosophie in der Welt, mit der sie nun „in die
Situation des vor- und außerphilosophischen Weltverständnisses“21 einzieht,
in ihr „erscheint“. Die Lehre sei somit die Form, in der eine Philosophie sich
„ent-äußert“, ihre „Äußerung“ aufgrund der Mitteilung, deren philosophi-
sche Bedeutung als die der „Erscheinung ‹ihres› Wesens“ bestimmt werden
kann. Als „Mittel-Sein der Lehre“ erfülle sie den Zweck, die „verwahrende
und beharrende Schale des äußeren Daseins für das Wesen der Philosophie“
zu sein. Bereits in „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“
weist Fink auf die verhängnisvolle Tendenz des Lebens hin, „sich in den
Mitteln seiner wesentlichen Zwecke zu verfangen derart, dass dadurch die
Zwecke selbst vernichtet werden“. Als Beispiele führt er die Kirche und den
Staat an. Die Kirche sei „das institutionelle Mittel für das beharrende äußere
Dasein der Religion“; der Staat „das ermöglichende Mittel der vernünftigen
menschlichen Freiheit“. „Wie oft“, so bemerkt Fink, „ist schon die Religion
in der Kirche, die Freiheit im Staate untergegangen?“ Droht einer philoso-
phischen Lehre nicht dieselbe Gefahr, dass nämlich gerade in ihr „das Prob-
lem einer Philosophie untergeht“?22 Diese ersten, noch flüchtigen Erwägun-
gen der Möglichkeit, dass mit der Entäußerung des Wesens zugleich eine
Erstarrung einhergeht, in der die „zerbrechliche äußere Schale“ in einer
„tödlichen Umklammerung“ entartet, gehören in den Kontext weit ausho-
lender Reflexionen über Staat, Politik und Gesellschaft, in die die hinterlas-
senen Arbeitsnotizen Finks uns heute erstmals Einblick verschaffen. So
merkt Fink z. B. in der Mappe Z-XXVI anlässlich einer Reihe von Notizen
zu „Ding an sich und Erscheinung bei Kant und Hegel“ an, dass die „Kirche
eine Gemeinde ‹ist›, die durch eine Gemeinschaft im Heiligen gebildet wird.

20 Ebd., S. 53.
21 Ebd., S. 55f.
22 Ebd., S. 59.

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Sie ist ein gemeinschaftliches Gottesverhältnis der Menschen“23. Die Auf-
fassung des Staates als eines „bloßen Zweckverbandes“ beruhe ihrerseits auf
einem Begriff des Menschen, der „nicht viel über das Bedürfniswesen hin-
ausgeht“.24 Ihr stellt Fink seine eigene, an Aristoteles’ Politica anknüpfende
Ansicht gegenüber, nach der der „Staat eine Selbstbindung des Lebens ‹ist›:
eine Einschränkung der Freiheit oder besser: eine Spielsetzung des Lebens.
[…] Staat ist eine Selbstbindung der Gewalt“25. Für die Philosophie bedeute
es eine „äußerste Gefahr“, wenn ihre Lehre aufhöre, „Äußerungsmittel“ zu
sein, wenn das sie innerlich bewegende Problem erstarre, die lebendige Lehre
in Orthodoxie, in Autoritätsgläubigkeit, Schulbildung und Propaganda ent-
arte. Nur dort, wo sie ihre Beweglichkeit zu bewahren und sich offen mit-
zuteilen weiß, mag es ihr gelingen, die Haltung des menschlichen Lebens,
„die das Selbstverständlichste – dass es Seiendes gibt, und dass Welt, Raum,
Zeit und Dinge sind – in seiner Selbstverständlichkeit beläßt“26, von Grund
auf zu erschüttern. Das in der Lehre sich entäußernde, in „Erscheinung“ tre-
tende Wesen der Philosophie ist die ihr innewohnende Fragwürdigkeit, die
erstmals im Staunen „erzeugt“, aufgebrochen wird – das „Problem im phi-
losophischen Verstande“ –, und dieses „allein ist der Geist einer Philoso-
phie“.27
In den darauffolgenden Ausführungen geht Fink näher auf die „ekplek-
tische“ oder „ent-setzende“ Wesensstruktur des Staunens ein. Denn hier wird
der Mensch aus der Grundweise seines Seins, aus seiner Weltbefangenheit
herausgeschleudert; gerade seine natürliche Lebenshaltung wird ihm durch
den Aufbruch einer „Unvertrautheit des Vertrauten“ als ein „lässige[r]
Lebensvollzug auf dem Boden einer fraglosen und unbewegten Geltungs-
tradition“ vor die Füße geworfen. Als das „so Vorgeworfene (πρóβλημα)“
wird die „Befangenheit in der alltäglichen, gemeinschaftlich geteilten, tra-
ditionalen und abgenützten Vertrautheit mit dem Seienden“28 für den Men-
schen erstmals zum Problem. Das Problem „im philosophischen Verstande“
wird gerade im Staunen geboren. Diese ent-setzende Erfahrung sei ein
„Widerfahrnis“, das den Menschen zu einer „tiefen Selbstverwandlung“
zwinge, die Fink mit der „großen Selbstbewegung“ in Einklang bringen
möchte, „der Nietzsche den Namen der ‚Großen Sehnsucht‘ gab“29. Finks
Überlegungen zur Notwendigkeit einer schöpferischen Hervorbringung des

23 EFGA 3.4, Z-XXVI/37a.


24 Ebd., Z-XXVI/42a.
25 Ebd., Z-XXVI/47a.
26 Fink, „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 61.
27 Ebd., S. 59.
28 Ebd., S. 64.
29 Ebd., S. 65.

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philosophischen Problems, das im Horizont der natürlichen Naivität und
ihres unbewegt-stagnierenden Seinsverständnisses gar nicht als solches auf-
treten kann, sind nicht nur mit der Problematik der sprachlichen Objektivie-
rung und der Einsicht in die „wahre Natur“ des philosophischen Satzes ver-
bunden. Sie zielen zugleich auf eine spekulative Integration der
Phänomenologie, die es nicht nur gestattet, das Seinsverständnis dauerhaft
lebendig und in Bewegung zu halten, sondern vor allem dazu führen soll, das
ursprüngliche „Für-sich-Sein“30 des Menschen in der Form einer „Ins-Spiel-
Setzung“ und ethischen Erneuerung seines Daseins wiederzugewinnen. Die
in der Mappe Z-XXV aufbewahrten Notizen Finks zu seinem am 4. Novem-
ber 1937 mit Husserl geführten Gespräch listen die zentralen philosophischen
Thesen auf, die im Zuge der Ausarbeitung der „Entwicklungs“-Schrift Kon-
tur erhalten sollten: „1. Hegels Theorie des ‚philosophischen Satzes‘ als
Schlüssel zum Verständnis seines Begriffes der Dialektik! (Gegen die stati-
sche ‚ontische Wahrheit‘ die bewegte ‚spekulative‘); 2. Begriff der ‚natürli-
chen Einstellung‘? Ist diese unphilosophisch oder das schlafende Philoso-
phieren? Der Begriff des Menschen als des ‚Philosophierenden‘; 3. Das
‚Staunen‘ als Ursprung von Religion, Kunst und Philosophie; 4. ‚Welttrun-
kenheit der Vernunft‘ = Staunen; 5. ‚Im Freien philosophieren‘ = inmitten
der Dinge, in Wind und weitem Raum!; 6. Aufgabe der ‚Phänomenologie‘
ist das positive Begreifen der Möglichkeit des spekulativen Denkens!! (Intui-
tives Problem des Signitiven!!).“31 – Die Thematik eines durch das Staunen
hervorgebrachten Risses in der Tradition, der dazu führt, dass das Denken
erneut in Bewegung kommt, wobei „alle Tradition, alle Vertrautheit mit dem
Seienden, das ganze vorgegebene nichtursprüngliche, traditional übernom-
mene Weltverständnis zur brennenden Fragwürdigkeit wird […]“32, findet
übrigens auf bemerkenswerte Weise einen Widerhall in einem auf Ende Juni/
Juli 1937 datierten Manuskript Husserls zur „Teleologie in der Philosophie-
geschichte“. Darin heißt es: „Bei den Griechen aber führt die aus ihrer beson-
deren historischen Verflechtung und nationalen Entwicklung verständlich
gemachte Motivation zu einer total neuartigen Weltfrage bzw. zu einer uni-
versalen Neugier, einem θαυμάζειν, das alle naive traditionale Gebundenheit
hinter sich lässt, indem sie nach dem an sich Seienden, ganz irrelativen, über-
traditionalen ‚Seienden‘ fragt“33.

30 Ebd., S. 66.
31 EFGA 3.3, Z-XXV/42a.
32 Fink, „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 65.

33 Hua, XXIX, S. 389. Zur Freiheit bzw. Befreiung als „Anfang und Ende“ von Eugen Finks

phänomenologischer Meontik in Verbindung mit seiner methodologischen Thematisierung


und Radikalisierung der Reduktion und ihrer im Staunen gegründeten „ekplektischen“ Struk-
tur, vgl. Giovanni Jan Giubilato, Freiheit und Reduktion. Grundzüge einer phänomenologi-
schen Meontik bei Eugen Fink (1927–1946), Nordhausen Verlag 2017.

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Mit der Bestimmung der staunenden Verwunderung als einer „Wandlung
des ‚Für-sich-Seins‘ des Menschen“ ist grundsätzlich die „Seinsverfassung“
des Menschen, sein „Sich-zu-seinem-Sein-Verhalten“ berührt. Das „Sein“,
zu dem er sich verhält, ist nicht „ein aus allen seinen Bezügen zu anderem
Seienden abgelöstes ‚Ich‘“, sondern „sein konkretes Sein im Verkehr mit
allem anderen Seienden“. Für sich ist der Mensch als ein Seiendes inmitten
des Ganzen von Seiendem – und insofern ist er gerade „das ‚Weltwesen‘“.34
In der Lässigkeit und Trägheit der alltäglichen Inaktualität hält sich sein
Selbst- und Weltverständnis allerdings in einer Vorbekanntheit mit dem
Seienden und einer Vertrautheit mit dem Seinsstil der Welt auf, die ein
untrügliches Zeugnis für seine fortwährende „Geborgenheit in einer heimi-
schen Welt“ sind. In der „großen Verwunderung“ nimmt der Mensch von
dieser Lässigkeit seines Sich-zu-seinem-Sein-Verhaltens Abstand, setzt sich
der Ungewissheit, in der das Seiende im Ganzen fragwürdig ist, aus und
ringt um den Begriff des Seienden. In dieser „großen Verwunderung“ erblickt
Fink „den Ursprung der Religion, Kunst und Philosophie“. – Bekanntlich
sind Religion, Kunst und Philosophie nach Hegel die drei Momente des
absoluten Geistes und stellen die unterschiedlichen Weisen dar, in denen
sich der Geist der Menschheit im Laufe seiner geschichtlichen Entwicklung
seiner selbst bewusst wird. Die Philosophie geht „als Problem“ aus dem
Staunen hervor. „Im freien Einsatz des Menschen in die Verwunderung, im
Aushalten und Austragen des Staunens“ verwandelt sie „das Widerfahrnis
in einen spontanen Entwurf des Problems“35. Darin liegt ihre „schöpferische
Kraft“, die ihr „eigentliches Handeln“ auszeichnet. Sie ist „das denkende
In-Bewegung-Bringen des Weltverständnisses als des selbstverständlichen
Bodens des menschlichen Lebens in der Welt“36. „Solange philosophiert
wird, währt das Problem. Philosophisches Wissen ist nichts anderes als
die Ausarbeitung des Grundproblems, das In-Bewegung-Halten des Welt-
verständnisses.“ Der Nachvollzug dieses schöpferischen Problementwurfs
einer Philosophie – und in casu der Phänomenologie Edmund Husserls – ist
allerdings kein risikofreies Unternehmen. „Der Nachvollzug bleibt immer
der gewagte Absprung von der im Text objektivierten Lehre, – gewagt, weil
die Kraft der Verwunderung nicht mehr die ursprünglich-schöpferische, nicht
die prometheische, sondern immer epimetheische ist.“37 Und insofern sei
sein (Finks) eigener Versuch, die innere Entwicklung der Phänomenologie
Husserls nachzuzeichnen, unausweichlich eine „bedingte Interpretation“,

34 Fink, „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 68.


35 Ebd., S. 69.
36 Ebd., S. 71.
37 Ebd., S. 73.

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eine durchaus selbst fragwürdige Bemühung, „in das Fragen einer Philoso-
phie mitfragend hineinzuspringen“38.
In welchem Umfang Husserl auf die Gedankengänge, die Fink in „Die
Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“ vortrug, eingegangen
ist, ist nicht überliefert. Fest steht allerdings, dass Fink seine Schrift mit
Alfred Schütz besprochen hat, als dieser zu Weihnachten 1937 in Freiburg
eintraf – zu einem Zeitpunkt, an dem auch Husserl sich mit der Lektüre von
Finks Schrift befasste.39 Schütz setzt sich vor allem mit Finks These, die
Philosophie entspringe im Staunen, kritisch auseinander und wendet dagegen
ein, das eigentlich treibende Motiv des Philosophierens sei die Todesfurcht.
Auf einem Zettel aus der Mappe Z-XXVI findet sich Finks Erwiderung:
„Nicht weil der Mensch den Tod fürchtet, philosophiert er, sondern weil er
philosophiert, d. i. sich in seinem Sein zu seinem Sein inmitten des Seienden
im Ganzen verhält, weil er mit einem Wort ein ‚Selbst‘ ist, das als Freiheit
existiert, kann er sich zum Tode verhalten, sei es in Furcht oder in Gelas-
senheit oder in Frömmigkeit.“40 Ein weiteres Zeugnis des regen gedankli-
chen Austauschs, der damals zwischen Fink und Alfred Schütz stattgefunden
hat, ist in Schütz’ Nachlass aufbewahrt worden. So befindet sich im Besitz
des in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale University
untergebrachten Schütz-Archivs ein auf Englisch verfasster Text von Schütz’
Hand mit der Aufschrift: „Bruchstücke eines Manuskripts über Paradoxien
der Phänomenologie, die E. Fink beschrieben hat“. Darin bezieht sich Schütz
explizit auf „the phenomenological paradoxon which Eugen Fink (backed
by the endorsement of E. Husserl) has treated in his essay of 1937“41. Es
besteht kein Zweifel daran, dass es sich bei diesem Essay um die Schrift „Die
Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“ handelt. In dieser
Schrift führt Fink die Problematik der phänomenologischen Sprache und der
phänomenologischen Mitteilung weiter aus, die er bereits im Zuge des § 10
der VI. Cartesianischen Meditation ausführlicher behandelt hatte, in dem die
„sekundäre Verweltlichung“ des Phänomenologisierens im Zentrum seines
phänomenologischen Interesses stand. Tatsächlich weist Fink in seiner
erneuten Auseinandersetzung mit der „Fragwürdigkeit der philosophischen
Mitteilung“42 auf die grundsätzliche Schwierigkeit hin, „‹how› to give an
account of the phenomenological reduced sphere because communication is
only possible after having left this reduced sphere; ‹thus› he concludes that

38 Ebd., S. 74.
39 HChr, S. 488.
40 EFGA 3.4, Z-XXVI/102a.

41 Alfred Schütz Papers. General Collection, Beinecke Rare Book and Manuscript Library,

GEN MSS 129, Box 12, Folder 221.


42 Fink, „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 56.

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this phenomenological paradoxon remains unsolvable“43. Es ist die Aufgabe
künftiger Forschung, genau zu prüfen, ob Schütz mit dieser Formulierung
wirklich den Sinn der phänomenologischen Problematik getroffen hat, wie
Fink sie in seiner „Entwicklungs“-Schrift darstellt. Denn diese Darstellung
weicht doch in erheblichem Maße von den Ansichten ab, die er fünf Jahre
zuvor in der VI. Cartesianischen Meditation vertreten hatte. Obwohl Fink in
seiner Schrift erneut betont, dass die Philosophie eine „paradoxe Existenz-
form“ besitze, welche eben darin bestehe, als ein „eindeutig festlegbare[r]
Text scheinbar vorhanden“ zu sein, aber „zugleich in eins abwesend zu sein
als de[r] Sinn dieses Textes, der erst zugänglich wird für eine denkerische
Leidenschaft, die ihre Befangenheit im traditional vorgegebenen Weltver-
ständnis sprengt“44, wird das Problem der phänomenologischen Sprache und
der Mitteilung phänomenologischer Forschungsergebnisse diesmal nicht so
sehr im Hinblick auf eine mögliche „Aussage über …“ exponiert, sondern
gerade mit Rücksicht auf das zu jeder Mitteilung gehörende Strukturmoment
der „Hinsage an …“, d. h. des intersubjektiven „Sinnbezuges des Mitteilen-
den zum Angesprochenen“45 oder zum Anderen, neu artikuliert. Es ist zwei-
fellos eine berechtigte Aufgabe, die Natur der philosophischen Mitteilung zu
untersuchen „im Hinblick auf die mögliche Ausdrückbarkeit der dem natür-
lichen Denken fernabliegenden philosophischen Gedanken in der Sprache
der vor-philosophischen Weltstellung des Menschen“46. Aber es wäre ein
gravierender Fehler, wenn dabei das Strukturmoment des kommunikativen
(und gemeinschaftlichen) „Hinsagens an Jemanden“ vernachlässigt würde.
Es steht zu vermuten, dass die Arbeit zur systematischen Anordnung und
Gliederung des Nachlasses von Edmund Husserl, die Eugen Fink und Lud-
wig Landgrebe im März 193547 und Anfang 193648 gemeinsam in Angriff
nahmen, zu der Akzentverschiebung beigetragen hat, für die die Schrift „Die
Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“ ein untrügliches Zeug-
nis abgibt. Beide Assistenten Husserls kamen zu dem Ergebnis, dass Husserls
Philosophie noch nicht objektiv vorhanden sei, sondern allererst „zum Sein“
gebracht werden müsse, zumal der Nachlass, „wie er ist, noch nicht objektiv
vorhanden ist“, sich vielmehr in einem „Zwischenreich der Wirklichkeit“
aufhalte. Um „vollends zu sein“, bedürfte es einer spezifischen, umfangrei-
chen „Bearbeitung und Ausarbeitung“ der Manuskriptmassen „von eingear-
beiteten Schülern“, nicht etwa nur mit der Absicht, sie alsbald zu edieren

43 Alfred Schütz Papers.


44 Fink, „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 57.
45 Ebd., S. 72.
46 Ebd., S. 56.
47 Vgl. EEFGA 3.3, Z-XIX/II.
48 Vgl. ebd., OH-VI; Z-XX/XX; vgl. auch EFGA 3.4, Z-XXVI.

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oder zu publizieren, sondern vielmehr im Sinne eines „epimetheischen Nach-
vollzugs“ des von Husserl selbst „prometheisch“ Gedachten. Husserls in
unzähligen Forschungsmanuskripten sich herauskristallisierender Philoso-
phie sollten die Mitarbeiter nach und nach eine gültige Objektivierung im
Text angedeihen lassen; in eins damit sollten die Bedingungen für eine ver-
lässliche intersubjektive Verbreitung des nachgelassenen Werkes erfüllt wer-
den. Denn Husserls Manuskripte seien, wie Fink feststellt, eben „Nieder-
schriften eines tagtäglichen Denkens, mit all den unausgedrückten
Unterschieden guter und schlechter Disposition, mit der stillschweigenden
Voraussetzung der jeweils den Denkeinsatz bestimmenden allgemeineren
Problematik, die aber im jeweiligen Manuskript nicht mitobjektiviert ist; mit
all den privaten Charakteren einer Gedankenfixierung εἰς ἐμέ“49. In der ein-
zigartigen „Einsamkeit“ der inneren Monologe drücke sich gerade die radi-
kale Einkehr des Husserlschen Denkens aus, das ohne jeden aktuellen oder
potenziellen Adressaten dahinströme. Gerade dieser Umstand erschwere
jedoch die Objektivierung der Gedanken in einer intersubjektiv zugänglichen
und dauerhaft verfügbaren Textgestalt. Die wiederholten Versuche, die
unaufhörliche Gedankenflut Husserls einzudämmen und ihre fließende
Beweglichkeit in einer Systematik einzufangen, waren zum Scheitern ver-
urteilt. Den treuen Mitarbeitern gelang es nicht, die Publikationsprojekte, mit
denen Husserl sie betraut hatte – die Veröffentlichung der aus Bernau stam-
menden Manuskripte über Zeit und Individuation sowie der Logischen Stu-
dien – noch zu seinen Lebzeiten mit Erfolg abzuschließen.
Die im ersten Abschnitt des 4. Teilbandes der Phänomenologischen
Werkstatt veröffentlichten Mappen Z-XXVI und Z-XXVII geben Auskunft
darüber, dass Fink mit der geplanten Fortsetzung seiner Schrift aus dem Jahre
1937, von der bislang nur der erste Paragraf in ausgearbeiteter Form vorlag,
zugleich die Absicht verfolgte, die Husserlsche Phänomenologie einer scho-
nungslosen Kritik zu unterziehen. Finks kritische Einwände gegen Husserls
Grundkonzeption der Phänomenologie richteten sich in der Hauptsache 1) auf
das offensichtliche Fehlen einer eigentlichen „Auseinandersetzung mit der
philosophischen Tradition“ und insbesondere mit dem großen Erbe des spe-
kulativen Idealismus – somit auf eine recht mangelhafte „geschichtliche“
Motivation des Husserlschen Philosophierens; 2) auf einen sich vorwiegend
in Husserls Hauptschriften ausprägenden Dogmatismus der Egoität, der
infolge der einseitig „gegenstandsintentionalen“ Ausrichtung der von Hus-
serl dem Publikum bis dahin vorgeführten phänomenologischen Analysen
unweigerlich auf eine Verabsolutierung des in rein erkenntnistheoretischer
Perspektive nur in einer verkürzten Form erfassbaren „endlichen“ Subjekts

49Brief Eugen Finks an Gerhart Husserl vom 16. Oktober 1938, in: EF05–75, Bilder Nr. 381–
383.

Einleitung der Herausgeber II 163

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hinauslief; 3) auf die „Aufhebung des (die metaphysische Natur des Wissens
bestimmenden) Gegenbegriffs des ‚Geheimnisses‘“50, dass es Seiendes gebe
statt Nichts – eines Begriffes, zu dem das philosophische Denken erst in der
„Bewegung des Außersichgehens, des Sichaussetzens“51 des Wesens (bzw.
der οὐσία) in das Erscheinen (ἀποφαίνεσθαι) gelange.
Es war Finks Intention, am Ende des ersten Teils seiner Abhandlung,
„nach der Charakterisierung der zu den intentional verstandenen Seinsur-
sprüngen vordringenden Rückleitungsphilosophie am Leitfaden der Intentio-
nalität“, „das Verhältnis der Phänomenologie zu der Problemtradition der
abendländischen Philosophie“ scharf unter die Lupe zu nehmen. Sofern Hus-
serls Phänomenologie „die Neubegegnung mit dem Seienden als philoso-
phisch entscheidend ansieht, sofern sie zu keiner Auseinandersetzung mit der
geschichtlich-vergangenen Philosophie kommt“52, so lautete Finks Urteil,
sei sie in ihrem Wesen „ungeschichtlich“. Indem sie sich, in emphatischer
Hingabe an die Idee einer absoluten Begründung der Erkenntnis in der Evi-
denz des ego cogito, mit einer Descartes-Lektüre begnüge, die an „Descar-
tes-Romane“ erinnere, komme es in Husserls Phänomenologie nie zu einer
klaren „Stellungnahme zum Problem der Spekulation“. Sie habe die Herkunft
der philosophischen Tradition aus der Antike auf dem Altar des Neuanfangs
und der Neubegründung geopfert und dabei die „innere Geschichtlichkeit“
der traditionellen philosophischen Problematik, die zutiefst in dem „Tran-
szendentalienproblem“ verwurzelt sei,53 völlig verkannt. Ein weiteres Anzei-
chen ihrer mangelhaften geschichtlichen Erkenntnis der Philosophie sah
Fink darin, dass die Phänomenologie Husserls „die antike Philosophie“
als eine reine „Theorie, ‹als› Episteme“ auffasse, die ausschließlich „auf
objektive, an sich wahre Erkenntnisse“ abziele.54 Jedoch habe dieser Begriff
der Theorie „mit der antiken θεωρία und ἐπιστήμη“ nichts zu tun. „Antike
θεωρία ist als Σοφία ein Wissen der Gründe und Anfänge des Seienden
(der ‚Transzendentalien‘)“55, so Fink. Indem er die Wissensnatur der antiken
Philosophie nach dem Modell der objektiven Wissenschaft konzipiere,
gewinne Husserl keinen rechten Zugang zum Begriff der Metaphysik und –
wichtiger noch – ihm bliebe die antike Problematik der „Transzendentalien
(ὂν -ἕν – ἀληθές – ἀγαθόν)“56 grundsätzlich verschlossen. „Der Grund für
seinen ungeschichtlichen Ansatz“57 lag nach Fink in Husserls Unvermögen,

50 EFGA 3.4, Z-XXVI/38a.


51 Ebd., Z-XXVI/19a.
52 Ebd., Z-XXVI/53a.
53 Ebd.
54 Ebd., Z-XXVII/57b.
55 Ebd., Z-XXVII/56b.
56 Ebd., Z-XXVII/56a.
57 Ebd.

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„die spekulative Philosophie“ nachzuvollziehen, insofern er die Metaphysik
ab ovo für „unwissenschaftlich“ hielt. Indem die Phänomenologie philoso-
phisch Anspruch auf eine Neubegründung des Wissens erhebe, mache sie
mit der Forderung den Anfang, „alles als Seiendes Geltende zu prüfen durch
Rückführung auf den originären Modus der Selbstgegebenheit“. Implizit
mache sie dabei jedoch die Voraussetzung, dass das Gegenständlich-Seiende,
das Fürunssein des Seienden, das Seiende schlechthin sei. Folglich wurde
auch das „Fürunssein des Seienden“ in Husserls Phänomenologie nie als
solches zum Problem gemacht. Die phänomenologische Analytik halte sich
grundsätzlich „innerhalb des Fürunsseins“ auf und argumentiere, „dass es ein
Sein des Seienden, unbezüglich auf unsere Erfahrung, nicht geben könne“.58
Daraus folgte nicht nur, dass die Frage nach dem „Ding an sich“ entfiel, da sie
sich, so Husserl, „durch die intentionale Analyse der implikativen Horizonte
der thematischen Seinsgeltungen von selbst aufhebt“59. Die Problematik
„des transzendentalen Seinszusammenhangs von Seiendem überhaupt und
Gegenstand“60 konnte in den Grenzen, die dem phänomenologischen Blick-
feld gesetzt wurden, überhaupt nicht in Erscheinung treten.
Fink zufolge war die einseitige Orientierung des Begriffs des „Seienden“
an dem des „Gegenstandes“ Symptom einer „begrifflichen Unbewegtheit
der ontologischen Fundamentalbegriffe“, eines kompletten „Stillstandes
des Seinsbegriffs“.61 Innerhalb der phänomenologischen Analytik Husserls
mache sich dieser Stillstand in zweifacher Hinsicht bemerkbar. Zum einen sei
„ein Modell des Wissens“ wirksam, das eben auf dem intentionalen „Schema:
Bewusstsein-von“ beruhe, somit eine ontische Erkenntniseinstellung in den
Vordergrund rücke, nach der auch das Wesen als ein „Gegenstand höherer
Ordnung“ aufgefasst werde. Zum anderen hege Husserl einen von Empiris-
mus und Intuitionismus genährten Verdacht gegen den „nachträglichen“
Charakter aller Begrifflichkeit, gegen die „Abkünftigkeit des Begriffes“62
im Verhältnis zur originär gebenden Anschauung. Nach dieser Ansicht sind
unsere Begriffe als fortlaufende „intentionale Modifikationen der Anschau-
ung“ mit einer gewissen „Mittelbarkeit und Phänomenferne“63 behaftet.
Das Ausbleiben einer ontologischen Problemstellung bei Husserl sei letz-
ten Endes „nicht einfach nur das Nichtvorhandensein derselben“, sondern
habe seinen Grund in einer bestimmten ontologischen Naivität, die für die
Beurteilung der gesamten Entwicklung der Phänomenologie weitreichende

58 Ebd., Z-XXVI/9b.
59 Ebd., Z-XXVII/55a.
60 Ebd., Z-XXVII/53b.
61 Ebd., Z-XXVII/6a.
62 Ebd.
63 Ebd., Z-XXVII/59a.

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Folgen habe. So könne sich die „nicht-ontische (ontogonische) Position“,
die die transzendentale Phänomenologie Husserls beziehen wolle, am Ende
als bloßer Schein enthüllen, wenn sie weiterhin „mit einem ontologisch
verstümmelten Seinsbegriff“ operiere.64
„Im letzten Abschnitt des I. Teils der Entwicklung‹s-›“-Schrift65 sollte
gezeigt werden, dass und wie das Fehlen einer geschichtlichen Auseinander-
setzung mit der Antike und das Unterschlagen des sich in ihr meldenden
Problementwurfs in der Phänomenologie Husserls zu einem „Dogmatismus
der Egoität statt zum Problem ens qua verum“66 geführt habe. Die „immense
analytische Arbeit“, die die Phänomenologie Husserls geleistet habe, befand
sich nach Fink in der äußersten Gefahr, zu einer Reflexionsphilosophie
zu erstarren, mit der „der Mensch in sich zurück läuft“67. Die Drohung
eines ihren philosophischen Aufschwung lähmenden Dogmatismus erkennt
Fink darin, dass der in der Phänomenologie – wenn auch nur implizit –
vorhandene „ontologische Entwurf“ stillgelegt wird, dass ihre Analytik „auf
den Boden eines vorgegebenen Begriffs von Seiendem“68 beharrt, dass sich
in ihrer infinitesimalen Zergliederungskunst die grundsätzliche Beweglich-
keit der philosophischen Frage verzettelt, deren eigentlicher Grundcharakter
der der „Vermittlung“ (als eines „In-Bewegung-Bringens“ des Seins- und
Weltverständnisses) sei. Zwar ziehe Husserl selbst aus der gewaltigen Arbeit
zur theoretischen Neubegründung der Philosophie nicht die Konsequenzen,
die zu einer „Metaphysik der Vermittlung“ hinführen würden. Innerhalb
seiner Phänomenologie komme es nicht zu einer expliziten Wiederaufnahme
der Transzendentalienproblematik, zu einer Analyse des inneren Bezugs
von „Ansichsein und Fürunssein“, zu einer Entfaltung des Verhältnisses
von „Wesen und Erscheinung“. Im „Problem der Vermittlung (und des
Mittler-Seins des Menschen)“ deute sich jedoch ein Ausweg an, der die
Phänomenologie aus der „Sackgasse der Egoität“ herausführen und gleich-
zeitig die Gelegenheit bieten könne, dabei auch weiterhin „die Husserlschen
Ansätze fruchtbar zu machen“.69 Die Wesenslehre des Menschen, mit der
uns die Antike beschenkt habe, bestehe in der Auffassung des Menschen als
eines „Weltwesens“, als „Weltmitte“ – in der Anerkennung seiner „Stellung
im Kosmos inmitten des Seienden“, im Wissen um seine einzigartige „Öff-
nung“ zum wahren Seienden. Diese Wesenseinsicht laufe aber Gefahr, den
Menschen „für den Weltgrund (θεῖον) zu halten“. So mache sich eine gewisse

64 Ebd., Z-XXVII/9b.
65 Ebd., Z-XXVII/56b.
66 Ebd.
67 Ebd., Z-XXVII/57b.
68 Fink, „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 71.
69 EFGA 3.4, Z-XXVII/9a.

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Tendenz zu einer „Verabsolutierung des Menschen als eines ‚absoluten,
seinsbildenden Subjekts‘“70 in Husserls Phänomenologie bemerkbar. Die
bedrohlichen politischen und sozialen Ereignisse der Gegenwart bezeugten
eindrucksvoll, wie der Mensch „um sich selbst kreist und dreht – er wirbelt,
von der Tarantel des Hochmuts gestochen“71. In seinen Notizen Ende des
Jahres 1937 und Anfang 1938 ist Fink darum bemüht, den verderblichen
menschlichen Hang zur Selbstüberschätzung dadurch abzuwehren, dass er
seine Auffassung vom Menschen als „Mittler“ ins Feld führt. Aus metaphy-
sischer Sicht sei der Mensch das „Weltwesen“, da er sich als endliches
Wesen in einem Zwischenfeld aufhalte, das „zwischen dem Ansichsein und
dem Fürsichsein alles Seienden (Hegels Begriff des Geistes), […] zwischen
Nichts und Gott (Pascal), zwischen ‚Erde‘ und dem ‚lichten Gott‘, zwischen
Wissen und Nichtwissen (Plato)“72 ausgespannt sei. Menschliche Existenz
verfange sich grundsätzlich „in der Situation des Außersichgegangenseins
des Seienden“. „Der Mensch ist inmitten des Seins und doch außer ihm; er
lebt im Reiche der ‚Erscheinungen‘, der aus ihrem Wesen sich herausgesetzt
habenden Dinge“. Und deshalb ist der Mensch auch der „Seinssucher“73. In
jedem neuen, aus dem Staunen als aktualisiertem Fürsichsein entspringenden
philosophischen Entwurf, in dem die Seinsidee, die Weltidee, die Wahrheits-
idee, die Gottesidee – kurz die Transzendentalien – neu gedacht werden, ist
der Mensch „dynamisch ausgerichtet“ auf das wahre Wissen und auf „das
wahre Sein, das eigentliche Sein“.74 Dieses ist „am meisten a priori“, da
es das „absolut Vorgängige vor aller Erfahrung“ ist; aber es ist zugleich
„eines Wandels fähig“. „Alle Wandlung im Seinsentwurf ist die Erfahrung,
dass das als eigentlich Seiende Vermeinte nicht standhält, dass es nur
Vordergrund, nur ‚Erscheinung‘ ist, nicht Wesen“. Immer wieder werde die
ontologische Erfahrung des Menschen in der Geschichte aufs Spiel gesetzt.
Als „Vernunftwesen“75 sei der Mensch dazu berufen, der Erstarrung der
ontologischen Grundbewegtheit mit Entschiedenheit entgegenzutreten, „die
Seinsidee, die Weltidee, die Wahrheitsidee, die Gottesidee“ „als eigentlicher
Inhalt des menschlichen Geistes“ in Schwingung zu halten. Seine Sonder-
stellung im Kosmos als „fürsichseiendes“ Wesen bedeute „keine reflexive
Vergegenständlichung, kein nachträgliches Resultat“. Sie sei gerade „die
Seinsweise des Menschen, in der die Sprache gründet (ζῷον λόγον ἔχων)“ –

70 Ebd., Z-XXVI/13b.
71 Ebd.
72 Ebd.
73 Ebd., Z-XXVI/32a.
74 Ebd., Z-XXVI/30a-b.
75 Ebd.

Einleitung der Herausgeber II 167

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und in ihr liegt nach Fink „der Möglichkeitsgrund für Kunst – Wissenschaft
– Philosophie – Religion“.76
Die Notizen, die Fink zu dieser Zeit verfasst, deuten darauf hin, wie rasch
sich seine Arbeitspläne und Veröffentlichungsprojekte vermehrten. Nicht
nur hegte er den Gedanken, seinen Dessauer Vortrag aus dem Jahre 1935
zu einem Aufsatz über „Kants transzendentale Frage“ auszugestalten. Im
Zuge des Unterrichts für Dorothy Ott über die Metaphysik des Aristoteles
vertieften sich zudem seine Überlegungen zum „Begriff der Metaphysik“. Im
weiteren Umfeld seiner Bemühungen standen die Schriftprojekte zur „Lehre
vom Weltbegriff“, zur „Bestimmung des Menschen“ und zu „Nietzsches
Metaphysik des Spiels“. Auch eine Fortsetzung der in der „Hütte im Oytal“
begonnenen Meditationen nahm Fink sich sehr zu Herzen.77 Die program-
matisch entworfene Schrift über „Die Entwicklung der Phänomenologie
Edmund Husserls“ gliederte sich somit in ein Arbeitsfeld ein, das über
vielfältige, reichhaltige philosophische Resonanzen verfügte. Wir sind uns
heute darüber im Klaren, dass für Fink „die Idee der phänomenologischen
Philosophie […] keinen Selbstwert“ darstellte, sondern dass er ihr „nur um
der Idee der Philosophie willen“ nahestand. Und diese war für ihn nie „als
Pflicht“, sondern einzig „als ‚φιλία‘ da“.78

VIII. Übergänge

Mit dem Tode Husserls am 27. April 1938 begann für Fink eine neue Lebens-
phase. Sie war von einer andauernden existenziellen Unsicherheit und Unge-
wissheit geprägt. Ronald Bruzina hat diesen Zeitraum ab Frühjahr 1938, als
Husserl unwiderruflich in den „Strom Lethe“79 hinabtauchte und es Fink
schwerfiel, über den plötzlichen Verlust des Meisters, mit dem er seit mehr
als zehn Jahren täglich verkehrt hatte, hinwegzukommen, in dem Kapitel mit
dem durchaus treffenden Titel „The Ending and another Beginning“ bis ins
kleinste Detail geschildert.80 Fink sah sich vor die Aufgabe gestellt, seine
bislang vorwiegend im Zeichen des συμφιλοσοφειν mit Husserl stehende
Lebensführung von Grund auf ändern zu müssen. Gleichzeitig stand das
Fortleben der Phänomenologie Husserls in der Gesinnung und in den Arbei-

76 Ebd., Z-XXVI/42b.
77 Vgl. EFGA 3.3, Z-XXIII/9 und 15; Z-XXV/161b sowie 162b.
78 EFGA 3.4, Z-XXVI/59a.

79 Elisabeth Husserl Rosenberg, „Aufzeichnungen aus Gesprächen mit Edmund Husserl

während seiner letzten Krankheit im Jahre 1938“, in: EF05–75, Bilder Nr. 1504–1511.
80 Ronald Bruzina, Edmund Husserl and Eugen Fink. Beginnings and Ends in Phenomeno‐

logy 1928–1938, New Haven/London 2004; vgl. insbes. S. 68–72.

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ten einer neu heranwachsenden Generation auf dem Spiel. Philosophische
Werke – und Kulturgüter im Allgemeinen – verdanken ihr Fortleben einzig
der Beständigkeit ihrer kritischen Rezeption und der Kontinuität, mit der sie,
bisweilen nur in fragmentarischer Gestalt, überliefert werden. Mit Walter
Benjamin kann man sagen, dass das Leben des Originals – jener erste, schöp-
ferische Vollzug des Gedachten, der alsbald im Ozean der Zeit verblasst –
seine „stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung“81 erstmals in dem
durch Überlieferung und Rezeption ermöglichten Überleben und Weiterbe-
stehen des Geschaffenen erreicht. Fink war fest entschlossen, die ursprüng-
liche Gedankenarbeit Husserls unversehrt zu erhalten und das dem Publikum
bislang noch verborgene, im Nachlass aufbewahrte philosophische Opus
Husserls zu Ruhm und Ehren gelangen zu lassen. „Der ideellen Aufgabe der
Bewährung und Sicherung des Lebenswerkes Ihres Vaters fühle ich mich
verpflichtet und bin jederzeit und unter allen Umständen daran zu arbeiten
gewillt“82, so teilte er es Husserls Sohn Gerhart brieflich mit. Bei der Trau-
erfeier für Husserl am 29. April 1938 hielt Fink die Totenrede und rief sich
„den wachen Enthusiasmus eines unbedingten Denkens, das zutiefst dem
Wesenhaften und Ewigen galt“, in die Erinnerung zurück.83 Wenn auch der
Mensch Husserl „aus der Welt menschlicher Maßstäbe und menschlicher
Ehrung durch den Tod entrückt“ worden sei, so stehe doch „das Werk für
sich und wird bestehen und gewürdigt werden“84. Jan Patočka, der damals
„für ein halbes Jahr die Herausgabe der tschechischen philosophischen Zeit-
schrift Česká Mysl“85 übernommen hatte, gelang es, im letzten Heft, das vor
Ausbruch des Krieges erschien, eine Übersetzung dieser Rede zu veröffent-
lichen. Eine bescheidene Gedenkfeier gab es auch im Cercle linguistique de
Prague; bei dieser Gelegenheit hielten Ludwig Landgrebe und Jan Patočka
eine Ansprache. Bei der Einäscherung Husserls in Freiburg waren neben der
Witwe Malvine Husserl und dem Assistenten Eugen Fink auch die beiden
Schwestern Klara Immisch und Adelgundis Jaegerschmidt anwesend, die die
liebevolle Pflege Husserls während seiner letzten Krankheit übernommen
hatten. Insbesondere Schwester Adelgundis sollte später bei der Rettung des
Nachlasses und bei den ersten Versuchen, ihn ins Ausland zu transportieren,
eine aktive Rolle spielen.86 Von den Professoren der Freiburger Fakultät

81 Walter Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Walter Benjamin Gesammelte Schrif-

ten, Bd. IV.1, hrsg. von Tillman Rexroth, Frankfurt am Main 1991, S. 11.
82 Brief Eugen Finks an Gerhart Husserl vom 16. Oktober 1938, in: EF05–75, Bilder Nr. 381–

383.
83 EFGA 3.3, M-III Grammata, Text Nr. 1.

84 Ebd.

85 Patočka, „Erinnerungen an Husserl“, S. XXVIII.

86 Vgl. Herman Leo Van Breda, „Die Rettung von Husserls Nachlass und die Gründung des

Husserl-Archivs“, in: Husserl-Archiv Leuven. Geschichte des Husserl-Archivs / History of the

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nahmen Gerhard Ritter, Hans Spemann, Georg Stieler und Walter Eucken an
der Trauerfeier teil.87 In dem kleinen Kreis war die Abwesenheit des Husserl-
Nachfolgers auf dem Freiburger Lehrstuhl für Philosophie schmerzlich spür-
bar. „Die alte Fakultät war fast vollzählig da; nur der eine fehlte, der nicht
hätte fehlen dürfen und der ihn doch bei seinem 70. Geburtstag in den Him-
mel gehoben hatte“, wie der Medizinprofessor Spemann anmerkte.88
Im Juli desselben Jahres verfasste Fink einen „Nachruf auf Edmund
Husserl“89, den er zunächst Arthur Liebert, dem Herausgeber der Zeitschrift
Philosophia in Belgrad, in der 1936 der Anfang der Krisis-Arbeit veröffent-
licht worden war, zugehen ließ, jedoch im Dezember wieder zurückforderte.
Aus welchem Grund Fink sich damals dazu entschied, diesen Text – eine
Art philosophisches Epitaph für Husserl – nicht zu veröffentlichen, ist bis
heute unklar. Anlässlich seines eigenen 70. Geburtstages bündelte Fink seine
„phänomenologischen Vorträge und Aufsätze“ unter dem Titel Nähe und
Distanz und schob in die Sammlung auch den „Nachruf“ ein. Er erschien
somit erstmals im Jahre 1976. Die im vorliegenden Teilband veröffentlichten
Notizen belegen die Tatsache, dass Fink an bestimmte Änderungen seines
Textes dachte, vor allem daran, einen in der Erstfassung des „Nachrufes“
stehenden Satz umzuformulieren. Als einen entscheidenden Grundzug der
„sich zeigenden Existenz“ Husserls hob er „das ständige Zurückfragen ins
Ursprüngliche“ hervor; in diesem kündige sich ein neuer „Entwurf von Sein
und Wahrheit“ an. Im Rückgang auf den als „transzendentale Subjektivität“
genannten Urgrund aller Welterfahrung und alles Weltverständnisses bahne
sich eine Neubestimmung von „Sein und Wahrheit“ an, die ihren wesent-
lichen Impuls aus einem „Loslassen des Selbstverständlichen“ (Epoché)
erhalte.90 Nun folgt der Satz, dessen Schlusspartie Fink unbedingt ändern
wollte: „Husserls Denkleidenschaft hat um das Problem der Reduktion
am meisten gekreist, nicht aus einem intellektuellen Raffinement, sondern
aus Lebensinteresse.“91 Die Worte „aus Lebensinteresse“ sollten durch

Husserl-Archives, Dordrecht: Springer, 2007, S. 1–38. Erstveröffentlichung: Husserl et la


Pensée Moderne (= Phaenomenologica 2), La Haye 1959, S. 42–77.
87 Vgl. Bruzina, Edmund Husserl and Eugen Fink, S. 70.

88 Vgl. Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2013,

S. 557. Spemann spielt selbstverständlich auf Heidegger an, der am 8. April 1928 beim fei-
erlichen Zusammentreffen zu Husserls 70. Geburtstag diesem die von ihm herausgegebene
Festschrift, in der u. a. sein Aufsatz „Vom Wesen des Grundes“ enthalten war, überreichte und
eine feierliche Anrede hielt. Vgl. „Festschrift. Edmund Husserls zum 70. Geburtstag gewid-
met“, Ergänzungsband zum Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung,
Halle (Saale): Max Niemeyer 1929.
89 Eugen Fink, „Edmund Husserl † (1859–1938)“, in: ND, S. 75–97.

90 Ebd., S. 87.

91 Ebd., S. 88.

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die Wendung „aus der äußersten Not der Seinsverlassenheit und Seinssu-
che“92 ersetzt werden. Diese vordergründig geringfügige Korrektur gewinnt
an Gewicht, wenn man sie im Lichte der philosophischen Überlegungen
betrachtet, die Fink erst nach Husserls Tod angestellt hat und die in den
Notizen des vorliegenden Teilbandes aufbewahrt sind. „Die Theorie der
Reduktion im ,Nachruf‘“, so erklärt Fink, sei zwar „nur eine Skizze“. Sie
habe jedoch eine besondere Bedeutung „als Ausdruck einer bestimmten
Interpretation, nämlich Epoché und Reduktion als ‚Loslassen‘ und ‚Suchen‘
und somit als ontologische Erfahrung“. Und diese Interpretation stehe
„im Gegensatz zu Husserls methodischem Begriff der Reduktion“, wobei
„Methode“ natürlich nicht im Sinne eines bloßen „Kunstgriffes“ gemeint sei,
aber doch immerhin als „eine Zugangsweise“ aufgefasst werde; und „damit
ist das Loslassen sozusagen auf ein bestimmtes Loslassen hin fixiert und das
Suchen ist schon ein Finden von Bestimmtem“93.
An diesem Beispiel zeigt sich ein weiteres Mal, mit welcher Entschlos-
senheit Fink die mit der Schrift aus dem Jahre 1937 begonnene kritische
Auseinandersetzung mit dem „Grundproblem Edmund Husserls“ fortführen
wollte. Der verhängnisvolle Grundfehler Husserls bestand in seinen Augen
darin, dass er die „eigentlich philosophische Bewegung“ seiner Phänome-
nologie, die nach dem Seienden im Ganzen ausspäht, in die Sackgasse
der „Immanenz-philosophischen Enthüllung einer bestimmten Domäne“94
– der Domäne der Subjektivität – hineingeführt und korrelativ das Erschei-
nungsgeschehen ausschließlich als eine Form des Fürunsseins des Seienden
betrachtet habe. Die von der Phänomenologie Husserls in Gang gesetzte
„Bewegung“ des Denkens sei in Wirklichkeit „nur ein Schritt“, nur ein
Ruck, der „zur Stillstellung führt“.95 Auf dem von Husserl vorgezeichneten
Weg, der von der „natürlichen Einstellung“ in die Sphäre der „absoluten
transzendentalen Subjektivität“ hinüberleitet, sei das „Loslassen“ lediglich
„ein Loslassen des ‚Objektivismus‘“, das „Suchen“ „schon gleich ein Fin-
den, eben das Finden des absoluten Bodens“96 alles Welterfahrens und
Weltverständnisses: der transzendentalen Subjektivität. „Bei Husserl“ wird
„die Subjektivität (als ‚leistende‘) als das eigentliche Seiende proklamiert
– gegenüber den ‚intentionalen Gebilden‘ des objektiv Seienden.“97 Mit
dem „Übergang von der objektivistischen ‚Naivität‘ der natürlichen Einstel-
lung“ und von den im Objektivismus wurzelnden positiven Wissenschaf-

92 EFGA 3.4, Z-XXVI/68a.


93 Ebd., Z-XXIX/44a.
94 Ebd.
95 Ebd., Z-XXVIII/36a.
96 Ebd.
97 Ebd.

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ten „in die reduktiv-ermöglichte Auslegung der ‚leistenden‘ Subjektivität
als ‹des› absoluten Grundes für jedes objektiv-wissenschaftliche Wissen“
sei „nur ein Ruck, eine Wandlung des Begriffs des Seienden und des
Begriffs der Erkenntnis“ vollzogen. Sobald „der Boden der Subjektivität
erreicht“ ist, sei für Husserl kein weiterer ‚Ruck‘ mehr möglich. Die „philo-
sophische Wandlung ist prinzipiell zu Ende“. Was aus ihr hervorsprießt, ist
„eine Unendlichkeit von wissenschaftlichen Forschungsschritten“98 in Form
einer bis ins Kleinste gehenden intentional-analytischen Zerstückelung des
Bewusstseins und seiner konstitutiven Leistungen.
Der immanenz-philosophischen Wendung der reinen Bewusstseinsphä-
nomenologie Husserls setzt Fink seine eigene, aus einer radikalisierenden
Interpretation der Reduktion hervorgehende Konzeption des philosophi-
schen Denkens als ontologischer Erfahrung entgegen. Dem hier auftauchen-
den Schlüsselbegriff der „ontologischen Erfahrung“, mit dem Fink vom
Jahre 1939 an auch ein gleichnamiges Schriftprojekt verbindet, werden wir
in der Folge noch Beachtung schenken. An dieser Stelle sei lediglich betont,
dass das die eigentlich philosophische Bewegung eines „dialektischen“
Befragens der Fundamentalbegriffe von Seiendem und Wahrheit in die Wege
leitende „Loslassen und Suchen des Seienden“ im Zuge einer radikalen
Neufassung der Husserlschen Theorie der Reduktion entstanden ist, die
Fink als „reflexive Epoché und als Zurückleitungsmethode“ bezeichnet. In
einem Gespräch mit Herman Leo Van Breda im Jahre 1939 reklamierte er
diese tiefschürfende Verwandlung der Lehre von der Reduktion übrigens
mit Nachdruck „als ‹seinen› eigenen Besitz“99. „Phänomenologische Reduk-
tion und das Entbehrungsverstehen!? Epoché ein Entzug? Was Naivität
ist, wird in ihr nicht zugänglich, sondern erst nach ihrer Überschreitung.
Phänomenologische Reduktion und κáθαρσις […] und Verwunderung“100,
so fasst Fink sein gewandeltes Verständnis der phänomenologischen Epoché
in nuce zusammen. Folglich versteht er das „Loslassen und Suchen“ der
Philosophie als eine kathartische Bewegung der „Heimsuchung“, als eine
von Sehnsucht ergriffene „Heimkehr“, die in einer tiefgehenden Erschütte-
rung den Menschen aus seiner Weltbefangenheit ent-setzt und im Staunen
das philosophische Problem ent-wirft. In der „großen Sehnsucht“, von der
Nietzsche spricht, erkennt Fink „den philosophischen Ἒρως nach dem
‚Eigentlich-Seienden‘, das Loslassen des Vorgegebenen und das Darüber-
hinaussuchen“101. Husserl, der das Moment des Loslassens vorwiegend als
ein „Außer-Spiel-Setzen“ des objektivistischen Dogmatismus der positiven

98 Ebd.
99 Ebd., Z-XXVI/100a.
100 Ebd., Z-XXVI/44a.
101 Ebd., Z-XXVI/43b.

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Wissenschaften auffasse, gelinge es nicht, bis zu der Sphäre vorzudringen,
die „über die Entdeckung einer bislang verdeckten Dimension des Seienden“
– der leistenden transzendentalen Subjektivität – hinausreicht. Im Finden
des „absoluten Bodens“ sei er stehengeblieben; an dieser Stelle halte die
von seiner Phänomenologie in die Wege geleitete Denkbewegung inne –
und zwar deshalb, weil Husserl sich nicht „die ‚ontologische Dialektik‘“ zu
eigen gemacht, sondern im Ausgang „von einem dogmatischen und vulgären
Begriff von ‚absolut‘“ „die Subjektivität verabsolutiert“ habe.102
Besonders aufschlussreich für die Richtung, die Finks Philosophieren
nach dem Tode Husserls genommen hat, sind seine Arbeits- und Veröffentli-
chungspläne aus dieser Zeit.103 Neben der Fortsetzung von „Die Entwicklung
der Phänomenologie Edmund Husserls“ stand an erster Stelle auf der Liste
die Veröffentlichung des heute leider verschollenen „Zeitbuches“: „Edmund
Husserls Phänomenologische Analytik der Zeit – hrsg. von Eugen Fink“104.
Dann folgte eine „Mosaik“ genannte Schrift – vermutlich eine Auswahl
der philosophischen Hauptthesen, die Fink seit Ende der 1920er Jahre in
zahlreichen Notizmappen gesammelt hatte105 – sowie die in den Notizen
der Mappe V-II skizzenhaft umrissene Schrift zu „Welt und Weltbegriff“.
In diesem Zusammenhang soll zudem darauf hingewiesen werden, dass die
Mappe Z-XXV den Entwurf eines vermutlich um diese Zeit an Heidegger
adressierten Briefes enthält, in dem Fink Heidegger bittet, „den beigelegten
Abschnitt über Ihren Weltbegriff einer Durchsicht zu unterziehen, die es
mir möglich machen würde, ein krasses Mißverständnis zu vermeiden“106.
Weiterhin kamen die „Hegel-Interpretationen“ in Betracht – nach aller Wahr-
scheinlichkeit die Notizen des Heftes Z-XXIV: „E. Fink, Interpretationen
von Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ 1938“ sowie die diesem Heft
zugehörige Beilage „Versuch einer Auslegung von Hegels ‚Phänomenologie
des Geistes‘“. Mit den „Nietzsche-Interpretationen“ rückte erneut der Begriff
des „Spiels“ in den Vordergrund der philosophischen Bemühungen Finks.
Es wurde bereits erwähnt, dass Finks Auffassung der Philosophie als einer
„Selbstbemächtigung des Lebens“ in dem Grundgedanken wurzelte, das
Wesen des Lebens sei das Spiel: „das spielende Sein, ὁ θεός παίζων“, wie er
notiert. Das Projekt über „Aristoteles und die ‚Transzendentalien‘“ war wohl
als literarische Ausarbeitung jener Gedanken gedacht, die Fink während

102 Ebd., Z-XXVIII/36a.


103 Vgl. ebd., Z-XXVI/38a.
104 Ebd., Z-XXVI/53a.

105 Vgl. EFGA 3.1, M-II (aus den Jahren 1929–1935), S. 415–431; EFGA 3.2, Z-XV (1930–

1935), S. 269–316; EFGA 3.3, OH-I („Mosaik I“ von 1934), OH-IV („Mosaik II“ von 1935)
und Z-XXV (1937–1938) sowie EFGA 3.4., Z-XXVI (1937/38–1949).
106 EFGA 3.3, Z-XXV/62.

Einleitung der Herausgeber II 173

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des Privatunterrichtes von Dorothy Ott im Herbst 1936 über die Metaphysik
des Aristoteles verfolgt hatte.107 Weitere Desiderata auf Finks Liste sind:
„Bestimmung des Menschen: Mittler“ und „Wissen und Geheimnis“. Gele-
gentlich wird auch eine Arbeit über „Sinn-identität und Seins-identität“
erwähnt; vermutlich handelte es sich dabei um eine Fortführung der Übungen
zur Laut- und Schriftsprache als Medium der Objektivierung des Sinnes und
zur Heterogenität der Sinnesfelder, die Fink während des Privatunterrichts
von Charles Morris aus Chicago abgehalten hatte. Und das Schriftstück
mit der Aufschrift „Husserls nachgelassenes Werk“ deutet auf seine nicht
ablassenden Bemühungen hin, nach Husserls Tod dessen philosophisches
Erbe zu pflegen und die phänomenologische Tradition im Andenken ihres
Begründers am Leben zu erhalten.
Mit dem Eintreffen von Pater Herman Leo Van Breda in Freiburg am
15. August 1938 vollzog sich jene schicksalhafte Wende, die zur Rettung des
Nachlasses von Edmund Husserl und im Dezember 1938 zur offiziellen
Gründung des Husserl-Archivs an der Universität Leuven geführt hat. Der
junge Lizenziat der Philosophie war nach Freiburg gereist, um im Rahmen
seiner bevorstehenden Promotion über Husserls Begriff der phänomenolo-
gischen Reduktion die nachgelassenen Manuskripte eingehend zu studieren
und zu inventarisieren. In seinem Bericht „Die Rettung von Husserls Nach-
lass und die Gründung des Husserl-Archivs“108 hat Van Breda ausführlich
dargelegt, wie er den Plan fasste, Husserls nachgelassenes Werk zu veröf-
fentlichen, und sich daraufhin energisch für die Errichtung einer internatio-
nalen Husserl-Forschungsstelle am Philosophischen Institut der Leuvener
Universität einsetzte. Zum Gelingen dieses keineswegs risikofreien Unter-
nehmens lieferten Malvine Husserl, Ludwig Landgrebe und Eugen Fink
einen entscheidenden Beitrag. Nachdem zuvor „mit Finks bereitwilliger
Hilfe de[r] Entwurf eines Vertrages zwischen der Familie Husserl und dem
Leuvener Philosophischen Institut“109 redigiert worden war, hatten Van
Breda, Fink und Landgrebe am 6. September 1938 „eine lange Besprechung
zu dreien, deren Gegenstand vor allem ‹die› eventuelle Mitarbeit bei der
Leuvener Institution war“110. Seine „Bereitschaft zur Übersiedlung nach
Leuven und zur Mitarbeit an der Erschließung des Husserl-Nachlasses“ teilte
Fink in einer offiziellen Erklärung mit, die Ende November 1938 in Leuven
eintraf.111 Zu diesem Zeitpunkt dürften auch die in der Mappe Z-XXVI des

107 Vgl. ebd., Z-XXI.


108 Vgl. Van Breda, „Die Rettung von Husserls Nachlass und die Gründung des Husserl-
Archivs“, in: Geschichte des Husserl-Archivs, Dordrecht 2007.
109 Ebd., S. 30.

110 Ebd., S. 14.

111 Ebd., S. 30f.

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vorliegenden 4. Teilbandes der Werkstatt enthaltenen Notizen niederge-
schrieben worden sein, in denen Fink unter der Aufschrift „Bedingungen für
Louvain“ die Themen auflistet, die möglicherweise für die an der Leuvener
Universität abzuhaltenden Kurse in Frage kämen: „1. Hegels ‚Phänomeno-
logie des Geistes‘, 2. Kants ‚Ideenlehre‘, 3. Aristoteles‘ ‚Metaphysik‘,
4. Husserls Phänomenologie, 5. Plato: ‚Phaidros‘, ‚Sophistes‘, ‚Timaios‘,
‚Parmenides‘, ‚Staat‘, usw.“112. Diese Auswahl ist durchaus repräsentativ für
die Schwerpunkte, die Fink in seinem anhaltenden Gespräch mit der philo-
sophischen Tradition setzte, das durch die Fülle der in dem vorliegenden 3.
und 4. Teilband angesammelten Arbeitsnotizen eindrucksvoll belegt wird.
Im Spätsommer und Herbst 1938, während er sich persönlich für die
Verwahrung und künftige Erschließung von Husserls Nachlass engagierte,
arbeitete Fink gleichzeitig an einer Schrift, deren Anfangsstück im Januar
1939 unter dem Titel „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“
in der Revue internationale de Philosophie erschien.113 An Jan Patočka, der
in Prag eine Husserl-Bibliografie für das dem Andenken Husserls gewidmete
Sonderheft vorbereitete, schrieb Fink am 28. Oktober, dass „sein eigener
Artikel auch noch nicht abgeliefert“114 worden sei – sein „Rezept“ zum Ertra-
gen der „stürmischen Gegenwart“ laute „λάθε βιώσας!“115. Am 1. Oktober
1938, nach dem Diktat des sogenannten Münchener Abkommens vom
30. September, war die Wehrmacht in das Sudetenland einmarschiert. Auf
die Reichskristallnacht vom 9. November folgte dann am 15. März 1939 die
Invasion und Annexion der „Rest-Tschechei“, mit der sie als „Protektorat
Böhmen und Mähren“ der Gebietshoheit des Deutschen Reiches unterstellt
wurde. Wie Fink seine neue Arbeit trotz der angespannten Lage kurz vor
Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bewältigen konnte, ist heute schwer zu
rekonstruieren. Vermutlich wurde sie rasch hingeschrieben; bereits in der
zweiten Hälfte des Jahres 1938 lag sie als eine abgeschlossene Leistung vor.
Vieles weist darauf hin, dass bei ihrer Entstehung die Schrift „Die Entwick-
lung der Phänomenologie Edmund Husserls“ aus dem Jahre 1937 Pate gestan-
den hat. In einer Anmerkung zur Erstveröffentlichung des Textes deutet Fink
selbst darauf hin, dass „die nachstehenden Ausführungen das Anfangsstück
einer gleichnamigen Schrift ‹bilden›. Der zur Verfügung stehende Druck-
raum zwang hier zur Beschränkung auf die Erörterung des Ansatzes des

112 EFGA 3.4, Z-XXVI/36a.


113 Fink, „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“, in: Studien, S. 179–223.
114 Eugen Finks Brief an Jan Patočka vom 28. Oktober 1938, in: Fink, Patočka, Briefe und

Dokumente 1933–1977, S. 44.


115 „Lebe im Geheimnis“ oder „im Verborgenen“. Vgl. dazu EFGA 3.3, OH-III und Beschrei-

bung.

Einleitung der Herausgeber II 175

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.
phänomenologischen Problems“116. Gleich zu Beginn des Textes bezeichnet
er das Ziel, das die neue Abhandlung erfüllen sollte, als „eine bedingte Inter-
pretation“ der Phänomenologie Husserls – folglich mit genau denselben
Worten, mit denen er die Schrift von 1937 abgeschlossen hatte. Die „Über-
schneidung“ zwischen beiden Texten wird durch eine Fülle von Materialien
aus dem vorliegenden 4. Teilband der Werkstatt bestätigt. Finks Arbeitsno-
tizen zu seiner Schrift „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“
sind vorwiegend in der Reihe A des Notizheftes Z-XXVI gruppiert. Ein
detaillierter Entwurf ihres Inhalts findet sich in der Mappe Z-XXVI auf den
Notizseiten A/4a und A/7a. Vergleicht man diese Inhaltsübersicht sorgfältig
mit den Topoi, die der Reihe nach in der Schrift „Die Entwicklung der Phä-
nomenologie Edmund Husserls“ behandelt werden sollten,117 zeigt sich, dass
die Arbeit aus dem Jahre 1939 nicht etwa nur eine Fortführung „wichtiger
Gedanken“118 darstellt, die bereits in dem Text von 1937 ersichtlich wurden,
sondern auf das ursprüngliche Projekt zurückgreift, von dem das im Dezem-
ber 1937 fertiggestellte Typoskript lediglich die Anfangspartie bildete. So
sind etwa die Abschnitte A (Das Seiende als Phänomen) und B (Die Idee
einer intentionalen Analytik)119 aus der Arbeit von 1939 die Ausarbeitung
jener Thematik, die im II. und im III. Teil der Schrift „Die Entwicklung der
Phänomenologie Edmund Husserls“ unter den Titeln „(Der Ansatz der Phä-
nomenologie)“ und „(Intentionale Explikation, Intentionalität und Selbstge-
bung)“120 behandelt werden sollte. Die weiteren, von Fink in einem „konsti-
tutiven Aufriß der phänomenologischen Problematik“ angekündigten
Abschnitte gelangten nicht zur literarischen Reife. Auch die Abhandlung
„Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“ blieb somit Frag-
ment.
In seiner neuen Abhandlung weist Fink die geläufige Auffassung des
„Staunens“ als einer zeitweiligen, flüchtigen „Stimmung“, als eines vorüber-
gehenden Gefühlszustandes zurück; das Staunen sei vielmehr „ursprüng-
liche Theorie“. Wie bereits in „Die Entwicklung der Phänomenologie
Edmund Husserls“ hervorgehoben, wird in der Erfahrung der ent-setzenden
Verwunderung über das Seiende im Ganzen erstmals das philosophische
„Grundproblem“ entworfen. Dieses Grundproblem ist eine sich ständig
radikalisierende Grundfrage, in der sich eine neue Dimension des Wissens

116 Fink, „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 179. Vgl. die entspre-
chende Notiz in EFGA 3.4, Z-XXVII/A/4b.
117 Vgl. EFGA 3.3, Z-XXV/36a–b, 40b, 191b; V–III insb. 8–18; Z-XXVI/38a; EFGA 3.4,

Z-XXVII, insb. 53a-66b, A/10a, 11a und 12a.


118 Fink, „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 45, Anm. Finks in der

Fußnote.
119 Vgl. Fink, „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 185.

120 Vgl. EFGA 3.4, Z-XXVII/65b und 66a.

176 Einleitung der Herausgeber II

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bildet. Das Problem „im philosophischen Sinne“ ist somit keineswegs
nur ein ohne weiteres nennbarer und formulierbarer „Wissensausstand“
auf einer bereits zuvor eingeschlagenen Erkenntnisbahn. Im einzigartigen
Widerfahrnis des Staunens blitzt vielmehr auf einmal die „Ahnung einer
eigentlicheren Weise des Wissens vom Seienden“ auf.121 „Im Staunen offen-
bart sich das Seiende in einer neuen ursprünglichen Weise, die die Ruhe der
stillstehenden Seinsauslegung unterbricht und die ‚Jagd nach dem Seienden‘
einleitet.“ Dabei erfährt der Mensch, wie „seine Wissenstraditionen, seine
Vorkenntnisse von Welt und Dingen zerfallen und er in die Not einer neuen
Auseinandersetzung mit dem Seienden gerät“.122 Die aufblitzende „Ahnung
des seiendsten Seienden“ ist eine Ahnung in der Weise seiner „Entbehrung“:
„[D]iese Entbehrung wird im Staunen zur erfahrenden Begegnung. Loslas-
sen des Geltenden und Entwurf des neuen Begriffs von ‚Seiendes‘ und
‚Wahrheit‘“, so notiert sich Fink.123 Die Entfaltung der staunenden Frage
führt zu einem neuerlichen „Ringen um die Grundbegriffe wie ‚Sein‘,
‚Erscheinung‘ und dergleichen“ und leitet somit einen neuen „Entwurf des
Sinnes von ‚Sein‘ und ‚Wahrheit‘“ in die Wege. Es ist bemerkenswert,
dass Fink für seine Beschreibung dieses Vorgangs fast dieselben Worte
wählt, die er in seinem „Nachruf“ schon einmal verwendet hatte. Aber er
fügt zugleich ein wichtiges neues Element hinzu: Die Philosophie steigt
nicht aus der kleinen und begrenzten Verwunderlichkeit von diesem oder
jenem Merkwürdigen auf, sondern aus der „Wunderlichkeit des Ganzen des
Seienden“124. Sie stammt „aus der universalen, aus der Welt-Verwunderung“.
Ihre „gänzliche, allumfangende Verwunderung“ greift über „das Seiende als
bestimmtes seiner mannigfaltigen Bereiche“ hinaus, transzendiert somit die
„Binnenstrukturen der Welt“.125 Das alle Gebiete, Stücke und Ganzheiten von
Gebieten „einbegreifend-umfangende All dessen, was ‚ist‘“, dieser somit
„über-regionale“ Begriff von Welt ist gerade der „kosmologische“, der nach
Fink „eine Aufgabe der Metaphysik bezeichnet“. Mit der Einführung dieses
„kosmologischen Weltbegriffes“ gibt er sich zugleich den Einfallswinkel vor,
von dem ausgehend er an Husserls Phänomenologie die prinzipielle Frage
richten kann: „Was für eine irgendwie auf das Ganze des Seienden gehende
Verwunderung liegt der Phänomenologie zugrunde, so dass sie sich zu einer
Wissenschaft von der Subjektivität entfaltet?“126 Es ist also die Art und
Weise, in der sich das Seinsproblem, also Metaphysik, in Husserls Denken
entfaltet – nämlich so, „dass dabei das ‚Bewusstsein‘ ins Thema kommt“ –,

121 Fink, „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 182.


122 Ebd., S. 184.
123 EFGA 3.4, Z-XXVI/82a.
124 Fink, „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 187.
125 Ebd.
126 Ebd., S. 189.

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die nach Fink von ausschlaggebender Bedeutung ist für das Verständnis des
Sinnes seiner Phänomenologie.
Nach dem Seienden fragt Husserl im Zuge der Entfaltung einer intentio-
nalen Analytik des Bewusstseins. Es sind der Gedanke einer „ursprünglichen
Seinsnähe“ und „die Tendenz auf Ursprünglichkeit“, die Husserls „Erkennt-
nisleidenschaft“ antreiben und die Suche nach dem Seienden bestimmen,
auf der er sich von den Ideen der „Evidenz“ und der „Unmittelbarkeit“
leiten lässt. Indem er alle dogmatische Mittelbarkeit, jede Form vorgängi-
ger Ausgelegtheit des Seienden ablehnt, ist Husserl darum bemüht, die
verschüttete Urstiftung unserer Habitualitäten zutage zu fördern und die
durch genetische Sinnschichtung vielfach verdeckte und überlagerte „Unmit-
telbarkeit“ wieder herzustellen, d. h. die ursprünglichen Zugänge zum Sei-
enden wiederzugewinnen. Wenn wir „inmitten des Seienden im Gefängnis
unserer Gewohnheiten“127 eingesperrt sind und ständig „im Modus der
Vergessenheit der ursprünglichen Seinserfahrungen“128 dahinleben, ist es
die Aufgabe einer „Zurückwendung des philosophischen Denkens“129, die
konstitutive „Seinsferne des Menschen“, die einen „Verlust der Ursprüng-
lichkeit und Unmittelbarkeit des Seienden“ nach sich zieht, zu beheben. In
dem Gedanken einer radikalen Zurückwendung des menschlichen Denkens
erblickt Fink „das Grundmotiv der phänomenologischen Konzeption der
Idee der Philosophie“. Husserls genuin philosophische Problemstellung
ist keine, die auf dem Boden einer übernommenen, etwa als Bildungstra-
dition vorhandenen Vorstellung vom Wesen der Philosophie aufruht. In
eins mit der Ansetzung des Grundproblems vollzieht sich auch die „Selbst-
aufstellung des phänomenologischen Philosophiebegriffs“. Damit nimmt
Fink eine Thematik vorweg, auf die er im Jahre 1946 in seiner Freiburger
Antrittsvorlesung „Die Voraussetzung der Philosophie“130 ausführlicher ein-
gehen wird. Im Rahmen einer begrifflichen Besinnung auf das, was bereits
in der „problembildenden Verwunderung“ liegt, analysiert Fink Husserls
Konzeption einer phänomenologischen Philosophie. Gerade „das fassungs-
lose Staunen über ‹die› als Mittelbarkeit der verschütteten Traditionalität
erkannte Seinsferne und Seinsvergessenheit des Menschen bringt sich in
der Phänomenologie Husserls auf den Begriff in der Konzeption eines
Urstandes der menschlichen Seinszugänge, genauer in der Ansetzung der

127 Ebd., S. 193.


128 Ebd., S. 192.
129 Ebd., S. 193.

130 Finks Freiburger Antrittsvorlesung wurde am 26. Juli 1946 unter dem Titel „Die Voraus-

setzung der Philosophie“ gehalten. Ihre Veröffentlichung ist samt den dazugehörigen Mate-
rialien und Notizen aus dem Fink-Nachlass für den EFGA 4 (Vom Wesen der Philosophie)
vorgesehen.

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Möglichkeit einer Wiederherstellung dieses Urstandes“. „Es muss möglich
sein, zurückzufragen und zurückzugehen auf das anfängliche Wissen, das
in den verschütteten Traditionen vergessen ist, eben auf das unmittelbare
Wissen vom Seienden, aus dem die Traditionen sich, obzwar ständig ver-
dunkelnd, herleiten.“131 „Die Uranfänge des Wissens müssen der Nacht der
Vergessenheit entrissen werden können; Wahrheit als ‚Unvergessenheit‘
muss in der Macht des menschlichen Geistes liegen.“132 Damit ist die
Richtung des phänomenologischen Erkenntniswillens deutlich angezeigt.
Der phänomenologische Entwurf einer wissenschaftlichen Philosophie wird
geleitet „von der Idee eines theoretischen Urstandes“.
Mit dem Fazit Finks, dass mit der Phänomenologie „der Mensch wieder
in die Grundstellung seiner Existenz, in die wahrhaft wissende Nähe zum
Seienden einzieht“, tritt ein Motiv an die Oberfläche, das in „Die Entwick-
lung der Phänomenologie Edmund Husserls“ als solches keine Erwähnung
gefunden hatte. Das „existenzielle Pathos“ eines philosophischen Anfänger-
tums, der Enthusiasmus, dass „alles Wesentliche immer wieder zu entde-
cken“, „eine Renaissance, eine Erneuerung des Wissens immer möglich“ sei,
feuerte einen neuartigen „metaphysischen Dialog des menschlichen Geistes
mit sich selbst“ an, der hohe Wellen schlug. In einer bereits Ende der 1920er
Jahre begonnenen Reihe von Überlegungen über „die Differenz der Hus-
serlschen und Heideggerschen Philosophie“ stellt Fink sich die Frage, ob
dieser urstiftende Gestus der Philosophie nicht die gemeinsame phänome-
nologische Basis ihrer beiderseitigen Bemühungen bilde. Zweifellos zeitige
der Gedanke, in einem „Urstand der eigentlichen Seinsnähe und Seinsun-
mittelbarkeit“ festen Fuß zu fassen, sehr unterschiedliche philosophische
Forschungsergebnisse. Während Husserl sich das Ziel einer umfassenden
phänomenologischen Erkenntniskritik setze und mit seiner transzendentalen
Phänomenologie die Idee einer Philosophie als „strenger Wissenschaft“ ver-
wirklichen wolle, gehe Heideggers Fundamentalontologie der Seinsfrage auf
den Grund; sein philosophisches Denken münde in eine an-denkende Besin-
nung auf die Geschichte des Seyns. Dennoch kam in diesen Bemühungen
nach Fink eine „doppelte Prüfung des Seienden“ zum Austrag, mit der die
phänomenologische Philosophie sich als eine auf die Anfänge alles Wissens
von Seiendem zurückfragende „Grundwissenschaft“ profilierte: einmal als
Prüfung des sich als „seiend“ Ausgebenden, des Uneigentlichen, Unaufge-
klärten – des uns zunächst in „Selbstverständlichkeit“ Geltenden; dann aber
auch als Prüfung des Begriffs des „Seienden“, den wir in dieser ersten Prü-
fung selbst verwenden, als Prüfung der Sinnhorizonte, die wir in diesem
Urbegriff mitdenken. Die phänomenologische Rückfrage auf die Wissens-

131 Fink, „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 195.


132 Ebd.

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.
anfänge suche somit Ursprünglichkeit des Wissens vom Seienden,
„ursprüngliche Wahrheit“. „Sie hat gerade nicht das Seiende vorentschieden
voraus, sondern will das Wissen gerade in seinem Ringen mit dem Seienden
in Sicht bringen.“ In der vorgängigen Ergründung von Sein und Wissen
behaupte sie sich als „Grundwissenschaft“. Als Fink am 13. November 1935
Heideggers Vortrag „Vom Ursprung des Kunstwerks“ beiwohnt, notiert er
sich: „Nach meiner Ansicht ist das Wesentliche von ‚Ursprung des Kunst-
werks‘ = das Problem des Verhältnisses von ‚Sein‘ und ‚Wahrheit‘ – oder
‚Ansichsein‘ und ‚Fürunssein‘“133, das heißt eine erneute Prüfung ihres in
einem ständigen geschichtlichen Wandel sich befindenden Verhältnisses.
Im philosophischen Ringen mit dem Seienden, mit den Grundbegriffen
von „Sein“, „Wahrheit“, „Welt“ kommt nach Fink „die wahre Freiheit des
menschlichen Geistes, die Selbstbestimmung zur wissenden Hinnahme des-
sen, was jenseits aller Menschenmacht ist“, zum Vorschein.134 Philosophie
als „Gespräch der Seele über das Sein“135 ist wesentlich „Dialektik“ im Sinne
eines „Gesprächs ‹über› Ur-Begriffe“136. „Das Wesen dieser spekulativen
Besinnung“, so notiert er sich, „ist der Entwurf des Seins des Seienden im
Dialog des menschlichen Geistes mit sich selbst. Der ontologische Entwurf
aber ist erleuchtet durch die ‚Ahnung der Idee‘ des ‚am meisten Seienden‘.
Das Entbehrungswissen vom ‚am meisten Seienden‘ als die Not des endli-
chen Geistes, die ihn über das zunächst gegebene Seiende als die Erschei-
nung ‹hinaustreibt›.“137 Als „Grundwissenschaft“ ist die Philosophie keine
Wissenschaft „unter den Wissenschaften“, auch nicht „prima scientia inter
pares“. Als „‚Verursprünglichung‘ alles Wissens“ ist sie eine „Lebensbewe-
gung des Menschen“, die „nicht als eine nachträgliche Zusammenfassung
des menschlichen Wissens ‹die› Form einer ‚Methodologie der positiven
Wissenschaften‘“ erhält, sondern deren Hauptziel gerade „die vorgängige
Ergründung des Zusammenhangs von Sein und Wissen“138 ist, die allem
Wissen, das überhaupt auf dem Boden der Binnenweltlichkeit erwächst, vor-
angeht. Einer solchen „vorgängigen Ergründung“ des Zusammenhangs von
Sein und Wissen begegneten wir schon in der Antike in dem berühmten Frag-
ment des Parmenides „τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν καὶ εἶναι“139. In diesem Grund-Satz
der abendländischen Philosophie drücke sich „eine Art ‚ὁμοίωσις‘ zwischen

133 EFGA 3.4, Z-MH-I/2b.


134 Fink, „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 184.
135 EFGA 3.4, Z-XXIX/111b.

136 Ebd., Z-XXIX/127a.

137 Ebd., Z-XXIX/224a.

138 Fink, „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 197.

139 Parmenides, Fragment B 3: „denn dasselbe ist Denken und Sein“. Diels, Kranz, Die Frag-

mente der Vorsokratiker, Erster Band, Weidmann, Zürich 2004, S. 231.

180 Einleitung der Herausgeber II

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Sein und Wissen“140 aus; er dürfe allerdings nicht als „Satz der Entsprechung
von Sein und Erkennen“ gedeutet werden, sondern enthalte vielmehr „die
Interpretation des Seins des Seienden als νοεῖν“, vertrete also „die These
von der ‚Nοῦς‘-Natur des Seienden“141. Mit der in der vorsokratischen
Philosophie auftauchenden These von der „Intelligibilität des Seienden“
vollzieht sich nach Fink ein erster Ruck in „der Bewegung des Seinsbegriffs“,
d. i. in der Bewegung der „Seinsinterpretation“ als „Auslegung des Füruns-
seienden“. „Die Idee des Seienden an sich“ ist ihrerseits „die treibende Idee
des menschlichen Geistes, die seine ‚Transzendenz‘, sein Selbstübersteigen
anwirft und treibt“142. Mit der Frage nach dem „Fürunssein“ tritt das Problem
des transzendentalen Bezugs von ens und verum auf den Plan. Die Frage
nach dem „Ansichsein“ wagt ihrerseits einen Vorstoß in das „Geheimnis als
Wesen des Seienden“.143 Als „Lichtung“ des für uns Seienden ist die Wahr-
heit nämlich bezogen auf die „ursprüngliche Verborgenheit des Seienden
(Φύσις φιλεῖ κρύπτεσθαι)“144; sie ist eine endliche „Helle inmitten des sich
verbergenden Seienden im Ganzen, inmitten der ‚Weltnacht‘“145. Die in der
Endlichkeit des menschlichen Wissens sich offenbarende Un-Verborgenheit
sei allerdings die „endliche Teilhabe“ an einer unendlichen „Helle“ bzw. eine
„ὁμοίωσις“ mit der Unendlichkeit des summum ens, dessen „totale Lichtung“
ein undurchdringliches „Geheimnis“ bleibe.
Mit dem Problementwurf der Phänomenologie, mit der „Ansetzung
des intentional verstandenen originären Bewusstseins als des wahrhaftigen
Seinszugangs“, erhält das Seins- und Wahrheitsproblem die Gestalt einer
„intentionalen Analytik“. Die „Phänomenalität des Seienden“ wird zum
endgültigen „Horizont aller Entscheidungen über ein ‚Ansichsein‘ und die
Möglichkeit eines darauf bezogenen Wissens“.146 Besonders bemerkenswert
ist in Finks Augen die Tatsache, dass Husserls philosophische Frage „nach
dem ursprünglichen Wissen“ „in ‹einer› reflexiven Besinnung auf intentio-
nale Sinnmomente des zunächst gegebenen“, nicht-ursprünglichen und vor
allem außer-philosophischen Wissens zum Tragen kommt.147 Die Idee einer
intentionalen Analytik des Bewusstseins erwächst aus der Grundfrage nach
der phänomenologischen „Selbstgebung“ des Seienden. Sie macht es sich
zur Aufgabe, die ursprüngliche, in allem objektiven Weltwissen anonym

140 EFGA 3.4, Z-XXIX/132b.


141 Ebd., Z-XXIX/132b.
142 Ebd., Z-XXIX/112b.

143 Ebd., Z-XXIX/110a.

144 Ebd., Z-XXIX/131a. Heraklit, Fragment B 123: „Die Natur (das Wesen) liebt es sich zu

verbergen“. Diels, Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, I. Band, a.a.O., S. 178.
145 EFGA 3.4, Z-XXIX/110a.

146 Fink, „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 201.

147 Ebd., S. 202.

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fungierende Intentionalität bzw. die in ihrem „Leisten“ zur Entfaltung kom-
mende intentionale Sinn-Gebung und Sinn-Stiftung ans Licht zu bringen.
Seine Überlegungen zum „Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“
schließt Fink vorläufig ab mit einem Hinweis auf die noch offen bleibende
Frage nach dem „Sein“ der Intentionalität – ein in seinen Augen „beunruhi-
gendes Problem, das über den bisher charakterisierten Ansatz der phänome-
nologischen Grundfrage hinaustreibt“.148 Von großem Interesse sind unter
den zahlreichen, in der Mappe Z-XXVI gesammelten Notizen jene, die uns
Auskunft geben über die Gedanken, mit denen Fink sich trug, um seine
Abhandlung zu einem Abschluss zu bringen. Es sei das Verdienst der von
Husserl begründeten phänomenologischen Transzendentalphilosophie, ein
radikales „Hineinfragen in den Bezug von Sein und Wahrsein“ in die Wege
geleitet zu haben. Bewunderungswürdig sei die Hartnäckigkeit, mit der
sie „im Kampf gegen eine mundane (d. h. eigentlich: naturale) Selbstapper-
zeption“ die „nicht-naturale Seinsart des Menschen“ verteidigt habe. Es
sei die Frucht ihrer intentional-analytischen Aufweisungen, „das Problem
der nicht-dingkategorialen Seinsart des Subjektes“ aufgeworfen, auf sein
„Immervorausgesetztsein“ bestanden und den „Widersinn einer subjektlosen
Welt“ herausgestellt zu haben. Die „gegen das ‚Fungieren‘ blinde Einstellung
des Menschen“, so Fink, hat die transzendentale Phänomenologie als eine
„abstrakte“, „einheitsbenommene“ Haltung entlarvt und ohne Vorbehalt die
„Intelligibilität des Seienden, seine ‚Natur‘ für das Wissen“ verteidigt. Das
„Problem der Phänomenologie“ dürfe jedoch nicht auf „die Grundfrage“
beschränkt werden, die sich im Zuge der intentionalen Analytik herausgebil-
det habe. Zu ihrem „Problem“-Gehalt gehöre auch das „Problematische“,
die „Krisis“, die sie allererst auf den Plan gerufen habe. Denn in ihrem
„Dogmatismus der Egoität“, in der „anthropologischen Verabsolutierung des
endlichen Subjekts“, in der Auffassung der Konstitution als „Erschaffung
des Seienden“ liege zugleich die Gefahr, dass sie das eigentliche Wesen
des Menschen als „Mittler“ verkenne – ihn zu Unrecht zum „Weltschöpfer“
erkläre. In diesen und vielen anderen Bemerkungen Finks drückt sich seine
fundamentale Intention aus, die Phänomenologie in das Ganze des philoso-
phischen Fragens hineinzustellen, um „die philosophischen Motive der Hus-
serlschen Phänomenologie“149 zum Zweck eines „Wiederingangbringens der
Philosophie in der Phänomenologie“150 in aller Schärfe herauszuarbeiten.
Im selben Heft der Revue internationale de Philosophie, in dem neben
seinem Beitrag auch die Aufsätze von Ludwig Landgrebe, Antonio Banfi,
Gaston Berger, Hendrik Jan Pos, Jean Héring und Jan Patočka veröffentlicht

148 Ebd., S. 223.


149 Vgl. EFGA 3.4, Z-XXVII/A/8a.
150 Ebd., Z-XXVII/64b.

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wurden, gab Fink auf Wunsch des Herausgebers Husserls Text „Die Frage
nach dem Ursprung der Geometrie als intentional-historisches Problem“
heraus.151 In einem kurzen Vorwort erläutert er die genaueren Umstände, in
denen dieser Text im Zusammenhang der Arbeiten Husserls für die Krisis-
Schrift entstanden ist. Zugleich bemerkt er, dass „die allgemeine Problema-
tik, in die das Manuskript eingestellt ist, im Manuskript selbst nicht objek-
tiviert ist“152. Diese allgemeinere Fragestellung könne nur „aus der Krisis“-
Arbeit entnommen werden. Sie bestehe in der „Forderung nach einer
wissenschaftlichen Philosophie“ und „nach einer Neubegründung der Phi-
losophie“.153 In einer kritischen „Auseinandersetzung mit der Tradition der
objektiven Wissenschaft“ wolle Husserl sich den „Raum für einen wirklichen
Neuanfang der Philosophie und einen neuen Seinsbegriff“ schaffen. Der
Ausgangspunkt wird ihm dabei, so Fink, durch die Situation geboten, die er
„als die Krisis der europäischen Wissenschaften“ bezeichnet, nämlich durch
„die Undurchsichtigkeit der Fundamente und Grundlagen, auf denen die
gewaltigen Erkenntnisbauten der objektiven Wissenschaften beruhen“.
Gerade diese kritische Lage fordere dazu auf, „die Wissenschaften selbst
einmal umzuwenden durch die Rückfrage nach den sie tragenden, aber in
Dunkelheit verschlossenen Fundamentalevidenzen“. „Das Zurücklaufen
durch die innere Sinngeschichte der Wissenschaften in ihren Sinn-Ursprung,
das Wiederausgraben der verschütteten Anfänge“ – so laute nach Husserl
„die Aufgabe einer ungeheuren Selbstbesinnung“, vor die sich die gesamte
europäische Kultur gestellt sehe. Besonders wertvoll sind in Finks Augen
dabei „die Reflexionen […] über die Methodik der sinngeschichtlichen
Rückfrage“, die Husserl in diesem Manuskript anstellt, sowie „die Heraus-
hebung des ‹seine Analysen› leitenden Begriffs von Geschichte“. Anfang
Februar 1939 veröffentlichte Fink in der ersten Nummer der an der Leuvener
Universität neugegründeten Tijdschrift voor Filosofie zudem Husserls Ent-
wurf einer „Vorrede zu den Logischen Untersuchungen (1913)“154. Zu diesem
Zweck verfasste er eine „Vorbemerkung“, in der er die Bedeutung dieses
Dokuments kurz erläutert. Mit seiner „Vorrede“ verfolge Husserl die
Absicht, durch eine konsequente Selbstinterpretation seiner Phänomenologie
die „typische[n] Mißverständnisse“ zu beseitigen, die nach wie vor auf ihr
lasteten. Am 16. März 1939 vollzog sich mit der Auswanderung nach Belgien

151 E. Husserl, „Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentional-historisches
Problem“, zuerst in: Revue Internationale de Philosophie, 1(2), 1939, S. 203–225; heute in:
Hua VI, S. 365, Anm. 1.
152 Fink, „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 203.

153 Ebd.

154 Husserl, „Entwurf einer Vorrede zu den ‚Logischen Untersuchungen‘ (1913)“, zuerst in:

Tijdschrift voor Philosophie, 1(1), 1939, S. 106–133; heute in: Hua XXX/1, S. 272–330.

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eine tiefgreifende „Umorganisation meines zivilen Daseins“, wie Fink Mar-
vin Farber mitteilte.155 Er trat in den Dienst des neugegründeten Husserl-
Archivs.

IX. Leuven

Gleich nach Finks Eintreffen in Leuven fand am 28. März 1939 die erste
Reunion des „Comité pour la préparation de l’édition des papiers-Husserl“
statt. Anwesend waren der Präsident des Leuvener Philosophischen Instituts,
Monseigneur Léon Noël, Prof. Joseph Dopp (Van Bredas Doktorvater und
Logik-Professor), Prof. Augustin Mansion (neoscholastischer Philosoph und
ausgewiesener Aristoteles-Experte) und natürlich Van Breda und Fink. Die-
ser verlas einen „Bericht über den Nachlass“, in dem er die Kollegen über
Bedeutung, Eigenart und äußere Form des Nachlasses von Edmund Husserl
unterrichtete und ihnen einen präzisen Überblick über den Inhalt der zahl-
reichen Forschungsmanuskripte verschaffte. Im April 1939 erwarb das Hoger
Instituut voor Wijsbegeerte zudem die umfangreiche Privatbibliothek Hus-
serls, die über 2 700 Bände und etwa 2 000 Sonderdrucke enthielt. Im selben
Monat fand auch der erste Besuch von Maurice Merleau-Ponty statt, der aus
Paris anreiste. Während der Niederschrift seiner Phénoménologie de la per-
ception hatte sich Merleau-Ponty auf den Rat des ehemaligen Husserl-Schü-
lers Jean Héring hin, der damals eine Professur an der Universität Straßburg
innehatte, brieflich an Van Breda gewandt mit der Frage, ob in Leuven ein
Typoskript von Husserls Ideen II aufbewahrt werde und dort gegebenenfalls
eingesehen werden könne. Auch erkundigte er sich danach, ob die Schrift
von Eugen Fink, von der vor kurzer Zeit nur ein „Fragment“ in der Revue
internationale de Philosophie erschienen war, demnächst in Belgien veröf-
fentlicht werden würde.156
Im Juni 1939 trafen auch diejenigen Husserl-Manuskripte in Leuven ein,
die Ludwig Landgrebe in den Jahren 1935/36 nach Prag gebracht hatte. In
Leuven hatte Fink inzwischen die Transkriptionsarbeit der Manuskripte in
Angriff genommen und etwa 284 Seiten abgeschrieben; als Anfang Dezem-
ber die zweite Reunion des „Comité“ stattfand, waren es bereits 1 500 Seiten.

155 Eugen Finks Brief an Marvin Farber vom 26. Januar 1939. Die im Folgenden zitierten

Briefe Eugen Finks an Marvin Farber sind unter den „Marvin Farber Papers“ im Universi-
tätsarchiv der University at Buffalo aufbewahrt. Aus den zahlreichen Materialien des Farber-
Nachlasses wurden insb. die Folders 6.16 („Fink, Eugen, 1938–1947“) und 6.17 („Fink-Land-
grebe Fund, 1946“) zur Einsicht genommen.
156 Maurice Merleau-Pontys Brief an Leo Herman Van Breda vom 20. März 1939. Original

im Leuvener Husserl-Archiv.

184 Einleitung der Herausgeber II

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.
Bei dieser Gelegenheit fertigte Fink einen in seinem Nachlass aufbewahrt
gebliebenen „Bericht über die Transkription der Nachlaßmanuskripte
Edmund Husserls vom 2. Dezember 1939“ an. Er wird in dem vorliegenden
4. Teilband als „Beilage II“ zu der Mappe Z-MH I erstmals veröffentlicht.157
Eine bloß „zahlenmäßige Angabe“ der abgeschriebenen Stenogramme könne
nach seiner (Finks) Ansicht kaum „ein wirkliches Bild“ von der geleisteten
Arbeit vermitteln. Erst „wenn sie auf die ganz außerordentlichen und eigen-
artigen Schwierigkeiten der Entzifferung“158 von Husserls „Hieroglyphen“159
bezogen werde, bei der „nur der eigene Nachvollzug der Analyse“ Abhilfe
schaffen könne, gewinne man eine klare Vorstellung von der Mühe, die die
Herstellung dieser Abschriften bereite. Das Entzifferungsverfahren ver-
gleicht Fink mit der „Interpretation eines kaum noch lesbaren mathemati-
schen Kontextes, wo allein das Nachrechnen der Rechnung die einwandfreie
Deutung der strittigen Zahlenstelle gestattet“. Und diese Zwangslage, sich
handanlegend mit den Phänomenen und ihrer Analyse und Beschreibung
befassen zu müssen, entspräche nach ihm ganz der von Husserl selbst „pro-
grammatisch geforderten konkreten Arbeitsphilosophie“. Im weiteren Ver-
lauf seines „Berichtes“ gibt Fink eine allgemeine inhaltliche Charakterisie-
rung der Manuskriptgruppen C und D, mit deren Transkription er betraut
wurde, während Landgrebe sich mit der Abschrift der Manuskriptgruppen A
und B befasste. Interessant ist seine Präsentation der Manuskripte der Gruppe
C,160 die, so Fink, „den dritten und letzten Versuch Husserls“ darstellen, mit
seiner „phänomenologischen Theorie der Zeit“ zu Rande zu kommen. In
diesem Zusammenhang erwähnt er nicht nur Husserls ersten Versuch: die
von Martin Heidegger im Jahre 1928 herausgegebenen Vorlesungen zur Phä-
nomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Husserls unaufhörliches „Ringen
um das Zeitproblem“161 führe in einer zweiten Phase zu den „sogenannten
Bernauer Manuskripten aus den Jahren 1918–1920“, welche ihrerseits „die
Materialgrundlage eines von mir [Fink] in Husserls Auftrag ausgearbeiteten
Buches“162 darstellten. Bedeutungsvoll ist hier die „vollendete Zeitform“, das
Perfekt, mit dem Fink sich auf das von ihm zu dieser Zeit konzipierte „Zeit-
buch“ bezieht. Es muss also damals in einer relativ geschlossenen Gestalt
vorgelegen haben, auch wenn die darin behandelte philosophische Proble-
matik in Finks Augen nicht zu einem befriedigenden Abschluss gekommen

157 Vgl. EFGA 3.4, MH-I/3b.


158 Ebd., Beilage II: Bericht über die Transkription der Husserlschen Manuskripte/1.
159 Ebd.

160 Vgl. Hua Mat VIII.

161 EFGA 3.4, Beilage II: Bericht über die Transkription der Husserlschen Manuskripte/3.

162 Ebd. Vgl. EFGA 3.2, Abschnitt 2. Umarbeitung der Bernauer Manuskripte, S. 321–442;

Hua XXXIII.

Einleitung der Herausgeber II 185

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sein mag. Als „unerlässliche Bedingung jeder sinnvollen künftigen Publika-
tion der Nachlaßmanuskripte“163 hebt er die zwingende Aufgabe hervor, die
innere, bislang verborgen gebliebene Systematik der Phänomenologie ans
Licht zu bringen. In dieser Perspektive stellt die Manuskriptgruppe D „die
sinnvolle Fortsetzung der Lehre von der Zeitkonstitution“164 dar. Denn in
dieser Manuskriptgruppe befasste sich Husserl mit einer umfassenden „kon-
stitutiven Theorie der Natur“. Ihr eigentliches Problem sei aber das „Problem
der Individuation“; Husserl habe es mit voller Energie in Angriff genommen,
allerdings dabei „in keinem Sinne an die metaphysische Tradition“165 ange-
knüpft. Dennoch erlaube ihm sein „Rigorismus der Methode“, eine „Fülle
von Fragen“ zu beantworten, die „von fundamentaler Bedeutung“ seien und
von denen man bislang geglaubt habe, sie „dem naturalistischen Verfahren
der physiologischen Forschung überlassen zu müssen“166. Seine phänome-
nologischen Analysen haben ohne Zweifel das Verdienst, die prinzipielle
„Inadäquatheit und Nachträglichkeit jedes Naturalismus und Materialismus
hinsichtlich der menschlichen Subjektivität“ in extenso nachgewiesen zu
haben.
Finks philosophische Tätigkeit an der Leuvener Universität war keines-
wegs auf reine Transkriptionsarbeit beschränkt. Im Rahmen einer zunächst
„auf zwei Jahre befristeten Berufung zwecks Mitarbeit an einem speziellen
Seminar über neuere deutsche Philosophie“ hielt er „in der Zeit von März
1939 bis zum 10. Mai 1940“ Lehrveranstaltungen über folgende Themen:
„Kritische Darstellung der phänomenologischen Reduktion“, „Heideggers
Philosophie der Aletheia“, „Hegels Ansatz in der Phänomenologie des Geis-
tes“ und „Philosophische Interpretationen zu Rilkes Duineser Elegien“.167
Außerdem fanden von Anfang Dezember 1939 bis Ende Januar 1940 inten-
sive Unterrichtsstunden mit Van Breda statt (die sogenannte „Van Breda-
Stunde“), die überwiegend in den Mappen Z-XXVIII (Reihe X) und Z-XXX
(„Van Breda-Seminar [Leuven 1939–1940]“) ausführlich dokumentiert sind.
Da Herman Leo Van Breda sich mit dem Plan trug, über die Problematik der
Reduktion zu promovieren, stimmte Fink seinen Unterricht zunächst auf die
Behandlung der Frage nach der phänomenologischen Reduktion als einer
„Methode des Zugangs zu dem Seienden: ‚absolute Subjektivität‘“168 ab. In
weiterer Perspektive stand dann eine eingehende Erörterung der Bedeutung
der Reduktion innerhalb des umgreifenden Systems der Phänomenologie als

163 EFGA 3.4, Beilage II: Bericht über die Transkription der Husserlschen Manuskripte/7.
164 Ebd., Beilage II: Bericht über die Transkription der Husserlschen Manuskripte/5.
165 Ebd., Beilage II: Bericht über die Transkription der Husserlschen Manuskripte/6.
166 Ebd.
167 EF05–75, S. 23.
168 EFGA 3.4, Z-XXVIII/28a.

186 Einleitung der Herausgeber II

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eines Bewegungssystems, d. h. als eines Systems von Wegen.169 Mit diesen
Überlegungen zum System und zum Stufenbau der phänomenologischen
Philosophie setzte Fink nicht nur die umfassende Besinnung über das „Phä-
nomenologisieren“ fort, die er bereits in seiner Dissertation von 1929 begon-
nen hatte und die daraufhin in der VI. Cartesianischen Meditation aus dem
Jahre 1932 die Gestalt einer „transzendentalen Methodenlehre“ erhalten
sollte. Er knüpfte ausdrücklich an die Idee eines Systems der „offenen
Arbeitshorizonte“ an, die er zunächst in seinen „Assistenzentwürfen zu Hus-
serls ,systematischem Werk‘“ aus den Jahren 1930/31170 exponiert hatte. Es
wird eine Aufgabe künftiger Forschung sein, diese Arbeiten zum System der
Philosophie und zur Philosophie im Allgemeinen171 im Lichte der in dem
vorliegenden 3. und 4. Teilband der Phänomenologischen Werkstatt veröf-
fentlichten Materialien neu zu bewerten und eingehend zu mustern.
In einer ersten „Orientierung über das System der Phänomenologie
Husserls“172, die Van Breda zugedacht war, skizzierte Fink die Grundlinien,
die nach seiner Ansicht bestimmend waren für eine kritische Bewertung
des gesamten philosophischen Schaffens von Edmund Husserl. Husserl sei
im Grunde „ein systemfeindlicher Denker“ gewesen, der „im System“ nur
„ästhetisch befriedigende Gedankendichtungen“ zu erblicken vermochte.
Ein phänomenologisches System könne deshalb nur in dem Sinne „konstru-
iert“ werden, dass es erstmals aus dem Schrifttum Husserls und seiner
konkreten Arbeitsphilosophie gehoben und ans Licht gebracht wird. Das
System sei nicht „objektiv vorhanden“, es könne nur im Nachhinein, d. h.
nach dem konkreten Durchgang durch die verwickelten Stufen des phänome-
nologisierenden Tuns, entworfen werden. Für diese prekäre Sachlage gibt es
nach Fink zwei Ursachen: Erstens verfolgte Husserl „in den verschiedenen
Phasen seiner Entwicklung verschiedene systematische Konzeptionen (drei
Phasen)“; zweitens sei „das ‚System‘ durch die ‚Milieu‘-bedingten Motive
fast verdeckt (drei Milieu-Motive)“ worden.173 Die drei Entwicklungsphasen
des Husserlschen Denkens, auf die Fink in diesem Zusammenhang hinweist,
sind: „I. psychologische Klärung von Begriffen der Mathematik und Logik;
II. Erkenntnistheorie; III. spiritualistische Metaphysik“174, oder: „Psycholo-
gie, Erkenntnistheorie, Metaphysik“175. Die milieubedingten Motive, die
Husserls Schaffen grundsätzlich geprägt haben sollen, stammten ihrerseits

169 Vgl. Z-XXVI/100a.


170 Vgl. VI. CM/2; EFGA 2.
171 Zum „System der Philosophie im Grundriss“ vgl. den Teil IV: „Standhaftigkeit“ in der

vorliegenden Einleitung.
172 EFGA 3.4, Z-XXVI/100b.

173 Ebd.

174 Ebd., Z-XXX/LVI/6a.

175 Ebd., Z-XXX, LVI/10b.

Einleitung der Herausgeber II 187

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aus der geistigen und kulturwissenschaftlichen Welt des 19. Jahrhunderts
und blieben nach Finks Ansicht „auch dort“ noch führend, „wo Husserl
in Gegensatz dazu geriet“176. Es sind dies laut Fink der Positivismus, der
Psychologismus und der Wissenschaftskult. Als repräsentative Namen für
diese Tendenzen nennt er „Mach ‹und› Avenarius“, die für die „antihegel-
sche Stimmung“ verantwortlich gewesen sein, sowie „Brentano ‹und› Wei-
erstraß“,177 die Mathematik und Naturwissenschaft als das einzige, streng
wissenschaftlich fundierte Erkenntnismodell anerkannt haben sollen.
Weiterhin sei das System der phänomenologischen Philosophie ein
„Arbeitssystem, ein System der ‚Sachen selbst‘“, das aus der konkreten
analytischen Arbeit an den Phänomenen erwachse. Es sei demnach „kein
System von Disziplinen“, sondern von Wegen, d. h. ein „Bewegungssystem“.
Und insofern müsse auch dem Begriff der „natürlichen Einstellung“ bzw.
ihrer präzisen Charakterisierung als Ausgangspunkt für die verschiedenen
„Wege“ in die Philosophie eine entscheidende Bedeutung beigemessen
werden. Bislang sei die natürliche Einstellung hauptsächlich als „Geradehin-
Einstellung“, als eine Form von „Selbstobjektivation“, als „Anonymität“
und „Weltbefangenheit“ charakterisiert worden. Vor allem „das Moment
der Geradehin-Einstellung“178 habe Husserl immer wieder betont. Obwohl
diese „Geradehin-Einstellung“ nach Finks Ansicht „nur ein Moment der
natürlichen Einstellung“ darstellt, habe Husserl sie „aus pädagogisch-sim-
plifizierenden Gründen (und auch aus tieferliegenden Gründen: Primat der
Gegenstandskonstitution)“179 in seinen Ideen aus dem Jahre 1913 in den
Vordergrund gerückt. Die weiteren Momente, die wesentlich zu einem
vollwertigen Begriff der natürlichen Einstellung gehören, wie Fink ihn im
Zuge seines Entwurfs einer phänomenologischen Meontik selbst entworfen
hat, sind die „Weltbefangenheit“, die „Eingehaltenheit im Apriori“ und die
auf einer transzendentalen Konstitution sui generis beruhende „Selbstapper-
zeption als Mensch“.180 Und insofern betrachtet Fink seine „Interpretation
der Darstellung der natürlichen Einstellung als der ersten Problemexposi-
tion“ der Phänomenologie als seinen „eigenen Besitz“. Denn bei Husserl
sei „das methodische Bewusstsein dieser Antizipation des Systems nicht
vorhanden“; er habe vielmehr geglaubt, „die natürliche Einstellung wie eine
Gegebenheit deskribieren“ zu können. Zwar sei es „mit dem Tatsächlichen
des Husserlschen Vorgehens“ durchaus in Einklang, die „Naivität“ und
„Befangenheit“ der natürlichen Einstellung als solcher hervorzuheben. Aber

176 Ebd., Z-XXX, LVI/7b.


177 Ebd.
178 Ebd., Z-XXVI/100b.
179 Ebd., Z-XXVIII/32a–b.
180 Ebd.

188 Einleitung der Herausgeber II

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Husserl habe „dieses sein Vorgehen nicht ins methodische Bewusstsein
gehoben“. Insbesondere die Konzeption der „Reduktion als reflexive Epoché
und als Zurückleitungsmethode“ sowie der Gedanke, dass „das System der
Phänomenologie als ein Bewegungssystem, ein System von ‚Wegen‘“, und
„die ‚Reduktion‘ als die Bewegung auf diesen Wegen“181 aufgefasst werden
müsse, vindiziert Fink als sein geistiges Eigentum, als die Frucht seiner
produktiven Weiterführung der Phänomenologie. Die natürliche Einstellung
ist nämlich keine „Einstellung“ im geläufigen Wortsinn. Sie ist „nicht eine
Einstellung, die wir einnehmen und wechseln können“, sondern, so betont
Fink, „das Wohin aller Einstellungen“182. Als Ur-Boden des menschlichen,
binnenweltlichen Weltwesens wird sie ausschließlich „in ihrer Modifika-
tion“, in ihrer Überwindung erstmals sichtbar – analog zur „Einseitigkeit“
der „natürlichen Naivität“.183 Die Entfaltung des philosophischen Begriffes
der natürlichen Einstellung ist aus einer systematischen Perspektive deshalb
so wichtig, weil mit ihr „die Weise der Reduktion als Modifikation der natür-
lichen Einstellung“ ihre wesentliche Ausprägung erhält. „Husserls Bevorzu-
gung der Geradehin-Einstellung“ habe „am Ende zu einer Unterbestimmung
der natürlichen Einstellung und somit auch ihrer Modifikation in der Reduk-
tion“ geführt, weil „die Geradehin-Einstellung (die unreflektierte)“ ihm „das
intentionalistische Modell für die Naivität überhaupt“ an die Hand gab.184
Aufgrund seiner Auffassung der Reduktion als Rückkehr vom vorphiloso-
phischen zum philosophischen Bewusstsein habe eine Darstellung der ver-
schiedenen Wege, die in die phänomenologische Philosophie hineinführen,
laut Fink auch keineswegs den Wert „bloß pädagogische‹r› Einleitungen“.
Sie sind als solche die „Exposition“ ihrer philosophischen Problematik,
stellen folglich „den Bewegungsansatz ‹des› Systems“185 dar. Die sieben
von Fink aufgelisteten Wege, die nicht immer scharf voneinander getrennt
werden, sind: „I. Weg von der Logik aus (Formale und transzendentale
Logik; Logische Untersuchungen; Philosophie der Arithmetik); II. Weg von
Descartes (Ideen, Meditationen); III. Weg von der Psychologie; IV. Weg
von Welt der Erfahrung; V. Weg von der natürlichen Einstellung; VI. Weg
von den Wissenschaften, Idee einer radikalen und universalen Wissenschaft;
VII. Historischer Weg“.186
Die allgemeine Einführung in die Phänomenologie, wie Fink sie in
Leuven vortrug, zielte demnach „auf eine Einleitung in die Phänomenolo-

181 Ebd., Z-XXVI/100a–b.


182 Ebd., Z-XXVIII/32a–b.
183 Ebd.
184 Ebd.
185 Ebd., Z-XXX/LVI/11a.
186 Ebd., Z-XXXX/LVI/4a.

Einleitung der Herausgeber II 189

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gie“ in einem „grundsätzlichen Sinne“, da „diese Einleitung zugleich die
tragende Fundamentalbesinnung der Phänomenologie“ bieten sollte. Der
konkrete, mit Entschlossenheit vollzogene Durchgang durch die „Wege“
der Phänomenologie sollte nicht nur zur „Eröffnung der Dimension“ des
Philosophierens dienen. Er stellte Fink zufolge die „Bildung der Möglichkeit
der philosophischen Erkenntnis (im phänomenologischen Sinne)“187 dar. Vor
allem in den Notizen zu Z-XXVIII (Reihe X: „Van Breda-Stunde“) und zu
Z-XXVIII (23a-38b) setzt Fink sich kritisch mit den Grundbegriffen der
Husserlschen Phänomenologie auseinander, verfolgt mit seiner Einführung
aber zugleich ein pädagogisches Ziel. Wichtige Gedanken aus der „Van
Breda-Stunde“ finden sich auch in der Mappe Z-XXX („Van Breda-Semi-
nar. Leuven 1939–1940“). In der Notizreihe LVI stellt Fink sich z. B. die
Frage, welche Konsequenzen die These, dass sich bei Husserl infolge der
Ungeschichtlichkeit seines Ansatzes „keine Entwicklung der Erkenntnis
zur Σοφία“ abzeichne, für die von Husserl selbst entwickelte Idee der
Philosophie als „konstitutiver Analyse“ habe, d. h. als einer „Erkenntnis, die
nicht ‹nur› auf das fertige konstitutive Gebilde, sondern auf dieses in seinem
konstitutiven Ursprung“ abzielt.188 Diese Frage war für Fink deshalb so
wichtig, weil es von der genauen Bestimmung des Seinssinnes des Seienden
als eines „Konstituierten“ abhing, ob die von der Phänomenologie anvisierte
Erkenntnis letztlich als eine „ontogonische“ charakterisiert werden könne.
Der Weg in die Phänomenologie, den Fink aus pädagogischer Sicht für
die in Leuven zu veranstaltenden Übungen als den am meisten geeigneten
bevorzugte, war der „Weg von der Logik aus“. Damit griff er ein Leitmotiv
der Husserlschen Phänomenologie auf, das es ihm erlaubte, die Arbeiten
zur Philosophie der Arithmetik, zu den Logischen Untersuchungen und zur
Formalen und transzendentalen Logik189 innerlich miteinander zu verbinden.
Besonders vorteilhaft war außerdem die Tatsache, dass diese Themenwahl
den Forschungsinteressen des in Leuven lehrenden Logik-Professors Dopp
weitgehend entgegenkam. Mit dem „Weg von der Logik aus“ werde aber
zugleich ein Grundproblem der Phänomenologie berührt, das von maßgeben-
der Bedeutung für das richtige Verständnis ihrer inneren Entwicklung sei.
Nicht nur wurde „der Weg von der Logik aus“ generell als „historisch erstes
Motiv“ des Denkweges von Edmund Husserl bezeichnet. Er galt zugleich als
„Prototyp der phänomenologischen Methode“. Denn die Logik als „Reich
idealer Gegenstände bzw. Gebilde“ schuf erstmals den Raum dafür, dass
es der phänomenologischen Philosophie gelingen konnte, die „Gebilde als
Gebilde“ anschaulich zu erfassen, bevor sie den „Rückgang in das Bilden“, in

187 Ebd., Z-XXX/LVI/10b.


188 Ebd., Z-XXX/5a.
189 Ebd., Z-XXX/LVI/9a.

190 Einleitung der Herausgeber II

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das subjektiv-leistende Leben zum Ziel ihrer innersten Erkenntnisbestrebung
machte. „Husserls Idee einer philosophischen Begründung der Logik“ war
ja schließlich keine, die er von der Metaphysik, „sondern von der Subjek-
tivität“190 ausgehend verfolgt hatte. Die kritische Lektüre der Formalen
und transzendentalen Logik, die Fink im Jahre 1939/40 zum Lehrauftrag
wählte, sollte demnach nicht nur als „ein Exempel für den konstruierten Sys-
temaufriss“ der phänomenologischen Forschungen betrachtet werden. „Zur
Herausarbeitung“ der wichtigsten Grundmotive der Husserlschen Phänome-
nologie war sie nach Finks Ansicht zudem ein unerlässliches Hilfsmittel.
Solche Grundmotive waren u. a. die Frage nach der „Wissenschaft und
Genealogie der Wissenschaft aus der Lebenswelt“, die erkenntniskritische
Begründung der „Logik als Wissenschaftstheorie“, die Herausarbeitung
eines phänomenologisch-intentionalen „Begriffs des Gegenstandes“ und die
Erwägung der Möglichkeit einer transzendentalen „Fundierung der Spon-
tanaktintentionalität“.191 Für Fink stellten sie das „Thema einer kritischen
Destruktion“192 der philosophischen Voraussetzungen der Husserlschen Phä-
nomenologie dar. Zu Beginn hat Fink den „Weg von der Logik“, „den
Husserl schon in den Logischen Untersuchungen einschlug“193, in einer rein
historischen Darstellung vorgeführt; aus pädagogischen Gründen ist er erst
später auf die Problematik einer „radikalisierten Wandlung dieses Motivs“ in
Husserls Philosophie eingegangen. Er notierte sich „nicht nur die Fundierung
der Spontanaktgebilde in den passiven Vorgegebenheiten, sondern: die
Genesis der logischen Evidenz, die als Paradigma und höchste Stufe der
Evidenz traditionell fungiert, als Problem: ‚Fundierung‘ in der Evidenz der
Erfahrung. Sinn der ‚genetischen Fundierung‘??“ Unter dem Gewicht dieser
Fragestellung wurde das „Problem der Logik“ zum „Repräsentanten des
Problems der Wissenschaft (als objektivistischer)“ im Allgemeinen, und
der „Objektivismus der Wissenschaft“ erhielt die Funktion, als Kontrastidee
zur Idee einer „subjektiv-konstitutiven Aufklärung der Wissenschaft“194 zu
fungieren. Damit bot sich die Gelegenheit, die erste „Charakteristik der
‚natürlichen Einstellung‘“ als „Blindheit gegen das Eigensein der idealen
Gegenstände“ zu definieren. „Das philosophische Problem der idealen
Erkenntnis“ wurde nunmehr „so gestellt, dass der intentionale Modus der
‚thematischen Hingerissenheit‘ als ‚Naivität‘ charakterisiert ‹wurde›: Blind-
heit gegen die subjektiven Leistungen und Vollzüge“195. Mit der Analyse

190 Ebd., Z-XXVIII/31a.


191 Ebd., Z-XXX/LVI/11a.
192 Ebd.
193 Ebd., Z-XXX/LVII/2a.
194 Ebd.
195 Ebd., Z-XXX/LVII/2b.

Einleitung der Herausgeber II 191

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dieser Leistungen eröffnete sich dann das unendliche Feld der intentionalen
Analytik und der konstitutiven Forschung der subjektiven Weltkonstitution.
In den Ausführungen der Reihe LVII („Zu Formale und transzenden-
tale Logik [Husserl-Stunde]“) aus der Mappe Z-XXX setzt Fink sich das
Ziel, „den von Husserl nicht explizierten Grundsinn dieses Buches“ eigens
herauszuheben.196 Thema der in der Reihe LVIII gesammelten Notizen war
eine „Kritik des Husserlschen Begriffs der Konsequenzlogik“197. Die Reihe
LIX enthielt ihrerseits weitere Bedenken Finks bezüglich „Husserls Kritik
der ‚ungenügenden Formalisierung‘ der Aristotelischen Syllogistik“198. In
der letzten Reihe (LX) aus der Mappe Z-XXX formuliert Fink kritische
Bemerkungen „zum Einsatz der Husserlschen Sprach-Analyse“199. In den-
selben Zusammenhang einer kritischen Lektüre und eines Kommentars der
Formalen und transzendentalen Logik gehören auch die Notizen, die zum
Teil auf Kalenderblätter vom Frühjahr 1940 geschrieben und in der Mappe
Z-XXVI gesammelt wurden.200 Die Mappe Z-XXX enthält als Schlusspartie
einen maschinenschriftlichen Entwurf zu einem wahrscheinlich aus dersel-
ben Zeit stammenden Schriftprojekt, das sich mit der Absicht trug, eine
kritische Einführung in die Phänomenologie am Leitfaden einer Erörterung
der Reduktion, dieses „Zentralgedankens Husserls“, in die Wege zu leiten.201
„Eingang und die Möglichkeit von Philosophie“ hänge „nach Husserls
Überzeugung“ von der „Entdeckung“ der Reduktion ab, so meinte Fink.
„Sie ist das Tor, der Eingang in die Philosophie, die Einleitung, die erst die
Philosophie einleitet im Sinne einer Bildung, einer Aufstockung.“202 Gleich-
zeitig fragte er sich, inwiefern Husserls „Absolutsetzung der Subjektivität als
Ego“ in dem Verfahren der Reduktion einsichtig begründet sei. Ist Husserl
vielleicht, so Fink, „der Columbus der Philosophie, der ein‹en› Kontinent
der Seele und ein Reich des Geistes entdeckt‹e›“203 – und doch in diesem
verfangen blieb?
Im Februar 1940 hielt Fink auf Einladung des Philosophischen Kring
in Leuven den Vortrag „Vom Wesen des Enthusiasmus“. Diesen Vortrag
wiederholte er im Sommer 1946 auf Schloss Salem am Bodensee. Er erschien
im Jahre 1947,204 acht Jahre nachdem Fink in der Revue internationale
de Philosophie seinen letzten Aufsatz zum „Problem der Phänomenologie

196 Ebd., Z-XXX/LVII/1a.


197 Ebd.
198 Ebd., Z-XXX/LIX/1a.
199 Ebd.
200 Ebd., vgl. Z-XXVI/85a ff.
201 Vgl. ebd., Z-XXX/61a ff.
202 Ebd., Z-XXX/64b.
203 Ebd.
204 Fink, Vom Wesen des Enthusiasmus. Verlag Dr. Hans v. Chamier, Essen 1947.

192 Einleitung der Herausgeber II

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Edmund Husserls“ veröffentlicht hatte. Seine Notizen und Vorbereitungen zu
diesem Vortrag sind vorwiegend in der Mappe Z-XXX („Notizen zu ,Vom
Wesen des Enthusiasmus‘“) gruppiert. Verstreute Bemerkungen dazu sind
darüber hinaus in den Mappen Z-XXVI und Z-XXVII zu finden. Mit diesem
Vortrag führte Fink die Überlegungen zum „Enthusiasmus“ als der die
Philosophie innerlich beschwingenden Grundstimmung fort, die er bereits
1937 in der Abhandlung „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund
Husserls“ und 1939 in dem Artikel „Das Problem der Phänomenologie
Edmund Husserls“ begonnen hatte. Einer der ersten Dispositionsentwürfe
zum Vortrag ist in der Notizmappe Z-XXVI aufbewahrt worden. In diesem
heißt es: „Das Thema ist der Enthusiasmus als die Grundstimmung der
Philosophie. Aber ist er überhaupt eine Stimmung? Nein – nicht wie Trauer,
Angst. Die große Sehnsucht als die menschliche Seite des Enthusiasmus.
Freiheit: das Selbstsein. Das schöpferische Selbstsein (das Spielen). Das
Selbst und das Seiende. Ein Seiendes inmitten des Seienden.“205 Es ist
durchaus bemerkenswert, dass und wie Fink in diesem Vortrag all die
Themen phänomenologischer Herkunft aus seiner Assistenzzeit mit jenen
zusammenführt, die sein Philosophieren während der Nachkriegszeit bestim-
men sollten. So rücken hier die Themen der Freiheit und des Selbstseins des
Menschen in den Vordergrund. In dem auch in seinem Dispositionsentwurf
erwähnten Begriff des „Spiels“ als schöpferischer Kraft des menschlichen
Geistes sowie dem der „Großen Sehnsucht“ erblicken wir die Frucht einer
fortwährenden Beschäftigung mit den Werken Nietzsches in diesen Jahren.
Unverkennbar ist auch die Distanz, die er zu Heideggers Stimmungsphiloso-
phie wahren möchte. Die Bestimmung des Menschen als Weltmitte, als des
„Mittlers inmitten des Seienden“ nimmt ihrerseits bereits eine Grundansicht
der philosophischen Anthropologie vorweg, deren Grundgerüst Fink in den
darauffolgenden Jahren ausarbeiten wird.
Die Möglichkeit des Menschen, zu philosophieren, gründet nach Fink
im Enthusiasmus. Mit ihm vollbringt der Mensch die „endliche Selbst-
überschreitung ‹seiner› Endlichkeit“206. „Religion, Kunst und Philosophie“
stellen die drei „absoluten Verhältnisse“ dar, in denen „der Mensch mit
enthusiastisch gelöster Seele ‹an den› Seinsgrund alles Seienden“207 heran-
reicht. Nicht etwa „das metaphysische Bedürfnis“ sei der „Ursprung von
Kunst, Religion, Philosophie“, sondern „die metaphysische Erfahrung im
Enthusiasmus“. Was in ihr sich vollzieht, ist ein „Ergriffensein von den
Seinsmächten“. Sie führt in die „Nähe zum Wesenhaften“. Als solcher ist
der Enthusiasmus der Zustand des „Außersichseins und Außersichgeratens

205 EFGA 3.4, Z-XXVI/78a.


206 Fink, „Vom Wesen des Enthusiasmus“, S. 25.
207 Ebd., S. 15.

Einleitung der Herausgeber II 193

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des Menschen als eines Selbst“.208 Die in der Mappe Z-XXVI hinterlegte
„Disposition der Urfassung“ umfasst elf thematische Abschnitte, die zu
drei Hauptteilen zusammengefügt wurden. Der Gedankengang und die
Struktur des im Jahre 1947 veröffentlichten Vortragstextes stimmen mit der
in dieser Disposition entworfenen Gliederung völlig überein. Gegenstand
der Ausführungen des ersten, einleitenden Teils sind folgende Themen:
„1. Not als Entbehrung der höchsten Möglichkeit; 2. Enthusiasmus dreifach:
Philosophie, Kunst, Religion; 3. Der Mensch kraft seiner selbst Beter,
Bildner, Denker???“. Der zweite Teil soll das „Verfängnis“ des Menschen
– das „auch bei den konservativen Mächten“ vorherrschend sei – beschrei-
ben und die befreiende Überschreitung schildern, in der seine Fesseln
gesprengt werden. Dazu gehören folgende Erwägungen: „4. Enthusiasmus
als Seinsweise der Selbstüberschreitung; 5. Abscheidung gegen Begeiste-
rung (Natur – Freiheit); 6. Das enthusiazein – Enthusiasmus als Widerlegung
des Verfängnisses; 7. Die Exzentrizität des Menschen; 8. Die homoiosis –
Gottähnlichkeit“. Der letzte Teil soll sich mit folgenden Themen befassen:
„9. Geist der Schwere; 10. der Augenblick (‚Blitz‘); 11. Der Mensch als
Brücke und Übergang“.209
Wenn es nach Fink ging, sollte sich der eigentliche Vortrag als ein
„ausdrücklich philosophische[r]“ präsentieren, aber „ohne Entwicklung
schwieriger philosophischer Gedanken“210. Allem voran möchte er den
Zuhörern „die Existenzverfassung, die dem Philosophieren, aber nicht nur
dem Philosophieren, auch der Kunst und der Religion“ zugrunde liegt,
nahebringen. Die Bewegung „zum Wahren, Schönen, Heiligen“, zu der die
menschliche Existenz sich erhebe, entspringe der Erfahrung einer tiefgrün-
digen Entbehrung, die in der „Seinsnatur des Menschen“ wurzle. Denn das
Menschenwesen existiere grundsätzlich „in der Ahnung der Idee“, d. h. in
der Ahnung des „am meisten Seienden“211, das ihm ständig entgehe. Diese
fundamentale Seinsart des Menschen bestimmt Fink als „Transzendenz der
Sehnsucht“212. In ihr erblickt er die innerste „Bewegungstendenz“ alles
„Endlichen zum Unendlichen“ – „des Bedingten zum Unbedingten, des Rela-
tiven zum Absoluten“213. Wo er zum „Bereich des Wesenhaften“ vorstößt,
da geht es dem Menschen nicht länger um das anschaulich „Gegebene“,
d. h. um das, „was ihm vorliegt, wobei er sich aufhält, worin er sich befin-

208 EFGA 3.4, Z-XXVI/78b.


209 Ebd., Z-XXVI/103a.
210 Ebd., Z-XXVIII/14b.
211 Fink, „Vom Wesen des Enthusiasmus“, S. 10.
212 Ebd., S. 12.
213 Ebd.

194 Einleitung der Herausgeber II

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.
det“214. Gerade im Enthusiasmus erfährt er entbehrend die transzendentale
„Dreifaltigkeit des ur-einen Seinsgrundes“215: „das Heilige, das Schöne, das
Wahre“216. Der „narzisstischen Tendenz des modernen Menschen“217, der
„ständigen Möglichkeit der menschlichen, sich nur negativ verhaltenden
Freiheit“, „im reinen Umwillen seiner selbst“218 existieren zu wollen, vermag
nur die existenzielle Ergriffenheit, die den Menschen im Enthusiasmus
beschwingt, zu widerstehen. Die „negative Freiheit der reinen Selbständig-
keit“ ist, als „anthropozentrische Position“219 des modernen Menschen,
jenes verheerende „Verfängnis des Menschen in sich selbst“220, in das er
durch eigenes Verschulden geraten ist. Als „das Sakrileg schlechthin des
modernen Geistes“ bezeichnet Fink die unaufhörlichen „Profanationen des
außerordentlichen Menschentums durch die sich zur Richtschnur aufwer-
fende Mittelmäßigkeit“221. Und er unterlässt es nicht, in einem Seitenhieb
auch gegen Husserls Phänomenologie scharfe Vorwürfe zu erheben. Wo die
ent-setzende, enthusiastische Erfahrung ausbleibt, „wo nicht die mythische
Überlieferung oder überdies die enthusiastische Erfahrung vom Göttlichen
vorliegt“, so Fink, nützt „keine noch so gründliche Untersuchung und Aus-
forschung des menschlichen Bewusstseins“. Und er folgert: „[E]s ist derselbe
sich ‚kritisch‘ gebärdende Irrtum, wie zu meinen, eine erkenntnistheoretische
Zergliederung des Bewusstseins nach seinen unmittelbaren Gegebenheiten
sei der Weg, um zur Erkenntnis des wahrhaften Seienden zu kommen“222.
Dass „das wahrhaft Seiende sich uns ja nur als Gegenstand des Bewusstseins
zeigen kann“, sei das hartnäckige Vorurteil, mit dem Husserls Phänomeno-
logie behaftet sei – das eben daraus hervorgehe, dass man „den Bezug des
Menschen zur übermenschlichen Sphäre in seinem wahrhaften Bezugssinn
verdreht und in den Menschen zurückbiegt“. Ähnliche Äußerungen Finks
finden sich in den damaligen Unterrichtsstunden und Forschungsseminaren,
in denen die Darstellung der Entwicklungsphasen der Husserlschen Phäno-
menologie auf dem Programm stand.
Mit der Mappe Z-XXVIII („Meine Thesen in Gesprächen 1939–1940“)
verfügen wir über ein einzigartiges philosophisches Dokument. In ihr hat
Fink seine Notizen zu den Unterredungen und philosophischen Gesprächen
gebündelt, die er 1939/40 mit Alphonse de Waehlens, Pater Leo Van Breda

214 Ebd., S. 9.
215 Ebd., S. 16.
216 Ebd., S. 9.
217 Ebd., S. 21.
218 Ebd., S. 26.
219 Ebd., S. 27.
220 Ebd., S. 20.
221 Ebd., S. 21.
222 Ebd., S. 20.

Einleitung der Herausgeber II 195

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und Ludwig Landgrebe in Leuven geführt hat. Diese Notizen sind ein untrüg-
liches Zeugnis dafür, dass Fink nicht nachließ, in regem Gedankenaustausch
mit seinen Leuvener Kollegen seine „eigenen Thesen“ zu verteidigen und
zu begründen. Es ist durchaus angebracht, diese Notizen mit den im Jahre
1976 in der Reihe Phaenomenologica veröffentlichten „Conversations with
Husserl and Fink“ von Dorion Cairns zu vergleichen.223 Bereits in diesen
Notizen, die sich auf die von 1924 bis 1926 und dann von 1931 bis zum
Jahre 1932 in Freiburg geführten Gespräche beziehen, zeigen sich Finks
Bereitschaft zur philosophischen Diskussion und seine außergewöhnliche
Fähigkeit, in phaenomenologicis verschiedene Positionen miteinander zu
vergleichen und kritisch gegeneinander abzuwägen.224 Mit den Leuvener
Gesprächsnotizen aber gewinnen wir einen ungetrübten Einblick in den
innersten Kern seines Philosophierens; hier begegnen wir Fink in seiner
Schmiede am Werk. Die aufeinanderfolgenden Quaestiones disputatae
bezeugen eindrucksvoll, wie die Thesen, die er in seinen Gesprächen
anführte, durch die Arbeiten untermauert wurden, die er hinter den Kulissen
unaufhörlich vorantrieb, und die erstmals durch die kaum zu überblickende
Menge an Notizen und Anmerkungen dokumentiert werden, die sich um
die „dialogische Notizsammlung“ der Mappe Z-XXVIII versammeln. Einige
der aus dieser Zeit stammenden, aber zu einem späteren Zeitpunkt in die
Mappe Z-XXXII eingelegten Notizen wurden als Beilage I der Mappe
Z-XXVIII nachträglich zugeordnet. Weitere Notizen zu den Gesprächen
und Unterrichtsstunden mit Van Breda sind in der Mappe Z-XXVI/Reihe
CXXIII untergebracht. Außerdem enthält die Mappe Z-XXVI/CXXIII/1f.
Notizen eines Gespräches mit Hendrik Jan Pos, einem ehemaligen Studenten
von Husserl, der im Jahre 1922 in Heidelberg mit der Arbeit Zur Logik
der Sprachwissenschaft promoviert wurde. Das mit Pos geführte Gespräch
bezieht sich auf die Grundbegriffe der Phänomenologie, auf die „grandiose
Möglichkeit“, die Husserls Philosophie ihren Adepten gewähre, um immer
wieder „ab ovo“ anfangen zu können,225 und auf die noch ungewisse Zukunft,
die seinem Vermächtnis beschert sei.
Nicht nur aus historischer Sicht, sondern auch aus philosophischen
Gründen sind dabei die Debatten, die Fink mit Alphonse de Waehlens geführt
hat, besonders bedeutsam. Nach Abschluss seines Studiums der Rechtswis-
senschaften und der Philosophie an der Leuvener Universität war de Waeh-
lens im Jahre 1934 zum doctor iuris, kaum zwei Jahre später, am 18. Juli 1936,
zum doctor phil. promoviert worden. Seit 1937 hatte er ein Forschungssti-

223 Vgl. Cairns, Conversations with Husserl and Fink. (Phaenomenologica, Bd. 66), Den
Haag 1976.
224 Vgl. z. B. ebd., S. 2, S. 11–16, S. 20–26.

225 EFGA 3.4, Z-XXVI/CXXIII/4.

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.
pendium des Fonds National de la Recherche Scientifique inne. Im Jahre
1942 wurde er zum außerordentlichen Professor (maître agrégé) an der École
Saint-Thomas d’Aquin der Universität Leuven ernannt, an der er seine Dis-
sertation mit dem Titel La philosophie de Martin Heidegger vorgelegt hatte.
Es darf daher nicht verwundern, dass die mit Fink besprochenen Themen
überwiegend – obwohl nicht ausschließlich – Heideggers Philosophie betra-
fen. So notierte Fink sich „zur geistesgeschichtlichen und theologischen
Beurteilung der Philosophie Heideggers bei Waehlens“ folgende Schwer-
punkte: „a) Situation: vor dem Nihilismus, Versuch ihn zu überwinden in
einem Mythos der ‚Erde‘; b) das Ausweichen vor der Entscheidung für oder
gegen Gott in der Wendung zu den Göttern!?“. Gegen diese pauschalen Ein-
schätzungen der Philosophie Heideggers wendete er ein, dass sie in der
Hauptsache „auf die Person Heideggers, nicht auf seine Philosophie“226
bezogen seien. Als de Waehlens ihm am 27. Juni 1939 seine Interpretation
der Heideggerschen Existenzanalyse in Sein und Zeit vortrug, nach der dieses
Hauptwerk eine Ethik der autonomen „existentiellen Bewegung“ des Men-
schen zum „Sichselbstwerden“ enthalte, antwortet Fink ihm am 18. Juli, dass
„jede Interpretation der ‚Übersteigungen‘ des Menschen vom Menschen her
ein Sakrileg“ sei, und dass eine „Interpretation ‹…› der ‚Kontakte‘ mit dem
Übermenschlichen als eine Möglichkeit, die des Menschen Eigentum ist“,
eine „Verkehrung des Unverkehrbaren“ bedeute.227 Die bloß „negative Frei-
heit“ des modernen Menschen, der narzisstisch nur um sich selbst kreise, sei
die Folge eines aufklärerischen Dranges zur Befreiung, der jedoch zu einer
unheilvollen Umkehrung der wesentlichen Bezüge menschlicher Existenz
zum Einen, Schönen und Wahren geführt habe. „Das Wesen der Freiheit ist
die Verspielung der Freiheit“, die „Freiheit zu ...“ als „Bindung“ ist „Selbst-
bindung an das Über-Menschliche (das Wahre – Schöne – Heilige)“228, so
notierte sich Fink. Auch wenn er in einem Gespräch mit de Waehlens am
11. Juli 1939 seine Bewunderung für die „spekulative Kraft Heideggers“ nicht
verhehlte, war er doch gleichzeitig der Ansicht, dass Heideggers Position in
Sein und Zeit „noch im Menschen befangen“ sei.229
Weiterhin berührten de Waehlens und Fink Fragen der Nietzsche-Inter-
pretation und unterhielten sich über Husserls Phänomenologie. Als eine
„spezifische Gefahr“ bezeichneten sie deren Tendenz zur „Anthropozentrik“;
die zunehmend reflexionsphilosophischen Züge, die Husserls Phänomeno-
logie aufweise, verrieten seine Neigung, die „Entdeckung der metaphysi-
schen Stellung des Menschen“ in einem „Dogmatismus der Subjektivität“

226 Ebd., Z-XXVIII/1a.


227 Ebd., Z-XXVIII/2a.
228 Ebd., Z-XXVIII/4a.
229 Ebd., Z-MH-I/11a–b.

Einleitung der Herausgeber II 197

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.
erstarren zu lassen. Auch über „Philosophie und Wissenschaft“ sprachen de
Waehlens und Fink ausführlich miteinander.230 Das bot Fink wiederum eine
gute Gelegenheit, um auf seine Überlegungen zum „Problembegriff der Phi-
losophie“ aus den 1930er Jahren zurückzukommen. Als de Waehlens behaup-
tete, dass Philosophie „mit den Wissenschaften nichts zu schaffen“ habe,
erinnerte Fink ihn daran, dass „die Philosophie als Metaphysik die Grund-
legung der positiven Wissenschaften ist in der Weise der seinsbegrifflichen
Diskussion der Grundbegriffe, die den Einsatz der positiven Wissenschaften
durchherrschen“231. Wenn „die positiven Wissenschaften“ erneut „aus der
Metaphysik existieren“ und nahezu „ahnungslos“ an ihrem bzw. an dem ihr
vom philosophischen Denken a priori auferlegten Gedankengerüst teilhaben,
werden sie „auch den von der Philosophie eingegebenen Sinn der ‚Theorie‘“
wiederfinden: „Theorie, θεωρία = die Zukehr zum übermenschlich-mächti-
gen Wesen alles Seienden und so die Öffnung des Menschen, die Weltauf-
getanheit“232. Die moderne „Emanzipation der positiven Wissenschaften aus
der Metaphysik“ sei dagegen Ausdruck einer typischen „Schizophrenie des
modernen Geistes“ und bedeutet vollends „eine Entartung der Theorie“. Und
deshalb gelte es, „den ursprünglichen Begriff der Theorie wieder zurückzu-
erobern“233. Die Philosophie, so Fink, ist als Metaphysik „keine Wissen-
schaft im Sinne einer Wissenschaft unter anderen. Ihre Weise des ‚Wissens‘
ist die Σοφία, das Wissen von den ἀρχαί, die Bestimmung der Natur des
Seienden als Seienden und der Natur der Wahrheit“234. Einer philosophischen
Lehre, die aus der enthusiastischen Erfahrung die „ursprünglich-lichtenden“
Begriffe schöpft,235 mit denen das menschlich-wissenschaftliche Wissen
durchgängig „unwissentlich“ operiere, mag es gelingen, sich
„ein‹en› ursprüngliche‹n›, das Seiende im eigentlichen Sinne tref-
fende‹n› Zugang“ zu erarbeiten, der keineswegs ein „abgeleiteter Modus des
praktischen Umgangs“236 mit der Welt ist. Zwischen Philosophie (als Meta-
physik) und Wissenschaft besteht somit nach Finks Ansicht ein proportional
„antagonistisches“ Verhältnis: Der „Fortschritt der Wissenschaft“ beruht auf
dem „Stillstand der Metaphysik“. Umgekehrt führt jede „ruckartige“ Bewe-
gung der Metaphysik zu einer tiefgreifenden Umgestaltung der „ursprüng-
lich-lichtenden“ Begriffe des menschlichen Wissens, folglich zu einer
Erschütterung und erneuten Infragestellung jenes ständig vorgegebenen und

230 EFGA 3.4, Z-XXVIII, Beilage I, XLI/1a.


231 Ebd.
232 Ebd., XLI/1b.
233 Ebd., Z-XXVIII, Beilage I, 45a
234 EFGA 3.4, Z-XXVIII/XLI/1a.
235 Ebd., Z-XXVIII/9b.
236 Ebd.

198 Einleitung der Herausgeber II

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.
immer stillschweigend vorausgesetzten, selbstverständlichen Bodens, auf
dem die Wissenschaften beruhen und unter günstigen Bedingungen ihr Wis-
sen heranwachsen lassen. „Die Seinsauslegung steht still, wenn die Wissen-
schaften fortschreiten.“ Ihr Fortschritt ist „Bewegung der Einheiten unter
Stillstand des Grundes“237. Das am 6. Juni 1939 mit de Waehlens geführte
Gespräch bezog sich auf den philosophiegeschichtlichen Begriff der „Tra-
dition“ und auf ihre „Destruktion“ als „Wiederholung“. Aber auch die beson-
dere Bedeutung der Philosophie Nietzsches kam zur Sprache. Nietzsches
„Metaphysik des Spieles (παῖς παίζων)“238 sei ein Wendepunkt in der
Geschichte des metaphysischen Denkens Europas. Dieses Thema würde
Fink bald nach Ende des Krieges wieder aufgreifen; am 9. März 1946 hielt
er seinen Probevortrag zur Habilitation an der Freiburger Universität mit dem
Titel „Nietzsches Metaphysik des Spiels“.239
Sein wichtigster philosophischer Gesprächspartner in Leuven war ohne
Zweifel Ludwig Landgrebe. Leider sind die heute erhaltenen Zeugnisse zu
den mit ihm geführten Gesprächen nicht sehr ergiebig. Aber in Leuven setz-
ten Fink und Landgrebe den intensiven und tiefschürfenden Gedanken-
austauch fort, der sich bereits im Jahre 1936, als sie gemeinsam die Arbeit
der Anordnung und der systematischen Gliederung des Husserl-Nachlasses
in Angriff nahmen, entsponnen hatte. Den Inhalt dieses Austausches kann
man dem in den 3. Teilband aufgenommenen Notizheft Z-XX entnehmen.
Als Landgrebe im Jahre 1939 den Aufsatz „Husserls Phänomenologie und
die Motive zu ihrer Umbildung“ in der Revue internationale de Philosophie
veröffentlichte,240 wo gleichzeitig auch Finks Abhandlung über „Das Prob-
lem der Phänomenologie Edmund Husserls“ erschien, kam es erneut zu einer
offenen Aussprache zwischen den beiden ehemaligen Assistenten Husserls.
Von der in seinem Aufsatz vorgetragenen „These, dass Husserls Ansatz
gegenstandstheoretisch sei“, habe Landgrebe nur „die interne Seite“ begrif-
fen, so Fink. „Ungegenständliche Phänomene“ wie z. B. Tod, Schlaf oder
Traum seien gewiss mit dem Begriff des „Gegenstandes“ nicht zu fassen.
Aber die Sackgasse, in die die Phänomenologie offensichtlich gerate, wenn
sie mit den „Grenzproblemen“241 des „Ungegebenen“ konfrontiert werde,
weist nach Fink auf ein tieferliegendes Problem des Husserlschen Ansatzes

237 Ebd., Z-MH-I/28a.


238 Ebd., Z-MH-I/24.
239 Eugen Fink, „Nietzsches Metaphysik des Spiels“, in: Cathrin Nielsen, Hans Rainer Sepp

(Hrsg.), Welt denken. Annäherungen an die Kosmologie Eugen Finks, Freiburg/München 2011,
S. 25–37.
240 Ludwig Landgrebe, „Husserls Phänomenologie und die Motive zu ihrer Umbildung“, in:

Revue internationale de Philosophie I/2 (1939), S. 277–316.


241 Vgl. Hua XLII, insbes. S. XIX.

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hin, nämlich dass bei ihm „schon das Gegenstandsein des Gegenstandes“242
nicht ausdrücklich infrage gestellt und philosophisch erörtert wird. Auf ähn-
liche Weise könne man sich fragen, ob der „natürliche Weltbegriff“, der
sowohl von Husserl in der Krisis-Schrift als auch von Heidegger in Sein und
Zeit verwendet werde, nicht ebenfalls „selbst den Stillstand einer bestimmten
‚Interpretation‘, nämlich der Interpretation des ‚Seienden‘“243 anzeige,
indem dieses als Gegenstand resp. als bewusstseinsmäßige intentionale Ein-
heitsgeltung aufgefasst oder, im Falle Heideggers, als Zeug „des praktischen
Umgangs“244 gedeutet werde. In der Phänomenologie Husserls kam es nicht
nur deshalb zu keiner „eigentlich metaphysischen Fragestellung“ des Gegen-
standsbegriffes, „weil Husserl den Begriff des Seienden mit dem des Gegen-
standes“ gleichgesetzt, sondern vor allem, „weil er nicht das Gegenstandsein
des Seienden als eine Weise des Wahrseins des Seienden aus dem metaphy-
sischen Zusammenhang von ‚ens et verum‘“245 begriffen habe.
In dem am 27. Dezember 1939 mit Landgrebe geführten Gespräch legte
Fink ihm eine Reihe von Thesen vor, die die spezifische Eigenart seiner kri-
tischen Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls nochmals
unmissverständlich erkennen lassen. „Husserls verkürzter Begriff des Men-
schen (= die Außenansicht, das psychophysische Objekt, oder die ‹psychi-
sche› ‚Immanenz‘)“ habe fälschlich den Anschein erweckt, als ob ein inten-
tional-transzendentes „Zurückfragen hinter diesen Begriff des Menschen“
bereits eine Überwindung oder „Überschreitung des Menschen“ sei. In
Wahrheit sei „Husserls Metaphysik“ – das Transzendieren des bloß psycho-
physischen Subjektes durch ein transzendentales – jedoch ein „dogmatischer
Subjektivismus“. Ein klares Anzeichen dieses Dogmatismus sei seine „Ver-
absolutierung der ‚Immanenz““ in den Ideen, und, in den darauffolgenden
Schriften, ihre progressive „Auflösung in a) Zeitigung, b) Monadolo-
gie ‹und› c) Teleologie“. In der Bewegung des metaphysischen Denkens
stelle Husserls Phänomenologie somit nur einen einzigen Ruck dar: „von
dem ‚Objektivismus‘ zum ‚Subjektivismus‘“ – „und dann Stillstand der
Bewegung der Seins- und Wahrheitsidee“246, so Finks Urteil. Die „übliche
Trennung von phänomenologischer Methode“ – der Korrelationsforschung
– und „subjektivistischer Metaphysik“ deute übrigens darauf hin, dass bei
Husserl eine wesentlich „unphilosophische Methode“ in den Dienst der Phi-
losophie treten sollte.

242 EFGA 3.4, Z-XXVII/27b.


243 Ebd., Z-XXVIII/9a.
244 Ebd.
245 Ebd., Z-XXVII/A/II/7b.
246 Ebd., Z-XXVII/64a.

200 Einleitung der Herausgeber II

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.
Wie soll sich die phänomenologische Forschung in Zukunft zur Philo-
sophie verhalten? Wenn „die Phänomenologie Husserls ‚beschreibt‘ aber
nicht ‚begreift‘“247, bestünde die Aufgabe, die nunmehr ihm zufalle, so Fink,
darin, in der Phänomenologie wieder die Philosophie in Gang zu bringen. In
ihrem „subjektivistische‹n› Motiv“ erkennt er die „dogmatische Erstarrungs-
gestalt eines grundsätzlichen Problems“248. Dieses unterschwellige Grund-
problem, auf dessen Trümmern sich die unheilvolle Trennung von Erkennt-
nistheorie und Ontologie vollzogen habe, sei das „Problem von ens qua
verum“. Die „Notwendigkeit des Rückgangs auf ‹dieses› Problem“ leuchte
aber erst dann wirklich ein, wenn die Phänomenologie gleichzeitig in der
Lage sei, die „Unbezüglichkeit zur Antike“ zu überwinden und zu der Ein-
sicht zu kommen, dass mit „Subjekt“ und „Substanz“ „nicht Mensch und
Substanz, sondern Noῦς und Oὐσία“249 gemeint sind. Denn der Verzicht auf
eine breite Auseinandersetzung mit der Transzendentalien-Problematik habe
eine Interiorisierungstendenz hervorgerufen, welche die innerste „Bewe-
gungsrichtung der Philosophie“ „bei Husserl und auch bei Heidegger“
bestimmt habe. Und diese habe verhindert, dass das phänomenologische
Denken „die Bewegung zu dem seiendsten Seienden hin“ vollziehe. Das
bislang übergangene „Problem von ens und verum“ bestehe gerade darin,
dass „das Wahre ebenso sehr wie als Substanz so als Subjekt zu fassen“ sei.
Allerdings bedeute „das Wahre als Subjekt […] nicht die Versteifung auf den
Menschen (das endliche Subjekt)“, sondern mit ihm sei „das seiendste Sei-
ende als Subjekt, die eigentliche Substanz als Subjekt“250 gemeint. Dass die
phänomenologische Forschung sich zu einer sich verselbständigenden
Methode fortentwickelt habe, sei zugleich dadurch bedingt, dass sie „einen
dogmatischen Boden in einem ‚stillstehenden‘ Begriff des Seienden“ gefun-
den und den „Begriff des ‚Seienden‘ und der ‚Wahrheit‘“ nicht aus den
Quellen der Metaphysik geschöpft habe.251 Bedeutet, so fragt sich Fink, eine
von der philosophischen Tradition und ihrer Begrifflichkeit losgelöste Phä-
nomenologie tatsächlich mehr als „Psychologie + Positivismus + Wissen-
schaftlichkeit nach dem Leitbild der Naturwissenschaften“? Ihr „reformato-
risches Pathos“, ihr Bestreben, in der unmittelbaren Anschaulichkeit des
Gegebenen den Boden für einen Neuanfang der Philosophie zu gewinnen,

247 Ebd., Z-XXVIII/46b.


248 Ebd., Z-XXVII/64b.
249 Ebd., Z-XXVII/46a–b.

250 Ebd., Z-XXVI/94a. Vgl. Hegel: „Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch

die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als
Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“ (Georg Wilhelm
Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. In: Werke (Theorie-Werkausgabe Band 3),
hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 41993, S. 22)
251 Ebd., Z-XXVII/64b.

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sei in eine „Ungeschichtlichkeit […] in Bezug auf die Geschichte der Phi-
losophie“252 umgekippt. In seinem am 15. Februar 1940 mit Landgrebe
geführten Gespräch wandte sich Fink mit Nachdruck gegen die „interioris-
tischen Tendenzen“, die er sowohl in Husserls als auch in Heideggers phä-
nomenologischen Arbeiten verspürte. Dem reflexionsphilosophischen Leit-
bild der Husserlschen Phänomenologie sowie der Tendenz Heideggers, in
das „Selbstsein“ den Schwerpunkt der philosophischen Existenzbewegung
zu verlagern, stellt er das „Sein-bei dem seiendsten Seienden“253 gegenüber
und bemühte sich unablässig darum, diese grundsätzlichere Form des Tran-
szendierens im Enthusiasmus, in den Existenzbewegungen der Freiheit und
des Spiels nachzuweisen.
Besonders wertvoll sind die Ausführungen Finks zum Weltproblem und
zum Weltbegriff bei Husserl und in der Phänomenologie, die als Reihe XIX
der Mappe Z-XXVIII aufbewahrt worden sind. In diesen Notizen geht Fink
bis in alle Einzelheiten auf Landgrebes Behauptung ein, „es gäbe eigentlich
bei Husserl kein Weltproblem“ und vor allem keine „Erklärung für die
Transzendenz der Gegenstände“. Zwar sei, so legte Landgrebe dar, Husserl
darum bemüht gewesen, die Konstitution von Transzendentem nachzuwei-
sen. Aber die Felder der Transzendenz habe er dabei ständig vorausgesetzt.
„Die Gegenständlichkeit der Gegenstände (das kantische Problem der ‚trans-
zendentalen Deduktion‘) sei für Husserl selbst“, so referiert Fink Landgrebe,
„nicht zu einer Frage geworden; selbst in der Sphäre der Passivität habe
Husserl als Affektion der Gegenstände die Sphäre von ‚Gegenstehen‘ schon
vorausgesetzt.“254 Zunächst einmal war es in Finks Augen „sehr fraglich,
ob das Problem der Welt in einer Frage nach der konstitutiven Aufklärung
der Feldsphäre von Transzendenz besteht, gleichsam in der Frage, wie die
Subjektivität zu einem ‚Draußen‘ kommen“ kann. Eine solche Fragestellung
würde „Husserl selbst […] a limine ablehnen“, weil „das ‚Draußen‘ kein
‚Jenseits‘ der Subjektivität“ sei und nur aufgrund einer „naiven Auffassung
des Subjekt-Objekt-Bezugs“ für ein „Jenseits“ gehalten werden könne.
Objektivität ist „für Husserl ein Stufenbau von höherstufigen Transzenden-
zen in der Immanenz“255. Also transzendiert „sich eigentlich die Subjektivität
nicht“, sondern „Transzendenz“ ist bei Husserl „eine Schicht in der Subjekti-
vität: die Schicht der Endterminierung der konstitutiven Prozesse!“, so Fink.
Und deshalb sei Landgrebes Behauptung, dass Husserl „die Welt interpretiert
als ein Feld von ‚Gegenständlichkeit‘“, und dieses „immer vorausgesetzt“

252 Ebd.
253 Ebd., Z-XXVIII, Beilage I: In eine spätere Mappe gelegte Gesprächsnotizen, Z-
XXXII/46a.
254 Ebd., Z-XXVIII/XIX/1a.

255 Ebd., Z-XXVIII/XIX/1b.

202 Einleitung der Herausgeber II

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hat, „ohne diese ‚Voraussetzung‘ aufzuklären“256, seines Erachtens grund-
sätzlich falsch. Husserl habe „zwar in der Situation der Vorgegebenheit des
Welthorizontes, der Erfahrung von Gegenständen“ den Ausgangspunkt für
seine Analysen erblickt. Aber diesen „Vorgegebenheitsstil“ habe er aufgrund
der „Methodik der phänomenologischen Reduktion“, die bereits „Epoché
an der Voraussetzung aller Gegebenheit von Einzelgegenständen“ übe,
zum Thema „umfassender konstitutiver Untersuchungen“ gemacht. Diese
konstitutive Behandlung „des alle gegenständliche Gegebenheit im voraus
umfassenden Welthorizontes“, die anfangs eine noch „unaufgeklärte Proble-
matik“ darstellte, erhielt in der Spätphase die Gestalt einer „konsequenten
subjektivistischen Interpretation“257. In der „prinzipiellen Orientierung des
Weltproblems“ am Leitfaden des Horizont-Begriffes bleibe immerhin „in
der Schwebe“, was ein Horizont eigentlich sei: „ein subjektives Wie der
Gegebenheit von Seiendem oder ein objektiver Inbegriff“. Dabei habe
Husserl vor allem auf die phänomenale Struktur des „offenen Undsowei-
ter“ und auf den Begriff der „apperzeptiven Übertragung“ insistiert. Aus
seiner Sicht stelle die Welt „nicht ein im Voraus fertiges, alles Seiende im
Voraus umfangendes und enthaltendes Ganzes“ dar, sondern zeige eher den
Charakter „eine‹r› Welt auf dem Marsch“. Was Husserl mit „Welt“ meine,
sei „das System ‹von› Antizipationen und Horizont, das ganze bewegliche
System von vorausspringenden Horizontverweisungen“258. In „Husserls
Spätphilosophie“ sah Fink die „konsequente Entwicklung seiner Intentionen,
und zwar in der Richtung auf einen absoluten Subjektivismus hin“. In
seinen Augen war dieser Subjektivismus jedoch die „Erstarrungsform eines
fundamentalen Problems, nämlich des Problems der Vermittlung“259.
In zahlreichen Notizen aus dieser Zeit tauchen Gedanken und Anmer-
kungen zum dichterischen Werk Rainer Maria Rilkes auf.260 Während seines
Leuvener Aufenthaltes trug Fink sich in der Tat mit dem Plan, eine Arbeit
über Rilkes Dichtung in die Wege zu leiten. Vor allem das Vorhaben,
„Rilkes Duineser Elegien philosophisch zu interpretieren“261, sprach ihn an.
Denn in den Elegien kommt Fink zufolge eine philosophische Perspektive
auf das menschliche Leben im Bereich des kosmischen Ganzen auf eine
Weise zum Ausdruck, die ihn zutiefst beeindrucke. Diese dichterische
„substanzielle Tiefe des Gedankens“ wollte Fink in seinem „Versuch über

256 Ebd., Z-XXVIII/XIX/2a.


257 Ebd.
258 Ebd., Z-XXVIII/XIX/2b.

259 Ebd.

260 Finks Materialien zur philosophischen Interpretation von Rilkes Duineser Elegien werden

in EFGA 10 (Epiloge zur Dichtung) erscheinen. Vgl. EFGA 3.4, Z-XXVI/43a; Z-XXX/1a–b,
23b; Z-XXIX/195a, 263a.
261 Ebd., Z-XXVI/61a.

Einleitung der Herausgeber II 203

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Rilkes Duineser Elegien“ sondieren. Sein Eindringen in „die elegische
Weisheit der gedankentiefsten Dichtung Rilkes“262 machte ihm zunehmend
deutlich, dass „gerade das ‚Hantieren‘ nicht der ursprüngliche Seinsmodus
des Seins-bei-den-Dingen“ ist. Wie Rilke uns in seiner Dichtung auf unüber-
bietbare Weise nahebringe, sei es vielmehr die Begegnung als ein Wohnen
bei den Dingen. Hier treten sie uns nicht als allerhand „Zeug“ entgegen; hier
offenbart sich uns erstmals ihr unverwechselbares und einzigartiges Ding-
Sein. Das Seiende als „Ding“ ist weder das naturwissenschaftliche Objekt
noch Gegenstand eines intentionalen Bewusstseins oder das in praktischer
Umsicht zuhandene Zeug. Die seienden Dinge sind „Dinge des Erlebens
(etwa wie bei Rilke)“; ihr „Vorkommen“ geschieht als ein „Hereinstehen
in den Lichtschein des Menschen“263. Das Mittlertum des Menschen, sein
„Mittler-Sein“264, bestehe gerade darin, dass er bei dem in seinem Lichtkreis
erscheinenden, ihn umstehenden Seienden wohne. Dieses „vorkommende
Umstehen“ der Dinge bezeichnet Fink als die „Umfängnis der Natur“265,
das „Sich-Einlassen“ des Lebens in diesen Umkreis als ein „lichtendes
Verhältnis“. Und dieses Verhältnis der Seinslichtung sei „ein Grundzug des
Spieles“.266 Noch 30 Jahre später wird Fink in seiner Interpretation des
Fragments 26 von Heraklit die Mittler-Stellung des Menschen, sein Verhält-
nis zum unverborgenen, gelichteten Sein und zum verborgenen, dunklen
Erdgrund inmitten des großen Spiels der Φυσίς in den Vordergrund rücken.
Mitspielend inmitten „des Gegenspiels der Gegensätze“267 zündet sich der
Mensch ein Licht „im Dunkel der Nacht“268 an. „Hölderlins ‚frohe Botschaft‘
von der mütterlichen Erde“ und „Rilkes Treue zum ‚Hiesigen‘ (zur Kindheit
der reinen Dinge)“ sind für ihn der vollkommenste poetische Ausdruck
einer „Nähe zum Wesen der Dinge“, einer „Nähe zu den reinen Kräften,
den waltenden Mächten“269. Und es sei Rilkes Verdienst, den Menschen
in seiner Fähigkeit, „sich in der Nacht ein Licht anzuzünden“270, in dieser
Weise herausgehoben und damit einem philosophischen Grundgedanken der
Antike seine endgültige dichterische Form verliehen zu haben. „All das“, so

262 Ebd., Z-XXIX/313b.


263 Ebd., Z-XXVI/40b.
264 Ebd., Z-XXVI/41a.

265 Ebd., Z-XXVI/40a.

266 Ebd.

267 Martin Heidegger, Eugen Fink, Heraklit. Seminar Wintersemester 1966/1967, Frankfurt

am Main 1970, S. 214.


268 Ebd., S. 21.

269 EFGA 3.4, Z-XXIX/121b.

270 Heidegger, Fink, Heraklit, S. 193.

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notiert sich Fink, „ist: öffnende Existenz, ist Freiheit der Erleidung, ist im
vergänglichen Sein ein Zeuge-sein des Ewigen und Seienden!“.271
Die auf die Assistenzzeit bei Husserl folgende, Anfang 1939 einsetzende
Phase seines Denkweges war für Fink eine philosophisch außerordentlich
fruchtbare Periode, in der er seine große intellektuelle Produktivität gleich
an mehreren Fronten einsetzen konnte. Dabei sollte man nicht vergessen, wie
viele Stunden täglich Fink der Transkriptionsarbeit an Husserls nachgelas-
senen Manuskripten widmete. Mit dem am 10. Mai 1940 eingeleiteten, „als
Blitzkrieg bezeichneten Westfeldzug“ kam diese kurze Blütezeit abrupt zu
einem Ende. Wie alle Deutschen, die aus Nazi-Deutschland ausgewandert
waren, wurden Fink und Landgrebe „plötzlich suspekt“272. Eugen und Martl
Fink wurden zunächst in Leuven verhaftet und ins Gefängnis gesperrt, bevor
sie in Internierungslager nach Südfrankreich transportiert wurden. Mit dem
Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 wurden sie aus der Haft entlassen; nach
Leuven zurückgekehrt, fanden sie „die Wohnung verwüstet und zum Teil
geplündert“273 vor. Die Sommermonate verbrachte die Familie Fink in Leu-
ven; darüber gibt eine Notiz vom 18. August 1940 zu einem Gespräch mit
Landgrebe Auskunft.274 Eine „Fortsetzung der Arbeiten am Philosophischen
Institut sowie auch der längere Verbleib in Leuven“ wurden allerdings
„behördlicherseits nicht gestattet“275. Im Herbst 1940 musste Fink „zurück
ins Reich“. „Das Angebot der Gestapo, […] als Offizier in die Wehrmacht
einzutreten“276, lehnte er ab. Am 2. Dezember 1940 wurde Fink als einfacher
Soldat einberufen. Bis zum Ende des Krieges war er als Flugwache in Sankt-
Märgen im Hochschwarzwald stationiert.

X. Zwischen Aufbruch und Neubeginn

Die im vorliegenden 4. Teilband der Werkstatt erstmals gesammelten Zettel


und Typoskripte vermitteln dem Leser ein genaues Bild von Finks philoso-
phischer Entwicklung in der Zeitspanne von 1937 bis 1945/46.277 Der innere
Zusammenhang der in dieser Periode von Fink geplanten oder zum Teil aus-
gearbeiteten Schriften ist allerdings nicht auf den ersten Blick zu erkennen.

271 EFGA 3.4, Z-XXIX/121b.


272 EF05–75, S. 24.
273 Ebd., S. 25.

274 EFGA 3.4, Z-XXIX/310a.

275 EF 05–75, S. 25.

276 Ebd., S. 26.

277 Die zur Vervollständigung dieser Zeitspanne noch ausstehenden Zettelsammlungen

Z-XXXI, Z-XXXII und Z-XXXIII werden voraussichtlich in EFGA 4 (Vom Wesen der
Philosophie) veröffentlicht.

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Den Schlüssel zur Entzifferung dieser Vielzahl von Schriftprojekten, die zum
Teil latent geblieben sind, zum Teil einander überlappt haben oder ineinan-
dergeschoben wurden, bietet Finks Briefwechsel, insbesondere die mit Mar-
vin Farber geführte Korrespondenz. Denn Farber war in dieser Phase einer
der bedeutendsten internationalen Gesprächspartner Finks. Als Schüler von
William Ernest Hocking an der Harvard University, war Marvin Farber in
den 1920er Jahren nach Freiburg gereist, um bei Husserl zu studieren. So
besuchte er während des Wintersemesters 1923/24 und im darauffolgenden
Sommersemester 1924 Husserls Vorlesungen und nahm an den angebotenen
Übungen teil. In seiner amtlichen Stellung als Professor für Philosophie am
Department of Philosophy der University of Buffalo (NY) nahm er im Som-
mer 1938 brieflich Kontakt zu Fink auf. Den unmittelbaren Anlass zu seinem
Schreiben bildete Farbers Vorhaben, eine Reihe von „Memorial Essays in
Memory of Edmund Husserl“ zu veröffentlichen.278 Er lud Fink dazu ein,
einen Beitrag für diese geplante Publikation zu verfassen. Auf diese Einla-
dung antwortete Fink am 31. Oktober 1938, dass er „es als eine Auszeichnung
empfinde, an dem,Memorial Volume‘ für Husserl mitarbeiten zu können“;
zu diesem Anlass wolle er „einen kleinen,Artikel über den Nachlass‘ vorbe-
reiten, der die außerordentliche Bedeutung desselben und zugleich die
Schwierigkeiten der Edition behandeln“ sollte.279 Diese Aussage stimmt mit
dem Bericht überein, den Fink am 16. Oktober 1938 Husserls Sohn Gerhart
zugehen ließ. Im Oktober 1936 war Gerhart Husserl in die Vereinigten Staaten
ausgewandert und unterhielt mit den zahlreichen amerikanischen oder mitt-
lerweile in die USA emigrierten ehemaligen Husserl-Schülern (wie Dorion
Cairns, Aron Gurwitsch, Fritz und Felix Kaufmann) regen Kontakt. Die
Frage des Verbleibes des Husserl-Nachlasses hatte eine endgültige Lösung
dahingehend gefunden, dass inzwischen am Philosophischen Institut der
Universität Leuven das Husserl-Archiv als internationale Forschungsstelle
gegründet worden war.280 Und so drückte Fink in seinem an Gerhart Husserl
gerichteten Brief u. a. die Hoffnung aus, durch einen „Artikel in dem,Memo-
rial Volume‘ von Farber über den,Nachlass E. H.‘ einen Aufschluss über die
Eigenart und die Bedeutung der Forschungsmanuskripte“281, die nunmehr in
Leuven eine sichere Unterkunft gefunden hatten, bieten zu können. Wie aus
den Notizen aus dieser Zeit hervorgeht, zählte Fink zu seinen damaligen

278 Vgl. Marvin Farber (Hrsg.), Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl,
Cambridge (MA) 1940.
279 Eugen Finks Brief an Marvin Farber vom 31. Oktober 1938.

280 Vgl. Van Breda, „Geschichte des Husserl-Archivs“, S. 29.

281 Eugen Finks Brief an Gerhart Husserl vom 16. Oktober 1938, in: EF05–75, Bilder Nr. 381–

383.

206 Einleitung der Herausgeber II

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„Aufgaben“ tatsächlich auch einen Text über „E. Husserls nachgelassenes
Werk“.282
In seinem Brief vom 28. Dezember 1938 bringt Marvin Farber seine
Freude darüber zum Ausdruck, dass auch Ludwig Landgrebe einer Beteili-
gung an dem geplanten Gedächtnisband zugestimmt hatte. Mit Landgrebe
hatte Fink sich mittlerweile über die Arbeitsverteilung ihrer jeweiligen Bei-
träge zum Thema „Husserl-Nachlass“ verständigt. In den Vordergrund seiner
Darstellung wollte Fink nämlich „den analytischen Stil der Philosophie
E. H.“ rücken, was ihm die Gelegenheit bieten würde, „auf den Analysen-
reichtum des Nachlasses ausführlich einzugehen“. In seinem an Farber
gerichteten Brief vom 26. Januar 1939 fasst Fink seine Absicht wie folgt
zusammen: „Das Charakteristische der Philosophie E. H. scheint mir nicht
so sehr die allgemeine Problemstellung zu sein, wenngleich bei H‹usserl› ein
originärer Neuentwurf der zentralen philosophischen Probleme der Tradition
vorliegt. Das entscheidend Eigentümliche der Phänomenologie sehe ich viel-
mehr in der analytischen Methode der Problembewältigung. Spekulative
Thesen, die in ihrer Abstraktheit wahr sein mögen, sind phänomenologisch
immer noch unentschieden, solange die ausführliche intentionale Analyse
der fraglichen Phänomene noch aussteht. M. a. W., die Idee der philosophi-
schen Wahrheit ist in der Philosophie E‹dmund› H‹usserls› vom Himmel der
spekulativen Ferne auf die Erde der mühevollen analytischen Arbeit herab-
geführt worden. Diese These werde ich in meinem Beitrag erörtern und mit
Berücksichtigung des Nachlasses (als der eigentlichen geleisteten analyti-
schen Arbeit H‹usserl›s) zu belegen versuchen.“283
Die Ausführung dieses Arbeitsvorhabens, die Fink im Laufe des Jahres
1939 mehrmals in Angriff nahm,284 wurde durch den Ausbruch des Krieges
am 1. September 1939 – den Feldzug gegen Polen – jäh abgebrochen. Auch
im Namen von Ludwig Landgrebe teilte Fink am 25. September 1939 an
Farber mit, „nach langen gemeinsamen Überlegungen sehr schweren Her-
zens auf die versprochene Mitarbeit am Gedächtnisheft verzichten“ zu müs-
sen. Was ihn und Landgrebe „zu diesem Entschluss bewogen“ habe, sei
„allein das höhere Interesse an der Nachlass-Arbeit“. „Wenn wir nicht Gefahr
laufen wollen, dass unsere hiesige Tätigkeit – die, wie Sie ja wohl wissen,
für unsere gemeinsame Sache von fundamentaler Bedeutung ist – durch ein
striktes Verbot der deutschen Behörden ein Ende gesetzt wird, müssen wir

282 Vgl. z. B. EFGA 3.4, Z-XXVI/38a.


283 Eugen Finks Brief an Marvin Farber vom 26. Januar 1939. Vgl. EFGA 3.3, Z-XXV/
CXCVIII/1a, wo neben dem „Problem der Phänomenologie Husserls“ auch „Der analytische
Stil der Husserlschen Philosophie“ zu Finks Arbeitsprojekten gehört. Vgl. auch EFGA. 3.4,
Z-XXX/61a.
284 Vgl. z. B. EFGA 3.4, Z-XXX/37b, 38a–b, 39a–b.

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unter den heutigen Umständen alles vermeiden, was mit der ‚version offici-
elle‘ unserer Berufung in Widerspruch steht.“ Es müsse außerdem darauf
geachtet werden, dass „im H‹usserl›-Gedächtnisheft keine Mitteilung über
die jetzige Situation des Nachlasses“285 gemacht werde. Wesentlich besser
sahen die Aussichten auf Finks und Landgrebes künftige Mitarbeit an der
von Marvin Farber Ende 1939 gegründeten Phenomenological Society aus.
Die von dieser neugegründeten phänomenologischen Arbeitsgemeinschaft
in die Wege geleitete Zeitschrift Philosophy and Phenomenological
Research wurde von Fink von Herzen begrüßt. Er sprach zugleich die Hoff-
nung aus, „dafür in nicht allzu ferner Zeit den Artikel zur Verfügung stellen
zu können“, den er „aus sehr ernsten Gründen“286 dem Memorial-Heft nicht
hatte zuwenden können. Im Falle der neuen Zeitschrift, so schätzte er die
Sachlage ein, „handelt es sich nicht um Personen, sondern rein philosophi-
sche Forschung und Diskussion“. Er betrachtete es sonach „als eine Aus-
zeichnung“, von Farber „zum Beitritt ‹zur Phenomenological Society› auf-
gefordert worden zu sein“, und erklärte sich „freudig zur Mitgliedschaft wie
zur ‚editorial cooperation‘“ bereit. So nahm Fink auch das Angebot an,
„Artikel für die Zeitschrift der ‚Phenomenological Society‘ zur Verfügung
zu stellen“, und versprach Farber, ihm „demnächst eine Übersicht über die
eventuellen Themata“287 zukommen zu lassen. Welche Themen für mögliche
Artikel Fink damals ins Auge fasste, geht aus mehreren Notizen der Mappe
Z-XXX hervor, in denen er die in Frage kommenden Themenbereiche auf-
listete.288
Über den Fortgang seiner Arbeit an dem in Aussicht gestellten Artikel
und über seine weiteren Arbeitspläne berichtete Fink an Marvin Farber in
einem Brief vom 18. Dezember 1939. Der für die erste Nummer der Zeit-
schrift Philosophy and Phenomenological Research versprochene Beitrag
sollte nicht mehr „der für das ,Memorial Volume‘ bereitgehaltene Artikel“
sein, sondern „eine Umarbeitung in eine rein sachliche Darstellung“. „Den
definitiven Titel“ könne er zu diesem Zeitpunkt „noch nicht angeben“, aber
das von ihm gewählte Thema, so teilte Fink mit, sei „eine Charakteristik
derjenigen ‚phänomenologischen‘ Erkenntnishaltung, die als ‚intentional-
analytische Deskription‘ gleichsam den vor-philosophischen Habitus der
Phänomenologie“ ausmache. Mit der Redaktion dieses Textes verband er die
Hoffnung, in Zukunft „eine Serie von Artikeln eröffnen zu können, die eine
kritische Besinnung auf die impliziten Voraussetzungen der phänomenolo-

285 Eugen Finks Brief an Marvin Farber vom 25. September 1939.
286 Ebd.
287 Finks Brief an Farber vom 24. Oktober 1939.
288 Vgl. EFGA 3.4, Z-XXX/20a, 21a, 22a, 50b. Vgl. auch ebd., Z-MH-I/25a.

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gischen Forschung zum Ziele haben“289. Zwar stand die intentional-analyti-
sche Deskriptionsarbeit als die charakteristische Erkenntnishaltung der Phä-
nomenologie nach wie vor im Zentrum seines philosophischen Interesses.
Aber Fink verfolgte damit nicht das ausschließliche Ziel einer rein imma-
nenten Auslegung des phänomenologischen Philosophierens Husserls, d. h.
einer bloßen Darlegung des analytischen Stils dieser Philosophie. Vielmehr
strebte er eine Gewichtung ,von außen‘ an. Es war seine erklärte Absicht,
einer „kritischen Besinnung“ auf die „impliziten Voraussetzungen“ der Phä-
nomenologie den Weg zu ebnen. Außerdem machte Fink bei dieser Gele-
genheit Farber den Vorschlag, „die Fortsetzung der in der Revue internatio-
nale de Philosophie begonnenen Schrift über das ‚Problem der
Phänomenologie Husserls‘“ ebenfalls „in dem Periodical der Phenomeno-
logical Society ‹zu› veröffentlichen“. Besonders für diesen Aufsatz hatte sich
auch Maurice Merleau-Ponty Anfang 1939 interessiert. Woran Fink dachte,
als er nunmehr eine Fortsetzung desselben ins Auge fasste, waren „noch drei
Aufsätze jeweils von der ungefähren Größe des bereits erschienenen
Anfangsstückes“290. Es steht zu vermuten, dass Fink die sechs noch ausste-
henden „Abschnitte“ des Artikels von 1939 – d. h. die zu Beginn des veröf-
fentlichten Textes angegebenen Teile: C. „Die radikale Reflexion“; D. „Wis-
senschaft und Lebenswelt“; E. „Die Theorie der Natürlichen Einstellung“;
F. „Die Theorie der Phänomenologischen Reduktion“; G. „Die Theorie der
Konstitution“; H. „Das Grundproblem“291 – fertig schreiben und sie in drei
Artikeln von jeweils zwei Abschnitten der Zeitschrift Philosophy and Pheno-
menological Research zugehen lassen wollte.292
Nachdem er im Monat Februar des Jahres 1940 im Leuvener Philoso-
phischen Kreis den Vortrag „Vom Wesen des Enthusiasmus“ gehalten hatte,
musste Fink Ende März Marvin Farber gegenüber einräumen, „trotz größter
Anstrengung“ den in Aussicht gestellten Umarbeitungsartikel noch nicht in
Druck geben zu können, und zwar aus rein philosophischen Gründen. Denn
während der Umarbeitung des ursprünglich für den Memorial-Band vorge-
sehenen Artikels sei ihm „unter den Händen etwas ganz anderes“293 entstan-
den – eine neue, umfangreichere Abhandlung mit dem Titel „Traktat über
phänomenologische Forschung“. Von dieser Arbeit versprach Fink sich vie-

289 Finks Brief an Farber vom 18. Dezember 1939. Eine diesem Brief entsprechende Notiz ist
in EFGA 3.4, Z-XXX/25a zu finden. Zum Zögern hinsichtlich des Beitragstitels vgl. ebd., Z-
XXX/36a.
290 Eugen Finks Brief an Marvin Farber vom 18. Dezember 1939.

291 Vgl. Fink, „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“, S. 185.

292 Für das Verständnis von Finks Fortsetzungsplänen für die Abhandlung von 1939 sind vor

allem folgende Notizen aufschlussreich: EFGA 3.4, Z-XXVII/A/7a, A/8a–b, A/9a-b, A/11a,
A/II/15a, 48a.
293 Finks Brief an Farber vom 30. März 1940.

Einleitung der Herausgeber II 209

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les – dass sie nämlich mit der Zeit zu einer Summa seiner kritischen, speku-
lativen Infragestellung der Phänomenologie heranwachsen würde. Denn
diese Abhandlung, die „methodische Grundfragen der Phänomenologie
behandelt, indem sie latente Voraussetzungen der Husserlschen Methodik in
Frage stellt“, sollte, so teilte Fink mit, nicht einfach „im Sinne einer Kritik“,
sondern vielmehr als eine „Besinnung auf den impliziten Entwurf der Idee
der Philosophie bei Husserl“ verstanden werden. Sie gliederte sich in vier
thematische Hauptabschnitte – von Fink anfangs als separate Schriftstücke
konzipiert –, welche der Zeitschrift Philosophy und Phenomenological
Research zugedacht waren:294 1) „Deskription und Analyse“, 2) „Ideation
und Wesenserkenntnis“, 3) „Anschauung und Begriff“, 4) „Gegenstand und
Seiendes“.295 Bis Ende Mai 1940 wollte Fink Farber den ersten, mit „Deskrip-
tion und Analyse“ bezeichneten Abschnitt zusenden. Allmählich hervorge-
gangen aus dem Kontext, einen philosophischen Beitrag zunächst zum
Memorial-Volume und dann zu der Zeitschrift Philosophy and Phenomeno-
logical Research zu leisten, stand der neue „Traktat über phänomenologische
Forschung“ zudem mit der im Jahre 1939 erschienenen Abhandlung „Das
Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“ in einem inneren Zusam-
menhang. Während eines am 14. Januar 1940 mit Ludwig Landgrebe geführ-
ten Gespräches legte Fink großen Wert darauf, diesen Zusammenhang auch
eigens hervorzuheben. Wenn in der Abhandlung aus dem Jahre 1939 „das
Thema eine Interpretation der Philosophie in der Phänomenologie Husserls“
gewesen sei, so fasse der „Traktat“ seinerseits „die spezifische Gefahr der
Phänomenologie: nämlich die Verkehrung ursprünglicher philosophischer
Motive in eine un-philosophische dogmatische Methodik ‚phänomenologi-
scher Forschung‘“ ins Visier. Damit profiliere sich der „Traktat“ als ein
„Gegenstück“ zu der Abhandlung von 1939. Im selben Gespräch listete Fink
auch die thematischen Schwerpunkte des „Traktats“ auf: „Deskription und
Analyse – Systemfeindschaft und Feindschaft gegen die Spekulation – Leit-
idee der Universalwissenschaft (radikale und universale strenge Wissen-
schaft) – Wesenslehre – Reflexionsphilosophie.“296 Dass der „Traktat“ auf

294 Vgl. EFGA 3.4, Z-XXX/50b und Anm.


295 Finks Brief an Farber vom 6. Mai 1940.
296 EFGA 3.4, Z-XXVIII/XIX/1a. In diesem Gespräch referierte Landgrebe seinerseits „über

seinen Plan“, einen Artikel zu „Husserls Weltbegriff“ für die erste Nummer der Zeitschrift zu
verfassen. Bei dieser Gelegenheit brachte er die gewagte Behauptung vor, „es gäbe eigentlich
bei Husserl kein Weltproblem. Vor allem nicht eine Erklärung für die Transzendenz der
Gegenstände; Husserl weise auf die Konstitution von Transzendentem, aber nicht der Felder
der Transzendenz. Dies sei vielmehr immer schon vorausgesetzt; die Gegenständlichkeit der
Gegenstände (das kantische Problem der ,transzendentalen Deduktion‘) sei für Husserl selbst
nicht zu einer Frage geworden; selbst in der Sphäre der Passivität habe Husserl als Affektion
der Gegenstände die Sphäre von Gegenstehen schon vorausgesetzt“. Vgl. Ludwig Landgrebe,

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die Abhandlung aus dem Jahre 1939 ein bezeichnendes Licht wirft, wird
übrigens durch zwei weitere Notizen von Finks Hand bestätigt. Der „‚Traktat
über phänomenologische Forschung‘“, so notierte er sich, „ist das kritische
Gegenstück zu der Schrift über ‚Das Problem der Phänomenologie Edmund
Husserls‘“, sofern in ihm „gerade die spezifische Gefahr der Phänomenolo-
gie, ihre Ablösung von der Philosophie und der reformatorische Anspruch
einer Neubegründung“297 zum Hauptgegenstand der Darlegungen gewählt
wurde. Wenn „in ‚Das Problem der Phänomenologie Husserls‘ die philoso-
phische Problematik der Phänomenologie behandelt“ werde, so stelle der
„‚Traktat über phänomenologische Forschung‘ die Gefahr der Phänomeno-
logie, die Gefahr einer Erstarrung in einer un-philosophischen Methodik“
heraus. „Die erste Abhandlung“, so Fink, „ist somit eine ‚Interpretation‘, die
zweite eine ‚Kritik‘. Sie beziehen sich aufeinander.“298
In den vorliegenden 4. Teilband der „Phänomenologischen Werkstatt“
sind die ersten Notizen aufgenommen, mit denen Fink das Schriftprojekt des
„Traktats“ in die Wege geleitet hat. Sie finden sich in der Mappe Z-XXVI in
Form einzelner, auf Kalenderblättern von Februar bis März 1940 niederge-
schriebenen Notizen der Reihe CXXIII („Mosaik 1940“). In dieser Mappe
sind auch die Notizen eines am 3. April 1940 mit Hendrik Jan Pos geführten
Gesprächs aufbewahrt. Den ersten expliziten Hinweis auf den „Traktat über
phänomenologische Forschung“ enthalten die Notizen am Schluss der
Mappe Z-XXVII.299 Hier äußert Fink den Grundgedanken, der den „Traktat“
von anderen „Darstellungen der Phänomenologie“ wesentlich unterscheide,
dass nämlich „Husserls Philosophie“ gerade nicht im Ausgang „von ihren
programmatischen Bestimmungen und Forderungen und dem, was sie als
ihre Absicht proklamiert“300, verstanden und ausgelegt werden sollte. Einzig
„im Gegenzug gegen ihr eigenes Programm“ sei sie in der Lage gewesen, ihr
volles philosophisches Potenzial zur Entfaltung zu bringen. Nur indem man
diese Gegenbewegung gegen ihre eigenen methodischen Forderungen und
Forschungsabsichten nachvollziehe, könne sie ihren Rang als Philosophie
auch in Zukunft behaupten – und werde nicht dem Schicksal anheimfallen,
lediglich als eine Forschungsmethode unter anderen eingestuft zu werden.
„Von vornherein“, so meinte Fink, war der philosophische Impetus der Phä-
nomenologie „durch methodische Thesen“ und durch vorwiegend am Ideal

„The World as a Phenomenological Problem“, in: Philosophy and Phenomenological


Research, I/1 (1940), S. 38–58. Die deutsche Fassung wurde später in Ludwig Landgrebe, Der
Weg der Phänomenologie. Das Problem einer ursprünglichen Erfahrung, Gütersloh 1963,
S. 41–62 veröffentlicht.
297 EFGA 3.4, Z-XXIX/51a.

298 Ebd., Z-XXX/16a.

299 Vgl. ebd., Z-XXVII/67a, 68a und Anm.

300 Ebd., Z-XXVII/67a.

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einer mundanen Wissenschaftlichkeit orientierte Erkenntnisanforderungen
„gehemmt“ worden, so dass sie keinen eigenen „Entwurf“ der Idee von Phi-
losophie verfolge. Die phänomenologische „Idee“ der Philosophie sei ledig-
lich in der Auflehnung gegen ein spekulatives und als unwissenschaftlich
abqualifiziertes Denken und als Reaktion auf die „Uneinigkeit und Mannig-
falt‹igkeit› von Philosophien“ entstanden.301 Demzufolge musste sich Hus-
serls „eigenes Philosophieren“ im Verlauf seiner Entwicklung gerade im
Gegensatz zu seiner „programmatisch-kritischen“ Aufforderung zu einer
„Philosophie als strenger Wissenschaft“ durchsetzen. Die innerste „Eigen-
tümlichkeit der Phänomenologie Husserls“ sei, so betont Fink, dadurch
bestimmt gewesen, „den ‚Anfang‘ übersprungen zu haben – und nur in der
Verwandlung ihres Programmes den Anfang nachzuholen“302. Indem er sich
dazu aufmachte, den philosophischen Antrieb innerhalb der Phänomenologie
wieder „in Gang“303 zu bringen und ihrer drohenden „Ablösung“ von der
Philosophie vorzubeugen, stieß Fink auf die „eigentümliche Schwierigkeit“,
dass die Phänomenologie ihre Methode in Form einer externen Forderung
gleichsam „außer sich“ habe, was zu der charakteristischen „Spannung von
Philosophie und phänomenologischer Forschung“304 führe. Er versuche
daher, durch eine Besinnung auf „das Verhältnis von Phänomenologie und
Philosophie“ die „phänomenologische Forschung“ wieder in die Philosophie
zurückzuführen, gleichzeitig jedoch die „Thesen dieser phänomenologi-
schen Philosophie wieder in Frage“ zu stellen und gleichsam „von innen“
heraus ihre „stillen Voraussetzungen“ kritisch zu hinterfragen. Die Verwirk-
lichung dieses Vorhabens führte zu einer doppelten Aufgabenstellung. Einer-
seits war eine bestimmte „Interpretation“ der Phänomenologie gefordert, die
von der Intention geleitet war, zu ihrem „Grundproblem“ vorzudringen – was
Fink sich mit seiner Abhandlung aus dem Jahre 1939 vorgenommen hatte.
Andererseits bestand das dringende Bedürfnis, eine „Kritik“ der philosophi-
schen und un-philosophischen Beweggründe zu leisten, aus denen heraus die
phänomenologische Forschung im Ausgang von ihrer „faktischen Gestalt“305
bislang ihre Betriebsamkeit entfaltet hatte – was Fink mit dem „Traktat“ ins
Auge fasste.
Weitere Notizen zum „Traktat“ sind in der Mappe Z-XXX (von Blatt 6a
an, mit Unterbrechungen) zusammengelegt worden. Von besonderem Inter-
esse sind drei „Umkippungspunkte“, die Fink im Zuge seiner Ausführungen
andeutet, an denen die phänomenologische Philosophie in eine bloße phäno-

301 Ebd.
302 Ebd., Z-XXVII/67b.
303 Ebd., Z-XXVII/64b.
304 Ebd., Z-XXVII/67a.
305 Ebd., Z-XXVII/68a.

212 Einleitung der Herausgeber II

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menologischen Forschungsmethodik umschlage. „1) Das Pathos der Bindung
an die Sachen – erstarrt in ‹der› Bindung an das Seiende im Horizont des
vorgegebenen Begriffs von Seiendem. Bindung ohne Aktion der Freistellung
für …; Bindung an das Gegebene, ohne die philosophische Entscheidung
über das Gegebensein, über den Sinn von Gegebenheit. So verkehrt sich ein
ursprünglich philosophisches Motiv in sein Gegenteil. 2) Die Aufgeschlos-
senheit für den ‚Reichtum‘ der Sachen selbst führt (in sich reflektiv-fixiert)
zur Diffamierung des Systems, zur systemlosen Geschwätzigkeit. 3) Die
‚Sachlichkeit‘ erstarrt zur Ungeschichtlichkeit der fixierten Gegenwart.“306
Der an sich philosophische Grundgedanke der Phänomeno-logie, dass ein
Rückgang auf die phänomenale Selbstgebung, auf die Nähe zu den Dingen
unumgänglich sei, verliere „auf einmal jeden philosophischen Wert, wenn
Selbstgegebenheit nicht mehr […] in einer ausdrücklichen philosophischen
Entscheidung gesucht“, sondern als methodische Selbstverständlichkeit ein-
fach hingenommen werde. Das dadurch hervorgerufene Auseinanderklaffen
von Philosophie und phänomenologischer Forschung führe letztlich zu der
brennenden Frage: „Soll die Philosophie reformiert werden durch eine phä-
nomenologische Forschungshaltung – oder soll diese phänomenologische
Forschung aus der Problematik der Philosophie angetrieben sein?“307 Eine
kritische Verortung der Phänomenologie und des reformierenden Pathos,
das sie in die Philosophie eingebracht habe, erfordere eine präzise Unter-
suchung des ideengeschichtlichen Kontextes, innerhalb dessen sich die
phänomenologische Philosophie formiert habe. Von neuem richtet Fink sein
Augenmerk auf die „historischen Elemente des Milieus“, aus dem Husserls
Phänomenologie hervorgegangen sei: „a. Psychologie, b. Positivismus,
c. Strenge Wissenschaft“ und auf die „drei Phasen“, in denen sich ihre
philosophische Eigenart ausgeprägt habe: „1. Psychologische Begründung
der ‹Logik›, 2. Immanenzphilosophie, 3. Subjektivismus“308. Im Hinblick
auf diese geistige Herkunft sei Husserls Rehabilitierung der „Phänomene“
bzw. der „Erscheinungen“ durch den „Gegensinn“ gekennzeichnet, den sie
„gegen die ‚wahre‘ (entsubjektivierte) Welt der exakten Wissenschaften“ ins
Feld geführt habe. Allerdings sei diese philosophische Geste bei Husserl
keine „bewusste und als Ziel verfolgte Rehabilitation der ‚Erscheinung‘“
gewesen – wie dies „bei Nietzsche“ der Fall sei, in dessen Schriften sich
eine gezielt gegen die metaphysische Tradition gerichtete philosophische
Rehabilitierung der Erscheinung und des Werdens angebahnt habe. Ein
glänzendes Zeugnis dafür sieht Fink in Nietzsches Götzendämmerung und
insbesondere in dem Text „Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“.

306 Ebd., Z-XXX/35a.


307 Ebd.
308 Vgl. ebd., Z-XXX/27a.

Einleitung der Herausgeber II 213

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Des Weiteren sei zu prüfen, ob sich Husserl durch die feste Überzeugung,
„in der Sphäre der konstituierenden Subjektivität das ‚eigentlich Seiende‘“
gefunden zu haben, nicht selbst „gegen seine Tendenz zur Behauptung der
phänomenalen Welt“ gekehrt habe und am Ende zu einer „Versteifung“
in einem „metaphysisch genommenen“, stillstehenden Begriff der „Erschei-
nung“ gelangt sei. Ist denn, so fragt sich Fink, die „durch die Methodik der
phänomenologischen Reduktion von allen Außenapperzeptionen“ gereinigte
Subjektivität, die reine Innerlichkeitssphäre der immanenten Wahrnehmung,
mehr als „die eine Seite der metaphysisch verstandenen ‚Erscheinung‘“?
Bedeutet die Phänomenologie im Grunde „mehr als einen Dogmatismus
der Egoität?“309 – Offenbar nicht, „weil die Phänomenologie in jenem
philosophischen Mangel befangen“ geblieben sei, der darin bestehe, „dass
nicht das seiendste Seiende gesucht wird. M. a. W.: dass die Tiefengliederung
des Seienden nicht gesehen ist.“ Und er fährt fort: „Weil Husserl das Ver-
hältnis von Ansichsein und Fürunssein nur ‚gnoseologisch‘ und nicht selbst
ontologisch (als ein Verhältnis von Wesen und Erscheinung) begreift, verliert
er das Seinsproblem, schlägt seine Problematik von ens – verum um in eine
Dogmatik eines ‚absoluten Subjektivismus‘“310. Und genau deshalb gebe
es bei Husserl auch eine gewisse „idealistische“, d. h. „subjektivistische“
Auslegung des „Verhältnisses des Ansichseins und Fürunsseins in der Form
einer Eliminierung des Ansichseins“. Hierin erblickt Fink übrigens einen
„bedeutsame‹n› Unterschied“ zu Hegel: In Husserls Phänomenologie werde
das Problem von Ansichsein und Erscheinung (Fürunssein) „nur in der
gnoseologischen Sphäre behandelt, ohne ‹es› als ein Verhältnis des Hervor-
kommens des Wesens in die Erscheinung zu verstehen“. Was Fink an Husserls
Philosophie bemängelt, ist, dass sie „keine Reduktion der Erscheinung auf
den Begriff“ vollzieht.311
Das von Fink im Frühjahr 1940 auf der Basis zahlreicher Skizzen
und Vorentwürfe angefertigte Typoskript eines Anfangsstückes des „Trak-
tats“ wird im vorliegenden vierten Teilband der „Werkstatt“ mitsamt den
dazugehörigen textkritischen Anmerkungen in der Mappe Z-XXIX (Reihe
CCCXVII) zum ersten Mal dem Publikum zugänglich gemacht. Auch in
diesem Typoskript tritt das ambivalente Verhältnis zu Husserls Phänome-
nologie, das Finks philosophische Grundhaltung zu dieser Zeit prägte,
in aller Klarheit hervor. Zum einen bezeugt er seine uneingeschränkte
Hochschätzung für die einzigartige philosophische Leistung, die Husserls
Phänomenologie erbracht habe. Zum anderen unterzieht er die Begrenztheit
ihrer philosophischen Ausgangsposition einer unbarmherzigen Kritik. Seit

309 Ebd., Z-XXX/42a.


310 Ebd., Z-XXX/45a.
311 Ebd., Z-XXX/47a.

214 Einleitung der Herausgeber II

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den ersten Studien zu Vergegenwärtigung und Bild (1929/30) hat sich Fink
im Entwurf eines „Systems der Phänomenologie“ aus dem Jahre 1930,
in seinem von 1932 stammenden Entwurf einer „Transzendentalen Metho-
denlehre“ sowie in den von 1933 bis 1939 fortgeführten Studien zur Phäno-
menologie unablässig darum bemüht, „die phänomenologische Forschung
zum Thema einer eigenen Erörterung zu machen“. An den Anfang seines
„Traktats“ stellt er nun in zugespitzter Form „die Frage nach dem Verhältnis
von Phänomenologie und Philosophie“. Eine „wirkliche Bewegung des
Gedankens“ finde kein Genügen daran, „nur das ‚Resultat‘ zu wissen,
nur ‚Standpunkte‘ zu fixieren“. Der „phänomenologische[n] Konzeption
der ‚Philosophie‘“ soll „nach-gedacht ‹werden› in einer Besinnung auf die
prinzipiellen, ihr zugrundeliegenden Setzungen“. Was mit dem „Traktat“ in
Aussicht gestellt wird, ist „in direkter Form eine philosophierende Interpre-
tation der Phänomenologie, eine Herausstellung ihres Grundproblems“312.
Zur Erfüllung dieser Aufgabe bedürfe es allerdings eines Umweges. Es
gelte, den „Entwurf der Prinzipien phänomenologischer Forschung“ zu hin-
terfragen im Hinblick auf den in diesem Entwurf unterschwellig wirksamen
„phänomenologischen Begriff der Philosophie“. Es steht außer Frage, „dass
dieser Zusammenhang“ zwischen phänomenologischer Forschung und der
Bestimmung des phänomenologischen Philosophiebegriffes „ein‹en› Anta-
gonismus“, und zwar einen „verdeckte‹n› Antagonismus“ darstelle, der „eine
gleichsam unterirdische Spannung“ erzeuge. Eben dieser Antagonismus
mache „gerade die Fragwürdigkeit aus“, die im „Traktat“ zum Ausdruck
gelangen solle. Der leider Fragment gebliebene Text „Über die Grenzen
der Phänomenologie“313, in dem Fink die unausgesprochenen Vorausset-
zungen thematisieren wollte, die dem von Husserls Phänomenologie so
energisch befürworteten „Prinzip der Voraussetzungslosigkeit“ zugrunde
liegen, schließt mit der Warnung, dass eine bloße „phänomenologische
Erforschung“, d. h. eine analytische Deskription „der sinnlichen Gegeben-
heiten“, noch keinen wahrhaften „Bezug zur Philosophie“ aufzuweisen
vermöge. Gerade die „Ahnungslosigkeit“, mit der mit den „Grundbegriffen
der Metaphysik wie ‹mit› allbekannten Prädikaten“ umgegangen werde, sei
Anzeichen einer endgültig vollzogenen Ablösung der phänomenologischen
Forschung vom philosophischen Denken. Philosophisch völlig inakzeptabel
ist in Finks Augen das „Dilettantische einer solchen Eristik“ der Forschung
– das vereinfachende Hantieren mit einer „technischen Apparatur“314 blo-
ßer phänomenologischer Formeln. „Vage, unentwickelte oder verfallene
metaphysische Begriffe“ als schlicht vor-gegebene „aufzugreifen und damit

312 Ebd., Z-XXIX/CCCXVII/1a.


313 Ebd., Z-XXIX/318b.
314 Ebd., Z-XXIX/CCCXVII/5a.

Einleitung der Herausgeber II 215

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räsonierend umzugehen“, sei noch keine Philosophie. „Sache der Philoso-
phie“315 sei vielmehr die ursprüngliche Setzung der Grundbegriffe des Wis-
sens. „Sein, Wesen, Wirklichkeit, Erscheinung“ seien zunächst „Namen“,
„so gut bekannt wie der des Apfels“. Sie stünden dem alltäglichen und
dem wissenschaftlichen Denken unmittelbar zur Verfügung. „Es bei dieser
Bekanntheit bewenden zu lassen, macht gerade die geschäftige Trägheit des
menschlichen Geistes aus, wo ihn kaum noch eine Ahnung von Philosophie
bewegt und er in der Vielfalt seiner ‚Interessen‘ den – alles menschliche
Verhalten ursprünglich lichtenden – begrifflichen Entwurf des ‚Seienden‘
vergisst oder im Dämmer einer verfallenden Tradition stehen lässt.“316 Die
höchste Gefahr der eigentlich phänomenologischen Philosophie besteht nach
Fink in der „Stagnation des begrifflichen Seinsverständnisses“ in einer
vorgegebenen Forschungsmethode, im „Nichtgesetztsein“ der urlichtenden
Begriffe aufgrund eines nicht ausdrücklich vollzogenen und vermittelten
Entwurfs der Ideen des Seienden, der Wahrheit, des Einen und des Schönen.
Im Enthusiasmus eröffne sich dem Menschen die Möglichkeit, zu einer
ursprünglichen „ontologischen Erfahrung“ zu gelangen und die Erstarrung
seiner Seinsbegriffe zu lösen. Das Ergreifen dieser Möglichkeit entspreche
dem Wesen des Menschen als eines „Mittlers“. „Nur ein endliches nichtiges
Seiendes kann so inmitten des Seienden sein, dass es sich einen Entwurf
der Seinsverfassung alles Seienden vorgeben muss. Dieser ‚Entwurf‘ ist die
Erklärung des menschlichen Geistes, was ihm das Seiende sei“317.
Bedauerlicherweise ist die Fortsetzung des „Traktats“ – dieses einzig-
artigen Manuskripts, in dem Fink sich im Ausgang von einer internen Kritik
der Phänomenologie, von einer rigorosen Einschätzung der sie bedrohenden
Gefahren und von einer scharfsinnigen Analyse ihrer stillschweigenden Vor-
aussetzungen dazu durchrang, seine eigene philosophische Stellung in ein-
deutigen und unmissverständlichen Formulierungen auszusprechen –
„infolge der Kriegsereignisse in Belgien im Sommer 1940“318 verloren
gegangen. Als er die Schrecken seiner Verhaftung und Deportation über-
standen hatte und in seine ausgeplünderte und zum Teil durch Bomben
beschädigte Wohnung in Kessel-Lo zurückgekehrt war, fand er dennoch die
Kraft, sich geistig zu sammeln, und fasste die wichtigsten Gedanken des
verlorenen gegangenen „Traktats“ in einem maschingeschriebenen Text
zusammen. So entstand das Typoskript „Elemente einer Husserl-Kritik“, das
im zweiten Abschnitt des vorliegenden 4. Teilbandes der „Werkstatt“ abge-
druckt ist. Es besteht aus einer Sammlung von insgesamt 56 thesenhaft for-

315 Ebd., Z-XXIX/CCCXVII/6a.


316 Ebd.
317 Ebd., Z-XXIX/318b.
318 Vgl. ebd., Z-XXIX/CCCXVII/5a, CCCXVII/6a und Fußnote.

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mulierten „Notizen aus der Zeit der Abfassung von ‚Traktat über phänome-
nologische Forschung‘ (Frühjahr 1940)“, dessen „zur Hälfte ausgearbeitetes
Manuskript“319 infolge der Kriegswirren verloren gegangen war. Es emp-
fiehlt sich deshalb, die „Elemente“ zusammen mit den erhaltenen Materialien
zum „Traktat“ zu lesen. Beide Textdokumente gehören zu demselben, leider
unterbrochenen Projekt einer „Zurückstellung der phänomenologischen For-
schung in die Philosophie“320, mit dem Fink sich in dieser bewegten Lebens-
phase, die ihn auch innerlich sehr angriff, so intensiv befasst hat. Die
ursprüngliche Disposition des „Traktats“, die vier Hauptabschnitte vorsah,
wird übrigens in der These Nr. 9 der „Elemente“ nochmals wiedergegeben.
Auch die teilweise für den Artikel von 1939 herangezogenen Notizen der
Mappe Z-XXVII („Zu ‚Grundproblem Husserls‘. Kritisches“)321 werfen ein
bezeichnendes Licht auf die in den „Elementen“ skizzenhaft umrissene
„Husserl-Kritik“.
Am Anfang der „Elemente“ steht die ausdrücklich als ein „Desiderat“
bezeichnete Aufforderung Finks, zu einer „radikalisierten Form der Reduk-
tion“ vorzudringen, und zwar „als Prüfung der in den urlichtenden Begrif-
fen sich vollziehenden Setzungen“.322 Schon während seiner Assistenzzeit
mehrten sich seine Versuche, Husserls Lehre von der phänomenologischen
Reduktion neu zu interpretieren. Wichtige Etappen waren dabei die originelle
Konzeption einer „meontischen Phänomenologie des Absoluten“ sowie
seine Neuerung der Idee der Philosophie als „Selbstbemächtigung des
Lebens“. Von besonderer Bedeutung ist aber, dass die von Fink beabsichtigte
„Radikalisierung“ in den „Elementen“ ein eindeutig ontologisches Profil
aufweist. Um die in der Phänomenologie Husserls angeblich „zum Stehen
gekommene ‚ontologische Erfahrung‘“ wieder in Bewegung zu bringen und
seine Phänomenologie „aus der Erstarrung im dogmatischen Subjektivismus
zu befreien“, kehrt Fink eine Gestalt der „Reduktion“ hervor, die er als
staunende, enthusiastische und ent-setzende Grunderfahrung bezeichnet.
Sie führt zu einem allumfassenden Zerbrechen des Weltbodens und der
Weltgültigkeit, zu einem „Loslassen und Suchen“323 als einem Akt der
Befreiung menschlicher Existenz aus der weltlichen Befangenheit, der in ihr
die dynamische, sie insgesamt ergreifende und beschwingende Bewegung
der „κάθαρσις“ und der „ὁμοίωσις θεῷ“324 hervorruft. In ihrem Kerngehalt
ist die Phänomenologie nach Fink ein gesteigertes „Entbehrungsverstehen“,

319 EFGA 3.4, Elemente einer Husserl-Kritik.


320 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/3.
321 Vgl. insb. ebd., Z-XXVII/3a.
322 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/10.
323 Ebd., Z-XXIX/44a.
324 Vgl. ebd., Z-XXVI/38b, Z-XXVII/44a, Z-XXIX/2a, 308b.

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das sich gerade gegen die ontologische Stockung kehrt, von der Husserls
Auffassung der Phänomenologie fortwährend zeugt. Je mehr die „ontologi-
sche Erfahrung zum Stillstand kommt“, desto mehr wird „der Begriff der
‚Reduktion‘ als eine Methode“325 aufgefasst und fixiert. Deshalb müsse „die
Methode der Epoché, der Enthaltung des Seinsglaubens“326, radikal infrage
gestellt werden. Denn sie führe dazu, das Sein des Menschen irrtümlich als
„absolute Subjektivität“ zu deuten, die menschliche Existenz zum „seiends-
ten Seienden“ zu erklären. Im Enthusiasmus dagegen werde die „entbehrende
Sehnsuchtsbeziehung“ zum Übermenschlichen zur konkreten Erfahrung –
während sich die phänomenologische Epoché im Sinne Husserls „am Ende
gar ‹als› die Abriegelung von der Nähe zum eigentlich-Seienden, ‹als› die
Verirrung in uns selbst“327 enthüllt. Gegen den gängigen „Anspruch, die
Philosophie durch phänomenologische Forschungsmethoden reformieren zu
wollen“, wendet Fink ein, dass „zuvor eine Reform der phänomenologischen
Forschung durch Philosophie geleistet werden“328 müsse. Zwar könne man
in Husserls „Tendenz zur Unmittelbarkeit des Lebens“, in seinem Versuch,
den Dingen in ihrer originären Nähe zu begegnen, in seinem Zurückdrängen
der „Vorherrschaft des dinglichen Seins“ dadurch, dass er ihr „festes Sein
in lebendige Bildung“ auflöse und „also auch gegen den ‚Naturalismus‘“329
zu Felde ziehe – kurz: in seiner phänomenologischen Maxime „Zu den
Sachen selbst“ –, eine genuine „Suche des eigentlichen und wahrhaften
Seienden“ erblicken. Vollzogen habe sich bei ihm jedoch keine „Wendung
zum Seienden, sondern nur zum Objekt in seiner gegebenen Gegebenheit“330,
und zwar aufgrund einer anti-spekulativen Vorentscheidung, eines eilfertigen
„Verzichts auf Metaphysik“, der sich „als Hunger nach Wirklichkeit, nach
Realitätsfülle“331 verstehe, aber in Wahrheit durch das Ideal einer mundanen
Wissenschaftlichkeit geblendet worden sei. Die Folge davon sei, dass in Hus-
serls Phänomenologie die Erscheinung „verabsolutiert“, „als absolut“ fixiert,
„das Seiende an sich“ sowie „die Transzendenz des Übermenschlichen
(des Theion)“ gestrichen und „die endliche Subjektivität absolut“332 gesetzt
wurde. Damit füge sich die Phänomenologie Husserls nahtlos „in die neuzeit-
liche Tendenz der Austreibung des Eigentlich-Seienden aus dem Bereiche
des menschlichen Fragens“ ein. Sie verkörpere geradezu „die Situation des

325 Ebd., Z-XXVII/40a.


326 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/10.
327 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/11.
328 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/46; vgl. auch ebd., Z-XXX/35a.
329 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/31.
330 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/54.
331 Ebd.
332 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/31.

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Stolzes des Menschen auf sich als ‚autonomes Kultursubjekt‘“333. In ihrer
„anti-spekulativen Haltung“, die eine „Flucht vor dem Begriff“334 predige,
kenne die Phänomenologie „keine metaphysica generalis“, d. h. sie arbeite
„keine Theorie der urlichtenden Begriffe“335 heraus. Die „Leerstelle der
traditionellen Metaphysik“ werde bei Husserl von der „Logik als formaler
Ontologie“ eingenommen, die aber „in Wahrheit keine Ontologie, sondern
eine formale Gegenstandstheorie“336 sei.
In diesem ideengeschichtlichen Ambiente eines in sich verfangenen,
sich absolut setzenden Menschentums ist die phänomenologische Philoso-
phie der Gefahr ausgesetzt, zu einer „methodisch erstarrte‹n› phänomenolo-
gische‹n› Forschung“ zu entarten, die sich mit ihrer „sich zur Maxime reflek-
tierenden Einfalt der Begriffslosigkeit, ‹ihrer› dumpfen Aversion gegen den
Begriff“ geradezu prunkvoll kleiden möchte. Das Wesen der Philosophie
liegt nach Fink aber im Begriff, im lebendigen Akt der „Begreifung“, d. h.
in der „Setzung des urlichtenden Entwurfs“337. Hegels These, dass die
Philosophie „zuerst das ‚Geben ihrer Begriffe‘“ sei, bedeute „im Hinblick
auf Husserls Phänomenologie […] etwas ganz anderes als die Forderung
nach einer“ dem wissenschaftlichen oder sonstigen Wissen „vorgängigen
Erkenntniskritik“338. Als Akt einer wesentlichen In-Begriff-Setzung ist die
Philosophie weder auf wissenschaftliche Intentionen noch auf bloß erkennt-
niskritische Aufgaben rückführbar. „Das Geben von Begriffen ist das Setzen
des Begriffs des Seienden und zwar nicht als einer subjektiven Vorstellung
vom Seienden, die das Seiende an sich selbst nichts angeht, sondern ist der
Entwurf der ontologischen Fundamentalbegriffe, die schon jeder Unterschei-
dung von Seiendem an sich und subjektiver Vorstellung davon zugrunde
liegen.“339 Es sei also „eine fundamentale Aufgabe der Philosophie“, die
natürliche Einstellung des Menschen bzw. „die Unmittelbarkeit als solche zu
erkennen“ und diese aus einem philosophischen Verstehen zu bestimmen, um
„damit das in ihr verfangene Dasein aus ihr herauszuführen, in sich selbst
reflektieren zu lassen“. Die „unmittelbare Welthaltung ist (philosophisch
bewertet) das stagnierende Seinsverständnis, ein Stillstand der ‚ontologi-
schen Erfahrung‘“, weil „die Unmittelbarkeit um ihr Unmittelbarsein“ nicht
weiß und dennoch, in der extremen Form ihrer negativen Freiheit, die in
Selbstüberschätzung und Hochmut umschlägt, „sich für absolut“ hält.340

333 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/32.


334 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/36.
335 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/32.
336 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/38.
337 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/43.
338 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/44.
339 Ebd.
340 Ebd., Elemente einer Husserl-Kritik/41.

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Gegen Ende des Monats März 1940 war Fink, nach dem öffentlichen
Vortrag von „Vom Wesen des Enthusiasmus“ im Philosophischen Kring,
intensiv mit der Arbeit am „Traktat“ resp. mit der Ausarbeitung eines ersten
Teils zu „Deskription und Analyse“ beschäftigt. Er wollte seinen Beitrag für
die neue Zeitschrift der Phenomenological Society so schnell wie möglich
an Marvin Farber schicken. Zuvor, am 8. März 1940, hatte Farber sich bei
Fink mit der Nachricht gemeldet, dass Aron Gurwitsch nach einem zwei-
jährigen Forschungsaufenthalt an der Sorbonne gerade dabei sei, in die USA
zu emigrieren und an der Johns Hopkins University ein Unterkommen zu
finden. Er drückte den Wunsch aus, dass auch Fink und Landgrebe bald in
die USA umsiedeln würden. „But above all, we need writings by yourself
and Landgrebe, the more the better.“341 Das „langsame Tempo in der Fertig-
stellung“ des versprochenen Artikels begründete Fink in seinem Antwort-
brief vom 30. März 1940 mit dem Hinweis auf seine „persönliche Situation“.
Die „für Louvain übernommene Arbeit“ nehme „einen sehr großen Teil des
Tages in Anspruch“, so dass „nur wenige Stunden“ für die Erfüllung der
eigenen Aufgaben übrigblieben. Zwar wolle er die Redaktion seines Textes
„mit größter Energie zum Abschluss treiben“. Die „Verspätung in der Absen-
dung“ habe jedoch nicht nur „äußere“, sondern auch „innere Gründe“, die
Fink Farber recht offenherzig mitteilte: „In erster Linie ‹muss ich mich› einer
Arbeit widmen, die die erste geistig selbständige Schrift nach den langen
Lehrjahren bei Husserl sein ‹wird›“. Dadurch sei „die Zeit für Artikel noch
weiter beengt“342. In einem Brief vom 6. Mai 1940, der kurz vor der Verhaf-
tung in Leuven und der Deportation nach Südfrankreich verfasst wurde, gab
Fink Farber nochmals Auskunft über den Stand seiner Arbeit am ersten Teil
des „Traktats“, der ihm „bis Ende des Monats mit ‹der› Luftpost“ zugehen
würde, und fügte hinzu: „Später hoffe ich, Ihnen Teile der großen Schrift, an
der ich jetzt hauptsächlich arbeite, zur Verfügung stellen zu können.“343 Der
Titel dieser ersten „geistig selbständigen Schrift“, mit der er die „Phänome-
nologische Werkstatt“, die er über viele Jahren mit Husserl geteilt hatte,
gleichsam hinter sich ließ, lautete: „Ontologische Erfahrung“. Erst im Jahre
1946 konnte Fink den Briefverkehr mit Marvin Farber wieder aufnehmen.
Die Schrift zur „ontologischen Erfahrung“ sollte nie das Licht der Welt erbli-
cken; Finks philosophische Stimme schwieg während des Krieges.
Die in den vorliegenden 4. Teilband der Werkstatt aufgenommene
Mappe Z-XXIX („Material zu ‚Ontologische Erfahrung‘ 1939/40“) gewährt
der Leserschaft zum ersten Mal Einblick in die erhaltenen schriftlichen
Unterlagen zu dem Schriftprojekt über „ontologische Erfahrung“. Diese

341 Marvin Farbers Brief an Eugen Fink vom 8. März 1940.


342 Eugen Finks Brief an Marvin Farber vom 30. März 1940.
343 Eugen Finks Brief an Marvin Farber vom 6. Mai 1940.

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Notizensammlung, die in Wirklichkeit den Zeitraum von 1938 bis Ende 1945
überspannt, ist die umfangreichste des gesamten 4. Teilbandes. Viele Notizen
stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit weiteren Schriften und Werken
von Fink, die aus der Nachkriegszeit stammen und in denen das Thema
„ontologische Erfahrung“ in den Vordergrund tritt. An erster Stelle soll hier
der Vortrag „Zum Problem der ontologischen Erfahrung“ genannt werden,
den Fink im April 1949 auf dem I. Nationalen Kongress für Philosophie in
Mendoza (Argentinien) gehalten hat.344 Aber bereits zuvor, in seiner während
des Wintersemesters 1946/47 angebotenen Vorlesung „Philosophie des Geis-
tes“345 breitete Fink vor der Studentenschaft seine Gedanken zur Theorie des
ontologischen Entwurfs aus. In der im Wintersemester 1950/51 gehaltenen
Vorlesung „Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung“346
erhielten diese Gedanken dann eine nahezu klassische Formulierung. Zahl-
reiche Notizen aus der Mappe Z-XXX belegen außerdem, dass in den Kriegs-
jahren 1940 bis 1945 einzelne, anfangs für den „Traktat über phänomenolo-
gische Forschung“ vorgesehene Arbeitsmaterialien allmählich in das
umfassende Schriftprojekt über „Ontologische Erfahrung“ gewandert sind.
So taucht der „Traktat“ immer wieder als Untertitel zu der Schrift „Ontolo-
gische Erfahrung“ auf,347 deren Hauptgegenstand „die Exposition des Pro-
blems der ‚ontologischen Erfahrung‘ – in einer Erörterung der impliziten
ontologischen Setzungen der Phänomenologie“ bilden sollte. Es war Finks
unzweideutige Absicht, „im Aufweis der Grenze der phänomenologischen
Analyse ihre Führung durch die spekulative Besinnung“ an den Tag zu brin-
gen, deren eigenste Aufgabe eben der „Entwurf des Seins des Seienden“ sei.
Nur „im Dialog des menschlichen Geistes mit sich selbst“ gelange der „onto-
logische Entwurf“ zur Ausführung. Die besondere Stellung, die dem Men-
schen in den Weiten des Kosmos zugeteilt sei, bestehe gerade darin, dass er
„durch die ‚Ahnung der Idee‘ des ‚am meisten Seienden‘ erleuchtet“ werde,
er somit im „Entbehrungswissen vom ‚am meisten Seienden‘“ existiere, sich
fortwährend „in der Not des endlichen Geistes“ aufhalte.348 Im „Traktat über
phänomenologische Forschung“ und daraufhin in den „Elementen einer
Husserl-Kritik“ schält sich sukzessive diese einzigartige Gedankenkonstel-

344 Fink, „Zum Problem der ontologischen Erfahrung“, in: ND, S. 127–138.
345 Eugen Fink, Philosophie des Geistes, hrsg. von F.-A. Schwarz, Würzburg 1994.
346 Eugen Fink, Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, hrsg. von Egon

Schütz und Franz-Anton Schwarz, Freiburg/München 2004. Die Veröffentlichung weiterer


Materialien zum Thema und zu dem geplanten Schriftprojekt über „ontologische Erfahrung“
ist für die Bände EFGA 4 (Vom Wesen der Philosophie) und EFGA 5.1 (Sein und Endlichkeit)
vorgesehen. Die Notizensammlungen Z-XXXI, Z-XXXII und Z-XXXIII aus den Jahren
1939/40–1945/46 werden voraussichtlich ebenfalls in EFGA 4 erscheinen.
347 Vgl. EFGA 3.4, Z-XXIX/213b, 298a, 299a–b, 318a–b.

348 Ebd., Z-XXIX/224a.

Einleitung der Herausgeber II 221

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lation heraus, die den Gehalt der Schrift zur „ontologischen Erfahrung“, mit
deren Ausführung Fink sich in diesen Jahren trug, im Kern trifft. Hier blickt
man ohne Scheuklappen in die Schatzkammer seines sich zu stolzer Eigen-
ständigkeit durchringenden Denkens hinein. Die vielfältigen Angebote, in
die USA zu emigrieren, lehnte Fink mit folgenden Worten ab: „Die innere
Richtung meines Lebens ist aber bei mir festgelegt in einem Programm phi-
losophischer Fragen. Dieses Programm werde ich durch keine Not und keine
Verlockung gefährden lassen. […] Die Würfel meines Schicksals sind bereits
gefallen.“349 Mit der programmatischen Schrift zur „ontologischen Erfah-
rung“ setzte er zu einem Wurf an, der ihn weit über Husserls Tod und die
Verwaltung seines Erbes hinaustrug. Nicht nur reicht er uns einen Faden, der
uns durch das Labyrinth der in dem vorliegenden Teilband versammelten
Materialien führt. Mit ihm bekommen wir auch das missing link zugespielt,
das von der frühen Konzeption einer „meontischen Philosophie des absoluten
Geistes“ und dem darauffolgenden „existentiellen“ Aufriss der Idee der Phi-
losophie als einer „Selbstbemächtigung des Lebens“ hinüberleitet in die phi-
losophische Gedankenwelt, in der Fink nach dem Krieg eine dauerhafte
Bleibe gefunden hat. Wir beschränken uns im Folgenden darauf, aus diesem
Garnknäuel, diesem dichtgedrängten Strang einige Fäden herauszuziehen.
Ein Sprungbrett für die sich in der Schrift über „ontologische Erfahrung“
erstmals abzeichnende Problematik bot zweifellos die in den 1930er Jahren
nur ansatzweise in Aussicht genommene „konstitutive Ontologie“ bzw.
„ontogonische Metaphysik“. Sie ging aus dem Versuch hervor, der anthro-
pozentrisch-idealistischen Deutung der Transzendentalphilosophie Husserls
durch eine „Meontik des Absoluten“ effektvoll Kontra zu geben. Der ontolo-
gisch-ontogonische Grundansatz, der in der VI. Cartesianischen Meditation
lediglich entlang einer Reihe von „formalen Anzeigen“ hervorschimmert,
zielte vordergründig auf eine „thematische Reduktion der Seinsidee“ ab. In
der radikalisierten Form einer „me-ontischen Reduktion“ nahm Fink sich
vor, die „Binnenweltlichkeit“ des menschlichen Seinsverständnisses endgül-
tig zu durchbrechen. Denn dieses fungiere ständig als eine un-thematische,
anonyme und verdeckte Voraussetzung, die den radikalen Vorstoß in die
Sphäre der „Vor-Weltlichkeit“ bzw. des „Vor-Seins“ der konstituierenden
transzendentalen Subjektivität als des „me-ontisch Absoluten“ verhindere.
Die Situation der „Binnenweltlichkeit“ umgreift Fink zufolge sowohl die
Transzendenz der objektiven Welt als auch die Immanenz des welterfah-
renden Bewusstseinslebens, somit den gesamten Bereich der phänomeno-
logischen Korrelationsforschung, in der sich eine durchgängige „Homoge-
nität der Seinsnatur“ des reduktiv erschlossenen Seins mit dem Umfeld

349 Eugen Finks Brief an Gerhart Husserl vom 16. Oktober 1938, in: EF05–75, Bilder Nr. 381–

383.

222 Einleitung der Herausgeber II

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.
weltlich erfahrener Gegenstände bekundet. Gerade diese „intra-mundane
Situation“ muss nach Fink als solche als ein „konstitutives Resultat“,
d. h. als Ergebnis eines „konstitutiven Werdens“ betrachtet werden. Sein
Grundanliegen besteht darin, zwischen konstituierter Binnenweltlichkeit
und konstituierender Vor-Weltlichkeit, zwischen me-ontischem Ursprung
(Vor-sein) und seiender Entsprungenheit (Sein), zwischen dem Prozess
des konstitutiven Werdens und der „End-Konstituiertheit“ alles Seienden
radikal zu unterscheiden. Gleichzeitig ist er darum bemüht, ihre dialektische
Bezogenheit aufeinander philosophisch zu erhellen, und das bedeutet für
Fink, sie „spekulativ“ zu denken. Auf diese Weise bahnt er sich einen Weg zu
einer Analyse der „existentialen Entwurf-Situation der phänomenologischen
Reduktion“, d. h. zur Etablierung des phänomenologisierenden Subjekts als
des philosophierenden Ichs, eröffnet aber gleichzeitig eine Perspektive auf
die „Ontogonie“, auf die konstitutive Seinswerdung alles Seienden in den
„vor-seienden“ Prozessen des transzendentalen Lebens als des absoluten
Welt-Grundes. Die von Fink ins Auge gefasste „thematische Reduktion der
Seinsidee“350 bedeutet somit eine „Aufhebung“ des Seinsverständnisses des
natürlichen Weltlebens menschlicher Existenz, in dem auch die intentionale
Analytik der „Vorgegebenheit“ der Welt im Sinne Husserls grundsätzlich
verfangen bleibt. In der Gestalt einer „thematischen Reduktion“ der Idee
des Seienden erschien zum ersten Mal der Gedanke eines „ontologischen
Entwurfes“ am Horizont. Aber erst um 1939 herum verschärfte sich dieses
originelle philosophische Anliegen Finks zur spezifischen Artikulation einer
genuinen „ontologischen Erfahrung“.
Eine aus dem Jahre 1939 stammende Notiz macht deutlich, dass und wie
die fragliche „ontologische Erfahrung“ – als eine ruckartige, dialektische und
geschichtliche „Bewegung der Interpretation des ‚Seienden als Seienden‘“
– in ihrem innersten Wesen der Exponent einer sich zusehends in den
Vordergrund drängenden „Metaphysik der Vermittlung“ war. Als wichtige
Komponenten dieser Metaphysik sind zu nennen: die Lehre vom „Ur-Licht
der Begriffe“ (Dialektik); die Lehre von den „Transzendentalien“ (Seins-,
Wahrheits-, Welt- und Gottesproblem); der Gedanke einer existenziellen
„Freiheit zum Übermenschlichen (Anti-Subjektivismus)“; die Auffassung
des θεωρεῖν als einer ὁμοίωσις θεῷ und einer κάθαρσις; die Konzeption des
Wesens als „Kraft“ (der „Äußerung“, der „Aus-Setzung“); die Analyse des
Gegenverhältnisses der Begriffspaare Ansichsein – Fürsichsein und Wesen

350 Der Grundgedanke einer „Reduktion der Seinsidee“, welcher mit Finks Grundthese
zusammenhängt, dass Sein konstitutives Resultat eines ontogonischen Werdens ist, hat zur
Folge, dass sowohl die Idee der weltlichen Wissenschaft und der mundanen Wissenschaftlich-
keit als auch die der mundanen Sprache, des mundanen Eidos „Welt“ und „Mensch“ infrage
gestellt und spekulativ aufgeklärt werden sollen.

Einleitung der Herausgeber II 223

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– Erscheinung; die Auffassung des „Fürsichseins“ des Menschen als eines
Sich-zum-Sein-des-Seienden-Verhaltens; die Interpretation der Freiheit als
„Spiel“.351 Eine weitere zuverlässige Stütze für die Entwirrung von Finks
verwickelten Gedankengängen in dieser Arbeitsphase bietet uns eine Notiz
aus der Mappe Z-XXIX: „Welche sind meine Thesen 1939? Begriff der
‚Dialektik‘. Begriff der Seinsinterpretation (Fürunssein des Ansichseien-
den). Bewegung der Seinsinterpretation. Das Sein des Menschen als ‚Spiel‘
(positive Freiheit). Die Idee des ‚ens realissimum‘ (Sein und Schein). Das
Sichaussetzen des Seienden (die ‚Äußerung‘). Die ‚Vermittlung‘ (Mensch
= Mittler). Das Sich zum Sein alles Seienden vorgängig Verhalten.“352
Stichwortartige Listen dieser Art, die seine Notizen ständig anwachsen
ließen, enthalten in der Tat die begrifflichen Koordinaten, die das Kraftfeld
des Finkschen Denkens zu diesem Zeitpunkt wesentlich geprägt haben. Es
braucht uns nicht im Mindesten wunderzunehmen, dass sich Fink angesichts
des großen Andrangs, den die Masse neuer Themen hervorrief, nur zögernd
dazu entschied, einen Titel zu wählen, mit dem sie unter Dach und Fach
gebracht werden könnten: „Titel statt ‚Ontologische Erfahrung‘? 1. Das
Wesen der ontologischen Erfahrung ist das Staunen! 2. Erfahrung als vorgän-
giger Entwurf der Seinsverfassung des Seienden, der dann erst ‚Erfahrung‘
(als Erkenntnis a posteriori) ermöglicht. 3. Die onto-logische Erfahrung
vollzieht sich als das Λέγειν des ὄν, als das ‚dichtende‘ (‚ernennende‘)
Ansprechen des Seienden (– nach Heidegger –). Dieses λέγειν des ὄν ist
das διαλέγεσθαι (Dialektik – im antiken Sinne Platos!). 4. Die ‚Dialektik‘
(als die geschichtlich existierende ‚Metaphysik‘) ist wesenhaft begrifflich.
(Primat des Begriffs über die ‚Intuition‘. – Seinsidee und Seinsbegriffe!)
5. Ansichsein und Erscheinung (das ewige Wesen des wahrhaft-Seienden
und die ‚Nous‘-Natur des Seienden) (das,Außersichgehen‘). 6. ‚Vermittlung‘
(Weltstellung des Menschen). 7. Transzendentalienproblematik als die innere
Gliederung der Metaphysik. 8. Problematik des Seins des Scheins, des
Uneigentlich-Seienden. 9. Metaphysische Erörterung des Raumes, der Zeit,
der Diesheit, der Notwendigkeit u. dgl. 10. Philosophie und ‚Wissenschaft‘.
11. Stillstand der ‚Seinsinterpretation‘, wenn Wissenschaften ‚fortschreiten‘.
12. Denken (Gedachtheit) und Sein.“353
Die metaphysische Bewegtheit, von der Finks Denken ergriffen war,
bedeutete ihm nichts Geringeres als „das staunende In-den-Begriff-Setzen
der Wahrheit, […] die begriffliche Interpretation der Idee des Seienden, […]
die Stiftung des Grundes möglicher welthafter Existenz des Menschen“.
Auch Husserls Phänomenologie stelle – rückblickend – ein wesentliches

351 EFGA 3.4, Z-XXIX/59a.


352 Ebd., Z-XXIX/125a.
353 Ebd., Z-XXIX/13a–b. Vgl. auch Z-XXIX/111a–b.

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Moment der umfassenden metaphysischen Bewegung dar, deren Gang „ohne
absehbares Ende“ sei, und „nicht eben ein Fortschritt genannt werden kann
(wie Wissenschaften in Wissensbahnen ‚fortschreiten‘)“.354 Dem Deutschen
Idealismus maß Fink allerdings eine besondere Bedeutung bei. „Der Deut-
sche Idealismus ist keineswegs – wie es oft behauptet wird – ‚absoluter Idea-
lismus‘ in dem naiven Sinne, dass er gleichsam eine totale subjektive Kon-
stitution des Seienden zur These hätte, im Gegensatz gegen den partialen
Idealismus Kant‹s›, der nur die ‚Formen‘ der Gegenständlichkeit der Gegen-
stände ‚subjektiv‘ sein ließe (ohne eine Bildung dieser Formen andererseits
selbst wieder anzusetzen!).“ Eine derartige Auffassung, die Idealismus und
Subjektivismus gleichsetzt, „hat das Problem des ‚Idealismus‘ gänzlich von
der Frage nach dem Verhältnis von ‚Ansichsein‘ und ‚Fürunssein‘ des Sei-
enden“ – also von der „ontologischen Erfahrung“ – „abgelöst und so das
Problem des Idealismus zerstört“. Denn der Deutsche Idealismus ist, so Fink,
„in Wahrheit vom Problem der ‚ontologischen Erfahrung‘“, „d. h. von der
Bewegung der Begriffe des Seienden und der Wahrheit auf die Idee des sei-
endsten Seienden und des Wissens vom seiendsten Seienden hin“ zutiefst
ergriffen, und das bedeute: „‹von der Bewegung› der Erscheinung zum
Wesen“355. Einige Notizen aus der im 3. Teilband der Werkstatt veröffent-
lichten Mappe Z-XXIII (Reihe B), die die ersten Andeutungen „zum Problem
der ‚ontologischen Erfahrung‘“ enthält, weisen zusätzlich darauf hin, dass
für Fink „zwei Motive von größter Wichtigkeit“ waren, als es darum ging,
der im Staunen entspringenden dialektischen Bewegung des ontologischen
Entwurfs auf den Grund zu gehen. Als Erstes nennt Fink das „Fürsichsein“
als „das Sich zum Sein alles Seienden Verhalten“. Als Zweites nennt er das
„Scheinen“, d. h. das Geschehen der „Selbstentfremdung“ und der möglichen
„Heimkehr in sich“. „Mit dem Unterschied des eigentlichen und uneigentli-
chen Seienden“ kommt die Philosophie – „in der Ahnung der Idee des ὄντως
ὄν und des μὴ ὄν“356 – der „Negativität“ als einem „innere‹n› Moment des
Seins“ auf die Spur.
In zwei „Gedankenkreisen“ scheint die große Anzahl von Notizen und
Aufzeichnungen, die Fink in dieser Zeit verfasste, annähernd eingefangen
werden zu können. Zum einen kreisten seine Entwürfe unaufhörlich um
den Gedanken eines „theoretischen Systembegriffs der Philosophie“. Ande-
rerseits fesselte ihn der Gedanke eines „weltanschaulichen Begriffs der
Philosophie“. „Ausgehend vom Problem der ‚ontologischen Erfahrung‘,
d. i. der Grundlegung des Seienden als solchen und des Wahrseins von
Seiendem, d. h. des Entwurfes von Sein und Wahrheit im Ringen um das

354 Ebd., Z-XXIX/6a.


355 Ebd., Z-XXIX/21a.
356 EFGA 3.3, Z-XXIII/B/1.

Einleitung der Herausgeber II 225

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ansichseiende Wesen des Seienden“, ordnete er folgende Problembereiche in
einen „Systembegriff“ der Philosophie ein: die „Transzendentalienmetaphy-
sik“357, von der man „gemeinhin nicht redet“ und die jedem Diskurs „immer
unthematisch“358 vorausliegt; die „Theorie des Spiels“, die am Leitfaden
einer „Interpretation von Nietzsches metaphysischem Schlüsselbegriff“ her-
ausgearbeitet werden sollte; die „Phänomenologie der Erkenntnis“, in der
die „Tragweite und Kritik des Husserlschen Ansatzes“ zum Gegenstand der
Untersuchung gemacht werden sollte; die „Hegelinterpretation und Kritik
des ‚gottgleichen‘ Standpunktes“, der „nur eine ‚Idee‘“ ist; schließlich die
„Theorie des Anfangs der Philosophie in der ‚Naivität‘“, wobei „Naivität“
allerdings als ein „spekulative[r] Begriff“359 aufzufassen sei. Mit dem „Sys-
tembegriff“ möchte Fink das philosophische Interesse „auf den un-themati-
schen Boden“ lenken, der in einem zweiten Gedankenkreis einer gründlichen
„Prüfung“360 unterstellt werden sollte. In dem „weltanschaulichen Begriff
der Philosophie“ drückte sich nach ihm insofern eine gewisse „Anomalie des
Lebens“ aus, als es in diesem darum gehe, „den Grund seiner Existenz selbst
in den Blick bringen“ zu wollen. Zu dieser besonderen Aufgabenstellung
zählte er folgende Themenbereiche: „Philosophie und Religion – Nietzsches
Begriff des ‚Todes Gottes‘ – Feuerbach und die typische Reflexion des
‚Anthropologismus‘ – Vom Wesen des Enthusiasmus – ΟΜΦΑΛΟΣ – Lob
des otiosen Lebens – Duineser Elegien-Interpretation – Von der Verwandt-
schaft der Götter – Vom Seligen Leben (Wesen der Seligkeit!) – Lebensrolle
und Jenseits der ‚Rollen‘ – παρουσία – Religiöser Humanismus – Pole der
Existenz: die Nähe = Familie, und die unendliche Ferne = Gott – Religion
der Liebe (amor dei als alle Liebe umfangend) – Keine Verleugnung des
‚Hiesigen‘ – Magna mater, Demeters stiller Friede.“361 Unverkennbar enthält
diese zweite Auflistung Gedankenmotive, die auf die in der „Hütte im
Oytal“ begonnenen Meditationen über die menschliche Existenz und ihr
„Geheimnis“ zurückgehen. Andererseits nehmen sie bereits Arbeitsbereiche
vorweg, denen Fink sich nach dem Kriege mit aller Kraft widmen wird.
So zeichnen sich hier zum ersten Male die Konturen einer philosophischen
Deutung von Rilkes Duineser Elegien ab. Den unübertrefflichen poetischen
Ausdruck, den Rilke der Bestimmung des Menschen als eines „Zwischen-
wesens“362 verliehen habe, wollte Fink in eine behutsame philosophische

357 Ebd., Z-XXIII/B/2a.


358 Ebd.
359 Ebd.

360 Ebd.

361 Ebd.

362 Vgl. Hans Rainer Sepp, „Seinsarmut. Eugen Finks Übersetzung der Duineser Elegien in

philosophische Reflexion“, in: Trigon, Bd. 8, Berlin: BWV 2009, S. 159–167.

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.
Reflexion übersetzen. Auch der Themenbereich des „Enthusiasmus“ als
einer Existenzverfassung, die nicht nur den unerschöpflichen Quellgrund der
Philosophie, sondern auch der Kunst und der Religion enthält, taucht in dieser
Liste auf. Bedeutsam sind zudem die Hinweise auf die „Oase des Glücks“363
der „Spielwelt“. In ihrer imaginären Dimension befreit der Mensch sich aus
den gewöhnlichen Lebensrollen, die ihm auferlegt sind. Den „Seinssinn“
dieses schöpferisch entworfenen, hellleuchtenden Lebenskreises genau zu
bestimmen, stelle allerdings „ein dunkles und schweres Problem dar“364. Den
„nahen“ und den „entfernten Polen“ menschlicher Existenz wird Fink sich
in einer Reihe von Studien zur Pädagogik, zur Erziehungswissenschaft und
Sozialphilosophie mit besonderer Intensität zuwenden.365 Und seine Analyse
der „Grundphänomene des menschlichen Daseins“366 übergeht keineswegs
die kultische Dimension des menschlichen Lebens und das sich in der
religiösen Praxis offenbarende „Weltverhältnis“.367
In der Mappe Z-XXVII finden sich in verstreuter Form Notizen, in denen
Fink im Rahmen einer Schrift zur „ontologischen Erfahrung“ die kritische
Musterung der der Phänomenologie Husserls gesteckten engen Grenzen
nochmals in den Vordergrund rückt. Husserls Phänomenologie mache „mit
der Forderung“ den Anfang, „alles als Seiendes Geltende zu prüfen durch
Rückführung auf den originären Modus der Selbstgegebenheit“. Damit
mache sie „implizit die Voraussetzung […], dass das Gegenständliche das
Seiende sei“. Beruht sie daher nicht, so fragt sich Fink, „auf dem Boden
einer begrifflichen Un-bewegtheit der ontologischen Fundamentalbegriffe“?
Macht sich in ihr nicht „ein Stillstand des Seinsbegriffs“368 bemerkbar?
Husserls Analyse der Weltkonstitution, seine Konzeption des Seins „auf dem
Marsch“, zeige deutlich, dass er „nicht nur das Fürunssein des (gegenständ-
lich begegnenden) Seienden intern“ auslegt, sondern darüber hinaus „gegen-
über der überlieferten ontologischen Bestimmung“ das „Verhältnis von
Gegenstand (ἀντικείμενον) und Seiendem an sich radikal umdreht“, indem
er den „Mensch als Bildner der Menschenwelt“ und die „transzendentale
Subjektivität“ als „fungierende demiurgische Subjektivität“ auffasst. Eben
diese Verkehrung ziehe den „Verlust des Ansichseins und der Transzendenz

363 Vgl. Fink, „Oase des Glücks“, in: EFGA 7, S. 11–29.


364 Ebd., S. 22.
365 Vgl. Eugen Fink, Grundfragen der systematischen Pädagogik, Freiburg 1978; Fink,

Existenz und Coexistenz, EFGA 16.


366 Eugen Fink, Grundphänomene des menschlichen Daseins, hrsg. von Egon Schütz und

Franz-Anton Schwarz, Freiburg/München 1979.


367 Vgl. Cathrin Nielsen, Hans Rainer Sepp (Hrsg.), Wohnen als Weltverhältnis. Eugen Fink

über den Menschen und die Physis, Freiburg/München 2019.


368 EFGA 3.4, Z-XXVII/6a.

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des Übermenschlichen“369 nach sich. Mit dem „Rückgang“ von den konsti-
tuierten Geltungsgebilden auf das konstituierende „Leisten“ habe Husserl
im Grunde die philosophisch entscheidende „ontologische Erfahrung“ der
„Strukturen des Seienden“370 verfehlt.
Die Mappe Z-XXIX enthält eine Reihe von skizzenhaften Dispositions-
entwürfen für die geplante Schrift über „ontologische Erfahrung“. Von ihnen
ist das auf den Seiten 284a bis 285b wiedergegebene „Inhaltsverzeichnis“
wohl der detaillierteste. Auf den darauf folgenden Seiten kann man gleich in
den Anfangszeilen erkennen, was Fink ins Auge fasst: „eine Exposition […]
des Problems der ontologischen Erfahrung“, d. h. einer „aller empirischen
Erfahrung vor‹an›gehenden und ihr vorausspringenden apriorischen Erfah-
rung“, in der „der sich wandelnde Entwurf des Seinsverständnisses“ sich
ereigne, der „das wesentliche Geschehnis in der Philosophie“ sei. „Kants
berühmte Frage: ‚Wie sind synthetische Erkenntnisse apriori möglich?‘“
beispielsweise sei „keine Erkenntnistheorie“; sie spähe vielmehr nach der
„ontologischen Erfahrung“ aus. Und auch die „Problematik des Deutschen
Idealismus, die ‚Setzung‘ der ontologischen Fundamentalbegriffe“ sei ein
radikales Fragen, das zuinnerst vom „Problem der ‚ontologischen Erfah-
rung‘“ ergriffen sei. Mit ihr werde eine „Grunddimension der Philosophie“
angesprochen, in der sowohl die „Dialektik“ als auch die „Spekulation“
beheimatet seien. Ihr gegenüber habe die „Philosophie der positivistischen
Zeit […] die Forderung der ‚analytischen‘ Nachweisung“ erhoben, die
gerade die Phänomenologie zu ihrem „methodischen Prinzip“ gewählt
habe. Nicht etwa der Umstand, dass „die Methode über das philosophische
Erkennen eine Normierung errichten will u. dgl.“, sei hier das Gravierende.
Verhängnisvoll sei vielmehr, dass „überhaupt eine andere Art des Verstehens
und Begreifens angesetzt […] und damit eine Grundentscheidung über
das Seiende als solches“ gefällt werde. Das antagonistische, spannungsrei-
che „Verhältnis von Spekulation und Analyse“ oder „von ontologischem
Entwurf“ und der „dadurch ermöglichten und gebundenen Auslegung“,
demnach das Verhältnis von „Hypothesis und Diairesis“, wolle die in
Aussicht gestellte Abhandlung „am Beispiel der Phänomenologie Husserls
als Problem“371 vorführen. Es ist Finks innerstes Anliegen, „zu zeigen,
wie die Phänomenologie ihren eigenen Methodologismus philosophierend
überwindet, ‹wie sie› in ontologischen Entwürfen sich radikalisiert“ und sich
so die „Felder analytischer Forschungen“ selbst vorgibt. Fink bezeichnet
es als „eine Aufgabe von höchster Bedeutung“, die Phänomenologie als
„Erscheinungslehre“ zu einer Lehre vom „erscheinenden ὂντως ὄν“ weiter-

369 Ebd., Z-XXVII/9a


370 Ebd., Z-XXVII/A/II/17a.
371 Ebd., Z-XXIX/286a.

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zuentwickeln und sie mit der Spekulation in eine innere Verbindung zu brin-
gen, da beide wesentliche „Momente der ontologischen Erfahrung“372 dar-
stellen. Weder eine Erkenntnistheorie im Sinne Husserls noch eine
Fundamentalontologie nach dem Vorbild Heideggers sind demnach das
eigentliche Hauptthema der Schrift, wie sie Fink vor Augen stand. Ins Zen-
trum rückt vielmehr „die Transzendentalien-Metaphysik“; mit ihr soll der
Versuch gewagt werden, „Husserl und Hegel zu versöhnen“. „Nicht tritt an
die Stelle der Zergliederung und Zerfaserung des Erkenntnisvermögens die
Ur-frage nach dem Sinn von Sein, unter Überwindung des Anthropologis-
mus, Psychologismus, Subjektivismus, ‚Transzendentalen Idealismus‘“.
Und „keine ‚Existenzphilosophie‘, keine Lyrismen und Tragizismen, keine
Psychologie der Weltanschauungen u. dgl. erbauliches Gerede: keine anthro-
pologische Theorie, keine ‚Weltanschauung‘ und keine Philosophie des
Scheiterns und die Glorifizierung des Suizids des freien Geistes“ sollen über
die Bühne gebracht werden. In ihrem Hoheitsanspruch ist Philosophie einzig
„ontologischer Entwurf des Seins des Seienden“ – ist „die apriorische Öff-
nung der Weltwirklichkeit“373. Mit seinen „Beiträgen zur Theorie der onto-
logischen Erfahrung“374 möchte Fink das ungeheure Wagnis auf sich neh-
men, „Husserls ‚Analyse‘, Heideggers ‚ontologische[n] Entwurf‘, Hegels
Begriff des Seins und der Wahrheit […] in eine Einheit“375 zu bringen und
gerade „durch die Mittel der phänomenologischen Philosophie“ einer „Wie-
deraufnahme der spekulativen Problematik Hegels“ die Wege zu ebnen.376
Dieser ungeheuer ehrgeizige Anspruch wurde von der tiefen Überzeugung
genährt, dass die weltliche „Geschichte der menschlichen Vernunft“ sich nur
dann zur wahren „Geschichte des Geistes“ erheben könne, wenn sie „in ihrer
Bezogenheit auf das summum ens“377 durchschaut werde.

XI. Von der Genese einer „Welt-Schrift“ (1935) bis zur


Durchführung des Habilitationsverfahrens (1945)

Kehren wir zum Dezembermonat des ereignisreichen Jahres 1935 zurück, in


dem Fink eine wichtige Aufgabe zu erledigen hatte. Am 4. und 5. Dezember
1935 sollte er auf Einladung der Kant-Gesellschaft in Dessau und Bernburg
über „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phäno-

372 Ebd., Z-XXIX/286b.


373 Ebd., Z-XXIX/303a.
374 Ebd., Z-XXIX/299a.
375 Ebd., Z-XXIX/295a.
376 Ebd., Z-XXIX/299a.
377 Ebd.

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menologie“378 vortragen. Diese beiden Vorträge, zu denen Fink kurzfristig
eingeladen worden war, waren von wegweisender Bedeutung für seine frühe
Beschäftigung mit dem Denken Kants. In ihnen kam nämlich sein Bemühen
zum Ausdruck, die Eigenart der „transzendentalen Erkenntnis“ und insbe-
sondere die Behandlung der Kantischen Frage „Wie sind synthetische Urteile
apriori möglich?“ auf das metaphysische Problem des „transzendentalen
Bezugs“ von ens, unum, bonum und verum zurückzuleiten. Nachdem er im
Frühling desselben Jahres zusammen mit Ludwig Landgrebe die Anord-
nungsarbeiten der Nachlassmanuskripte Husserls in die Hand genommen379
und anlässlich einer geplanten Bestandsaufnahme der vorläufig in Prag
untergebrachten Husserl-Manuskripte einen Bericht über „Husserls Manu-
skripte“ verfasst hatte, der im 3. Teilband der vorliegenden Werkstatt-Aus-
gabe abgedruckt ist,380 hatte der Privatunterricht von Frau Mercedes Alonso
ihm eine günstige Gelegenheit geboten, sich intensiv mit dem Denken Kants
und insbesondere mit Kants Prolegomena zu beschäftigen.381 Anfang Mai
des Jahres 1935 fertigte er einen „Vorschlag für die Schlusssätze zum Wiener
Vortrag Husserls“ an,382 den Husserl am 7. Mai 1935 im Wiener Kulturbund
unter dem Titel „Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit“
hielt. Als Husserl Anfang Juni in Kappel bei Lenzkirch die Einladung von-
seiten des Cercle philosophique zu einer weiteren Vortragsreihe in Prag
erhielt, beeilte sich Fink, seinem Lehrer das „Exposé eines Vorschlages eines
Gedankenganges für den Prager Vortrag“ (vom 13. Juli) und einen „Vor-
schlag einer Disposition für den Prager Vortrag“ (vom 14. August) zu unter-
breiten.383 Die Sommerferien verbrachte Fink in der Familienwohnung am
Bodensee und anschließend in den Allgäuer Alpen. In der Hütte im Oytal
fand er die philosophische Abgeschiedenheit, die für sein philosophisches
Weiterkommen so fruchtbar werden sollte. Anfang November 1935 wohnte
er Heideggers Vortrag zum „Ursprung des Kunstwerks“ bei. Nach Husserls
Rückkehr aus Prag am 26. November 1935 stand die Ausarbeitung der Vor-
tragstexte für den Druck auf dem Programm – die aber keine rasch zu erle-
digende Angelegenheit darstellte. Wie Husserl am 22. Dezember 1935 sei-
nem Onkel Gustav Albrecht anvertraute, „‹ist mir im Alter› das mich vom
Innersten her Aussprechen und Wirkenkönnen offenbar in besonderem Maße
zugewachsen (etwas davon hatten immer meine Vorlesungen, aber keines-

378 Vgl. Fink, „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“,
in: ND, S. 7–44; vgl. insbes. EFGA 3.3, Z-XVI, Z-XVII sowie OH-V.
379 Vgl. EFGA 3.3, Z-XIX.

380 Vgl. Ebd., M III – Grammata, Text Nr. 4.

381 Vgl. Ebd., M-III – Grammata, Text Nr. 15.

382 Vgl. Ebd., M-III – Grammata, Text Nr. 13.

383 Vgl. ebd., M-III – Grammata, Text Nr. 12; vgl. auch ebd., Z-XVIII/3a und Reihe V, sowie

OH-V.

230 Einleitung der Herausgeber II

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wegs vergleichbar mit dem der Vorträge der letzten Periode). Aber dafür ist
es mir besonders schwer geworden, einen literarisch brauchbaren Aufsatz
zustande zu bringen – was ich übrigens nie so recht konnte. Die Erschöpfung
der Heimkehr hatte ein Ausmaß, wie ich dergleichen in keiner Erinnerung
habe. Leider wollte ich mich sogleich an die literarische Ausbesserung ‹der
Prager Vorträge› machen, aber da kam nichts Brauchbares zustande“384.
Nach mehrfacher Überarbeitung des Originaltyposkripts der Prager Vor-
träge, die jedoch zu keinem befriedigenden Ergebnis führte, entschloss Hus-
serl sich dazu, einen neuen Text für den Druck herzustellen und gab ihm den
Titel „Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Die Krisis der
europäischen Wissenschaft und die Psychologie“.385 Er leitete die Redaktion
der letzten großen Schrift Die Krisis der europäischen Wissenschaften und
die transzendentale Phänomenologie ein, zu deren erfolgreicher Gestaltung
Fink bis zum Erscheinen eines „I. Artikels“ in der von Arthur Liebert her-
ausgegebenen Zeitschrift Philosophia im Januar 1937 wesentlich beigetragen
hat. Bis zu Husserls Erkrankung im Sommer 1937 und seinem Tod im April
1938 stand die Fortführung der Krisis-Arbeit unablässig im Vordergrund ihrer
gemeinsamen Bemühungen.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Fink von den eigenen philoso-
phischen Plänen für das Jahr 1935 – die zweifellos zu optimistisch und
zu breit angelegt waren – keinen einzigen praktisch verwirklichen konnte.
An erster Stelle muss hier die mehrfach unterbrochene und immer wieder
neu konzipierte Arbeit zu „Zeit und Zeitigung“ erwähnt werden, deren
endgültige Fertigstellung sich nun schon seit mehreren Jahren hinzog. Diese
wiederholten Verzögerungen hatten bereits Mitte 1934 zu einer schweren
„Vertrauenskrise“ zwischen Husserl und Fink geführt. Es wurde damals
beschlossen, dass Fink allein für das geplante „Zeitbuch“ verantwortlich sei.
Einen I. Teil sollten Husserls „Bernauer Zeitmanuskripte“ darstellen; der
II. Teil enthielt – voraussichtlich – die „neuen Zeituntersuchungen“, d. h.
die sogenannten „C-Manuskripte“ zur Zeitkonstitution, sowie eine umfas-
sende und detaillierte „Einleitung zum Gesamtwerk“ von Finks Hand.386
Darüber hinaus trug Fink sich mit dem Gedanken, seinen 1933 in den
Kant-Studien veröffentlichten Artikel „Die phänomenologische Philosophie
Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik“ durch die beiden Abschnitte

384 Brief Edmund Husserls an Gustav Albrecht vom 22. Dezember 1935, in: Bw IX, S. 123f.
385 Vgl. Hua XXIX, S. XXIIIf.
386 Zu dieser 1935 einsetzenden „dritten Stufe“ der langen und komplizierten Geschichte des

„Zeitbuchs“ vgl. Finks „Anträge und Berichte an die Hohe Notgemeinschaft der Deutschen
Wissenschaft“ (1933 und 1934), in EFGA 3.2, S. 445–453; vgl. auch die Notizen der Mappe
B-VII, in: ebd., S. 401–438 sowie die Erklärungen dazu in: Bruzina, „Einleitung des Heraus-
gebers I“, in EFGA 3.1, S. LXII–LXVII.

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über „Phänomenologie und Lebensphilosophie“ und „Phänomenologie und
Ontologie“ zu erweitern und zu bereichern.387 Gleichzeitig befasste er sich
mit einer behutsamen Nietzsche-Interpretation, die er mit dem Titel „Apolo-
gie des Lebens“388 versah und die von dem Grundgedanken geleitet war, dass
„Nietzsches Philosophie am Leitfaden der Metaphysik des Spiels“ gedeutet
werden müsse. „Jenseits von Gut und Böse“, die „Lehre vom schöpferischen
Leben“, von „der großen Sehnsucht“ und von „Dionysos (Spielgott und
Gott der Maske)“ – sie alle stellten Grundkategorien des „Spielerischen“389
dar, die die wesentlichen „Elemente zu einer Metaphysik des Spiels“
enthielten. Zu den eigenen Arbeitsaufgaben zählte Fink auch einen „neu
bearbeiteten“ II. Teil von Vergegenwärtigung und Bild, der den Arbeitstitel
„Theorie der Imagination“ trug und in dem „das ontologische Problem
des Seins des intentionalen Gegenstandes“390 in den Vordergrund gerückt
werden sollte. Dabei stand ihm folgende Gliederung seiner Ausführungen
vor Augen: „I. Teil: interne Analytik der Vergegenwärtigungsintentionalität
(nicht bloß der allgemeinen intentionalen Strukturen von den verschiedenen
Arten der Imagination, sondern auch der Imagination der ‚Sinne‘ (Imaginat
des Gesehenen, des Getasteten, des Gerochenen, des Geschmeckten, des
Gehörten), also ausholende Analysen der Sinne). – Übergang in Schlafana-
lyse –; II. Teil: externe Analyse der Imagination; III. Teil: Ontologische
Probleme der Imagination und Imaginate.“391 Diese geplante Fortsetzung von
Vergegenwärtigung und Bild I hatte gewissermaßen eine „propädeutische“
Funktion, insofern sie erstmals „Zutrauen schaffen“ sollte für „die schwie-
rigen philosophischen Analysen“, die ihren systematischen Ort innerhalb
einer weiteren Abhandlung zur „Lehre vom Weltbegriff“ bekommen sollten.
Beide Projekte berührten einander „in folgenden Punkten: a. Problem der
Unterscheidung von Gegenstand und Seiendem; b. Begriff der ‚Welt‘ als
Formalbegriff; c. Ontologie des Fiktums und ‚Weltstrukturen und Ontolo-
gie‘“392. Als weitere Projekte sah Fink Gedankenentwürfe zur „Bestimmung
des Menschen“393 vor, Beiträge in Form von „Konfessionen (Buch der
Lebenserfahrung)“ sowie Ausführungen zu einer „Ontologie des Idealen“
und zum „Problem der Interpretation (Urform: Einfühlung)“, weiterhin
eine „Analyse des Selbstbewusstseins, evtl. noch Metaphysik des Selbst
(Themalogische und egologische Prädikation)“. Gelegentlich tauchten auch

387 EFGA 3.3, OH-II/48–49; vgl. auch EFGA 3.1, „Einleitung des Herausgebers I“,
Abschn. III und die Anmerkung zu Z-XI, 25b (Fußnote Nr. 14).
388 EFGA 3.3, OH-II/48f.

389 Ebd., Z-XX/2a.

390 Ebd., Z-XX/6a.

391 Ebd.

392 Ebd., Z-XX/6b. Vgl. auch Z-XX/13a.

393 Siehe die Anmerkung zu ebd., Z-XVIII/4a.

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Überlegungen „zum ontischen Argument in der pseudo-idealistischen (refle-
xionsphilosophisch räsonierenden) These vom Für-mich-sein der Welt“ auf.
Und die in der geplanten Schrift zur „Theorie der Imagination“ bereits
introduzierte Differenzierung von interner und externer Analyse erhielt
noch eine besondere Betonung dadurch, dass nach Fink „Husserls ganze
Lehre von der Reduktion auf einer bloß internen intentionalen Analyse
der Welthabe ‹fußt›“. „Der metaphysische Sinn der Erkenntnis“, so folgert
Fink, „bleibt unbestimmt“394. Nicht zu vergessen ist, dass Fink neben
diesen Arbeitsprojekten zudem unverrückbar an dem geplanten „System
der Philosophie im Grundriss“395 und an den Analysen zum „Problem der
Einleitung“396 in die Philosophie festhielt, deren Bedeutung bereits im ersten
Teil unserer Einleitung erläutert wurde.
Überblickt man die bunte Menge von Arbeitsplänen und Schriftprojek-
ten, mit denen Fink sich trug, so ist es kaum verwunderlich, dass ihre konkrete
Durchführung nur geringe Erfolgschancen hatte. Immerhin bot der Anfang
Dezember 1935 auf Einladung der Kant-Gesellschaft erfolgte Vortragszyklus
Fink die Gelegenheit, seine eigene „Grundauffassung der Philosophie deut-
lich werden“397 zu lassen. „Die Grundauffassung der Philosophie, die hier
vertreten wird, ist: 1) Philosophieren ist ein radikales Fragen, das Probleme
erzeugt und so den Menschen selbst in Frage stellt. 2) Philosophieren
ist Zugrunderichten der ‚Lebenssicherheit‘. 3) Philosophieren ist Selbstbe-
mächtigung des Lebens.“398 Mit dieser dreifachen Charakterisierung der
Philosophie hielt die Einsicht in die spezifische „Gefahr“ Schritt, der die
Phänomenologie ausgesetzt war, wenn sie sich in einer „reflexionsphiloso-
phischen Subjektivierung des Seienden“399 verirrte. Demgegenüber bestand
Fink auf seiner originellen Auffassung der Phänomenologie als „ontogoni-
scher Metaphysik“. Ihr käme die besondere Aufgabe zu, die „Entfaltung
der inneren Problematik der Bezüge der Transzendentalien“400 mit Entschie-
denheit voranzutreiben und so die drohende ontologische Erstarrung der
Phänomenologie zu überwinden. Wie aus den erhaltenen Gedankenskizzen
„zum Dessauer Vortrag“ hervorgeht, beabsichtigte das phänomenologische
„Fragen nach dem Ursprung des Seins“ nichts Geringeres als „ein Überfra-
gen des Seienden schlechthin, also auch aller seienden Weisen des Entstehens
und Vergehens“. „Ursprung“ ist kein „Anfang in der Zeit“, so notierte sich

394 Ebd., OH-II/48f.


395 Siehe EFGA 3.2, Z-XI/10a, Z-XIII/25a sowie Z-XIV im Allgemeinen.
396 EFGA 3.3, OH-II/48f. Vgl. auch Z-XX/26a.
397 Ebd., Z-XVI/III/1a.
398 Ebd., Z-XVI/III/4a.
399 Ebd., Z-XVII/14a.
400 Ebd., Z-XVI/5b.

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Fink. „‚Anfangen in der Zeit‘, dies ist selbst die ontisch verstandene Weise
des Entstehens und Vergehens. Sein = in der Zeit entstehen und vergehen.“401
Im Weiterdenken der „Phänomenologie als me-ontischer ontogonischer
Metaphysik“402 und als einer Form der „Selbstbemächtigung des Lebens“403
bahnte sich ein „Verstehen des zunächst dem Geist undurchdringlichen Seins
aus der geistigen Weltbildung“404 an, was unvermeidlich zu einem „Span-
nungsverhältnis von Ontologie und Ontogonie“ führte. Umso mehr Gewicht
legte Fink innerhalb des eigenen „philosophischen Horizontes“ daher auch
auf eine innere Durchdringung des „spekulativen Begriffs des ‚Werdens‘
bei Hegel“.405 Feste Koordinaten dieses Horizontes waren: „1. Philosophie
als Naturbegriff (Kampf gegen den Kulturbegriff der Philosophie); 2. Phi-
losophieren als Selbstbemächtigung des Lebens; 3. Die Metaphysik des
‚Spiels‘; 4. Die ‚Reflexionsphilosophie‘ und ihr philosophisches Recht;
5. Die ‚Ontologie‘ und ihr Recht; 6. Die Transzendentalphilosophie =
die Problemsetzung der Welt (ens – unum – verum – bonum).“406 Was
ihm somit in seinem dreißigsten Lebensjahr „sichtlich geworden“ war „an
der Philosophie, die in ‹seinem› Leben“ lag, war : 1) die „Metaphysik des
Spieles“; 2) die „Idee der Transzendentalphilosophie als Überfragen des
Seins im Hineinfragen in die Spielräume der transzendentalen Bezüge“
(d. h. in die Transzendentalien-Problematik); 3) das Spannungsverhältnis
zwischen „Ontologie und Reflexionsphilosophie in kritischer Beleuchtung
(Distanz zu Husserl und Heidegger)“; 4) der „Naturbegriff der Philosophie
als Selbstbemächtigung (Heimsuchung und versucherische Existenz)“407.
In seinem Vortrag in der Kant-Gesellschaft legte Fink demnach Wert
darauf, an erster Stelle „das gemeinsame Problem“ von Kant und der
Phänomenologie hervorzuheben. Nach seiner Meinung bestand es in der
„Erforschung des Zusammenhangs der Transzendentalien“408. Schon „Hus-
serls Kantinterpretation“ sei insofern „eine spekulative“, als Kants Transzen-
dentalphilosophie von Husserl gerade im Hinblick auf ihre „teleologische
Ausrichtung auf die phänomenologische Antwort auf das transzendentale
Problem von ens und verum“409 erforscht worden sei. Hier konnte Fink sich
auf Husserls Prager Vorträge stützen, in denen Husserl im Rahmen einer
teleologischen Betrachtung der Geschichte der Vernunft auf die Wiederauf-

401 Ebd., Z-XVII/17a.


402 Ebd., Z-XVII/17b.
403 Ebd., Z-XVII/20b.
404 Fink, „Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?“, in: Studien, S. 175.
405 EFGA 3.3, Z-XVII/14a.
406 Ebd., Z-XX/3a.
407 Ebd., OH-VII/50.
408 Ebd., Z-XVII/15a.
409 Ebd., Z-XXV/14a.

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nahme des Kantischen Erbes vonseiten der transzendentalen Phänomenolo-
gie insistierte. „Kants Neugründung der Metaphysik“ und die „spekulative
Fortführung des Kantischen Ansatzes im Deutschen Idealismus“ prägten
nach Fink „die äußere Situation […], in welcher die Phänomenologie ans
Licht trat“. „Die innere Situation“ der Phänomenologie wurde ihrerseits
wiederum wesentlich bestimmt durch die „Wiederaufnahme des transzen-
dentalen Problems (Kants) als der Frage nach dem inneren Bezug von ens
und verum“.410 Allerdings begegnete Fink der von Husserl herausgehobenen
„teleologischen Einheit der Geschichte des Geistes“ mit „dem tiefsten
Misstrauen“411. Eine „Veräußerlichung der ‚Vernunft‘ im Kulturoptimismus“
und die mit ihr einhergehende „Erstarrung“ in Ordnungsschemata lehnte
er mit Entschiedenheit ab. Er griff auf Nietzsches abgründige Erfahrung
zurück, auf dessen „Sturmlauf gegen die Erstarrung des Lebens“412. In der
in Nietzsches Werk sich anbahnenden „Metaphysik des Spiels“ lagen nach
Fink die wesentlichen Chancen für eine Erneuerung und Wiederbelebung
des spekulativen (me-ontischen) „Wissens um die schöpferische Macht
des Lebens“413. Gegen die Auffassung einer „finalen Sinnrichtung in der
Geschichte des Geistes“ hatte Fink sich schon anlässlich eines gedankenrei-
chen Austausches mit Ludwig Landgrebe ausgesprochen, der im April 1934
auf Finks Aufsatz „Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls
in der gegenwärtigen Kritik“ mit einem „Antwortbrief“ reagiert hatte, in
dem er die dort von Fink vertretene Konzeption einer radikalen „mundanen
Unmotiviertheit“414 der Philosophie hinterfragte. Weitere „Einwendungen“
Finks „gegen Husserls Prager Vortrag“ sind im Übrigen in den Blättern der
Reihe XX aus der Notizmappe Z-XX („1935/36 Gespräche mit Landgrebe.
Problembegriff von Philosophie. Problembegriff von Phänomenologie“)415
aufbewahrt worden. Auch mit Bezug auf Heideggers Kant-Interpretation
äußerte Fink sich zurückhaltend. Nach seiner Meinung betonte sie allzu sehr
„den ontologischen Charakter des kantischen Problems“. Keinesfalls wolle
er sich denjenigen anschließen, die es unternahmen, „Kants Ontologie (Sein
und Vernunft) als Durchgang zur ontologischen Grundfrage Heideggers
(Sein und Zeit) auszulegen“416. Die These, die er in der Kant-Gesellschaft
klipp und klar vortrug, war vielmehr die, dass Kants Transzendentalphilo-
sophie „nichts anderes“ sei als „eine Neugründung der Metaphysik, d. h.

410 EFGA 3.3, Z-XVII/15b-16a.


411 EFGA 3.2, S. 482.
412 EFGA 3.3, Z-XVII/15b-16a.

413 Ebd., Z-XVII/18a.

414 Vgl. EFGA 3.2, S. 481–485. Siehe dazu: Giubilato, Freiheit und Reduktion, insb. das

Kapitel: „Die radikale Unmotiviertheit der Philosophie und die Freiheit“, S. 115–168.
415 Vgl. EFGA 3.3, Z-XX/XX.

416 Ebd., Z-XXV/14a.

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der Ontologie in der Frage nach dem Bezug der Transzendentalien ens und
verum“.417 Im Ausgang von dieser Deutung der Idee einer Transzendental-
philosophie wollte Fink die innere Verbindung der phänomenologischen
Philosophie mit der von Kant ausgehenden Problemstellung aufweisen. „Die
grundsätzliche Verwandlung, die das transzendentale Problem des Bezugs
von ens und verum in der Phänomenologie erfährt“, fasst Fink am Schluss
seiner Ausführungen mit folgender Formel zusammen: „Bei Kant führt das
transzendentale Problem zu einer Neugründung der Ontologie, in der Phäno-
menologie verwandelt sich dieses Problem in die Ableitung des Seienden,
d. h. eine ontogonische Metaphysik.“418 Damit war allerdings lediglich der
Problemansatz seiner Fragestellung angedeutet und dem Publikum „in leerer
Allgemeinheit vorgelegt“. Sollte das bislang nur gestreifte Problem „in der
Leidenschaft eines Denkens zur Wirklichkeit gebracht“419 werden, so erfor-
derte dies, „nicht nach dem Menschen als einem bestimmten Seienden unter
dem Seienden“ zu fragen – „wie alle reflexiven Thematisierungen, von der
Psychologie bis zur Anthropologie“ es tun –, sondern „nach dem Menschen
als dem irgendwie ins Ganze des Seienden ausgeweiteten Weltwesen“420, und
damit „die Welt als den kosmologischen Horizont des Seins“421 künftig in den
Mittelpunkt der phänomenologischen Betrachtungen zu stellen.
Vordringlich wurde somit die Aufgabe, einen von der Welt als „Existen-
zial“ sich abhebenden „kosmologischen“ Weltbegriff auszuarbeiten. Und
diese Aufgabe nahm Fink mit der geplanten Abhandlung „Problem-theore-
tische Untersuchungen zur Lehre vom Weltbegriff“ in Angriff. In seinen
Notizen aus dieser Zeit mehren sich in der Tat die Gedankenentwürfe und
Skizzen, die „eine‹r› erste‹n› philosophische‹n› Arbeit“ über „Weltbewusst-
sein und Welt“ bzw. „Welt und Weltbegriff“422 die Wege ebnen sollten.
Aus Finks Notizen geht ebenfalls hervor, dass er die Hoffnung hegte, eines
Tages eine abgeschlossene Arbeit zu diesem Thema als Habilitationsschrift
vorlegen zu können.423 An eine Habilitation konnte allerdings „aus politi-
schen Gründen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus“ nicht gedacht
werden, solange er „wenigstens die kompromittierende Beziehung zu ‹sei-
nem› jüdischen Lehrer“ aufrechterhielt.424 Bereits in der Mappe Z-XIX, die

417 Fink, „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“,
S. 28.
418 Ebd., S. 43.

419 Ebd., S. 44.

420 Ebd., S. 32.

421 EFGA 3.3, Z-XXV/14a.

422 Vgl. ebd., V-II und Beschreibung.

423 Vgl. ebd., OH II/48 und Z-XV/105a.

424 Eugen Fink, „Politische Geschichte meiner wissenschaftlichen Laufbahn“, in: EF05–75,

Bilder Nr. 510–515.

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aus den Jahren 1934/35 stammt, taucht eine „erste philosophische Arbeit“ mit
dem Titel „Weltbewusstsein und Welt“ auf, die sich verstärkt dem Begriff
der Welt als dem „Ganzen des Seienden“, als dem „All-Enthalt“425 zuwenden
sollte. Einer weiteren Notiz aus der Mappe Z-XV („Mosaik 1930–35“) ist
zu entnehmen, dass eine Schrift mit dem Titel „Weltbewusstsein und Welt-
ganzheit. Phänomenologische Untersuchungen am Leitfaden des kantischen
Antinomienproblems“ zumindest zeitweilig als mögliche Option für eine
künftige Habilitation in Erwägung gezogen wurde. In denselben Problem-
kreis gehören auch die „Reflexionen zur phänomenologischen Reduktion“
hinein, die einen Angelpunkt der von Fink ins Auge gefassten phänomeno-
logischen Meontik als einer Freiheitslehre des Absoluten bildeten. Dazu
notierte er sich: „Reduktion als reflexive Epoché und zwar als Ichidentität
sprengende. – Sind die mächtigsten Vorurteile einzuklammern, haben wir
sie oder haben sie uns? Anstrengung der Abstreifung der Weltbefangen-
heit: Entmenschung – Entweltlichung – Entendlichung – Katastrophe der
menschlichen Existenz. – Die Missverständnisse der phänomenologischen
Reduktion. Kein ‚Intellektualismus‘. ‚Sein‘ als Endlichkeit ein Moment in
der Autogenese des Absoluten, als Wohin seiner Emanation“426. Mithilfe
einiger Stichworte legte Fink sich die in einer „Welt-Schrift“ noch breiter
zu entwickelnde Grundthese zurecht: „Die kantische Unterscheidung von
konstitutivem Gebrauch der Kategorien und dem regulativen Gebrauch der
Ideen ist ein Index für eine zwiefache phänomenologische ‚Konstitution‘:
Gegenstandsbewusstsein und Weltbewusstsein. Kants ‚Grundsätze des rei-
nen Verstandes‘ betreffen Indizes gegenstands-konstitutiver Probleme, die
‚Ideen‘ dagegen Weltganzheit-konstitutive. Oder anders gesagt, die ‚Katego-
rien‘ sind ontologisch-transzendentale Bestimmungen, die ‚Ideen‘ kosmolo-
gisch-transzendentale.“427 Es ist eine Aufgabe künftiger Forschung, genau
zu prüfen, inwiefern die ersten Ansätze zu einer geplanten „Welt-Schrift“
in den 1930er Jahren sich bis zu den Freiburger Nachkriegsvorlesungen,
insbesondere der Vorlesung Sein, Wahrheit, Welt,428 weitergesponnen haben
und inwiefern die frühe Auseinandersetzung mit der Kantischen Transzen-
dentalphilosophie bereits einen ersten Leitfaden geboten hat für die in den
1960er und 1970er Jahren sich denkmalartig auftürmenden Epilegomena zu
Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“.429
Die im vorliegenden 4. Teilband der Werkstatt-Ausgabe gesammelten
Notizen gestatten es dem Leser, den Fortgang der Arbeiten Finks an der

425 EFGA 3.2, Z-XIV/II/1a–b, S. 252.


426 Ebd., Z-XV/105a, S. 308.
427 Vgl. ebd.
428 Fink, Sein, Wahrheit, Welt, EFGA 6.
429 Fink, Epilegomena zu Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“, EFGA 13.

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geplanten „Welt-Schrift“ nach 1935 Schritt für Schritt zu verfolgen. So rech-
net Fink zu den Aufgaben für das Jahr 1938 eine Schrift zum „Weltbe-
griff“430 oder zur „Lehre vom Weltbegriff“431, in der dieser Begriff unter
verschiedensten Aspekten erforscht und erkundet werden sollte: zunächst als
ein „Urerlebnis, das Grund aller Erlebnisse von Binnenweltlichkeit“ ist,
sodann nicht als ein „vom Subjekt her zu begreifendes“ Erlebnis, sondern
vielmehr „als transzendentale Bestimmung des Seienden“. In der Frage nach
dem Weltbegriff als „Ganzheit des Seienden“ meldet sich das Grundproblem
einer Kosmologie, welche die Lebensbezüge zwischen „Welt und Selbst“,
„Welt und Tier“, die Unterscheidungen von „Innenwelt und Außenwelt“, von
„Raum und Zeit“ erneut in Betracht ziehen sollte in der Absicht, zu der „kos-
mologischen Differenz“ von Welt und Binnenweltlichkeit, von Welt und
„Erscheinung“ (d. h. dem „Seienden für ein Wissen“) vorzustoßen und damit
Raum zu schaffen für eine ursprüngliche „ontologische Erfahrung“. Zum
Ambiente dieses neuen „Weltdenkens“ gehörten nach Fink auch die
Abschnitte über „Wachheit und Schlaf“, über „Reales und Ideales“.432 „Die
me-ontische Philosophie“, so erwägt er, „entwertet nicht die Welt als ein nur
scheinbar Seiendes gegenüber dem ‚eigentlich Seienden‘, dem ὂντως ὄν des
Absoluten, sondern lässt gerade die Welt das ὂντως ὄν sein gegenüber dem
Nichts des Absoluten. Die Welt ist das Absolute.“ In diesem Sinne stehe die
Meontik in radikalem Gegensatz zu einer „weltbefangenen, ‹seinsbefange-
nen› ontologischen Philosophie“, die in der Unterscheidung zwischen „unei-
gentlichem und eigentlichem Sein […] das Sein oder ‹die› Seinsstärke zum
Maßstab“ wählt.433 Dass die Welt selbst das summum ens sei und das ὄντως
ὄν, von dem hier die Rede ist, nicht automatisch als ein religiöser Gott, son-
dern eher als ein „Gott der Philosophen“ aufgefasst werden müsse, erläutert
folgende Notiz aus derselben Zeit: „‹Der› Gott der positiven dogmatischen
Religiosität ist der Götze Gottes. Gott unmittelbar gegeben im religiösen
Erleben. Dieses ‹ist› die Sehnsucht und das Heimweh, der Erlösungs-
wille. ‹Der› Gott der Religiosität ist der Götze des Absoluten, des meonti-
schen Ursprunges“434.
Finks unaufhörliche Bemühungen, anhand einer „thematischen Reduk-
tion der Seinsidee“ und eines „me-ontischen Durchbruchs der Seinsbefan-
genheit“ ein neues philosophisches Weltdenken zum Tragen kommen zu
lassen, kristallisieren sich in einer ausführlichen Disposition, die einer Schrift
zur „Theorie des Weltbegriffes“ zugedacht war. In dieser sollte der „Welt-

430 EFGA 3.4, Z-XXVI/38a.


431 EFGA 3.3, Z-XXIII/9 und 15.
432 EFGA 3.4, Z-XXVI/18a.
433 EFGA 3.2, Z-XV/127a, S. 315.
434 Ebd.

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begriff als metaphysisches Thema“, d. h. in unmittelbarem Bezug zur „Tran-
szendentalienproblematik“ zur Sprache gebracht werden. Ausgehend von
„der kritischen Erörterung des Weltbegriffs bei Husserl, Heidegger, Kant“
sollte das Weltproblem nunmehr „im Zusammenhang der Frage nach dem
Seienden als Seiendem, Einem, Wahrem, Gutem (ens, unum, verum,
bonum)“ exponiert werden. Entsprechend der von Fink entworfenen Dispo-
sition gliederte sich die Schrift in die Abschnitte „A. Husserls Weltbegriff
(‚Horizont‘); B. Heideggers Weltbegriff (‚Existenzial‘); C. Kants Weltbegriff
(‚Idee‘)“. Die „wesentlichen Elemente von A, B, C“ sollten daraufhin in
„einer systematischen Exposition“ des Weltproblems zum Gegenstand ein-
gehender Analysen gemacht werden. So sonderte Fink aus dem Teil A die
„Inexistenz (Binnenweltlichkeit – Zonengliederung des Für-uns-seins –
‚Undsoweiter‘ –,apperzeptive Übertragung‘ u. dgl.)“ als einen Kardinalbe-
griff ab. Aus dem Teil B destillierte er „den Unterschied von Binnenwelt-
lichkeit und Welt als ‚Inbegriff‘“ heraus – „(aber nur als Existenzial. Keinen
kosmologischen Begriff von Welt. ‚Erde‘ und ihre Ganzheit)“. Mit Bezug
auf Teil C fokussierte er auf die Begriffe von „Kategorie und Idee“435. Aus
derselben Arbeitsphase stammt das im vorliegenden 3. Teilband der Werk-
statt-Ausgabe erstmals veröffentlichte Büchlein V–II, das eine Skizze des
Schriftprojekts „über Welt und Weltbegriff“ enthält sowie einen vermutlich
um 1938 in diesem Zusammenhang verfassten Entwurf eines Briefes an
Martin Heidegger. Mit diesem Schreiben wollte Fink Heidegger davon in
Kenntnis setzen, dass er „mit der Druckfertigung eines Manuskriptes“
beschäftigt sei, das „die Lehre vom Weltbegriff zum Thema“ habe, und ihn
zugleich darum bitten, „den beigelegten Abschnitt über Ihren Weltbegriff
einer Durchsicht zu unterziehen“, um womöglich „ein krasses Missverständ-
nis zu vermeiden“. Allerdings wich die für dieses Schriftprojekt vorgesehene
Gliederung der Themenbereiche wiederum in erheblichem Maße von der
Disposition ab, die der Schrift „Theorie des Weltbegriffs“ anfangs zugrunde
lag: „I. Weltweisheit; II. Aristoteles’ Weltbegriff; III. Suarez’ Weltbegriff;
IV. Ed. Husserls Weltbegriff; V. M. Heideggers Weltbegriff“436.
Ein wichtiger Bestandteil der „Theorie des Weltbegriffs“, mit der Fink
sich in dieser Zeit intensiv befasste, war zweifellos die Darstellung der Pro-
blematik von „Ding an sich und Erscheinung bei Kant und Hegel im Hinblick
auf das neuzeitliche Problem der Ảλήθεια“. Sowohl Kant als auch Hegel
befanden sich hier nach Finks Ansicht „in Gefahr“. „Bei Kant ‹wird› das
Problem ‚stationär‘ entschieden, (d. h. ohne die ‚ontologische Erfahrung‘).
Kant: Das Sein des Seienden als Wahrsein ist Wesensbestimmung für uns.
Hegel: das Sein des Seienden als Wahrsein ist Wesensbestimmung an

435 EFGA 3.4, Z-XXVI/75a.


436 EFGA 3.3, Z-XXV/62a.

Einleitung der Herausgeber II 239

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sich.“437 Insbesondere dem kantischen Weltbegriff „als Idee der vollendeten
Synthesis der Reihe der Erscheinungen“ hielt Fink entgegen, dass er „mit-
bestimmt ‹sei› durch Kants Auffassung des Verhältnisses von Wirklichsein
und Gedachtsein“. Denn „der bloß ‚regulative Gebrauch der Ideen‘ schränkt
ihre objektive Gültigkeit ein im Gegensatz zum konstitutiven Gebrauch
der Kategorien, die als schematisierte überhaupt erst Erkenntnis von Sei-
endem ermöglichen“. „Kants Theorie der Wirklichkeit, die Seiendes für
das menschliche Erkenntnisvermögen nur als Erscheinung zulässt, nur als
Gegenstand der Erfahrung anerkennt, schließt somit ein“, so folgert Fink,
„dass das in den ‚Ideen‘ Gedachte keine Wirklichkeit habe, und nur eine
Form unseres Erkenntnisvermögens ist“. Folglich wird die „Welt“ bei Kant
zu einer „unwirklichen Ganzheitsgedachtheit“438. Das Seiende als Seiendes
(ens) wird für Kant „zum Seienden als Erscheinung“, während das „Seiende
als Eines“ (unum), und d. h. die Welt, „für Kant zu einer ‚Idee‘ antinomischer
Struktur“439 wird.
Da die nur langsam heranreifende, immer weiter ausufernde „Welt-
Schrift“ auch in den darauffolgenden Jahren nicht zu einem schnellen
Abschluss gebracht werden konnte, zog Fink die Möglichkeit in Betracht,
dass seine fortlaufenden Analysen zu „Husserls Weltbegriff“ sich vielleicht
in die Fortsetzungspläne des Anfang 1939 veröffentlichten Aufsatzes „Das
Problem der Phänomenologie Husserls“ einfädeln ließen. Er dachte dabei
an den „Abschnitt: ‚Theorie der Natürlichen Einstellung‘ und ‚Theorie der
Reduktion‘“ – oder „auch vorher schon“ an das Kapitel zu „Wissenschaft
und Lebenswelt“.440 Kann denn „Welt“ überhaupt als ein „Horizont“ gefasst
werden? Und was wäre in diesem Fall „ein Horizont“? Und wenn „es
möglich wäre, vom Weltbewusstsein aus Aufschluss zu bekommen über
das, was die Welt selbst ist“ – hat dann „Husserl überhaupt das ‚Weltbewusst-
sein‘ analysiert?“ Wenn ja, in welchem „sachliche‹n› Verhältnis“ „zu Kants
Antinomienlehre“441 steht dann der phänomenologische, bewusstseinsana-
lytische Ansatz? Was es allem voran zu vermeiden galt, war nach Fink
eine Idolatrie der „Welt der reinen Erfahrung“, „als ob diese Erfahrung
nicht eine metaphysische Entscheidung zur Grundlage hätte!“442. In der
Zwischenzeit tauchte das Welt-Thema auch häufig in den Auflistungen von
Themen für eventuelle Vorträge auf, die Fink angelegt und beibehalten hat.
So plante er z. B. in den Jahren 1936 bis 1938 eine Reihe von Vorträgen,

437 EFGA 3.4, Z-XXVI/46a–b.


438 Ebd., Z-XXVI/20a–b.
439 Ebd., Z-XXVI/21a.
440 Ebd., Z-XXVII/48a.
441 Ebd., Z-XXVII/49a.
442 Ebd., Z-XXVII/50a.

240 Einleitung der Herausgeber II

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.
die für Kreuzlingen vorgesehen waren, die aber nie zustande gekommen
sind. Im Vordergrund stand dabei die Frage nach dem Rhythmus von
„Wachheit und Schlaf“ und seinen „funktionalistischen Auslegungen, die
immer das Phänomen überspringen“443. Welchen Stellenwert Fink dieser
Thematik innerhalb der übergreifenden Weltproblematik beimaß, wird aus
einem Hinweis auf das Denken Heraklits ersichtlich. Bekanntlich wird die
Auseinandersetzung mit Heraklit in Finks Kosmologie der Nachkriegsjahre
von zentraler Bedeutung sein. „Die These, dass der Bezug des Menschen zu
dem umgebenden Seienden (‹die› ‚Offenheit‘) das Denken und den Erinne-
rungszusammenhang des Lebens möglich mache. Ist dies nicht merkwürdig?
Zunächst glaubt man doch, es ist gerade umgekehrt. Das Denken ermöglicht
das Dabeisein bei dem umgebenden Seienden. Demgegenüber sagt Heraklit,
das Dabeisein ermöglicht das Denken. Warum? Weil im Offensein der

443 Ebd., Z-XXVI/66b. Ein Besuch Finks in der „Bellevue“-Klinik in Kreuzlingen, der

Schweizerischen Parallelstadt zu Konstanz am Bodensee, wo Ludwig Binswanger (1881–


1966) die Stelle des Chefarztes innehatte, konnte bislang nicht ermittelt werden. Jedoch hatte
Husserl schon im August 1923 die Anstalt in Kreuzlingen besucht und dort über seine Phä-
nomenologie gesprochen. 1931 sandte Binswanger den Sonderdruck seiner Studie „Traum und
Existenz“ (Neue Schweizer Rundschau, September/Oktober 1930, S. 766–779) an Husserl. Im
November 1936 kam es erneut zu einem brieflichen Austausch anlässlich der Zusendung von
Binswangers Abhandlung „Freuds Auffassung des Menschen im Lichte der Anthropologie“
(Nederlandsch Tijdschrift voor Psychologie 4 [1936], S. 266–301; in Husserls Bibliothek mit
handschriftlicher Widmung: „In aufrichtiger Verehrung und Dankbarkeit v‹om› Verf‹asser›“).
Vielleicht entstand in diesem Zusammenhang die Idee, dass Fink in Kreuzlingen Vorträge
halten könnte. In der Nachkriegszeit nahm Binswanger aktiv an der „Hilfsaktion“ teil, die von
„amerikanischen Freunden“ (in erster Linie auf Initiative von Marvin Farber, Alfred Schütz,
Dorion Cairns, Fritz Kaufmann u. a.) organisiert wurde, um den Familien Fink in Freiburg
und Landgrebe in Hamburg „Hilfspakete“ zukommen zu lassen. Bei der Übersendung dieser
Pakete fungierte Binswanger gleichsam als „Mittler“. Dokumente zu dieser Hilfsaktion sind
in den „Marvin Farber Papers“ im Universitätsarchiv der University at Buffalo aufbewahrt.
Unter ihnen befindet sich einer der ersten Briefe, mit denen Farber im Oktober 1947 im Namen
der International Phenomenological Society die Kollegen aus dem philosophischen Kreis in
den USA zu Spendenaktionen aufrief. „Dear Colleague, No doubt you are fully aware of the
conditions under which European scholars now work. Eugen Fink and Ludwig Landgrebe are
well known to you as Husserl’s research assistants. They now teach in Freiburg and Hamburg
respectively. Their need for food is very acute, as we have learned from them directly and
indirectly. Thus Landgrebe writes that he must avoid all physical exertion in order to be able
to lecture. The danger of extended undernourishment is obvious. We are trying to raise a fund
sufficient to send Landgrebe and Fink CARE-packages regularly for the next year to begin
with, and as long thereafter as may be necessary. They cost ten dollars each. Will you notify
me as soon as possible what you will be able to contribute? Checks may be made out to our
Society, or to the Journal. Felix Kaufmann will take care of the arrangements in New York.
With cordial greetings, Yours sincerely, Marvin Farber“ (Marvin Farber Papers: Collection
number – 22/5F/768, Folder 6.16 (Fink, Eugen, 1938–1947). University Archives, University
at Buffalo). Vgl. auch Finks „Auflistung von (Care) Paketen, die die Familie in den Jahren
1946 bis 1947 aus Amerika bekommen hat“, in: EF05–75, Bilder Nr. 572–573.

Einleitung der Herausgeber II 241

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Mensch dem umwaltenden ‚Nous‘ offen ist. Der ‚Nous‘ in dem Seienden.
Das περιέχον, das ‚Umgebende‘ als Ort des ‚Nous‘!“444 Noch gegen Ende
1939 oder Anfang 1940 dachte Fink daran, der „Theorie von Schlaf und
Traum“ einen Artikel zu widmen, den er der von Marvin Farber gegründeten
Zeitschrift International Journal of Phenomenology zusenden wollte.445
Selbstverständlich stellte eine philosophische Theorie des Weltbegriffs
einen zentralen Bestandteil der kritischen Auseinandersetzung Finks mit
Husserls Phänomenologie dar, wie die zahlreichen Notizen der Mappen Z-
XXVII („Zu ‚Grundproblem Husserls‘ [kritisches]“) eindrucksvoll belegen.
Dabei nahm Fink nicht zuletzt Husserls „iterativistischen Weltbegriff“446
ins Visier. Husserls Auffassung, „dass Welt (und zwar als ‚unendliche
Welt‘ der logisch-idealen Konstruktion, also dieser Ideenbildung der ‚Idea-
lisierung‘) doch ursprünglich als horizonthafte gegeben sei, und dass die
Ideenbildung auf diesen phänomenalen Befund immer wieder zurückver-
standen werden müsse“, warf Fink vor, dass ihr Sinn durch den „Mangel
der metaphysischen Interpretation des Verhältnisses des Ansichseins und
Fürunsseins verdunkelt“447 werde. „Ich zweifle an der Husserlthese von der
‚Ursprünglichkeit der Lebenswelt‘“, so fügte er hinzu, „sofern diese mir
auch auf der These (‚Welt auf dem Marsch‘) zu beruhen scheint“. „Welt
(als ‚unendliche‘) ist für Husserl“ offenbar „eine konstruktive Leistung,
die das iterative System zu beherrschen gestattet“.448 Husserl verfüge über
„keinen spekulativ-metaphysischen“ Begriff von der Welt, sondern nur
über einen intern-analytischen, den er aus einer intentional-phänomenolo-
gischen „Analyse des In-die-Welt-Hineinlebens“ heraus entwickelt habe.
„Hinleben auf Bestimmtes, auf dem Boden einer vorausgesetzten Welt.
Horizonte der Dinge, Erweiterung, das ‚Und-so-weiter‘, Iteration. Welt
als erweiterbare, Sinnhorizont der Erfahrung. Apperzeptive Übertragung.
Vorausgeworfener Horizont – ‚Welt auf dem Marsch‘!“449 – dieses Fazit
zog er aus der Husserlschen Weltanalytik. Husserls „Kampf gegen den
‚Tiefsinn‘, d. i. gegen die spekulative Philosophie“, habe sich in Analyse und
deskriptiver Arbeit verfestigt. Mit dieser „Deskription“ beanspruche Husserl
insofern „Konkretion“, als die von ihm vorgelegte Analyse eine intentio-
nale sei, das heißt auf „Fundamentalanalysen der intentionalen Urmodi“
menschlicher Welterfahrung beruhe. Sein ganzes Denken sei von diesem
Postulat einer künstlichen, das Leben erstarren lassenden Intentionalität

444 EFGA 3.4, Z-XXIX/167a.


445 Vgl. ebd., Z-XXX/22a und 23b.
446 Ebd., Z-XXVII/14a.
447 Ebd., Z-XXVII/29a.
448 Ebd., Z-XXVII/29a–b.
449 Ebd., Z-XXVII/47a.

242 Einleitung der Herausgeber II

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abhängig. „Husserls Wesensbegriff ist ein ‚intentionaler‘, Husserls Begriff
der ‚natürlichen Einstellung‘ ist intentional charakterisiert; ebenso Epoché
und Reduktion und Konstitution. M. a. W. alle Problemstellungen sind
‚intentionale Fragen‘. Seinsbegriff und Wahrheitsbegriff und Weltbegriff
und Gottesbegriff – immer ‚intentional‘!“450 Alles werde vom Horizont
der Intentionalität ausgehend gedeutet, sogar der Horizont par excellence,
d. h. der Welthorizont. Die tragische „Umkehrung“, zu der es infolge des
subjektivistischen Ansatzes von Husserl gekommen sei, bestand in dem
Wagemut, Welt und Zeit aus dem Weltbewusstsein oder dem Zeitbewusstsein
philosophisch verstehen zu wollen. Aus dieser Engführung zog Fink die ihm
einzig möglich scheinende Konsequenz, die ihm zugleich einen Ausweg aus
Husserls Phänomenologie zu bieten schien: „die Weltzeit als umgreifendes
überobjektives übersubjektives Urgeschehen“ aufzufassen und damit einen
„Absprung vom Transzendentalismus“ zu wagen.451
Die zahlreichen Gespräche, die Fink während seines Leuvener Aufent-
halts mit Ludwig Landgrebe geführt hat, vermitteln uns ein Bild davon, dass
und wie Fink ununterbrochen mit den philosophischen Schwierigkeiten rang,
die um Husserls phänomenologische Analyse des Weltphänomens kreisten.
Bereits in seinen Assistenzentwürfen zum „systematischen Werk“ aus dem
Jahre 1930 und im „Anfangsstück einer Einleitung in die Phänomenologie“
von 1931 war die Fragwürdigkeit, die Husserls Weltanalytik in Finks Augen
besaß, an die Oberfläche getreten. Besonders aufschlussreich sind in dieser
Hinsicht aber die Notizen der Reihe XIX aus der Mappe Z-XXVIII („Meine
Thesen in Gesprächen, 1939–40“). Wie bereits zuvor ausführlich dargelegt,
besprach Fink Anfang des Jahres 1940 mit Landgrebe seinen geplanten
Beitrag zum Periodical der Phenomenological Society, aus dem heraus
sich bis Mai 1940 die Idee eines „Traktats über die phänomenologische
Forschung“ entwickelte. Landgrebe referierte seinerseits über sein Vorhaben,
einen Text zu „Husserls Weltbegriff“ zu verfassen, der tatsächlich im ersten
Heft der Zeitschrift Philosophy and Phenomenological Research abgedruckt
wurde.452 Nach ihm, so rekapituliert Fink, gibt „es eigentlich bei Husserl
kein Weltproblem. Vor allem nicht eine Erklärung für die Transzendenz der
Gegenstände; Husserl weise auf die Konstitution von Transzendentem, aber
nicht der Felder der Transzendenz. Dies sei vielmehr immer schon vorausge-
setzt; die Gegenständlichkeit der Gegenstände (das kantische Problem der
‚transzendentalen Deduktion‘) sei für Husserl selbst nicht zu einer Frage
geworden; selbst in der Sphäre der Passivität habe Husserl als Affektion

450 Ebd., Z-XXVII/63a.


451 EFGA 3.2, S. 440.
452 Vgl. Landgrebe, „The World as a Phenomenological Problem“ (siehe Einleitung der

Herausgeber II, Zweiter Teil, Fußnote 296). Vgl. auch EFGA 3.4, Z-XXVI/71a.

Einleitung der Herausgeber II 243

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der Gegenstände die Sphäre von Gegenstehen schon vorausgesetzt.“453
Fink beeilte sich, auf dieses Referat mit einer Reihe von Bemerkungen
zu antworten, die seine damalige philosophische Position minuziös wieder-
geben. Zunächst einmal war es ihm „sehr fraglich, ob das Problem der
Welt in einer Frage nach der konstitutiven Aufklärung der Feldsphäre von
Transzendenz besteht, gleichsam in der Frage, wie die Subjektivität zu einem
‚Draußen‘ kommt. Husserl selbst würde eine solche Fragestellung a limine
ablehnen, da das ‚Draußen‘ kein ‚Jenseits‘ der Subjektivität ist, sondern
ein ‚Jenseits‘ nur für die naive Auffassung des Subjekt-Objekt-Bezuges.“
„Für Husserl transzendiert sich eigentlich die Subjektivität nicht, sondern
‚Transzendenz‘ ist eine Schicht in der Subjektivität: die Schicht der Endter-
minierung der konstitutiven Prozesse!“454 Weiterhin, so fährt Fink fort, „ist
das Problem der ‚Gegenständlichkeit‘ als Feld und Spielraum möglicher
gegenstehender ‚Gegenstände‘ bei Husserl nicht da, weil es für ihn in
solcher Fassung ein sinnloses Problem ist.“ Das Problem stehe zumeist in
der traditionellen Philosophie „im Zusammenhang mit dem Problem des
‚Ansichseins‘“. Und nur in diesem Zusammenhang habe Landgrebes Frage
auch „ihre Schärfe“. Husserl habe allerdings „das Problem des ‚Ansichseins‘
eliminiert“455, das Seiende gänzlich in die intentionale Gegenständlichkeit
aufgelöst. Und schließlich ist nach Fink „die Anschauung, als habe Husserl
‚Welt‘[,] interpretiert als das Feld von ‚Gegenständlichkeit‘, immer voraus-
gesetzt, ohne diese ‚Voraussetzung‘ aufzuklären“, schlicht „falsch“. „Husserl
beginnt zwar in der Situation der Vorgegebenheit des Welthorizontes der
Erfahrung von Gegenständen, aber dieser ‚Vorgegebenheitsstil‘ ist für ihn
Titel umfassender konstitutiver Untersuchungen. Und schon die Methodik
der phänomenologischen Reduktion ist eine Epoché an der Voraussetzung
aller Gegebenheit von Einzelgegenständen, die prinzipiell den Charakter der
‚Inexistenz‘ haben; sie ist Epoché an der Fundamentalvoraussetzung des
Weltbodens aller Erfahrung.“456
Wie insbesondere aus den Notizen der Mappe Z-XXIX hervorgehen
mag, richtete Fink seine kritischen Bemerkungen zugleich an Heideggers
Adresse. An Heideggers Weltkonzeption bemängelte er die ungenügende
Unterscheidung zwischen einer „existentiellen“ und einer „rein-ontologi-
schen“457 Begrifflichkeit. Und gerade die Ausbildung der letzteren hielt er
für eine unerlässliche Vorbedingung, um eine angemessene Betrachtung von

453 Ebd., Z-XXVIII/XIX/1b.


454 Ebd., Z-XXVIII/XIX/1a–b.
455 Ebd., Z-XXVIII/XIX/1b.
456 Ebd., Z-XXVIII/XIX/2a.
457 Ebd., Z-XXVIII/20b.

244 Einleitung der Herausgeber II

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„Raum und Zeit im kosmologischen Verstande“458 in die Wege leiten zu
können, die einen wesentlichen Bestandteil der geplanten „Theorie des Welt-
begriffs“ bilde. Was mit einer „Theorie des Weltbegriffs“ auf den Plan geru-
fen wurde, war eine „spekulative Bestimmung des Begriffs der Welt“, und
zwar der „Φύσις“ als des „umfangenden Einen des Seins des Seienden“.
„Theorie“ bedeutet hier „also nicht ‚Anschauung‘ im geraden Sinne, sondern
die Reflexion auf das Geschehen der vorsprünglichen Lichtung des Seienden
in der begrifflichen Wahrheit der Welt“459. Entgegen „Kants These von der
Anschauungsbezogenheit der menschlichen Erkenntnis“, welche „eine Inter-
pretation des Denkens“ sei, die „der spekulativen Tradition ins Gesicht
schlägt“, berief Fink sich nachdrücklich auf „Hegels Fassung des Begriffs
des ‚Begriffs‘“, um „das Verhältnis von Anschauung und Denken“460 spe-
kulativ zu bestimmen. Und damit stellte er an den Anfang seiner „Theorie
des Weltbegriffes“ eine „Begriffstheorie“ bzw. eine „Lehre vom apriorischen
Begriff“, mit der er in eindeutiger Abgrenzung von Husserl und Heidegger
an seiner Grundauffassung von der „begrifflichen Natur der Wahrheit“ und
seiner Bestimmung des „Wesen‹s› des Begriffs“ als eines „Vorgriff‹s›“ bzw.
eines „apriorischen Entwurf‹s›“ festhielt.461 Fink selbst umschrieb die theo-
retische Eigenart dieser „Begriffslehre“ in seinen Notizen als eine „Theorie
der begrifflichen Wahrheit über das Ganze des Seienden = Θεωρία περί τῆς
ἀληθείας περί τῆς φύσεως! = Theorie der vorsprünglichsten Wahrheit =
Theorie der transzendentalen Begriffswahrheit! Seiendes (ὂν) – Welt (ἓν) –
Wahrheit (ἀληθές) – Gott (ἀγαθόν) = transzendentale Ideen und als solche
nicht Gegenstände der αἴσθησις, noch der ἐμπειρία, sondern der Σοφία“.462
„Gegen alle Intuitionisten“ behauptete er, dass „die ursprünglichste Aletheia
begrifflich ‹sei›, dass das Urlicht des menschlichen Seins inmitten des Sei-
enden in ‚lichtenden Begriffen‘ und nicht in einer vorbegrifflichen ‚Anschau-
ung‘ lieg‹e›“.463 Auf diese Weise mündete die geplante Schrift zur „Lehre
vom Weltbegriff“ mithilfe einer „Theorie des Begriffs“ letztlich in einen
Entwurf der Philosophie als „Weltweisheit“. Die entwerfende „Setzung“ der
urlichtenden Begriffe bzw. der Transzendentalien geschieht nämlich in einer
staunenden „ontologischen Erfahrung“. Die „Grundgeschichtlichkeit“ die-
ses einzigartigen Erfahrungsvorganges greift weit über den „Narzissmus der
modernen Seele“ hinaus und wird von keiner „historistischen Skepsis“ tan-
giert. Damit kommt das Thema der Sammlung „Aphorismen aus einem

458 Ebd., Z-XXIX/185a.


459 Ebd., Z-XXIX/319b.
460 Ebd., Z-XXVI/17a.
461 Ebd., Z-XXIX/305a und 320a–b.
462 Ebd., Z-XXIX/320a–b.
463 Ebd., Z-XXIX/193a.

Einleitung der Herausgeber II 245

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Kriegstagebuch 1940–1944“ in Sicht, die im Abschnitt 2 des vorliegenden
Teilbandes dem Publikum erstmals zugänglich gemacht wird, und die Fink
mit „Eremitie“ überschrieben hat.464 Wollte man das Gesamtergebnis der
Denkanstrengungen, die Fink in seiner „phänomenologischen Werkstatt“
unternommen hat, zusammenfassen und in einer Übersicht darstellen, so
könnte man zu diesem Zweck eine Notiz anführen, die Fink in Mappe Z-
XXIX auf S. 307a hinterlegt hat: „Der Begriff der Metaphysik als Proble-
matik der ‚Transzendentalien‘; Der Begriff der ‚Theorie‘ bestimmt durch
eine Katharsis, durch eine Lösung des Menschen aus dem ‚Verfängnis‘; Das
Problem des Wesens und das Hervorkommen des Seienden; Die Tiefe des
Seins, die Stufen der Seinsmacht des Seienden; Der Begriff der Dialektik als
der begrifflichen Urlichtung der menschlichen Existenz in der Welt; Dialek-
tik als das Gespräch über das Seiende. Der Begriff der Philosophie als onto-
logischer Erfahrung und die Geschichtlichkeit der Philosophie (wenn die
Philosophie stillsteht, dann Fortschritt der Wissenschaften); Die Philosophie
als Wissenschaft = Sophia.“465
Am 18. Dezember 1945 reichte Fink das Habilitationsgesuch ein, das es
ihm erlauben würde, seine abgebrochene akademische Laufbahn wieder auf-
zunehmen. Als Habilitationsschrift wählte er den „Entwurf der Idee einer
transzendentalen Methodenlehre“, in dem Husserl selbst zwölf Jahre zuvor
eine „schöpferische Fortführung seiner Gedanken“466 erkannt hatte. Fink
sprach die Hoffnung aus, seine Universitätslaufbahn, die ihm „im Jahre 1933
aus politischen Gründen versagt worden“ war, nun „neu und in geistiger
Freiheit beginnen zu dürfen“467. Mit seiner Schriftwahl wollte er zugleich
„symbolisch zum Ausdruck bringen“, dass er „die Husserl-Tradition
auf‹zu›nehmen“ gewillt war, allerdings „nicht in orthodoxer Nachfolge, aber
in Fortführung der von Husserl empfangenen geistigen Impulse“.468 Zum
Zweck der Habilitation hätte er „auch eine andere Arbeit nehmen können,
die auf einem höheren Niveau noch liegt, in der eine geistige Entwicklung
von mehr als 10 Jahren sich objektiviert hat“ 469. Die in der Mappe Z-XXIX
enthaltenen Notizen sind ein Zeugnis dafür, dass Fink bei der Auswahl einer

464 Vgl. EFGA 3.4, „Eremitie (Aphorismen aus einem Kriegstagebuch, 1940–1944)“.
465 Ebd., Z-XXIX/307a.
466 Aus Eugen Finks erstem Briefentwurf an Gerhart Husserl vom 25. Oktober 1946, in:

EF05–75, Bilder Nr. 560–561.


467 Ebd., S. 26.

468 Lebenslauf Eugen Finks als Beilage zum Habilitationsgesuch, 18. Dezember 1945. Vgl.

EF 05–75, Bilder Nr. 526–528.


469 Aus einem Briefentwurf Finks an Gerhart Husserl (25. Oktober 1946), in: EF05–75, Bilder

Nr. 560–561, 562–564, 565–567. Vgl. auch die Notiz in EFGA. 3.4, Z-XXIX/233a, die mit
diesem Entwurf und mit Finks Vorbemerkung zur Habilitationsschrift vom Dezember 1945
(in: VI. CM/1, S. 184) übereinstimmt.

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sich zum Habilitationsverfahren eignenden Arbeit erheblich gezögert hat.
Nicht auszuschließen ist die Möglichkeit, dass er mit der „auf einem höheren
Niveau liegenden“ Arbeit die seit 1934/35 geplante, immer weiter ausgrei-
fende „Welt-Schrift“ im Auge hatte. Aber die Notizen aus dieser Mappe ver-
raten zugleich, dass er sich auch andere Optionen offenhielt. So ist die Rede
von einer „Darstellung der Ideation“ oder von einer „Darstellung der Pro-
blematik der Begründung der Wissenschaft“. Weiterhin taucht das Thema
„Reduktion und ihr tieferer Sinn“ auf. Ebenfalls Erwähnung findet eine
„Ontologie des ‚Sinnes‘ (Bezugsphänomen)“. Besonders bedeutsam waren
ihm noch die Ausführungen zum „Entbehrungswissen als metaphysischem
Ort der Frage nach dem Seienden“470. Wir hegen allerdings die Vermutung,
dass es sich bei der erwähnten „anderen Arbeit auf höherem Niveau“ um die
Schrift über „ontologische Erfahrung“ handelt, in die das Sonderprojekt des
„Traktats über phänomenologische Forschung“ allmählich eingeflossen war.
So betrachtete Fink es als ein „Ziel“ seiner Habilitationsschrift, dass sie sich
entlang von „Husserls Grenze zur spekulativen Philosophie“ bewegen, eine
programmatische „Auswertung der phänomenologischen Arbeitsmethode“
vornehmen und dabei „die Dialektik als spekulative Hypothesis“ in Anschlag
bringen sollte.471 Wie eine andere Notiz verlauten lässt, stellte Fink sich mit
seiner Habilitationsschrift ausdrücklich die „Aufgabe, die Phänomenologie
Husserls zu entwickeln über die Grenzen ihres Ansatzes durch Aufnahme
metaphysischer Motive des Deutschen Idealismus“472. Das war eben das
Grundanliegen der leider nie zustande gekommenen Schrift über den „onto-
logischen Entwurf“, die Fink mit folgenden Worten charakterisierte: „Die
Schrift über die ‚ontologische Erfahrung‘ ist keine Beschreibung und keine
Theorie der ontologischen Erfahrung; denn diese ist der Sinnentwurf von
Sein überhaupt und somit vor jeder Deskription. Traktat über die Grenze der
Phänomenologie. Innere Kritik der Phänomenologie: Die Voraussetzungen
ihrer ‚Voraussetzungslosigkeit‘. Phänomenologie Husserls und Phänomeno-
logie Hegels.“473

XII. Phänomenologischer Gegenspieler in der philosophischen


Nachbarschaft von Martin Heidegger

Eugen Finks Weiterbildung der phänomenologischen Transzendentalphilo-


sophie geschah „nicht in orthodoxer Nachfolge“, sondern vielmehr „in Fort-

470 EFGA 3.4, Z-XXIX/70a. Vgl. auch 228a, 266a.


471 Ebd., Z-XXIX/261a. Vgl. auch 213a.
472 Ebd., Z-XXIX/280a.
473 Ebd., Z-XXIX/318b.

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führung der von Husserl empfangenen geistigen Impulse“474. Sie führte Hus-
serls transzendentale Phänomenologie erstmals „an die Klippen, ‹an› die
Randprobleme der regressiven Analytik“ heran, „um von da aus den moti-
vierenden Anstoß für den konstruktiven Entwurf“ zu gewinnen, der ein spe-
kulatives „Hinausgehen über ‹die› reduktive Gegebenheit“475 ermöglichte.
Mit ihm wurde eine „Me-ontik“ bzw. eine „onto-gonische Metaphysik des
absoluten Geistes“ in Aussicht gestellt, die als ein origineller philosophischer
Vorstoß Eugen Finks in phänomenologisches Neuland bewertet werden
kann. Die Forschungs- und Editionsprojekte, die vom Leuvener Husserl-
Archiv und vom damals an der Pädagogischen Hochschule Freiburg ange-
siedelten Fink-Archiv initiiert wurden, erlaubten es, wichtige, bislang im
Nachlass Eugen Finks aufbewahrte Dokumente zu erschließen und zu erfor-
schen. Auf ihrer Basis konnte Finks „Schritt über Husserl hinaus“ in seiner
inneren Motivation erstmals verständlich gemacht und in seinen weitrei-
chenden philosophischen Konsequenzen nachvollzogen werden. Die Grün-
dung der Eugen Fink Gesamtausgabe im Jahre 2005 anlässlich des
100. Geburtstages des Philosophen gab diesem andauernden phänomenolo-
gischen Interesse neue Impulse. Mit den in den Jahren 2006 und 2008 von
Ronald Bruzina herausgegebenen Teilbänden 3.1 und 3.2 der Phänomenolo-
gischen Werkstatt wurde eine neue Tür geöffnet, die uns den angemessenen
Zugang zur Schatzkammer von Finks phänomenologischem Denken erleich-
tert. Die in diesen Bänden erschlossenen Quellen trugen wesentlich zu der
„Neubelebung eines langen und verwickelten Gespräches“ bei, das Fink mit
dem phänomenologischen Erbe Husserls geführt hatte, und das „den Kern
[…] eines lebendigen Forschungsengagements unter dem Druck nie nach-
lassenden Fragens“476 in sich enthielt. Die Veröffentlichung des 3.
und 4. Teilbandes der Phänomenologischen Werkstatt gestattet es heute, das
Bild von Finks nachhaltiger Auseinandersetzung mit der Phänomenologie
Husserls zu vervollständigen. Zugleich erfahren wir darin etwas von der
Kraft seines Denkens, das ihm zeitlebens „nicht etwas Abgeleitetes ‹war›,
sondern die höchste Möglichkeit des Menschen, seine Freiheit“. „‚Denken‘
als Σοφία“ ist dabei, so notiert er sich, „bestimmt durch eine κάθαρσις“477.
Weniger offenkundig und intensiv erforscht als seine „ketzerische“
Stellungnahme zu Husserls Phänomenologie ist die Haltung, die der „junge
Fink“ in der unmittelbaren Nachbarschaft von Heideggers eindrucksvoller
philosophischer Vormachtstellung einnahm. Aufgrund der spärlichen Doku-

474 Lebenslauf Eugen Finks als Beilage zum Habilitationsgesuch, 18. Dezember 1945. Vgl.
EF05–75, Bilder Nr. 526–528.
475 VI. CM/1, S. 7.

476 Bruzina, „Einleitung des Herausgebers I“, in EFGA 3.1, S. XXVIII.

477 EFGA 3.4, Z-XXIX/161a.

248 Einleitung der Herausgeber II

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mentation und einer recht mangelhaften Quellenforschung könnte man in
dieser Hinsicht von einem „hermeneutischen Blanko“ reden. Da man sich
nur ein recht lückenhaftes Bild von dem Gespräch machen konnte, das
Fink bereits in der Vorkriegszeit mit dem Denken Heideggers geführt hatte,
schätzte man auch die philosophische Bedeutung, die seinen Nachkriegs-
schriften zuzusprechen war, keineswegs richtig ein. Auf diese fiel häufig
der Schatten eines Epigonentums, das nach einem bekannten Ausdruck von
Jürgen Habermas nur einen weiteren Beitrag zur „Urbanisierung der Heideg-
gerschen Provinz“478 leistete. Die in den vorliegenden Werkstatt-Bänden
erschlossenen Quellen beheben diesen Mangel. Sie zeigen, dass und wie
Finks Denken früh zur Eigenständigkeit heranreifte und keineswegs die
kritische Auseinandersetzung mit Heideggers philosophischen Grundposi-
tionen scheute.
Die monumentale Korrespondenz Edmund Husserls479 enthält Zeug-
nisse, in denen der „Vater der Phänomenologie“ die frühe intellektuelle Reife
und geistige Selbstständigkeit seines jungen Assistenten großzügig aner-
kennt. Der von Fink mit Jan Patočka geführte Briefwechsel480 belegt wie-
derum, wie die beiden Freunde die philosophische Entwicklung Martin
Heideggers in der Vor- und Nachkriegszeit intensiv rezipierten und kom-
mentierten. Die Hauptquelle für Finks langjährige Auseinandersetzung mit
dem ontologischen Ansatz Heideggers und mit der Entfaltung der Seinsfrage
sind nach wie vor die zahlreichen Vorlesungen, in denen er sich unmittelbar
auf Heideggers Gedankengänge bezieht: „Einleitung in die Philosophie“
(Sommersemester 1946), „Welt und Endlichkeit“ (Sommersemester 1949),
„Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung“ (Winterse-
mester 1950/51) und „Sein, Wahrheit, Welt“ (Wintersemester 1956/57).481 Auf
Finks Verhältnis zu Heideggers Denken werfen auch kleinere Arbeiten ein
bezeichnendes Licht, so etwa die „Bruchstücke einer Vorlesung zum Begriff
der ‚ontologischen Differenz‘ bei Heidegger“, die Fink im Jahre 1948 in der
Form eines Artikels über „Philosophie als Überwindung der Naivität“ ver-
öffentlichte.482 In den Vordergrund stellt Fink dabei das „ausdrückliche

478 Nach dem berühmten Ausdruck von Jürgen Habermas soll bekanntlich Hans-Georg Gada-
mer „die Heideggersche Provinz urbanisiert“ haben. Vgl. Jürgen Habermas, Philosophisch-
politische Profile, Frankfurt am Main 1981, S. 393. Vgl. dazu Oskar Becker, „Eugen Fink:
Nachdenkliches zur ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung“, in: Phi-
losophische Rundschau“, Bd. 6, N. 1/2 (1958), der „die pädagogische Absicht Finks“ betont,
„das im Umkreis Heideggers Übliche vorzubringen“ (S. 27).
479 Vgl. Husserl, Briefwechsel, Bd. I–X (Bw), Dordrecht 1994.

480 Fink, Patočka, Briefe und Dokumente 1933–1977, (Orbis Phaenomenologicus III/1),

Freiburg/München 1999.
481 Eugen Fink, Einleitung in die Philosophie, hrsg. von F.-A. Schwarz, Würzburg 1985; Fink,

Sein und Endlichkeit, EFGA 5.2; Fink, Sein, Wahrheit, Welt, EFGA 6.

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Übersteigen des Seienden im Ganzen durch den Entwurf der Seinsverfassung
alles Seienden“, der sich „philosophierend in der fragenden Verwunderung
über das Sein“ vollzieht – man könnte mit Fink sagen: „in einer ontologischen
Erfahrung“. Gleichzeitig wagt er den spekulativen Versuch, die ontologische
Differenz Heideggers auf die kosmologische zurückzuleiten, und bringt die
letztere mit einem Hinterfragen jener „Voraussetzung des Seins“ in Verbin-
dung, in der alles natürliche Weltleben grundsätzlich verfangen bleibt.
Wenige Jahre später, am 15. September 1952, kam es anlässlich eines in
Muggenbrunn privat organisierten „Colloquiums über Dialektik“ erneut zu
einer klaren Aussprache der eigenen Positionierung Finks. Im Laufe dieses
Gesprächs, an dem u. a. Max Müller, Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Bern-
hard Welte und das Ehepaar Walter und Marly Biemel teilnahmen, zeigte
sich, wie die Behandlung des Themas der „Dialektik“ auf „einen von vorn-
herein ganz anders veranlagten Artikulationsrahmen im eigenen Denk-
werk“483 Eugen Finks hinwies, der sich aus dem philosophischen Ambiente
herauszog, in dem Heidegger sich mit der Konzeption der Dialektik befasst
hatte. Wie in den vorangegangenen Ausführungen bereits dargelegt, taucht
die „Dialektik – im antiken Sinne Platos!“484 bei Fink im Sinne eines
διαλέγεσθαι im spezifischen Zusammenhang der „ontologischen Erfahrung“
auf, und zwar als ein begriffliches „λέγειν des ὄν“. Ihre begriffliche Schärfe
gewinnt diese Seinsauslegung bei Fink allerdings erst am Leitfaden einer
Auseinandersetzung mit Kants Antinomien-Lehre, und zwar im Hinblick auf
die Idee von der „Welt-Ganzheit“ und vom „Seienden im Ganzen“. Bereits
in der im Jahre 1932 verfassten VI. Cartesianischen Meditation wählte Fink
für den „konstruktiven Entwurf“, der uns zu diesen Ideen hinführt, den Titel
„Transzendentale Dialektik“. In dem im Jahre 1935 gehaltenen Dessauer
Vortrag über „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der
Phänomenologie“ erhielt die „Ableitung des Seienden aus dem transzenden-
talen Seinsgrund“, die Fink in diesem Vortrag erstmals in den Vordergrund
stellte, dann die spezifisch phänomenologische Pointe einer „onto-gonischen
Metaphysik“. Im Zuge des Muggenbrunner Colloquiums über Dialektik

482 Zuerst abgedruckt in: Lexis 1 (1948), S. 107–127 (vgl. Fink, „Philosophie als Überwindung
der ‚Naivität‘“, in: ND, S. 98–126).
483 Martin Heidegger, „Colloquium über Dialektik“, hrsg. und mit einem Nachwort versehen

von Guy van Kerckhoven, in: Hegel Studien XXV, Bonn 1990, S. 9–40, hier S. 36f. Vgl. dazu
auch Finks Vortrag von 1962 an der Universität Wien zu „Phänomenologie und Dialektik“,
den er später in den Band Nähe und Distanz aufnahm (ND, S. 228–249). Um zum „Problem
der Dialektik vorzustoßen“, unternimmt Fink hier einen „Grenzgang“ entlang den Grenzen
der phänomenologischen Methode, in dem er „eine ungeprüfte Voraussetzung aller Phäno-
menologie“ infrage stellen möchte, die Voraussetzung nämlich, „dass das Seiende erscheine“
(ebd., S. 249).
484 EFGA 3.4, Z-XXIX/13a.

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machte sich übrigens bereits jene „grundsätzliche Differenz in der Leitfa-
denauslegung des frühgriechischen Denkens“485 bei Fink und Heidegger
bemerkbar, die auch während des gemeinsam veranstalteten Heraklit-Semi-
nars aus dem Jahre 1966 ans Licht trat.
Hier ist der geeignete Ort, um auf den philosophischen Stellenwert
einzugehen, den die 13 Sitzungen, die einem „Nachdenken der von Heraklit
vorgedachten Gedanken“486 gewidmet waren, für die Klärung des Verhältnis-
ses besitzen, in dem Fink sich als Kontrahent Heideggers gegeben hat. Es ist
unverkennbar, dass sich Fink und Heidegger in dem mit Heraklit geführten
Gespräch, das „ein Torso, ein Fragment über Fragmente“487 geblieben ist, auf
unterschiedlichen Ebenen bewegen und doch im „Namen Heraklit“ gleicher-
maßen eine Ur-macht des abendländischen Denkens gewahren. Außerdem
ist Heidegger ständig auf der Hut, dass sein grundsätzliches Fragen und
die diesem Fragen eigentümliche Begriffssprache nicht durch jene entstellt
wird, die Fink im Mund führt. So fordert er zum Beispiel dazu auf, einen
so charakteristischen Begriff wie den der „Lichtung“ im Seminar nicht
heranzuziehen und untersagt es sogar einem Teilnehmer, das Wort „Zeit“
zu verwenden. Auch möchte er mit Nachdruck Sein und Zeit einstweilig
in Klammer setzen.488 Beide Denker legen es den Seminarteilnehmern ans
Herz, zunächst einmal auf die Stimme Heraklits zu hören, wie sie „wie die
der Pythia weiter als durch tausend Jahre zu uns reicht“489. Von Heideggers
„Dialog mit den Griechen in vielen seiner Schriften“, so erwidert Fink,
„können wir lernen, wie das Weiteste nah und das Vertrauteste fremd wird
und wie wir nicht zur Ruhe kommen und uns nicht auf eine gesicherte
Deutung der Griechen verlassen können. Die Griechen bedeuten für uns
eine ungeheure Herausforderung“490. Die Herausforderung, die Heraklits
Denken an uns stellt, besteht nach Fink darin, dass es uns eine ursprüngliche
Seinserfahrung vermittelt, die zu lange un-gedacht geblieben und am Ende
in Vergessenheit geraten ist. Dass er selber mit dieser Herausforderung Ernst
gemacht hat, zeigen seine Buchveröffentlichungen Alles und Nichts491 und
Spiel als Weltsymbol492 sowie die beiden als „Heraklit-Interpretationen“
betitelten Seminare von 1950 und 1954, weiterhin die im Jahre 1985 posthum
erschienene Vorlesung Grundfragen der antiken Philosophie aus dem Winter

485 Heidegger, „Colloquium über Dialektik“, S. 36f.


486 Heidegger, Fink, Heraklit. Seminar Wintersemester 1966/67, Frankfurt a. M. 1970,
Vorwort Finks.
487 Ebd., S. 8.

488 Vgl. ebd., S. 15ff.

489 Ebd., S. 9.

490 Ebd.

491 Fink, Alles und Nichts. Ein Umweg in die Philosophie, EFGA 6.

492 Fink, Spiel als Weltsymbol, EFGA 7.

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1947/48.493 In dieser Vorlesung diskutiert Fink neben Anaximander und Par-
menides auch die Fragmente Heraklits, die er Schritt für Schritt kommentiert.
Die Fäden seines Kommentars hat er in dem Heraklit-Seminar von 1966/67
wieder aufgenommen. Dass Heraklit auch Heideggers Denken in Atem
gehalten hat, ist bekannt; hier soll lediglich an die Vorlesung Einführung
in die Metaphysik aus dem Jahre 1935 erinnert werden sowie an das erste
Seminar, das Heidegger 1966 in Le Thor gehalten hat und auf das dann kurze
Zeit später das gemeinsam mit Fink ausgerichtete Heraklit-Seminar folgte.
Bereits zu Beginn der Vorlesung aus dem Wintersemester 1955/56, die
er mit dem Titel „Sein – Wahrheit – Welt. Vorfragen zum Problem des
Phänomenbegriffs“ versah,494 hat Fink die Grundorientierung, die seine
philosophische Unterredung mit Martin Heidegger innerlich bestimmte,
durchscheinen lassen, indem er erklärt, dass „die ihn dabei leitende Absicht“
darin bestehe, „in einer Begegnung mit phänomenologischen Motiven der
Philosophie Husserls und Heideggers den kosmologischen Horizont der
Seinsfrage aufleuchten zu lassen“495. In den Vordergrund seines genuin
phänomenologischen Interesses drängte sich die Konzeption des „Weltbe-
griffes“ bei Husserl und Heidegger, die Fink auf den gemeinsamen Nenner
des „Horizontes“ bringen wollte. Nach Husserl stellt „Welt“ den Universal-
horizont des Bewusstseins dar, bei Heidegger leuchtet er als Bedeutsamkeits-
horizont des seinsverstehenden Daseins auf. Was unter diesem zweifachen
Blickwinkel nur ungenügend in Sicht kommen konnte, war nach Fink das
Wesen der Welt als Weltganzheit, als die Welttotalität, in der alles binnen-
weltlich erscheinende Seiende allererst zum Vorschein kommt. Und auf diese
Differenz von binnenweltlich Seiendem und Weltganzheit richtete sich sein
beharrliches phänomenologisches Nachfragen. Weder die Welt als Erfah-
rungshorizont des Bewusstseins noch die Welt als Bewandtnishorizont des
Daseins führte nach seiner Ansicht den „Kosmos“ als das Grundgeschehen
des alles binnenweltlich Seiende umfangenden und durchwaltenden Erschei-
nenlassens ins Treffen. Und eben diese phänomenologische Pointe tritt im
Verlauf des Heraklit-Seminars an die Oberfläche. An den Anfang seiner
Heraklit-Auslegung stellt Fink das Fragment 64: „Alles Seiende aber steuert
der Blitz“. Heidegger dagegen wählt das Fragment 16: „Wie kann einer sich

493 Fink, Grundfragen der antiken Philosophie, EFGA 11.


494 Fink, Sein, Wahrheit, Welt, EFGA 6.
495 Ebd., S. 208. Die Art und Weise, in der Fink (z. B. in seiner Vorlesung Nachdenkliches

zur ontologischen Frühgeschichte von Zeit – Raum – Bewegung) an die Antike herangetreten
ist, könnte man treffend mit folgender Paraphrase von Heideggers Sprachgebrauch in Sein
und Zeit beschreiben: „Wenn das Befragte der Gedanke der Morgenröte der Philosophie ist,
ist das Gefragte die ontologische Struktur von Raum, Zeit und Bewegung, aber was gesucht
wird, nämlich das Erfragte, ist das Walten des Weltganzen“ (Virgilio Cesarone, „Nachwort
des Herausgebers“, in: Fink, Sein, Wahrheit, Welt, EFGA 6, S. 556).

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bergen von dem, was nimmer untergeht“ zum Ausgangspunkt. Während er
das menschliche Seinsverständnis ausdrücklich in das Unverborgenheitsge-
schehen (ἀλήθεια) einbezieht, deutet Fink den „alles steuernden Blitz“ als
den Grundzug des Weltganzen, der alles Binnenweltliche durchwaltet. Auf
subtile Weise macht Heidegger selbst eine Anspielung auf die Divergenz,
die zwischen seiner und Finks Lektüre der Fragmente obwaltet, indem er das
Seminar mit dem Zitat zweier Sprüche des Griechen Periander von Korinth
– eines der Sieben Weisen – beschließt. In dem ersten: „μελέτα τὸ πᾶν“
(„Nimm in die Sorge das Ganze als Ganzes“) klingt Finks Weltdenken nach,
mit dem zweiten: „φύσεως καθηγορία“ („Das Sichtbarmachen der Physis“)
verleiht er seinem eigenen Denkversuch Ausdruck. Was den Nachvollzug
der Gedankengänge Finks und Heideggers erheblich erschwert, ist allerdings
der Umstand, dass beide während des Seminars die gleichen Begriffe
verwenden, wie z. B. „Lichtung“ und „Ereignis“, aber damit jeweils etwas
anderes ins Auge fassen.
Umso wertvoller sind für uns heute die zahlreichen, in den vorliegenden
vier Teilbänden der Werkstatt-Ausgabe ausgebreiteten Notizen des jungen
Fink. In ihnen lässt sich Schritt für Schritt verfolgen, wie sein „Weltdenken“
nicht nur dadurch zunehmend an Profil gewann, dass er stetig an Husserls
intentionaler Analytik der vorgegebenen Welt Kritik übte, sondern, wenn es
darum ging, in die Fußstapfen der existenzialen Analytik des Daseins zu
treten, gleichzeitig bedacht war, jene Distanz einzuhalten, die sich etwa 30
Jahre später im Heraklit-Seminar erneut zu Wort meldete. Übrigens ging
dieses gemeinsam veranstaltete Seminar auf einen Denkanstoß zurück, der
anlässlich eines mit Heidegger am 11. März 1953 geführten Gesprächs erfolgt
war. Wie Fink berichtet, kam es zu einer lebhaften Diskussion darüber, „ob
Zeitlichkeit in das griechische Seinsverständnis (Sein = Anwesen) hinein-
genommen werden könnte“. Seine (Finks) „Gesprächsthese“ war dabei die,
dass „Heraklit nicht an den Λόγος-Fragmenten allein oder vorwiegend zu
orientieren“ sei, „sondern am Problem der ἅρμονιὴ ἀφανης“. Daraufhin
zeigte Heidegger sich „sehr beeindruckt und sagte, er würde sich für meine
Heraklit-Deutung stark interessieren.“ „Wir vereinbarten“, so berichtete
Fink, „dass wir gelegentlich Heraklit-Fragmente interpretieren wollten.“496
– Aus den vorliegenden vier Teilbänden der Phänomenologischen Werkstatt
geht somit nicht nur hervor, wie „die Fortführung der Phänomenologie Hus-
serls für eine jüngere Generation nur unter tiefgreifender Verwandlung ihrer
impliziten operativen Voraussetzungen möglich wurde“497. In ihnen wird
ebenfalls ersichtlich, dass sie nicht blindlings in die offenen Arme lief, die
Heidegger ihnen entgegenstreckte. Die in diesen Bänden versammelten

496 Fink, Existenz und Coexistenz, EFGA 16, S. 968.


497 van Kerckhoven, Mundanisierung und Individuation, S. 16.

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Notizen stellen eine sachgerechte Interpretation der von Fink nach dem
Zweiten Weltkrieg veröffentlichten Schriften auf eine feste Basis. Im Rah-
men dieser „Einleitung“ wollen wir lediglich einige Linien ziehen, die als
Wegweiser für eine künftige Erhellung des inneren Zusammenhangs der von
Fink vor und nach dem Krieg verfassten Arbeiten dienen können.
Weder in seiner Dissertationsarbeit zu Vergegenwärtigung und Bild
noch in den Textentwürfen, die aus den frühen 1930er Jahren stammen,
stuft Fink eine kritische Auseinandersetzung mit Heideggers Werk als
eine Aufgabe ein, die es vordringlich zu behandeln gelte. Vielmehr dürfte
angesichts der an Husserls phänomenologischer Weltauffassung zu üben-
den Kritik eine Art von stillschweigendem Konsens zwischen Fink und
Heidegger bestanden haben. Nach Fink hat Husserl lediglich eine „interne
Analyse“ des Weltphänomens, d. h. des intentionalen Weltbezugs im Sinne
des „In-die-Welt-Hineinlebens“, vorgenommen, während es ihm (Fink)
gerade darauf ankomme, „unser eigenes Leben und die Welt, die unsere
Lebenswelt ist, aus dem letzten Grunde zu begreifen“498. Wie die phäno-
menologische „Fundamentalbetrachtung“ lehrt, die Husserl seinen Lesern
im ersten Buch der Ideen vorgeführt hat, ist mit dem reinen immanenten
Bewusstsein, das im Vollzug der Epoché erstmals freigelegt und daraufhin
dem Denkexperiment der Weltvernichtung unterworfen wird, eine Region
„des absoluten Seins“ in dem Sinne erreicht, dass es „prinzipiell nulla re
indiget ad existendum“. „Andererseits“ sei „die Welt der transzendenten ‚res‘
durchaus auf Bewusstsein, und zwar nicht auf logisch erdachtes, sondern
aktuelles angewiesen“499. Folglich sei „die ganze räumlich-zeitliche Welt,
der sich Mensch und menschliches Ich als untergeordnete Einzelrealitäten
zurechnen, ihrem Sinne nach bloßes intentionales Sein, also ein solches,
das den bloßen sekundären, relativen Sinn eines Seins für ein Bewusstsein
hat“500. Mit Heidegger dürfte Fink sich darin einig gewesen sein, gegen
eine voreilige Verabsolutierung des (letztlich menschlichen, wenn auch
transzendental „gereinigten“) Bewusstseins sowie gegen eine rein „korrela-
tive“ Sinnbestimmung der Welt Einspruch zu erheben. Jedoch führte diese
gemeinsam an Husserl geübte Kritik in der Vorkriegszeit nicht zu einer
Neufassung der philosophischen Frage nach der Welt, über die zwischen
Fink und Heidegger Einstimmigkeit herrschte. Bei Fink nahm sie nämlich
die Form einer „Me-ontik des Absoluten“ an, während Heidegger sich auf
den Weg zu einer Fundamentalontologie im Sinne einer Analytik und Meta-
physik des Daseins machte. Dass die Weltfrage eine genuin philosophische
Frage darstellt, der keine Einzelwissenschaft sich zuzuwenden vermag –

498 VI. CM/2, S. 18.


499 Hua III/1, S. 104.
500 Ebd., S. 106.

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darin dürften sich Fink und Heidegger einig gewesen sein. In der ersten
Vorlesung, die Fink an der Freiburger Universität hielt, heißt es: „Trotz aller
grandiosen Erweiterung des menschlichen Wissens in den Wissenschaften
kommen diese nie auf die Welt. Wissenschaft geht prinzipiell auf Seiendes,
und das heißt: auf Binnenweltliches. Die Binnenweltzone ist das Feld der
Wissenschaft. Es gibt keine Wissenschaft von der Welt“501. Bereits in Sein
und Zeit hatte Heidegger die philosophische Ausarbeitung der Idee eines
„natürlichen Weltbegriffs“ als ein „Desiderat“ bezeichnet, „das seit langem
die Philosophie beunruhigt, bei dessen Erfüllung sie aber immer wieder
versagt“502 habe. Diesem Wunsch wurde phänomenologisch durch eine
eingehende Analyse des „In-der-Welt-seins“, insbesondere in den Kapiteln I
bis IV des ersten Abschnittes von Sein und Zeit, nachgekommen. Eine solche
Analytik liege „vor jeder Psychologie, Anthropologie und erst recht Biolo-
gie“. In der klaren Abgrenzung von Disziplinen wie diesen lasse sich „die
Notwendigkeit“ einer phänomenologischen Analyse des In-der-Welt-seins
sogar „noch eindringlicher beweisen“503. Es ist unverkennbar, dass Fink
in seinem im Dezember 1930 und Januar 1931 Husserl unterbreiteten „Ent-
wurf zu einem Anfangsstück einer Einleitung in die Phänomenologie“504
eine Anspielung auf diese Aussagen Heideggers macht.505 Zur Analyse
des natürlichen Lebens, so bemerkt er, vermag „weder die vergleichende
Ethnologie noch die Primitivenforschung irgendeinen Beitrag zu leisten“506.
Wie die positiven Wissenschaften, so bewegen sich auch die Ethnologie,
Anthropologie, Soziologie und die Alltagspsychologie Fink zufolge noch
in bestimmten „Vorbegriffen und Auslegungen“ des menschlichen Lebens.
Eine philosophische Ausarbeitung des natürlichen Weltbegriffs tritt ihrer-
seits nicht mit dem Anspruch auf, „eine wesensmäßige oder idealtypische
Konstruktion eines ‚natürlichen Weltbegriffs‘“ zu leisten, „der invariant
der Abfolge aller historischen Abwandlungen und faktischen Konkretionen
zugrunde liegt“507. Jede ontische Infragestellung der Welt hält Fink für
völlig unzureichend; Versuchen, „an der faktischen, historisch bedingten
Gegebenheit unseres Weltlebens Wesensallgemeinheiten ablesen zu wollen“,

501 Fink, Einleitung in die Philosophie, S. 96.


502 Heidegger, Sein und Zeit, HGA 2, S. 69.
503 Ebd., S. 60.

504 VI. CM/2, S. 10–105.

505 Hier taucht ein weiterer Aspekt jener kritischen „Integration“ der Philosophie Heideggers

in das „System der Phänomenologie“ auf, mit der Fink bereits in Vergegenwärtigung und Bild
einen ersten Versuch gemacht und die er in den 1930er Jahren weitergeführt hat. Zu diesem
„versteckten Kommentar“ Eugen Finks zu Sein und Zeit vgl. Giubilato, Freiheit und Reduk-
tion, insb. das Kapitel „Der Anfang der Philosophie und die Freiheitsproblematik“, S. 69–114.
506 VI. CM/2, S. 20.

507 Ebd.

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begegnet er mit Skepsis. Wenn die Phänomenologie „ihre entscheidende
Problemstellung in der Frage nach dem Ursprung der Welt“ sieht, „die
sie aber grundsätzlich von aller naiven (vorkritischen) Seinsauffassung
freihält“508, dann ist „das Konstitutionsproblem der „Weltweite‘ […] so weit
zu entwerfen, dass in einer größeren Anmerkung das naturwissenschaftliche
Problem der ‚Welt‘ und ihrer Ganzheit als grundsätzlich verfehlt dargestellt
werden kann“. Die Welt ist „keine ‚objektive‘ Ganzheit, keine Ansammlung
von ‚Objekten‘ (Innerweltlichem), sondern die Schwingungsweite der Zeit-
lichkeit. Welt ist kein Seiendes (vgl. Heidegger: ‚Welt ist nicht‘), sondern
das Worin des Seienden, der Enthalt aller Inhalte“509. Zweifellos gebührt
Heidegger das große Verdienst, die philosophische Weltfrage von jeder
ontisch-objektiven Betrachtungsweise befreit zu haben. Die „negative Siche-
rung des Weltbegriffs gegen ontische Fehlbegriffe“ ist allerdings, wie aus
den in der Mappe V-II enthaltenen Notizen zu „Welt und Weltbegriff“, die in
EFGA 3.3 veröffentlicht sind, hervorgeht, nur ein erster Schritt. Denn mit der
Bestimmung der „Philosophie als Weltweisheit“ und der Charakterisierung
des „Philosophen als Weltmenschen“ verbindet Fink zugleich eine Kritik der
„anthropozentrischen Existenzphilosophie“ – zu der er Heidegger vorerst
nicht rechnet, „denn bei ihm ist Philosophieren ein ins Ganze Fragen“.
Nicht der Mensch, „sofern er ein Teil des Seienden ist“, ist „Thema der
Philosophie“, „sondern die Welt“.510 „Philosophieren ist Frage nach der Welt.
Das Problem der Philosophie ist die Welt. Inwiefern ist die Welt ein Problem?
Welt = das Un-gegebene, paradox das immer gegebene Un-gegebene; immer
sind wir in der Welt, verstehen Seiendes als in der Welt und haben doch nie
überblickbar das Ganze.“511
Wenn Fink sich in seinen frühesten Schriften nicht sogleich auf eine
lebhafte Diskussion der philosophischen Grundpositionen Heideggers ein-
gelassen hat, so hat er doch, noch vor Abschluss seiner am 19. November
1929 eingereichten Dissertation, bei der Husserl als Referent, Heidegger als
Korreferent aufgetreten ist, die außergewöhnliche Ausstrahlung, die von
Heidegger ausging, mit jener „nachdenksamen Zurückhaltung“512 umgeben,
deren Heidegger selbst sich später erinnert hat. Unmittelbar nach der Rück-
kehr Husserls aus Paris, wo er am 23. und 25. Februar 1929 an der Sorbonne
jene Vorträge hielt, die das Grundgerüst seiner später veröffentlichten Médi-
tations cartésiennes darstellten, reiste Fink Mitte März 1929 nach Davos in

508 Fink, Studien, S. 102.


509 EFGA 3.2, Z-VII/XVIII/5b, S. 52.
510 EFGA 3.3, V-II/1.

511 Ebd., V-II/2–3.

512 Vgl. Heideggers Widmung am Anfang seiner Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphy-

sik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, HGA 29/30.

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der Schweiz, wo er die Hochschulkurse besuchte und der als „Kampf der
Giganten“ bezeichneten Disputation zwischen Heidegger und Ernst Cassirer
über die Philosophie Kants beiwohnte.513 Finks Notizen der Vorträge
Heideggers zu „Kants Kritik der reinen Vernunft und die Aufgabe einer
Grundlegung der Metaphysik“514 sind zusammen mit einer Nachschrift der
Vorlesung Heideggers aus dem Wintersemester 1928/29 unter dem Titel
„Einleitung in die Philosophie“515 in seinem Nachlass aufbewahrt. Kants Idee
der Transzendentalphilosophie und die wegweisende Bedeutung, die sie für
eine Neubegründung der Metaphysik besitzt, gehören seit jenen Tagen zu
dem philosophischen Gesprächsstoff, den es zwischen Heidegger und Fink
gegeben hat. Wie aus den im 2. Teilband der Werkstatt-Ausgabe veröffent-
lichten Notizen der Mappe Z-VIII („Japaner Seminar zu Hegels Phänome-
nologie des Geistes“) und aus den in den 3. Teilband aufgenommenen Noti-
zen der Mappe Z-XXIV („Hegels Phänomenologie des Geistes 1938 sowie
Beilage I“) hervorgeht, wird das Kants Philosophie entgegengebrachte Inter-
esse von der Gestalt Hegels flankiert. Auf der behutsamen Abgrenzung einer
„meontischen“ Hegel-Deutung von der „ontologischen“ Heideggers liegt
zweifellos ein Schwerpunkt des frühen Schaffens Finks, dessen Eigenart man
wohl daran erkennen kann, dass er sich unermüdlich darum bemühte, sowohl
die Denkposition Husserls als auch die Heideggers in ein übergeordnetes
Ganzes einzugliedern. In dem im Jahre 1930 im Jahrbuch veröffentlichten
Text von Vergegenwärtigung und Bild wird diese Tendenz, nach einer gewis-
sen Integration der doch auseinandergehenden phänomenologischen Denk-
richtungen Husserls und Heideggers Ausschau zu halten, an mehreren Stellen
deutlich spürbar. Finks Darlegung der horizonthaften „Struktur der Frage“,
seine mehrfachen Hinweise auf die „Alltäglichkeit“ und seine Aufdeckung
der „existentialen Grundlagen des Aktphänomens“ sind Merkzeichen einer
inneren Aneignung der analytischen Arbeit Heideggers. Das Gleiche gilt für
seinen Versuch, eine „existenziale Interpretation der phänomenologischen
Reduktion als Aufbruch ins Absolute sowie ihres Zeitsinnes als ‚Augen-

513 Bilder aus dieser Zeit zeigen Eugen Fink in Gesellschaft von Emmanuel Levinas und Otto

Friedrich Bollnow sowie auf dem Gipfel des im Davoser Berggebiet gelegenen Schiahorns.
Vgl. EF05–75, Bilder Nr. 134, 137, 138.
514 Vgl. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, HGA 3, S. 271ff.

515 In Finks Nachlass sind außerdem folgende Nachschriften der Vorlesungen und Vorträge

Heideggers erhalten: „Heidegger-Seminar: Ontologische Grundsätze und das Kategorienpro-


blem. WS 28/29“; „Heidegger: Der Deutsche Idealismus und die philosophische Problemlage
der Gegenwart“ (vgl. HGA 28); „Heidegger: Grundbegriffe der Metaphysik“ (vgl. HGA
29/30); „Heidegger: Einleitung in die Philosophie; Heidegger: Vom Wesen der Wahrheit“ (vgl.
HGA 31 sowie „Vom Wesen der Wahrheit“, in: HGA 9); „Heidegger: Hegel, Phänomenologie
des Geistes“ (vgl. HGA 32); „Heidegger: Interpretationen aus der antiken Philosophie
(Aristoteles)“ (vgl. HGA 33).

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blick‘“516 in die Wege zu leiten. Offensichtlich richtete Fink seinen Blick
dabei auf eine wechselseitige innere Durchdringung von „natürlicher“ und
„phänomenologischer Einstellung“, die sich bei Husserl gegenseitig aus-
schließen. Den „Anstrengungen einer neu zu entfachenden γιγαντομαχία
περί τῆς οὐσίας“517 hielt er sich keineswegs für enthoben. Gegen Husserl
wendete er aber ein, dass seine „nicht-ontische (ontogonische) Position“
„eigentlich nur Schein“ sei, „weil er mit einem ontologisch verstümmelten
Seinsbegriff operier[e]“518. Insbesondere Finks Ausführungen zur „Situation
der Reduktion“ deuten darauf hin, dass er die Problematik von „natürlicher“
und „phänomenologisch-transzendentaler Einstellung“ grundsätzlich revi-
dieren wollte. „Beide ‹stehen› in einem unlöslichen Wesenszusammenhang,
umgreifen sich gegenseitig und sind gegenseitig aufeinander bezogen.“ Die
natürliche Einstellung, die nach seiner Ansicht „die wesenhafte Einstellung
des Menschen“ ist, „ist der Inbegriff der Selbstapperzeptionen der transzen-
dentalen Subjektivität, die mit zum Sinn des konstituierenden Lebens gehö-
ren“. Sie ist somit, „als das Sein des Menschen in der Welt nach all seinen
Modis“, „ein konstitutives ‚Resultat‘ und als solches ein integrales Moment
des transzendentalen Lebens selbst“. Andererseits ist auch „die transzen-
dentale Einstellung selbst ein Vorkommnis in der vorgegebenen Welt“. Sie
gehört „zum realen Seelenleben eines Menschen, der da philosophiert. Oder
anders gewendet: die Reduktion hat selbst ihre mundane Situation, in der sie
anhebt und in der sie irgendwie verbleibt“519. In diesen Formulierungen
bekundet sich Finks Intention, den unwiderlegbaren Nachweis für die Situa-
tionsgebundenheit der „transzendentalen Einstellung“ – und damit der Phä-
nomenologie selbst – zu bringen, die grundsätzlich der Welt verhaftet ist,
zugleich aber die „natürliche Einstellung“ wiederum „transzendental“ als
„Situation der Endkonstituiertheit“ zu interpretieren und diese „onto-
gonisch“ auf ihren me-ontischen Ursprung zurückzuleiten. Mit seiner Ent-
faltung des „existenzialen Entwurfs der transzendental-phänomenologischen
Reduktion“ möchte er die erste Zielstellung verfolgen. Die zweite ruft aller-
dings eine radikalisierte Konstitutionstheorie auf den Plan, deren Schwer-
punkt nicht mehr, wie bei Husserl, ausschließlich die Problematik der „ver-
weltlichenden Selbstapperzeptionen“ bildet, sondern die vielmehr „in die
Dimension der Individuation“520 vordringt. „Konstitution“ bezeichnet nach
Fink den Prozess der Verweltlichung, Verendlichung, Ontifizierung, der als
ein „Werden“ aus dem me-ontischen Ursprung eines „vor-seienden Absolu-
ten“ hervorgeht.

516 Fink, VB/1, S. 15.


517 Vgl. Heidegger, HGA 2, S. 3.
518 EFGA 3.4, Z-XXIX/9b.
519 Fink, VB/1, S. 14.
520 VI. CM/1, Fink, S. 183.

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Das für Fink charakteristische philosophische Profil, das sich auf
diese Weise abzuheben beginnt, ist das einer konstitutiven Erforschung
des natürlichen Weltbegriffs bzw. des natürlichen Weltlebens des Menschen.
Diesbezüglich schlägt er zwei Wege vor, auf denen eine derartige konstitu-
tive Erforschung des natürlichen Weltlebens vorangetrieben werden kann.
Zum einen kann man, „bereits schon in der transzendentalen Einstellung
stehend, zunächst eine Typik und Wesenslehre der gegebenen Welt in
Angriff nehmen, immer thematisch auf den identischen Sinn gerichtet und
diesen Identitätsstrukturen nachgehend das Universum der intentionalen
Sinne als solcher herausstellen“. Diese Aufgabenstellung mag man als „eine
rohe Umschreibung dessen“ betrachten, „was Husserl als ‚transzendentale
Ästhetik‘ im Anschluss an Kants Wortgebrauch bezeichnet“. Eine andere
Möglichkeit besteht aber darin, dass man „die Ausbildung des Ganzen
der mundanen Ontologien in ihrer wesensmäßig angelegten Architektonik“
in Angriff nimmt. In dieser Perspektive hat „jede ontologisch-mundane
Feststellung dann ihren philosophischen Sinn nur, sofern sie transzendentale
Leitfäden bereitstellt“.521 Hier zeigt sich erst recht, wie das zentrale Anliegen,
das Fink erfüllen möchte, ihn zugleich dazu zwingt, eine doppelte Flanke
zu vollführen. Das gegenseitige „Verhältnis von Husserl und Heidegger“
vergleicht er „mit dem Streit zweier Menschen, von denen jeder behauptet,
er zäume das Pferd am Schwanze auf“. „Husserl beginnt mit der Analyse der
ontischen Erkenntnis, Heidegger mit der ontologischen. Husserl ist blind für
die Transzendenz, Heidegger für die Konstitution.“522 Im Wissen um seine
Berufung, zum Grenzgänger der von Husserl vorgezeichneten intentionalen
Sinnauslegung zu werden, wirft Fink der Daseinsauslegung Heideggers vor,
dass sie ihre Leitfadenfunktion für eine konstitutiv-spekulative Analyse nur
unzureichend ausübe. Insofern Heideggers existenziale Analytik sich das
Ziel einer „Erhellung des Daseins hinsichtlich seiner apriorischen Strukturen
(wie Umwelt, Geworfenheit, Entwurf)“ setze, leistet sie nach Finks Einschät-
zung „nichts anderes als die Herausarbeitung des ‚Ausgangspunktes der Phi-
losophie‘“ und d. h. der „natürlichen Einstellung“523. Aus dieser Quelle soll
eine onto-gonische Metaphysik jedoch die transzendentalen Leitfäden für die
konstitutive Problematik schöpfen. Woran es der Hermeneutik der Faktizität
somit gebricht, ist nach Fink der Einblick in die grundsätzliche „Endkon-
stituiertheit“ des natürlichen Weltlebens. Indem Heidegger die „Binnen-
weltlichkeit“ (das „In-Sein im Sein“) nicht als konstituierte „Endschicht“
aufzufassen vermag, verbleibt seine fundamentale Ontologie innerhalb des
Horizontes des Seins, den er als „Zeit“ bestimmt. Nach Fink heißt das, sie ver-

521 Fink, VB/1, S. 18.


522 EFGA 3.2, Z-X/15a, S. 122. Vgl. auch: ebd., Z-XI/29a, S. 148.
523 EFGA 3.1, Z-I/54a, S. 44.

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harrt folglich in der „Entsprungenheit“, ohne jenen entscheidenden Schritt
zur „transzendenzhaften Differenz“ zu vollziehen, der die „Überwindung des
Horizontes als solchen“ nach sich zieht und die „Umkehr in die Herkunft“524
vollbringt. Das Projekt von Sein und Zeit bleibe so lange unvollständig,
wie Heidegger sich nicht zu der Einsicht durchringen könne, dass „der
Ursprung“ nicht „Sein“ heiße, sondern „die Beziehung des Absoluten zum
Ontischen“525 bezeichne. Das „tiefste philosophische Problem“ ist für Fink
„das der Ontifikation“526, d. h. des Verhältnisses von me-ontischem Ursprung
und Welt (Sein). Heideggers eigentümliche Blindheit für die Dimension der
„Konstitution“ hat zur Folge, dass er über keine Begrifflichkeit verfügt, die
es ihm erlauben würde, den absoluten Ursprung, die Herkunft von „Sein
und Endlichkeit“ angemessen zu bestimmen. So notiert Fink sich auf einem
Blatt aus der Mappe Z-XV („Mosaik, 1930–1935“) folgende Sätze: „Wohl
kann man die phänomenologische Analytik des reinen Bewusstseins (im
Missverständnis des transzendentalen Wortsinnes ‚Bewusstsein‘) auswerten
als eine in umgreifende ontologische Horizonte einzustellende Wesenslehre
bestimmter Bewusstseinsstrukturen, somit bestimmter Weisen des existen-
zial ganzheitlich vor-analysierten ‚Daseins‘. Aber damit hat man sie um ihre
philosophische Bedeutung gebracht. D. h. so viel wie einen Diamant‹en› als
Backstein benützen.“527
Auch wenn Fink die transzendentale Bewusstseinsphänomenologie
Husserls keineswegs gegen eine existenziale Analytik des menschlichen
Daseins eintauschen möchte, so hält er doch den „absoluten Subjektivismus“
Husserls für eine „‚metaphysisch wildgewordene‘ Erkenntnistheorie“. An
Heideggers Hermeneutik des faktischen Daseins bemängelt er wiederum die
„Verdrängung“528 onto-gonischer Konstitutionsforschung zugunsten einer
„philosophischen Ontologie“, die „vor allem die Bestimmung der Seinsweise
des Seienden“ zum Ziel habe. Besonders „gegen den Verlust der Transzen-
dentalienproblematik“529, „der ‹einer› Nivellierung des Seinsbegriffs“530
Vorschub leiste, möchte Fink Einspruch erheben. – In diesem Zusammen-
hang soll auf die Bedeutung hingewiesen werden, die den Notizen aus der
Mappe Z-MH-I („Notizen zur Philosophie Heideggers – offenbar meist von
1939“) beizumessen ist. Sie dürften im Rahmen jener Gespräche entstanden
sein, die Fink zunächst am 28. November und dann am 3. und am

524 Heidegger, HGA 2, S. 53.


525 EFGA 3.1, Z-IV/112b, S. 269.
526 EFGA 3.2, Z-VII/5b, S. 7.
527 Ebd., Z-XV/57a, S. 289.
528 EFGA 3.4, Z-XXIX/178a.
529 Ebd., Z-XXIX/CCCIV/6b.
530 Ebd., Z-XXIX/CCCIV/7a.

260 Einleitung der Herausgeber II

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.
10. Dezember 1938 mit Pater Pandžić geführt hat,531 der damals in Freiburg
studierte und eine Dissertation über „Das Problem der Wahrheit in der Phi-
losophie von Martin Heidegger“ vorbereitete.532 Die Reihe CCCIV der
Mappe Z-XXIX enthält weitere Notizen von Finks Hand, die im Rahmen der
Arbeitssitzungen, die er mit Pandžić abgehalten hat, niedergeschrieben wor-
den sind. In diesen Papieren findet sich auch ein „Dispositionsvorschlag für
Herrn Pater Pandžić’s Arbeit über ‚Das Problem der Wahrheit in der Philo-
sophie Martin Heideggers‘“533. Die Tatsache, dass Fink kleinformatige
Geschäftskarten einer Möbeltransportfirma als Zettel verwendet hat, deutet
darauf hin, dass die Notizen der Reihe CCCIV wohl unmittelbar vor Finks
Umsiedlung nach Leuven (am 16. März 1939) niedergeschrieben wurden.
Die Notizen der Mappe Z-MH-I stammen ihrerseits aus der Zeit unmittelbar
nach Finks Ankunft in Leuven bis zum Sommer 1939. Die Einladung, die in
diesen Tagen an ihn erging, mit einem „Heidegger-Artikel“534 zu der Revue
néo-scolastique535 beizutragen, dürfte er zum Anlass genommen haben, um
nicht nur seine „kritischen Einwände“ gegen Heideggers Philosophie aufs
Papier zu bringen, sondern zugleich seinen eigenen Standpunkt zu verdeut-
lichen. Nachdem er kurz Heideggers „These von einer ontologischen
Geschichtlichkeit […] im ,Ursprung des Kunstwerks‘“536 skizziert hat, kom-
men die „kritische‹n› Einwände“, die er gegen Heidegger erheben möchte,
an die Reihe: „1) Emotionale Theorie des Verstehens (Praxis als ‚Umgang‘).
2) Unterbestimmung des Seins der Natur in Sein und Zeit – aber als Problem-
vorbereitende Distanz!? 3) Das Dasein ‚ist‘ die ursprüngliche Zeit! 4) Fehlen
des kosmologischen Weltbegriffs. 5) Vor-begriffliches Seinsverständnis.
6) Heideggers Kampf gegen die ‚Nous‘-Natur des Seienden! Gegen die
Antike“. „Meine Position“, so fährt er fort, ist die folgende: „Statt ‚Sorge‘ –
‚Spiel‘. Statt ‚vorbegrifflichem Seinsverständnis‘ – die Urlichtung des
Begriffs. Statt ‚Endlichkeit‘ – Teilhabe am Sein der Götter (in der Befreiung
aus dem ‚Verfängnis‘) (Hegel). Der Mensch als ‚Mittler‘“537. Es empfiehlt
sich, auf diese prononcierte Stellungnahme Finks näher einzugehen.
Der an den Anfang gestellte Einwand538 bezieht sich auf die thesenhaft
formulierte Behauptung, dass nach Heidegger „Theorie“, das theoretische

531 Vgl. EFGA 3.4, Z-XXVI/6a, CCCIV/6a sowie 8a.


532 Der Text wurde 1942 veröffentlicht: Vladimir fra Kruno Pandžić, Problem istine u filozofiji
Martina Heideggera, Ljubljana 1942.
533 EFGA 3.4, Z-XXIX/CCCIV/1a.

534 Vgl. ebd., Z-MH-I/1a.

535 Die 1894 gegründete Revue néo-scolastique wurde 1910 in Revue néo-scolastique de

philosophie, 1946 in Revue philosophique de Louvain umbenannt.


536 EFGA 3.4, Z-MH-I/2a–b.

537 Ebd., Z-MH-I/3a.

538 Ebd.

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.
Wissen von der Welt, in den Stimmungen der Praxis fundiert sei, die einen
originären „Weltbezug“ des Menschen darstelle. Die Ableitung des θεωρεῖν
aus einer als „ursprünglicher“ einzustufenden Praxis – etwa aus einem
von Stimmungen durchsetzten Umgang mit der Welt – beruht nach Fink
auf einem krassen Missverständnis dessen, was „Theorie“ eigentlich sei.
Wenn Heidegger „das θεωρεῖν einmal nur als abgeleiteten Modus des ‹prak-
tischen› Umgangs charakterisiert“, „dann wieder als das ‚Ursprünglichste‘“
aufführt – im Sinne des in Sein und Zeit zielgerichtet durchgeführten ontolo-
gischen Denkens –, dann zeigt sich hierin, so Fink, inwiefern bei Heidegger
„ein eigenartiges ‚ambivalentes‘ Streben“ vorherrscht, das sich mit seiner
„Umkehrung der Umkehrung“ im Grunde im Kreis dreht.539 Keinesfalls ent-
stehe „Theorie“ aus irgendeiner „Defizienz des besorgenden Zu-tun-habens
mit der Welt“540, etwa aus einer Unterbrechung des ursprünglich praktisch-
hantierenden Umgangs mit der Welt, in dem bereits ein vor-begriffliches,
vor-prädikatives Seinsverständnis am Werk sei. Wenn Heideggers Rede
vom „Seinsverständnis“ „schon ‹die› These vom Unterschied von Sein und
Seiendem“, „ferner die These vom vor-begrifflichen ‚Verstehen‘ ‹und› damit
implizite eine Theorie über die Nachträglichkeit des Begriffs“541 in sich
schließe, dann möchte Fink es vorziehen, dieses Wort nicht zu verwenden –
und stattdessen dafür plädieren, für das „begriffliche Wissen des Seins“, das
nach seiner Ansicht das philosophische Wissen auszeichnet, ein anderes Wort
zu wählen.
Wie man einer Lektüre der Heideggerschen Analysen entnehmen könne,
erschließt sich uns die „Weltlichkeit“ der Welt im Zuge eines „besorgen-
den Umgangs“542 mit der Umwelt. Das uns „innerweltlich begegnende
Seiende“ hat dabei primär den Seinssinn eines „Zuhandenen“, eines „Zeu-
ges“, und nicht, wie eine traditionelle Auslegung unterstellt, den eines
bloß „Vorhandenen“. Diese primäre Sinnbestimmung beruht auf dem phä-
nomenalen Charakter dessen, „wobei das Besorgen sich aufhält, welche
Bewandtnis es damit hat“543. Der im praktischen Umgang mit der Welt
fundierte Modus des „Erkennens“ steigt aus einem „Verweisungs- und
Bewandtniszusammenhang“ auf, wie Heidegger dies im Paragrafen 13 seines
Hauptwerkes exemplarisch darlegt. Seine „Thematisierung des Erkenntni-
sphänomens“ impliziert, dass das Erkennen als ein möglicher, höherstufiger
„Seinsmodus des Daseins als In-der-Welt-sein“ „seine ontische Fundierung
in dieser Seinsverfassung“ hat, die in der spezifischen Vertrautheit mit

539 Ebd., Z-XXIX/93a.


540 Heidegger, HGA 2, S. 82.
541 EFGA 3.4, Z-XXIX/198a.
542 Heidegger, HGA 2, S. 91.
543 Ebd., S. 107.

262 Einleitung der Herausgeber II

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einem „Bewandtnisganzen“ verwurzelt und verankert ist. Der „phänomenale
Befund des Erkennens“ zeigt eben, wie „das Erkennen selbst vorgängig
in einem Schon-sein-bei-der-Welt gründet“544. Und dieses „Schon-sein-bei“
ist „zunächst nicht lediglich ein starres Begaffen eines puren Vorhandenen.
Das In-der-Welt-sein ist als Besorgen von der besorgten Welt benommen“.
Damit das „Erkennen als betrachtendes Bestimmen des Vorhandenen“
möglich werde, bedürfe „es vorgängig einer Defizienz des besorgenden
Zu-tun-habens mit der Welt“. In dem „Sich-Enthalten von allem Herstellen,
Hantieren u. dgl.“ schrumpft das ansonsten umweltlich engagierte Dasein
auf den „noch einzig verbleibenden Modus des In-Seins“, auf ein „Nur-
noch-Verweilen-bei“. Nur in einer „Seinsart zur Welt, die das innerweltlich
begegnende Seiende nur noch in seinem puren Aussehen begegnen lässt,
[...] ist ein ausdrückliches Hinsehen auf das so Begegnende möglich“545. In
der theoretischen Weltbetrachtung nimmt das Dasein somit „einen neuen
Seinsstand zu der im Dasein je schon entdeckten Welt“ ein. „Diese neue
Seinsmöglichkeit kann sich eigenständig ausbilden, zur Aufgabe werden
und als Wissenschaft die Führung übernehmen für das In-der-Welt-sein. Das
Erkennen schafft aber weder allererst ein ‚commercium‘ des Subjekts mit der
Welt, noch entsteht dieses aus einer Einwirkung der Welt auf ein Subjekt.
Erkennen ist ein im In-der-Welt-sein fundierter Modus des Daseins“546.
Eine solche Deutung der theoretischen Erkenntnis, in der sie als ein
abgeleiteter, defizitärer Modus des ursprünglichen praktischen Umgangs mit
den Dingen und des Sich-Auskennens mit ihrer Bewandtnis erscheint, lässt
nach Finks Ansicht die Seinsweise des „Ansichseins“ der Dinge jenseits
ihres „Fürmichseins“ im Sinne ihres Zuhandenseins für meinen hantierenden
Umgang völlig außer Acht. Gerade die „Unterbestimmung“ – zumindest
in Sein und Zeit – „des Wesens der Natur“, bereitet Fink Unruhe. Offen-
sichtlich hält Heidegger den Begriff der „Vorhandenheit“ für ausreichend,
um auch die sich jenseits der weltbildenden Lichtungssphäre des Daseins
erstreckende Natur nicht aus den Augen zu verlieren. Fehlt dem Dasein das
In-der-Welt-sein, die ihm aufgrund des besorgenden Umgangs offenstehende
Weltweite, bleibt nur die undifferenzierte Materialität übrig. „Die Welt
geht des spezifisch Umhaften verlustig, die Umwelt wird zur Naturwelt“,
zum „homogenen Naturraum“547. Heideggers ontologischer Ansatz macht
angeblich „die stillschweigende Voraussetzung, dass die Theorie dasselbe

544 Ebd., S. 82.


545 Ebd.
546 Ebd., S. 84.

547 Ebd., S. 150. Vgl. dazu die Studie von Cathrin Nielsen, „Kategorien der Physis. Heidegger

und Fink“, in: Cathrin Nielsen, Hans Rainer Sepp (Hrsg.), Welt denken. Annäherungen an die
Kosmologie Eugen Finks, Freiburg/München 2010, S. 154–183.

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Seiende wie der Umgang z. B. im Thema habe, nur eben in einer deduzierten
(durch eine Privation bestimmten) Einstellung“548, so Fink. Die Folge davon
sei zwar nicht eine völlige „Nivellierung des Begriffs des Seienden“549 zum
„intentionalen Gegenstand“, wie bei Husserl. Aber in dem Gedanken, dass
der „Umgang eine reichere Seinsfülle des Seienden erschließe“, „die Theorie
eine ‚Verarmung‘ des Seienden“550 bedeute, bekunde sich immerhin ein
Verfehlen der ‚Nous‘-Natur des Seienden – wenn nicht sogar eine ausgespro-
chene Opposition zu diesem antiken ontologischen Grundsatz. Gerade im
Ausgang von der Antike möchte Fink aber das Wesen der „Theorie“ als jenes
„Verhalten zum Seienden“ bestimmen, „in dem dieses sich uns an ihm selbst
gibt, gerade weil wir herausgehoben sind aus dem Verfängnis“ – „und sich
selbst gibt in seinem ewigen und bleibenden Wesen“.551 Alles in allem beruhe
Heideggers „verarmende“ Interpretation der θεωρία „auf einer Ontologie,
die blind ist für die Wesenstiefe (die Gradualität der Seinsmächtigkeit)
des Seienden“552. Zwar sei es Heideggers bleibendes Verdienst, innerhalb
der Phänomenologie die Flamme einer „Infragestellung der ‚Theorie‘, des
‚Hinsehens‘, des Primats der ‚Vorhandenheit‘“ entzündet zu haben. Aus den
traditionell verschütteten „Selbstverständlichkeiten der Metaphysik“ habe er
wieder lebendige „Probleme“ gemacht. „Gegen Heideggers irrationalistische
Thesen“ möchte Fink jedoch „den antiken Ansatz von Sein und Vernunft“553
ins Feld führen. Die zahlreichen Notizen der Mappe Z-XXIX bestätigen, dass
er die antike „Νοῦς“-Lehre nicht im Sinne des „menschlichen Vernehmens
des Seienden“ auffasst, sondern als „das Vernehmen des Seienden (genitivus
subjectivus!)“ deutet. „Das an sich am meisten Offenbare ist das ‚Licht‘
des Seienden, d. i. seine Nous-Natur. Zu ihm verhalten sich unsere Augen
wie die Augen der Nachtvögel zum Licht“554. Das berühmte Fragment des
Parmenides: „τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν καὶ εἶναι“, sagt nach Fink nicht etwa „den
Satz der Entsprechung von Sein und Erkennen“ aus. In ihm klingt vielmehr
„die Interpretation des Seins des Seienden als νοεῖν“ an, d. h. er verkündet die
„These von der ‚Νοῦς‘-Natur des Seienden“555.
Die Überlegungen zu „Theorie“ und „Praxis“, zu denen die „kritischen
Einwände“ Fink veranlasst haben, mit denen er sich an Heideggers Adresse
wenden möchte, leiten linea recta zu jener „Begriffstheorie“ über, deren
Relevanz wir oben, anlässlich unseres Kommentars zu der von ihm geplanten

548 EFGA 3.4, Z-MH-I/21a.


549 Ebd., Z-MH-I/21b.
550 Ebd.
551 Ebd., Z-MH-I/189a.
552 Ebd., Z-MH-I/21b.
553 Ebd., Z-XXIX/198a.
554 Ebd., Z-XXIX/181a.
555 Ebd., Z-XXIX/132b.

264 Einleitung der Herausgeber II

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„Welt-Schrift“, bereits zutage gefördert haben. Diese von Fink entwickelte
„Begriffslehre“ steht unter dem Vorzeichen einer „me-ontischen“ Lektüre
und Interpretation insbesondere der Phänomenologie des Geistes Hegels. Es
steht nach Fink außer allem Zweifel, dass es Hegel war, der „den letzten
großen ontologischen Entwurf des Abendlandes, […] ein Gigantenwerk“
hervorgebracht hat. „Seitdem“ stehe „das seinsbegriffliche Denken still“556.
Wenn Heidegger in seinem seinsgeschichtlichen Denken Nietzsche als
den letzten Metaphysiker vorführen möchte, mit dem die abendländische
Metaphysik zu Ende gegangen sei, so ist es in den Augen Finks in Wahrheit
Hegel, der das Ende des metaphysischen Denkens repräsentiert und zugleich
seinen Kulminationspunkt darstellt. „Bei Kierkegaard und vor allem bei
Nietzsche“ meldet sich, so Fink, schon „eine neue Ursprünglichkeit“. Sie
sind die „Herolde einer neuen ontologischen Erfahrung, wenngleich sie ganz
unvermögend bleiben, ihre Ahnung des Seins im Begriff auszuprägen“557.
Was heute aber nottue, sei ein begriffliches Denken, welches von neuem
die urlichtenden „fundamentalen Begriffe entwirft, die fortan das Gerüst
der Welt“558 bilden werden – in denen Schritt um Schritt „der Entwurf der
ontologischen Grundgedanken“ ausgearbeitet wird. Mit dem schöpferischen
Entwurf urlichtender Begriffe verbindet Fink eine Auffassung von „Sein“
und „Wahrheit“, mit der er Heidegger als Kontrahenten erneut entgegentre-
ten möchte.
Sicher ist, dass Heideggers Vortrag zum „Ursprung des Kunstwerks“,
dem er Anfang November 1935 beiwohnte, auf Fink einen überwältigenden
Eindruck gemacht hat. Er vermittelte ihm ein einprägsames Bild von den
„Holzwegen“, auf denen Heidegger sich befand. Was Fink von den Ausfüh-
rungen Heideggers als „das Wesentliche“ zurückbehalten hat, war das von
ihm während seines Vortrags dargelegte „Problem des Verhältnisses von
‚Sein‘ und ‚Wahrheit‘“ bzw. von „Ansichsein und Fürunssein“.559 Dieses
Problem wollte Fink allerdings nicht dadurch zu bewältigen versuchen, dass
er auf ein „vorbegriffliches Seinsverständnis“ rekurriert. Vielmehr trug er
sich mit der Absicht, auf eine „Urlichtung des Begriffs“, auf eine begriffliche
Artikulation der transzendentalen Bezüge von ens, unum, verum, bonum
zurückzugreifen. Deshalb setzte er dem Gedanken einer vor-begrifflichen,
existenzialen (ontologisch-praktischen) Wahrheit bzw. Offenheit, der beizu-
kommen Heidegger in Sein und Zeit dazu geführt hatte, den Schlüsselbegriff
der „Entschlossenheit“ in die Waage seiner Daseinsanalyse zu werfen, den

556 Fink, „Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwärtigen Kritik“,

S. 128.
557 Ebd.

558 Ebd., S. 134.

559 EFGA 3.4, Z-MH-I/2b.

Einleitung der Herausgeber II 265

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des „Begriff‹es› als Ort der Wahrheit“ entgegen. Diese These, so möchte er
einem jeden deutlich machen, sei „nicht gleichen Sinnes wie die These von
dem Urteil als Ort der Wahrheit, ist keine Behauptung, die der ‚Satzwahrheit‘
die entscheidende Stelle gibt. ‚Wahrheit‘ ist auch nicht primär Übereinstim-
mung, sondern ‚Begriffslicht‘ (‚Lichtung‘). Die ursprünglichste Wahrheit ist
begrifflich“560. Ein weiteres Mal fällt auf, wie oft Fink die gleichen Begriffe
wie die, die Heidegger verwendet, ins Spiel bringt, ihm dabei jedoch etwas
grundsätzlich anderes vor Augen steht. Auch seine Auffassung der
Geschichte der Metaphysik, die er um 1939 mit Nachdruck als eine
„Geschichte der ἀλήθεια“561 bezeichnet, die sich „in Rucken bewegt“,
bezieht sich nicht unzweideutig auf Heidegger. Heideggers Theorie der
Wahrheit sei „in ihrem polemischen Teil gegen die Auffassung, als sei Wahr-
heit primär eine Eigenheit von Sätzen (‚Satzwahrheit‘)“, durchaus im Recht.
„In der Ablehnung der traditionellen Rede von ‚Ewigen Wahrheiten‘, die den
Un-begriff eines Wahrseins des Seienden ohne ein ἀληθεύειν meinen“, sind
Heidegger und Fink sich sogar einig. Aber Heideggers Theorie habe
„Unrecht in der Annahme, dass alles ἀληθεύειν nur menschliches, d. i. end-
liches ist, oder dass das endliche menschliche ἀληθεύειν einer ὁμοίωσις θεῷ
nicht fähig sei, also abgeschnitten ‹sei› von der Möglichkeit, sich dem Νοῦς
anzunähern“562. Bei Heidegger sei „vor allem die ‚transzendentale Allge-
meinheit‘ des Seins ein Thema“, „wobei aber noch keine ens-bonum-Pro-
blematik“ und noch „weniger die Wesensproblematik“ als „Problem eines
seienderen Seienden“ in das phänomenologische Gesichtsfeld rückt. Deshalb
muss „Heideggers Wahrheitsbegriff als ‚Un-verborgenheit‘ wohl dem Sei-
enden selbst das Wahrsein“ zusprechen, aber, wie Fink meint, „in einer
Indifferenz“. Wahr ist für Heidegger einzig „das in den Lichtkreis der endli-
chen Transzendenz geratende Seiende“. Der Gedanke, dass das Seiende „von
sich aus ‚sich aussetzt‘, ‚hervorkommt‘ aus seiner verborgenen Tiefe und
sich in die Erscheinung“ einlässt, drängt sich nicht in den Vordergrund seiner
Betrachtungen. „Die Erscheinung“ wird bei Heidegger „nur als das Für-uns-
sein des Seienden begriffen“ und nicht in der onto-gonischen Dynamik des
„Außer-sich-gehens des Seienden selbst“ erfasst, in dem es aus seinem
Ansichsein hervorkommt. „Wenn Wahrheit geschieht“, so notiert sich Fink,
ist das Seiende „nicht nur unverborgen, sondern auch ‚außer sich‘, d. h. in
der auf das Wesen hinzielenden Erscheinung gegeben. Wahrheit ist ohne den
Stachel der Ahnung des eigentlicheren Seins, also auch der eigentlicheren
Wahrheit, nicht voll erfasst!!“563 – Viele Jahre später, während einer philo-

560 Ebd., Z-XXIX/176a.


561 Ebd., Z-XXIX/177a.
562 Ebd., Z-XXIX/58a.
563 Ebd., Z-XXIX/200a–b.

266 Einleitung der Herausgeber II

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sophischen Unterhaltung mit Heidegger am 11. März 1953, kam Fink noch-
mals auf diesen Einwand zurück und konfrontierte diesen ohne Umschweife
mit der Frage, „ob ‹das Problem der Individuation› nicht erst dann dringlich“
werde, „wenn Sein = Erscheinen (im Sinne des Aufgehens im Offenen)
gedacht“ werde. Auf Heideggers Antwort, „es gebe für ihn kein Individua-
tionsproblem; man dürfe das ‚Erscheinen‘ nicht ‚zu negativ‘ denken, die
‚Welt‘ sei das einzige ‚Individuum‘“, erwiderte Fink, dass er „diese Antwort
erwartet“ habe: „Für Heidegger gäbe es natürlich kein ‚Wesen‘, das der
Erscheinung zugrunde läge, aber gäbe es nicht das ‚Wesenlose‘, das ‚Nichts‘,
das Abwesen??“ Auf diese Frage habe Heidegger sich dann „ins Dunkel“
gehüllt.564 Heideggers Begriff der Wahrheit als „(ἀλήθεια) = Un-verborgen-
heit“, davon war Fink schon recht früh überzeugt, blieb im Grunde „unemp-
findlich gegen die Gradualität des Seins des Seienden“, insofern er „die
menschliche Wahrheit als Lichtung einer Weltnacht, nicht als Dämmerhelle
im Vergleich zur Sonnenhelle der göttlichen Wahrheit“565 aufgefasst habe.
Auch auf eine weitere, bis heute kaum erhellte Facette der Zwischenfra-
gen, mit denen Fink das Reden und Dichten seines philosophischen Nachbarn
gelegentlich unterbrach, möchten wir die Aufmerksamkeit lenken. Eine
Reihe von Bemerkungen Finks zielt offensichtlich darauf, eine Heidegger
zumindest unterstellte „Ethik der Authentizität“ mit in den Fragehorizont
aufzunehmen. In ihr meint Fink den Ausdruck einer gewissen „Interio-
risierungstendenz“ menschlichen Daseins verspüren zu können – die er
entlarven möchte. So heißt es etwa in einer Notiz von seiner Hand, dass die
von Heidegger „ins Zentrum seiner ‚Hermeneutik des Daseins‘ gestellten
Grundbefindlichkeiten“, wie z. B. die Angst in Sein und Zeit oder die
Langeweile in der Vorlesung vom Wintersemester 1929/30 (Grundbegriffe
der Metaphysik), „den Menschen zu sich selbst bringen, aber nicht zu dem
Eigentlich-Seienden, dem seiendsten Seienden“566. In der „Selbstwahl des
Schicksals“, im „Vorlaufen in den Tod“ zeichne sich ein Anspruch menschli-
cher Existenz auf „Eigentlichkeit“ ab, die „als Akt der Verwesentlichung“ des
Menschen zwar „in eine eigenartige Autarkie“ münde, aber dennoch keine
Aussicht „auf das Sein beim eigentlich-Seienden“ biete. Eine derart autar-
kische Konzeption menschlicher Existenz, in der „ein Sein des Menschen
(unbezüglicher Art)“567 für die „Eigentlichkeit“ seines Existierens eintreten
soll, führe die Marke einer „Ethik der Entschlossenheit“. „Eigentlich“ sei
einzig „der Mensch, der sich zu seiner ‚wahrhaften Seinsverfassung‘, dem
Sein zum Tode, verhält“, und das heißt, der „sich unverhüllt von sich selbst

564 EFGA 16, S. 967f.


565 EFGA 3.4, Z-XXIX/83a.
566 Ebd., Z-XXVI/95a.
567 Ebd., Z-MH-I/6a.

Einleitung der Herausgeber II 267

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her“ verstehe – als „hinsichtlich seiner Existenz in den Tod geworfen“
– und „in diesem Sich-selbst-verstehen bei sich existiert“. Diese Art der
„Selbsterkenntnis“ sei „ein Sein, das ‹ein› Bei-sich-selbst-sein, Sich-nicht-
entfremdet-sein“ bedeute, von dem ausgehend „die Aktion entspringt“568.
Im Ausnahmezustand eines eigentlichen Selbstseins, in dem der Mensch
seinen Tod antizipiere, ihn als seine „eigenste, unbezügliche, unüberholbare
Möglichkeit“ auf sich nehme, verwirkliche sich die endliche Freiheit des
Menschen, gewinne sie „ursprüngliche Konkretion“ – im Gegenzug zu der
Tendenz seines Lebens, die zum „Verfallen“, zum bloßen Geworfensein in
das „Man“, in das Sich-entfremdet-sein, in die Durchschnittlichkeit eines
öffentlichen Daseins führe. Die Möglichkeit einer ontologisch-ethischen
Führung der endlichen Existenz des Menschen liege somit in der Existenz-
form eines „sich-selbst-wählenden Daseins“569.
Von diesem „Existenzbild Heideggers“570 möchte Fink sich distanzie-
ren. In ihm trete eine gewisse „Anthropozentrik“ an die Oberfläche, in
der der Mensch nur noch um sich selbst zu kreisen scheine. Grundsätzlich
verbleibe Heideggers Ethik der authentischen Entscheidung, der äußersten
Entschlossenheit im Angesicht des Todes immer noch innerhalb der Sphäre
der „Binnenweltlichkeit“. Fink ist der Ansicht, dass Heidegger ein aus
der Analyse und Hermeneutik der Alltäglichkeit und Durchschnittlichkeit
menschlichen Daseins herausdestilliertes ontisches Modell der Existenz
für die ontologische Interpretation ihrer grundsätzlichen Seinsverfassung
herangezogen habe. Im Übrigen sei der Begriff der „Eigentlichkeit“ noch
immer am Begriff des „Selbstverständnisses“ und der „Offenheit für sich
selbst“ orientiert, deren das Dasein etwa in den ontologisch „erhabenen“
Grundstimmungen innerlich gewahr würde. Zwar habe „Heidegger ‚existen-
ziell‘ und ‚existenzial‘“ explizit unterschieden. Dennoch komme „für ihn
die eigentliche Existenz“ nur „durch die Wahrheit über sich, das heißt die
Erschlossenheit (= Entschlossenheit) zustande“. Die „eigentliche Existenz“
gehorche im Grunde immer noch der klassischen Parole „γνῶθι σεαυτόν“.
Das „Selbstverständnis gehört zu jeder Daseinssituation, sofern Dasein durch
Rede, Stimmung und Verstehen“ bestimmt ist. Aber erst „die Einsicht in das
Sein des Menschen, als Selbstverständnis seiner selbst als Sein zum Tode“
bringe das Dasein „in die Eigentlichkeit seiner selbst“571. Eine solche „Lehre
von der in der Selbstergreifung des Menschen liegenden Eigentlichkeit“572
seines Existierens hält Fink für einen „in sich gefangene‹n› Anthropozen-

568 Ebd., Z-MH-I/7a.


569 Ebd., Z-XXIX/250a.
570 Ebd., Z-XXIX/275a.
571 Ebd., Z-MH-I/9a.
572 Ebd., Z-XXIX/58b.

268 Einleitung der Herausgeber II

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trismus“. Heideggers ontologische Bestimmung der menschlichen Existenz
als „Sorge“ – laut der „das Sein, darum es diesem Seienden in seinem
Sein geht“, eben kein anderes als dasjenige ist, „sein ‚Da‘ zu sein“573 –
zeige auf paradigmatische Weise den circulus vitiosus auf, in dem sich der
moderne Mensch verfangen habe. Wird die Welt ausschließlich von der
„Selbst-Transzendenz“ des Daseins her, von seiner ständigen Selbstwahl
ausgehend beleuchtet – was Fink in einer Notiz der Mappe Z-XIX („1935
in Kappel, Gespräche mit Landgrebe“) einmal als „Luminartheorie der
Subjektivität“574 bezeichnet hat – dann hängt die „Eigentlichkeit“ seiner
Weltbezüge unilateral „von der Eigentlichkeit des im Bezug stehenden
Menschen“, d. h. von seinem „Selbstsein in allen Bezügen“575 ab. Zwar habe
Heidegger „zu Recht“ gegen „einen Rumpfbegriff des Subjekts ‹als› Imma-
nenz polemisiert“ und „demgegenüber das ‚In-der-Welt-sein‘ als das Wesen
der Subjektivität“576 geltend gemacht. Trotzdem halte er den Menschen für
ein radikal weltbefangenes Wesen und fasse die Welt selbst als eine bloß
menschliche auf, d. h. als eine Welt, die ausschließlich durch die endliche
Transzendenz eines metaphysisch isolierten Daseins geprägt ist.
Fink kommt zu dem Ergebnis, dass die Entschlossenheit, die der Mensch
in „der verstehenden Übernahme der nichtigen, endlichen, undurchdringli-
chen Existenz“ zeige, nicht zureicht, um seines Lebens wirklich mächtig zu
sein. Die geworfen-entwerfende Existenz bei Heidegger sei gleichsam „eine
verzweifelte Existenz“, die „nicht mehr spielen kann“ – die, „wie ‹bei› Kier-
kegaard vor dem Dilemma der Wahl“ stehend, sich auf den von ihr einmal
gefassten Beschluss versteift. „Jede Entscheidung“ bedeute gleichzeitig eine
„Resignation“. Woran es Heideggers Fundamentalontologie mangele, sei die
Einsicht in „das Spielen der Freiheit, ihr Setzen, ihre Tat“. „Die selbständige
Existenz wählt nicht, ‹sie› gehorcht ihrem Grundwillen, ihrem inneren
Zwang, ihrem ‚heimlichen Herren‘; sie ist getrieben von der inneren Not-
wendigkeit“577. In einem denkwürdigen Gespräch mit Ludwig Landgrebe,
das am 15. Februar 1940 stattgefunden hat,578 weist Fink auf die „interioris-
tischen Tendenzen“ hin, die er sowohl in Husserls Reflexionsphilosophie als
auch in Heideggers Existenzialanalytik wittert und die die Probe aufs Exem-
pel dafür machten, in welchem Ausmaß der moderne Mensch des „Sein‹s›-
bei dem eigentlichen Seienden“ bereits verlustig gegangen sei. Sowohl in
Husserls Pathos der Erneuerung als auch in Heideggers Ethik der Eigent-

573 Heidegger, HGA 2, S. 177.


574 EFGA 3.3, Z-XIX/II/4a.
575 EFGA 3.4, Z-XXIX/96b.
576 Ebd., Z-XXIX/58b.
577 Ebd., Z-XXIX/97a.
578 Ebd., Z-XXVIII/46a.

Einleitung der Herausgeber II 269

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lichkeit werde „die metaphysische Isolation“579 offenkundig, in der der
Mensch sich befinde – sei es, dass er sich in der transzendental-wissen-
schaftlichen Position des „unbeteiligten Zuschauers“ einmauere, sei es, dass
er in der ontologischen Autarkie radikaler „Entschlossenheit“ (Heidegger)
eingefroren werde. Beide philosophischen Bemühungen, die natürliche
Weltbenommenheit des Menschen zu überwinden, sind nach Fink letztlich
zum Scheitern verurteilt. Denn sowohl „bei Husserl“ als auch „bei
Heidegger“ ermangele die „Bewegungsrichtung“ ihres Philosophierens jener
Direktion, die sie „zu dem seiendsten Seienden hin“ führe – und der Fink
gerade im „Wesen des Enthusiasmus“ auf die Spur kommen möchte. Beide
Vorkämpfer der Phänomenologie gehen das Risiko ein, jenem nach innen
gerichteten Zug anheimzufallen, der ihre Analysen in eine binnenweltliche
Perspektive umkippen lässt – in der sie dann dauerhaft gefangen bleiben. Der
Quellgrund dieser in-wendigen, „subjektiven Tendenz“ liegt nach Fink in
ihrer beiderseitigen Inangriffnahme des „Problem‹s› von ens und verum“580
– respektive in der Nivellierung des Begriffs des Seienden zu einem bloßen
„Für-mich-sein“ im Hinblick auf seine rein „intentionale Sinnbestimmung“
bei Husserl, und in der Vernachlässigung der Frage nach dem „Ansichsein“
des Seienden bei Heidegger, dem der Ausblick auf die Φύσις versperrt581 zu
sein scheint. Diese problematische Sachlage läuft nach Finks Urteil auf eine
metaphysische „Fixierung“ der menschlichen „Freiheit“ hinaus, die auf die
„Position einer negativ-inneren Freiheit“ zurückgedrängt wird und nach sei-
ner Einschätzung eine grundsätzliche „Verkennung des Mittlertums des
Menschen“582 beinhaltet. Mit diesem aus seinen philosophischen Unterre-
dungen mit Husserl und Heidegger gezogenen Fazit Finks berühren wir eines
der Hauptthemen der Aphorismen-Sammlung „Eremitie (aus einem Kriegs-
tagebuch 1940–1944)“. Diesen Tagebuchnotizen sind die Schlusssätze dieser
„Einleitung“ gewidmet.

XIII. Finks Weg zur Freiheit

Das Jahr 1945 markierte Fink sich in einer Notiz als „das Jahr der Entschei-
dung: beruflich und geistig“583. Im Frühjahr 1945 war er als Flugwache auf

579 Ebd., Z-XXVIII/7a.


580 Ebd., Z-XXVI/94a.
581 Vgl. ebd., Z-XXIX/58b, wo Fink die Frage stellt: „Sind die Götter und die Φύσις Zeichen

einer ‚Öffnung‘ der menschlichen Existenz bei Heidegger???“.


582 Ebd., Z-XXVI/94a.

583 Z-XXXIII/2a. Nicht in dieser Ausgabe.

270 Einleitung der Herausgeber II

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der „Geigenhöhe bei Sankt Märgen im Schwarzwald stationiert“584, als die
französischen Truppen am 20. April in die durch heftige Luftangriffe schwer
zerstörte Innenstadt von Freiburg einmarschierten. Er wurde nicht verhaftet,
sondern aufgrund seiner hervorragenden Sprachkenntnisse sofort als Über-
setzer in die französische Besatzungsarmee integriert. Am 5. Mai 1945 erhielt
er vom „Gouvernement militaire de la Place de Sankt Märgen“ außerdem die
Erlaubnis, „un comité local de l’Allemagne libre“585 zu gründen. Auf einem
der in der Mappe Z-XXIX aufbewahrten Zettel, der aus jenen Tagen der
Kapitulation stammt, notierte er sich den Namen „Piquemal, Capitaine et
Gouverneur de Skt-Märgen“586. Zugleich begann er damit, seine verstreuten
Gedankensplitter zu den Themen „Collaboration, […] europäische Orien-
tierung […], Pacification und Retour à la Civilisation“ zu sammeln, zu denen
ihn wohl der französische Kommandant Colonel Schneider ermuntert hat.
Sie sind uns bis heute unter dem Titel: „Pensées à propos de la Collaboration
politique (honorable!)“587 erhalten geblieben. Im ersten Aufatmen nach der
Katastrophe, in der „politischen Pause“, die mit dem Sturz des Nationalso-
zialismus eintrat, sah Fink zugleich die „Chance“, die er sich nicht entgehen
lassen wollte, um „die neuen Ideen: […] Sozialismus der Brüderlichkeit,
Kosmopolitismus, Verzicht auf Großmachtpolitik und technische Zivilisa-
tion, Kultur der Seele, Überwindung des modernen Nihilismus“588 aufzu-
greifen und weiterzuentwickeln. Auch die „Stellung der Universität“ sei „neu
zu begründen“, insofern sie nicht mehr im Dienst „des staatlich geschützten
und gelenkten Bedarfs an Fachkräften“ stehen, sondern „als Bildungs- und
Erziehungsstätte“ sich fortan dafür bereithalten sollte, einen „neuen Huma-
nismus“589 zu verbreiten.
In jenen chaotischen Tagen machte auch die Freiburger Universität sich
dazu auf, „ihr Schicksal selbst in die Hand“590 zu nehmen. Das Winterse-
mester 1944/45 hatte kaum begonnen, als die wiederholten Luftangriffe von
November und Dezember 1944 auf die Freiburger Innenstadt der akademi-
schen Tätigkeit ein frühzeitiges Ende bereiteten. Mehrere Universitätsge-
bäude waren völlig zerstört; „unter den ca. 3 000 Todesopfern“ befanden sich
„auch etliche Universitätsangehörige“. „Bereits vier Tage nach der Beset-

584 Vgl. EF05–75, Bilder Nr. 502–504.


585 Vgl. ebd., Bild 507.
586 EFGA 3.4, Z-XXIX/258b.

587 EFGA 16, S. 933–963.

588 Ebd., S. 938.

589 Ebd.

590 Edgar Wolfrum et al. (Hrsg.), Krisenjahre und Aufbruchszeit. Alltag und Politik im fran-

zösisch besetzten Baden 1945–1949, München Verlag 1996, S. 192.

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zung Freiburgs durch die Franzosen, am 21. April 1945“591, raffte die „bei
Kriegsende in alle Winde zerstreute“ Universität sich dazu auf, sich von
neuem zu organisieren. Die „traditionsreiche Alma Mater, die unter ihrem
Rektor M. Heidegger gleich 1933 dem Führerprinzip zum Durchbruch ver-
holfen“592 und sich damit der nationalsozialistischen Gleichschaltungspoli-
tik der deutschen Hochschulen untergeordnet hatte, wählte, nachdem sie zum
Kollegialprinzip zurückgekehrt war, in einer Plenarsammlung „den Phar-
makologen Sigurd Janssen“ zum neuen Rektor. Die fortlaufenden „Denun-
ziationen bei der französischen Besatzungsmacht“ gaben den Start frei für
ein Entnazifizierungsverfahren, damit man nicht „die Kontrolle über die
anlaufende politische Säuberung und die allgemeine Entwicklung der Uni-
versität“593 aus der Hand geben musste. Finks Entnazifizierungsbescheini-
gung, der sogenannte „Persilschein“594, ist im Eugen Fink-Archiv aufbe-
wahrt worden. In der auf den 1. Juni 1945 datierten „Politischen Geschichte
meiner wissenschaftlichen Laufbahn“ bezeugt Fink zudem, sich nie dem
„kaudinischen Joch der geistigen Intoleranz“ „gebeugt“ zu haben. Er erinnert
an die „politischen Angriffe“ auf seine akademische Karriere. Nach „vie-
rundeinhalb Jahren erfüllter Wehrpflicht“ stehe er „vor den Trümmern ‹sei-
ner› wissenschaftlichen Laufbahn“, deren „bedeutsamstes Ereignis die
Begegnung und Verbindung mit Edmund Husserl“ gewesen sei, die sich nach
der Machtergreifung von 1933 jedoch in ein „politisches Verhängnis“ ver-
wandelt, ja sogar zur „Gefährdung seiner äußeren Existenz“ geführt habe.
Die „politische Geschichte“ seiner wissenschaftlichen Laufbahn sei eine
Folge „bedrückender […] und schließlich vernichtender Eingriffe der poli-
tischen Macht“ in eine „Lebensplanung“ gewesen, die „auf rein theoretische
Ziele ausgerichtet“ war und unabänderlich „den Beruf des Hochschullehrers“
angestrebt hatte.595 Bei der feierlichen Wiedereröffnung der Freiburger Uni-
versität, die am 17. September 1945 im Kirchsaal der Katholischen Pfarrei
der Maria-Hilf-Kirche stattfand, war Fink anwesend.596 Am 25. Oktober
desselben Jahres wohnte er dem Vortrag von Max Müller zum „Menschen-
bild in der Philosophie seit Pascal“ bei.597 Der Philosophieprofessor Müller

591 Sylvia Paletschek, „Die deutsche Universität im und nach dem Krieg. Die Wiederentde-
ckung des Abendlandes“, in: Bernd Martin (Hrsg.), Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen:
Ereignisse – Auswirkungen – Reflexionen, Freiburg/Berlin 2006, S. 238.
592 Wolfrum et al. (Hrsg.), Krisenjahre und Aufbruchszeit, S. 192.

593 Ebd.

594 Vgl. EF05–75, Bild Nr. 539.

595 Vgl. ebd., Bilder Nr. 510–515.

596 Vgl. ebd., Bild Nr. 519.

597 Notizen in Z-XXXIII; nicht in dieser Ausgabe abgedruckt. Dieser Vortrag wurde ein

Jahr später veröffentlicht in: Max Müller, Die Krise des Geistes. Das Menschenbild in der
Philosophie seit Pascal, Freiburg im Breisgau 1946.

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war Mitbegründer der am 26. November 1945 in Freiburg ins Leben geru-
fenen christlich-sozialen Vereinigung „Abendland“. Auf sie weist eine in der
Mappe Z-XXIX aufbewahrte Notiz Finks hin; dort findet sich auch ein Dis-
positionsentwurf von Finks Hand zu seiner Schrift über „ontologische Erfah-
rung“598. In derselben Mappe finden sich Notizen von Unterredungen um
diese Zeit – November 1945 –, unter anderem mit Martin Heidegger und mit
dem Freiburger Professor für vergleichende Sprachwissenschaft Johannes
Lohmann.599
Als Ziel einer „festen Lebensplanung“600 setzte Fink sich in beruflicher
Hinsicht „die Dozentur“ an der Freiburger Universität. Zu den „Prinzi-
pien ‹seiner› Lebensführung“601 rechnete er die „Liquidierung der Naziideen
durch einen neuen Humanismus“602. „Aus einer neuen Sittlichkeit heraus“
sollte „eine substanzielle Demokratie“ geschaffen werden, die ihre Tatkraft
aus den Quellen eines „Neuen Humanismus und ‹der› traditionellen Kräfte
der Religion und Bildung“603 schöpfte. Sein berufliches Streben war „nicht
vom äußeren Ehrgeiz motiviert“, sondern entsprang „dem leidenschaftlichen
Wunsch nach ‹einer› Lebensform, die die einsame Arbeit des Gedankens mit
der lebendigen Wirkung des Geistes ‹vereinigt›“604. Aufgabe des Intellektu-
ellen in diesen erlebnisreichen Tagen sei es, eine „Reform des allgemeinen
Zustandes durch Philosophie und Schriftstellerei“ herbeizuführen. Wie aus
seinen Notizen aus dieser Zeit hervorgeht, betrachtete er die Interpretation
von „Nietzsches Metaphysik des Spiels“ als eine vordringliche Aufgabe.
Auch in die bereits erwähnten Projekte zur „Ontologischen Erfahrung“
und zum „Weltbegriff“ sowie in die seit dem „Japaner-Seminar“ des Win-
tersemesters 1930/31605 und dem „Versuch einer Auslegung von Hegels
Phänomenologie des Geistes“ des Jahres 1938606 mehr oder weniger in
der Schwebe belassene „Hegelinterpretation“ wollte er Leben bringen. Zu
den schriftstellerischen Aufgaben, die er sich stellte, gehörten die Fortfüh-
rungen seiner Überlegungen zum Thema „Vom Wesen des Enthusiasmus“
sowie ein philosophischer Kommentar zu „Rilkes Duineser Elegien“. Aber
auch andere Themen, die ihm durch die damalige soziale und politische

598 EFGA 3.4, Z-XXIX/213b. Vgl. Wolfrum et al. (Hrsg.), Krisenjahre und Aufbruchszeit,
S. 95ff.
599 Vgl. EFGA 3.4, Z-XXIX/79a, 87a, 104a. Vgl. auch EFGA 16, S. 960.

600 Z-XXXIII/2a; nicht in dieser Ausgabe abgedruckt.

601 EFGA 3.4, Z-XXIX/164b.

602 EFGA 16, S. 935.

603 Ebd., S. 952.

604 Lebenslauf Eugen Finks (als Beilage zum Habilitationsgesuch) vom 18. Dezember 1945,

in: EF05–75, Bilder Nr. 526–528.


605 Vgl. EFGA 3.2, Z-VIII, S. 71–82.

606 Vgl. EFGA 3.3, Z-XXIV und Beilage I.

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Situation diktiert wurden, tauchen gelegentlich in seinen Notizen auf, wie
z. B. „Neuer Humanismus: Erziehungsprogramm“, „Elite und Masse“607,
„Demokratische Prüfung“608. In diesen weiteren Zusammenhang gehört
auch die Schrift „Eremitie“609.
Das im vorliegenden 4. Teilband der Werkstatt-Ausgabe veröffentlichte
Typoskript „Eremitie (Aphorismen aus einem Kriegstagebuch, 1940–1944)“
wurde wahrscheinlich im Jahre 1945 erstellt. Es besteht aus einem Titelblatt
und 35 maschinengeschriebenen, mit Bleistift durchnummerierten Seiten.
Die Nummern der einzelnen Fragmente hat Fink am linken Seitenrand mit
Rotstift eingetragen. Der Text wurde kaum geändert, handschriftliche Kor-
rekturen gibt es nur wenige. In seiner „Eremitie“ blickt Fink nach vorn, in
die offene, vielversprechende Zukunft der Nachkriegszeit, und zugleich
zurück. Er wendet den Blick zurück zu den gemeinsam mit Husserl in seiner
„Phänomenologischen Werkstatt“ verbrachten Jahren. Eine in der Mappe Z-
XXIX aufbewahrte Notiz enthält das Leitmotiv des Tagebuchs: „Als Thema
in Eremit: das Sich-öffnen des Menschen für das Ansichsein des Seienden:
‚Natur‘ als die ‚allumfangende Φύσις‘. Freiheit als ‚Erleiden‘ begriffen!
Freiheit als das Aufgerissen-werden der sich schützenden Kreatur durch die
‚Mächte‘ des Schönen, Heiligen, Wahren. Die Zeitsituation der ‚Sophistik‘!
Die ‚Wendung zum Menschen‘! Der Mensch dreht sich um sich selbst (sucht
Schutz in seinen ‚Institutionen‘). Das ‚recommencement‘ der Phänomeno-
logie ist nur eine Vorbereitung der philosophischen Erkenntnis, d. h. eine
Ursprünglichkeit des unverdeckten Seins inmitten des Seienden. Aber jetzt
beginnt erst die Bildung der philosophischen Begriffe, beginnt erst die Dia-
lektik!“610 Während die meisten Arbeitspläne und -projekte Finks im status
nascendi verharrten, bildete die „Eremitie“ eine glückliche Ausnahme. Sie
stellt die „erste philosophische Arbeit“611 nach der Veröffentlichung des Auf-
satzes „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“ dar, die Fink
auch erfolgreich zu Ende geführt hat, und die nicht, wie etwa der „Traktat
über phänomenologische Forschung“, verloren gegangen oder wie die
Schrift zur „ontologischen Erfahrung“ lediglich als Schriftentwurf überlie-
fert worden ist.

607 Zu diesem Thema vgl. ebenfalls die von Fink unter dem Pseudonym „Adolf Eufinggen“
verfassten Notizen zu der geplanten Abhandlung „Der Staat und der Mensch“, die im Jahre
1945 geschriebenen „Pensées à propos de la Collaboration politique“ sowie die Disposition zu
einem Seminar mit dem Titel „Masse und Elite“ aus dem Jahre 1950. Sämtliche Dokumente
sind in EFGA 16 veröffentlicht.
608 EFGA 3.4, Z-XXIX/263a. Vgl. dazu Finks Brief an den Dekan der Freiburger Fakultät

vom 18. Juni 1945 in: EF05–75, Bilder Nr. 516–517.


609 Z-XXXIII/2a; nicht in dieser Ausgabe abgedruckt. Vgl. EFGA 3.4, Z-XXIX/164b, 263a;

Z-MH-I/18a; EFGA 16, S. 941.


610 EFGA 3.4, Z-XXIX/129a.

611 EFGA Bd. 3.2, Z-XIV/II/1a–b, S. 251f.

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Die „Einsamkeit“, die Fink hier im Titel „Eremitie“ anführt, ist keine
„politische Indifferenz“, etwa „jene Gleichgültigkeit des Privaten, die nicht
die Arbeit der staatlichen Objektivierung auf sich nehmen will“612. Einsam ist
vielmehr der, der „auf eigenes Risiko lebt“613, d. h. derjenige, der sich aus der
„Geborgenheit […] in einer ‚Rolle‘, z. B. Beruf, Konfession, Staatsideologie,
einer öffentlichen Lebensauslegung“ herausreißt. „Sich-zurückholen aus
der das Leben selbst verdeckenden Öffentlichkeit, Sich-aussetzen in die
Unsicherheit und bange Ungewissheit einer einsamen Lebenserfahrung“ –
dies ist nach Fink das Wesen der „Eremitie“614. Als ein Akt der „freiwilligen
Verbannung“ ist sie aber weniger „ein Auszug aus der Öffentlichkeit des
Lebens, eine Abkehr“ als vielmehr „eine Zukehr: zu den Dingen, noch
diesseits ihres möglichen ‚Nutzens‘, zu Wind, Wolke, Stern, zu Tier und
Mitmensch, Mann, Frau, Kind, zu Dämonen, Engeln und Gott; und so
ist sie wahrhaft eine Rückkehr, eine Rückkehr ins heile, ins unversehrte
Leben“. Nur an diesem abgelegenen Ort, d. h. „vom heilen Leben her“ ist
es dann „vielleicht möglich, die öffentliche Überlieferung zu kritisieren,
zu beurteilen, zu erneuern und zu vertiefen“615. Was Fink hier vor Augen
steht, ist kein „Waldgang“ im Sinne Ernst Jüngers. Zwar hegen beide
Denker die Vermutung, im Faktischen und Wirklichen den Abdruck einer
metaphysischen Gestalt zu erkennen und in ihm der Kraft des Geistes auf
die Spur zu kommen, die sich hinter dem historischen Geschehen verbirgt.
Beide machen sich „auf einen bedenklichen Ausflug gefasst, der ‹sie› nicht
nur über vorgebahnte Pfade, sondern auch über die Grenzen der Betrachtung
hinausführen wird“616. Finks Gedankenführung in der „Eremitie“ liegt aber
das Erlebnis einer „positiven Einsamkeit“617 zugrunde, aus dem eine Lebens-
lehre hervorquillt, ein Existenzbild entsteht, das es ihm gestattet, hinter die
„‚Fassaden‘ der öffentlichen Lebensdeutung“ zu schauen. „Im Hochgebirge“
begegnet der „Eremit“ erstmals der „Großen Sehnsucht“, dem „,ewigen
Rätsel‘ des Menschen“ 618. Finks Kriegstagebuchnotizen sind somit als eine
Fortführung jener Einzelmeditationen über das heile, unversehrte und freie
Leben („vita integra“619) zu betrachten, die er schon in den 1930er Jahren
unter dem Titel „alpine Philosophie“ begonnen hatte und die sich im Jahre
1935 in dem Schriftprojekt unter der Aufschrift „Hütte im Oytal“ zunehmend
herauskristallisierten. Vermutlich hat er dieses nochmals unbenannt, wie es

612 EFGA 3.4, Z-XXIX/312a.


613 Ebd., Eremitie/1.
614 Ebd., Eremitie/2.
615 Ebd., Eremitie/3.
616 Ernst Jünger, Der Waldgang (1951), Stuttgart 2001, S. 5.
617 EFGA 3.4, Z-XXVI/67b.
618 Ebd., Z-XXVI/39a.
619 Ebd., Z-XXVI/45b.

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die in der Mappe Z-XXVI („Mosaik: 1938, 1939“) gesammelten Notizen
nahezulegen scheinen, in denen er sich auf „Einsamkeit – Spiel – Sehnsucht
(desiderium)“ als zentrale Wesenszüge des Menschen besinnt. „Einsamkeit
= ‚Selbst‘; Spiel = schöpferische Freiheit; Sehnsucht = Heimsuchung,
κάθαρσις, religio, Σοφία“620, so notiert er sich. Und dabei verweist er
beiläufig auf seine Schrift „Hütte im Oytal“, die er als „Bergeremit“ oder
„Ermitage dans la montagne“621 kennzeichnete. – In seiner „Eremitie“ führt
Fink demnach „das Tagebuch eines Abseitigen, eines sich Aussetzenden, der
mit dem Aussatz des Selbstdenkens behaftet die Gemeinschaft fliehen muss“,
um sich „aus allen Verlorenheiten, Versponnenheiten und Selbstüberschla-
gungen zurück‹zu›holen“622. Gerade die abseitige, weltferne Höhenlage,
in die er sich zurückzieht, erlaubt es ihm aber, das große Geschehen des
Weltspiels, das „Drama der Weltkonstitution“623 in Augenschein zu nehmen,
vom Weltgeschehen in seiner aus der Lebenstiefe des Geistes ausströmenden
Bewegung zutiefst ergriffen zu werden. Den seltsamen Weitblick, der ihn
dabei innerlich beschwingt, hat Fink in einer Reihe von Aphorismen litera-
risch zum Ausdruck zu bringen versucht. Diesen wenden wir im Folgenden
unsere Aufmerksamkeit zu.
Der grässliche Anblick, den „die erste Hälfte des XX. Jahrhunderts“
bietet, ist nach Fink die „Folge der modernen Amputation des Lebens,
des anthropozentrischen ‚Drehwurms‘, der furchtbaren Entgötterung, der
Seins- und Gottesverlassenheit“624. Die „Durchschneidung der tragenden
und umfangenden Lebensbezüge des Menschen zum Seienden: zum Ding,
Welt, Gott“ habe eine furchtbare „Verödung des menschlichen Lebens“
nach sich gezogen. Wenn „die technische Zivilisation zur vampirhaften
Macht“ wird, verblassen „die ewigen Leitsterne des Lebens“. Dem modernen
Menschen sind „die Angeln des höheren Menschentums: das Wahre, Schöne,
Heilige“ nur noch „Netzhautmücken“. „Als Wesen der Wirklichkeit“ wird
„der Kampf angesetzt, sei es als wirtschaftliche Konkurrenz, als Kampf der
Geschlechter, als Kampf der Klassen, als Kampf der Völker und Rassen“.
Die Kultur hält man für eine bloße „Dekoration des öffentlichen Lebens
(staatliche Kulturpflege)“. Was übrig bleibt, ist eine rein „instrumentale
Deutung der traditionalen Reste höheren Menschentums“. Die allgegen-
wärtige „Ideologie der Arbeit“ ordnet sogar die musische Muße „in den
öffentlichen Arbeitsprozess ein“. Das „soziale Glück“ winkt den Menschen

620 Ebd., Z-XXVI/43b.


621 Ebd., Z-XXVI/45a. Notizen zur „Eremitie“ befinden sich auch in EFGA 3.4, Z-XXVI/34a,
39a, 45a, 67b, 77a.
622 EFGA 3.3, OH-VII/23.

623 VI. CM/1, S. 125.

624 EFGA 3.4, Eremitie/7.

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zu, indem sie nach materiellem Wohlstand jagen. „Auto, Kino, Radio,
circensische‹r› Sport“625 – sie machen das Leben unterhaltsam und gewähren
uns die Möglichkeit, unsere Freizeit angenehm zu gestalten. Es würde sich
lohnen, Finks Diagnose der Verhältnisse menschlicher Coexistenz in den
modernen Industriegesellschaften mit den Positionen der Frankfurter Schule
zu konfrontieren. Besonders die Rolle, die Theodor W. Adorno und Max
Horkheimer in ihrer 1944 veröffentlichten Dialektik der Aufklärung der
Kulturindustrie innerhalb des Spätkapitalismus zugewiesen haben, bietet
hier einen fruchtbaren Anknüpfungspunkt. Finks Behauptung, dass „der
Mensch Mittler, die (menschliche) Welt Medium von Wirklichkeit sei“,
verleiht nicht lediglich einer „kulturphilosophischen Überzeugung von der
symbolischen Ausdruckskraft unserer (Er-)Zeugnisse“ Ausdruck. Sie enthält
vielmehr die an uns gestellte Anforderung, „mit einer doppelten Herange-
hensweise phänomenologischer Analytik und ontologischer Charakterisie-
rungen“ die „dialektische Bewegung unterschiedlicher Erscheinungsfelder
unserer gemeinsam gelebten Existenz“626 philosophisch auszulegen.
Was „das Verhältnis zum Staat“ betrifft, so drückt sich in der von Fink
selbstgewählten „Eremitie“ eine „A-politie“ aus, ein distanziertes Verhalten,
das „den Staat, dieses den bildenden Menschen zumeist selber verschlin-
gende Gebilde, von seinem Lebensursprung her“627 infrage stellt. Mit Bezug
auf ihr „Verhältnis zur Kirche“ bedeutet die Zurückgezogenheit in der
Einsamkeit wiederum ein „Gottsuchen, das Harren auf die Stimme aus dem
Dornbusch“628, die zum Menschen spricht. Im Hinblick auf die Philosophie
gehorcht ein Leben als Klausner der Maxime „Lathebiosas“ – „Lebe im
Geheimnis!“. In der stillen Abgeschiedenheit des Refugiums findet „das
dialektische ‚Gespräch‘ der Seele über das Sein“629 statt, d. h. schwingt die
„ontologische Erfahrung“ auf als ein „Heimweh der Seele nach dem entbehr-
ten Eigentlich-Seienden“630. Die „eingeborenen ‚transzendentalen Ideen‘ der
menschlichen Vernunft“, also die Seinsidee, die Gottesidee, die Welt- und die
Wahrheitsidee, sind „kein ruhender fixer Besitz“ des Menschen, sondern „die
ewigen Ziele ‹seiner› Sehnsucht“631. Als Philosoph vollziehe der Mensch,
der die Einsamkeit sucht und liebt, „die ontologische Erfahrung“, als „homo
religiosus steht er vor dem brennenden Dornbusch“, als Künstler „feiert und
rühmt“ er „das Hiesige“632. Die „innerste und eigenste Not“, die das „Selbst“

625 Ebd., Eremitie/8.


626 Annette Hilt, „Nachwort der Herausgeberin“, in: EFGA 16, S. 980.
627 EFGA 3.4, Eremitie/5.
628 Ebd., Eremitie/6.
629 Ebd., Z-XXIX/111b.
630 Ebd., Z-XXIX/53a.
631 Ebd., Eremitie/7.
632 Ebd., Eremitie/20.

Einleitung der Herausgeber II 277

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in der selbstgewählten Einsamkeit erfährt, habe „– in formeller Abstraktion
betrachtet – eine Ähnlichkeit mit den Eruptionen des ‚Unbewussten‘ (als des
archaisch-kollektiven Seelengrundes im Sinne des ‚Archetypischen‘ C. G.
Jungs)“. Obwohl man das „Selbst“ gemeinhin für eine „Gegenmacht des
Lebens“ zu halten geneigt sei, da es doch „das Prinzip der Individuation“
darstellt, stehe es in Wirklichkeit „mit der archaischen Tiefe der Kollektiv-
Seele“ in Verbindung und tauche so geradezu im „Gegensatz zum ‚Ich‘“ und
„seinem Bereich der Willkürfreiheit“ als „ein ‚Es‘ […], als eine dem Ich
fremde Gewalt“633 auf. An dieser Stelle gibt Fink uns einen ersten Fingerzeig
auf die dem menschlichen „Selbst“ innewohnende Differenz zwischen Natur
und Freiheit, zwischen Erde und Welt, die seine „kosmologische“ Auffas-
sung des Menschenwesens in den Nachkriegsschriften nachhaltig prägen
wird. Das Menschenwesen hat mit dem chthonischen Bereich des „Es“, des
dunklen Ur-grundes, der unterirdischen Welt der dem Ich fremden Gewalten
und der allumfassenden Physis eine rätselhafte „ontische Verwandtschaft“.
Diese unterwandert ständig den Lichthof seiner geistigen Welt.634 In seinem
innersten Wesen trägt der Mensch somit „den Streit von Natur und Freiheit“
aus, den heftigen Zwist zwischen den „hellen olympischen Göttern“ und
den „unterliegenden Erdmächten“, die „die siegenden Olympier“ auf dem
Rücken tragen und somit „in einem profunden Sinne ‹ihr ὑποκείμενον ›,
ihre Substanz, ihr Ansichsein“ sind. Die „chthonischen Götter“ stellen
symbolisch „die Erdmächte: das Ansichsein der Φύσις, ihre Heiligkeit,
das zu hütende Geheimnis“635 dar. In seinen Aphorismen zur „Eremitie“
hinterlegt Fink auf eine subtile Weise die Grundorientierung, die seine
Anthropologie, seine Auslegung der „Grundphänomene des menschlichen
Daseins“ künftig bestimmen wird, und die uns seine intensive Beschäftigung
mit den Phänomenen des Mythos und des Kultes erklärlich macht.636
Nicht übersehen kann man die vielen Hinweise auf die philosophische
Gestalt Nietzsches, die zahlreichen Anspielungen auf die wegweisende
Bedeutung seines Denkens, die im Zuge der Tagebuchnotizen zur „Ere-
mitie“ auftauchen und die bereits die Grundmotive des im Jahre 1960
veröffentlichten Buches Nietzsches Philosophie637 vorwegnehmen. „Nicht
seine hintergründig-abgründige Psychologie, nicht seine Ideale entwerfende
Passion, nicht seine Kritik der bisherigen höchsten Werte, seine Bekämpfung
der modernen Ideen, nicht sein Nihilismus und seine Überwindung, nicht

633 Ebd., Eremitie/25.


634 Vgl. Nielsen, „Kategorien der Physis. Heidegger und Fink“.
635 EFGA 3.4, Eremitie/39.

636 Vgl. Cathrin Nielsen, Hans Rainer Sepp (Hrsg.), Wohnen als Weltverhältnis. Eugen Fink

über den Menschen und die Physis, Freiburg/München 2019.


637 Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960.

278 Einleitung der Herausgeber II

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sein heroisches Ideal, auch nicht seine sublime Stunde des einsamsten
Glückes“ zählen bei Fink – „nein, allein seine Metaphysik des Spieles“638.
Was Nietzsches „Überwindungsversuch“ des europäischen Nihilismus seine
„große Fragwürdigkeit“ verliehen habe, ja zu einem „Verhängnis über
Europa“ werden ließ und uns bis heute vor ein unlösbares „Rätsel“639
stelle, sei die ungeheure Gleichung „Sein = Spiel“, in der er seine meta-
physisch-ontologische Grundthese, wie übrigens auch „die Heraklits“640,
ausgesprochen habe.641
Auch Finks geistreiche, in knappen Formulierungen zusammenge-
drängte Überlegungen zur Geschichte und zur Kunst, die im Zusammenhang
seiner Deutung der Moderne als Epoche des „Anthropozentrismus“ zu lesen
sind, verdienen unsere Beachtung. Einige aussagekräftige Sätze klingen
bis in den Aufsatz zu „Welt und Geschichte“642 aus dem Jahre 1956 oder
die Schlusssätze der Epiloge zur Dichtung643 von 1971 nach. In ihnen
kommt eine Geschichtsauffassung zum Ausdruck, die sie als eine Folge
von „mythisch-enthusiastischen Einbrüchen“644, ja sogar als ein „Zerfall-
geschehnis“ der von „thyrathén“ – d. h. ‚von außen‘ – „einbrechenden
mythischen und enthusiastischen Kräfte“645 betrachtet. Der Kunst, die aus
dem enthusiastischen Überschwang entspringt, wohnt die außerordentliche
Macht inne, ein Zeitalter zu stiften und ihm jene Idee zu offenbaren, die ihm
fortan als ein Leitstern den Weg weisen wird. In diesem Zusammenhang fällt
übrigens der Name „Rilkes“646. In Kunst und Dichtung erscheint „die Idee
‚im Bilde‘“ und wird somit „nicht an sich selbst – so wie sie im Gedanken der
Philosophie ist – […] offenbar. Das Kunstwerk ist also nicht Ausdruck einer
Offenbarkeit, sondern die Herstellung einer solchen. Das Kunstwerk ist als
solches offenbarend“647.
In den Tagebuchnotizen zur „Eremitie“ ringt Fink sich zu einer vierfa-
chen Wesensbestimmung des Menschen durch: als „1) Freiheit (negative und
positive Freiheit); 2) als Spiel; 3) als Entbehrung und Sehnsucht; 4) als

638 Vgl. EFGA 3.4, Eremitie/37, 38, 57, 64, 72, 73, 74, 78, 86.
639 Ebd., Eremitie/73.
640 Ebd., Z-XXIX/212a.

641 Ebd., Eremitie/73.

642 Vgl. Eugen Fink, „Welt und Geschichte“ (1956). Zuerst erschienen in: Husserl et la Pensée

Moderne/Husserl und das Denken der Neuzeit (Actes du deuxième Colloque International de
Phénoménologie, Krefeld 1–3 novembre 1956) Phaenomenologica 2, Den Haag 1959; heute
in: ND, S. 158–179.
643 Eugen Fink, Epiloge zur Dichtung, Frankfurt am Main 1971.

644 EFGA 3.4, Eremitie/87. Vgl. auch: ebd., Eremitie/88, 89.

645 Ebd., Eremitie/44.

646 Vgl. Sepp, „Seinsarmut. Eugen Finks Übersetzung der Duineser Elegien in philosophische

Reflexion“, in: Trigon, Bd. 8, 2009, S. 159-167.


647 EFGA 3.4, Eremitie/91.

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Vermittlung (Mittler)“648. Aber nur der letzteren mag es gelingen, „die
volle Bestimmung des positiven Wesens der menschlichen Freiheit über die
Kennzeichnung desselben als ‚Spiel‘ hinaus‹zubringen›“649. Zwar öffnen
sich uns im Spielvollzug Freiheitsräume, aber die Freiheit selber ist kein
„Spiel“. In dem entscheidungsschweren Jahr 1945 setzt Fink sich tatkräftig
für eine „paneuropäische Solidarität“ ein. Nur sie bietet die Gewähr für eine
„gemeinsame europäische Zukunft“; nur sie berechtigt uns zu der Hoffnung,
eines Morgens im „Weltfrieden“ aufzuwachen.650 Zugleich hinterlässt er,
als Kronzeuge eines Jahrzehnts bittersten „Mißbrauchs der Freiheit“, die
an uns gerichtete Warnung: „Europa stirbt am Mißbrauch der Freiheit: die
Befreiung des Individuums (Renaissance) verkehrt sich in Wurzellosigkeit
und Kollektivismus; die Emanzipation des Menschen von der Übergewalt
der Natur (Technik) verkehrt sich in eine Gefangenschaft des Menschen
in einer technischen Welt; die Entdeckung der metaphysischen Stellung
des Menschen (moderne Philosophie) verkehrt sich in eine narzisstische
Anthropozentrik, die Gott und das Seiende zu Geschöpfen des Menschen
herabsetzt; die Befreiung von einer sakralen allgemeinbindenden Lebens-
auslegung (Aufklärung) verkehrt sich in eine allgemeine Profanierung des
Lebens. Der moderne Mensch ist ohne alle Weihen und Mysterien, ohne den
Segen der Erde und der himmlischen Götter. Europa stirbt am Mißbrauch
seiner Freiheit. Die Möglichkeit des Mißbrauchs aber ist kein Einwand gegen
die Freiheit selbst, die höchste Idee des vernünftigen Menschen.“651

***

648 Ebd., Eremitie/46.


649 Ebd., Z-XXIX/165a.
650 EFGA. 16, S. 943.
651 EFGA 3.4, Eremitie/10.

280 Einleitung der Herausgeber II

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Wie die Textgestaltung der vorliegenden Edition der beiden letzten Werk-
statt-Bände, so forderte auch die Redaktion der „Einleitung“ die Herausgeber
zu einer intensiven kollegialen Zusammenarbeit auf. Der erste, auf den
3. Teilband der Edition bezogene Teil dieser „Einleitung“ wurde von Guy
van Kerckhoven besorgt, der zweite, in den 4. Teilband einführende Teil von
Giovanni Jan Giubilato, mit Ausnahme des Kapitels zu „Phänomenologi-
scher Gegenspieler in der philosophischen Nachbarschaft von Martin
Heidegger“, das mehrfach überarbeitet wurde. Die erste Fassung dieses
Kapitels stammte von Francesco Alfieri; die zweite, erweiterte und abschlie-
ßende Fassung hat Giovanni Jan Giubilato besorgt.

8. März 2022

Guy van Kerckhoven, Giovanni Jan Giubilato und Francesco Alfieri

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Editorische Notiz zur Textgestaltung
des 3. und 4. Teilbandes der Phänomenologischen Werkstatt

In seiner „Einleitung des Herausgebers I“, die er an den Anfang des 1. Teil-
bandes gestellt hat,1 definiert Ronald Bruzina in aller Klarheit das editorische
Grundprinzip, das er der Ausgabe der Phänomenologischen Werkstatt Eugen
Finks insgesamt zugrunde gelegt hat. „Die Texte“, so führt er aus, „sind hier
dargeboten, wie Fink sie hinterließ – unverändert, ohne Systematisierung,
fragmentarisch, mit der Vielfalt zusammenhängender Bezüge und der Durch-
schlagskraft ihres Fragens. Sie sind als Fragen stehen gelassen, nicht als
Antworten“2. Dass „mit Fink […] das Fragen eine andere Kraft und eine
Beharrlichkeit gewann, die neue Aspekte einer Phänomenologie eröffnete,
die ansonsten vielleicht dazu tendiert hätte, in ihren Gewohnheiten zu erstar-
ren“3, darin erblickte Ronald Bruzina die „lebendige Dynamik des Den-
kens“4, die in der Werkstatt-Ausgabe unverstellt zum Ausdruck gelangen
sollte. Zugleich nimmt er bereits den besonderen Charakter der einzigartigen
Stoßkraft vorweg, den die hinterlassenen Notizen Eugen Finks in den beiden
letzten Teilbänden der Werkstatt-Ausgabe bekommen würden: „Die nach-
folgenden Bände werden zeigen, wie Finks Beitrag zur letzten Entwicklung
der Phänomenologie Husserls zu einem Denkprogramm jenseits des Hus-
serlschen Ansatzes wird, das zwar den Wurzeln der phänomenologischen
Philosophie, von der Fink ausging, entstammte, doch ihn zu einer Unabhän-
gigkeit von der Husserlschen Phänomenologie führte“5.
Diese übergreifende „Absicht bei der Erstellung der vorliegenden Aus-
gabe“6, dem Publikum einen ungehinderten Zugang zu Texten zu gewähren,
„die, weit davon entfernt, als endgültige Zeugnisse einer Lehrmeinung das
Schicksal bloßer Archivierung zu verdienen, vielmehr ein philosophisches
Fragen vorführen, das als Ausdruck des Strebens nach lebendiger Vervoll-
kommnung keinen Abschluß seiner Denkbewegung erreicht“7, war von maß-
geblicher Bedeutung auch für die konkrete Gestaltung der Textvorlagen zum
dritten und vierten Teilband der „Phänomenologischen Werkstatt“, die Bru-

1 Bruzina, „Einleitung des Herausgebers“, in: EFGA 3.1, S. XXV–CII.


2 Ebd., S. XXXI.
3 Ebd., S. XCVII.
4 Ebd., S. XCVIII.
5 Ebd., S. XCVII, Anm. 270.
6 Ebd., S. XCVIII.
7 Ebd.

Editorische Notiz 283

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zina noch vor seinem Tod in die Wege geleitet hat. Im Einvernehmen mit den
Herausgeberinnen und Herausgebern der Eugen Fink Gesamtausgabe:
Annette Hilt, Cathrin Nielsen, Alexander Schnell, Hans Rainer Sepp und
Holger Zaborowski, die seit Dezember 2020 sämtliche Editionsprojekte
koordinieren, haben es Guy van Kerckhoven, Giovanni Jan Giubilato und
Francesco Alfieri übernommen, das von Ronald Bruzina prägnant formu-
lierte „editorische Grundprinzip“ der Werkstatt-Ausgabe gewissenhaft
umzusetzen und damit der „umfassenden Absicht“ Rechnung zu tragen, die
er bei der Konzeption des 3. und 4. Teilbandes und bei der Vorbereitung der
einzelnen Textvorlagen zu diesen Teilbänden verfolgt hat.
„Alle Notizen und Entwürfe“ werden somit „in der Zusammenstellung
dargeboten, in die Fink sie selbst gestellt ‹hat›“8. Außerdem berücksichtigt
die Edition des 3. und 4. Teilbandes nach wie vor „das Faktum, daß bei
handschriftlichen Texten insbesondere von solcher Art, die – wie ‹es› bei den
weitaus meisten Stücken der Finkschen Notizblätter der Fall ‹ist› – in knapper
Form komplexe Gedankenfolgen entwickeln oder Aufrisse größerer Pro-
blemzusammenhänge darstellen, auch die auf dem Blatt räumlich fixierte
Darstellungsweise auslegungsrelevant ist“. Deshalb wird auch in den vor-
liegenden Teilbänden versucht, „das Schriftbild der Manuskripte Eugen
Finks so getreu wiederzugeben, wie ihre Umwandlung in das Medium des
Buchsatzes und die Lesbarkeit der Texte es erlauben“9. Zeichnungen und
Diagramme von Finks Hand werden in der Regel mittels eines Grafikpro-
grammes formalisiert oder sind in seltenen Fällen faksimiliert wiedergege-
ben. Orthografische Fehler wurden korrigiert, stilistische Eigenheiten dage-
gen belassen. Bei den Wörtern und Zitaten in griechischer Sprache wurde
auf die Akzentsetzung geachtet. Gelegentlich tauchen aus der griechischen
Sprache stammende Begriffe oder Werktitel in lateinischer Schriftform auf
oder es wird für bestimmte Begriffe lateinischer Herkunft die deutsche
Schreibweise verwendet. Solche Unregelmäßigkeiten in der jeweils gewähl-
ten Schriftform sind ein Zeugnis dafür, dass Fink seine Notizen zügig nie-
derschrieb und sie keiner redaktionellen Bearbeitung unterwarf. Sie sind
deshalb auch nicht nachträglich geglättet worden. Am Schluss seiner Bemer-
kungen zur „Edition“ der insgesamt vierbändigen Werkstatt-Ausgabe stellte
Ronald Bruzina „ein allgemeines Verzeichnis“ in Aussicht, welches „die
Themen der gesamten Ausgabe berücksichtigt“10. Gleichzeitig war er jedoch
der Meinung, dass es „zu viele mögliche thematische Richtlinien“ gäbe, nach
denen „eine Neuordnung der Notizen vorgenommen werden könnte“. Aus
diesem Grunde erschien es ihm „wesentlich besser, den vorliegenden Mate-

8 Ebd.
9 Ebd., S. C–CI.
10 Ebd., S. CII.

284 Editorische Notiz

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.
rialien kein solches Ordnungsschema aufzuzwingen, sondern sie in der offen-
sichtlichen oder möglichen vielseitigen thematischen wie chronologischen
Beziehung zu belassen, in der sie den Platz hatten oder haben könnten, den
Fink ihnen zuwies“11. Die Leserin und der Leser sollten daher in dem „unvoll-
endeten“ Charakter der vorliegenden Editionsarbeit keine Unvollkommen-
heit sehen, sondern vielmehr ein weiteres, untrügliches Anzeichen für die
seltsame „Offenheit“ des phänomenologischen Fragens Eugen Finks.

11 Ebd., S. XCIX.

Editorische Notiz 285

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.
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.
Danksagung

Meinen aufrichtigen und tief empfundenen Dank möchte ich an erster Stelle
Frau Machiko Bruzina, Witwe des verstorbenen Philosophen Ronald Bru-
zina, erweisen. Sie hat sich unermüdlich dafür eingesetzt, dass das umfas-
sende Editionsprojekt ihres Ehegatten, die Herausgabe sämtlicher Doku-
mente der Phänomenologischen Werkstatt von Eugen Fink, heute sein Ziel
erreicht. Zu diesem Zweck hat sie mir sämtliche Unterlagen, Vorarbeiten und
Transkriptionen, die sich auf den 3. und 4. Teilband bezogen und im Nachlass
ihres Mannes aufgefunden wurden, ohne Verzögerung aus Lexington zukom-
men lassen. Besonderen Dank schulde ich auch den engen Freunden und
Kollegen von Prof. Bruzina an der University of Kentucky, Prof. Dr. Daniël
Breazeale und Prof. Dr. Bob Sandmeyer, die mir zusammen mit Frau Bruzina
ihr Vertrauen geschenkt und mich unablässig dazu ermutigt haben, das noch
unvollendete Lebenswerk ihres Kollegen zu einem Abschluss zu bringen.
Auch dem Husserl-Archiv an der Universität Leuven, seinem ehemaligen
Direktor Prof. em. Dr. Rudolf Bernet und seinem wissenschaftlichen Mitar-
beiter Emanuele Caminada möchte ich für die großzügig erwiesene Hilfe bei
der unentbehrlichen Konsultation der nachgelassenen Manuskripte und
Dokumente Edmund Husserls meinen aufrichtigen Dank sagen. Dem Leiter
des Instituts für Transzendentalphilosophie und Phänomenologie (ITP) an
der Bergischen Universität Wuppertal und zugleich Hauptverantwortlichen
für die Eugen Fink Gesamtausgabe, Prof. Dr. Alexander Schnell, danke ich
ganz persönlich für die mir über viele Jahre gewährte Freundschaft und
Unterstützung bei der Erfüllung dieser in ihrer Konzeption und Ausführung
doch einzigartigen Editionsaufgabe. Besonderer Dank gebührt Prof. em. Dr.
Friedrich-Wilhelm von Herrmann (†) der Universität Freiburg dafür, dass er
mir in jeder Phase der vorliegenden Editionsarbeit beratend zur Seite stand.
Seit der Herausgabe von Eugen Finks VI. Cartesianischer Meditation in der
Reihe Husserliana – Edmund Husserl Dokumente (Kluwer 1988) verband
mich mit Prof. Dr. Ronald Bruzina eine innige Freundschaft. Dieses kostbare
Geschenk behalte ich heute in dankbarer Erinnerung.

Guy van Kerckhoven

***

Danksagung 287

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.
Den Hauptverantwortlichen der Eugen Fink Gesamtausgabe, Frau Prof.
Dr. Annette Hilt, Frau Dr. Cathrin Nielsen, Prof. Dr. Alexander Schnell,
Prof. Dr. Hans-Rainer Sepp und Prof. Dr. Holger Zaborowski danke ich
persönlich für das Vertrauen, das sie mir mit dem ehrenvollen Auftrag
entgegengebracht haben, an der Edition der vorliegenden Bände der Phä-
nomenologischen Werkstatt mitwirken zu dürfen. Dem Deutschen Akade-
mischen Austauschdienst (DAAD) schulde ich großen Dank für die mir
gewährte Förderung eines Forschungsaufenthaltes in der Bundesrepublik
Deutschland. Diese Förderung machte es möglich, die mir zugeteilte Editi-
onsarbeit im Mai 2021 in enger Verbindung mit dem Eugen Fink Zentrum
Wuppertal (EFZW), das als Koordinationsstelle der Eugen Fink Gesamt-
ausgabe fungiert, erfolgreich durchzuführen. Meinen aufrichtigsten Dank
möchte ich daher dem Leiter des Forschungszentrums, Prof. Dr. Alexander
Schnell, aussprechen. Prof. Dr. Holger Zaborowski, der das Eugen Fink
Archiv für phänomenologische Anthropologie und Sozialphilosophie leitet,
das heute an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt
angesiedelt ist, bin ich für seine tatkräftige und nachhaltige Unterstützung
meiner Nachforschungen sehr zu Dank verpflichtet. Herrn Dipl.-Archivar
Alexander Zahoransky sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Universitätsarchivs der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg danke ich für
die mir großzügig gewährte Hilfe bei der Konsultation des Nachlasses von
Eugen Fink. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Beinecke Rare Book
and Manuscript Library (New Haven, Connecticut) sowie der University
Archives der University of Buffalo (NY) erweise ich ebenfalls meinen
aufrichtigen Dank für ihre Hilfe bei meinen Recherchen. Frau Dr. Anna Luiza
Coli, die mich während meines Forschungsunternehmens ständig begleitet
hat, bitte ich meinen allerherzlichsten Dank entgegenzunehmen. Gerne
schließe ich mich den von Prof. van Kerckhoven ausgesprochenen Worten
der Zuneigung an, die dem Gedächtnis Ronald Bruzinas gewidmet sind.

Giovanni Jan Giubilato

***

288 Danksagung

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.
Meinen aufrichtigen Dank möchte ich Herrn Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm von
Herrmann (†) aussprechen, der mich in das Denken Eugen Finks eingeleitet
und meine phänomenologischen Nachforschungen ständig begleitet hat.
Dankbar bin ich ebenfalls Herrn Prof. Dr. Ilario Bertoletti, Leiter des Verlags
Morcelliana in Brescia, der seit vielen Jahren die Übersetzung von Eugen
Finks Werken ins Italienische fördert und sich durch Publikationen in seinem
Verlagshaus dafür einsetzt, Finks Denken auch für italienischsprechende
Forscherinnen und Forscher zugänglich zu machen. Er hat mich in meinen
Fink-Forschungen nachhaltig unterstützt, wofür ich ihm danken möchte.
Sehr zu Dank verpflichtet fühle ich mich auch gegenüber Frau Monika Win-
terer-Fink, die mich bei jeder meiner Studienreisen nach Freiburg herzlich
willkommen hieß und sich mit mir über ihren Vater Eugen Fink und sein
philosophisches Erbe ausgetauscht hat. Ich danke auch Eugen Finks Enkeln
Alexander und Christian Fink für ihre Hilfsbereitschaft und ihr offenes
Ohr für alle meine Fragen und Bitten. Abschließend möchte ich mich bei
meinem Neffen Andrea und meiner Nichte Chiara Alfieri bedanken, die
für mich in dieser schwierigen Zeit, in der wir durch die Pandemie neue
Gestaltungsmöglichkeiten für unsere Beziehungen erfinden mussten, durch
ihren frischen, neugierigen Blick auf die Welt eine Quelle der Inspiration,
Hoffnung und Kraft waren.

Francesco Alfieri

Danksagung 289

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Abschnitt 1. Zettel und Oktavhefte

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Z-XVI

Beschreibung:
Die Mappe trägt auf dem Umschlag die Aufschrift: „zu Husserls ‚Meditationen‘.
Zum Dessau-Vortrag?“
Die in dieser Mappe gesammelten, römisch nummerierten Reihen von Zetteln wur-
den von Fink mit Heftdraht (III, VII und VIII) oder mit einer Briefklammer (XXIV)
zusammengeheftet oder einfach zusammengelegt (XXIII). Kein einzelner Zettel der
Mappe weist ein Datum auf; da aber die Gedanken und Themen in den Reihen VII
und VIII, unter anderen Notizen der Mappe, auf den am 4. Dezember 1935 in Dessau
vor der Kant-Gesellschaft gehaltenen Vortrag „Die Idee der Transzendentalphiloso-
phie bei Kant und in der Phänomenologie“ (ND, S. 7–44) hindeuten, muss dieser
auch der in III/1a erwähnte Vortrag sein. Überdies haben die Themen der Reihe III
einen wichtigen Stellenwert in dem Vortrag. (Vgl. Z-XVII 14a-20a und OH-V, die
weitere Notizen zu demselben Vortrag bringen.) Im Gegensatz zu den Reihen VII
und VIII, die hauptsächlich kantische Schemata behandeln, betont Reihe III die
Radikalität des philosophischen Fragens im Zusammenhang mit einer Lebensaus-
legung. Auf diese Weise führt Reihe III die Thematik des nie geschriebenen II. Teils
des Kantstudien-Aufsatzes in den Vortragsentwurf ein. (Vgl. die Anmerkung zu
Nr. 5 in Z-XI 25b, EFGA 3.2, S. 147.)
Ganz anders gehören die Notizen in der Reihe XXIII zur Umarbeitung der „Carte-
sianischen Meditationen“ Husserls. Auf der Rückseite des Blattes der Notiz
XXIII/23, das mit XXIII/22 zusammengefaltet wurde und als Umschlag für die
anderen Notizen der Reihe diente, findet sich die mit Blaustift geschriebene Auf-
schrift Finks: „Zu Husserls,Meditationen‘“. Die Notizen dieser Reihe müssen vor
den Sommermonaten 1932 geschrieben worden sein, in denen Fink seine zweiten
Umarbeitungsvorschläge der „Meditationen“ für Husserl verfasste (vgl. VI. CM/2,
S. 305–307).

Text:
| Die phänomenologische Philosophie in einem zentralen Aspekt zu charak- 1a
terisieren:
Philosophieren = Selbstbemächtigung des Menschen. Was ist der
Mensch? Das Weltwesen, d. h. das Seiende, nach dem man nur fragen kann,
indem man nach dem Ganzen des Seienden frägt.
Der Mensch = die „Lücke im Kosmos“, die ontologische Paradoxie.
Der mundane Charakter des Menschen: die „Endlichkeit“ ist Ohnmacht.
Aber nicht so sehr in bezug auf etwas, also nicht transitive Ohnmacht,

Z-XVI 293

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.
sondern Entmachtetsein; also nicht ein Gehindertsein, ein Überwältigtsein
usw., ein Nicht-Gebrauchenkönnen einer doch bekannten Macht. Vielmehr
ein Nichtkennen einer „möglichen“ Macht; also ein Nichtwissen um das
Machtlossein. – Die „Ohnmacht des Menschen“ als 1) Benommenheit vom
Seienden, 2) eingegittert in „Allgemeinwissen“, 3) Weltbefangenheit.
1b 1. | Ziel der Philosophie ist die Selbstbemächtigung des Lebens: Der
Mensch als Weltwesen.
2. I. Die Benommenheit vom Seienden.
II. Die Umzirktheit vom Apriori.
III. Befangenheit in der Welt.
3. Die Phänomenologie unternimmt die Aufgabe: das transcendentale
Problem des Bezugs von „Sein und Vernunft“ zu verfolgen und so
die Selbstbemächtigung des Lebens, die Selbstbegegnung der schöpfe-
rischen Vernunft zu beginnen.

2a | Was Heidegger als problematische „Doppelung“ im Ansatz der antiken


Metaphysik bezeichnet: die Frage nach dem ὄν ἡ ὄν und die Frage nach dem
τιμιώτατον γένος, ist vielleicht verständlich zu machen im Hinblick auf die
„Transcendentalien“: die Frage nach dem τιμιώτατον ist nicht eine Frage
nach einem besonderen Seienden oder Seinsbezirk um seiner selbst willen,
sondern ist die transzendentale Frage nach dem Grunde dafür, daß jedes
Seiende ein bonum ist.

Reihe III:1
III/1a | 1. muß im Vortrag meine Grundauffassung der Philosophie deutlich werden.
Philosophieren als ein Erzeugen des Problems, d. h. Probleme sind keine
offenen oder latenten Wissensausstände, sondern brechen erst die Dimension
der neuen Verständlichkeit auf. Nicht erst mit der Antwort bildet sich die
philosophische Art des Verstehens, sondern ursprünglich im Fragen.
Die Metaphysik der Frage als harmloses Anfangsstück einer Metaphy-
sik der Philosophie selbst. Wie verhält sich das Fragen zum Ganzen des
menschlichen Lebens? Philosophie ist das Gegenteil einer Lebenssicherung,
einer Fraglosigkeit, einer Entschiedenheit des Guten und Bösen, des Wahren
und Falschen, der Rangordnung, kurzum der „geschichtlichen Welt“ eines
Volkes. Philosophieren greift jede Sicherheit an, nicht als destruktiver
Nihilismus, sondern als das Sichselbstaussetzen des
III/1b | Menschen in das Problem. Philosophieren = heißt existieren als Problem.
Problemsein, d. i. das Wagnis, zu dem die Philosophie den Menschen
aufruft. Nicht sich stellen unter die Sicherheit einer Lebensauslegung, einer

1 Die Blätter 2 bis 4 dieser Reihe wurden von Fink nummeriert.

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politischen, religiösen usw., sondern ein Sichstellen in die Ungewißheit.
Die Philosophie, so wenig sie ein Existenzideal dogmatisch aufstellen kann,
so wenig kann sie unter die Botmäßigkeit einer von außen kommenden
Existenznorm gebracht werden. Philosophieren ist die Freiheit als Freisein
zum Nihilismus. Nihilismus als Passage. Im Philosophieren setzt sich der
Mensch aus der Unheimlichkeit eines Nichtwissens, das er selbst erzeugt.
Nicht die Unheimlichkeit der „Weltnacht“ (Hegel), die Verborgenheit des
Seienden, die als Grenze unseres Wissensfeldes immer da ist, sondern die
Aberkennung des scheinbaren Wissens, das Durch-
| streichen des erworbenen Wissens durch die Aufstellung eines höheren III/2a
Anspruches, also der Aufrichtung einer Fragedimension.
2. Was heißt es „lebensmäßig“ (existenziell), wenn der Mensch so auf-
hört in der Sicherheit des Lebens zu sein? Philosophieren ist immer der
Untergang einer Weltsicherheit, die Katastrophe der natürlichen Existenz
„καταστωφή“, „Hinabwendung“. Wohin hinab? In den verborgenen Grund
des Wesens des Menschen. Vgl. Hegels Begriff: des „Sichzugrunderichtens“!
a. Was ist das Zugrundegerichtete?
b. Was ist der Grund, worauf der Mensch sich philosophierend richtet?

a. Analyse des Begriffs der „Lebenssicherheit“: 1) Zunächst ein histo-


rischer Begriff, die geschichtliche Situation. Ist diese „Lebenssicher-
heit“ gemeint, die als Auflösung des Christentums, als „Tod Gottes“
heute geschieht? Neuformungen des Menschen: Lebenssicherheit in
neuen Mythen. – Die philo-
| sophische Erschütterung ist ein Beben des Bodens, der unser ganzes III/2b
Leben trägt, auch des als Träger des Wandels geschichtlicher „Wel-
ten“ (existenzieller Welt) vorgegebenen Bodens der Weltzeit und der
„Natur“. „Lebenssicherheit“ also nicht bloß das fraglose Ingebrauchhal-
ten der „Tafeln der Werte“, sondern eine Grundstellung des Lebens zum
Seienden überhaupt. Von der Tiefe der Reflexion auf die Grundstellung
hängt die Radikalität des philosophischen Fragens entscheidend ab.
Warum soll die Grundstellung der Lebenssicherheit zugrundegehen?
Weil sie verdeckt; was verdeckt sie? Das Leben selbst. Hier wird nun
wichtig: die Philosophie kann nie unmittelbar anfangen, weil sie sich
selbst voraussetzt. Vgl. Hegels „Sprung“, „absolut denken“. Weil es eine
Einsicht der Philosophie ist, daß das, was wir Lebenssicherheit nannten,
das fraglose Belassen des Seienden, eine Ver-
| deckung des Lebens ist, eine Entmachtung seiner selbst als Herunterlas- III/3a
sung inmitten des Seienden (Selbstentstellung), muß in der Philosophie
die dreifache Entselbstung des Lebens angegriffen werden. Philosophie-
ren und die Selbstbemächtigung des Lebens („Wille zur Macht“: so

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wie „Freiheit“ metaphysisch nur ist als „Befreiung der Freiheit“, so
ist „Macht“ im metaphysischen Verstand nur als „Bemächtigung der
Macht“, d. h. als Selbstbemächtigung. Der vulgäre Begriff der Macht
ist der der transitiven Aktion und Aktionsfähigkeit: ein Gewalthabender
kann andere unterjochen, Macht als Zustand des Selbst ist im vulgären
Begriff immer vorausgesetzte Bedingung der transitiven Auswirkung
der Macht. „Macht im metaphysischen Verstande“ ist Bemächtigung des
machtlosen Selbst. Der dynamische Charakter ist nicht transi-
III/4a | tiv, sondern reflexiv.)
b. Mit der Kennzeichnung der „Lebenssicherheit“ als Verdeckung des
Lebens ist schon der Grund, worauf das Sichzugrunderichten des Phi-
losophierens zielt, angezeigt: das „Leben“ selbst. „Leben“ hier nicht
als die ontologisch zu bestimmende Weise des Seins des Lebendigen
(der Organismen im weitesten Sinne), sondern als das Wesen des
Menschen (die Grundintention der „Lebensphilosophie“ zielt immer auf
das „inwendige Wesen des Menschen“)
*
Zusammenfassend: 1) Die Grundauffassung der Philosophie, die hier vertre-
ten wird, ist: Philosophieren ist ein radikales Fragen, das Probleme erzeugt
und so den Menschen selbst in Frage stellt. 2) Philosophieren ist Zugrunde-
richten der „Lebenssicherheit“. 3) Philosophieren ist Selbstbemächtigung
des Lebens.
III/4b | Wie kann diese „Grundauffassung“ als Basis der Kennzeichnung der phä-
nomenologischen Philosophie wirksam werden? Also keine „Vergleichung“
der kantischen Philosophie mit der phänomenologischen. Kein fester Boden
vorhandener Probleme, keine Abschätzung der kantischen Philosophie, –
sondern der Versuch, aus der Weise des phänomenologischen Fragens eine
Interpretation des kantischen Fragens zu konstruieren, keine objektive Fest-
stellung desselben Problems bei Kant und in der Phänomenologie. Sondern
die bedingte, aus einer bestimmten Philosophie heraus erfolgte Interpretation
Kants. Tiefe des ursprünglichen Zugangs ist eine Frage für sich. Aber es gibt
keine objektive, keiner philosophischen Haltung verpflichtete Doxographie.
Der geisteswissenschaftliche unvoreingenommene Bericht über … ist ein
verhängnisvoller Widersinn.
4a | Die „Transzendentalien“: ens – unum – verum – bonum entsprechen dem
Aufriß der „Metaphysik“:
ens = metaphysica generalis
unum = rationalis cosmologia
verum = psychologia rationalis metaphysica specialis
bonum = theologia rationalis
? ? ? ?

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.
Vgl. Aristoteles’ Doppelansatz in der Bestimmung der Metaphysik:
1) ὄν ἡ ὄν und 2) θεῖον

| Anmerkung: der Aufriß der traditionellen Metaphysik ist nach Heideggers 5a


Darstellung: I) metaphysica generalis, bezogen auf das Sein des Seienden,
II) metaphysica specialis, bezogen auf die drei wichtigsten Bezirke des
Seienden, so wie sie durch die christliche Weltdeutung vorgegeben sind:
Natur, Seele, Gott.
Könnte man nicht die These aufstellen: In der metaphysica specialis wird im
Grunde nicht eine Hinwendung zu den vorzüglichsten Seinsgebieten vollzo-
gen, sondern auch dort geht es um das Seiende als solches. Kosmologie: ens
= unum, Psychologie: ens = verum, Theologie: ens = bonum.
| So daß am Ende die ganze Metaphysik die Entfaltung der Seinsfrage wäre, 5b
als die Entfaltung der inneren Problematik der Bezüge der Transzendentalien.
*
(Dies eine Interpretationsthese bei der Kantdarstellung in „Problemtheoreti-
sche Untersuchungen zur Lehre vom Weltbegriff“!2)

I. | Kant: 6a
1. Auf dem Boden der antiken Auslegung des Seins (als Wesen des
Seienden) = Wesen (Kategorien).
2. Das Überspringen des Problems der Erfahrung.
3. Der „transzendentale Bezug“ als Horizont des Neuentwurfs
der Ontologie.
4. Kants Begriff der Vernunft = Vermögen des Menschen. Vernunft
selbst seiend.
5. Die Subjektivität des Seienden = Gegenständlichkeit der Gegen-
stände
II. Deutscher Idealismus:
1. ebenfalls auf dem Boden der Interpretation des Seins des Seienden
als Wesen – aber gerade das „Besondere“ in das Allgemeine auflö-
send.
2. Aufhebung des Ontischen (Besonderen) in das als Bewegung des
Begriffs ausgelegte „lebendige“ Wesen der Vernunft.
3. Vernunft = Stufe der Bewegung des absoluten Wissens. (Dialektik
des ontisch-meontischen Vernunftbegriffs: Geist.)
4. Der transzendentale Bezug ebenfalls Horizont der ontologischen
Frage, die bereits schon das ontogonische Problem tangiert.
5. Wesen des Menschen ist Möglichkeit, in den Geist unterzugehen.

2 Zu Finks geplanter Schrift zum Thema „Weltbegriff“ vgl. V-II unten.

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6b III. | Formalbegriff der Transzendentalphilosophie:
1. Hineinfragen in den Bezug von ens und verum.
2. Nach dem Seienden fragen, sofern es ein „Subjektives“ ist.
3. So nach dem Subjekt fragen, daß der Zugriff dieser Frage von der
ganzen Weite des Seinsproblems geführt ist.
4. Auffassung des Menschen als Weltwesen, d. i. als das Seiende, in
dessen Sein das Seiende überhaupt irgendwie mitgesetzt ist.
IV. Phänomenologischer Begriff der Transzendentalphilosophie:
1. Ausweitung des „Seienden“ (von den bloßen Dingen zu den „Din-
gen im Wie“ und zur fungierenden Subjektivität); die intentionale
Korrelation als Feld des Seins.
2. Wie ist dieses phänomenologische Seinsfeld ein verum? = Über-
fragung des Seienden (Epoché und Reduktion).
3. Phänomenologische Transzendentalphilosophie als Fragen in den
Zusammenhang von ens-verum ist als Freilegung der konstituie-
renden Subjektivität ontogonische Metaphysik.
4. Das Weltwesen des Menschen = die meontische Tiefe der Welt-
konstitution (ontologische Unerreichbarkeit).
5. Lebendige = schöpferische Vernunft.

Reihe VII:3
VII/1a | 1. Der prinzipielle Rahmen:
Neugründung der Metaphysik als Kritik der reinen Vernunft.
‡Wie kann eine Kritik des metaphysischen Erkennens eine Neubegründung
der Metaphysik sein?
‡ ‹Betonung dieses Satzes durch zwei vertikale Striche am Rand.›
‡ Kritik der metaphysischen Erkenntnis ist nicht zunächst eine Ursprungsun-
tersuchung der metaphysischen Erkenntnisquellen und der Leistung und der
Grenzen der reinen Vernunft, sondern ist Frage nach der Möglichkeit der
metaphysischen Erkenntnis.
‡ ‹Betonung dieses Satzes durch zwei vertikale Striche am Rand.›
Zu unterscheiden ist also:
1. Naive Betätigung einer Erkenntnis.
2. Kritik einer Erkenntnis als Untersuchung ihrer Quellen, ihrer Arten, und
ihres Umfangs und ihrer Grenzen.
[Quelle: die reine Vernunft, Erkenntnisbereich der reinen Vernunft
und …]

3 Die Blätter 2 bis 4 dieser Mappe wurden von Fink durchnummeriert.

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3. Wie ist die Frage nach dem Wesen der Vernunft gestellt? So daß
gefragt wird nach der Vernunft, um dann die Möglichkeit der metaphy-
sischen Erkenntnis zu verstehen (als nachträgliche Folge) – oder daß
die Frage nach der Möglichkeit der metaphysischen Erkenntnis das
leitende Problem bleibt, in das die Wesensauslegung der reinen Vernunft
einbezogen ist?
4. | Die Frage nach der Möglichkeit der metaphysischen Erkenntnis, nicht VII/1b
die nach dem Wesen der reinen Vernunft als die zentrale Fragestel-
lung Kants.
5. D. h. die Wendung zur „Kritik der reinen Vernunft“ darf überhaupt
nicht als Erkenntnistheorie der metaphysischen Erkenntnis verstanden
werden, im Sinne einer Analogie zur Rückwendung vom thematischen
Tun auf das Tun selbst. Eine solche Auffassung verfehlt die kantische
Problemstellung von vornherein. Nicht weil die vorkantische Metaphy-
sik thematisch-naiv war, wendet sich Kant in der Vernunftkritik auf die
metaphysische Erkenntnis selbst, sondern weil er nach dem Seienden
und der metaphysischen Erkenntnismöglichkeit frägt, muß er sich auf
das Wesen der Vernunft zurückwenden.
Thesenhaft: die Kritik der reinen Vernunft ist keine Erkenntnistheorie
(Phänomenologie der reinen Vernunft), die der thematischen Meta-
physik vorherginge oder sie methodologisch überholen solle. Sie ist
primär gar keine Reflexion vom metaphysischen Gegenstand auf die
metaphysische Erkenntnis. Sondern: Kants Zugang zum Gegenstand
der Metaphysik (dem Sein) selbst in sich wirft ihn auf eine Kritik der
reinen Vernunft.
| Nicht haben wir das Schema: VII/2a
die vorkantische Metaphysik → Wesen des Seienden,
Kant → Wesen der Seinserkenntnis.
Sondern, indem Kant nach dem Seienden frägt und in der Gewalt dieses
Problems bleibt, kommt er zur Kritik der reinen Vernunft.
Kants „vorangestellte“ Erklärungen des Begriffs „transzendental“:
vgl. „Ich verstehe aber unter einer transzendentalen Erörterung.“4
Also die beiden Bestimmungen:
1. Erkenntnis unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern sie als a
priori sollen gedacht werden können,
2. Erkenntnis der Möglichkeit der Erkenntnisse a priori.
Das aber ist nicht dasselbe: 1) Erkenntnis der metaphysischen Erkenntnis,
und 2) Erkenntnis der Möglichkeit der metaphysischen Erkenntnis.

4 Vgl. KrV B40.

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Es ist nicht ohne weiteres einzusehen, wie eine Erkenntnis der metaphy-
sischen Erkenntnis eine Aufhellung ihrer Möglichkeit in sich schließt.
Aber es läßt sich zeigen, wie eine Erkenntnis der Möglichkeit der meta-
physischen Erkenntnis mitfolgend eine Erkenntnis der metaphysischen Er-
VII/2b | kenntnis ist.
Also die Frage nach der Möglichkeit der metaphysischen Erkenntnis als
solche ist die Grundfrage Kants.
Was heißt aber nach der „Möglichkeit“ der metaphysischen Erkenntnis
fragen? Nicht wie sie möglich ist, also im Sinne der äußeren Bedingung
ihrer Verwirklichung; sondern wie es möglich ist, daß das in ihr Erkannte:
das Wesen, Wesen des Seienden ist. Also es handelt sich also um die
Erkennbarkeit des Seienden in seinem Wesen. Wie muß das Seiende in seiner
Verfassung sein, daß das Wesen ihm in einer Weise abgenommen werden
kann, ohne daß wir zum Seienden herangehen? Wie ist der Voreinblick in das
Wesen des Seienden möglich?
Dies ist eine Frage, die gerade das Seiende selbst angeht. Also die Frage
nach der erstmals von Kant in seiner ganzen Rätselhaftigkeit empfundenen
Eigenart des Seienden, vom Menschen in seinem Wesen einblickbar zu sein,
ist nicht eine Er-
VII/3a | kenntnistheorie, eine thematische Auslegung der Subjektivität, sondern eine
Frage nach einem Bezug des Seienden zum Wesen des Menschen.
Kants Ontologie ist in ihrem Ansatz eine Frage nach der inneren
Verweisung des Seienden auf den Menschen, sofern es sein Wesen schon ihm
freigegeben hat – vor aller Erfahrung, vor aller Erfahrung und damit vom
Seienden selbst abgenommen‹en› Wahrheit.
Dieses Grundproblem Kants fassen wir jetzt bestimmter, unter der Lei-
tung einer Interpretation des Wortes der Transzendentalien, die im Gegenzug
gegen eine Textstelle bei Kant erfolgt. Die „Transzendentalphilosophie der
Alten“: die Transzendentalien: ens – unum – verum – bonum. Kants Ausle-
gung: keine Bestimmungen des Seienden, sondern formale Bestimmungen
einer Erkenntnis überhaupt: qualitative Einheit, Vielheit, Allheit.
Wir behaupten: Kants philosophische Grundfrage ist nur aus der Proble-
matik der Transzendentalien verständlich.
VII/3b | Inwiefern? Was heißt eine „Transzendentalie“ – eine Bestimmung des
Seienden, die nicht gattungsmäßiger Allgemeinheit ist, sondern dem „Sei-
enden“ mitfolgt‹?› Jedes Seiende, wie immer es ist, sofern es ist, ist ein
unum, verum, bonum? Inwiefern? Der Begriff des „Seienden“ ist nicht ein
gattungsmäßiger, ist also kein Begriff, der eine Wesensbestimmung des
Seienden aussagt, sondern vor aller Aussage schon vorausgesetzt werden
muß. Seine „Allgemeinheit“, die als unexplizierbare Leere zunächst dem
Verständnis entgegensteht, hat die erste philosophische Explikation erfahren
in der Konzeption der „Transzendentalien“. Die antike Seinsinterpretation

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ist beherrscht von der Problematik des Bezugs von ὄν und ἕν, neben der
platonischen Interpretation des Seienden in den „Ideen“ und Aristoteles’
„Kategorien“. – Die heute noch unbegriffene Doppelung der aristotelischen
metaphysischen Frage nach dem ὄν ἡ ὄν und dem θεῖον ließe sich vielleicht
aufklären als die erste Fassung des Bezugs der beiden „Transzendentalien“
ens und bonum.
| Den mit der Allgemeinheit des „Seienden“ und der mitfolgenden Allge- VII/4a
meinheit der „Transzendentalien“ unum, verum, bonum, gesetzten Bezug
zwischen ihnen, nennen wir den „transzendentalen Bezug“. Jedes in den
dunklen Problemkreis der transzendentalen Bezüge hineinfragende Philoso-
phieren – ist Transzendentalphilosophie.
Unsere Grundthese, die wir dem Interpretationsansatz zugrundelegen,
lautet: der Angelpunkt der kantischen Neubegründung der Metaphysik in
einer Kritik der reinen Vernunft ist die Frage nach dem „transzendentalen
Bezug“ von ens und verum. D. h. Kant gründet die Ontologie: die Frage
nach dem Wesen des Seienden, neu, indem er frägt, inwiefern ist das in der
Ontologie erkannte Seiende als Seiendes (ens) ein verum?
Was heißt ein verum?
Seiendes ist gelegentlich ein verum, ein ὄν ώς ἀληθές, wenn es in
einer faktischen Erkenntnis erkannt wird, d. h. wenn es als Gegenstand der
Erfahrung begegnet. Aber dieses dem Seienden wider-
| fahrende Wahrwerden: „Erkanntsein“, ist keine dem Seienden als Seiendem VII/4b
zukommende Bestimmung. D. h. das Problem des transzendentalen Bezugs
von ens und verum ist prinzipiell nicht im Bereich der Erfahrungserkenntnis
zu suchen. (Die Möglichkeit der Erfahrung: ist für Kant kein Problem, weil
er auf dem Boden der Auffassung steht, daß die Möglichkeit der Erfahrung
auf dem Apriori gründe.) Vielmehr ist das Problem folgendes: wie ist das
Seiende, das ja ausgelegt ist als „Wesen“, immer schon vor aller Erfahrung
ein verum?
Jetzt kann gezeigt werden: wie die transzendentale Frage nach dem
Bezug von ens und verum notwendig zur Kritik der reinen Vernunft wird.
Festzuhalten ist von vorherein; Kants „transzendentale Frage“ auf dem
Boden der Seinsinterpretation als W e s e n.

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Reihe VIII:
VIII/1a | ‹…›5 als Problem des transzendentalen Bezugs von ens und verum.
II. Skizze des Ansatzes einer phänomenologischen Kantinterpretation:
a. Begriff der Transzendentalien (vgl. die gegensprechende Kantstelle).
Die „Allgemeinheit“ der Transzendentalien und die Allgemeinheit
der Gattung.
b. Die Struktur der transzendentalen Frage: Frage nach dem Sein = Frage
nach dem Wesen der Vernunft (Kritik). D. h. Frage nach dem Sein im
transzendentalen Bezug mit der Frage nach dem Menschen.
[Dies kein „Subjektivismus“ im landläufigen Sinne: nicht ist jetzt an die
Stelle des transzendentalen Seins als ‹des› vorwiegenden Themas der
metaphysischen Philosophie das Subjekt getreten; die sog. cartesische
Begründung der subjektiven Wendung der neuzeitlichen Philosophie ist
ein Unverstehen der entscheidenden Wendung des Seinsproblems.]
c. Die Struktur der „transzendentalen Deduktion“.
d. Die Struktur des „transzendentalen Idealismus“.
e. Kants ontologische Problematik des transzendentalen Bezugs von ens
und verum auf dem Boden der antiken Seins-
VIII/1b | interpretation (Eidos) verblieben.
S e i n u n d V e r n u n f t = das Sein als Allgemeines am Seienden
(im Sinne der allgemeinen ontologischen Prädikate = Kategorien) ist
intelligibel als die Vernünftigkeit der reinen Anschauung und reinen Ver-
standesbegriffe.
Der Bedingungszusammenhang:
1. These: Kant sieht ausdrücklich die transzendentale Struktur des Seins-
problems, d. h. er erkennt, daß die Frage nach dem Wesen des Seins
notwendig mit abhängt von der Frage nach dem Wesen des Subjekts.
2. These: der Bedingungszusammenhang wird deutlich: das Verständnis
des Seins ist mitabhängig von dem, was als das Wesen des Subjekts
bestimmt werden konnte.
3. These: das Wesen des Subjekts ist mit abhängig von der Bestimmung
des Seins.
4. Die Bestimmung des Seins hängt nicht ab von der Bestimmung des Sub-
jekts und umgekehrt auch nicht, sondern die Bestimmung beider hängt
ab von der Bestimmung des transzendentalen Bezugs zwischen beiden.
VIII/2a | Der transzendentale Bezug von Sein und Wesen des Subjekts, oder anders
gesprochen, von ens und verum, ist die Mitte, das Zentrum der Ontolo-
gie geworden.

5 Die vorangehende Notiz fehlt. Die übrigen Blätter wurden von Fink nummeriert.

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Eine gefährliche Formel ist: die Problematik des transzendentalen
Bezugs von ens und verum ist abhängig von der Bestimmung des Seins
des Subjekts.
Nicht wie eine naive, das Subjekt als ein gesondertes Seiende‹s› unter
dem Seienden findende Thematisierung das Subjekt bestimmt, etwa in einer
psychologischen oder sonstigen Theorie über den Menschen, sondern allein
wie das Sein des Menschen im transzendentalen Bezug von ens und verum
bestimmt wird, ist das Grundanliegen der Philosophie. Die Frage nach dem
Sein des Menschen ist nicht eine besondere, spezielle Frage innerhalb der
allgemeinen Frage nach dem Seienden in seinen Seinsgebieten, sondern ist
gerade die erst im transzendentalen Bezug von ens und verum sich öffnende
allgemeine Frage nach dem Seienden überhaupt. –
„Transzendental“ nach dem Menschen fragen ist so nach dem Wesen des
Menschen fragen, daß in dieser Frage zugleich nach
| dem Seienden überhaupt gefragt ist. VIII/2b
Die transzendentale Frage nach dem Menschen impliziert die ganze
Weite der Frage nach dem Seienden überhaupt.
III. Die kantische Idee der Transzendentalphilosophie als Hintergrund
einer skizzierenden Charakteristik der phänomenologischen Philoso-
phie.
A. Charakteristik der Husserlschen Phänomenologie:
1. Scheinbar naiver Ansatz: Die phänomenologische Abkehr
von den großen Konstruktionen. Die deskriptive Hinwendung
zum scheinbar Belanglosen. Vgl. den Gegensatz der Entwick-
lung der kantischen Transzendentalphilosophie im Deutschen
Idealismus. – Begriff der „Wissenschaftlichkeit“???
Ansatz bei der Freilegung der a n o n y m e n Subjektivität.
Die ontische Erkenntnis als „Benommenheit vom Seien-
den“ geklärt.
Das ens zunächst im Wie des Begegnens als Gegenstand der Erfahrung.
Erfahrung aus dem Schulbegriff eine Weise jedes Zugangs zu Seiendem.
Ens und verum nicht zunächst als transzendentales Problem, sondern als ein
vorbereitendes angesetzt. Die Objektivität
| der Objekte im weitesten Sinne. Freilegung der fungierenden Subjektivität. VIII/3a
Methode der I n t e n t i o n a l a n a l y s e. – Von der wissenschaftlichen Welt
zur vorwissenschaftlichen, von der gemeinsamen öffentlichen zur primordi-
alen Welt. Das ens als verum zunächst im naiven Ansatz der Gleichstellung
des Seienden mit dem Gegenstand.
Aufgabe der gegenstandsontologischen Forschung: Leitfadenvorgabe
für die Freilegung der anonym fungierenden subjektiven Leistungen und
Synthesen. Das Wesen der Subjektivität wird so in einer universalen Form
ausgelegt. Nach dem Wesen des Subjekts fragen, heißt nach den anonymen

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Leistungen fragen, die Gegenstände jeglicher Art erst zur Seinsgeltung für
das Subjekt bringen.
Seiendes = Sein für fungierende Synthesen der intentionalleisten-
den Subjektivität.
Ablehnung einer Dinglichkeit hinter den Gegenständen!
Universalität einer subjektiven Thematik eines neuen Stiles. Hinter die
naive „Vorgegebenheit“ des Subjekts zurückgehend, eine intentionale Auflö-
sung der doktrinären Einteilungen der Subjektivität in Vernunft, Verstand,
Sinnlichkeit usw., also der unausgesprochenen Voraussetzungen über das
Subjekt, die selbst in
VIII/3b | Kants „transzendentalem Problem“ mitgehen.
Die erste Stufe der Phänomenologie = Freilegung der latenten Sub-
jektivität in der Methode der intentionalen Befragung. Seiendes = Sinn.
Alle Seinsfragen zu Korrelativfragen. (Korrelativismus als Vorgestalt des
„transzendentalen Problems von ens und verum“.) [Hier die drei Gefahren
der Phänomenologie????]
Die zweite Stufe der Phänomenologie: die Korrelation selbst als Prob-
lem. Die korrelativistische Betrachtung hat zuerst die Weite des Seienden
(ens) entdeckt, indem sie die Fixiertheit auf die Dinge, als Identitäten latenter
subjektiver Mannigfaltigkeiten, aufhob. – Jetzt tritt erst das transzendentale
Problem auf. 1. Die Grundgestalt der transzendentalen Frage ist die phäno-
menologische Epoché. 2. Das Grundprinzip = die Reduktion. 3. System =
transzendentaler Idealismus als „konstitutiver Idealismus“.
– Phänomenologie als ontogonische Metaphysik. Frage nach dem onto-
gonisch verstandenen Seienden als Frage nach dem Wesen des Menschen:
der Mensch das reine Sichselbstschaffen, oder besser der Mensch der seiende
Widerspruch, der Übergang. Selbstbemächtigung des Lebens und innere
Grenze des Seinsproblems.

9a | Modi des Weltbewußtseins:


1. Übergriffsbewußtsein über Immanenz und Transzendenz und Wirklich-
keit, Gegenwart usw.
2. Objektivitätsbewußtsein: Intersubjektivität selbst ein Objektivisti-
sches. „Seiendes“.
3. Ichzugehörigkeitsbewußtsein zur Welt, speziell zur Natur.
4. Wachheit (als Bedingung der Möglichkeit gegenständlichen Bewußt-
seins) – Ich – Welt.
5. Offene Mittelbarkeiten der Erfahrung und Weltganzheitsbewußtsein.
6. Weltbewußtsein und Sein (Horizont alles Seienden).

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| Merkzettel 10a
1. Die Mobilität des Ich in den Vergegenwärtigungen ist keine „Kinäs-
these“!!
2. „Ich“ ist nicht in Gemeinschaft mit sich selbst (z. B. bei einer Erinne-
rung)
Ich kein synthetisches Gebilde. Ich auch nicht bloß Ichpol
3. Die Phantomräumlichkeit ist prinzipiell endlich und Nahwelträumlich-
keit; m. a. W. hat keine Weltstruktur: Verhältnis von Stille und Welt??
4. Hyletische Reduktion als Ent-Objektivierung! Vgl. Integration!!

| Merkzettel 11a
1. Geburt – Tod – Generation: Entstelltheiten der transzendentalen Subjek-
tivität, die keine transzendental korrespondierenden Bezüge haben.
2. Der phänomenale Charakter der Untäuschbarkeit der Selbsterfahrung ist
mundan nicht nur verträglich, sondern immer auch zusammen mit dem
Bewußtsein der Kontingenz.
M. a. W. die transzendentale „Seins“-Apodiktizität (von Husserls
ontologisierender Mißdeutung befreit) ist in der mundanen Erkenntnis-
apodiktizität „entstellt“.

| Ist Schlaf eine Handlung (Tätigkeit)? Analyse der Handlung! Abgrenzung 12a
gegen unbewußtes Tun. Handeln ist zweckhaft und zweckgemäßes Tun.
Handeln ist Absicht (Vorhabe, Zweck) = Verwirklichung. Schlaf offenbar
dann keine Handlung; weil „unbewußt“. „Bewußt“? Wachsein. Ist Wachsein
eine Handlung? Offenbar nicht! Etwa ein „Zustand“. Dies die gemeinhinnige
Auffassung. These: Wachsein ist kein Zustand, sondern Worin aller Zuständ-
lichkeit. (Problem der Zustände, die durch Schlaf und Wachen hindurchge-
hen: Kranksein!) – Wachsein und Schlafen: Grundweisen unseres Seins.
Wachsein (gegenüber z. B. Kranksein) ein Sein anderer Art als zuständliches
Sein. („Schlafen“ hat die Verbalform wie Essen, Spazierengehen u. ä und ist
| doch von Grund auf verschieden.) 12b
1. Wachsein und Ich (Wachheit) als Bedingung der Möglichkeit des Ich als
Polarisierungszentrum von Aktionen und Affektionen.
2. Wachheit als Weltoffenheit. These: wir sind nicht weltoffen, weil wir
Bewußtsein von weltlichen Gegenständen haben, sondern wir haben
Bewußtsein von Gegenständen, weil wir weltoffen sind.

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13a | Amphibolie der Reflexionsbegriffe „Innen” und „Außen“:
1. Mundanes „Innen“: jemeinige Innerlichkeit.

14a | Merkzettel
1. Selbstapperzeption und Selbstbewußtsein.
Die traditionelle Theorie des Selbstbewußtseins! Selbstapperzeption
kein Selbstbewußtsein, sondern konstituierendes Bewußtsein, welches
das existente Selbst konstituiert.
2. Integration: anblickendes Subjekt und angeblicktes Objekt. Bewußtsein
und Sein. Die konstitutive Problematik nicht Subjekt-Objektproblema-
tik.
3. Anmerkung in „Vergegenwärtigung und Bild II“: die Weltganzheit ist
weder potentiell noch aktual unendlich. Die physikalisch-mathemati-
sche Idealisierung. Die Weltweite der Gleichzeitigkeit.
14b 4. | “Urströmen“? Warum Vorgang. Zeit als Altern. Bedingung von
Vorgang und Ruhe. Zeit und Bewegung. Bewegtheitscharakter der
Zeit: Schwingungen.
5. Wachheit: Bedingung der Möglichkeit der hyletischen Daten-Reduktion
– ist z. B. Stille. Laut und Stille.

15a | Merkzettel
1. Die Reduktion als „ontische“ ist in der Gestalt der Rückleitung auf das
apodiktische „Ich bin“ schon verfallen dem „transzendentalen Schein“.
Meontische Restitution der phänomenologischen Reduktion: „Absolu-
tion“ (Entnichtung des sich selbst entnichtenden Weltursprungs).
*
2. Erfahren ist ein „Seinsverhältnis“; Konstituieren ist kein Seinsverhält-
nis; das mundane Erfahren ist entstelltes Konstituieren; m. a. W. die
meontische Konstitution ist entstellt zur ontischen Erfahrung. (Dies
fundamental für das
15b | Verhältnis einer aktintentionalen Auslegung zur konstitutiven Frage-
stellung vgl. „Vergegenwärtigung und Bild“!)
*
3. Gegen Husserls Schlafanalyse: Schlaf ist keine Pause der Konstitution;
Welt ist nicht „Wachprodukt“. Gerade am Problem des Schlafes kann die
Aporie entwickelt werden, daß das zugängliche Erfahrungsleben nicht
mit dem eigentlich konstituierenden verwechselt werden darf.
*
4. Die mannigfachen Modi des Weltbewußtseins als Einbegriffsbewußt-
sein (einbegreifend das „Subjekt“ in die Welt). Z. B. Analyse der „Wirk-

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lichkeit“, „Gegenwart“ als Horizont, in dem Subjekt-Objekt-Korrelation
sich hält.

1. | Ich als Wachheit und Ich als Aktivität: dies eine Fundamentalunter- 16a
scheidung.
2. Zugangsbewußtsein a) entstelltes konstituierendes Bewußtsein, b) auch
konstitutiv genommen: Zugangsbewußtsein.
3. Wirklichkeit nicht primär ein Korrelat thetischer Aktcharaktere, sondern
ein allen Akten und ihren Korrelaten umgriffig-vorgängiger Horizont.
Wirklichkeit: ein M e d i u m.
4. Alle Selbstapperzeptionskonstitution ist Konstitution eines Mediums, in
dem sich Konstitution von Gegenständen und subjektiven Charakteren
hält.
Konstitution eine „Atmosphäre“

1. | Jede seiende, anomale Subjektivität hat notwendig Welt. Sie könnte 17a
gar nicht für mich anomal Anderer sein, wenn sie nicht in sich Welt
konstituiert hätte.
2. Man glaubt sehr kritisch zu sein, wenn man der Welt nachgeht, nach den
Weisen der Gegebenheit für uns oder mich; und sieht nicht, daß das Für-
mich- resp. Für-uns-Sein der Welt das Ansichsein der Welt voraussetzt.

| Neutralisierung und Vergegenwärtigung: Vergegenwärtigung kein Bild mit 18a


thetischem Charakter. Erinnerungsglaube ist kein thetischer Charakter am
Erinnerungsbild. Sondern die Horizontalität, die für jede Vergegenwärtigung
Boden ist, bestimmt in sich die thetische Weise des Vollzugs. Neutralisierung
einer Erinnerung: Abtrennbarkeit von Stellungnahme ist nur Neutralisierung
des gegenwärtigen Mitglaubens. – Der „Als-ob“ Charakter der Vergegenwär-
tigung und die Grade der Versunkenheit. Der Vergegenwärtigungsglaube ist
kein thetischer Vollzug des aktuellen vergegenwärtigenden Ich, sondern ist
vergegenwärtigter Glaube. Phantasie ist phantasierter Glaube: nicht neutra-
lisierter, ist Phantasie von Urdoxa. Phantasie ist Verhalten zu Möglichkeit,
nicht neutralisiertes Verhalten zur Wirklichkeit.
| Neutralität als „qualitative Modifikation“. Problem des thetischen Cha- 18b
rakters. Die isolierende Analyse desselben! Wirklichkeit und wirklicher
Gegenstand: konstitutiv ist Wirklichkeit nicht Allheitszusammenhang wirk-
licher Gegenstände. Der Ausnahmecharakter der Neutralisierung: aus dem
lebendigen Zusammenhang objektivierenden Lebens heraus vollzieht sich
Neutralisierung. Totale Neutralisierung widersinnig. – Neutralisierung nur
bei Gegenwärtigung. 1) Doxische Akte, 2) nichtdoxische. Neutralisierung
und darstellende Intention. Neutralisiert wird die Apperzeption: die Ver-

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wandlung der gesetzten Apperzeption in „Meinung“ (Indifferenz). Neutrali-
sierbar: Abtrennbarkeit von Stellungnahmen, Antizipationen usw. Unneutra-
lisierbar: die hyletische Konstitution; diese ist noch nicht objektiviert; also
neutralisiert nur die Transzendentsetzung der Apperzeption.

19a 1. | Erfahrung nicht = Konstitution, sondern gegenläufig!!!


2. Die Objektivierung, die das theoretische Identitätsinteresse vollzieht, ist
zugleich auch Objektivierung der „Relativitäten“ (der Situationen).

20a | Ausführung über „Anthropologismus“. Der „schlechte Idealismus“: Verab-


solutierung des Menschen! Der Mensch ist ebenso wie die Gegenstände
seiner Erfahrung Produkt einer Konstitution.
Die Aufhellung der Schwierigkeit des Anthropologismus ist in der Durch-
leuchtung des Phänomens der Vorgegebenheit der Welt zu suchen. Weil die
transzendentale Subjektivität bereits immer die Selbstobjektivation hinter
sich hat, ist es schwer, sie in ihrer Reinheit zu fassen. –
„Phänomenologie“ eine Handlung der Menschen?
21a 1. | Die Descartes’sche Haltung in der Phänomenologie keine „beruhigte“.
Vielmehr die unberuhigteste: die nicht auf der Apodiktizität der Selbster-
fahrung insistiert, sondern diese durchbricht zur transzendentalen Apo-
diktizität.
2. Die phänomenologische Reduktion eröffnet erst die Dimension der Phi-
losophie.
3. Keine Subjektivierung!
4. Keine Hinwendung zum Sein des Seienden.
5. Ist in Geltung-Haben überhaupt die Weise, wie wir dem Sein der
Welt begegnen?
6. Wir verlieren nicht die Welt, sondern überwinden sie.
7. Die Gegenwart der Reduktion nicht Gegenwart in der Zeit. Gefahr der
Übertragung der konstituierten Subjektivität auf die transzendentale.
8. Gegenstand korrelativ dem geb‹enden› Bewußtsein zu betrachten ist
noch lange nicht Phänomenologie.

22a | Merkzettel
1. Der Dogmatismus ist mit der phänomenologischen Reduktion zwar
sachlich überwunden: die Sphäre des transzendentalen Seins ist freige-
legt; aber noch nicht methodologisch überwunden: die transzendentale
Sphäre wird in einer naiven Weise als „seiend“ angesetzt.
2. Wie verhält sich die intentionale Geltungsfundierung zu den entgegen-
gesetzten ‹bricht ab›

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.
Reihe XXIII:6
| Zu unterscheiden: Gedanke (und seine Identität) – und die Objektivation des XXIII/1a
Gedankens im Satz.
1. Frage nach der Seinsart des Gedankens.
2. Frage nach der Seinsart des Satzes.

| III. Meditation XXIII/2a


57 (S. 103)
Die Unterscheidung von Gegenständen schlechthin und gegenständlichen
Sinnen ist unklar. Inwiefern wird mit der Epoché hinsichtlich der Weltexis-
tenz nicht der Unterschied „seiender“ und nichtseiender (bloß vermeinter)
Gegenstände aufgehoben?
Die Gefahr eines Mißverständnisses liegt hier in der Richtung, daß
„gegenständliches Sein“ aufgefaßt wird als „bloß-intentionales“ Objekt (à
la Ingarden).
Der wirkliche – für das welthafte Ich – Gegenstand zeigt sich konstitutiv
als Resultat bewährender Erlebnisse; aber auch der „bloß vermeinte“
| / Gegenstand ist nicht bloß ein transzendental-vermeinter, sondern erfährt XXIII/2b
auch eine Verweltlichung als Meinung des welthaften Subjekts, als mensch-
lich vermeinter (als Einbildung u. dgl.).

6 Vgl. Z-VI LVI/1a-6b und Z-X 18a–b, welche die die Umarbeitung leitende Auslegung der
„Cartesianischen Meditationen“ zusammenfassen. Wie die Notizen dieser Reihe mit dem Text
in Hua verknüpft sind, ist unten in den Anmerkungen zu den entsprechenden Notizen erklärt.
In allen Fällen sind in diesem Zusammenhang die entsprechenden ausgearbeiteten Umarbei-
tungstexte zu den „Cartesianischen Meditationen“ in VI. CM/2 (Texte von Nr. 3 bis 17, S. 134–
275) zu studieren.
7 XXIII/2 bis /11 (außer /8) wurden von Fink mit doppelt unterstrichenen Ziffern 5 bis 13

versehen, die ähnlich wie die Aufschrift des Umschlags dieser Reihe (siehe die Beschreibung)
mit dickem Blaustift geschrieben wurden. Überdies entsprechen diese Ziffern genau den
ebenfalls mit Blaustift geschriebenen Ziffern, mit denen Fink bestimmte Teile des Manu-
skripts HA M II 5 I markierte. M II 5 I ist ein maschinenengeschriebener Text der Umarbeitung
Husserls vom Frühling 1929 (vgl. die Beschreibung dieses Manuskripts in VI. CM/2, S. 301f.).
Notizen, die den von 1 bis 4 markierten Stellen in M II 5 I entsprechen würden, fehlen. Die
vier Ziffern markieren Stellen, die den folgenden Stellen des Textes in Hua I entsprechen: 1
– der Anfang von der II. Meditation § 12, S. 66 (vgl. VI. CM/2, Text Nr. 4, und S. 312); 2 – die
letzte Zeile vor § 19, S. 81 (kein entsprechender Text in VI. CM/2); 3 – der erste Satz von
§ 19, S. 81 (kein entsprechender Text in VI. CM/2); 4 – die Mitte des letzten Satzes des § 22,
S. 91 (vgl. VI. CM/2, Text Nr. 5 und S. 313). Der Ziffer 5 hier in XXIII/2a entspricht die Ziffer
5 auf S. 103 in M II 5 I, d. h. CM-Hua I, die ersten Zeilen des § 23, S. 91 (vgl. VI.CM/2, Text
Nr. 5).

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XXIII/3a | 68 (S. 125 Beilage)
Einführung des Titels „Monade“ für das konkrete transzendentale Ego (nicht
nur Erlebnisstrom, sondern Totalität des aktuellen und potenziellen, akthaf-
ten und horizonthaften, erlebnistätigen und hex‹ischen› Ichbewußtseins.)

XXIII/4a | 79 (S. 126)


Husserls These: Phänomenologie der Selbstkonstitution = Phänomenologie
überhaupt, ist einzuschränken:
Die Hexis im weitesten Sinn, Habitualität als Konstitution des im
Lauf befindlichen Ichs – nicht ursprünglichere Selbstkonstitution des
transzendentalen Selbst in der transzendentalen Urzeitigung, noch der
Stromganzheitstrukturen; auch nicht der Selbsthaftigkeit des welthaften
„Ich“. (Konstitution der „Menschlichkeit“.)

XXIII/5a | 810 (S. 126) zu § 34: Prinzipielle Ausgestaltung der phänomenologischen


Methode.
Gedankengang des § ist: die Auslegung des Ego wird erst rational, wenn ich
die Wesensgesetzmäßigkeit eines Ego überhaupt herausstelle. –
Die transzendentale Situation der transzendentalen Wesenserkenntnis. Die
Naivität des „Wesens“. Stilstrukturen des perfekten transzendentalen Ego.

XXIII/6a | 911 (S. 141) ff. bis Schluß des § – kritisch: Verengung des Begriffs der stati-
schen Phänomenologie auf die Analytik der welthabenden (präsenzialen)
transzendentalen Subjektivität. Dergegenüber wird auf die Genesis des Ego
hingewiesen, in welche die konstitutiven Systeme eingelagert sind. Die
„welthabende Subjektivität“ erscheint so als eine genetische Stufe, einge-
gliedert in die universale Gesetzmäßigkeit der Genesis. Die anfangende Phä-
nomenologie scheint so naiv zu sein, daß sie die genetische Stufe der Welt-
habe verabsolutiert in ihren Wesensaussagen, nicht sieht, daß dies nur eine
relative Wesenssituation ist, die in das Wesenssystem der Genesis als das
„allgemeinere“ eingegliedert werden müsse. – Dies eine verhängnis-

8 Zu 6; hier entspricht die 6 auf S. 125 in M II 5 I nach dem zweiten Absatz des Paragraphen,

der als „Beilage“ bezeichnet wird, der entsprechenden Stelle in CM-Hua I, § 33 nach Zeile
28 (vgl. VI. CM/2, Text Nr. 10 und S. 315 sowie Text Nr. 9 und S. 314f.).
9 Zu 7; hier entspricht die 7 auf S. 126 in M II 5 I neben der vorletzten Zeile des § 33 der

entsprechenden Stelle in CM-Hua I, S. 102/33 (vgl. VI. CM/2, Text Nr. 10 sowie Text Nr. 9).
10 Zu 8; hier entspricht die 8 auf S. 126 in M II 5 I neben dem Titel des § 34 der entsprechenden

Stelle in CM-Hua I, § 34 (vgl. VI. CM/2, Text Nr. 11 und S. 315).


11 Zu 9; hier entspricht die 9 auf S. 141 in M II 5 I neben dem Anfang des letzten Absatzes

des § 37 der entsprechenden Stelle in CM-Hua I, S. 110/16 (vgl. VI. CM/2, Text Nr. 12 und
S. 315f.).

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| volle Auffassung, mit einem richtigen Kern – vgl. „Ideen“: die Denkbarkeit XXIII/6b
des „Weltuntergangs“.12 –
Das darf nicht zur Begriffsbildung der phänomenologischen Genesis führen
als des Gegensatzes zur statischen Analyse.
I. Statische Phänomenologie: 1. statische Analyse, 2. genetische Analyse.
II. Genesis der “Genesis”
“Kindheit”, “Anomalität” usw. selbst Wesensdepravationen der
statischen Phänomenologie.
Zunächst allerdings die “gegenwärtige” Subjektivität.
| 1013 (S. 146 b.) XXIII/7a
Die Bekanntheit der Welt nach den allgemeinsten Gegenstandstypen läßt
sich nicht einfach durch das Phänomen der Urstiftung erklären. Die passive
Genesis weist zurück, aber nicht auf eine „Gegenwart“, die Urstiftung
gewesen wäre. –
Die konstitutive Bedeutung der „Vorgegebenheit”
weder angeboren, noch aus der Erfahrung, sondern „Urassoziation“.
*
Das „entwickelte Ego“ Resultat einer assoziativen Genesis
| – oder vielmehr die assoziative Genesis nur laufende Weiterkonstitution im XXIII/7b
„entwickelten Ich“.
1. Stufe: das entwickelte Ego.
2. Reflexion auf die Stufenhaftigkeit des Ego: dies aber – eine Stufe
zu sein in der inneren Geschichte – ist ein zentrales Moment der
Selbstapperzeption. Die Vergangenheit darf nicht naiv gesetzt werden,
sondern ist ein gegenwärtiges Phänomen.

| (S. 149) § 40 und § 41 sind wegzulassen. XXIII/8a

| 1114 (S. 158) Als Anfang der V. Meditation. – Der Anschluß an die IV. Medi- XXIII/9a
tation kann durch die bisherige Exposition nicht geschaffen werden. Die
„Grenzen der Egologie“. Wie werden sie empfindlich? – Die universale
Wissensrechtfertigung vereinsamte mich als Menschen in die Einsamkeit der
Meditation. Die Selbstbesinnung führte zur Entdeckung des tiefsten Selbst:
des transzendentalen Ego. Die Unbestimmtheit des transzendentalen Ego ist
zu Anfang betont worden. Welt als „Phänomen“ im transzendentalen Leben:

12 Hua III/1, § 49.


13 Zu 10; hier entspricht die 10 auf S. 146b in M II 5 I zwischen der letzten Zeile des § 38 und
dem Titel des § 39 der entsprechenden Stelle in CM-Hua I, S. 113/27–28 (vgl. VI. CM/2,
Text Nr. 12 und S. 315f).
14 Zu 11; hier entspricht die 11 auf S. 158 in M II 5 I dem ersten Absatz des § 42, d. h. CM-Hua

I, S. 121/6 (vgl. VI. CM/2, Text Nr. 13 und Text Nr. 14 sowie S. 316).

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u. A. ich, der Mensch ebenfalls Phänomen, die anderen Menschen ebenfalls
Phänomene. Das „weltgläubige Ich“ steht aber in einer intentionalen Bezie-
hung zu seinen Mitmenschen. Gehört diese ins Phänomen, entspricht dieser
keine transzendentale Beziehung? Doppeldeutigkeit der Möglichkeit der
„Reduktion“ am Anderen?

XXIII/9b | Ist Phänomenologie solipsistische Egologie? Will sie nicht Wissenschaft


sein, Wissenschaft der Selbstbesinnung, findet diese Resultate, jeder jeweils
in seiner Selbstbesinnung, und ist Verständigung nur aus der Rückkehr in die
natürliche Einstellung möglich usw?
(bis S. 158, 2. Zeile von unten)15

XXIII/10a | 1216 (S. 161, unmittelbar vor § 43) Inwiefern ist aber eine Auslegung der
konstituierenden Intentionalität der Fremderfahrung der rechte Ansatz für
die Frage der Weite des transzendentalen Seinsfeldes ‹?›
Nicht die intentionale Auslegung der Erfahrungsweise des naiven-weltgläu-
bigen Ich vom Anderen, sondern die Weise, wie sich der Andere in mir als
t r a n s z e n d e n t a l e s Ego aufbaut.
Damit nicht erst Ansatz eines „isolierten Ich“ und Frage, wie es zu einer
Gemeinschaft kommt. Das Versetztsein in ein Miteinander ist lediglich der
Ausgang der phänomenologischen Rückfrage.
XXIII/10b | Contra Heideggers Polemik gegen die „Einfühlung“.17
Das „Mitsein“ ist als solches gerade das Fragliche.
(Wenn man neuerdings versucht hat, die Problematik der Einfühlung als ein
falsch gestelltes Problem zu diskreditieren mit dem Hinweis auf „Mitsein“,
so ist zu sagen, daß die Antwort der Kritiker nur eine Umschreibung der
Ausgangssituation, nicht aber eine Antwort auf das Problem ist.)
Exposition des Problems und die urmodale Bevorzugung des präsen-
ten Anderen.

XXIII/11a | 1318 (S. 240 ff.) (Neuausarbeitung!)

XXIII/12a | Zu S. 238. Der Anfang des § 56 ist noch als Schluß des § 55 zu nehmen,
bis S. 240, 2. Zeile von oben.19

15 D. h. bis zum Anfang des nächsten Absatzes (= CM-Hua I, 121/19).


16 Zu 12; hier entspricht die 12 auf S. 161 in M II 5 I neben dem Titel des § 43 der entsprechenden
Stelle in CM-Hua I, S. 122/33–34 (vgl. VI. CM/2, Text Nr 13 und Text Nr. 14 sowie S. 316).
17 Vgl. Z-XV 42a–b.

18 Zu 13; hier entspricht die 13 auf S. 240 in M II 5 I am Anfang des zweiten Absatzes des

§ 56 der entsprechenden Stelle in CM-Hua I, S. 157/21 (vgl. VI. CM/2, Text Nr. 17 und S. 317).
19 D. h. vom Anfang des § 56 bis zu der Stelle, die mit 13 markiert ist.

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| Der persönliche Charakter eines Ich nicht nur die Haftung von Überzeu- XXIII/13a
gungen, Meinungen, Stellungnahmen usw., sondern auch Urstiftungen des
Entschiedenseins für.
Unterschied: von sich abgewandte und reflexive zugewandte Habitualisie-
rung!!!
Damit ist aber lediglich die ständig noch im Lauf befindliche Habituali-
sierung des transzendentalen Ich analysiert und noch nicht die ursprüng-
lichere Selbst-konstitution, die des transzendentalen Stromes selbst und
der eigenen Ganzheitsstrukturen; ferner auch nicht die Konstitution des
welthaften Ich und seines welthaften Charakters.
| V. Meditation Bis § 56 (S. 238)20 keine Ausführungen. XXIII/14a

Die folgenden Ausführungen müssen aporetisch und konkreter entwickelt
werden, sie drängen zu einer Phänomenologie der höheren Stufe, der inten-
tionalen Abwandlungen.

| Phänomenologie der Phänomenologie: Möglichkeit der Phänomenolo- XXIII/15a


gie als einer weltauftretenden menschlichen Wissenschaft.
Reflexionen über die phänomenologische Reduktion. Stufengang von
Reduktionen. – Stufengang von Naivitäten. Die Iterabilität als transzenden-
tales Urfaktum.

| Die ersten 5 Meditationen machen einen ersten Begriff von Phäno- XXIII/16a
menologie aus: sie sind a) statisch (statisch – und „genetisch“), b) naiv
wesensmäßig, eidetisch. (Unterschied von Faktum und Wesen), c) urmodal:
instinktiver Ausgang vom Urmodus, d) in der immanenten Zeit: d. h. sind
aktanalytisch, e) unreflektiert im methodischen Sinne.
Das zeigt eine Beschränktheit, die im Fortgang überwunden werden soll;
also Aufgabe: a) genetisch-konstruktiv, b) faktisch absolut, c) intentionale
Abwandlung, d) Urzeitigung, e) Phänomenologie der Phänomenologie.
*
| Der Anfang der V. Meditation ist unzureichend. Nicht Anknüpfung an XXIII/16b
den Einwand des Solipsismus, sondern –
Die V. Meditation ist wieder urmodal. Der gegenwärtige Andere, also
die Fremderfahrung.
Scheidung:
1. Phänomenologie oder Phänomenologie der urmodalen Formen der
konstituierenden Intentionalität
2. Phänomenologie oder Phänomenologie der intentionalen Abwandlun-
gen.

20 In M II 5 I beginnt der § 56 auf Seite 238.

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XXIII/17a | Die transzendentale Situation der transzendental-phänomenologischen
Wesenserkenntnis: die regressiv-statische Phänomenologie.
*
Wie verhält sich im Felde der transzendentalen Subjektivität „Faktum“ und
„Wesen“, empirische und eidetische Analyse?
XXIII/18a 1. | Ausschaltung aller Ausführungen über Verhältnis von Phänomenologie
und Psychologie.
2. Ad IV. Meditation: Die Selbstkonstitution auch als statische Phänome-
nologie des Selbst durchgeführt. Urmodus

XXIII/19a 1. | Die methodische Beschränktheit der Analysen der II., III., IV. Medita-
tion: Urmodus bevorzugt. Gegenstandskonstitution im Modus „gegen-
wärtiger Konstitution“. „Statische Phänomenologie“.
2. Später: Reflexion über die phänomenologische Reduktion, eine metho-
dische Mannigfaltigkeit von „Reduktionen“.
Sinn des „Methodischen“ (im phänomenologischen Verstande).
„Transzendentale Elementarlehre“.
(Phänomenologie der 1. Stufe).
„Transzendentale Methodenlehre“. Kritik der phänomenologischen
Erfahrung. Voraussetzungen. Der „Logos“.
(Phänomenologie 2. Stufe.)

XXIII/19b | Die intentionale Abwandlung und der Sinn des Vorranges des Urmodus.
(Verrückte, Anderer, u. s. f.)

XXIII/20a | Den § 59 (S. 251)21


in anderem Zusammenhang als „Nachmeditation“; daran anschließend die
„Nachmeditation“: transzendentale Phänomenologie und reine Innenpsy-
chologie.

XXIII/21a | Die Anomalien der „Fremderfahrung“ vielmehr die transzendentale


Theorie der Fremderfahrung.
1. Das aktuelle Fremderfahren: der gegenwärtige, präsente „Zeitgenosse“
(transzendentale Zeitgenossenschaft: Kompräsenz) als konstitutive
Grundlage weltlicher „Zeitgenossenschaft“.
2. Die „Potenzialitäten“; die nicht aktuell-gegebenen „Anderen“. a) die
zeitgenössischen Anderen; b) die überragenden zeitgenössischen Ande-
ren (Eltern – Kind); c) die nichtzeitgenössischen Anderen.

21 D. h. CM-Hua I, S. 163.

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| V. Meditation XXIII/22a
Diese hat nicht nur die prinzipielle Funktion, die zunächst „unbestimmte“
transzendentale Subjektivität voll zu entfalten zur transzendentalen Inter-
subjektivität, sondern ist ein fundamentales Stück einer Lehre von der
Konstitution des Weltcharakters der Subjektivität. (Phänomenologie der Ver-
endlichung!)
| Bei der V. Meditation: XXIII/23a
zu unterscheiden: das intentionale konstitutive Problem der Fremderfahrung;
von der transzendentalen Entfaltung der transzendentalen Intersubjektivität.
1. These: die weltliche Intersubjektivität ist im „Phänomen“, ist keines-
wegs transzendental gesetzt.
(Problem der Motivation für die transzendentale Setzung des
Andern: Mit-Reduktion.)

Reihe XXIV:
| Vorgegebenheit: fundamentaler Grundcharakter derselben ist das Welthaft- XXIV/1a
Sein von Subjekt und Objekt: das Seiende.
Nicht von der Theorie der Apperzeption aus.

1. | Iteration der Modalitäten XXIV/2a


2. Iteration der Reflexion
3. Iteration der Vergegenwärtigungen
4. Iteration der Repräsentation (Bild, Spiel usw.)

| Neutralität und Positionalität ist ein Unterschied des thetischen Charakters: XXIV/3a
„Inhalt“? entweder „phantasiert“, „bloß gedacht“! oder gegeben:
Vollzugsneutralität:
Zu unterscheiden die Vergegenständlichung durch Nominalisierung und das
Setzen der Wirklichkeitsfreiheit.
Eine Phantasie ist auch Setzen einer Wirklichkeitsfreiheit.
Ebenso ist auch die Neutralitätsmodifikation ein wirkliches Erlebnis und
somit ‹einer› Vergegenständlichung fähig.
Annahme wäre nach Usui22 eigentlich eine vergegenständlichte Neutralität.

| Merkzettel XXIV/4a
Die phänomenologische Begrifflichkeit: die meontische Natur derselben:
die inneren Spannungen zu dem ontisch-mundanen Wortsinn (und auch
ursprünglichen Sinn der Sprache).

22 Jisho Usui; vgl. Z-VIII 1, Anm. 1 (in Band 2).

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Z. B. die „Entdeckung“ gibt sich als Sichtbarwerdenlassen von etwas,
das schon vorher ist. Die phänomenologische Erfahrung „entdeckt“ nicht die
transzendentale Subjektivität, sie „produziert“ sie, (ontifiziert) sie.

XXIV/5a | Merkzettel
1. Die natürliche Einstellung ist kein historisches (historisch invariantes) Phä-
nomen. Die Explikation derselben beginnt mit dem noch undurchsichtigen
Vorgehen, die gegenwärtige Welthabe: die gegenwärtige Vorgegebenheit der
Welt auszulegen. Daß die Gegenwärtigkeit der so ausgelegten Gegenwart
keine in der Zeit verlaufende Gegenwart ist, sondern die erhabene Gegenwart
der transzendentalen Situation, zu welcher die Geschichte (Welt-Zeit) wie
auch die eigene Selbstapperzeption als einer Gegenwart qua Phänomen
gehört, kann am Anfang noch nicht deutlich gemacht werden.

XXIV/5b | 2. Entstellung und der transzendentale Schein: nicht nur auf der Endstufe der
Entstellung: dem Sein des Menschen in der Welt inmitten der Natur, finden
wir den echten und unechten transzendentalen Schein (echter transzendenta-
ler Schein ist z. B. Tod, Geburt, Ohnmächtigkeit, bloße Zugänglichkeit des
Erfahrens, Preisgegebenheit an die Natur, die kosmogonischen Auffassungen
usw.; unechter transzendentaler Schein ist die anthropologische, biologische,
soziologische Behandlung der Philosophie, das Ernstnehmen der Masken) –
sondern auf jeder konstitutiven Stufe finden wir den transzendentalen Schein,
insofern die Rückschleppung der konstituierten Stufe auf die konstituierende
(unechte Rücklage) statt hat. –

XXIV/6a | Hegel:
1. Sind Hegels „flüssige Begriffe“ (die er den „Gedanken“ entgegenstellt, vgl.
„Vorrede“)23 „Kategorien des Lebens“ („Existenzialien“)?
Nein, sondern meontische Begriffe. Hegels Begriff des „Lebens“ ist
wesentlich katabatisch: nicht weltbefangen, sondern die unbefangene Cha-
rakteristik als Bewegung der absoluten Vernunft. „Leben“ = Leben des
Geistes. Fürsichsein: primär eine absolute (meontische) Charakteristik. Bei
Hegel der Gegensatz von Ontisch-Meontisch homogenisiert, „versöhnt“:
katabatische Grundtendenz!!
XXIV/6b | 2. Thesis-Antithesis: Synthesis. Dieses „Schema“ ist streng abzuheben
gegen die ontische Mißgestalt desselben: die Sowohl-als-auch-Philosophie.
Die Synthesis hat grundsätzlich einen meontischen Sinn, keinen ontischen.
„Versöhnung“ (Vermittlung) ist bei Hegel meontisch.

23 Vgl. PhG, S. 31.

316 Z-XVI

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Z-XVII

Beschreibung:

Die Mappe trägt auf dem Umschlag die Aufschrift: „Disposition zu Dessau-Vortrag
u. a.“. Die in diese Mappe eingetragenen 20 karierten Blätter gehören zu einem
Schreibblock, von dem die Hälfte der Blätter (7–16) noch nicht herausgerissen
wurde. Das einzige Datum findet sich auf Notiz 1b: 15.11.1935, d. h. zwei Tage nach
dem am 13. November 1935 gehaltenen Vortrag Martin Heideggers „Vom Ursprung
des Kunstwerks“ (vgl. 19a). Die Notizen 14a, 17a und 20a skizzieren ausdrücklich
und auch 15a–b unverkennbar Gedanken zum Dessauer Vortrag (vgl. die Beschrei-
bung zu Z‑XVI).

Text:

| Vom Ursprung der Kunstwerke? 1a


Was ist ein Kunstwerk. Ein Seiendes welcher Art. Verstehen wir den
Seinscharakter dieses Seienden a priori? Zeug und Kunstwerk? Formale
Selbigkeit als πράγματα.
Aber ist das πράττειν nicht ein im Wesen anderes bei dem Werk der
künstlerischen Formung als bei der Verfertigung von Werkzeugen und
Zeuggebilden. Kunst entspringt der künstlerischen Existenz, die eine Form
des Welterkennens ist. Aber ein Erkennen schwer zu bezeichnender Art. Vgl.
die Lebenserfahrung des alten Mannes, das Herzwissen der Liebenden, ein
im Sein stehendes Verstehen, ein Wissen um die Dinge.
Kunst als „intuitus originarius“: schaffendes Erkennen??
„Zeitlosigkeit des Kunstwerkes“ = dies ein verhängnisvoller Irrtum.
Kunst =
| die Versinnlichung der Möglichkeit. – Kunst und Phantasie?? – 1b
‡ These: das in der Kunst zum „Werk“ gewordene Erkennen der Welt und
des Lebens und der freien Möglichkeiten ist dem philosophischen Erkennen
nicht gleichlaufend, sondern entgegengesetzt. Kunst ist zutiefst „Rühmen“
des Seienden. Kunst ist das rühmende Inmittensein im Kreis der Dinge.
Kunst ist die durch den Menschen als Mittler hindurchziehende ontische
Selbstreflexion der Dinge. Die Dinge wesen durch den Menschen.
15.11.1935
‡ ‹Neben diesem Paragraphen ein doppelter vertikaler Strich.›

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.
2a | 1. Die reflexionsphilosophische „Versponnenheit“ Husserls: hinsichtlich des
Begriffs der „Apodiktizität“.
„Apodiktizität des Ich“ in der Zweideutigkeit eines ontischen oder
erkenntnisdignitiven Begriffs gebraucht.
Husserls Argument für die Unmöglichkeit des Nichtseins des Ich: wenn
das Nichtsein seiner selbst vom Ego gedacht wird, so ist es doch als das diese
Möglichkeit denkende Ich vorausgesetzt und existent.
Hier liegt eine Ungenauigkeit vor, weil die Unterscheidung von Ich der
vergegenwärtigten Welt und vergegenwärtigtem Ich nicht beachtet wird.

3a | Vom Wesen der Einsamkeit:


1. Einsamkeit keine Stimmung, also nicht die Melancholie.
2. Einsamkeit keine Haltung des Ich des gewöhnlichen Selbstverständnis-
ses.
3. Einsamkeit keine schon existente Seinsweise, also keine charakterologi-
sche Disposition.
4. Einsamkeit nicht Alleinsein.
5. Einsamkeit nicht Unbezüglichkeit zu anderen („Einsamkeit“ des Ster-
benden zumeist keine echte Einsamkeit).
6. Einsamkeit ist Selbstbegegnung in Selbsterkenntnis, ist ausdrückli-
ches Selbstsein.

4a | Was ist das Wesen des philosophierenden Lebens? Um was geht es dem
Menschen, der philosophiert?
Um die Selbstbemächtigung des eigenen Seins.
Das Standhalten im Wehen der Zeit.
*
Wir sind nur im Wind der Welt ein Rauschen, das vorübergleitet an
Gottes Ohr – nur halb gehört – mit allen unseren Seufzern, Klagen und
schmerzersticktem Weinen – unserer Angst, dem tierisch-dunkeln Wirbel
unserer Lust, dem Stammeln unserer Brunst, dem letzten Todesröcheln – nur
halbgehörtes Rauschen, das vorübergleitet an Gottes Ohr im Wind der Welt.
*
4b | Wir sind ein Rauschen
Wir sind nur im Wind der Welt
ein leises Rauschen, das vorüberweht
an Gottes Ohr – nur halb gehört –
mit unseren Seufzern, unserm Klagen,
dem schmerzerstickten Weinen banger Nächte,
den tierisch-dumpfen Lauten unserer Lust,
dem Stammeln namenloser Angst,
dem einsam-qualvoll letzten Todesröcheln,

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.
nur halbgehörtes Rauschen, das vorüberweht
an Gottes Ohr im Wind der Welt.
*

| Passendes Wort für den existenzialen Begriff von Welt?? Jedes Leben 5a
hat seine Umwelt, seinen Lebensraum, seine Sphäre, ein Ganzes von Sin-
neszusammenhängen, sein Medium, seine Aura, seinen Kreis, seinen „Licht-
schein“.
„Welt“: kollektive Lebenssphäre: Welt des Normalen, des Kranken, des
Mannes, der Frau, des Kindes, des Alters, des Arbeiters, des Künstlers.
*
Inbegriff des Belangvollen, aber auch in jeder Welt gibt es „Belanglo-
ses“, das als Material, als „Natur“ da ist.
*
Die „existenziale“ Welt ist jeweils eine Art der Vorentscheidung über
das „Seiende”

| Seiendes und Gegenstand. 5b


Das Gegenstand-Sein ist ein erkenntnis-relativer Charakter des Seien-
den, macht sein „Sein“ aber nicht aus.
Gegenstand = Seiendes im Wie der Erkanntheit.
Das „Seiende für uns“ = Gegenstand. Seiendes an sich? Dies kein
Seiendes hinter dem „Gegenstand“.
Gegenstand = ein Sinnbegriff.
Seiendes und Gegenstand:
1. Seiendes als Seiendes an sich,
Gegenstand als Seiendes für uns.
2. Seiendes als Oberbegriff über Subjekt und Objekt,
Gegenstand = Objekt.
3. Seiendes = Wirkliches,
Gegenstand = Wirkliches oder Unwirkliches.

1. | Kritik an Husserls Theorie der Fremderfahrung: die reduplikative 6a


Erfahrung ist nur ein Moment, und nicht einmal ein zentrales an
der Fremderfahrung.
Husserls These: Fremderfahrung = intentionale Abwandlung der Selbst-
erfahrung.
*
2. „Apologie des Lebens“. (Das pathische Weltbild, Kampf gegen die
Selbstverdecktheit des Lebens: Staat, Institutionen, Idealismus (blinde
Größe); der Mensch verhält sich zu seinem Sein, zu seiner Faktizität,

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.
zu seinen Möglichkeiten, seinem Tod, seinem Geschlecht (Problem
der Scham).)
*

7a | Die philosophische Situation: der Einsturz der „Vernunft“-Organisation


des abendländischen Menschen. Vernunft als Kulturbegriff: „praktische
Vernunft“, Säkularisation der christlichen Werthaltungen. Realismus der
Existenz, das Mißtrauen gegen den „Idealismus“. – Die Philosophie muß
heute ihre Scheinherrschaft aufgeben, um mitten im Leben ihren βίος
ursprünglich zu verwirklichen.
Der pathische Begriff der Philosophie: praktische Vernunft als „Vernunft
am Werk“. – Philosophieren eine naturmächtige Leidenschaft des Menschen:
eine Exzentrizität des Lebens.
Der geistesgeschichtliche Überblick über die gegenwärtige Situation
primitiv, weil er die Situation der Philosophie selbst nicht trifft: nur
ihre Erscheinung.

7b | Die Wendung zum Menschen, als Größe und Gefahr der neuzeitlichen Phi-
losophie: a) als Größe = Entdeckung des Menschen als einer nichtnaturalen
Wirklichkeit, als Wovon-aus alles metaphysischen Fragens; b) als Gefahr =
Verengung der philosophischen Problematik ins Anthropologische, Verlust
der kosmologischen Weite der philosophischen Frage.
Die Stufen der Wendung zum Menschen:
1. die subjektive Wendung der abendländlischen Metaphysik = Descartes
– Leibniz – Kant,
2. die subjektive Wendung zur faktischen Konkretion des Menschen
= Nietzsche – Kierkegaard – Dilthey,
3. Existenzphilosophie – Soziologie – usw.

8a | Die drei Stufen bedeuten ein Herabsinken des philosophischen Niveaus in


Hinsicht auf den Begriff der Vernunft.
Begriff der Transzendentalphilosophie: Frage nach dem Sein als ens
tamquam verum.

Sein und Vernunft: das ist das Problem der Transzendentalphilosophie. Sein
und Mensch = dies eine äquivalente, aber gefährliche Formel.
Die Phänomenologie begreift den Zusammenhang von ens und verum
als ein Problem der Konstitution.
Damit ist keinem optimistischen Vernunftglauben das Wort geredet, keine
„weltanschauliche“ These über die Vernünftigkeit von Welt und Leben auf-

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gestellt, sondern die Welt in ihrer Seinsstruktur in die Tiefe des Lebens hin-
eingenommen.
| Die Phänomenologie ist Erforschung der Vernünftigkeit des Seins, ist Tran- 8b
szendentalphilosophie.
Etwas anderes ist jeweils das philosophische Weltbild der Denker.
Husserls Auffassung von der metaphysischen Teleologie des Seienden resp.
des Systems der universalen Seinskonstitution auf das „Gute“ hin, ist ein
persönliches Glaubensbekenntnis. –

| Philosophie als vor-kulturelle Daseinsmacht, als Dominante einer Existenz- 9a


weise, als „βίος“ zu erleben – das ist die Haltung, die allein den Geist inmitten
einer geistfeindlichen Umwelt auf sich selbst stellt.
*
Die Symbiosen von Religion, Weltstimmungen, Kulturströmungen, Wert-
haltungen aller Art und der Philosophie müssen endlich aufgelöst und
eine total-philosophische Existenzweise als menschliches Wagnis unternom-
men werden.
*
Philosophieren = versucherisch leben.
Die „existenzielle Epoché“!! Der Nihilismus als Passage, nicht Standort
philosophischer Existenz.
*

| Descartes’ Quellpunkt der beiden Motive: 1) Wendung zum Menschen 10a


(Anthropozentrik); 2) Tendenz zur Wissenschaftlichkeit (die Philosophie
fällt aus der Botmäßigkeit der Theologie in die Botmäßigkeit der naturalisti-
schen „Wissenschaft“. [Descartes als „Revolte der derivierten Wissenschaft
gegen die Philosophie“!!]
[Ursprung der „scientia nova“ vor Descartes!!]
Die beiden Descartes’schen Tendenzen treten in der Folgezeit ausein-
ander hinsichtlich der Thematik des Geistes oder des Subjekts: a) Psycholo-
gie unter der Leitidee der naturalistischen Wissenschaft scheitert; b) Thema-
tisierung des „Subjektiven“ in den großen idealistischen Systemen (Kant –
Fichte – Hegel) nur spekulativ, d. h. unter Verzicht auf Wissenschaftlichkeit
im Sinne der naturalistischen „Wissenschaft“.

| Bei der Analyse der wirklichen und möglichen Erfahrung zeigt sich, daß die 11a
Zeit als wirkliche das Feld der möglichen Dinge ist. Zeit ist nicht fingierbar.

| Zur historischen Skizze der Begriffe der „Transzendentalien“ vgl. Aristote- 12a
les „Metaphysik“. 10. Buch (I).

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Z. B. in der Übersetzung S. 247. „Daß aber das Eins und das Seiende in
gewissem Sinne dasselbe bedeutet …“ „ὃτι δέ ταὐτό σημαίνει πως τὸ ἕν
καὶ τὸ ὄν...“1

Wie steht die Husserlsche Idee einer „formalen Ontologie“ (als der Lehre
von den durch Formalisierung gewonnenen „Allgemeinheiten“) zur Aristo-
telischen Auffassung von ὄν und ἕν???
Aristoteles’ Ontologie ist doch keine „formale Ontologie“ im Husserl-
schen Sinne.
*

13a | Die Einstellung auf das Seiende ist „abgeblendet“ gegen die subjektiven
korrelativen Mannigfaltigkeiten. (Benommenheit vom Seienden.)
Die phänomenologische Einstellung Husserls verblaßt die Fülle des Seien-
den zu bloßen „Gegenständen“.
(Die Gefahr der „Reflexionsphilosophie“: die Äquivalentsetzung von Gegen-
stand und Seiendem.)

14a | Im Dessau-Vortrag auch eingehen auf die Gefahr der Phänomenologie:


die reflexionsphilosophische Subjektivierung des Seienden. Aufgabe der
Ontologie ist, immer wieder den Ansatz der Rückfrage in die Konstitution
zu überholen. „Leitfaden“ nicht nur etwas Vorläufiges, sondern das Gegenge-
wicht gegen die konstitutive Aufklärungstendenz. Das Spannungsverhältnis
von Ontologie und Ontogonie.
[Vgl. den spekulativen Begriff des „Werdens“ bei Hegel.]

15a | Disposition:
Einleitung: Kant und Phänomenologie? = das gemeinsame Problem: Erfor-
schung des Zusammenhangs der Transzendentalien.
Was kann eine solche Arbeit uns heute bedeuten? Gewiß gibt es vor-
dringliche Arbeiten unserer Existenzdeutung. Aber die zeitlose Philosophie?
Philosophie und Zeit: Geschichte der Kultur und die Geschichte der Philoso-
phie. Der „ewige Mensch“.
Kants Philosophie soll hier keine Deutung erfahren: lediglich das Prob-
lem herausgestellt werden.
Somit die Gliederung:
I. Das Problem der Metaphysik: ihre Grundbegriffe: die antike Seinsin-
terpretation und die Transzendentalien: ens – unum (Aristoteles).

1 Aristoteles Metaphysik 1054a. Die Übersetzung stammt von Eugen Rolfes, Leipzig: Felix

Meiner 1921, S. 247.

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II. Seiendes und Sein.
III. Die vorkantische Metaphysik und Kants radikale Fragestellung: ens
und verum: Intelligibilität des Seins.
Kants Grundlegung der Metaphysik.

| Kants Neugründung der Metaphysik – auf dem Boden der rationalistischen 15b
Tradition, d. h. der apriorischen Seinsinterpretation. Sein und Vernunft.
Die spekulative Fortführung des kantischen Ansatzes im „Deutschen Idealis-
mus“.
Der Aufstand der Wissenschaften: die Proklamation ihrer Mündigkeit.
(Rationalismus und Empirismus, die abendländische Metaphysik keine Selb-
ständigkeit).
Der Verfall der Philosophie: Naturalismus und Historismus. –
Zugleich damit eine radikale Problemverlagerung innerhalb der Philosophie
selbst: Nietzsche.
Die Veräußerlichung der „Vernunft“ im Kulturoptimismus, die Erstar-
rung der Vernunft im
| Schema der „Ordnung“: die Undurchsichtigkeit der spekulativen Vernunft 16a
im Zeitalter einer kulturoptimistischen Verflachung des Vernunftbegriffs,
Nietzsches Sturmlauf gegen die Erstarrung des Lebens: all dies zusammen
macht die äußere Situation aus, in welcher die Phänomenologie ans Licht
trat. Die innere Situation ist: die Wiederaufnahme des transzendentalen
Problems (Kants) als der Frage nach dem inneren Bezug von ens und verum.
Das Leitproblem: ens und verum. Das Einsatzproblem: die Freilegung
der fungierenden Subjektivität: Logik – logisierende Subjektivität.

| Zum „Dessauer Vortrag“: 17a


Phänomenologie = ontogonische Metaphysik: das heißt Fragen nach dem
Ursprung des Seins. Ursprung aber nicht Anfang in der Zeit. „Anfangen in
der Zeit“, dies ist selbst die ontisch verstandene Weise des Entstehens und
Vergehens. Sein = in der Zeit entstehen und vergehen. Fragen nach dem
Ursprung des Seins, dies ein Überfragen des Seienden schlechthin, also auch
aller seienden Weisen des Entstehens und Vergehens.
Nur weil mitten unter dem Seienden ein Seiendes ist, das in seinem Sein
nicht aufgeht, – weil also der Mensch die Brücke ist vom Sein zum Nichts, ist
eine Frage nach dem Ursprung des Seienden überhaupt möglich.
| Der metaphysische Charakter des Menschen als „Fragment“ und die 17b
Möglichkeit, vom ontischen Menschen zum meontischen Geist vorzudringen
in der Selbstbemächtigung des Lebens, ermöglicht erst die Distanz zum Sein,
das Sichheraushalten, die meontische Epoché.
Um überhaupt die Phänomenologie als meontische ontogonische Meta-
physik begreifen zu können, bedarf es zuvor einer ontologischen Entfaltung

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des Wesens des Menschen, d. h. der Erfahrung des Scheiterns aller Versuche,
den Menschen als Seiendes zu begreifen. („Ontologische Unerreichbarkeit“.)

18a | Die bestimmte Grundauffassung der Philosophie, die mich leitet: Philoso-
phieren ist der Griff des Lebens nach sich selbst. Philosophie ist keine
„Wissenschaft“, keine „Kulturangelegenheit“, sondern das Wissen um die
schöpferische Macht des Lebens.

19a | Heideggers Grundauffassung der Philosophie: vgl. den Vortrag über den
„Ursprung des Kunstwerkes“:
Das Sein im Ganzen (im Widerstreit von „Welt“ und „Erde“) in die
Wahrheit eines Daseins aufzunehmen?
Dort wo das Leben die Notwendigkeit verspürt, das Sein im Ganzen in die
Offenheit einer gemeinschaftlichen Existenz aufzunehmen.

20a | Disposition für „Dessauer Vortrag“:


I. Bericht über eine Philosophie = Abwehr aller einsatzgebundenen
Charakterisierungen. „Topische Reflexion“?
II. Kants Idee der Transzendentalphilosophie als „Hintergrund“ der Cha-
rakteristik der Phänomenologie. (Frage nach ens und verum, Sein
und Vernunft.) Der traditionelle Begriff der Metaphysik bei Kant als
Seinsinterpretation unter Führung des „Apriori“. Kants eigentliche
Leistung: die Entdeckung des Welthorizonts der Seinsidee.
III. Die Phänomenologie: ens und verum zunächst auf der Basis der
ontischen Erfahrung: die Freilegung der anonymen subjektiven Leis-
tungen. Die Geradehineinstellung. Logische Gebilde (Idealitäten).
20b | Die Entfaltung der korrelativistischen Forschung.
Sein = Seinssinn als Korrelat mannigfacher subjektiver Leistungen.
Begriff der leistenden Subjektivität.
Methodik der Intentionalanalyse.
Husserls ganze konstitutive Phänomenologie als Entfaltung des korrela-
tivistischen Ansatzes.
IV. Sein und Gegenstand. – Die Benommenheit vom Seienden: als Grundmo-
dus der natürlichen Einstellung.
V. Problematik der Reduktion: Mißverständnis der „Reflexionsphiloso-
phie“.
VI. Reduktion als Distanz zum Sein. Phänomenologie als ontogonische
Metaphysik, und als Selbstbemächtigung des Lebens.
*

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.
Z-XVIII

Beschreibung:
Der Umschlag der Mappe trägt die Aufschrift: „1935??“. Die in diese Mappe einge-
legten acht Blätter sind undatiert. Auf die Innenseiten des Umschlags ist jedesmal
ein gewölbtes Fenster gezeichnet, das einen Ausblick auf den zunehmenden Mond
bietet. Auf dem Fensterbrett steht „ΛΑΘΕΒΙΟΣΑΣ“ geschrieben. Vgl. die Beschrei-
bung zu den Mappen OH-III und OH-IV; siehe auch die Erklärung in Z-XXII 34–
35. Die drei Blätter der Reihe V wurden mit Heftdraht zusammengeheftet. Die Noti-
zen weisen kein Datum auf, aber 4b erwähnt Schriften, die Fink spätestens im Jahre
1934 verfasst hat. Zudem skizzieren 3a und Reihe V Gedanken zu dem für Prag
geplanten Vortrag Husserls (vgl. dazu OH-V 29–36). Fink überreichte Husserl seinen
maschinengeschriebenen Vorschlag (M‑III, No. 12) am 14. August 1935 (vgl.
HChr, S. 465).

Text:

| Wesen des Spieles: 1a


Das eigentliche Wesen des Spieles ist nur zu erhellen im Hinblick auf die
Möglichkeit des Lebens, aus seinen „Rollen“ zu sich selbst zurückzukehren.
Ursprünglicher Vollzug des Lebens ist Spiel, d. i. das freie Sicheinlassen
in „Rollen“.
1. | Gefahr des Idealismus ist das Überspringen der Endlichkeit: d. h. das 2a
Mißverstehen der spekulativen Wahrheit über den Menschen im Sinne
einer mundanen Wahrheit.
2. In „Theorie der Imagination“ ist das ontologische Problem der „bloßen
Vorstellung“, der Phantasie, der Möglichkeit, des Verhaltens zum Nichts
usw. zu studieren.1
3. Das Sein des Menschen = Seiendes Nichtsein und nichtseiendes Sein??
Geschaffener Schöpfer???
| Der Begriff des Lebens bei Nietzsche: Leben = die letzte metaphysische Rea- 2b
lität,

1 Siehe Z-XX 6a–b.

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3a | Titel des Zyklus: Die Humanität als Problem.
I. Vortrag: Der Begriff des Menschen als Problem.
II. Vortrag: Das Problem des philosophischen Selbstverständnisses
des Menschen.
III. Vortrag: Der Sinn des menschlichen Lebens.2
3b | 1. Die ontologische Unklarheit über die Natur der Erkenntnis läßt sich nicht
durch interne Analysen der Erkenntnis beheben.

Entwurf: Reise ins Leben:


Sinn der Ferien: Freiheit von dem Zwecke. Fremdheit des Seienden als
das erregende Erleben, das gesucht wird: Problem des Abenteuerlichen. –
Langeweile als Zugangsvoraussetzung zum Wesen einer Landschaft.

4a | Philosoph als „Versucher“ des Lebens! Nicht leben von anderen her, ein
vorbereitetes, vorgekanntes Leben, in Sitte, Meinungen.
Freiheit des Seins, Selbstmächtigkeit des Seins, Souveränität der Existenz.
Das pathische Weltbild: schöpferisches Sein ist allein menschlich.

Die Bestimmung des Menschen.3
1. Was ist der Mensch?
Diese Frage ist im Fragetypus ontologisch, der Mensch wird als Seien-
des vorausgesetzt.
a. Der ontische Begriff des Menschen?
Der Mensch versklavt in Institutionen, in Sitte.
Der freie Mensch. Der Mensch und die Rangordnung. Wille
zur Macht.
b. Mensch und Natur:
c. Mensch und Welt: Weltwesen.

4b 1. | Theorie der Imagination


2. Ursprung der Zeit
3. Zeit und Geist
4. Problematische Untersuchungen zur Lehre vom Weltbegriff

2 Das Blatt dieser Notiz hat das gleiche Format wie die Blätter in der Reihe V; vgl. Anm. 5
dazu.
3 Dieses zuerst (Z-V VI/1a) als Titel eines geplanten Vortrags genannte Thema ist ein rekur-

rentes in Finks Notizen. Vgl. Anm. 5 zu Z-XII 2a und die Anmerkung zu Z-XV 49a; dazu
weitere Notizen in OH-II 21, 25 und 54, OH-VI 9 und OH-VII 23 und 38. In den spätesten
Mappen taucht das Thema erneut als Titel eines Vortrags auf (Z-XXVI 43b und Z-XXIX 24a).

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.
5. Vom freien Leben
6. ‹bricht ab›

1. Vergegenwärtigung und Bild.


2. Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwär-
tigen Kritik.
3. Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?
4. Theorie der Imagination.
5. Problematische Untersuchungen zur Lehre vom Weltbegriff.
6. Idee und Problem einer transzendentalen Methodenlehre.4
7. ‹bricht ab›

Reihe V:5
| Husserls Vortragszyklus V/1a
„Die Idee der Humanität als Problem“.
I. Begriff des Menschen: animal rationale;
Begriff des Menschen: wissen wir, welche Wissenschaft zuständig ist, diesen
Begriff zu erarbeiten? Die Biologie, die Ethnologie, die vergleichende
Völkerpsychologie, die Naturwissenschaften, die Geisteswissenschaften?
Was ist der Mensch, dies die echte Frage unserer Zeit, die bodenlos
geworden, weil kein Wissen um uns selbst mehr als verbindliches da ist.

Antike Lebensgeborgenheit und antike Ausgesetztheit in die Qual des


Unverstandenen. Das sokratische Problem. Die späthellenistische Philoso-
phie (der Lebensrezepte). – Heute ist die humanistische Konzeption und
damit der Mensch ins Wanken geraten, wir sind mitten im Erdbeben, die
Kultur problematisch, weil der Mensch sich selbst problematisch gewor-
| den. Dies echte Krisensymptome – gegenüber dem Verfall des menschlichen V/1b
Daseins durch den „Aufstand der Massen“, den Sklavenaufstand auf allen
Lebensgebieten. (Verfall des Denkens, des Willens zur Wahrheit, Redlichkeit
des Geistes). – Das Erdbeben der europäischen Kultur und Gesittung, des
europäischen Daseins überhaupt ist eine unerhörte philosophische Chance.
Der Mensch als Problem? Nicht ein Problem, das am Schreibtisch
ersonnen wird, inmitten bürgerlicher Behaglichkeit im Schoße der Familie,

4 Die zweite Liste stellt offensichtlich von Fink schon verfasste (1, 2, 3, 6) oder aber geplante

Schriften (4, 5) dar. Zur „Theorie der Imagination“ vgl. Z-XX 3b, 6a, 12a, 13a; zur „Lehre vom
Weltbegriff“ vgl. insbesondere V-II.
5 Die langen und schmalen Blätter dieser Reihe wurden gefaltet, möglicherweise, um in die

Tasche gesteckt zu werden. Sie stellen Vorschlagsideen zu Husserls für November geplanten
Prager Vorträgen dar (vgl. HChr, S. 469). Siehe die Beschreibung oben und Hua XXIX, Einl.
d. Hrsg., S. XX und Anm. 3.

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inmitten bürgerlicher gesitteter Nachbarn, nein ein Problem‹,› das furchtbar
hinter aller Daseinsäußerung der gegenwärtigen Welt steht. Es geht um den
Sinn des Menschen.
Das Ringen ist entbrannt, nachdem der Weltkrieg die Illusion des
bürgerlichen Staates zerstört hatte, die Demaskierung des Menschen.
Jenseits des Wirbels faktischer Sinnkämpfe um den Menschen steht in
der Gegenwart des ewig Unzeitgemäßen das philosophische Problem.
Was offenbart sich im Ringen um den Sinn des Men-
V/2a | schen, in den Offenbarungen des chaotischen Grundes aller „Kultur“? Keine
Kampfbilder der schnellen Gegenwärtigkeit, keine Didakte des „Wesens des
Menschen“, sondern Aushalten des Problems als solchen.
Das philosophische Problem des Menschen also keine „tagespolitische“,
keine Entscheidung über Demokratie oder Faschismus oder Kommunismus.
Sondern ein Fragen, das tiefer dringt.
Die Situation des Menschen ist nicht bloß heute, sondern immer die,
daß er sich zum Problem wird. Humanität ist immer ein Problem: sofern der
Mensch so weit Mensch ist, als er sich als Problem erfährt. Der Mensch = das
Seiende, das sich zu sich selbst verhält.
Die Reflexivität des Seins als Ansatz einer Lehre vom Menschen. Der
Mensch = das existente Problem. (Idee des Wissens und der Wissenschaft aus
dieser formellen Bestimmung des Menschen abgeleitet.)
V/2b | Der Mensch ist, sofern er sich problematisch zu sich selbst verhält, d. h. um
seinen Sinn ringt.

Dies keine Bestimmung des Menschen als „moralisches“ Subjekt oder


ethische Persönlichkeit, vielmehr sind solche
‹Bestimmungen› derivierte Phänomene. –
Das Selbstverständnis des Menschen: seine Stufen.
1. Das vorfindliche Selbstverständnis: der Mensch ein Ding unter den
Dingen. „Sacheinstellung“? Thematisches Leben auf die Dinge hin. Dinge in
Regionen einzugliedern. –
Verkehrseinstellung: das Mitfungieren.
Das korrelative Verhältnis der beiden Einstellungen.
Die „Elemente“ der „Sacheinstellung“: Leibphänomen. Das Ding und
das „Ich“. Zwei prinzipielle Stufen in der Sprachbildung.
Diese erste Stufe zunächst durchsetzt von Mythen, Religionen, dann von
W i s s e n s c h a f t: Begriff des Menschen.
Anthropologische Konzeptionen:
V/3a | Die religiöse z. B. die christliche
Die kulturelle z. B. Aufklärung
Die philosophische z. B. naturalistische.

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.
Begriff des Naturalismus:
1. Massiver Naturalismus: der Mensch ein bloß biologisches oder bloß
soziologisches Wesen,
ferner die naturalistische Psychologie.
2. Sublimierter Naturalismus: der Mensch in der geisteswissenschaftli-
chen Perspektive.
3. Die ontologische Auffassung des Menschen: der Mensch ein Seiendes.
(Perfektivismus, metaphysische Trägheit und Unbewegtheit!!) –
These: der Mensch ist fungierende Subjektivität. Damit die „crux onto-
logica“!!
Warum alle Versuche, den Menschen ontologisch zu erfassen,
gescheitert sind und scheitern müssen? Weil er nicht eine Einheit
(gegenständlicher Art) in einer Funktion ist, sondern eben F u n -
g i e r e n. Wie kann Fungieren als solches erfaßt werden.

1. | Intersubjektivität als Prinzip der „Objektivität’? Unterscheidung der 6a


ontischen Intersubjektivität und der monadischen. Nur die monadische
ist Objektivität-fundierend!?
2. Zeit als Voraussetzung der Zeitanalyse: a) Problem der mundanen
Erscheinung der Zeitanalyse; b) Zeit als transzendentales Geschehen als
Voraussetzung der Zeitanalyse?
3. Disposition der Schrift: „Zeit und Geist“.6
Ausgang vom antithetischen Gegensatz von Rationalismus und Temporalis-
mus. Rationalismus = Verabsolutierung der konstituierten Vernunft. Tem-
poralismus (dies die positive Charakteristik des Irrationalismus) = die Ver-
absolutierung der konstituierten Zeit. Die phänomenologische Philosophie
Husserls jenseits des Gegensatzes von Rationalismus und Temporalismus,
sofern sie von den beiden verabsolutierten ontischen Prinzipien zurückgeht
auf das ontogonische Absolute:
| die konstituierende „Vernunft“, die als solche „Zeitbildung“ ist. Phänome- 6b
nologie bedeutet so die Versöhnung der Gegensätze von Geist und Leben,
Vernunft und Geschichte.
*

6 Außer in der Liste 4b wird diese Schrift über „Zeit und Geist“ an keiner anderen Stelle in
den Notizen erwähnt.

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Z-XIX

Beschreibung:
Der Umschlag dieser Mappe trägt die Aufschrift: „1935 in Kappel Gespräche mit
Landgrebe“. Die in diese Mappe eingelegten Notizen wurden in vier Reihen grup-
piert. Die Notizen der Reihe II, die sämtlich Gespräche mit Landgrebe darstellen,
sind auf März 1935 datiert. Die Erwähnung von Kappel in IV/2 und der Vorschlag
für die „Adresse an den Kongress“ in IV/12 legen nahe, dass die Reihe IV im Zeit-
raum Juni bis August 1934 verfasst wurde (vgl. HChr, S. 447–450).

Text:

Reihe I:1
| Kosmologische Grundbegriffe I-II
1. als ontologische: Notwendigkeit, Wirklichkeit, Zufäl-
ligkeit
Natürliche (Kategorien?)
Einstellung 2. als erkenntnistheoretische: problematisch, assertorisch,
apodiktisch,
3. als Weltbegriffe.

Transzendentale 2

| Kants Kritik des kosmologisch-naiven Begriffs der Allheit des Seienden I/1a
führt zur negativen Freilegung der Welt.
Welt ist kein Seiendes.
Weltbewußtsein = Vernunft.
Vernunft als Enthalt von reinem Verstand und reiner Sinnlichkeit und als
Enthalt von empirischem Verstand und empirischer Sinnlichkeit.

1 Ein gefaltetes gelbes Blatt (I-II) hält die Blätter der Reihen I und II zusammen. Die Blätter

der Reihe II wurden zudem mit einer Heftklammer zusammengeheftet.


2 Die zweite Hälfte der Skizze sollte parallele Begriffe in der „transzendentalen Einstellung“

schildern; die Skizze wurde jedoch nicht ausgeführt.

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Welt als Enthalt von Wesen und Seiendem.
Dem Seienden entspricht die Erfahrung; dem Wesen entspricht die reine
Sinnlichkeit und der reine Verstand; der Welt entspricht die reine Vernunft.

I/2a | Das Problem der Intelligibilität bei Kant:


Die Intelligibilität des Seienden ermöglicht durch die Intelligibilität
des Apriori.
Die empirische Erkennbarkeit ist gegründet in der apriorischen Vorbekannt-
heit des Seienden.
Wie ist diese apriorische Vorbekanntheit überhaupt möglich?
Eben weil nicht apriorische Vorbekanntheit von „Dingen überhaupt“
besteht, sondern von „Erscheinungen“. „Erscheinung“ = das Seiende,
bestimmt in seiner Intelligibilität durch apriorische Gesetzgebung der Ver-
nunft, d. i. im Horizont der Welt.

I/2b 1. | Ontische Erkenntnis = Erkenntnis vom Seienden.


2. Ontologische Erkenntnis = Erkenntnis vom Sein.
Sein = Wesen und Wirklichkeit.

1. Ontische Erkenntnis = Erfahrung vom Seienden.


2. Philosophische Erkenntnis = Erkenntnis der Bedingtheit der Erfahrung
(metaphysische Erörterung) und vorab Erkenntnis der Möglichkeit des
Apriori als Ermöglichung der Objektivität der Erfahrung („transzenden-
tale Erörterung“).

1. Ontische Erkenntnis.
2. Verborgene apriorische Gesetzgebung in reiner Sinnlichkeit und rei-
nem Verstand.
3. Der Welthorizont in den „Ideen“.

I/3a | Das Problem der Intelligibilität ist das Problem des ὄν ὡς ἀληθές.
Die Frage nach der Möglichkeit der Intelligibilität des Seienden, die für
Kant vorab zur Frage nach der Möglichkeit des Apriori als der Ermöglichung
der Erfahrung wird, ist die Frage nach dem Zusammenhang von Sein und
Wahrheit, nach dem Bezug zwischen ὄν und ἀλήθεια, nach dem Rechte der
traditional behaupteten Konvertibilität des ens und verum. Frage nach ens
und verum, als den „Transzendentalien“, ist
Transzendentalphilosophie.
Inwiefern ist die kantische „transzendentale“ Fragestellung nach der
Möglichkeit des Bezugs von ens und verum im Grunde kosmologisch?

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Reihe II:
| Erstes Gespräch mit Landgrebe im März 1935. II/1a
1. Verhältnis von Kant und „Deutschem Idealismus“.
2. Natürliche Einstellung = Weltbefangenheit. Analyse des Befangenseins
als Nur-offen-sein für einen begrenzten Bereich des Seienden.
3. Die drei Grundhaltungen der natürlichen Einstellung: a) ontische,
b) eidetische, c) kosmologische.
4. Analyse und Spekulation.
5. Apriori und Ideation (Vergegenständlichung des Apriori.)
6. Philosophie immer „Lebensbewegung“: der Griff des Lebens nach
sich selbst.

| Gespräch mit Landgrebe 19.III.35 II/2b


1. Ontologie der οὐσία (τὸ ὄν). (Heraklits Skepsis!)
2. Frage nach der Idealität der Bedeutung. Husserls gegenstandstheoreti-
scher Ansatz. Nicht weil Identifizierung in Wiederholung, gibt es Iden-
tität, sondern weil es Identität gibt, gibt es Wiederholungen. Husserls
Analyse der Bedeutung zeitigt wichtige Umschreibungen, aber keine
ontologische Bestimmung. – Identität eines Gedankens?
3. Problematik der Entstellung. Gefahr des „Überspringens“ in der Phäno-
menologie.
4. Ontologie und Gnoseologie. Seiendes in, nicht aus subjektiver Sinnge-
bung.
5. Husserls „Intuitionismus“ = Gleichsetzung von Seiendem und Gegen-
stand.

6. | Ontologie nicht idealistisch (wie bei Heidegger im Rückbezug auf II/2a


Existenz). (Endlichkeit eine philosophisch wichtige Struktur des Lebens,
nicht aber „Angst“ usw. Durch die Phänomenologie wird die „Tragik“
des endlichen Lebens nicht gewichtlos, sondern nur durchschaut auf
seine Konstitution hin. Dies Überleitung zur Anzeige der Problematik
der „Entstellung“. Das weltschöpferische Leben stürzt ab, entstellt sich
zum Menschen inmitten des Seienden.)
7. Bei Husserl ein Schillern der Begriffe wie „Apodiktizität“ und „Notwen-
digkeit“. – Die Gegenständlichkeit macht das Seiende nicht aus.
8. Husserls grundsätzliche Orientierung des Begriffs des Seienden am
Begriff des Gegenstandes. Aporie: ist das Aktleben, in dem Seiendes
vermeint wird, nicht auch seiend?
9. Gegenstandskonstitution als eine Art von Konstitution.

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II/3a | Gespräch mit Dr. Landgrebe am 20.III.35
1. Methodenlehre als Teil der Metaphysik der Philosophie.
2. Art des phänomenologischen Erkennens?? Rezeptiv? oder – Produktiv?
Keines von beidem!!
Phänomenologisches Erkennen = Erkennen von Meontischem.
3. Gegen den Mystizismus, der das „Absolute“ als Nichts bestimmt in der
via negationis. Das Absolute = das ontogonische Werden, dessen Pole
„Sein“ und „Nichts“ sind.
4. Hegels Ansatz in der „Logik“ als meontischer!
5. Die absolute Dimension = überhaupt kein Seinsfeld, sondern der Dis-
tanzhorizont zum Sein: die „meontische Distanz“.
II/3b | Begriff des „Lebens“ = Seinsschöpfung.
6. Problem der Selbstkonstitution.
7. Begriff des „Theoretischen“ = θεωρεῖν als Leidenschaft.
8. Terminologie: statt „transzendentaler Zuschauer“, mit dem Beiklang
des die Daseinsschwere verflüchtigenden reinen Denkwesens, der mehr
Lebensatmosphäre atmende Begriff des „transzendentalen Zeugen“.
*

II/4a | Gespräch mit Landgrebe am 23.III.35


Problem der „Welt“.
1. Heideggers existenzialer Begriff von Welt eine metaphysische Vertie-
fung des geisteswissenschaftlichen Weltbegriffs.
2. Heideggers Luminartheorie der Subjektivität.
Sein = Beleuchtetheit. Lichtschein = Welt.
Beleuchtetes = Seiendes.
3. Heideggers „kosmologischer Subjektivismus“.
4. Husserls Begriff von Welt = beweglich-iteratives System der Auswei-
tung der binnenweltlichen Sphäre: „Kern“ und Horizont. Die „Synthesis
der Reihe der Erscheinungen“ im Gang der Vollendung, im dynami-
schen Prozeß.
Husserls Versuch, das Phänomen Welt mit gegenstandstheoretischen
II/4b | Methoden zu fassen. Husserls „Intuitionismus“. Welt = Einlösbarkeit
in Gegebenheit.
5. Kants Problemstellung. „Idee der vollendeten Synthesis der Reihe der
Erscheinungen“. „Konstitutiver“ und „regulativer Gebrauch“!!!!
Nichtanwendbarkeit ontisch-ontologischer Begriffe auf die Welt.
6. Welt kein in intuitiver Methode Aufzeigbares.
Welt und „die große Sehnsucht“.
Stimmung des enthusiastischen „In-der-Welt-Seins“: das Weltgefühl.
Theorie der Welt als Vorarbeit zur Theorie der Weltbefangenheit.

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| Gespräch mit Landgrebe am 25.III.35 II/5a
1. Situation.
2. Nichtumkehrbarkeit der reduktiven Bezüge.
3. Stimmung und „Lebensgefühl“.
4. Nietzsche und Fata Morgana des Lebens.
5. Endlichkeit und Einlassung des Lebens in Natur und Geschichte.
6. Gebundenheit des Lebens an eine „passive Zeit“ seines Verlaufes als
Index der Endlichkeit, aber nicht als die Endlichkeit selbst.
7. Transzendentale und mundane Selbstentfremdung (der „Untergang des
Lebens“). Hegel und Marx!!
8. Analyse des „Staats“. Staatsschöpfer und Staatsbürger.
9. Begriff der Stimmung. Aporie des Verhältnisses von Stimmung und
Affekt und Lebenshaltung und „Grundwille“ (dämonische Tendenz
des Lebens). Gibt es „kollektive Stimmungen“ im Sinne eines histori-
schen Lebensgefühls?

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| Endlichkeit des großen Menschen als Index der Begrenztheit eines II/5b
„Lebensquantums“. Ebenso das Leben überhaupt „in begrenzten Kraft-
größen“. Das Sichzuendegelebthaben einer Epoche: Spenglers natura-
listische Einkleidung dieses tiefen Gedankens.
10. Begriff der Einsamkeit.
11. Fata Morgana des Lebens. (Erläuterung des Gleichnisses!)
12. „Faktizität“ und Geschichtlichkeit. Mißverständnis des „Wesens“ als
einer immerseienden und deswegen unhistorischen Struktur.
13. Nivellierung von Sinn-Konstitution und „Seinskonstitution“!! Der onto-
logisch ganz undurchsichtige Begriff des „Sinnes“ wird gebraucht, um
das Wesen der Seinskonstitution verständlich zu machen!!!!
14. Kritik des „transzendentalen Parallelismus“. Begriff der „Situation“.
15. Skepsis an der Bestimmung des „Wer“ des Lebens vom „Ich“ her.
Differenz von Ich und Selbst!!

| Gespräch mit Landgrebe am 26.III.35 II/6a


1. Was ist „absolute Erkenntnis“? Mißverständnisse in Richtung der tra-
ditionellen Idee des „intellectus archetypus“ oder gar als „historisch
irrelative, zeitlos gültige Wahrheit“. Absolute Erkenntnis = die philoso-
phische Erkenntnis als die dialektische Einheit von endlicher (ontologi-
scher) und unendlicher (ontogonischer) Erkenntnis.
2. Wesen der „Kunst“ ist phänomenologisch-transzendental nicht aufzu-
hellen. „Kunst“ die „Heiligung und Feier“ der Weltverlorenheit des
Lebens. In der Kunst eine Lebenstendenz, die derjenigen von Religion
(Mythologie), Wissenschaft und Philosophie entgegenläuft. Kunst =
Weltwärtssein des Lebens. (Nietzsches These: „das Dasein nur als
ästhetisches Phänomen gerechtfertigt“.)
3. Metaphysik der „Philosophie“ = Weltspiel des Geistes, jenseits des
Zweckes. Philosophie als Tendenz auf „Selbstmacht des Lebens“ nicht
von einem Wert und Zweck außerhalb des Philo-
| sophierens geleitet. Selbstmächtigkeit als Beisichsein des Lebens ist II/6b
„an sich“ nicht wertvoller als das weltbefangene Außersichsein des
Lebens. Philosophieren = ein Trieb des Menschen, eine Weise der
exzentrischen (dämonischen) Größe der Existenz. Aber letzten Endes
die Metaphysik der Philosophie von einer „existenziellen Charakte-
ristik“ unerreichbar; Philosophieren als das Sichselbstsuchen des Ur-
Einen.
4. Problem anderer Wege zum Absoluten als der Weg des Wissens??
Der „Geist“ alleiniger Weg; das „Absolute“ = Geist. Der Geist in der
mundanen Situation nebengeordnet anderen Tendenzen des Lebens:
Geist eine Leidenschaft des Lebens, neben möglichen anderen. Dies
seine Entstelltheit. Entstelltheit = Unbewegtheit des Geistes = Unvoll-

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endetheit (Fragmentarisches Sein). – Das „Absolute“ überhaupt keine
ontische Sphäre, sondern der „Horizont des meontischen Abstandes
zum Sein“.
5. Verhältnis von theoretischem Wissen und Lebenserfahrung (Weisheit).
6. Problem des Selbstverständnisses.

II/7a | Gespräch mit Landgrebe am 28.III.35


1. Kritik seiner „Erlebnis“-Arbeit:3 a) Begriff von „Welt“ geisteswissen-
schaftlich; Horizontbildung als bezogen auf die Lebensbedeutsamkei-
ten (Stimmung), m. a. W. Diltheys Ansatz der indirekten Frage nach
dem Leben. – b) Das Phänomen der „Bedeutsamkeit“ sekundär. Das
Leben immer an die ästhetische Situation gebunden als Schauplatz
möglicher „Bedeutsamkeiten“.
2. Über Husserls Begriff der „lebendigen Gegenwart“. (Husserls präsen-
zialistischer Ansatz!)
3. Husserls Lehre von den „hyletischen Daten“. Sind diese „abkünftige“
Phänomene einer Lebensauslegung oder elementare? Unterscheidung
von πρὸς ἡμᾶς und τῂ φύσει πρώτερον, als ein wesenhafter Unterschied,
der in die Theorie der endlichen (mundanen) Erkenntnis gehört. Die
„hyletischen Daten“ sind aber auch nicht „an sich“ vorgängig vor den
Dingen. Die „transzendentale Subjektivität“ hat kein Sein. Husserls Sen-
sualismus
II/7b | ein Teil des Ontologismus. Nur ein meontischer, d. i. dialektischer
Begriff der absoluten Subjektivität als des „Lebens“, das zunächst ist,
aber sein „Sein“ setzt oder gesetzt hat, löst das Problem der Weise des
Erfassens der konstituierenden Subjektivität.
4. Begriff des „intuitionistischen Arguments“: „Wir haben keine andere
Welt als die vermeinte“ u.s.w.: dies hat seine scheinbare Schlüssigkeit

3 Damals noch unveröffentlichtes Manuskript mit dem Titel „Der Begriff des Erlebnisses.

Ein Beitrag zur Kritik unseres Selbstverständnisses und zum Problem der seelischen Ganz-
heit“. Eine Kopie befindet sich im Jan Patočka-Archiv am Centrum fenomenologických
bádáni in Prag. Landgrebe, der diese Schrift im Zeitraum von 1929 bis 1932 verfasst und Ende
1932 zur kritischen Durchsicht an Fink geschickt hatte, wollte sich mit dieser Arbeit habili-
tieren (vgl. seine Autobiografie in Philosophie in Selbstdarstellungen, Bd. 2, Hamburg 1975,
S. 128–169, hier S. 140). Als sich wenig später eine Habilitationsmöglichkeit an der Prager
Universität unter der Betreuung des Brentano-Schülers Oskar Kraus eröffnete, zog Landgrebe
es vor, das Thema mit Rücksicht auf Kraus’ Distanz gegenüber der Husserlschen Philosopie
zu ändern. Er habilitierte sich schließlich mit einer Arbeit zur Sprachphilosophie Anton Mar-
tys. (Dank an Hans Rainer Sepp für diese Information.) – Das Manuskript Landgrebes wurde
inzwischen von Karel Novotný in der Reihe Orbis Phaenomenologicus Quellen. Neue Folge
(Königshausen & Neumann) als Band 2 herausgegeben: Ludwig Landgrebe, Der Begriff des
Erlebens. Ein Beitrag zur Kritik unseres Selbstverständnisses und zum Problem der seelischen
Ganzheit, Würzburg 2010.

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nur hinsichtlich präsenter Dinge. Nur dort kann die Vorgängigkeit der
Erfahrung in eine ontische Vorgängigkeit umgefälscht werden.
5. Inwiefern „Sinnesdaten“ nicht das Elementare sind, zeigt eine einfache
Analyse des Wachseins im akustischen Felde. Wachsein = das (feldin-
tentionale) Aushalten des aisthesisgenuinen Raumes für das mögliche
Begegnen von Binnenfeldlichem (z. B. Stille und Laut!) Feld = analoge
Struktur wie „Welt“.
6. Verhältnis von Gegenstandskonstitution – Weltkonstitution und Selbst-
konstitution.
*

| Gespräch mit Landgrebe am 29.III.35 II/8a


1. Reduktion als meontische (nicht ontische) Aufhebung der Individuation.
[Gegen den „Dogmatismus der Egoität“!]
2. Die Gefahr der Phänomenologie: der „illusionäre Idealismus“, der,
basierend auf einer fehlinterpretierten Erkenntnisvorgängigkeit des
Subjekts vor den Dingen, die ontische Undurchdringlichkeit des
Seienden überspringt und die Schwere des weltlichen Lebens ver-
fehlt (Pseudo-Erlösung!!)
3. Bei Husserl der „intuitionistisch“ begründete „illusionäre Idealismus“
zusammen mit dem „Kulturidealismus“ (dem „Moralismus“!).
4. Begriff der „Freiheit“? Kritik an Landgrebes Aufsatz in den Neuen
Jahrbüchern: der Unterschied von mundaner („geworfener“) und „tran-
szendentaler“ Freiheit dort nivelliert.4
5. | Referat über das Zeit-Buch: Thema die retentionale Zeitkonstitution, II/8b
nicht als abstraktes Moment des Erlebnisstromes, sondern in ihrem, vor
der Gleichgestelltheit mit der Protentionalität liegenden und dadurch
verdeckten Primat. Methodologische Erläuterung des Unterschiedes
von Abstraktion und Epoché!
*

Reihe III:5
I. | Raum in der Zeit und Zeit im Raum?? III/1a
Ist Zeit denkbar ohne Weltzeit zu sein?
II. Weltform (Sein des Seienden qua Transzendenz) ist nicht Bedingung für
das Sein des Seienden.

4 Ludwig Landgrebe, „Die Methode der Phänomenologie Edmund Husserls“, in: Neue Jahr-
bücher für Wissenschaft und Jugendbildung 9 (Berlin 1933, Heft 5), S. 395f.
5 Die beiden Blätter dieser Reihen wurden zusammengefaltet.

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.
III/2a | Zu Vergegenwärtigung und Bild. Analyse der Gegenwärtigung (der äuße-
ren Wahrnehmung),
1. weil die Gegenwärtigkeit des Vergegenwärtigungserlebnisses zunächst
bestimmt werden kann durch die Simultaneität mit gegenwärtigen-
den Akten;
2. weil Vergegenwärtigung ein Verhältnis des Gegenwartzeithorizontes zu
den anderen Zeithorizonten ist;
3. weil Analyse der Wachheit die Analyse der aisthetischen Gegenwärti-
gung erfordert;
4. weil Analyse des Bildbewußtseins die Analyse des Durchsichtigen als
Medium der optischen Wahrnehmung notwendig macht.

Reihe IV:6
IV/1a | Vom Anfang der Philosophie
I. Abschnitt: Das Problem des Anfangs.
II. Abschnitt: Interpretation der „Anfänge“. (Logische Untersuchungen,
Ideen, Formale und transzendentale Logik, Méditations cartésiennes)
Im II. Abschnitt ist eine Interpretation des gesamten Schrifttums Husserls zu
geben vom Aspekt der „Einleitung“ aus. Alle diese Werke sind Einleitungen,
d. h. Eroberungen der Dimension der Philosophie. In den Logischen Unter-
suchungen das Rückfragen von den idealen Einheiten zum sinnbildenden
Leben. Damit Rückfrage als intentionale, d. h. am Leitfaden der Intentionali-
tät. Keine Deduktion, sondern Reduktion. Aber die Latenz der Intentionalität
ist noch nicht als absolute erkannt. Die Latenz der Intentionalität in den
Logischen Untersuchungen noch als innerweltliche aufgefaßt. – Die Ideen
gewinnen mit der Fundamentalbetrachtung die mit der Latenz der Intentio-
nalität verhüllte philosophische Dimension. – Formale und transzendentale
Logik: Wiederholung der Logischen Untersuchungen, aber auf explizitem
transzendentalem Niveau; keine spezifisch „logische“ Problematik: Wissen-
schaft der Naivität und philosophisches Wissen? Der Weg aus dem ersteren
in das letztere!!!
IV/2a |
Kappel
Disposition zu „Das Problem der Einleitung in die Philosophie“.

6 Die 13 Blätter dieser Reihe sind vom selben Format und gleicher Schriftform, was darauf
hinweist, daß sie zur gleichen Zeit beschrieben wurden. Der Name des Dorfes Kappel in
IV/2a und der in IV/12a genannte Anlass zu einer „Adresse an den Kongress“ deuten auf eine
Entstehungsperiode Juni bis August 1934 (siehe HChr, S. 447–450) hin.

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.
*
I. Abschnitt: systematische Ausführung über den Sinn von „Einleitung in
die Philosophie“.
1. „Einleitung“ kein pädagogisches Problem, obzwar auch päda-
gogisch relevant. Einleitung ist nicht das Leichteste, sondern
das Schwerste.
2. „Einleitung“ als die Aufhellung des Prinzips der Philosophie. Aber
nicht wie in der Mathematik die Setzung einer Axiomatik.
3. Einleitung als Bildung des Problems. Nicht bloß Aktivität des Ent-
wurfs!
4. Anfang der Philosophie kann nur durch eine „petitio principii“
gemacht werden. Dies kein Zirkel, und keine „petitio“ im gewöhn-
lichen Sinne, sondern Bruch einer Befangenheit.
(„Scheuklappe“! „Abstraktheit“)
Der Anfang der Philosophie liegt immer in der Aufweisung des Grundfak-
tums: des Naiv-Seins.

| Über den Anfang der Philosophie Aufstellungen zu machen, ist nur der Phi- IV/3a
losophie selbst möglich. Es gehört in die das System abschließende Selbst-
verständigung über Begriff, Methode und Metaphysik der Philosophie selbst,
die Situation, in der sich die Philosophie am Anfang befindet, darzustellen
und ins philosophische Bewußtsein zu erheben. Keine „geisteswissenschaft-
liche“ Typologie der Philosopheme kann darüber mit Recht reden. „Die
Philosophie“ gibt es gar nicht in der thematischen Ebene der Gegenstände
der Geisteswissenschaften. In den Bezirk der geisteswissenschaftlichen
Auslegung der Philosophie gehört 1) die philosophische Existenz (Typologie
der Weltanschauungen), 2) Typologie der „Denkformen“, 3) Wissenssozio-
logie – und 4) (den drei systematischen Möglichkeiten der geisteswissen-
schaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen der Philosophie gegenüber)
die historische Tatsachenwissenschaft vom vergangenen Philosophieren.
Daß auch dieses nicht die vergangenen Philosophien wirklich erreichen
kann, liegt an den Unzulänglichkeiten der systematischen Methoden der
Geisteswissenschaft. Geisteswissenschaft ist prinzipiell naives Denken. Wie
kann und mit welchem begrenzten Recht kann sich die
| Naivität über die Philosophie als Beurteiler aufwerfen? Die ungeheuere IV/3b
Anmaßung der Geisteswissenschaft. Begrenzung ihres Rechtes. –
Über die Philosophie (und über den Anfang der Philosophie) kann nur
die Philosophie selbst sich aussprechen. M. a. W. das Problem des Anfangs
der Philosophie, als eine Auslegung des formalen Wesens des Anfangs, ist ein
philosophisches Problem.
[Warum dies so ist, kann nur aus der philosophischen Reflexion über die
Philosophie selbst deutlich und verständlich werden!]

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Anfang der Philosophie ist bestimmt durch die metaphysische (d. i.
erst philosophisch erkennbare, also im natürlichen, naiven Denken nicht
vorfindbare) Tatsache und das Grundfaktum des Außersichseins des Geistes,
d. i. des Verblendetseins, des Befangenseins, des Naiv-Seins des Menschen:
dies die philosophische Erbsünde. Die Verschlossenheit gegen das Absolute,
die Weltzugekehrtheit und Aufgehen in der Welt. Welt = Universum des
Seienden überhaupt. Zur Naivität gehört das Nichtwissen um das Naivsein.
Naivität und ihre Potenzialitäten: Wissenschaften und dogmatische „Philoso-
pheme“. Die naive Idee des Wissens und des Wissbaren.
IV/4a | Die Einwände gegen den spekulativen Anfang der Philosophie.
1. Selbstvoraussetzung, petitio principii, circulus vitiosus. Formal-logi-
sche Einwendungen!
2. ‹bricht ab›.
IV/5a | Kritische Anmerkung zu Husserls Begriff der Apodiktizität:
Husserl faßt die phänomenologisch-transzendentale Auslegung des Ego als
Explikation der Apodiktizität, die im Zuge der Analyse zur Aufweisung von
Strukturen der Subjektivität kommen soll, die zunächst nicht apodiktisch
erscheinen: z. B. Apodiktizität der generativen Charaktere des transzenden-
talen Ego und damit der generativen Struktur der Intersubjektivität.
„Apodiktisch“ hat als phänomenologischer Terminus Husserls einen
besonderen Sinn. Die Phänomenologie Husserls faßt Apodiktizität zugleich
als Wesensnotwendigkeit – gemäß dem Prinzip des „transzendentalen Idea-
lismus“: Notwendigkeiten der Gegenstände der Erkenntnis sind Notwendig-
keiten des Seins der Gegenstände. Erkenntnisnotwendigkeit und Seinsnot-
wendigkeit „korrelativ“, oder besser, konstitutiv zusammenhängend.

IV/6a 1. | Die Gefahr der Reflexionsphilosophie:


Topische Reflexion als Reflexionsphilosophie: Religion, Philosophie als
Seinsweisen des Menschen. (Nietzsches „Alle Schönheit und Erhaben-
heit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen, will
ich zurückfordern als Erzeugnis des Menschen, als seine schönste Apo-
logie“.)7
*
2. Hegels Begriffe
I. Ansichsein, Fürsichsein und An-und-für-sichsein.
II. Dasein – Wesen – Begriff –

Hegels Begriffe sind dialektisch, d. h. in die Bewegung des Geistes, also
in die Verwandlung des Geistes, hineinzunehmen. Hegel kommt erstaunli-

7 Wille zur Macht, 2. Buch, „Vorspruch“.

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cherweise mit den wenigen Grundbegriffen zu einer ungeheueren Mannig-
faltigkeit und zu Fülle und differenzierten Gehalten. Wie ist das möglich?
Weil diese Grundbegriffe die Bewegung des Geistes in ihrer Elementarstruk-
tur erfassen.
*
Grundfrage der Hegelauslegung: Ist Hegels System eine Ontologie (Onto-
Theologie) des Geistes oder Meontik des Geistes??
*
| Husserls Philosophie näher derjenigen Fichtes als der Hegels. Von Hegel aus IV/7a
gesehen bleibt sie Reflexionsphilosophie: d. i. Dogmatismus der Egoität.
*
Der Untergang des „Ich“ in das Absolute als die allein im Denken mögliche
meontische Lösung oder Erlösung von der Individuation: das absolute Wis-
sen.
*
Hat die Philosophie eine „moralische“ Funktion? Dies die Wegscheide von
Husserl. Bei Husserl ist Philosophie der formale Weltlogos, der ein echtes
Menschenleben ermöglichen soll. Ich glaube nicht an die sittliche, mensch-
heitsverbessernde Aufgabe der Philosophie. (Daß sie faktisch utopisch ist, ist
kein Einwand gegen die Aufgabe. Alle großen Ziele sind utopisch.) Philoso-
phie ist eine Leidenschaft. Nur der innere Zwang, denkend leben zu müssen,
macht das Schicksal des Philosophen aus. Der Mensch kann nicht all-seitig,
soll gar nicht voll-seitig sein, sondern ein-seitig. Dies meine leidenschaftlich
geliebteste Erkenntnis! Nur dämonische Einseitigkeit gibt Raum für ein
Schicksal, für ein κατὰ φύσιν ξῆν. Vollseitigkeit ist ein Kulturideal.
*

| Merkzettel: IV/8a
1. Das pathische Weltbild: Leugnung der Konstanz des Menschen,
wie ‹es› in der Vermögenslehre zum Ausdruck kommt. „Geist“ ist
kein Vermögen des Menschen, sondern eine Daseinsmacht, eine Leiden-
schaft. Das griechische Leben stand unter der Übermacht des Erkennt-
niswillens.
*
Leidenschaft als Substanz des Lebens.
Religiöses Leben, philosophisches, künstlerisches oder politisches
Leben. Die antike Lehre von den βίος. Der βίος θεωρητικός als die
herrschende und dämonische Leidenschaft des Geistes. (Naturbegriff
des Geistes!)

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.
*
Es gibt zwei Möglichkeiten des Skeptizismus: 1. eine Durchgangsstufe
der Erkenntnisleidenschaft: Sprengung einer naiven Enge und Befreiung
aus Vorurteilen. Dieser Skeptizismus ist eine machtvolle Lebensäuße-
rung des in seiner Leidenschaft ungebrochenen Geistes. (Skeptizismus
als thematische Indifferenz.)
2. Skeptizismus als Ermüdung des geistigen Lebens selbst. Existenziel-
ler Skeptizismus.
*
IV/8b | Wie vollzieht sich die Änderung eines Lebensgefühls? Aufgrund neuer
Erfahrungen oder aufgrund einer Änderung der substanziellen Leidenschaft-
lichkeit des Lebens? Beides muß berücksichtigt werden. Aber Erfahrungen
sind immer schon durch die Substanz des Erfahrenden bedingt.
Von da aus die Frage: ist die Krise der europäischen Geistigkeit (Kultur) eine
solche, die auf Unstimmigkeiten, auf Grenzen der Rationalität, auf desillusio-
nierenden Erfahrungen beruht, oder ist der europäische Mensch müde des
Geistes? Hat ihn eine echte tiefe Langeweile ergriffen bei Wissenschaft und
Philosophie? Ist die scheinbare Konstanz des abendländischen Menschen
(des „animal rationale“) ins Wanken gekommen? Noch wissen wir es nicht.
Aber was gewagt werden muß, ist der Versuch der Wiedererweckung der
Leidenschaft des Geistes; vielleicht ist sie nur im Schutte der übergroßen
Kultur, im allzugroßen Meer der Historie untergegangen!
*

IV/9a | Wohin gehört im System der Philosophie die Auslegung des Sinnes
von „Wissenschaft“?
In die Kosmologie, 1. Teil: in die Lehre vom Seienden. Wissen als logi-
fiziertes Erfahren des Seienden (ἐπιστήμη). „Philosophie der Physik“, „Phi-
losophie der Geisteswissenschaften“ usw. erreichen alle nicht die eigentliche
philosophische Dimension.
*
Wie ist das Verhältnis zu bestimmen zwischen einer ontischen-„philo-
sophischen“ Sinnauslegung der Wissenschaften (Wissenschaftstheorie,
Methodenlehre der Wissenschaften) und der eigentlichen Philosophie
(Metaphysik)? „Wissenschaft“, ob deskriptive oder exakte, natur- oder
geistesthematische, ist „endliches“, d. i. dem Gegenstande „äußerliches
Wissen“. Philosophie ist absolutes Wissen.
*

IV/10a | Zur Analyse der Vergegenwärtigung.


These: Phantasieren ist prinzipiell kein „Wahrnehmen als ob“.
Phantasiert wird ein Wahrnehmen.

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Zirkel der Beschreibung!
Erinnern, Erwarten kein Verhalten zu den Dingen, sondern zur Zeit, in
der die Dinge, die jetzt sind, Zukunft haben oder Geschichte.
Ontologie der „Vorstellung“: als Aufgabe.
(Überholung der Lehre vom Noema)
Neuorientierung der Problematik der Imagination!
Verhältnis der Imagination zu Wahrnehmung und zu Denken.
Ist „Imagination“ ein einheitliches „Vermögen der Seele“?
*
Die prinzipielle Neufassung: Vergegenwärtigung kein Akt vom Schema:
cogito → cogitatum, sondern
cogito
cogito
cogitatum

| Neufassung des Begriffs der Wirklichkeit: IV/10b


Wirklichkeit kein gegenständlicher Begegnungscharakter, kein Moment an
den Dingen; sondern Weltcharakter: These: alles in der Welt ist wirklich.
Alles was wirklich ist, ist in der Welt. Sein und binnenweltlich-Sein ist
dasselbe. Kants Restriktion des Seinsbegriffs auf die Welt.

| Idee der „Autonomie“: IV/11a


Epoché von der Tradition; Rückgang zum lebendigen, nicht Kultur-geworde-
nen Geist. Iteration der Epoché. Natur als „Boden der Kultur“ selbst eine
geistige Tradition!!! Autonomie nie mehr auf dem Boden der Welttradition
zu restituieren. Nicht der „endliche“ Geist ist autonom, sondern eingelassen
inmitten des Seienden, eingestellt in die Welt, „außer sich“. Autonomie ist
Autognosie: Selbst-Erkenntnis, Selbstbesinnung! Ist das vorfindliche Selbst,
das unterworfene Selbst, wirklich „autonom“ oder ist seine Autonomie
Hybris, Anmaßung, die in „realistischen“ (desillusionierenden) Erfahrungen
zerbricht? Ist der gegenwärtige „Irrationalismus“, die Krise des Geistes auf
Tod und Leben, eben das Erleben des Zerbrechens eines falschen, illusionä-
ren, kultur-geborgenen „Idealismus“? Hat aber dieser Zusammenbruch nicht
seinen tieferen Grund in einer Stagnation der idealistischen Bewegung des
Geistes? War diese nicht radikal genug?

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IV/12a | Adresse an den Kongress:8
Die Situation der Philosophie:
Die Abwendung des aktuellen Geistes von seinem Willen zu sich selbst.
Kampf gegen die Autonomie, gegen den Intellektualismus; Kampf gegen den
Intellektualismus; Kampf gegen die Metaphysik des Geistes.
Krise des Geistes ist Krise der Philosophie. Das Positive an dieser
Tendenz des philosophischen Europa: die Entlarvung eines falschen Idealis-
mus. Die Zerstörung einer stagnierenden Geistigkeit, die die Herrschaft über
das Leben verlor, nicht weil das Leben „irrational“ ist, sondern weil die
Leidenschaft des Geistes müde wurde. Ein Ausruhen auf Positionen, die im
Ansturm des antiken philosophischen Enthusiasmus gewonnen waren. Der
„Irrationalismus“ (Positivismus, realistische Ontologie, Existenzphiloso-
phie, Logizismus) kämpft gegen einen anthropologischen „Absolutismus“.
Dies mit Recht! Nicht auf dem Boden der menschlichen (d. i. konstituierten)
Subjektivität läßt sich die Autonomie, d. i. Selbstherrlichkeit und Freiheit
aus dem Geist, verwirklichen. Hier bleibt Autonomie immer Utopie. Ja,
schlimmer noch, sie zeigt sich als
IV/12b | Wahn, Verblendung des Menschen, als lebensgefährliche Ideologie. Restitu-
tion der Idee der Autonomie bedeutet Totalität der Lebensgestaltung aus der
Selbstbesinnung, Vertiefung und Radikalismus dieser Selbstbesinnung erst
öffnet die Dimension, wo wahre Autonomie begründet werden kann. Rück-
gang auf die Intentionen, nicht auf die von den ursprünglichen Intentionen
erreichten und dann verfestigten Positionen. Epoché von der Tradition und
Verlebendigung der lebendigen Tradition.
IV/13a | Problem des Apriori:
Wie verhält sich Notwendigkeit der Wesenserkenntnis zum „apriori“, d. i.
zum „Vor-aller-Erfahrung“? ?
*
Möglichkeit und Notwendigkeit?
Durch den Rahmen des Wesens, d. i. des Notwendigen, wird begrenzt der
Spielraum des Möglichen. Was ist “ ὄν συμβεβηκός“?
Scharf zu unterscheiden: ontische Notwendigkeit und ontische Zufälligkeit –
und andererseits Notwendigkeit als Erkenntnischarakter (als Apodiktizität).
Das Seiende überhaupt ist – und ist nicht notwendig.

8 Zur Situation, anlässlich derer Husserl dazu eingeladen wurde, eine „Adresse“ an den

VIII. Internationalen Kongress der Philosophie zu richten, der vom 2. bis 7. September 1934
in Prag stattfand, und seine Arbeit in diesem Zusammenhang, vgl. Hua XXVII, S. XXV–
XXIX und S. 240–244, sowie Husserls Briefe an den Präsidenten des Kongresses, Emmanuel
Rádl, in: Bw. VIII, S. 91–96, Briefe vom 30. VIII. und ca. 30.VIII.1934, cfr. Hua XXVII,
S. 240–244 (dazu auch HChr, S. 449–451, sowie Hua XXIX, Einl. d. Hrsg., S. XVI–XVIII).

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Z-XX

Beschreibung:

Der Umschlag dieser Mappe trägt die Aufschrift: „1935/36 Gespräche mit
Landgrebe. Problembegriff von Philosophie. Problembegriff von Phänome-
nologie“. Unter den 47 nicht paginierten Blättern dieser Mappe finden sich
verschiedene Reihen, von denen die meisten (XVIII, XX, XXVIII und
XXIX) mit Heftklammern zusammengebunden wurden. Die Blätter der
Reihe XXV wurden in zwei anderen gefalteten Blätter eingeschlossen. In
verschiedenen Notizen werden Daten genannt:
3a – 1936
XVIII/3b – 19.XI.1935.
XX/1a – 27.I.36
21a – 4.II.36
22a-24b – Kalenderblätter vom 10. bis zum 12. Juli 1935.

Texte:

| In „Problemtheoretische Untersuchungen zur Lehre vom Weltbegriff“1 ist 1a


der 1. Abschnitt wohl am besten die Behandlung der Problematik des „exis-
tenzialen Weltbegriffs“. Dabei sind zu unterscheiden: 1) die mannigfachen
Welten, die historische Umwelten sind. 2) Welten, die Umwelten verschie-
dener Völker, Rassen, dann je der Geschlechter, der Altersstufen, der Tem-
peramente, der charakterologischen Typen, der Tierspezies, der Gesunden
und Kranken, der Normalen und Anomalen, der Vielen-Allzuvielen und der
wesentlichen Menschen sind. 3) Wissenschaftliche und vorwissenschaftliche
Welt. 4) Welt im Wie subjektiver Bedeutsamkeit und Grundschicht einer
gleichen Welt (die nicht bloße Natur im naturwissenschaftlichen Sinne ist,
sondern die Welt, worin Meer und Land, Tag und Nacht, Wolken, Wind,
Männer, Frauen, Tiere usw. sind: die „ontologische“ Welt. – 5) Welt –
Gegenstand – Seiendes: was ist die „Welt für mich“ und „Welt für uns“? Hier
trifft sich die Auslegung des existenzialen Weltbegriffs mit dem Problem der
Intelligibilität des Seins.

1 Siehe Mappe V-II.

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2a | Nietzsches Philosophie verständlich am Leitfaden der Metaphysik des
Spiels. Das „Jenseits von Gut und Böse“, die Lehre vom schöpferischen
Leben, „Von der großen Sehnsucht“, von „Dionysos“ (Spielgott und Gott
der Maske).

Vgl. im Zarathustra die Kategorien des Tapferen, Verwegenen, Wagenden,


Schöpferischen, Versucherischen
und des Tänzerischen, des Leichten, des Sehnsüchtigen, der Notwendigkeit
jenseits der Zwecke usw.
als Kategorialen des Spielerischen, als Elemente zu einer Metaphysik
des Spiels.
*

2b | Die Metaphysik des Spieles muß geleitet sein von einer Analyse des Spiels,
die folgende wesentliche Züge herausstellt:
1. Spielen ist kein Gegenbegriff zu „Ernst“, kein „Tun als ob“.
2. Spielen ist Selbstverdeckung des Spielenden. Der Spielende ist von
der Selbstrolle nicht so unterscheidbar wie der Vergegenwärtigende
vom Vergegenwärtigungsweltich. Der Spielende muß als Spielender
sich verdecken.
3. Spielen ist immer eine „Rolle“ spielen. Ein „Rollen“-loses Spielen
ist widersinnig.
4. Spielen ist reines Vonsichselbsthersein: „Notwendigkeit“ als Sichselbst-
leben, als Selbstvollstreckung.
*

3a | Mein philosophischer Horizont 1936:


1. Philosophie als Naturbegriff (Kampf gegen den Kulturbegriff der Philo-
sophie).
2. Philosophieren als Selbstbemächtigung des Lebens.
3. Die Metaphysik des „Spiels“.
4. Die „Reflexionsphilosophie“ und ihr philosophisches Recht.
5. Die „Ontologie“ und ihr Recht.
6. Die Transzendentalphilosophie = die Problemsetzung der Welt (ens –
unum – verum – bonum).

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| Eigene Arbeitsaufgaben: 3b
1. Theorie der Imagination.
2. Problemtheoretische Untersuchungen zur Lehre vom Weltbegriff.2
3. Bestimmung des Menschen.
4. „Die Hütte im Oytal“.3

| Zu „Die Bestimmung des Menschen“.4 4a


I. Der Mensch das bestimmende Wesen, das bestimmt, was die Dinge sind,
und bestimmt, was es selbst ist. Bestimmend ist es das „animal ratio-
nale“.
II. Der Mensch in „Bestimmungen“ der Institutionen.
Ein Kapitel z. B. „die Philosophie und der Staat“: „Staat“: das ist die
stabilisierte Gewalt einer Lebensordnung, die eine Definitheit der Lebens-
problematik voraussetzt. Der Staat ist notwendig dogmatisch, Staat ist immer
Sicherheit, Endgültigkeit, Einwertigkeit des Wirklichen.
Die Philosophie aber ist immer skeptisch, spähend, versucherisch,
wagend, Ausblick ins Unbekannte, in ferne Menschenzukunft.
Die Philosophen nicht „staatsfeindlich“, sondern wagend. „Alles Erwä-
gen der Dinge ist immer zuvor und zuerst ein Wagen“.5

| Merkzettel 5a
Die Einstellung auf Seiendes, die den Lebenscharakter der Benommenheit
vom Seienden ‹hat›, darf nicht ausschließlich, ja nicht einmal vorwiegend am
Verhalten zu Dingen (Substanzen) orientiert werden.
Seiendes ist nicht bloß der ontologische Titel für Dinge, sondern
für Geschehnisse.
Seiendes = das G e s c h e h e n d e (sprachlich ein substantiviertes Ver-
bum).
*
| In „Theorie der Imagination“ ist ausdrücklich das ontologische Problem des 6a
Seins des intentionalen Gegenstandes zu behandeln.6
(„100 wirkliche und 100 eingebildete Taler“)

2 Vgl. die Mappe V-II hier im selben Band.


3 Zur „Hütte im Oytal“ siehe die Anmerkung zu Z-XXIII 8.
4 Siehe die Anmerkung zu Z-XVIII 4a.

5 Ohne Quellenangabe – möglicherweise eine Anspielung auf das Sprichwort: „Erst wägen,

dann wagen“, das durch den Schriftsteller und preußischen Generalfeldmarschall Helmuth
Karl Bernhard von Moltke geprägt wurde.
6 Siehe OH-II 48, wo die „Theorie der Imagination“ als die Bearbeitung von „Vergegenwär-

tigung und Bild“ angezeigt wird. Die Bildanalyse der Dissertation wird schon in der Aufschrift
der Mappe Z‑III als „Theorie der Imagination“ angekündigt, während 12a und 13a unten deren
weitere Entwicklung umreißen. Vgl. auch Z-XII 2a, Z-XVIII 2a, und OH-V 3.

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(Begriff der Erscheinung und Ding an sich)
Ferner das Sein des Gedachten (als Gedanke) und das Sein des Fiktums.
Einbildungskraft und Denken??
Ferner die scheinbar leichtere Möglichkeit, an den Vergegenwärtigun-
gen den intentionalen Gegenstand abzuheben.

Gliederung vielleicht:
I. Teil: interne Analytik der Vergegenwärtigungsintentionalität (nicht bloß
die allgemeinen intentionalen Strukturen von den verschiedenen Arten
der Imagination, sondern auch der Imagination der „Sinne“ [Imaginat
des Gesehenen, des Getasteten, des Gerochenen, des Geschmeckten, des
Gehörten]; also ausholende Analysen der Sinne).

Übergang ist Schlafanalyse

II. Teil: externe Analyse der Imagination.


III. Teil: Ontologische Probleme der Imagination und Imaginate.
*
6b | Die „Theorie der Imagination“ erfüllt die Funktion, Zutrauen zu schaffen
für die schwierigen philosophischen Analysen in den „Problemtheoretischen
Untersuchungen zur Lehre vom Weltbegriff“.
Die Berührung der beiden Schriften ist in folgenden Punkten:
a. Problem der Unterscheidung von Gegenstand und Seiendem,
b. Begriff der „Welt“ als Formalbegriff,
c. Ontologie des Fiktums und „Weltstrukturen und Ontologie“.

7a | „Alles“, „Nichts“ usw. sind Begriffe, die im natürlichen Verstehen von


Welt gründen.
*
Raum 1. Figuralraum
2. Ortsraum
3. Weltraum
Bei Husserl ist die Tendenz, vom Gegenstandsraum aus das Wesen des Welt-
raumes zu begreifen als eine ins Endlose möglicher Erfahrung ausgeweitete
und ausweitbare Iteration gegenstandsräumlicher Strukturen.
*

Kants Philosophie als die erstmalige Herausstellung des kosmologischen


Horizontes der Seinsidee;
Kant ermöglicht so erst eine meontische Metaphysik des „Absoluten“.
*

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| 8a
1. Logik des prädikativen Satzes “S ist P”. Seine Voraussetzung als
L.7 Urform.
2. Fehlen des Verbalsatzes.
Logik der verharrenden Naturdinge.
3. Husserls Theorie des Selbstbewußtseins (Motiv der Reflexionsphiloso-
phie: cogito me cogitare rem).
4. Der Satz „S ist P“ ist auch ein Verbalsatz. S e i n = ein Verbum.
5. Der Existenzialsatz: Husserls Konstruktion als Affirmativsatz. Substrat
ist das „es“. Im Existenzialsatz ist das „Sein“ als Verbum.
6. Sein als Verbum und als Kopula.
7. Kopula = Sein je nach der Seinsart des thematischen Seienden. (Z. B.
Baum ist grün = Baum währt grün; aber 2+2 = 4 nicht 2+2 währt 4. Das
Sein der Zahlen ist kein Währen.)
8. Begriff der Formalontologie: „Etwas“ ist für Husserl gleich inten-
tionaler Gegenstand, Substrat möglicher Prädikation. (Paradoxie:
Nichts und Etwas.) [Nichts ein mundaner Begriff.]
9. Kantinterpretation Husserls ist reiner
| Neukantianismus. Kants Frage nach der Möglichkeit der apriorischen 8b
Erkenntnis als eine Frage nach der transzendenten Gültigkeit des
immanenten Vernunftgedankens ausgelegt. [Also nicht das Problem
der „Apriorität“ des Wesens als kantische Zentralfrage gesehen.]
10. Husserls Wesensproblem orientiert an der Zugangsfrage: Ideation.
Vor der Ideation „typische“ Bekanntheit.
11. Objektivität und Intersubjektivität: Husserls Äquivalentsetzung von
Seiendem und Gegenstand, intersubjektivem Gegenstand und objek-
tiv Seiendem.
12. Idealismus-Realismusproblematik:
Langrebes8 Position: die monadische Intersubjektivität muß für ihre prästa-
bilierte Harmonie einen letzten Grund haben.
Meine Position: Die Idealismus-Realismusfrage ist keine Frage, ob es
hinter dem Gegenstand (dem zugänglichen Seienden) ein Ding an sich gibt
oder nicht, sondern eine Frage nach dem Sein des Erfahrens, Erkennens,
Zugehens, also ein Problem der externen These über die Erfahrung.

7 Wie unten (Nr. 12; siehe Anmerkung) vermutlich Landgrebe.


8 Fink schreibt einfach „L.“, was vermutlich „Landgrebe“ bedeutet.

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Vorphilosophisch zwei Auslegungsrichtungen der dogmatisch-exter-
nen Theorie:
a. orientiert an der „actio“,
b. orientiert an der „passio“!

9a | In Husserls System ist durch die „kritischen Anmerkungen“ die Grundpo-


sition herauszustellen, und zwar nach den drei Gesichtspunkten:
I. Die intern-phänomenologische Analytik der Intentionalität.
II. Die extern-phänomenologische These über das Sein der Intentionali-
tät.
III. Die „transzendentale“ Problematik [das Fragen nach der Intelligibilität
des Seins].
*
Husserls transzendentaler Idealismus ist im Grunde eine Kreuzung transzen-
dentaler Probleme und immanenzphilosophischer (subjektivistischer).
*
Husserls „Konstitutionsproblematik“ ist ausschließlich orientiert an der
Konstitution der Gegenstände (also er hat nicht die Idee einer spezifischen
Konstitution der Welt und des Selbst).
*

10a | Kritische Anmerkungen


I. Die interne Analytik der Intentionalität, die bei Husserl zur diffe-
renzierenden Methode ausgebildet ist, schlägt überall dort, wo das „reflexi-
onsphilosophische“ Motiv wirksam wird, in eine externe These über das
Wesen der Intentionalität um: z. B. der Begriff der „Sinnbildung“, der Begriff
des „Leistens“, des „Geltens“, des „Fungierens“: überall wird hier die inten-
tionale Vorgängigkeit des Erlebens vor dem erlebten Gegenstand, die eine
im analytischen Wesen der Intentionalität beschlossene ist, in eine ontische
[und d. h. nicht intern-intentionale] umgedeutet.
Die Analytik der Intentionalität liefert für Husserls „reflexionsphiloso-
phisches“ Denken sozusagen nur die „konkreten“ (d. i. die Fruchtbarkeit
der phänomenologischen Methode verifizierenden) Unterlagen: sie werden
gleichsam zu Prämissen für eine gefährliche Metaphysik der „Geltung“,
„Metaphysik der Sinnbildung“, „Metaphysik der Erkenntnis“.
Der zentrale Gedanke, den Husserls mannigfaltige „reflexionsphiloso-
phische Argumentation“ immer wieder abwandelt, ist: zwischen Erkenntnis
(konkret genommen als Erfahren, Apperzipieren, Horizontbewußtsein, Ver-
gegenwärtigen, Denken usw.) und Sein
10b | ist im Grunde kein „hiatus“: das Sein ist prinzipiell Korrelat des Erkennens,
der Schein einer Differenz entsteht nur, weil wir immer auf die thematische
Intentionalität achten und gerade die Bodengeltungen, Horizontgeltungen,

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implizierten Geltungen übersehen. Seiendes ist Gegenstand der Erkenntnis
und zwar einstimmig sich bewährender.
Thesenhaft könnte man Husserls Grundgedanken zusammenfassen:
Seiendes ist „Seiendes für uns“ (wobei das „Füruns“ sich als ein Modus
des „Fürmich“ ausweisen läßt). Es „gibt“ nur „Seiendes für uns“. „Seiendes
an sich“ ist widersinnig; denn wir haben keine Welt, als die in unseren
Erfahrungen erfahrene, gemeinte, einstimmig bewährte, geltende.
Daß wir keine andere Welt als die uns geltende haben, ist gewiß. Aber
daß Seiendes = Seiendes für uns = Gegenstand sei – dies ist die externe These
der „Reflexionsphilosophie“ über das Wesen des Bewußtseins.
Seiendes ist uns nur gegeben in subjektiven Zugangsweisen. Aber
deswegen ist es doch nicht nur aufgrund dieser „Zugangsweisen“.
Die „Reflexionsphilosophie“ überspringt die natürliche Weise, wie wir
„Erkenntnis“ verstehen und auch das „Sein“.

| Kritische Anmerkungen. 11a


II. Husserl geht bei aller Betonung des radikalen Ansatzes von einer festen
und fixen Idee der Philosophie aus: sie ist ihm „Wissenschaft“. Dabei steht
er nicht in der Botmäßigkeit des Wissenschaftsideals der objektiven Thema-
tik (etwa Naturwissenschaft und Mathematik), sondern spricht der Philoso-
phie ein eigenständiges Wissen und eine eigenständige Wissenschaftsidee zu:
nämlich Wissen von der „leistenden Subjektivität“. Durch den profunden
Unterschied der Thematik ist für Husserl das Wissen der „Wissenschaften“
und das Wissen der Philosophie unterschieden. Das Wissen der Wissen-
schaften erweist sich als ein naives, das erst durch seine Rückbeziehung auf
das Wissen der Philosophie zu einem letztlich verständlichen wird: die Wis-
senschaften werden durch die philosophische Aufhellung der sie tragenden
Voraussetzungen (Ausgang von der „Lebenswelt“, Durchlaufenhaben von
„Idealisierungen“, naive Abgekehrtheit von den subjektiven Mannigfaltig-
keiten des wissenschaftlich fungierenden Tuns usw.) in die Wissenseinheit
der Philosophie zurückgenommen: sie werden Zweige der Philosophie.
Aber trotz der thematischen Differenz wird die Haltung des Lebens als
dieselbe angesetzt: Philosophieren
| ist wissenschaftliches Erkennen des Seienden, eine „unendliche Aufgabe 11b
der Forschergenerationen“, in einem unendlichen Progressus, eine überin-
dividuelle, kollektive Angelegenheit des menschlichen Kulturfortschritts,
allerdings „geheiligt“ durch das Absehen auf eine „praktische universale
Vernunftkultur“, für welche die Philosophie die Funktion der Selbstbesin-
nung übernimmt. Der Philosoph sieht sich demnach in die Rolle gestellt:
Diener der unendlich fortschreitenden Wissenschaft zu sein – aber in der
Bezogenheit auf die Fragen der „praktischen Vernunft“ [Vernunftkultur,
echtes Menschentum, allgemeiner Friede, universale Harmonie der Einstim-

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migkeit, Teleologie, Gott als Telos!]. Mit einem Wort: die Lebenshaltung der
Wissenschaft, die Attitude des Wissenschaftlers, bestimmt Husserls Begriff
des Philosophierenden.
‡ D. h. Husserl setzt die Haltung der Philosophie nicht selbst ins Pro-
blem.‡ ‹Betonung durch einen doppelten Strich am Rand.›
These: Philosophieren ist erkennendes Fragen, Wissen und Wissen-
schaft in ihrem Inhalt, aber nicht als Haltung des Lebens. Denn als solche ist
sie die Selbstbemächtigung des Lebens, das Spiel um die Freiheit.
*

12a | Wichtig für „Theorie der Imagination“ ist die Analyse des „Sichvorstellens,
Sichdenkens, daß ich nicht bin“.9
Nach Husserl ist eine solche Vorstellung nicht möglich, denn ich muß ja
als der Vorstellende sein.
Besser: ich kann mich nicht aus der Welt wegdenken. Also müssen
Menschen existieren, wenn eine Welt sein soll können. Denn als Fingierender
einer menschenlosen Welt bin ich Voraussetzung dieser Fiktion.
Husserls Auswertung dieser Vorausgesetztheit des Fingierenden einer
menschenleeren Welt für die Stützung der These von der Notwendigkeit des
Menschen in der Welt – ein typisch „reflexionsphilosophisches“ Argument
– zeigt das Übersehen der Scheidung von vergegenwärtigendem Ich und
Ich der Vergegenwärtigungswelt. Daß ich als Vorsteller einer fiktiven Welt:
„Welt ohne Menschen“ vorausgesetzt bin für diese Fiktion, spricht ja gar
nicht gegen die ontologische Möglichkeit einer solchen „Welt“, solange man
12b | nicht „reflexionsphilosophisch“ Vermeintheit (intentionales Objekt)
und Wirklichkeit identifiziert.
Wenn man die Richtigkeit der „reflexionsphilosophischen“ These vor-
aussetzt, dann allerdings gewinnt Husserls Gedankengang an philosophi-
scher Bedeutung.

13a | Die beiden Schriften „Theorie der Imagination“ und „Problemtheoretische


Untersuchungen zur Lehre vom Weltbegriff“ hängen zusammen nach folgen-
den Problemen:
I. Ontologische Bedeutung des „bloß intentionalen Gegenstandes“:
1. Die „Welt für uns“,
2. „Gegenstand“ und „Seiendes“,
3. „Weltstruktur“ einer Imagination,
4. Welthaftigkeit jeder Imagination,
5. Interne und externe Intentionalanalyse und das Problem des Seins
des Bewußtseins,

9 Die Formulierung des Themas erinnert an den Titel der Preisschrift. Siehe Z-I, Beil. I.

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6. „Gegenstand“ = „Seiendes für mich resp. uns“ und Gegenstand als
„bloß intentionales Objekt“ (z. B. Kentaur).

| Merkzettel 14a
1. Fungieren
Verweltlichung

“Fungieren” — vergegenständlichtes Fungieren


Husserls Begriff des Seienden = Gegenstand = Objekt bestimmt Verweltli-
chung als Vergegenständlichung.
*
________________________________________________
2. Zweifache Unterscheidung vom bloß intentionalen Objekt:
a. Seiendes und Seiendes für mich
[an sich] [„Erscheinung“]
b. „Erscheinung“ und „Bloß-Vermeintes“
[Wirkliches] [Illusion, Fiktion usw.]
| Zur Begriffsgeschichte der „Transzendentalien“ vgl. Eisler „Wörterbuch 15a
der philosophischen Begriffe“ (4. Auflage 1930, S. 258).10
„Transzendental (oder transzendent) nennt der Scholastiker die über
den Prädikamenten liegenden, auf diese selbst anwendbaren allgemeins-
ten Begriffe“.

| Die beiden fundamentalen Anfangsmöglichkeiten der Philosophie: 16a


1. ontologisches Vorgehen (setzt unthematisch die Erkenntnis voraus),
2. das gnoseologische Vorgehen (setzt unthematisch das „Sein“ voraus).

Transzendentalphilosophieren ist die höhere Einheit der beiden Ausgangspo-


sitionen (ens-verum-unum-bonum).
____________________________________________________

| Husserl analysiert nicht 17a


1. die Wachheit als Horizont des Bewußtseins,
2. nicht das Sein des Bewußtseins,
3. nicht die Struktur der Selbsterfahrung (Reflexion),
4. das Hören (Stille und Laut),

10 Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 4. Aufl., Bd. 3, Berlin 1930,
S. 258.

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5.das Wesen der Zeit (Zeit am derivierten Modus der Zeitlichkeit des
Zeitinhalts aufgefaßt),
6. die Struktur der Welt.
17b | Aufgaben für mich:
1. Welt-Analyse,
2. Seinsanalytik des Bewußtseins,
3. Schlafanalyse,
4. Reflexions- und Selbstbewußtseinsanalyse,
5. die Auslegung des Selbst. (Ich und Selbst).

Reihe XVIII:
XVIII/1a | Heidegger: Grundfragen der Metaphysik11
Frage nach dem Wesen des Dinges: Was ist ein Ding? Auslegung der
Dingheit des Dings als „Diesheit“. „Dies“ grammatikalisch ein Fürwort, aber
„dieses“ im Grunde seiner nennenden Leistung mehr als ein bloßes Fürwort.
Allem Begegnen und Umgang mit den Dingen liegt zugrunde dieses Zeigen,
auf „Dieses“ und „Jenes“.
Ding = Träger von Eigenschaften, dies ist die natürliche Auslegung, die
wir unmittelbar aus der Erfahrung entnehmen.
Die so „natürliche“ Auslegung der Dingheit des Dings auch in der
Philosophie „natürlich“, seit Plato und Aristoteles.
Die geläufige und natürliche Fassung der Dingheit als Träger von
Eigenschaften selbst in einer ganz einsichtigen Begründung gegeben. Das
Wesen der Wahrheit als Richtigkeit zeigt denselben Bau, dasselbe Gefüge wie
der Bau der Dinge.
Wahrheit? Sitz der Wahrheit ist die Aussage. Dreifache Bedeutung der
Aussage, die alle zusammen das einheitliche Wesen der Aussage ausmachen.
1) Heraussage (Mitteilung), 2) Auskunft über die Lage der Dinge, 3) Aussage
von.… = Satz.
Haus
Schema:
Haus

3) Aussage von … = Satz


2) Aussage über = Auskunft
1) Aussage an = Mitteilung

11 Finks Notizen entsprechen den §§ 1–13, d. h. dem „Vorbereitenden Teil“ von Heideggers

Vorlesung im WS 1935/36 (HGA 41). Der ursprüngliche Titel lautet: „Grundfragen der Meta-
physik“ (HGA 41, S. 253).

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Der Bau der Dinge ist 1) ganz natürlich in der Erfahrung vorgegeben, 2) eine
feste Traditionswahrheit in der Philosophie, 3) bezeugt durch das Wesen der
Wahrheit. –
| Also ist die Frage „Was ist ein Ding?“ schon längst beantwortet und XVIII/1b
erledigt. Hier noch weiter fragen zu wollen, wäre entweder blinder Eigensinn
oder Wahnsinn. Wir werden gut daran tun, die Frage also aufzugeben.
Bevor wir sie endgültig aufgeben, eine Zwischenfrage: was ist „natür-
lich“? Natürlich hat nicht mit Natur zu tun, sondern mit Geschichte. (Bei-
spiele: Italiener – Abessinien, 18. Jahrhundert und Mittelalter.)
Ein Verdacht steigt hinter unserem Rücken hoch: ist die „natürliche“
Auffassung des Dinges als Träger von Eigenschaften selbst eine geschicht-
lich gewordene? Gab es eine Zeit, in der sie noch nicht bestand, und eine
Zeit, in der sie ausgearbeitet wurde? In der Tat. Bei Plato und Aristoteles
können wir noch die Hauptschritte verfolgen. Die Ausarbeitung der Dingheit
als Trägersein von Eigenschaften fällt zusammen mit der Entdeckung des
Satzes und der Wahrheit als Richtigkeit. (Noch bei Plato ist kein Wissen um
das, was ein Satz ist.)
Aber wozu sollen wir diese „Geschichte“ (der Ausarbeitung der Ding-
heit der Dinge) verfolgen? Ändert sich etwas an unserem alltäglichen Leben?
Sollen wir es belassen bei der Gedankenlosigkeit, die beim Selbstverständ-
lichen stehenbleibt, bei dem man sich nichts mehr denkt. Entscheidungen
solcher Art lassen sich nicht erzwingen. Solche Fragen werden nicht ent-
schieden im Bereich des täglichen Umgangs mit den Dingen (z. B. Gebrauch
der Straßenbahn), sondern im inneren Bereich der Freiheit. Die Stufe der
Freiheit des Wissens gibt einem Volke seinen Rang. Die Griechen sahen den
ganzen Adel ihres Seins in der Tiefe ihres Fragens. Die Wissenschaft, deren
Technik wir täglich gebrauchen, entsprang in einer vor dem Scheiterhaufen
nicht zurückschreckenden Unerbittlichkeit des Fragens. Vielleicht können
wir uns das Fragen ersparen. Vielleicht aber zeigt sich die Unumgänglichkeit
eines neuen, an Umfang, Tiefgang und Sicherheit über alles bisherige Fragen
hinausgehenden Fragens, wenn wir uns behaupten wollen. Solange wir
(Heidegger) hier stehen, entscheiden wir uns für das Fragen, das noch
jahrzehntelang ein Fragen bleiben wird. – Nietzsche, den man heute nicht
so oft bemühen sollte, hat auf einen seiner einsamen Gänge die Worte
niedergeschrieben: „Eine ungeheure“ ‹bricht ab›
| Oder gibt es einen gemeinsamen Grund für das Wesen des Dinges und XVIII/2a
das Wesen des Satzes?
Was das Ding bedingt, sagten wir früher, muß ein Unbedingtes sein.
Wenn das Ding gilt als ens creatum, ist das Unbedingte eben Gott. Wenn
das Ding ist Gegenstand, so ist das Unbedingte das Ich Fichtes und des
Deutschen Idealismus.

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Die Frage nach dem Unbedingten hängt ab von der Bestimmung
des Dinges.

Die anfängliche Frage nach dem Ding ist in der Ausgangsstellung


erschüttert. Die Frage nach dem Ding kommt so aus dem Anfang (Antike) her
wieder in Bewegung.
Jede philosophierende Frage ist in diesem Sinne geschichtlich, als sich
selbst in Frage stellendes Fragen, das sich im Kreis bewegt.

Aristoteles nennt schon das Ding ein Dieses: τὸ δε τί. Auch hinsichtlich
des Allgemeinen, von dem her das Einzelne erst Sinn hat, sind bei Plato
und Aristoteles bestimmte Entscheidungen gefallen. Ebenso hinsichtlich
des Raumes
XVIII/2b | und der Zeit. –
In Wahrheit aber ist unser geschichtliches Dasein schon in der Bahn einer
Wandlung begriffen.
Wir können nicht mehr zurück aus dem Wissen.
Den Anfang der Bewegung der Daseinsstellung zum Ding bei Plato
und Aristoteles können wir hier nicht auslegen 1) weil alle Voraussetzungen
fehlen, das Ding im Ganzen des griechischen Daseins (Götter, Kunst, usw.)
vor heutigen Studenten zu entwickeln (nicht einmal Schillers ästhetische
Schriften, geschweige eine antike Tragödie); 2) weil wir unter der Herrschaft
des naturwissenschaftlichen Dingbegriffs stehen, auch dort, wo Lebendiges
nicht aus Leblosem erklärt wird, auch dort ‹wird› das Lebendige aufgefaßt als
Anbau, Überbau des in Raumzeitordnung figurierten Massenpunktes. Trost-
losigkeit des Umgangs mit Gedichten, weil ‹wir› sie wie Dinge nehmen.
Trostlosigkeit auf griechisch, jetzt auf deutsch ‹bricht ab›
*
XVIII/3a | Vollziehen sich die Bestimmungen der Wesen des Dings, des Satzes und der
Wahrheit nur zufällig gleichzeitig oder hängen sie zusammen? Und wenn,
wie hängen sie zusammen?
Ein Zusammenhang zwischen Wesen des Dings und Wesen des Satzes
schon angedeutet (ὑπόκειμενόν συμβεβηκός – Subjekt Prädikat). Wurde der
Wesensbau des Satzes dem Wesensbau des Dinges angemessen – oder hat der
Mensch den Bau des Satzes in das Wesen des Dinges hineinverlegt?
Sollte das letztere der Fall sein, wie kommt die Aussage zum Rang der
Messung des Wesens des Dinges. Richtet sich das Ding nach dem Menschen
(Satz) oder der Mensch nach dem Ding.
Vgl. Protagoras „ἡ ἀλήθεια“. Ist die Meinung, daß der Bau des Dinges
sich nach dem Satz richtet, ungriechisch?? Aber vielleicht ist dies gar kein
„Subjektivismus“. –

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Die Frage nach dem Wesen des Dinges steht jetzt so: Bestimmt sich das
Wesen des Satzes aus dem Wesen des Dinges oder umgekehrt?
Reicht dieses Entweder-Oder zu?
| Selbstbesinnung, nicht als Individuum, sondern als Menschheit “ … ein XVIII/3b
Durchlaufen der großen und kleinen Wege …“12
Wir gehen einen kleinen Weg, indem wir fragen „Was ist ein Ding“.
19.XI.1935
*
Wenn wir natürlich nach dem Ding fragen, so spricht schon Geschichte
in der Weise unseres Fragens. Was heißt „geschichtlich“? Nicht um einen
Bericht des vergangenen Geschehens, das still liegt, handelt es sich. Wir
fragen geschichtlich, wenn wir fragen, was noch geschieht. Also kein
Fragen nach früheren Meinungen über das Ding, nicht nach Formeln und
Definitionen über das Ding, die nur der Bodensatz sind der Grundstellungen
und Grundbewegungen des Daseins (die nur scheinbar nicht mehr feststellbar
sind). „Bewegungen“ können im Stande der Ruhe sein. Ruhe des Gesche-
hens ist keine Abwesenheit, sondern eine Grundform der Anwesenheit der
Geschichte. Das „Aktuelle“ immer nur der Lärm der Geschichte. Ruhe = die
an sich haltende Bewegung und als solche unheimlicher als das Geschehen.
In den Zeiten Platos und Aristoteles’ bildete sich die Bestimmung des
Dings als Träger von Eigenschaften (Wesen der Wahrheit als Richtigkeit
und Entdeckung des Satzes). Das läßt sich an den Texten feststellen. Die
Meinungen sind wieder andere in der Stoa, im Mittelalter, in Deutschen
Idealismus, in der Neuzeit. Aber ein solcher Bericht würde das Ding selbst in
Ruhe lassen.

| Zur Kritik des „Idealismus” 19a


Idealismus als Verabsolutierung der Erkenntnisvorgängigkeit des erkennen-
den Menschen vor den erkannten Dingen ist Reflexionsphilosophie (Subjek-
tivismus).
Die Reflexionsphilosophie bleibt in einer internen Auslegung des
Erkennens verhaftet.
Husserls großer Verdienst ist die Ausschöpfung der Möglichkeiten eines
reflexionsphilosophischen Denkens.
Husserls Gleichsetzung von Seiendem und Gegenstand, der „analyti-
sche Korrelativismus“.
Die spekulative Phase der „idealistischen“ Interpretation des analytischen
Korrelativismus: Husserls „transzendentaler Idealismus“.

12 Nietzsche, Wille zur Macht, Nr. 585.

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Die Ergebnisse der reflexionsphilosophischen Phänomenologie:
1. eine Aufdeckung der verborgenen Strukturen des Lebens:
A. Benommenheit von den Dingen,
B. Versponnenheit in ‹das› Apriori,
C. Befangenheit in der Welt.
19b 2. | die Strukturaufweisung allerdings in der Perspektive der reflexions-
philosophischen Identifikation von Seiendem und Gegenstand (ens
und verum);
3. Einbaufähigkeit der phänomenologischen Reflexionsphilosophie in
eine Philosophie der „transzendentalen Problematik der Intelligibilität
des Seins“.

Reihe XX:
XX/1a | 27.I.36 Gespräch mit Dr. Landgrebe:
1. Die vier Einwendungen gegen Husserls „Prager Vortrag“:
a. Der „Kulturbegriff der Philosophie“.13
b. Begriff der Metaphysik als Problematik der „höchsten und letzten
Fragen“. D. h. Husserls Auffassung, daß die Ausschaltung der Fra-
gen der „praktischen Vernunft“ eine Einengung der philosophischen
Problematik auf das Wißbare der positiven Wissenschaften sei.
c. Husserls Begriff des „Rationalismus“ (Neuzeit als Periode).
d. Husserls Kantinterpretation: als eine Frage nach dem Verhältnis der
„immanenten“ Vernunftprozesse zu Gültigkeit des metaphysischen
An-sich. Husserls Gleichsetzung des metaphysischen Ansich mit
dem Ansich der Naturwissenschaftler.
XX/1b 2. | Begriff der Apodiktizität: Analyse des Descartes, Dum dubitans, sum.
3. Das reflexionsphilosophische Motiv, der „verfrühte Idealismus“, die
Gleichsetzung von Gegenständen und Seienden, und von Erkenntnisre-
lation und Seinsrelation.
4. Interne und externe Analyse (Bildbeispiel): Intentionalanalyse und
ontologische These über Intentionalität. —
(Leisten – Sinnbildung usw. zweideutig!!!)
XX/2a 5. | Schlafanalyse als Einbruchstelle in der internen Analytik des Bewußt-
seins, wo die externe notwendig wird.
6. Die naiven ontologischen Thesen über das Sein des Bewußtseins.
7. Die Alternative des philosophischen Anfangs: a) von der Korrelation aus
– unthematischer Gebrauch des Seins; b) Ontologie – unthematischer
Gebrauch der Korrelation.
Die transzendentale als höhere Einheit.

13 Vgl. OH-VII 44.

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8. Aufriß der „Problemtheoretischen Untersuchungen zur Lehre vom Welt-
begriff“:
a. existenzialer Begriff von Welt,
b. Kant,
c. phänomenologische Analyse der Welt.
9. | Bestimmung des Menschen: XX/2b
a. Zurückholen aus der Versklavung in Institutionen,
b. aus der Verlorenheit in Ideale (Fanatismus als das Sichselbstüber-
schlagen des Lebens),
c. aus der Eingestelltheit in Natur und
d. in das Sein.
Wesen des Menschen ist zugänglich in der Selbstbefreiung = Selbstbe-
mächtigung = Freiheit befreit die Freiheit. Wesen der Freiheit das Spiel.
*

| Gespräch mit Landgrebe: (4.II.36) 21a


1. Einbruch des Kulturbodens
2. „Tod Gottes“
3. Das integrale Leben
4. Die Selbstversehrung
5. Das Spiel: Spiel und Rolle
6. Der notwendige Untergang des Lebens in seinen „Rollen“

1. | Wissenshabitualität also ein individuelles subjektives Prinzip?? 22a

2. Widerspruch von „a priori“ und „synthetisch“?

3. In der Weiterentfaltung der apriorischen Erkenntnis der Unterschied von


synthetisch und analytisch?
| ‹Kalenderblatt: „Mittwoch 10. Juli 1935“› 22b

| Vor-philosophische apriorische W i s s e n sbestände, 23a


philosophische Erkenntnisse:
a. analytische Erläuterungen
b. synthetische Erweiterungen

c. analytische Erläuterungen synthetisch gewonnener Sätze.


| ‹Kalenderblatt: „Freitag 12. Juli 1935“› 23b

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24a | Analytische Urteile
I. Form

a. Form und Inhalt


b. Form und empischer Inhalt

Alle analytische Urteile = a priori = weil auf dem Verhältnis der Implikation.
(Implikation als analytische Form und analytischer Inhalt)
24b | ‹Kalenderblatt: „Donnerstag 11. Juli 1935“›

Reihe XXV:
XXV/1a | 14§ 1. Kants Ansatz bei der traditionellen Idee der Metaphysik = Erkenntnis
des Seienden aus reiner Vernunft = Rationalismus, dessen zentrales Problem
die apriorische Erkenntnis ist. Kant springt von der rationalistischen Kon-
zeption der Metaphysik ab, indem ‹er› diese Idee verwandelt durch die trans-
zendentale Fragestellung nach der Möglichkeit des Apriori. (D. h. Kant ver-
wandelt die rationalistische Metaphysik, die ihren Ursprung der Entdeckung

14Die Paragraphenzahl der Notizen dieser Reihe (/1a, / 4a) verweist auf die Paragraphen von
Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik.

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des Wesens verdankt (Plato), in die kosmologische Metaphysik, sofern die
Frage nach der Möglichkeit des Apriori die Welthaftigkeit des Seins
(„Erscheinung“) freilegt.)
Aber wichtig bleibt doch die Beachtung des abspringenden Ausgangs
Kants von der rationalistischen Metaphysik-Idee. Die Quelle der metaphysi-
schen Erkenntnis ist die reine = apriorische Vernunft.
*
§ 2. Thema ist die metaphysische „Erkenntnisart“. Was ist Erkenntnisart?
Weise der Erkenntnisgewinnung? Ursprüngliche logische Form – „Inhalt“.
Der Begriff des Inhaltes hier unklar! Inhalt = Wissensstand.

| Kant spricht von Urteilen analytischen und synthetischen Charakters. XXV/1b


Analytisches oder synthetisches Sein eines Urteils besteht im Verhältnis des
Prädikats zum Subjekt. Aber wie ist das Verhältnis bestimmt?
1. Ist es der kontingente subjektive Wissenstand? Kants erstes Beispiel:
a) Körper – ausgedehnt, b) einige Körper schwer. Ist hier subjektiver
Wissensstand entscheidend?
Weitere Frage: ist „alle Körper sind ausgedehnt“ wirklich ein analyti-
scher Satz (oder vielleicht ein vor-ontologisches materiales Wissen a
priori)? __
Gemeinschaft‹liches› Prinzip aller analytischen Urteile ist Satz vom
Widerspruch. Was ist ein Prinzip von Urteilen?? Schlüssigkeit der analyti-
schen Sätze auf dem Satz vom Widerspruch, aber ihr Analytisch-Sein? Sind
die analytischen Urteile = Fälle des Satzes vom Widerspruch. Ist der Satz
vom Widerspruch selbst analytisch oder synthetisch??
Alle analytischen Sätze „beruhen“ auf dem Satz des Widerspruchs.
Alle analytischen Sätze = Urteile a priori. Ihre Apriorität = basiert auf dem
Verhältnis der Implikation. A = A
| Analytische Urteile, deren Begriffe empirisch sind. Hier scheint also das XXV/2a
Urteil „Körper ist ausgedehnt“ = mit „Gold ist gelbes Metall“ zu sein. Prinzip
des Analytischen wäre der subjektive Wissensstand.
Analytische Urteile
a. der Form,
b. der Form und des Inhaltes.
Analytische Urteile des Inhaltes wären solche, die prinzipiell und unabhängig
von jedem Wissensstand ein Verhältnis der Implikation ansprechen würden.
(Die Auflösung dieser Schwierigkeit liegt in der Unterscheidung von
Urteilen und Erkenntnissen. Problem des Verhältnisses des analytischen
Urteils zur analytischen Erkenntnis.)

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Synthetische Urteile a) a posteriori, b) a priori: a = Erfahrung, b = Mathema-
tik; c) metaphysische = innerhalb der Metaphysik = synthetisch gewonnene
Erkenntnisse, die analytisch zergliedert werden können.

Kants Tafel:
a priori – a posteriori
Auflösung: U n t e r s c h e i d u n g v o n E r k e n n t n i s u n d U r t e i l

XXV/2b | Welches ist das Prinzip der synthetischen Urteile a priori?


Prinzip aller analytischen Urteile = Satz vom Widerspruch (als prädika-
tives Urteilsorganon).
Prinzip aller erweiternden Urteile = zureichender Grund.
Satz der Identität und Satz vom Grunde die beiden ontologischen
Fundamentalsätze der vor-kritischen Metaphysik.

XXV/3a | Wie ist reine Mathematik möglich = transzendentale Deduktion von Raum
und Zeit.
Schritte:
I. Charakteristik der Mathematik als Konstruktion ihrer Begriffe.
II. Frage nach der Möglichkeit der reinen Mathematik = Frage nach einer
reinen Anschauung.
III. Frage nach der Möglichkeit einer reinen Anschauung.
IV. Charakteristik des Wesens einer Anschauung überhaupt.
V. Widerspruch von Wesen von Anschauung und von Wesen des Apriori.
XXV/3b VI. | Die Aufdeckung der stillen Voraussetzung für den bestehenden
Widerspruch von reiner Anschauung (die Meinung, die Erkenntnis
beziehe sich auf Dinge an …).
VII. Von Dingen an sich empirische Anschauung fragwürdig. Erst
recht apriorische.
VIII. Auflösung des Widerspruches.

XXV/4a | Disposition:
§ 14.
I. Begriff der Natur: „Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen
Gesetzen bestimmt ist.“15
Dieser Ansatz fundamental: Natur = gesetzmäßiges Sein von Seiendem.
Natur = das immerseiende Seiende.
II. Apagogische Demonstration dafür, daß wir nicht Dinge an sich erken-
nen; weder a priori noch empirisch.

15 Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, § 14.

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1. Warum nicht a priori = weil das Wesen des Verstandes, seine
Eigenart des Verbindens, keine Vorschriften für das Wesen des
Dinges enthielten, ergo mußten die Dinge zuerst erfahren sein.
| Erkenntnis a posteriori von Natur, d. i. von gesetzmäßigem Seienden, ist XXV/4b
bloße Induktion, keine Garantie für Notwendigkeit, d. i. Gesetzgemäßheit
der Dinge.
III. Faktizität einer reinen Naturlehre. Fragmentarischer Charakter der
faktischen reinen Naturlehre.
Natur, materialiter spectata: Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung.
Ausschaltung also eines Begriffs von Natur, der evtl. auch „Dinge an
sich“ einbegreift, d. h. Auswertung der Einsicht in die Unmöglichkeit einer
Erkenntnis einer ansichseienden Natur.

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IV. | Natur = notwendige Gesetzmäßigkeit aller Gegenstände der Erfahrung. XXV/5a
Dies führt zur Gleichsetzung: Im Zusammenhang der Frage nach der
Möglichkeit einer Naturerkenntnis a priori setzt Kant gleich: „notwen-
dige Gesetzmäßigkeit der Dinge als Gegenstände der Erfahrung“ mit
„notwendige Gesetzmäßigkeit der Erfahrung in Ansehung aller ihrer
Gegenstände überhaupt.“16 (Vgl. dazu aus Kritik der reinen Vernunft
den „obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile a priori“: „die
Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind auch die Bedingungen
der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“!!)17
V. | Erfahrungsurteil und Wahrnehmungsurteil. XXV/5b
Erfahrungsurteile enthalten als innere Struktur, die Objektivität garantiert,
Erkenntnisse a priori.
Wahrnehmungsurteil + apriorischer Verstandesbegriff = Erfahrungsur-
teil (als Urteil von objektiver Gültigkeit).
Kants Begriff des „Objekts“.
Objektive Gültigkeit und notwendige Allgemeingültigkeit für Jeder-
mann Wechselbegriffe.
VI. Wie ist objektive Gültigkeit von Erfahrungsurteilen möglich? Nicht
durch Erkenntnis des Gegenstandes als Ding an sich, sondern durch
die Besinnung auf die „Bedingung der Allgemeingültigkeit der empi-
rischen Urteile“, d. h. durch die Besinnung auf das Wesen
| des reinen Verstandes, d. i. auf die ihm gemäßen Weisen des Verbin- XXV/6a
dens a priori.
VII. Strukturanalyse der „Erfahrung“:
1. perceptio,
2. Subsumption unter einen reinen Verstandesbegriff.
Alle synthetischen Urteile, sofern sie objektiv gelten, sind mehr als Anschau-
ungen.
Aus dem prinzipiellen Verhältnis von Begriff und Anschauung legiti-
miert Kant die Idee des Leitfadens.
Begriff des „reinen Verstandesbegriffs“: „Begriffe von Anschauungen“,
sofern diese unter Bedingungen objektiver Urteile gebracht werden.

16 Prolegomena, § 17.
17 KrV, B197/A158.

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XXV/7a | 18

18 Die Zeichnung veranschaulicht Finks Kritik von Heideggers „Luminartheorie der Sub-
jektivität“ (Z-XIX II/4a) auf eine Weise, die offensichtlich der in Z-XXV 182a und 183a gleicht
(vgl. dazu Z-IX 31a). Die erste Abbildung stellt eine Kerze dar, in deren Licht bestimmte
Dinge erscheinen; dies ist möglicherweise der erste Modus der in XXV/7b geschilderten
Anschauung, deren zweiter Modus in der kleineren Kerze rechts dargestellt wird, d. h. als die
„reine“ Anschauung „vor dem Gegebensein“ der Dinge. Die nächsten zwei Kerzen zeigen
vermutlich die Zweideutigkeit der Lichtfunktion auf, d. i. zugleich als das Erleuchtende
im Allgemeinen (als „transzendentales“ Offenlassen – die letzte Kerze) und als von sich

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| Anschauung XXV/7b
Empirische Anschauung →
anwesender Gegenstand
reine ‹Anschauung› =
vor dem Gegebensein
Anschauung =
anwesendes gegenständliches
Gegebensein
| Kants Begriff der Transzendentalphilosophie? XXV/7c
Was bedeutet die Unterscheidung von Metaphysik als Naturanlage und
Metaphysik als Wissenschaft? Frage nach der Möglichkeit der Mathematik
wird zur Forderung einer „reinen Anschauung“.
Anschauung überhaupt als Prinzip der Erweiterung. Parallele von empi-
rischer und reiner Anschauung.
Frage nach der Möglichkeit der Mathematik = Frage nach der Möglich-
keit einer Anschauung a priori.
Anschauung eines Gegenstandes, die dem Gegenstand vorhergeht.
[Kants eigenartiges Vorgehen: Begriff der Anschauung formalisiert an
der empirischen.]
Der Begriff einer Anschauung von Dingen an sich.
Schon eine empirische Anschauung von Dingen an sich ist unmöglich,
erst recht eine reine.

selbst Erleuchtetes („als Hereinstehendes in den Lichtkreis der [aus sich selbst entworfenen]
Offenbarkeit“ – die in der Mitte stehende Kerze; vgl. Z-XXV 183a).

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XXV/8a 1. | Verhältnis von Erkenntnis und Urteil.
Erkenntnis a priori; Urteil a priori. Urteilen immer ein Fassen einer Erkennt-
nis, also ein Akt der Spontaneität (nicht Produktivität).
Sind wir im Besitze der Erkenntnisse a priori, und besteht die Aufgabe
der Metaphysik in dem Erfassen und der Fixierung der Erkenntnisse a priori?
Oder sind synthetische Urteile a priori „erweiternd“ als Erkenntnisse oder
als Urteile?
2. Was ist ein Prinzip eines Urteils??? Widerspruchssatz ein Prinzip der
Urteile? oder der Erkenntnisse? oder ein ontologisches Prinzip???

XXV/8b | Analytisch?
1. Subjektives Analytikum
die Habitualität des Wissens.
2. Objektives Analytikum
Begriffe.

Analytische Urteile
I. Formalprinzip des Analytischen
A=A 1. a priori Materie
2. a posteriori
II. Formale Urteile a priori
Formalien als Materie

Synthetische Urteile:
1. empirische
2. metaphysische

A priori = Hebung des Apriori ist kein Wissensfortschritt wie in der Empirie,
aber auch keine bloße Verdeutlichung. Sondern??

XXV/9a | Die analytischen Urteile sind entweder analytisch als Urteile oder als Urteile
und Erkenntnisse.
Begriff des Analytischen bei Kant: Verhältnis des Prädikates zum Sub-
jekt, also ein Verhältnis im Logos, in der Sprache und in den Sprachbegriffen.
Ist bei den synthetischen Urteilen auch die Unterscheidung von Urteil
und Erkenntnis bedeutsam? Gibt es synthetische Urteile a priori, die solche
ihrer Form nach sind, aber nach ihrer Materie empirisch sind??
Der Begriff des „Analytischen“, als formales Prinzip von Urteilen,
scheint ein subjektivistisches Moment in sich zu tragen. Der Begriff des
Subjekts des Satzes ist, je und je nach dem jeweiligen Wissensstand, das
Prädikat implizierend oder nicht.

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1. | Was ist Prinzip von Urteilen? XXV/9b
Ist Prinzip selbst ein Urteil oder ein Satz, eine Erkenntnis?
Und ist der Satz vom Widerspruch selbst analytisch oder synthetisch?
2. Analytisch Synthetisch
a priori a)
b)
a posteriori

Alle analytischen Urteile sind Urteile a priori.


Aber nicht alle Urteile a priori sind analytisch. Es gibt auch synthetische
Urteile a priori.
Die synthetischen Urteile sind entweder a posteriori oder a priori.
Synthetische Urteile a posteriori sind (Wahrnehmungs =) Erfahrungsurteile.
Synthetische Urteile a priori sind die Urteile 1) der Mathematik, 2) der reinen
Naturwissenschaft, 3) der Metaphysik.

| Ist Kants Beispiel eines analytischen Urteils, „Alle Körper sind ausge- XXV/10a
dehnt“, analytisch bloß nach der Form, oder auch nach der Materie?
[Nur nach der Form!!! Aber hier das große Problem von metaphysi-
schen Wissenshabitualitäten, die nie auf synthetischem Wege gewonnen
worden sein können, weil wir schon je in ihrem Besitze sind. ‡Hier taucht
das Problem des Verhältnisses des vor-ontologischen Wissens zum ontolo-
gisch‹en› ausdrücklichen auf.]
Bei Kant tritt innerhalb des ontologischen (metaphysischen) Wissens die
Unterscheidung auf: ein Urteil, dessen Gewinnung synthetisch-a priori ist,
das aber nach der Gewinnung auch analytisch expliziert werden kann.
‡ ‹Betonung dieses Satzes durch vier vertikale Striche am Rand.›

| Einleitung in die phänomenologische Philosophie. 26a


I. Voraussetzung ist die Erschütterung des populären Begriffs von Philo-
sophie.
II. Reflexive Abhebung des Populärbegriffs:
1. die geschichtliche Bekanntheit der Philosophie.
2. Bekanntheit des Themas
a. Weltanschauungsprobleme,
b. Wissenschaftstheorie.
III. Kritische Ablehnung der außerphilosophischen Weisen der Bestim-
mungen der Philosophie. Die Philosophie ist nur durch Selbstbestim-
mung faßbar. Problem des Scheines einer möglichen Wahrheit über die
Philosophie, die exogen entspringt.

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IV. Das Problem der Einleitung kein pädagogisches Problem.
26b | Sondern das Problem der Grundlegung. Die Natur des philosophi-
schen Problems.
Kein Wissensanstand, keine vorgegebenen Horizonte des Nichtwis-
sens.
V. Philosophie als Wissenschaft. Begriff der Wissenschaft als vorphiloso-
phischer.
VI. Husserls Programmaufsatz:
(Kontamination von Weltanschauungsphilosophie und spekulati-
ver Philosophie).
Kontrast der arbeitenden Philosophie und der Philosophie der fau-
len Vernunft.
(Problem des Verhältnisses von Spekulation und Analytik)

27a | Zwei Fragen:


1. Gibt es eine thematische Vorbekanntheit der Philosophie?
2. Gibt es eine Wissenschaft über die Philosophie?

Beispiel:
Mathematik? Wissenschaft vom Quantitativen.
Philosophie = eine Wissenschaft
1. hat sie ein Feld?
2. hat sie ein übergeordnetes Wissen?

Reihe XXVIII:
XXVIII/1a I. | Problembegriff der Philosophie19
a. Husserls Begriff der Philosophie als „strenger Wissenschaft“.
b. Begriff der „Wissenschaft“.
Analyse der Emanzipation der Wissenschaften.
c. Philosophie und Wissenschaft:
Kants Begriff der Metaphysik als Wissenschaft,
Hegels Begriff der „Wissenschaft“.
d. Philosophie als „Lebensattitude“ (Nietzsche, Kierkegaard, „Exis-
tenzphilosophie“)
als Lebensbewegung.
e. Philosophie als Lebensbewegung der wissenden Selbstbemächti-
gung.

19 Diesem Thema wandte sich Fink später im Jahre 1936 zu, als er den Privatunterricht für
Dorothy Ott über Husserls Formale und transzendentale Logik von November 1936 bis März
1937 übernahm. Vgl. Z-XXII I/1a-2b, V/1a-4b und B/1a–b.

372 Z-XX

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f. Wesen des Menschen: das Für-sich-Sein.
g. | Philosophie und Bildung, XXVIII/1b
Naturbegriff und Kulturbegriff der Philosophie.
h. Philosophie und außerphilosophische Bestimmungsversuche
der Philosophie.
i. Philosophie als Befreiung der Freiheit.

II. Die Grundlegung


a. Die dogmatischen Grundlegungsideen:
1. naturwissenschaftlich-axiomatische,
2. geisteswissenschaftlich-reflektierte,
3. Descartes,
4. Husserls Interpretation des cartesianischen Ansatzes.
b. 5. Die vorwissenschaftliche Welt.
6. Exakte und morphologische Strukturbegriffe: Raum-Zeit usw.
7. | Analysen der Dinggegebenheit und der Umweltsgegebenheit. XXVIII/2a
8. Die deskriptive Methode.
9. Intentionale Explikation.
10. Intentionalität als Thema philosophischer Forschung.
11. Analysen der „Sinnlichkeit“, vgl. Aristoteles „περὶ τῆς ψυχῆς“.
12. Die gegenständlichgerichtete Welterfahrung und ihre systemati-
sche Auslegung.
13. Die subjektiven Erscheinungsweisen und subjektiven Korrelativ-
systeme.
14. Idee einer universalen Korrelativforschung.
c. 15. Die „Benommenheit von Seienden“ als Fixiertsein auf Dinge, als
Einheitspole gegenständlicher Meinungen.
16. Ontologische Problematik des Unterschieds von Seiendem
und Gegenstand.
17. Die „Subjektivismen“.
18. | Das Grundproblem der abendländischen Philosophie: die Idee der XXVIII/2b
Metaphysik als Frage nach dem Sein.
19. Antike Fragestellungen: vgl. Aristoteles, Platons „Parmenides“.
20. Die Problematik des Seins bestimmt durch die „Weite des Seinsfel-
des“.
21. Problem des Apriori: Seiendes und apriorische Struktur.
22. Phänomenologische Theorie der Ideation.
23. Wesen – als Gegenstand, aber nicht als Entität.
d. 24. Die „Intelligibilität des Seins“ und das Rätsel der Subjektivität.
25. Von der korrelativen-fungierenden Subjektivität zur „transzenden-
talen Subjektivität“. (Phänomenologische Reduktion)

Z-XX 373

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XXVIII/3a 26. | Theorie und Geschichte der phänomenologischen Reduk-
tion (Textlektüre).
27. Die mannigfaltigen „Wege“ und die ihnen zugehörigen Darstel-
lungsformen der „phänomenologischen Reduktion“. (Formale und
transzendentale Logik – Méditations Cartésiennes – Ideen … ‹–
› Einleitung in die phänomenologische Philosophie.)
e. 28. Das Problem der natürlichen Einstellung.
29. Der kosmologische Horizont der Seinsidee.
30. Die „natürliche“ Idee der Philosophie und ihr thematischer Univer-
salhorizont: die Welt.
31. Die phänomenologisch-transzendentale Idee der Philosophie als
„konstitutiver Ursprungsforschung“.
XXVIII/3b 32. | Vorbegriff von „Konstitution“, Gefahr des „Subjektivismus“ (Iden-
tifizierung von Sinngebung von Gegenständen mit Seinsbildung
von Seiendem).
33. Temporale Konstitutionsaufweisungen. Vgl. „Ursprung der Zeit“.
34. Konstitutive Analysen von Raum, Dinglichkeit usw. Aufgabenho-
rizonte.
35. Die Leistung des konstitutiven Verstehens gegenüber allen Formen
mundanen Wissens. Verhältnis zu den Wissenschaften.
36. Mundanes Verstehen selbst methodologisch erhellt durch den Vor-
blick auf konstitutive Theorien.
37. Idee des philosophischen Wissens in der Phänomenologie.
*
XXVIII/4a III. | Lektüre von
1. Formaler und transzendentaler Logik,
2. Méditations Cartésiennes,
3. Ideen …,
4. Log. Untersuchungen.
IV. „Die Bestimmung des Menschen“.
V. Phänomenologische Arbeitsanalysen: z. B.
1. Analysen zur Unterscheidung von „interner“ und „exter-
ner“ Bestimmung,
2. „Existenzialer und kosmologischer Weltbegriff“,
3. Theorie des Selbstbewußtseins,
4. Wachheit und Schlaf,
5. Vorprädikative und prädikative Sphäre. Sprache und die Dinge.
XXVIII/4b VI. | Die philosophische Gegenwartssituation:
a. Pragmatismus, Physikalismus, Positivismus.
b. Existenzphilosophie

374 Z-XX

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.
c. Theoretische Philosophie im Auseinanderfallen in „Kritische
Erkenntnistheorie“ und „Ontologie“.
d. Aufgabe der gegenwärtigen philosophischen Arbeit.
VII. Die phänomenologische Philosophie als Arbeitsphilosophie: Gliede-
rung ihrer Problematik. Skepsis gegen sich selbst. Philosophie als im
Wissen sich vollstreckende Selbstbemächtigung des Lebens. Ausblick
auf eine „Metaphysik des Spiels“
*

Reihe XXIX:
| ‹…› nicht bloße Epoché vom Weltbewußtsein vollzieht, sondern gerade den XXIX/1a
intentionalen Sinnaufbau dieses Weltbewußtseins zum analytischen Thema
macht, dann verwandelt sich diese bodenlos-heimatlose „Innerlichkeit“ der
Psyche in die konstituierende, letztfungierende, d. i. transzendentale Subjek-
tivität. Die in der Welt als eine abstraktive Thematik einsetzende Psychologie
wird zum Weg in die absolute Universalwissenschaft. Die Parallelisierung
von Natur und Geist ist endgültig aufgehoben.
Phänomenologie und Psychologie:
Im Grunde gibt es keine Psychologie, die Psychologie bleiben könnte. Wenn
einmal eine Methode der Erschließung der Intentionalität gefunden ist, dann
wird durch eine Konsequenz der „Sache selbst“ der analytische Weg von den
vorgegebenen Einheiten zu den konstituierenden Tiefen des intentionalen
Lebens und damit in die transzendentale Dimension weitergetrieben. Psycho-
logie muß in Transzendentalphilosophie münden.
Trotzdem ein Unterschied von Phänomenologie und Psychologie: Psy-
chologie ist nicht allein ein „Vorstadium“ der Transzendentalphilosophie, die
durch naive Reflexion sich von der Einsatzsituation her charakterisiert. Der
Umsprung in
| den „Einstellungen“; die Wiederverweltlichung des Transzendentalen; die XXIX/1b
Problematik des „Einströmens“.
Das hängt zusammen mit der konstitutiven Funktion der Selbstapperzep-
tion: alle Selbstkonstitution ist Hineinstellung des konstituierenden Lebens
in das konstituierte Gebilde. Die Subjektivität hört auch nach der Reduktion
nicht auf, „sich als Menschen“ zu objektivieren, nur daß diese Selbstobjek-
tivation jetzt transzendental „durchsichtig“ ist.
In dieser Selbstobjektivation also gründet das Sein des Subjekts als eines
Dinges unter den Dingen.
Die Psychologie hat (als phänomenologisch aufgeklärte) den themati-
schen Horizont der Selbstobjektivation, die Transzendentalphilosophie den
absoluten Horizont.

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.
Der Horizont der Selbstobjektivation aber ist Rahmen für das transzen-
dental zu begrenzende Recht der Psychophysik.
*
Phänomenologie und Psychophysik:
Vorerörterung: der Parallelismus ist entwurzelt. Der Mensch ist kein
Ding unter den Dingen, aber er konstituiert sich zum Ding unter den Dingen.
Hier liegen die
XXIX/2a | Rechtsquellen der biologisch-psychophysischen Betrachtung. Der Natura-
lismus verabsolutiert die konstituierte Stellung des Menschen inmitten der
Dinge, er durchschaut sie nicht als ein konstitutives Resultat. Er kennt
nicht die Grenzen einer legitimen biologischen psychophysischen Betrach-
tungsart, sondern verabsolutiert den naturalen Aspekt des Menschen (den
konstituierten Sinn: Lebewesen unter anderen zu sein); er ist ohne es zu
wissen eine dogmatische Metaphysik des Menschen: er naturalisiert ihn,
bestimmt das philosophische Wesen des Menschen als Natur.
A. Psychophysik und Psychophysikalismus
Prinzipiell philosophisch betrachtet ist Naturalismus die implizite
These: daß der Mensch in seinem „Teil-der-Natur-Sein“ aufgeht. Dieser
Naturalismus, der dem Wesen der menschlichen Substanz (der transzenden-
tal aufweisbaren konstitutiven Schöpferkraft des Menschen) widerspricht, ist
nun überdies historisch in einer Gestalt aufgetreten, die man als psychophy-
sikalistischen Naturalismus bezeichnen kann. – Also zunächst die Aufgabe,
den Psychophysikalismus zu entwurzeln. – Das Leibkörperliche interpretiert
als Ding im Sinne der Physik. Die psychophy-
XXIX/2b | sische Relation zwischen Psychischem und Physikalischem. Damit ein
Überspringen der konkreten biologischen Erfahrungsgegebenheit.
Die „beschreibenden“ Naturwissenschaften und das Problem der
Lebenswelt resp. ihrer Ontologie.
Die deskriptiven Naturwissenschaften (ihr Apriori ist eigentlich die
Ontologie der Lebenswelt) in der Rückinterpretation von der Physik.
Die phänomenologische Aufklärung der Sinngenese der durch Ideali-
sationen geformten „exakten Naturwissenschaft“. Z. B. die geometrische
Idealisierung in der Nahfernperspektivierung, ihre Zurückbezogenheit auf
die lebensweltliche Topologie (morphologisches Raumapriori) (die arithme-
tische Idealisierung und die Kontinuitätsidealisierung des anschaulichen
Raumes durch die metrische Durchzählbarkeit).
Die Umkehrung des Verhältnisses von deskriptiven Naturwissenschaf-
ten und exakten. Wissenschaften in der „Unendlichkeit“ und Wissenschaft
der Endlichkeit (bloß „irdische“ Botanik, Zoologie usw.)
XXIX/3a | Die Umkehrung des Verhältnisses von exakter und deskriptiver Wissen-
schaft (das unter der Leitidee der objektivistischen Wissenschaft zustande
kam) ist die Folge der transzendental subjektivistischen Weltbetrachtung.

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.
Die Biologie gewinnt transzendentale Bedeutung als Indikation
„transzendentaler“ Innenbetrachtungen. (Bedeutsam für eine transzenden-
tale Monadologie.)
Die Biologie, vom Physikalismus frei, hat eine begrenzt legitime Psy-
chophysik als ein philosophisch relevantes Problem.
*
Die transzendentale Wissenschaftsidee und die objektiven Wissenschaften
als in sie zurückbezogen.
Die „Einheit der Wissenschaft“ ist nicht mehr das Schema: Philosophie
und Verzweigungen.
Phänomenologie und objektive Wissenschaft.
A. nicht bloß das Verhältnis von Wissen vom Konstituierenden und Wissen
vom Konstituierten; denn zuerst beseitigt die Phänomenologie die unter
dem Banne der objektivistischen Konzeption entstandene Rangordnung
in den objektiven Wissenschaften.
B. Alle Wissenschaften phänomenologisch aufzuklären und in die Ein-
heit der
| Philosophie zurückzunehmen. Restitution der „Universalwissenschaft“ XXIX/3b
Phänomenologischer Begriff der Metaphysik. Metaphysik ist keine
Thematik, die durch Spekulation oder Substruktion eines bloß indizierten,
wahren An-sich-Seins erreicht wird, sondern ist das Verständnis des wahren
Universums des Seienden, in dem das naive Universum, die Welt, nur ein
Moment ist.
Die Fragen nach Einheit und Ganzheit und Seinsstruktur des wahren
Seinsuniversums kennzeichnen den phänomenologischen Begriff der Meta-
physik.
*
Phänomenologie aber keine Mystik, keine Spekulation, keine unanschauli-
che Konstruktion, sondern ist durch und durch bestimmt durch die Methode
der intentionalanalytischen Befragung und Aufweisung.
*
V.
IV. | XXIX/4a
Die Idee der Zurücknahme aller Wissenschaften in die Einheit der Transzen-
dentalphilosophie.
V.
Der unverlierbare Anspruch der Philosophie auf Bildung und Führung
des Menschengeschlechts.
‡1. Die Krise der europäischen Kultur als Krise des wissenschaftlichen
Menschentums. Die Überwindung der Krise nur in einer Neugrün-
dung des wissenschaftlich autonomen Menschentums, einer wahren

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.
Vernunftkultur. Die objektivistische Wissenschaftsidee muß in ihrem
Rechte aufgeklärt und in die wahre Universalität der transzendentalen
Wissenschaftlichkeit zurückgenommen werden. Das ist nicht die Sache
eines Bekenntnisses zu einer Philosophie. Die Phänomenologie will
nur eine Bresche sein, die den Weg, das Anfangsstück des Weges
freilegt. Mögen andere es verbreitern und weitergehen. Philosophie als
transzendentale und im innersten Wesen des Menschen beheimatete muß
zur inneren Freiheit des Menschen und damit zur Möglichkeit echter und
aus Freiheit aufgenommener Bindungen und so zu einer wahren Kultur
der Menschheit und echten Menschlichkeit führen.
‡ ‹Am Rand neben diesem Absatz:›
Nicht bloß kulturelle, sondern auch kosmische Funktion der Philoso-
phie.

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.
Z-XXI

Beschreibung:
Der Umschlag dieses Spiralheftes trägt die Aufschrift: „Aristoteles‚ Metaphysik“.
In diesem Spiralheft sind die meisten Blätter noch zusammengeheftet (1–14 und 27–
38), während andere, augenscheinlich zum selben Heft gehörige Blätter (15–26)
herausgerissen und später wieder in das Heft eingelegt wurden. Zusätzliche Blätter
wurden vor (Notiz I und Reihe II) und nach (Reihe III und Notiz IV) diesen originalen
Heftblättern eingelegt. Das Datum „Herbst 1936“ taucht in Notiz 1 auf, die den Anlass
des Privatunterrichts angibt.

Text:

1. | Seiendes als Seiendes = Seiendes in seinem Seiendes-Sein = d. i. sofern Ia


es Seiendes ist und nicht, sofern es Steinsein – Pflanzesein – Tiersein –
Menschsein – Gottsein – Staatsein usw. ist.
2. Alles noch so Verschiedene ist affinit als Seiendes. Das Gleichsein als
Seiendes-Sein ist Bedingung für Ähnlichkeit und Verschiedenheit.
3. Die Einheit des Seiendes-Seins in allem Seienden ist die Frage: „analo-
gia entis“: (Aristoteles’ Ansatz und die scholastische Verengung).
Die Einheit des Seiendes-Seins ist analog zur Einheit einer Ana-
logie [Aristoteles
| fixiert das Problem der Einheit des Seienden als Seienden in einer Ib
„analogia propositionalis“ als Einheit einer analogia attributionis.]
Analogie zunächst eine „ontische Einheit“!!
4. Analogie hat führende und abgeleitete Bedeutungen: führende Bedeu-
tung ist die Substanz. Seiendes-Sein = Substanzsein.
5. Der „Logos“ als „Leitfaden“: ὂν λέγεται πολλαχῶς!
6. Die transzendentale Gleichsetzung von „Seiendes“ und „Eins“.
„Arten“ des Eins als Leitfaden. Das Eins als das Eins-Sein des Seiendes-
Seins. „Substantia est monadare“ (Leibniz).1

1 Der Satz ist nicht buchstäblich in Leibniz’ Werken zu finden, sondern von Fink nach Leibniz

als Kurzfassung formuliert.

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.
Reihe II:
II/1a | Zunächst Rekapitulation. Wir stehen in der Exposition des Problems
der Philosophie. Also in der „Einleitung“. Aber dies ist keine „Propädeu-
tik“, sondern die Selbstbegründung der Philosophie im Fragen nach dem
Fraglosesten. I. Buch geht aus vom Leitfaden des populären Begriffs von
Weisesein und Weisheit und steuert auf den Begriff der Σοφία als des
Wissens von den ersten „Ur-Sachen“ und „Anfängen“. Die vierfache Weise
des „Ur-Sache-Seins“ als Basis der Kritik der vorangegangenen Philoso-
phie. Aristoteles stellt sich der Tradition, indem er sich hineinstellt und
darüberstellt. Das II. Buch bestimmt die Φιλοσοφία als ἡ περί τῆς περί
της φύσεως ἀληθείας θεωρία. Philosophie als „Wahrheitstheorie“. Wahrheit
über das Seiende im Ganzen ist Wissen der „Ur-Sachen“ und „Anfänge“
(d. i. Wissen vom Immerseienden und Überallseienden). „Philosophie als
Wahrheitstheorie“: diese Interpretation macht erst verständlich, inwiefern
Aristoteles die prinzipielle Endlichkeit aller Rückverweisung des Seienden
auf die „Ur-Sachen“ und „Anfänge“ behaupten kann. Das Faktum des Wis-
sens bezeugt die „Endlichkeit“. Das Sein ist intelligibel. Bedingung seiner
Intelligibilität ist die Endlichkeit der Rückverweisung auf die „Anfänge“.
(Wenn es unendlich viele Prinzipien des Seienden gäbe, wenn die ontologi-
schen Bedingungsreihen unendlich wären, so wäre kein Wissen möglich.
Die Einsicht in die ermöglichenden Bedingungen des Wissens führt zur
aristotelischen Endlichkeitsthese. Hier schon das Problem von Wahrheit und
Sein: ὀν ὡς ἀληθές!!)
Im III. Buch (B) beginnt die Entfaltung der Frage nach den „Anfängen“
in aporetischer Methode. (Kein Kunstgriff, keine Denktechnik, sondern
Problementwurf!) Aristoteles’ fundamentale Einsicht ist: daß die Prinzipien,
die „Anfänge“ des Seienden nicht selbst Seiendes sind. Seiendes ist nicht
durch Seiendes erklärbar.
II/1b | Die ontische (ver-dinglichende) Auffassung der Anfänge führt zu den
falschen Problemstellungen (Verabsolutierung von bestimmtem Seienden
und Degradierung anderer Seinsgebiete). Die Aporetik ist hinleitendes
Fragen. D. h. die Fragen sind nicht erst Entdeckung des Problems, sondern
Formulierung des Problems.
Thema der Aporetik sind die „Anfänge“.
1. Sind die „Anfänge“ Gegenstand einer oder mehrerer Wissenschaf-
ten? (Kontrarietät als Einheitsmoment ist ja nicht gegeben!) Welche
ist „Weisheit“?
2. Sind die „Anfänge“ auch Gegenstand der „apodeiktischen Wissen-
schaft“? Gehören Wissenschaft von der Substanz und Apodeik-
tik zusammen?

380 Z-XXI

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.
3. Ist die Wissenschaft von den „Anfängen“ nur Wissenschaft von den
Substanzen oder auch Akzidenzien?
4. ‹Oder› = Wissenschaft von den sichtbaren Substanzen oder auch von den
Ideen und dem Mittleren (mathematica)?
5. Ist Gattung-Sein oder Stoffsein = „Anfang“?
6. Sind die „Anfänge“ selbst „Gattungen“?
7. Ist das Wesen der „Anfänge“ die „größte Allgemeinheit“?
Eins und Seiendes = das Allgemeinste.
8. Sind „Eins“ und „Seiendes“ Gattungen? (Apagogischer Beweis.)
| [Der apagogische Beweis: die Allgemeinheit des „Seienden“, die „trans- II/2a
zendentale Allgemeinheit“ als Problem fixiert. Die Schlüssigkeit beruht
auf der These: daß von der „spezifischen Differenz“ die Gattung oder Art
nicht präzisiert werden kann. – Die transzendentale Allgemeinheit wird
durch Bestimmung (durch spezifische Differenz) nicht eingeschränkt. Zu
unterscheiden also ist: 1. Gattungsallgemeinheit, 2. formale, d. i. Leerstel-
lenallgemeinheit und 3. transzendentale Allgemeinheit. – Gattungsmäßiges
Allgemeinsein ist Allgemeinheit des Was-Seins, das selbst ein Modus des
Seins ist. Die Allgemeinheit des „Seienden“ kann nicht durch einen im Sein
des Seienden gründenden Seinsmodus bestimmt werden.]
9. Die Frage nach den „Anfängen“ (ἀρχαί) und das Problem der Intelligibi-
lität: Mannigfaltigkeit der Dinge (des Seienden) und existierendes
„Allgemeines“ neben den Dingen?? Ermöglichende Bedingung der
Erkenntnis! – Das Immerseiende und Unbewegte als Bedingung des
„Sinnlichen“. – Die „Anfänge“ als immerseiend und unbewegt??
10. εἶδος und μορφή: als ontologische Prinzipien?
Einheit: Eins über allem Einzelnen als Ermöglichung des Wissens. [Das
„Sein“ als ermöglichend das Wissen von den vielen Einzeldingen]
11. | “Anfänge“ der vergänglichen und unvergänglichen Dinge? Sind die II/2b
Prinzipien der vergänglichen selbst vergänglich??
12. Sind „Eins“ und „Seiendes“ = Substanzen der seienden Dinge? Plato
und Pythagoreer: Eins und Seiendes ist dasselbe. – Die φυσιολόγοι
dagegen „erklären“ das Eins durch Zurückführung auf Bekanntes: d. i.
auf Ontisches. [Ontik oder „Ontologie“ der Transzendentalien!!]
13. Sind die „mathematischen Gegenstände“ (Zahlen, Körper, Flächen,
Punkte) = Substanzen? [Die „Reduktion“ auf die „Punktexistenz“ als
Aporie!] („Jetzt“ als Zeitpunkt!)
14. Existenz der „Ideen“! Wiederholung der Ablehnung der gesonderten
Existenz von Ideen neben den Dingen.
15. Sind die Elemente (στοιχεῖα) (Grundstoffe) aktuell oder potentiell?
Aporie: sind sie „aktuell“, wie kann etwas früher sein als die „Anfänge“?
Denn die δύναμις dieser Aktualität liegt ja voraus. – Sind die „Elemente“

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aber potentiell, so könnte „nichts“ sein!?! Aktualität und Potentialität als
Horizont des Seins!?
16. Antinomie des Seins der „Prinzipien“, der „Anfänge“: 1) sind sie
„allgemein“, so schlimme Konsequenzen; 2) sind ‹sie› „Einzeldinge“,
so kein Objekt der Wissenschaft. D. h. die Weisen, die „Anfänge“ als
seiend zu denken, scheitern. –

II/3a | IV. Buch (Γ)


1. Kapitel. Es beginnt mit der knappsten Problemformel: Wissenschaft vom
Seienden als Seiendem.
[„Seiendes“: Allgemeinheit und Apriorität dieses Begriffs?
Etwas als Etwas verstehen: d. h. in Hinblick woraufhin verstehen. Seiendes
als Seiendes??
Wir leben im ständigen Vollzug des fundamental apriorischen Seiendes-
Begriffs, aber wir fassen dieses „Leben im ontologischen Apriori“ nicht
reflexiv. „Seiendes“ bleibt begrifflich indifferent. Im als erhebt sich die
Problematik des Seinsbegriffs, die Problematik unseres innersten Geistes.
„Seiendes“ kein Was-Sein; Seiend-sein ist nicht auf derselben Stufe wie
Pferd-sein, Mensch-sein. Sein, als Was-Sein verstanden, z. B. in der Aussage
„dies ist ein Pferd“, ist Medium des Verstehens von Seiendem, ist selbst nicht
Thema. Unthematik der Seinsbegriffe].
II/3b | Keine Einzelwissenschaft ist identisch mit der Philosophie.
Jede Einzelwissenschaft entwirft sich interessehaft auf ein bestimmtes
Was-Sein: auf das Natur-Sein, Pflanze-Sein, Tier-Sein, Gott-Sein, formale
Struktur-Sein usw. – vollzieht sich in der Unthematik des Seinsbegriffs.
Alle Wissenschaften zusammen aber ergeben nie ein Wissen vom Seienden
als Seiendem, weil sie alle das Seiende schon als bestimmtes Etwas-Sein
intendieren und intendiert haben.
Wissenschaften „stücken“ eigentlich nicht „ab“; das Wissen vom
Seienden als Seiendem ist nicht zerstückt und möglicherweise zusammen-
setzbar.
Alle Wissenschaften erforschen das Seiende nach mitfolgenden Bestim-
mungen.]

1 | Aristoteles: „Metaphysik”
(Lesestunde in Gemeinschaft mit Alfred Riemensperger und Miss Dorothy
Ott.)2 (Herbst 1936 –)

2 Zu Alfred Riemensperger siehe die Anm. zu Z-XI 58a; zu Dorothy Ott siehe die Beschrei-

bung zu Z-XXII.

382 Z-XXI

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.
Buch Α:
1. Kapitel:
Die ersten drei Bücher (Α, Α el., Β) exponieren die Idee einer seltsamen
Wissenschaft, die Idee der „πρώτη φιλοσοφία“. Die Problemexposition
beginnt im 1. Kapitel des Buches A mit der Exposition eines formalen
Begriffs der σοφία. Das geschieht durch die Abhebung der Wissensstufen und
Wissensstufenfolge, die zur σοφία hinleitet.
Der 1. Satz der „Metaphysik“ ist eine anthropologische Fundamental-
these: Πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει. Wissenwollen =
ein Grundtrieb des Menschen. Das Wesen des Menschen ist damit schon
entworfen auf die „ὄρεξις τοῦ εἰδέναι“.
Die Wissensstufen sind: 1) αἴσθησις, 2) μνήμη; 3) ἐμπειρία; 4) τέχνη; 5)
ἐπιστήμη; 6) σοφία.
| Die Stufenfolge ist in sich eine überholende, d. i. eine solche, daß jede 2
höhere Stufe die niederen einbegreift.
Diese aristotelische Theorie der Wissensstufen ist von prinzipieller
Bedeutung: das Wissen ist zunächst „αἴσθησις“, als solche allem Lebendigen
gemeinsam. Μνήμη ist nicht allem Lebendigen gemeinsam, noch weniger
ist dies ἐμπειρία, noch weniger τέχνη, noch weniger ἐπιστήμη, noch weniger
σοφία. D. h., je höher die Stufe des Wissens, je weniger „allgemein“ im Sinne
von allen Lebewesen gemeinsam. Dieser abnehmenden Allgemeinsamkeit
steht eine sich steigernde „Allgemeinheit“ des Wissensinhaltes gegenüber.
Die αἴσθησις ist Wissen des „Dieses“ (die individualisierendste Weise des
Wissens). Die Σοφία ist das Wissen der πρῶτη αἴτα und der ἀρχαί.
[Vgl. Hegels Entwicklung der Wissensstufen in der Phänomenologie
des Geistes!]
Wichtiges Problem ist die Frage, inwiefern die τέχνη eine Wissensstufe
ist. Τέχνη = das Verstehen einer Sache, eines Handwerks, das Kundigsein
einer Fertigkeit, das als τέχνη einen Einblick in das zu Handelnde
| erfordert. 3
Aristoteles entwirft im 1. Kapitel anzeigend die Idee der Σοφία als die
inbegrifflich-höchste Stufe des Wissens. Dieser anzeigende Entwurf dient
der Exposition der Idee einer zu suchenden ἐπιστήμη.
Darin kommt positiv zum Ausdruck: 1) Philosophie ist nicht direkt in
ihrer Thematik und ihrem Wesen anzugeben. Es bedarf einer Einleitung, die
den Leitbegriff der Philosophie exponiert an einem formellen Vorbegriff, der
gewonnen wird in einer Analyse dessen, was wir zunächst unter Wissen und
Weisheit verstehen. 2) Die Explikation des „Vorbegriffs“ ist gesteuert, d. h.
sie strebt schon auf den Leitbegriff hin.
*

Z-XXI 383

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.
2. Kapitel:
Der erste Satz charakterisiert die Σοφία als Wissenschaft, die wir suchen
müssen. Das ist ein Index dafür, daß die Entfaltung des Begriffs Σοφία im
1. Kapitel nur eine „problemtheoretische“ war. Dieses Suchen nach dem
Wesen der Σοφία setzt sich jetzt fort durch eine diffe-
4 | renzierende Verdeutlichung dessen, was wir unter Wissen und Weisesein
verstehen; resp. die Verdeutlichung steuert bereits auf den Leitbegriff der
Σοφία zu.
Differenzierung des Vorbegriffs von Weisheit: der „Weise“ weiß 1) alles
Wißbare (soweit dies möglich ist, d. h. ohne je alles Einzelne zu wissen),
2) schwierig Erkennbares, 3) genauer als Nichtweise (mehr die Ursachen
erkennend) und lehrbarer.
Jetzt Umschlag vom „Weisen“ zu den „Wissenschaften“: 4) eine Wissen-
schaft ist eher „weise“, die um ihrer selbst willen und des Wissens willen
erstrebt wird, dann solche, bei denen dies nicht der Fall ist. 5) „Weiser“ ist
eine Wissenschaft, die herrschend ist, im Gegensatz zur dienenden.
Die Erklärungen dieser 5 Punkte durch Aristoteles zeigen den steuern-
den Charakter dieses Vorbegriffs von Wissen (resp. Σοφία) an. Ad 1. alles
Wissen = allgemeine Wissenschaft (ἐπιστημη καθόλου) haben; ad 2. das
Schwierigste = das Allgemeinste; ad 3. das genaueste Wissen = am meisten
auf τὰ πρῶτα gehendes Wissen; ad 4. Wissen um seiner
5 | selbst willen begehren = das Wissen begehren, das am meisten Wissen ist.
Am meisten Wissen = Wissen des am meisten Wissbaren; = Wissen von den
ersten Ursachen.
Dieser 4. Punkt schwierig: Ein Wissen um seiner selbst willen begehren,
kann heißen: leidenschaftlich unbedingt ein Wissen erstreben, das nicht Wis-
sen um eines anderen Wissens willen ist. Beispiele: Wissen um eines anderen
Wissens willen ist eine „Hilfswissenschaft“. Wissen um seiner selbst willen
ist z. B. eine Liebhaberei (Schmetterlingsammeln). Die Liebe zu einem
Seienden motiviert das Streben zu einem vollständigen Wissen von ihm.
In der Liebhaberei ist das Wissen nicht dienend einem anderen Wissen, es
geschieht um seiner selbst willen. Aber es ist nicht „τοῦ εἰδέναι χαρίν“; es ist
εἁυτοῦ ἕνεκεν. Ein Wissen, das εἁυτοῦ ἕνεκεν καὶ τοῦ εἰδέναι χάριν ist, ist ein
Wissen, das um seiner selbst willen (als Wissen) geschieht. Zweideutigkeit
des Begriffs „Um seiner selbst willen sein“: 1) absolut erstrebt sein (nicht
Mittelsein), 2) umwillen des Wissens sein, d. h. im Entwurf auf die Σοφία hin;
d. h. ein Wissen erstreben, nicht weil damit eine geliebte Sache gewußt wird,
sondern das Wissendsein erstreben.
6 | Das „Wissen um seiner selbst willen begehren“ (das τοῦ εἰδέναι
χάριν ist explikativ!) ist Wissendseinwollen, ist eine Lebenstendenz, die im
unausdrücklichen Entwurf auf die Σοφία hin geschieht und einen mehr oder

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minder hellen Vorblick in das graduelle Wesen des Wissens voraussetzt.
[Problem der Gradualität des Wissens als Index der „Endlichkeit“??]
Aristoteles charakterisiert in den ersten drei Punkten das Wissen als
graduell: 1) nach dem Umfang; 2) nach der Schwierigkeit; 3) nach der
Genauigkeit und Lehrbarkeit.
Der 4. Punkt faßt die ersten drei in gewisser Weise zusammen, sofern
das „Wissen um seiner selbst willen begehren“ bedeutet: das graduell
mächtigste Wissen erstreben. Wo Wissen um seiner selbst willen vollzogen
wird, entwirft sich das Leben schon auf die Σοφία. [M. a. W., wo Wissen
ursprünglich echt geschieht und nicht in instrumentalen Funktionen steht,
philosophiert der Mensch. Dies von grundsätzlicher Wichtigkeit für das
Problem der Einheit
| des Wissens: Wissen ist nicht eine Kenntnis des Seienden, ein „Sammelsu- 7
rium von Kenntnissen“, die nebeneinander stehen und die in eine objektive
Ordnung gebracht werden können oder müssen. Wissen kann gar nie, solange
es seinen „metaphysischen Charakter“ ursprünglich bewahrt, eine Zusam-
menstellung von Kenntnissen sein, sondern muß „fragend existieren“. Der
„metaphysische Charakter“ des Wissens ist Enthüllung des Geheimnisses
des Seins, das in allem Enthüllen als „Geheimnis“ wächst. Wissen entspringt
nicht der Neugier, sondern dem Sich-zum-Sein-Verhalten, das das Wesen des
Menschen (dessen Sein = „Für-sich-Sein“ ist) ist.]
Die Erklärung des 5. Punktes ist ebenfalls interpretationsbedürftig.
Zunächst scheinbar leichtverständlich: denn der σοφός ist nicht nur
derjenige, der am meisten weiß, was ist, sondern auch weiß, was zu tun ist;
er darf sich nicht befehlen lassen, sich nicht anleiten lassen, sondern soll
anleiten, befehlen. Diejeni-
| ge Wissenschaft wird also die herrschende (leitende) sein, die von dem 8
handelt, worumwillen zu „handeln“ ist.
Diese „selbstverständliche“ Auslegung aber ist fragwürdig. Ist die
„πράξις“, deren „οὕ ἕνεκεν“ das ἀγαθόν resp. τὸ ἄριστον ist, bloß das
menschliche Handeln? Oder steuert Aristoteles ein ontologisches Prinzip
an?? (Vgl. 3. Kapitel: Ende des ersten Absatzes!!) „Τέλος γάρ γενέσεως καὶ
κινήσεως πάσης τοῦτʼἐστίν“.3 Dies Zitat dokumentiert den ontologischen
Charakter ganz zuverlässig.
Ist dies eine „anthropomorphe Metapher“ im Problembezirk der Meta-
physik?? Nein! Wir müssen die moderne hochmütige Verbannung des
„Zweckes“ aus dem Felde der theoretischen Erkenntnis zumindest einmal
zurückhalten. Greift Aristoteles nicht auf einen ursprünglicheren Ansatz
der ontologischen Problematik zurück? Auf einen, den wir bereits in der

3 Metaphysica 983a 32.

Z-XXI 385

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stolzen Selbstsicherheit unseres pragmatischen Wissens verloren haben? Ist
überhaupt die moderne
9 | Eliminierung des Zweckes aus einer philosophierenden Auseinander-
setzung mit der Aristotelischen Konzeption hervorgegangen?? Oder
vielleicht in einer Kritik an der entarteten und banalisierten Spätform des
aristotelischen Gedankens? Galileis (und der modernen Naturforscher)
Kampf gegen die „Endursachen“ der Scholastik! Theologie und als „Mora-
lismus“ (in der Historie) säkularisierte Theologie diskreditieren den ontolo-
gischen Titel: „Zweck“, der einen Index eines Problems darstellt. Vgl. Hegels
Begriff des „Zweckes“: „das Unbewegte, welches selbst bewegend ist“.
Hegels Zweckbegriff metaphysisch und in ausdrücklicher Überholung des
Aristoteles; vgl. „Vorrede“ Jubiläumsausgabe, S. 25.4
___
Die Σοφία durch die gesteuerte Auslegung des vulgären Vorverständnisses
vorläufig bestimmt als Wissenschaft, die die ersten Prinzipien (ἀρχαί) und
Ursachen (αἴτια) erforscht, wobei explizierend zu den Ursachen gerechnet
wird „τὸ ἀγαθόν καὶ τὸ οὗ ἕνεκα“. Die Einrechnung derselben in die
Ursachen ist gewiß
10 | dem vulgären Verständnis nicht geläufig, es sei denn im Felde menschlichen
Handelns. Aristoteles springt aber gerade durch diese Einrechnung schon
etwas ab vom Boden der vulgären Begriffe von σοφός – ἐπιστήμη – Σοφία.
Die Σοφία keine τέχνη; keine Fähigkeit zu einer Fertigkeit. Fertigkeiten
stehen im Dienst von Bedarf oder Luxus, entspringen einer Not, einem
Bedürfnis des Lebens. Fertigkeiten sind „nützlich zu …“. Die Σοφία aber,
in dem bereits entwickelten Sinne als Erforschung der ersten Ursachen
und Prinzipien, entsprang aus dem „θαυμάξειν“. Das θαυμάξειν zunächst
auf die absonderlichen Dinge gerichtet, die außerhalb der Bekanntheit
der unmittelbar aus den Lebensbedürfnissen verstandenen Umwelt lagen.
Das innerweltlich Unbekannte, als das abseits der alltäglichen Bekanntheit
liegende Rätselhafte, Anlaß zu einem Staunen, das als echtes Wissenwollen
= Wissendseinwollen ist und in das universale Problem des Seins über-
11 | haupt hineinzieht.
Der Mythos als Vorform der Philosophie?!?
Erfahrung des Nichtwissens gerade im Wissen ist θαυμάξειν, ist das
Streben, das Nichtwissen loszuwerden, ist Streben zum Wissendseinwollen.
Wissendseinwollen aber ist das Freisein des Wissens, oder das Wissen
in der Freiheit. Σοφία ist die Seinsweise des Wissens „in Freiheit“, also bei
seinem wahren Wesen, gleichwie ein Mensch als ἑαυτοῦ ἕνεκα ὦν ἐλεύθερός
ist und nicht als δοῦλος. Nicht wenn das Wissen in der Sklaverei einer
Lebensnotdurft steht, sondern wenn es „frei“ ist, ist es Σοφία. [Nicht also

4 Zitiert nach Phänomenologie des Geistes, Stuttgart: Fr. Frommanns Verlag, 1927.

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ist der instrumentale Sinn des Wissens oder der Wissenschaften ontologisch
ursprünglich, sondern allein der „theoretische“.]
Aristoteles legt nach der Erörterung der Gradualität des Wissens (nach
Umfang, Schwierigkeit, Genauigkeit und Lehrbarkeit) die Struktur der
Tendenz jedes Wissens zur Σοφία hin frei und stellt dann im Gegenzug gegen
eine vulgäre Auffassung der ersten Prinzipien und Ursachen den „Zweck“ als
zum Thema der Σοφία gehörig heraus; und endlich
| hebt er in der Absetzung der Σοφία gegen die in der „Lebensnot“ wurzelnde 12
τέχνη den „freien“, d. i. eigentlichen Charakter der Σοφία heraus: die
Seligkeit der Erkenntnis als das Freisein des Erkennens auf dem Grunde
einer unfreien menschlichen Natur. Ja vielleicht: die dem Menschen allein
mögliche Weise, sich aus der wesenhaften Unfreiheit seines bedürftigen
Seins zu erheben und gleichsam frei wie die Götter zu sein.
Philosophieren: die „ὁμοίωσις θεῷ“, die Vermessenheit des Menschen,
ein „Unglück“? Die „Göttlichkeit“ der Philosophie??? Ausgehend von der
Freilegung des eigentlichen Wesens der Σοφία als menschliche Möglichkeit
der Freiheit, leitet Aristoteles zur Göttlichkeit der Philosophie über. Ein
Sprung, der „steuert“: eben auf den unausgesprochenen Leitbegriff der
Metaphysik: ἐπιστήμη, ἡ ξηθει ὄν ἡ ὄν und τὸ θεῖον. –
„Göttlichkeit“ der Σοφία: 1) weil sie am meisten von Gott innegehabt
wird, 2) weil sie die göttli-
| chen Dinge (τὰ θεῖα) umfaßt. 13
(Gott hat die Σοφία, der Mensch die φιλοσοφία? Vgl. die antike Bestimmung
der Philosophie als ὁμοίωσις θεῷ und als ἕνωσις! Ferner vgl. Gott als
Subjekt und Gegenstand der Philosophie bei Hegel und Gott als Objekt der
Philosophie bei Spinoza!!?)
__
Andere Wissenschaften notwendiger? Eben für die Lebensnotdurft! Aber
nicht wesentlicher.
Keine Wissenschaft ist „besser“, das heißt: mehr Wissen, wissender als
die Σοφία.
In der Σοφία resp. dem Philosophieren geschieht eine Verwandlung
des Menschen: Herausführung aus dem Nichtwissen. Hier ist eine formale
Anzeige des Wesens der Philosophie. Herausführung aus dem Nichtwissen
ist für den gemeinen Verstand Hinführung zu endgültigen Wahrheiten. Aber
wie der Kenner der Geometrie sich wundern würde, wenn sich die Diagonale
durch die Seiten des Quadrats messen ließe, so würde sich der Kenner
der Weisheit wundern, wenn die Herausführung aus dem Nichtwissen so
stattfände wie sich der gemeine Verstand vorstellt. Vielleicht ist aller echte
| Wissensfortschritt im Felde der Σοφία ein Hineinführen des Menschen in 14
das Geheimnis.
*

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3. Kapitel
„τὰ δ᾿αἴτια λέγεται τετραχῶς“: 1) οὐσία καὶ τὸ τὶ ἦν εἶναι; 2) ὑλη καὶ
ὑπόκείμενον; 3) ὅθεν ἀρχὴ τῆς κινήσεως; 4) τὸ οὗ ἕνεκα καὶ τʼἀγαθόν.5
Die Σοφία ist die ἐπιστήμη der ersten Prinzipien und Ursachen. Ursache-
sein ist vierfach möglich. Der Begriff der „Ursache“ darf nicht mit dem
verengten deutschen Begriff von „Ursache“ als Gegenbegriff zu Wirkung
allein verstanden werden, sondern als Ur-Sache, als solches, worauf hin
Seiendes begriffen und verständlich wird.
Die Tafel der αἴτια wird für Aristoteles zur Basis für die Auseinander-
setzung mit der „Tradition“. Damit rückt die Exposition des Vorbegriffs
der Σοφία ausdrücklich aus der Dimension der steuernden Explikation
des Vulgärbegriffs von Σοφία heraus und in den historischen Horizont
des Problems
15 | ein. (Diese „historische“ Betrachtung ist für Aristoteles nicht ein dekorati-
ves Moment, sondern eine sachliche Notwendigkeit. Er stellt sein Fragen
hinein in die Geschichte des philosophierenden Fragens. – [[Wir übersprin-
gen die historisch-systematische Problemexposition, weil wir dafür nicht
gerüstet sind.]])
Aristoteles zeigt, daß die Σοφία als Fragen nach den ersten Gründen
und Ursachen das Seiende zu begreifen versuchte, indem gefragt wurde
vornehmlich nach den αἴτια als ὕλη (καὶ ὑποκείμενον) und als ὅθεν ἀρχὴ τῆς
κινήσεως. αἴτιον als οὐσία (καὶ τὸ τὶ ἦν εἶναι) und als τὸ οὗ ἕνεκα ist explizit
nie erfragt worden, sondern das in solche Fragerichtung stoßende Fragen
mißverstand sich als Fragen nach ὕλη und ὅθεν ἀρχὴ τῆς κινήσεως.
Liegen vielleicht die αἴτια (ὕλη und als ὅθεν ἀρχὴ τῆς κινήσεως), die
die voraristotelischen Philosophien erfragen, dem naiven Verständnis des
Seienden näher als die beiden anderen???
(Kapitel 4; 5; 6; 7; 8; 9; 10 fallen für uns aus.)
16 | Buch α
1. Kapitel:
Die „historische“ Frage, ob Buch α ebenfalls wie Buch Α als „Einlei-
tung“ der Metaphysik gedacht war, ist für uns irrelevant. Die Exposition
beginnt hier mit der Erörterung der menschlichen Möglichkeit, Wahrheit
zu erforschen. Der Begriff der ἀλήθεια als Leitfaden für den Vorbegriff der
gesuchten ἐπιστήμη.
Ist Σοφία
dasselbe wie ἡ περὶ τῆς ἀλήθειας θεωρία? Wie verhält sich Σοφία und
ἀλήθεια? Das im Wissen Gewußte ist die ἀλήθεια. Also eine neue Dimension
der Charakteristik für die Σοφία.

5 Metaphysica, 983a 26–32.

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__
Ἡ περὶ τῆς ἀλήθείας θεωρία τῇ μὲν χαλεπή, τῇ δὲ ρᾁδία:6 Das Schauen der
Wahrheit ist leicht und schwer?? Welche Wahrheit? Jede Wahrheit? Oder die
Enthülltheit des Seienden überhaupt?? Die ἀλήθεια περὶ τῆς φύσεως. Damit
ist die Stellung des Menschen überhaupt angezeigt: mitten zwischen Wissen
und Nichtwissen. Die Enthüllung der Φύσις ist leicht, sofern wir schon
| „Seiendes“ kennen und angesprochen haben; schwer, sofern wir nicht 17
wirklich wissen, was das Seiende ist. Die Φύσις ist das immer schon
Gekannte, und immer Unbekannte.
„Ganzes“ und „Teil“?? D. h. die volle und gegliederte Wahrheit περὶ τῆς
φύσεως. Das Unvermögen, die volle und vollständige (gegliederte) Wahrheit
über das Seiende im Ganzen zu haben, ist Grund für die Schwierigkeit,
Wahrheit zu erforschen.
Ist das „Seiende im Ganzen“ ein mögliches Korrelat einer vollständigen
Wahrheit? Für Gott? Ist Aristoteles auf die Meinung festlegbar, daß die Φύσις
in einer vollständigen und vollkommenen Wahrheit erkennbar ist? Nein.
Aristoteles operiert nur mit der Idee einer vollkommenen Wahrheit, um die
Stellung des Menschen zwischen Wissen und Nichtwissen anzuzeigen. –
Zwei τρόποι von „Schwierigkeit“: 1) in den Dingen, 2) in uns gründende.
Liegt es an uns, daß wir die volle Wahrheit περὶ τῆς φύσεως nicht erreichen?
Das Gleichnis mit dem Sehen der Nachtvögel scheint dies zu meinen.
Interpretation des Gleichnisses. Zunächst ist es eine Metapher, eine „analogia
| propositionalis“. Wie die Augen der Nachtvögel sich zum Tageslicht verhal- 18
ten, so der νοῦς unserer Seele πρὸς τὰ τῇ φύσει φανερώτατα πάντων.7 Das am
meisten Offenbare (im Plural)? Das am meisten Offenbare τῇ φύσει, ist πρὸς
ἡμᾶς nicht offenbar, sofern es blendet. Sein Nicht-offenbar-Sein ist nicht ein
Verhülltsein, ein Dunkelsein, sondern die Nichtsichtbarkeit des Überhellen.
Dieses Überhelle ist seiner Natur nach das am meisten Offenbare. Paradoxie:
das am meisten Offenbare ist für uns nicht am meisten offenbar. Aber für
wen denn? Für Gott? Für irgendjemanden? Oder für keinen? Hat aber ein
seiner Natur nach am meisten Offenbares einen Sinn, wenn es für Niemanden
offenbar ist?
Wie die Augen der Nachtvögel sehen, wenn das Überhelle im Modus der
στέρησις: im Modus der Dämmerung da ist, so sieht der νοῦς unserer Seele,
wenn das am meisten Offenbare nur in einer verminderten Weise da ist. Für
die Nachtvögel ist auch das Licht ermöglichende Bedingung ihres Sehens,
aber in einer Verminderung („Dämmerung“).
| Ist so das am meisten Offenbare in der für uns zuträglichen Verminderung 19
auch „ermöglichendes Licht“ für unser Sehen des νοῦς??? Ist das „In-der-

6 Metaphysica 993a 30–31.


7 Metaphysica 993b 11.

Z-XXI 389

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Mitte-Stehen“ des Menschen zwischen Wissen und Nichtwissen hinsichtlich
der ἀλήθεια περὶ τῆς φύσεως ein Stehen in der Verminderung dessen, was
seiner Natur nach das am meisten Offenbare ist? Ist nicht „Dämmerung“ so
etwas wie eine „Mitte“ zwischen Helligkeit und Dunkel?
Das „am meisten Offenbare“ ein Licht? Wie das Sehen sich zum Licht
verhält, so der νοῦς zu dem seiner Natur nach am meisten Offenbaren. Die
ursprünglichste Metapher für Erkenntnis ist „lumen“! (vgl. lumen naturale
und lumen supranaturale z. B.) Das Licht ist nicht eigentlich das, was gesehen
wird. Gesehen werden Dinge im Licht. „Licht“ aber das Offenbarste, das
zuerst Gesehene, aber nicht thematisch Gesehene. Im unthematischen Sehen
des Lichts öffnet sich allererst der Raum möglicher gesehener Dinge. „Licht“
ist der Sehraum κατὰ ἐνέργειαν. Im vorgängigen Sehen von Licht öffnet sich
der Raum sichtbarer Dinge, Sehen des Lichts ist Sichtbares freigeben.
20 | Was meint aber die Metapher? Was ist wie das Licht das unthematisch
Zuvor-Offenbare und Offenbarkeit von Dingen Ermöglichende, das aber als
solches in einer Verminderung seines Wesens für uns da ist (wie das Licht des
Tages für die Eulen), so daß wir hinsichtlich dieses, seiner Natur nach am
meisten Offenbaren in der Mitte zwischen Nichtwissen und Wissen stehen???
– Von größter Wichtigkeit ist, das Problem, das die Metapher anzeigt, in allen
seinen Momenten gegenwärtig zu halten.
Die θεωρία περὶ τῆς ἀληθείας ist schwer und leicht. Leicht, sofern die
ἁλήθεια immer existiert, d. h. wir immer in einer Offenbarkeit existieren.
Schwer, sofern die volle Wahrheit schwierig zu erreichen ist. Die volle
Wahrheit ist die vollständige ἀλήθεια περὶ τῆς φύσεως. Die Schwierigkeit
liegt aber in uns, sofern das am meisten Offenbare (das ist die ἀλήθεια περὶ
τῆς φύσεως) das überhelle Licht ist, in dessen Verminderung (Dämmerung)
wir das Seiende erkennen. Was ist das in allem Erkennen der Dinge schon
zuvor Erkann-
21 | te und Erkennbarkeit der Dinge Ermöglichende? Was ist dieses je-zuvor
Erkannte und Erkennbarkeit Ermöglichende, als das nicht in seinem eigent-
lichen vollen Wesen Erkannte, hinsichtlich dessen Wahrheit wir in der Mitte
von Wissen und Nichtwissen stehen? Was ist dieses dämmerhaft Erkannte
und Verstandene? In wessen dämmerhafter Kenntnis leben wir wie die
Nachtvögel? Wie die „Eulen“? Sind die Eulen nicht auch Symbol? Ist die
Eule nicht der Vogel der Pallas Athene? Das Symbol der Weisheit, der
σοφία?? Sind wir als die Sucher der Σοφία, als die φιλόσοφοι, bemüht, die
schwierige Wahrheit περὶ τῆς φύσεως zu erringen, während wir als Menschen
schlechthin in der Offenbarkeit des am meisten Offenbaren leben, so aber,
daß wir seine ἀλήθεια nicht erreichen, aber nicht außerhalb ihrer stehen??
Die Σοφία hat als ihren Gegenstand, wie Buch A zeigt, τὰ πρώτα αἴτια
καὶ ἀρχαί. Das Wissen, das darauf bezogen ist, ist am weitesten der leichtes-
ten Erkenntnis, der αἴσθησις, abliegend und so am schwierigsten. ⎡[Ist

390 Z-XXI

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.
| nun das am meisten Offenbare eben τὰ πρώτα αἴτια καὶ ἀρχαί?? Was 22
Aristoteles mit diesen Titeln anspricht und zu fassen versucht, ist das,
woraufhin Seiendes verständlich wird: das Sein.
Das „Sein“ ist das immer schon und je zuvor Verstandene, als vorgängig
Verstandenes Erkennbarkeit von Dingen (Seiendem) Ermöglichende, aber
so, daß es in einer verminderten Verständlichkeit für uns da ist und wir hin-
sichtlich der Wahrheit des Seins in der Mitte zwischen Nichtwissen und
Wissen stehen. Das „Sein“ ist das am meisten Offenbare. In der Dämmerung
des Seinsverständnisses existieren wir. Im „Lichte“ des Seinsverständnisses
verhalten wir uns zum Seienden. Dieses „Licht“ des Seinsverständnisses ist
nur „Dämmerung“. Philosophieren ist das Suchen der vollen Wahrheit περὶ
τῆς φύσεως, d. i. der vollen Wahrheit über das Seiende im Ganzen.] * –
Die Stellung des Menschen mitten zwischen Nichtwissen und Wissen ist
Grund für die Bedeutung jeder Wissens-
| vertiefung: Übung, unscheinbare Einsichten als Boden für die großen 23
genialen Einsichten. –
Φιλοσοφία = ἐπιστήμη τῆς ἀλήθειας! Das Τέλος der theoretischen
Wissenschaft ist die ἀλήθεια. Kontrast gegen die „ἐπιστήμη πρακτικὴ“, deren
τέλος das ἔργον ist. Die Πρακτικοὶ θεωροῦσιν οὔ τὸ ἀΐδιον (das „N i c h t -
E i n z e l n e“) ἀλλα πρὸς τὶ καὶ νῦν. Die werkerzeugenden „Praktiker“ theo-
retisieren nicht das Nicht-Einzelne (d. h. nicht das „Allgemeine“), sondern
auf etwas hin und gegenwärtig. (Mißverständliche Übersetzung von Rolfes,
der ἀ-ΐδιον übersetzt mit „das Ewige“).8
Das Wesen der Wahrheit wird so entworfen auf das Wissen des Nicht-
Einzelnen und des Immerseienden. [Wahrheit über das Seiende ist Wahrheit
über das Immerseiende: das „Immer“, die Ständigkeit als Zeithorizont des
aristotelischen Ansatzes der Wahrheit des Seienden!?]
„Wahrheit“ ist also Wahrheit des Seienden im Ganzen und des ständigen
Seienden. Die „πρακτικοὶ“ θεωροῦσιν πρὸς τὶ καὶ νῦν.9 „Wahrheit“, wie sie
für die πρακτικοὶ wichtig ist, ist Wahrheit in Beziehung auf ein „Dieses“ und
ein „Jetziges“, und nicht auf Seiendes im Ganzen und Immerseiendes.
| [Repräsentiert hier die ἀλήθεια, so wie sie für den πρακτικός in Betracht 24
kommt, nicht überhaupt die Wahrheit als Unverborgenheit von bestimmtem
Seienden („ontische“ Wahrheit)? – „Nicht wissen wir das Unverborgene
ohne die Ur-Sache“!??? Heißt das nicht: Unverborgenheit von bestimmtem
Seienden (ontische Wahrheit) ist nur möglich aufgrund des Wissens der
Ursache, wenn auch dieses selbst unausdrücklich ist? Ontische Wahrheit
ermöglicht durch ontologische Wahrheit!!??] ––

8 Eugen Rolfes ist der Übersetzer von Aristoteles’ Metaphysik; siehe die Anmerkung zu

Z-XVII 12.
9 Metaphysica 993b 22–23.

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Am meisten „wahr“ ist dasjenige, das Ursache der Wahrheit ist für
Anderes. Die Wahrheit als Un-verborgenheit der Ur-sache des Seienden
ist Ur-sache der Wahrheit des Besonderen. (Das bedeutet: das Verständnis
des Verhältnisses von „Ur-sache“ und „Sache“ wird auf die Wahrheit selbst
angewandt). Wie das Feuer als Wärmstes anderes warm macht, so macht
Unverborgenheit des „Seienden im Ganzen“ und des „Ständigen“ bestimm-
tes Seiendes offenbar. Die Unverborgenheit des immer-Seienden ist Ursache
der Unverborgenheit des
25 | dann und wann (ποτὲ) Wahren.
Aristoteles entwirft hier schon – vordeutend – eine „Ontologie der
Wahrheit“: „ὤσθʼἕκαστον ὡς ἔχει τοῦ εἶναι, οὕτω καὶ τῆς ἀληθείας“.10 ––
Das am meisten Offenbare (τα φανερώτατα), hinsichtlich ‹dessen› wir
uns verhalten wie Nachtvögel zum überhellen Licht des Tages, ist die Offen-
barkeit des Immerseienden und des Seienden im Ganzen, die als solche
Ursache der Offenbarkeit von bestimmtem (besonderem) Seienden ist. Das
Wissen des am meisten Offenbaren ist die θεωρία περὶ τῆς ἀληθείας oder die
Σοφία, die wir nicht haben, sondern die wir nie nicht, aber auch nicht völlig
haben, die wir nur haben im Streben nach der Σοφία, welches Streben ist: die
φιλοσοφία. –
Das 1. Buch führt zum Begriff der Σοφία, das 2. beginnt mit der Wahrheit,
die der Σοφία eigentümlich ist. Σοφία ist die Wahrheit über das Seiende im
Ganzen und in Ständigkeit. Diese Wahrheit ist mit der Existenz des Menschen
da: im dämmerhaften Lichte dieser Wahrheit
26 | hat der Mensch Wahrheit von Diesem und Jetzigem. „Ontische“ Wahrheit
ist ermöglicht durch die Wahrheit περὶ τῆς φύσεως: die nicht eine Wahrheit
über ein hic et nunc (πρὸς τὶ καὶ νῦν) ist, sondern über ein nicht-”hic“ und
nicht-”nunc“. Nicht-”nunc“ ist das Immerseiende! Aber Gegenbegriff zu
„hic“??? Eben die Φύσις! Φύσις ist das Ganze des Seienden: das Immersei-
ende und Überallseiende: die Welt. Die Σοφία als die Wahrheit über die
Physis ist W e l t - W e i s h e i t.

2. Kapitel:
Rekapitulation: das I. Buch exponiert die Idee der Philosophie durch die
vorbereitend-steuernde Bestimmung der Σοφία. Σοφία ist das Wissen von
τὰ πρώτα αἴτια καὶ ἀρχαί. Das II. Buch exponiert die Idee der Philosophie
als ή περὶ τῆς ἀληθείας θεωρία. Philosophie als „Wahrheitstheorie“. Ist dies
„Erkenntnistheorie“ in einem modernen Sinne? Offenbar nicht. Die von der
Philosophie gesuchte Wahrheit ist die

10 Metaphysica 993b 30–31.

392 Z-XXI

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.
| ἀληθεία περὶ φύσεως: die Wahrheit über das Seiende im Ganzen: 27
Wahrheit über das Immerseiende und Überallseiende ist Wahrheit über die
„Ursachen“ des Seienden.
Die „wahrheitstheoretische“ Erörterung über die Ursachen des Seienden
beginnt im 2. Kapitel. Schwierig ist der methodische Charakter dieses Kapi-
tels zu bestimmen. Sind die aristotelischen Thesen „Erfahrungssätze“? Oder
apriorische Sätze? Wie ist das Denken zu charakterisieren, das spekulativ
das Ganze des Seienden (die Welt) überdenkt??? Ein offenes Problem, das es
wachzuhalten gilt!
Zunächst beginnt die Erörterung über die Ursachen und Anfänge des
Seienden mit der Festsetzung der Endlichkeit derselben. „Endlichkeit“ wird
entwickelt aus dem Verhältnis der „Anfänge und Ursachen“ zur Z e i t.
Leuchtet damit ein verborgener Problemzusammenhang auf??
Die Endlichkeit „in gerader Linie“ ist Endlichkeit hinsichtlich der Zeit.
Diese wird zunächst erörtert
| als Endlichkeit des Werdens, Endlichkeit des Woher der Bewegung und 28
Endlichkeit des Weswegen.
Das Werden von etwas aus etwas vertritt hier das Ur-sache-Sein als ὕλη
(ὑποκείμενον). Und dies wiederum in regressiver Richtung. Das, woraus
etwas besteht, Dingsein als aus-etwas-Bestehen, kann in regressiver Rich-
tung nicht ins Endlose führen. Ebenso regressiv ist die Bedingtheitsrichtung
bei dem Woher der Bewegung. Das Weswegen führt in seiner Reihe der
mannigfachen „Umwillen“ ebenso regressiv auf ein letztliches „Umwillen“.
– Das „wesentliche Sein“ wird nicht erörtert, sondern nur als gleichgelagert
genannt. (Zur Verdeutlichung: τὸ τὶ ἦν εἶναι als Erscheinungsgrund, als
inneres Wesen eines Dinges, kann nicht ins Endlose iteriert werden, weil
sonst überhaupt nur Erscheinungen, und kein Wesensgrund sein könnte.) –
Aristoteles erörtert den prinzipiellen Charakter des Mittelgliedseins (in
einer Ur-sachen-Reihe): Mittelgliedsein ist In-der-Reihe-Stehen, ist „Ver-ur-
| sacht-Sein“, ist „Bedingt-Sein“. Aristoteles behauptet nicht, daß viele oder 29
gar „unendliche“ Mittelglieder möglich sind. Vielmehr führt er den apago-
gischen „Beweis“ (– von „Beweis“ ist in diesem Felde spekulativer Funda-
mentalbesinnung nur hinsichtlich der äußeren Form zu reden!), daß eine
unendliche Reihe von Ur-sachen prinzipiell nur eine Reihe von Mittelglie-
dern sein könnte, bis zum Gegenwärtigen, das auch nicht den Charakter eines
wirklichen „Endglieds“ hat. Mittelglieder-reihe ohne Anfangs- und Endglied
ist in sich widersinnig. (Vgl. Kants Spekulation über den Reihencharakter der
„Bedingungen der Erscheinung“ in der „Transzendentalen Dialektik“!)
Der apagogische Beweis lautet also: eine unendliche Reihe von Ur-
sachen könnte nur eine Reihe von Mittelgliedern sein. Eine Reihe von lauter
Mittelgliedern ist widersinnig. Also ist die Reihe der Ursachen endlich – in
der regressiven Richtung.

Z-XXI 393

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Aristoteles behauptet nun auch die Endlichkeit in progressiver Richtung.
Zugrunde liegt der Erörterung
30 | wiederum die γένεσις. Aristoteles aber unterscheidet jetzt zwei Weisen
der Genesis. Differenziert sich damit nur das Phänomen der γένεσις, oder
ist diese Differenzierung wichtig für die Aufstellung der These von der
progressiven Endlichkeit des Werdens??? Werden als Werden an einem
Werdenden: [Werdensträger als ontische Identität].
Werden in diesem Sinne ist ein Werden zu etwas, oder ein Werden
auf etwas hin. Hinsichtlich dessen steht das Werden zwischen Nichtsein
und Sein, der Werdende zwischen Nichtseiendem und Seiendem. [Dieses
Werden auf etwas hin ist ein solches „ex nihilo“, das der Grieche sonst
perhorresziert.] Die Enden dieses Werdens, die es einfassenden Gegensätze,
schlagen nicht ineinander um. Dieses Werden ist irreversibel. – Die zweite
Weise des Werdens: „aus Wasser wird Luft“; hier ist das Gewordene nach
dem Werden, Umbiegen der Gegensätze, Umkehrbarkeit. Das Entstehen des
einen ist Vergehen des Anderen. – Beide Weisen des Werdens
31 | sind progressiv endlich, d. h. können nicht ins Endlose fortgehen. Bei
Werden an einem Werdensträger, also beim Werden auf etwas hin, muß doch
ein Ziel da sein für alle Werdensstufen. Aristoteles führt hier schon den Zweck
als Werden regierende Macht ein.
– Die zweite Weise der γένεσις, das Werden von etwas aus etwas, das
durch das Umschlagen der Dinge, durch eine ontische Differenz bestimmt
ist, kann auch nicht ins Endlose fortgehen. Denn …?? Der „Beweis“ ist
schwierig einzusehen. „Prämisse“ ist 1) die regressive Endlichkeit des
Werdens, d. h. das Zurückleiten auf eine erste ὕλη, 2) das Gegebensein des
Umschlags eines Dinges in ein anderes. Apagogisch: wenn das Umschlagen
der Dinge ins Endlose liefe, d. h. nicht in sich zurückkehrte z. B. in der Form
eines Kreislaufes, so könnte kein „ewiges Erstes“ sein. Ein ewiges Erstes
aber ist gesetzt mit der regressiven Endlichkeit des Werdens. Also muß das
Umschlagen als ein Werden, in dem sich ein unvergängliches Erstes (als erste
ὕλη) durchhält, endlich sein, also eventuell kreislaufen.
32 | Ist diese Interpretation richtig?? [Meine Auffassung würde besagen, daß
Aristoteles im Werden eines Dinges aus einem anderen Ding, also in
dem durch eine ontische Differenz bestimmten Werden als ontologische
Bedingung freilegt die Identität der „Urhyle“]
– Die Endlichkeit des Weswegen in progressiver Hinsicht als Zweck des
Handelns. Ein unendlicher Zweck sinnlos. Die unendliche Reihe wider-
spricht dem Sinne von „Zweck“. –
Das „wesentliche Sein“, ist es hier regressiv oder progressiv erörtert??
Es ist wesentlich regressiv an ihm selbst; aber πρὸς ἡμᾶς??

394 Z-XXI

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.
| 11Das Problem des Methodologischen 32/a
Welt als Problem
Weltdenken in den Mitteln des Dingedenkens?
*
3. Kapitel Lehrvorträge = Philosophie kann nicht frischweg anfangen.
Philosophie und der gemeine Verstand!
*
| Buch B 34
1. Kapitel.
Die Wissenschaft der Σοφία resp. der Philosophie ist gesucht. Aristoteles
kreist fragend um die nicht vorgegebene, unbekannte und doch irgendwie
bekannte Wissenschaft. Der Versuch, Philosophie anzufangen, ist bestimmt
durch eine radikale Verlegenheit, eine ἀπορία. Aristoteles vertieft durch
eindringliches Fragen diese Verlegenheit: alle sich darbietenden und andrän-
genden Vorstellungen von der „gesuchten Wissenschaft von den ersten Ursa-
chen und Prinzipien“ werden in einen Wirbel des Zweifels einbezogen. Der
Zweifel hat die positive Funktion, die Philosophie von der „Verständlichkeit“
gangbarer Vorstellungen zu befreien, den „Problembegriff“ zu umkreisen.
Die Reihenfolge der „Zweifel“ weist schon hin auf die zu entfaltende
Problematik der „ersten Philosophie“.
Der 1. Zweifel betrifft τὰ αἴτια:
a. ist ihre Erforschung Sache einer oder mehrerer Wissenschaften?
b. hat die gesuchte Wissenschaft (Σοφία) zum Thema nur die πρῶται
ἀρχαί τῆς οὐσίας oder auch die „Prinzipien der
| Beweisführung“ (ἀρχαί ἐξ ὧν δεικνύουσιν ἅπαντες)?12 („Ontik“ und 35
„Logik“, oder liegt Aristoteles’ Unterscheidung von Erforschung der Sub-
stanzen und der Prinzipien der Beweisführung noch in einer ursprünglicheren
Dimension? Ist die Unterscheidung so klar, wie wir sie traditionell verstehen,
oder ist bei Aristoteles noch das Problem der Logik mit der ontologischen
Problematik verflochten? „Wahrheit“ als Bedingung der Offenbarkeit des
Seienden! Ist der Satz vom Widerspruch ein Satz, der der Erforschung der
Substanzen oder der Erforschung der Prinzipien der Beweisführung angehört
oder keines von beiden???)
c. Wenn die Φιλοσοφία sich mit der Substanz beschäftigt, ist sie dann
eine Wissenschaft von allen Substanzen, oder ist sie ein Inbegriff
von mehreren Wissenschaften (vielleicht „Disziplinen“?!!), und wenn
so, sind diese miteinander verwandt, oder sind einige Σοφία, andere
aber nicht? (Ist Philosophie eine Mannigfalt von „Disziplinen“ oder

11 32/a ist ein einzelnes kleines Blatt, das zwischen S. 32 und die leere Seite 33 eingeschoben

wurde.
12 Metaphysica 995b 8–9.

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.
nicht?; ferner Aristoteles’ Unterscheidung von „erster Philosophie“ und
den φιλοσοφίαι!!)
d. Gibt es nur αἰσθηταὶ οὐσίαι oder daneben noch
36 | andere, und wenn, gibt es dann mehrere Gattungen übersinnlicher Substan-
zen? (Was ist „Seiendes“? Dinge = binnenweltliche Dinge allein? Oder
„Ideen“? Später das „ens infinitum“!??)
2. Aporie: Thema der gesuchten Wissenschaft ist die Substanz – dies
ist das Resultat der ersten Aporie. Die Philosophie ist die Wissenschaft vom
Seienden. Was das Seiende ‹ist›, ist problematisch.
Wenn Substanz das Thema der Σοφία ist, betrifft sie dann auch die
Akzidenzien, die den Substanzen an sich zukommen (τὰ συμβεβηκότα
καθʼαὑτὰ)? Ferner (zudem: πρὸς δὲ τούτοις) das Identische (ταυτὸ), Ver-
schiedene (τὸ ἕτερον), ταυτὸτητον (Identität), ἐναντιότητον (Gegensätz-
lichkeit), Früheres (πρότερον) und Späteres (ὕστερον), ferner Kontrarie-
tät (Relation).13
3. Aporie: betrifft die Frage, ob als Prinzipien (ἀρχαί) und Elemente
(στοιχεῖα) anzusetzen sind die Gattungen (γένη) oder die Bestandteile.
(Problem des Verhältnisses von Gattung und individuellem Faktum, von
„Wesen“ und Ding. Ist das Ding vor der Gattung oder die Gattung vor
37 | dem Ding?!? Platons Problem von Idee und Ding!) – Ferner, wenn die γένη
Ur-sache des Dinges sind, welche die niedersten oder die höchsten Gattun-
gen?
4. Aporie: Gibt es παρὰ την ὑλην αἴτιον καθʼαὑτὸ ἤ οὔ? (Was ist die „Ursache
an sich“ außer der ὑλη? Die drei anderen Arten der Ursachen? Oder „Seele“?)
5. Sind die ἀρχαί der Zahl und Art nach bestimmt? (Vgl. A el. S. 37 unten)14
6. Prinzipien der vergänglichen Dinge und der unvergänglichen diesel-
ben?? oder verschieden? Ferner alle unvergänglich? Oder die der ver-
gänglichen Dinge vergänglich?
7. τὸ ὄν και ἕν??
8. Sind die Prinzipien allgemein oder einzeln? potenziell oder aktuell?
9. Ist Ursache-Sein ein Sein als bewegende Kraft?
10. Das „Sein“ der mathematischen Gebilde?

37/a | 15Entfaltung des Fragegehaltes der „Metaphysik“:


Substanz und Substanzstrukturen (Kategorien)
Gattungen
Transzendentalien

13 Metaphysica 995b 20–22.


14 Seitenzahl der Metaphysica in der Ausgabe von W. Christ (Leipzig 1931), wo der Text vom
1, 993b29 bis 994a21 läuft (in Finks Bibliothek).
15 37/a ist ein einzelnes kleines Blatt, das zwischen S. 36 und S. 37 eingelegt wurde.

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.
*
Die These des I. Buches:
Σοφία = ἐπιστήμη τῶν πρώτων αἰτίων καὶ ἀρχῶν
Die These des II. Buches:
Φιλοσοφία = ἡ περὶ τῆς ἀληθείας περὶ τῆς φύσεως θεωρία.
Die These des III. Buches
ἐπιστήμη (gesuchte) = Theorie der Substanz
der Gattung – der Transzendentalien

Reihe III:16
| Die „Prinzipien“ selbst werden im Entfalten der Fragen der Philosophie III/1a
„aporetisch“ ins Problem gesetzt. Es erfolgt der philosophierende Abstoß
von der Sphäre der „Selbstverständlichkeit“. –
Welches ist die allgemeine Kennzeichnung der Problematisierung der
Prinzipien? Die Aporetik ist die Erschütterung der naiven Selbstverständlich-
keit, daß die „Prinzipien“ ontisch bestimmbar wären, wie „Dinge“.
Aristoteles’ grundlegende Einsicht: die Strukturen des Dingseins, des
Seiendes-Seins sind nicht selbst „Seiendes“. Die ontische Auffassung ist
Quelle aller verfehlten Problemstellungen. – Der Vorstoß zum „ontologi-
schen“ Charakter der Seinsbestimmtheiten bricht sich aporetisch erst Bahn,
ist „Neuland“.
I. | Allgemeine Problemsituation: Entfaltung des Fragens der Philosophie III/1b
(Philosophieren ist Problementwerfen).
II. Die im Kapitel 1 genannten Fragen, gleichsam der Aufriß der philosophi-
schen Problematik, werden jetzt ausdrücklicher als Fragen ausgearbei-
tet.
Das I. Buch erreicht den Begriff der Σοφία resp. Φιλοσοφία als ἐπιστήμη
πρώτων αἰτίων καὶ ἀρχῶν („Ursachen“ – „Prinzipien“). Dunkel bleibt der
Begriff des Ursache- und Prinzipseins trotz der prinzipiellen Aufstellung des
vierfachen Begriffs der „Ursache“.
Das II. Buch erreicht die Bestimmung der Φιλοσοφία als ἡ περὶ τῆς
περὶ τῆς φύσεως ἀληθείας θεωρία, die gleichgesetzt wird der Wissenschaft
von den „Prinzipien und Ursachen“ (die charakterisiert werden als das
Immerseiende und Überallseiende). Dazu kommt die spekulative Erörterung
der prinzipiellen Endlichkeit der Bedingungsreihen, die zu den Ur-sachen
führen. –

16 Reihe III besteht aus 8 ausgerissenen kleinen Heftblättern, die durch das gefaltete zweite

Blatt zusammengehalten sind. Dieses ist das einzige Blatt der Reihe, das Fink paginierte.

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.
III/2a | Allgemeine Anordnung der Problematik:
Problem ist das „Prinzip“ und die „Ursache“:
1. Thema welcher Wissenschaft, einer oder vieler? (Eins und Vieles.)
2. Substanzwissenschaft und apodeiktische Wissenschaft (Substanz
oder Axiome)?
3. Prinzipien der Substanzen?
4. Sind Gattungen oder Stoff = Prinzipien?
5. Sind die Prinzipien selbst „Gattungen“?
6. Sind die Prinzipien = Transzendentalien?
7. Sind die „Transzendentalien“ = „Gattungen“?
8. Sind die „Transzendentalien“ = Substanzen“?
III/2b 9. | Sind Mathematikgegenstände (Raum und Zeit) Substanz? Substanz
als Problem?
10. Sind Prinzipien potentiell oder aktuell?
11. Sind Prinzipien allgemein oder Einzelnes, Seiendes oder das „Sein“?

III/3a | II. Kap.


1.
Bisher war die problemtheoretische Entfaltung des wesentlichen
Fragegehalts der Φιλοσοφία als Theorie der Substanz ‹bricht ab›.
*
1. Alle Ursachen Thema einer Wissenschaft?? „K o n t r a r i e t ä t“ als
Prinzip sachlicher Einheit.
2. Nicht alle ἀρχαί in allen Dingen! Das Unbewegte.
In Mathematik kein Denken, das zurückgeht auf Ursache: III und IV.
Das Seinsprinzip der Seinsmächtigkeit ist nicht in der Mathematik. __
Bis jetzt: was spricht gegen die Einheitlichkeit der Wissenschaft von den
Ur-Sachen? 1) keine Kontrarietät der ἀρχαι, und 2) nicht alle Prinzipien
immer zusammen.
III/3b | Wenn aber mehrere Wissenschaften: Welche ist die Weisheit? Wenn für
den Weisen?
An einem Seienden können doch alle Weisen des Ur-sacheseins vorlie-
gen. Z. B. Haus.
Jede Wissenschaft wäre nun „Weisheit“ zu nennen 1) als herrschende
= Wissenschaft des Zweckes, 2) am meisten wißbar = Wissenschaft der
Substanz 3) hinsichtlich Werden Prinzip der Bewegung. 4)??
*
Bis jetzt S t e i g e r u n g der Fragwürdigkeit durch apagogische Widerlegung
des Vermutlichen.

398 Z-XXI

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.
2.
Prinzipien der Beweisführung? Gehören sie zur Σοφία? Einer oder mehreren
Wissenschaften zugehörig? Satz der Identität und Satz vom Widerspruch.

| Ist es nicht Sache der Philosophen? III/4a


*
Der Zusammenhang von apodeiktischer Wissenschaft und Wissenschaft der
Substanz bleibt offen – als Problem.
*
3.
Wissenschaft der Substanz?
Mehrere Wissenschaften von den Substanzen oder eine? Welche Substanz.
Gegen die „eine“ spricht: Akzidenz und Substanzverhältnis bestimmt durch
die Gattung.
*
Substanz und Akzidenz: Thema einer Wissenschaft oder mehrerer?
Gegen beides spricht:
1. eine: Wissenschaft der Substanz = eine beweisende Wissenschaft
2. mehrere: Welche Wissenschaft ist Erforschung der Akzidenzien??
| Sind diese Prinzipien der Beweisführung mitgehörig zur Wissenschaft von III/4b
der Substanz?
Dagegen spricht:
Die demonstrative deduktive Methode am meisten in der Geometrie (und
Mathematik). Gehört sie allen Wissenschaften überhaupt an, warum dann
gerade der Substanzenwissenschaft?
Ist Substanzenwissenschaft eine unter den anderen?? –
Ferner: gibt es überhaupt eine Wissenschaft von den Prinzipien
der Beweisführung?
Wenn es eine „apodiktische“ Wissenschaft von den Prinzipien der
Beweisführung gibt, dann muß ein γένος zugrundeliegen.
Thematische Wesenseinheit der „apodiktischen Wissenschaften“ (Wis-
senschaft der Axiome).
Axiome = „am allgemeinsten“ und ἀρχαὶ πάντων.
| 4. III/5a
Reale Substanzen die einzigen (die sichtbaren). Mehrere Gattungen von Sub-
stanzen.
[[Kritik: Ideen die platonische Hypostasierung als Verdinglichung
des Undinglichen.]]
Kritik am „Mittleren“.
Stil der Kritik: das Sein und Seinsstrukturen sind nicht selbst „Seiendes“.
5.
3. Kap.

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.
Sind Gattungen oder Stoffe Elemente und Prinzipien der Dinge?
Gegen die Gattungen spricht: das Bestehen der Dinge aus Stoffen
oder Elementen.
Gegen die Stoffe aber spricht: Wissen von den Dingen durch Kenntnisse
der Arten.
III/5b | 6.
Als Gattung wird mißverstanden auch Groß und Klein (Pythagoräer) (Zahl)
und ἑν und ὄν.
__
Gang: Verschiedenheit des Prinzipseins als ὕλη und τὸ τι ῇν εἶναι.
Höhere oder niedere Gattungen?
Ist Gattung = Prinzip, und ist höhere Stufe der Allgemeinheit = mehr
Prinzipsein, so sind die höchsten Gattungen = Prinzipien.
Soviele Prinzipien, wie oberste Gattungen.
Also = das ὄν καὶ ἕν Prinzip. –
Aber unmöglich, weil ὄν und ἕν nicht Gattung sein können.
III/6a | 4. Kapitel
7.
Größte Schwierigkeit:
1. Wie ist Wissenschaft von den unbegrenzten Dingen? Vielheit der Dinge.
2. Aber Einheit, Selbigkeit und Katholizität? [[Etwa des Seins der
seienden Dinge?]]
Nichts außer dem sinnlich Seienden? Bloß Wahrnehmung, nicht ἐπιστήμη.
νοητὸν (Intelligibilität des Seins).
Wäre aber alles bloß sinnlich – dann kein Ewiges. Wenn kein Ewiges,
dann kein Werden.
Werden ist begrenzt. Woraus und woraufhin. Materie und Substanz (als
οὐσὶα (μορφή καὶ εἶδος)).

III/7a | Prinzipien = ὄν und ἕν.


Das ist das „neben“(??) den Einzelseienden. Der Zahl nach („eines“).
*
8.
Prinzipien der vergänglichen und unvergänglichen Dinge. Das Sein des
vergänglich Seienden und das Sein des unvergänglich Seienden??
__
Ist das Sein des vergänglich Seienden selbst vergänglich oder nicht? Ist das
Sein des unvergänglich Seienden unvergänglich oder nicht?
Offen als Problem gelassen.
__
ὄν καὶ ἕν = sind das „Substanzen” der Dinge?

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.
| Sein und Seiendes III/7b
__
5. Kapitel
8.
Was ist Substanz?
Wann Mathematisches-Geometrisches „Substanz“ ist oder nicht?
Raum-Zeit-Problematik.
Raum und Zeit als „Form“ des Seienden???
*
9.
Sind die Prinzipien potentiell oder aktuell? Sind sie aktuell, was ist vor den
Prinzipien? Sind sie aber potentiell, warum sind sie überhaupt? Könnten sie
nicht nichtsein?
| 10. III/8a
Sind die Prinzipien „allgemein“ oder Einzeldinge? D. h. sind sie Gattungen
und dgl. oder „Seiendes“? (Dinge)
Weder allgemein noch Einzelding.
*
I. | Die Unterscheidung von IVa
a. Gattungsallgemeinheit,
b. formale d. i. Leerstellenallgemeinheit,
c. „transzendentale“ Allgemeinheit.
Die formale Allgemeinheit scheint sich zur Gattungsallgemeinheit
analog zu verhalten wie die „transzendentale“. (Vgl. Husserls These
vom Unterschied von „Generalisierung und Formalisierung“.) Aber
die formale Allgemeinheit ist: Formale Gegenstandstheorie auf
dem unkritischen Grunde der Apriorität des Begriffs „Seiendes“.
„Formale Ontologie“ ist formale Theorie des Etwas überhaupt.
*
II. Das Problem von ens und verum im 2. Buch der „Metaphysik“: die
Intelligibilität des Seienden!
*
III. „Seiendes als Seiendes“:
1. die „als“-Struktur des Verstehens,
2. die Apriorität des Begriffs „Seiendes“ (das Unbekannteste ist
vorweg bekannt als Seiendes),
3. „Seiendes“ = das ἔσχατον des etwas-als-etwas-Verstehens,
4. „Seiendes“ = das λεγεῖν ‹?›,
5. | die wesenhafte Unthematik des vorweg verstandenen Fundamen- IV/b
tal-apriori „Seiendes“,

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.
6. „Seiendes“ thematisch interessant als bestimmtes Was-Sein: als
Natursein, als Pflanze-Sein, als Tier-Sein, als Mensch-Sein, als
Gott-Sein, als Gebrauchsding-Sein, als Zahl-Sein usw. – aber
zunächst nicht „als Seiendes“,
7. Seiendes als Seiendes: die Ausarbeitung des Seinsbegriffs.
*
8. Die Einzelwissenschaften zerstücken nicht nur das Seiende, son-
dern sprechen es je schon in einer bestimmten Weise seines
Was-Seins an. Deshalb geben auch nicht alle möglichen Einzel-
wissenschaften zusammen eine Kenntnis (oder gar Erkenntnis) des
Seienden als Seienden.
*

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.
Z-XXII

Beschreibung:
Auf dem Umschlag des schwarzen Spiralhefts findet sich Finks Aufschrift: „Dorothy
Ott-Stunde, 1936–1937“. Dorothy Ott, Tochter eines Bankiers von Chicago aus Win-
netka, Illinois (USA), kam im Jahre 1936 nach Freiburg, um bei Husserl zu studieren.
Der Entwurf ihrer Dissertation „Das Problem der Evidenz in der phänomenologi-
schen Philosophie Edmund Husserls“ liegt zusammen mit dem vorliegenden Heft in
Finks Nachlass (siehe Beilage II, Beschreibung). Ein gefalteter zweiseitiger maschi-
nengeschriebener Plan der Dissertation umschließt die Blätter der Reihe II. Dieser
Plan ist hier als Beilage II wiedergegeben. Zudem wurden zwischen dem Umschlag
und der ersten Seite von Otts Dissertationsentwurf vier Seiten eines maschinenge-
schriebenen Textes mit dem Titel „Einführung in die phänomenologische Philoso-
phie (Ott-Stunde 1936)“ eingelegt, der hier als Beilage I wiedergegeben ist. Der Ent-
wurf wurde wegen des unerwarteten Todes von Frau Ott infolge einer Erkrankung
während einer Reise im November 1937 in der Türkei nicht als Dissertation ausge-
führt. Die Familie Ott hat im Jahre 1938 nicht nur Finks Assistenz bei Husserl geför-
dert, sondern auch Husserls Sohn Gerhart finanziell unterstützt.1
Die Daten der Unterrichtstage wurden bei den entsprechenden Notizen vermerkt,
und zwar ungefähr jeden dritten oder vierten Tag vom 14.XI.36 (1) an bis zum 5.III.37
(D/3b).2 Neben und zwischen die Heftseiten wurden zusätzliche Notizblätter oder
Blätterreihen eingelegt: vor S. 1 die Reihen I bis VI; zwischen S. 2 und 3 Blatt A,
zwischen S. 4 und 5 Blatt B, zwischen die S. 12–13 Blatt C und nach der letzten
Heftseite, S. 64, Reihe D.

1 Vgl. Finks „Politische Geschichte meiner wissenschaftlichen Laufbahn“, in: EF05–75, Bild

Nr. 510–515, und den Brief von Malvine Husserl an Elisabeth Husserl-Rosenberg vom
15. September 1937 (Bw IX, S. 493f.); Malvines Brief an Gerhart Husserl vom 3. Juni 1938,
in dem dessen finanzielle Unterstützung durch die Familie Ott erwähnt wird, findet sich im
Husserl-Archiv, wurde jedoch nicht im Bw veröffentlicht.
2 Insgesamt sind aufeinanderfolgende Daten in den Notizen 1, 10, 14, 16, 19, 28, 35, 40, 45,

VI/1a, 50, 51, 52, 56, D/1a–b, D/2a–b und D/3a–b zu finden.

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.
Text:

Reihe I:
I/1a | Ott-Stunde (Gesamtgang)
I. Der Popularbegriff der Philosophie.
Die beiden repräsentativen Thesen:
A. Philosophie ist Wissenschaft; B. Philosophie ist „Weltanschauung“.
Zu A. Was ist Wissenschaft?
Der Mensch ist immer erkennend und wissend bezogen auf die Dinge
und also wissend in der Welt. Wissen ist 1) vorwissenschaftlich und 2) wis-
senschaftlich.
Das wissenschaftliche Wissen ist im Ausgang vom vor-wissenschaftli-
chen eine Steigerung nach Weite, Dignität, Systematik. Aus der Doxa des
vorwissenschaftlichen wird die Episteme, die methodisch begründete Wis-
senschaft.
Wissenschaftsidee ist bezogen auf die allgemeine Natur des wissen-
schaftlichen Wissens: 1) Wissenschaften unterschieden nach Gebieten. Ein-
teilung der Wissenschaften. Wissenschaften von Dingen, von „Formen“, von
Strukturen. Das dahinterliegende ontologische Problem: Gebiet und Welt-
struktur.
Allgemein ist charakteristisch für eine Wissenschaft: die Vorgegebenheit
der Thematik, des vorwissenschaftlichen Wissens und des Wissensausstands.
Vorgegebenheit der Apriorität des Apriori, des „Sinnesbodens“;
der „Struktur“.
Ferner intersubjektive Bewährung (Verifizierung), „Fortschritt“ (Tradi-
tion), Methode.
Die Philosophie ist keine Wissenschaft.
[(Historische Beziehung) Philosophie und Wissenschaft und Emanzipa-
tion]
Zu B. Philosophie und Weltanschauung. Begriff der Weltanschauung.
Inbegriff von unbegründeten Dogmen. Zunächst Vorwurf gegen die
Philosophie. Heute Umwertung: als Weltanschauung ist die Philosophie
nicht unterlegen, sondern überlegen der Wissenschaft. Philosophieren als
existenziell verbindliches Wissen. Sinnproblematik des Lebens. Philosophie
als Attitude des Menschen: die anthropologische
I/1b | Charakteristik der Philosophie: die topische Reflexion und ihre Entar-
tungsformen: Existenzphilosophie und Soziologie der Philosophie. Topische
Reflexion ist utopisch, wenn die Bestimmung des Menschen vorphiloso-
phisch bleibt. Philosophie ist keine Weltanschauung.
Philosophie keine Wissenschaft, keine Weltanschauung, sondern eine
unbekannte Weise des Seins des Menschen.

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.
Die Philosophie ist nicht vorerhellt durch einen Vorbegriff, vielmehr ist
jeder Vorbegriff, der mehr als das formale Wesen des Fragens meint, falsch
und irreleitend.
II. Philosophie als Problembegriff:
Was die Philosophie ist, kann nicht vor ihr und außerhalb ihrer bestimmt wer-
den. Sie ist keine menschliche Möglichkeit des durchschnittlichen Daseins.
Sie ist ihrem Wesen nach Selbstbestimmung.
Philosophieren als Fragen, Infragestellen. Analyse des Fragens: Basis,
Ausstand = Bahn.
Tendenz der Wissenschaften ist ein über das gewöhnliche Wissen hinaus
Wissenwollen. Entwertung des gewöhnlichen Wissens als eines „unvollkom-
menen“, als eines schlechten Erkenntnismodus.
Aber ungefragt bleibt doch das Selbstverständliche, das Fraglose, das
Elementare. Philosophieren ist Fragen beim Fraglosen. Also keine Bahnen,
sondern Aufbrechen von Fragehorizonten. Die eigentliche Produktivität des
philosophischen Denkens ist die Bildung der Probleme.
Naivität und philosophisches Fragen = Welt des gemeinen Verstandes
und die „verkehrte Welt“. Das Wissen des Nichtwissens, das zuvor ein
Nichtwissen des „Wissens“ ist. Dort zu fragen, wo es nichts zu fragen gibt,
ist philosophieren.
| Philosophieren als Verstehen und Nichtverstehen, als Sein zum Rätsel I/2a
des Seins.
Der Mensch ist das Seiende, das in die Rätselhaftigkeit der Welt zurück-
kehren kann. Wissen und Geheimnis. Das instrumentale Wissen und der
metaphysische Ursprung des Wissens. Alles Wissen ist Sein zum Geheimnis,
ist Raub am Seienden, ist die verwegene Erleuchtung weltalten Dunkels.
Dort wo das Wissen seinem metaphysischen Wesen noch nah ist, wo es noch
die Kraft der Ursprünglichkeit und des Wagnisses des Menschen hat, ist es
entfernt von einer instrumentalen Selbstdeutung.
Die Trennung von Naivität und Philosophieren ist zurückzunehmen im Hin-
blick auf das Grundphänomen des menschlichen Lebens: auf das Verstehen
des Seienden in den beiden fundamentalen Lebensverfassungen
a) der Lässigkeit und b) der Unruhe
Tradition, Mythos, das Experiment, das Wagen des
Sitte, Rezept, Hut, Lebens, Revolution, Ursprünglich-
Passivität des keit, schöpferisches Sein
Vollzugs
Lässigkeit und Unruhe
als die beiden entscheidenden und fundamentalen Vollzugscharaktere des
Lebens, die Grundweisen des F ü r s i c h s e i n s.
(Fürsichsein als Vollstreckung (Ausspielen) und „Dahinleben“).

Z-XXII 405

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.
Der Mensch philosophiert, sofern er ist. Philosophie ist die ständig
mögliche, verborgene Weise, wie der Mensch aufbricht zu sich selbst.
(Inquietum cor nostrum, dum quiescat in te domine.)3 „Inquietas“ als
Weise, wie der Mensch im Rätsel der Welt steht, in der „Katastrophe der
sicheren Existenz“.
I/2b | Das Fürsichsein als Seinsweise des Menschen ist nicht gleichzusetzen
mit „Bewußtsein“.
Mensch und Tier. Tiere verhalten sich zum Seienden, aber nicht zum Sein
oder Nichtsein.
Vermissen, Abhandensein und dergleichen sind Modi des negativen
Verhaltens zu Anwesendsein.
Mensch verhält sich zu Sein, Möglichsein, Nichtsein, Tod, Geschlecht,
„Sinn des Lebens“ usw.
Das Wesen des Bewußtseins muß im Rückgang auf das Fürsichsein
begriffen werden und nicht umgekehrt.
(Schon die Weise, wie das Bewußtsein am Menschen ist, setzt Einblick
in die Seinsweise des Menschen als Fürsichsein voraus. „Bewußtsein“
ist keine Eigenschaft wie Härte an einem Stein.
Der Problembegriff der Philosophie:
1. Philosophie ist allein zuständig für den Begriff der Philosophie. Dieser
nicht am Anfang, sondern am Ende. Vorbegriffe im Philosophieren sind
lediglich Leitbegriffe, die zurückgenommen werden müssen.
2. Philosophie ist Fragen nach dem Fraglosen.
3. Philosophieren als Wesen des Menschen, Lässigkeit und Unruhe.
Also alles offen. Offenhalten, Freihalten von dogmatischen Theorien!!
III. Historische Bezeugung
1. Kann ‹bricht ab›

I/3a | ‹…› ein thematischer Gegenstand, sondern ein Lebensbezug des Verste-
hens. (Äquivokationen entstehen, wenn andere Begriffe von „Sinn“ (von
Sinngegenständen u. dgl.) beigezogen werden, z. B. Sinn eines Zeichens,
einer Gebärde.)
Ausdruck eine Weise des Zuverstehengebens.
Ausdruck und Ausdrucksmittel?
Gebärde, Geste, Verhalten (z. B. Schweigen) drückt aus einen Sinn,
d. i. eine Offenbarkeit über mich. „Physiognomischer Ausdruck“ ist eine
intersubjektive Semiotik. (Unkonventionelle und konventionelle Semiotik.)
Musik drückt aus? Gefühle? Gedanken?

3 Augustinus, Confessiones, I, 1. Vgl. Z-XXIX 20a.

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Nein, eine in der Erregung des Schönen gehörte Verständlichkeit
des Menschseins.
Sprache drückt Sinn aus durch Artikulation des Sinnes in einem Denken.
Sprache = hat die drei Grundbezüge, die alles Zuverstehengeben hat: den
Dingbezug, den Sinnbezug, den Personalbezug.
Sprache = Ausdrücken von Sinn, d. i. von Offenbarkeit des Seienden
durch artikulierende Gedanken.
I. Problem: Problem der Artikulation.
Sprache und Ontologie
(Potenzialität der Sprache).
II. Aktualität des Sprechens: ist Ausdrücken von Gedanken:
Wie ist das möglich? Wie kann ein sinnartikulierender Gedanke objekti-
viert werden?
Der im Bereitstand der Sprache bereitstehende Satz resp. das Wort ist ein
Ausdruckszeichen für einen Gedanken. Sprechend erzeuge ich einen „Aus-
druck“.
„Ausdruck“ (nicht als Ausdrückung, sondern als Resultat) ist ein Zei-
chen.
| Zeichen = Verweisung von etwas auf etwas. I/3b
Zeichen verweisend I. indizierend, II. repräsentierend.
Die Idealität des Zeichens???
Die Angelegtheit auf Wiederholung. Das Zeichen „A“ verweist auf einen
Gedanken in einer festen Zuordnung.
Zeichen = Zeichensein muß begriffen werden aus dem allgemeinen
Wesen der Verweisung. Verweisung schon ein Offenbarsein, d. i. Sinnhaftsein
der Dinge.
(Verweisung und Kausalität und Kausalitätskenntnis.)
*
Aufgabe ist, die Probleme zu stellen, die uns das Wesen der Sprache
vorzeichnet: 1. Sinn und Artikulation

Die Idee der Philosophie als „Credo“:


Philosophieren ist das exemplarische Sein des Menschen. Der Mensch
existiert als Verstehen von Seiendem (in der Spannung gegen das Weltge-
heimnis).
Verstehen schafft Auslegung. Die Aufgabe der Philosophie ist die
Befreiung der Freiheit.
Wesen der Freiheit ist das Spiel.
Spielen ist Selbstverdeckung in „Rollen“.
Philosophieren ist das Gewissen des Lebens: die Heimkehr, die Selbst-
bemächtigung.

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.
I/4a | Zeichen = Verweisung von etwas auf etwas
Anzeige Ausdruck
(indiziert) (repräsentiert)
Wort repräsentiert „Sinn“ (Gedanken).
Seelisches wird kundgegeben
1. im physiognomischen Ausdruck direkt,
2. durch „Ausdrücke“ indirekt
indirekte Kundgabe = Ausdrücke sind Anzeichen für Seelisches
„Verweisung“? = Nicht alle Verweisung ist Zeichen.
(Beispiele: 1) Zeuge, 2) Organismen, 3) Bild)
Ontologisches Problem des Verweisung der Dinge aufeinander: Sinnbezüge
(im archaischen Denken „Totem“).
Zeichen? =
A B Ausdruck ein Zeichen repräsentativer Art: A B = A(B)
Äquivokation der Rede von „Ausgedrücktem“: direkt ausgedrückt und aus-
drückbar ist immer nur ein Gedanke (ein artikuliertes Wissen).
Sprechen = geredetes Denken,
indirekt „ausgedrückt“ ist ein Erlebnis und ein Ding, m. a. W. eine Korrela-
tion, ein Wissensverhältnis, ein „Sinn“, ein Fürunssein.

Reihe II:4
II/3a 1. | Selbstverständnis? Die unmittelbarste und fragwürdigste Art des Wis-
sens.
2. Die öffentliche Selbstauslegung und die öffentliche Ausgelegtheit alles
menschlichen Tuns.
3. Verstehen wir uns selbst in unserem Tun von uns selbst her oder aus der
öffentlichen Auslegung?
4. Liebhaberei? Philosophieren ist keine Liebhaberei, sondern eine „abso-
lute Handlung“ des Menschen. (Unterschied: das Leben ist in der
Liebhaberei nicht gespannt, nicht von Grund auf ergriffen.)
5. Für eine absolute Handlung ist charakteristisch, daß sie nicht umwillen
ist. (Ablehnung des Kulturbegriffs der Philosophie, eine auf das Wohl
des Menschengeschlechts bezogene „Aufgabe“.) Prinzip der absoluten

4 Die zwei maschinengeschriebenen Durchschlagblätter, mit denen diese Reihe beginnt,


wurden gefaltet, um die 7 kleineren anderen Seiten einzuschließen Auf der Rückseite von II/2a
findet sich Finks Aufschrift: „Ott-Stunde“. Der auf II/1–2 maschinengeschriebene Plan wird
in Beilage II zur vorliegenden Mappe wiedergegeben.

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.
Handlung ist der Egoismus: es geht dem Leben um sich selbst (Absprung
von der öffentlichen Setzung eines Sinnes des Lebens).
6. Philosophieren hat kein Umwillen (kein Weswegen): sie ist ein Trieb
des Menschen, der Trieb zum Wissen: ist die Leidenschaft des Geistes.
(Keine Motivation, sondern Telos.)
7. Begriff des Wissens: Die Verschlossenheit des Seienden und der Auf-
stand des Menschen inmitten der Dinge. Die Kategorie des „Geheimnis-
ses“ ist fundamental für den Begriff des „Wissens“.
8. Wissen und Seiendes: Wissen kein Vermögen des Kennens und Gebrau-
chens des Seienden, sondern die Aufschließung des Geheimnisses des
Seienden. Wissen die Grundhandlung des Menschen: er versteht die
Dinge im Wissen.
| Wissen also nicht = theoretische Erkenntnis. Diese Grundhandlung soll zur II/3b
Grundleidenschaft werden.
9. Damit ist formell der leitende Begriff von Philosophieren bestimmt, der
meinem Leben Richtung gibt: Philosophieren ist die in keinem Umwil-
len motivierte Leidenschaft, die ständige Grundhandlung des Mensch-
seins zur ausdrücklich ergriffenen absoluten Handlung zu machen: d. i.
so zu existieren, daß das Dasein in Bewegung kommt: in die Unruhe,
fragend zu sein.
10. Begriff der „Lebensbewegung“. Philosophie ist weder eine „Wissen-
schaft“ noch ein „Haltung“ (Attitude), sondern eine Bewegung des
Lebens auf sich selbst hin. (Philosophieren ist „desiderium“.)
11. Das Sich-auf-sich-selbst-hin-Bewegen des Lebens ist ein Sichzurückho-
len aus Befangenheiten und Entfremdungen.
12. Erkennen befreit: Philosophieren ist Befreiung der Freiheit. Das Wesen
der Freiheit ist das Spiel. Spielen ist Untergehen in Selbstentfremdungen.
13. Der Mensch ist der Spieler des Seinsspiels, in das er ständig sich verliert;
philosophieren ist das Leben auf sich selbst zurückzubringen, die Souve-
ränität des Seins des Menschen wiederherzustellen. Philosophieren heißt
das Schicksal erfahren, die Möglichkeit der Selbstbefreiung des Lebens
exemplarisch zu leben.
*

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.
Zusammenfassung:
II/4a |
I. Analyse des Zeichens:
Zeichen ist Verweisung von etwas auf etwas. „Verweisen“ ist nicht ein
Geschehen an und in den Dingen, nicht ein Nexus, sondern ein „Charakter
der Dinge für uns“. Damit haben wir das prinzipielle Problem: Charaktere
an den Dingen, die ihnen nicht selbst zukommen, sind keine Eigenschaften,
aber trotzdem nicht bloß subjektiv. Wie ist diese Subjektivitätsrelativität
der „humanen Charaktere von Bedeutsamkeit“ zu charakterisieren? Haben
sie nicht selbst auch eine Art von Objektivität als Gültigkeit für ein gruppen-
haftes „Jedermann“? Überhaupt, wie steht es mit der Unterscheidung von
subjektiv-relativen Dingen (resp. Dingcharakteren) und Dingen selbst? Sind
nicht alle Dinge als erkannte auch in einem subjektiven Charakter?
Dinge (φυτά) = selbständig Seiendes, das als Träger subjektiver Charak-
tere fungieren kann??
Zeuge, Zahlen, Symphonie???
II/4b | M. a. W. das Verweisen ist in seiner ontologischen Struktur und seiner
Möglichkeit nach dunkel. Verweisen aber ist das allgemeinere Phänomen, in
dem Zeichensein gründet.
Jedes Zeichen = eine Verweisung; nicht jede Verweisung ein Zeichen.
*
Zeichen verweist: transitiv – indizierend (Anzeige), repräsentierend (Symbol
und Ausdruck).
Ausdruck bezogen auf ein Erscheinen von Seelischem.
„Ausdruck“ ist ein Zeichen, das bezogen ist auf die Differenz von
Seelischem (Innerlichem) und Äußerlichem.
Ist jeder „Ausdruck“ ein Zeichen? Z. B. eine gemeine Handlung ist
Ausdruck einer gemeinen Gesinnung??
Diese Rede von Ausdrucksein ist fernzuhalten, hier ist allgemein eine
Verweisung indikativen Charakters gemeint. (Nicht jede indikative Verwei-
sung ist Anzeige).
Ausdruck im prägnanten Sinne ist transzendente Manifestation
eines Immanenten.
Ausdrückbar ist also prinzipiell nur Immanentes: „Seelisches“!??
II/5a | Das letzte Mal sprachen wir vom Begriff der Philosophie. Von ihrem Nutzen
und ihrem Nachteil für das Leben.
Den Instrumentalismus in seiner gefährlichsten Form hinsichtlich der
Philosophie. Philosophieren nützt dem Leben nichts, wenn schon feststeht,
was Nutzen sein soll. Nutzen im Sinne des gewöhnlichen Lebensverständ-
nisses ist Glückförderlichkeit. Glück ist z. B. Wissen um das rechte Tun.
Vermeidung von Irrtum und Fehlhandlung. Was Instrument des Glücksstre-
bens ist, kann selbst keine absolute Bedeutung haben. Religion, Kunst, Ethos

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(Sitte, und dgl. sind absolute Setzungen des Lebens). Wissenwollen ist eine
absolute Handlung des Menschen, keine mittelbare; ja sie ist vielleicht die
Grundhandlung des Menschen. Der landläufige Unterschied von Theorie
und Praxis übersieht den Tatcharakter des Denkens. Denken als Planen und
Vorüberlegung des Handelns als Werkens ist Leitbild.
Denken ist nicht nur ein Vermögen, das Handlungen plant und steu-
ert, sondern ist in der Form der Leidenschaft absolut. Enthusiastisch
(Begeisterung) ist das Denken das jedem mögliche Schicksal. Πάντες
ἄνθρωποι τοῦ εἰδεναι ὀρεγονται φύσει.5 Leidenschaft und Denken in Gegen-
satz gebracht. Dieser Gegensatz ist so falsch wie der von Theorie und Praxis.
| Denken ist versuchen zu sein, ist die existierende Unruhe des Verstehens II/5b
von Sein.
Philosophie beginnt, wo der Mensch es wagt, ausdrücklich zu fragen.
Der Mensch stellt sich aus der Hut der Dinge, aus dem kosmischen Frieden,
wo jedes Seiende ist, was es ist, und gemäß seiner Natur. Der Mensch ist
das friedlos fragende, im Fragen sein Sein suchende Wesen. Das Wesen des
Menschen ist die Sehnsucht. Die fragmentarische Existenz. Aufgabe und
Schwierigkeit einer philosophischen Anthropologie: was ist der Mensch?
Das Weltwesen.
Der existenzielle Anspruch, der dem Philosophieren aufgegeben ist: die
Weite des radikalen Problems und die Nüchternheit des detaillierten Fragens.
Helligkeit und Spannung des Geistes: „die Fackel in der Weltnacht“.6
| Seele und Körper (Leiblichkeit) ist das elementare Ausdrucksverhältnis, auf II/6a
das alle Reden von Ausdruck irgendwie zurückgehen.
Dieses Phänomen ist ebenfalls dunkel. „Leib“ ist kein Zeichensystem.
Uneigentliche Rede von „Lächeln = ein Zeichen der Heiterkeit“. Vielmehr ist
hier das elementar-ursprüngliche Ausdrucksphänomen, das die Zeichenmit-
telbarkeit ermöglicht. Inwiefern??
So etwas wie ein Zeichen als Ausdruck ist die Vermittlung eines Imma-
nenten: 1) Gebärde, Geste, u. dgl. sind Zeichensysteme, im Medium des
unmittelbaren leiblichen Ausdrucksphänomens.

I. | Zusammenfassung II/7a
Reden ist Objektivation von Gedanken im Ausdrucksmittel der Spra-
che.
Reden ist charakterisiert durch die drei Grundbezüge der Rede:
1. Dingbezug, 2. Sinnbezug, 3. Personalbezug.
II. Ding – („Sachverhalt“) – Sprachstruktur (Kategorie).
III. Das Geredete: der Sinn.

5 Aristoteles, Metaphysica, A, 1, 980a21.


6 Vgl. ‹Bl.› 35 unten.

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IV. Personalbezug: bezogen auf Grundverhältnisse des Miteinanderseins
(Gewalt als menschliche Grundrealität, Mitteilung, Aufforderung,
Bitte, Drohung, Frage, Befehl, Lockung usw.).
V. Reden ist Ausdrücken von Gedanken.
Gedanke = artikuliertes Verständnis.
(Rede (Sprache) hat eine Tradition artikulierten Verstehens des
Seienden schon in sich.)
Das direkte Ausgedrückte ist immer ein Gedanke. Indirekt ausge-
drückt ist ein Ding, Seelisches, Gedanken usw.
II/7b | Ein Gedanke wird ausgedrückt = objektiviert im Medium der Sprache =
Aussprechen von Laut (mit zugeordnetem Sinn).
Laut = Zeichen für eine Bedeutung.
Worte = auf Wiederholung angelegte Zeichen.
Laut als Zeichen für eine Bedeutung = selbst ein Sinngebilde.
Zeichen = I. Indiz, II. Repräsentant, III. Symbol.
Zeichen allgemein ein Spezialfall der Verweisung. Das ontologische Problem
der „Verweisung“: ist sie etwas „Humanes“? Verweisen = ist Verweisen für.
Spur ist Folge (kausalbedingt); als Verweisende aber ist etwas für uns.
„Bekanntheit“ u. dgl. sind keine Momente der Dinge, sondern auf uns
bezügliche Charaktere. Aber deswegen doch nicht „bloß subjektiv“.
II/8a | Reden = über etwas etwas sagen zu jemand.
Verhältnis zu Substrat; zu Sinn und Natur der Sprache als Medium, als
„Bereitstand“; zu Adressat.
Reden über das Seiende.
Aussagen von Sinn (Sinn = ein Verhältnis des Menschen zum Seienden).
Aussagen an = Mitteilung = Teilung des Verhältnisses zum Seienden als
eines meinenden.
II/9a | Reden über (Baum)
Reden etwas (Sosein des Baumes)
Reden an jemand (Mitteilung)
Ding – Sinn – Adresse
über etwas etwas zu jemand sagen = Rede.
II/9 | Idealität: ein ontologische‹r› Verlegenheitstitel.
Reales Sein = Real Seiendes: Mensch – Tier – Pflanze – Sein.
Zeug – Institution
Selbigkeit in Wiederholung: das nicht in der Zeit Sein als Wäh-
ren (Wesen).
II/10a | Die Analyse der Sprache orientiert am Grundphänomen der Objektivierung
von Sinn.
Grundfrage: wie kommt ein Gedanke (d. i. ein Wissen von Seiendem) aus der
einsamen Innerlichkeit des Denkenden in eine objektive Dimension (Satzge-
stalt)?

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Die sprachanalytischen Überlegungen müssen auf einen fundamentalen
Unterschied im Sein der Sprache Rücksicht nehmen: auf den Unterschied der
Sprache als Potentialität möglichen Aussagens und Aktualität des Redens.
Potentiell ist der Wortschatz und die Syntax. [Husserls Bedeutungsanalytik ist
weitgehend an der übersehenen potentiellen Sprache orientiert.]
*
Wort = Laut + Bedeutung? Laut? Schon eine Sinnidentität (keine onti-
sche Selbigkeit).
| Ott-Stunde II/11a
Was ist ein Satz?
Satz eine Wortfolge. Sprechen = Sprechen in Sätzen. Die Rede ein Satz-
gefüge.
Satz nicht Wortfolge schlechthin, sondern sinnvolle Wortfolge. Was ist
Sinn? Das, was dem Satz Einheit gibt. Einheit als ordnendes Prinzip. Sinn =
das was der Satz meint: die „Bedeutung des Satzes“. Was ist „Bedeutung des
Satzes“? Der Sachverhalt?
Der Sinn, der im Satz „ausgedrückt“ wird: das Gemeinte.
Zu unterscheiden: Sinn = der ausgedrückt wird (der auszudrückende Sinn)
und Sinn als Satzsinn (ausgedrückter Sinn).
Das Ausgesagte = Sinn. Also zweideutig:
1. das was vom Ding ausgesagt wird, sein Sosein in seiner Offenbarkeit,
2. die „Aussage“ über das Ding.
| Sachverhalt? Wird ein Sachverhalt ausgedrückt? Ja und nein. Abgekürzte II/11b
Redeweise. Alles Sagen ist Sagen von Gedanken. Nichts anderes kann über-
haupt gesagt werden, d. i. in der Sprache ausgedrückt werden, als Gedanken.
Wenn wir von Ausdruck eines Sachverhaltes reden, so ist ‹das› eine
Abbreviatur. Ausdrücken = ist Gedanken ausdrücken über … Gefühle,
Stimmungen, u. dgl. läßt sich sprachlich überhaupt nicht ausdrücken. Aber
die Sprache hat symbolische Momente: Tonfall, Glanz und Klang, Rhyth-
mus usw.
Sinn = ein Gedanke über. (Andere Begriffe von Sinn: Bedeutsamkeit,
Gestaltetheit, Offenbarkeit.)
Aussagen als Sinnausdrücken ist Ausdrücken von Gedanken über.
Von Etwas etwas denken und das Gedachte objektivieren im Medium
„Sprache“ ist das Grundphänomen der Rede.

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Reihe III:7
III/1a | Thesen in der Ott-Stunde
Traditionale Problematik der Evidenz:
1. Evidenz als apodiktische Erkenntnis;
2. apodiktische Erkenntnis als apriorische Erkenntnis;
3. apriorische Erkenntnis als
a. logische (mathematische) = formal-ontologische,
b. material-ontologische
*
Während die Tradition die Evidenz von ihrer Höchststufe her faßt, dreht
Husserl diese Tendenz um. Sein Problem entfaltet die These von der „Fun-
diertheit“ der apriorischen Erkenntnis. „Fundiertheit“ besagt Gegründetsein
auf tieferliegenden „Voraussetzungen“, und d. h. „Voraussetzungen“, die sich
erst in der Rückgangstendenz der Phänomenologie herausstellen. Der phäno-
menologische Rückgang (Rückführung, Rückleitung) in zwei prinzipiellen
Schritten: I. Rückgang auf die Lebenswelt, II. Rückleitung
III/1b | auf die transzendentale Konstitution des Seienden.
*
Zunächst ist das Problem der Evidenz angesetzt als die phänomenologische
Rückfrage von der formal-apriorischen Erkenntnis aus.
Husserl gibt keine Deskription des Evidenzerlebnisses des formal-aprio-
rischen Denkens, sondern zeigt die Fundiertheit der ganzen Sphäre der
formal-apriorischen Erkenntnis.
Dabei zunächst Bestimmung des Gebiets (der Sphäre) und der Erkennt-
nisweise, dann Entwurf des Problems mit dem Begriff der „Naivität“,
Vorzeichnung der Problematik.

III/2a | Apophantik und Formale Ontologie


I. Grundbegriff: Urteil – Grundbegriff: Gegenstand
II. Formalisierung:
des Urteils durch Formalisierung – des Gegenstandes durch
der Termini Formalisierung
Identifikation der Leerstelle
„Gegenstand“.
III. Äquivalenz:
1. Parallelität der formalen Strukturen, z. B. Plural als Pluralform
der Termini „entspricht“ dem Plural von Gegenständen
2. Einstellung auf Urteile – Einstellung durch Urteile hindurch
(= Urteile über Urteile) auf Gegenstandsformen.

7 Das gefaltete erste Blatt (III/1a–b) hält die 23 übrigen zusammen.

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IV. Die „Erweiterung der Apophantik“ durch den Begriff des „Urteils im
weiteren Sinne“ = „kategoriale Gegenständlichkeit“.
Begriff der „kategorialen Gegenständlichkeit“ = „s y n t a k t i s c h e r
Gegenständlichkeit“, d. h. Gegenstand „höherer Ordnung“, dem ein
von kategorialer Formung betroffener Substratgegenstand zugrunde-
liegt.
V. | Dazu tritt eine weitere Erweiterung des Urteilsbegriffs: Urteil = III/2b
objektiviertes Korrelat einer doxischen Thesis überhaupt („Urteil“
= „Satz“!).
VI. Die Äquivokation des „erweiterten Urteilsbegriffs“ gefährdet die Ein-
deutigkeit des Begriffs „formale Apophantik im erweiterten Sinne“:
1. „Urteil“ = „syntaktisch konstituierter Gegenstand“,
2. „Urteil“ = „Satz“ im Sinne des Korrelats von Thesis überhaupt.
VII. „Apophantik“ als formale Theorie der „Urteile“ (syntaktischen
Gegenstände) ist reine Sinnenlehre. Ist der Begriff der „Sinnen“-Lehre
so weit zu fassen, daß auch die „Sätze“ (als Korrelate der Thesen
überhaupt) in die „Sinnenlehre“, also Apophantik hineingehören?
VIII. Selbst der „Gegenstand“ (als nichtsyntaktisches Ursubstrat) kann als
| „Sinn“ gefaßt werden. [Vgl. die beiden Husserlschen Thesen: 1) der III/3a
schlichte, d. i. nichtsyntaktische Gegenstand ist doch als Identität des Sub-
strats als Satz im Sinne der Syntaxe interpretierbar. 2) der nichtsyntaktische
Gegenstand ist „Satz“, d. i. eine Seinsmeinung, ein Sinn!]
In d i e s e m Falle ist der Unterschied von formaler Apophantik und
formaler Ontologie folgender: formale Apophantik ist die Formalisierung
der als Seinsmeinungen gefaßten „Urteile“, d. h. Formalisierung im Hori-
zont einer Einstellung, die intentional verschieden ist von der Einstellung
auf Seiendes. Die Einstellung auf Seiendes ist Einstellung auf e r f ü l l t e
U r t e i l e. Einstellung der Apophantik ist Einstellung auf Urteilsmeinungen
rein als solche.
IX. Hat dieser Einstellungsunterschied etwas zu tun mit dem Unter-
| schied von „Konsequenzlogik“ und „Wahrheitslogik“? Entspricht die „for- III/3b
male Apophantik im erweiterten Sinne“ der „Konsequenzlogik“ und die
formale Ontologie der „Wahrheitslogik“??
| Husserls Begriff der Konsequenzlogik ist einmal als Sinneslogik eine III/4a
Analytik des Denkbaren und dann eine Analytik des Seienden „in forma“
(formale Ontologie).
| Die Einstellung der Apophantik ist thematisch auf „Urteile” III/5a
„Urteile“ im weiteren Sinne sind kategoriale Gegenständlichkeiten, aber
nicht schlechthin, sondern „als solche“ d. h. als „S i n n e“.
Die Apophantik ist also eingestellt auf „kategoriale Gegenstände a l s
s o l c h e“, d. h. durch ein Urteilen auf Urteile (Urteilsnoemen).

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Die formale Ontologie ist eingestellt auf „Gegenstände“ (durch ein Urtei-
len hindurch).
III/5b | Apophantik ist ein Urteilen über Urteile.
Formale Ontologie ist ein Urteilen über Gegenstände.
Urteil im apophantische Sinne ist
1. das prädikative Urteil (das Geurteilte),
2. die syntaktische Gegenständlichkeit – als solche,
3. die thetische Gegenständlichkeit – als solche.
Gegenstand im formal-ontologischen Sinne ist
1. das Urteilssubstrat (das Beurteilte),
2. Ursubstrat, das der syntaktischen Formung zugrundeliegt,
3. das Seiende.
III/6a | Das philosophische Problem der Unterscheidung von formaler Apophantik
und formaler Ontologie
1. Die philosophische Interpretation des Wesens der Rede;
Husserls Begriff von „Sinn“ = das Gesagte als Gesagtes.
2. Die Formenlehre des identisch Denkbaren (Apophantik) und die For-
menlehre des Seienden (des als verifizierbar Gedachten).
3. Vgl. Kants Unterscheidung von Denkbarkeit und Möglichkeit des Seins
als Denkbarsein, aber unter Bedingungen möglicher Erfahrbarkeit Ste-
hen.
4. Das antike Problem: νοεῖν und εἶναι??
III/6b 5. | Die „höherstufigen“ Formalisierungen, die zur „mathesis universalis“
führen, sind nicht einfach Wiederholungen („reflexive Iterationen“),
sondern „Formalisierungen“ am Leitfaden des prädikativen Begriffs von
„Seiendem“ = Gegenstand qua „prädikabile“.
6. „Subjektsrelative“ Gegenständlichkeit?
Das „Seiende“ als identisch Denkbares.
Der Substratbegriff in der Mannigfaltigkeitslehre: nicht die formalisierte
Substanz, sondern das identisch Denkbare, aber qua Gegenstandsein-
heit!!??
*
III/7a I. | Wesen 1. als „kategorialer“ Gegenstand;
Wesen 2. als Korrelat der „selbstgebenden“ Anschauung der Ideation;
Wesen 3. als „Horizont“ und „Thema“;
Wesen 4. als „lebensweltliches“ und als „exaktes“.
II. Das Problem des Wesens und der Wesenserkenntnis.

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1. Rückleitung des „exakten“ auf das „lebensweltliche“ Wesen (Bei-
spiel: Wesen der Räumlichkeit)
[„Galilei-Kapitel in Krisis …];8
2. Rückleitung des „Wesens“ in die Wesenskonstitution.
III. Wesenslehre des konstituierenden Bewußtseins?? Übertragung der
„eidetischen Methode“? Problem von Tatsache und Wesen: zunächst
begreift die Phänomenologie Husserls die Tatsachen vom Wesen aus,
dann das Wesen von der Tatsache des konstituierenden Ego.
I. | Wesen als kategorialer Gegenstand. III/7b
II. Wesenheiten und die „materialen Ontologien“.
III. Die Ideation:
1. Die Methodik der Epoché (Was-Seinserkenntnis),
2. „Operation mit der Identität“: die Invariante. Das Bewußtsein des
„Beliebig“, das Überhaupt.
IV. Das vor-thematische Wesen: der Seinsstil (korrelativ dem Apperzepti-
onsstil).
Die Vorgegebenheit der Dinge in apriorischen Apperzeptionen.
(Empirische und apriorische Wissensbestände.)
Wesen als Bekanntheitshorizont.
V. Wesen als implikativer Horizont der Erfahrung. Wesens-Evidenz als
fundiert in der Evidenz der Erfahrung.

| III/8a

I. ௔௔1. ௔Spekulativ ontologisches Problem des Wesens.


2. Husserls Verwandlung des “Wesens” in ein intentionales
Problem.
‡ 3. Wesen als “Gegenstand” (Reale und ideale Gegenstände).
4. Wesen als “kategorialer” Gegenstand.
5. Regional-Ontologie (“Ontologie” bei Husserl = Eidetik!!).
6. Wesensgesetze, Wesensallgemeinheit, Wesensnotwendig-
keit u. dgl., “eidetische Singularität” – induktive Allge-
meinheit.
7. Eidetik als rationale Wissenschaft: die eidetischen Wis-
senschaften (vérités de raison). Beispiel von naturwissen-
schaftlicher Empirie und eidetischem Entwurf der Grund-
verfassung eines Gebiets von Dingen.
‡ ‹Am Rand:› Gebiet
II. Die Ideation: die Wesenserfassung ein Modus der gegenständlichen
Selbstgebung. Selbstgebung von kategorialen Gegenständen überhaupt

8 Hua VI, § 9.

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ist Spontaneität. Ideation ist intuitiver Denkakt. Husserls Begriff der
Intuition ist konträr dem der Signition. – Denken als Bedenken, Beurtei-
len von Individuellem und Denken als Erfassen von „Allgemeinem“.
Das Überhaupt. – Wesen und γένος. –
III/8b | Die Methode der Variation. Operation mit der Identität. Das Bewußtsein.

III/9a  I. | Was-Seinserkenntnis als intentionales Problem: Wesen und Wesens-


erkenntnis in strenger Korrelation. Wie weist sich das Wesen aus? Wie
weist sich Seiendes aus?
Analyse der Selbstgebung eines Wesens

III/9b | Parallel wie es zunächst den Anschein hat, daß die logische Evidenz auf
die vor-logische, die apodiktische Erkenntnis auf die assertorische gegründet
werde, so scheint auch die Wesenserkenntnis auf die Tatsachenerkenntnis
zurückgeleitet zu werden.
Das Eigentümliche dieser Rückleitungen ist intentional zu verstehen: Rück-
gang auf die fundierenden intentionalen Sinnesmomente. Rückkehr in die
subjektiven Voraussetzungen, die immer schon intentional durchlebt sind.
Aber sowenig die „Faktizität“ des Ego als assertorisches Gegebensein zu
bezeichnen ist, sondern eine Seinsdignität hat, die vor all den gegenständli-
chen Gegebenheitsweisen eines Seienden in problematischer, assertorischer
und apodiktischer Erkenntnis liegt ‹bricht ab›
III/10a | Begriff der „Evidenz“ ist traditionell an der sog. apodiktischen Erkennt-
nisweise orientiert, 1. an der apodiktischen Erkenntnisweise der formal-logi-
schen Erkenntnis und 2. an derjenigen der material-apriorischen Erkenntnis.
*
Die Evidenz der material-apriorischen Erkenntnis wird bei Husserl selbst
wieder in ein phänomenologisches Problem, d. h. in eine intentionale
Frage verwandelt.
*
Husserls Methode ist aber selbst eine eidetische: Zu unterscheiden:
1. Die Eidetik des Seienden d. i. des w e l t l i c h S e i e n d e n:
a. die Umwandlung der traditionell ontologischen Spekulation über
die Wesen der Dinge in die Frage nach der Gegebenheitsweise der
Wesen als Gegenstände;
b. die regionale Eidetik (Spezies und eidetische Singularität);
III/10b c. | die Ideation: die Selbstgebung des Wesens als eines kategoria-
len Gegenstandes;
d. die „Fundiertheit“ des Wesens: 1) in Exemplaren, 2) positionalem
und neutralem Bewußtsein;
e. die vorgegenständliche Seinsweise des Wesens: Horizont mögli-
cher Erfahrung. Apperzeptionstypik u. dgl. „S t i l“.

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2. Wesen der Lebenswelt und der wissenschaftlichen Welt.
3. Naturales und historisches Wesen.
4. Ontisches und intentionales Wesen.
5. Mundanes und transzendentales Wesen.
| Disposition (Problem der Eidetik) III/11a
I. 1. Der „gegenstandstheoretische“ Ansatz der Phänomenologie: Wesen
als Gegenstand. („Logische Untersuchungen“: Wesen = Gegenstand
höherer Ordnung = kategorialer Gegenstand).
2. Verwandlung des traditionell metaphysischen Problems des Wesens des
Seienden; zum Sein des Seienden gehört das Was-Sein; existentia +
essentia; das traditionelle ontologische Problem ist: wie ist notwendig
ein Seiendes je schon ein Was-Seiendes? Das Was-Sein des Seienden
wird in der metaphysischen Ontologie aus dem Problem des Seins des
Seienden entwickelt. Husserls Begriff der Ontologie = Eidetik. Eidos
= das Was-Sein von Gegenständen, thematisch selbst erfaßt als „katego-
rialer Gegenstand“. – Wendung von der Spekulation zur phänomenolo-
gischen Methodik der Ausweisung am Phänomen. – Dadurch, daß
| Husserl von der Selbstgebung resp. der Selbstgegebenheit des Wesens III/11b
ausgeht, bestimmt sich als Ausgangssituation der Problementwicklung
des „Eidos“ die Gegebenheit des Wesens als Gegenstand.
3. Die regionale Auffassung des Wesens: Region, Kategorie, eidetische
Singularität. (Wesen der Dinge und Wesen der „Seele“!)
Materiale Ontologie = materiale Regionaleidetik.
4. Die Ideation als Selbstgebung des Wesens. (Das phänomenologische
Problem der Evidenz der material-apriorischen Erkenntnis ist nicht nur
eine Aktanalyse der „Wesensschau“, sondern der Aufweis von intentio-
nalen Implikationen, die die eidetische Evidenz als fundiert erweist.)
Die Epoché gegen das seinssetzende (positionale) Bewußtsein, Gleich-
stellung mit dem neutralen (Phantasie-) Bewußtsein, das Festhalten der
materialen Identität, das Umdenken im Modus des
| freien „Beliebig“, Herausschau der Invariante (die positional gesetzt III/12a
wird als Wesen).
5. Induktive Allgemeinheit und ihr Sinneshorizont der „Wirklichkeit“ –
Wesens-Allgemeinheit und ihr Sinneshorizont der „Möglichkeit“!
(Beispiele: Naturgesetze und Wesensgesetze.)
6. Der „Nutzen“ der vorgängigen und eigenständigen wissenschaftlichen
Thematisierung des Was-Seins: der Entwurf der Geometrie als Rationa-
lisierung der induktiven Empirie.
7. Positive Wissenschaft und ihre Grundbegrifflichkeit. (Daran der Unter-
schied des vorthematischen und des thematischen Apriori).
8. Vorthematisches Apriori als Stilstruktur der lebensweltlichen Erfahrung.

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III/12b 9. | Klärung der Ideation als „Vergegenständlichung“ eines ungegenständ-
lichen Seinsstiles. Das Wesen in den Dingen als darin wesendes Wassein,
das vorverstanden sein muß, wenn Erfahrung beginnt.
Das Problem der Vorgegebenheit als Vorgegebenheit des Erfahrungssti-
les.
10. Stil der Erfahrung (Erfahrungswelt) = Stil der Lebenswelt. Lebenswelt-
liches Apriori und „exaktes“ (substruktives Apriori).
11. Exemplarische Analyse am Beispiel der Ontologie der Räumlichkeit
(Vgl. Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften ….)9
12. Das transzendentale Problem der Eidetik: ebenfalls in zwei Schritten
(Rückgang auf Lebenswelt und Rückgang auf transzendentale Konstitu-
tion).
III/13a | Wesenslehre
1. Der Ansatz: Wesen das Was-Sein von Gegenständen, d. h. des für uns
seienden Seienden als Gegenstand.
III/13b | Theorie der Ideation
III/14a | Husserls Wesenslehre ist eine „Gegenstandstheorie“.
1. Wesen als Korrelat der „Wesensschau“ = als Gegenstand.
2. Wesen als „Gegenstand“ im formalen Sinne von „Substrat von Prädi-
kation“.
3. ‹bricht ab›
III/15a 1. | “Gegenstandstheoretischer“ Grundbegriff von Wesen.
2. Die Problematisierung des „seienden“ (gegenstandstheoretisch)
Wesens durch die Lehre von der „Ideation“.
3. Wesen als Struktur im Seienden, d. i. als Stil der konstitutiven Typik.
III/16a I. | Deutlichkeitsevidenz.
II. Reflexion auf die intentionalen Unterscheidungen, die die Strukturana-
lyse der Logik bestimmen.
III. Ansatz des transzendentalen Problems der Logik.
IV. Wesenslehre:
1. Formale Unterscheidungen.
2. Wesen als Gegenstände und vorgegenständliche Gegenstands-
horizonte.
3. Die Ideation: das fundierende Bewußtsein (positionales oder neu-
trales). Die Epoché von der Daseinssetzung.
Das positionale Wesensbewußtsein.
4. Wesen als Apriori von Gegenstandsgebieten. Die grundlegende
Funktion des Wesens für den Ansatz der positiven Wissen-
III/16b | schaften: Vorgabe der Grundbegrifflichkeit.

9 Vermutlich nochmals Hua VI, § 9.

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5. Vorwissenschaftliches („Lebensweltliches“) Apriori und „wissen-
schaftliche“ Interpretation desselben.
6. Naturales und nichtnaturales (historisches) Apriori. – Mundanes
und transzendentales „Eidos“?
| Ideation III/17a
I. Die Voraussetzungen Husserls:
a. Ausschaltung der ontologischen Problematik des Wesens. Ausgang
von der Selbstgebung, vom Wesen-ausweisenden Akt.
b. Subjektiv-relativer Sinn der Begriffe „Zufälligkeit“ und „Notwen-
digkeit“.
c. Wesen als „Gegenstand“ und vorgegenständlicher Bekanntheits-
horizont, aus dem die Dinge erfahren werden.
d. Formaler Begriff von „Seiendem“ (= Substrat von Prädikation).
II. 1. Wesen: Allgemeinheit-Notwendigkeit.
2. Erfahrungsallgemeinheit und Wesensallgemeinheit.
3. Phantasie. Husserls Auffassung der Phantasie als Bewußtsein
im „Als-ob“?
4. Wesen = Apriori. Wesenswissenschaft und vorwissenschaftli-
ches Wesen.
5. Wesen des Raumes und euklidische Geometrie.
6. | Die Variationsmethode: Identität und Umdenken, Herausschau III/17b
des Wesens.
7. Wesensschau = Vergegenständlichung des eidetischen Invarianzsti-
les des Seienden.
8. Die Evidenz der Wesenserkenntnis ist Invarianzerkenntnis auf dem
Boden neutraler Exempel, ist Stilerkenntnis, die vorgängig ist als
Bekanntheitshorizont vor aller faktischen Gegebenheit.
I. | 1. Deutlichkeitsevidenz zunächst als „Sinn“ einer Intention, die sich III/18a
auch erfüllen kann, aufgezeigt. „Sinn“ = das Vermeinte, rein als solches,
d. i. unter Abstraktion von der Wahrheitsfrage.
Die abstraktive Herauslösung des „Sinnes“ aus einer thetisch meinenden
Intention klärt zuerst den Begriff der Deutlichkeitsevidenz. Ist dieser Begriff
dann gewonnen, operiert Husserl mit ihm außerhalb des Abstraktionsgan-
zen, aus dem er herausgelöst wurde. Deutlichkeit wird bestimmt als analyti-
sches Erkennen, Herausholen von solchem, was schon in der Meinung liegt.
Dieser Begriff des „Analytischen“ als erkenntniserläuternd im Gegen-
satz zu erkenntniserweiternd wird von Husserl – vielleicht ähnlich wie
bei Kant – gleichgesetzt mit der „analytischen“ Erkenntnis im Sinne der
formalen Erkenntnis von Logik und Arithmetik
2. | Husserls Begriff der „objektiven Logik“ ist nicht der traditional vor- III/18b
gegebene Begriff, sondern ist bereits schon eine phänomenologische

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.
Interpretation dessen, was „eigentlich“ die traditionelle Logik inten-
dierte. Husserl interpretiert die „Syllogistik“ als „Formale Apophantik“
und die „mathematische Analysis“ (Arithmetik und ihre höherstufigen
Formalisierungen) als „Formale Ontologie“. Diese Interpretation ist
ausgerichtet auf einen intentionalen Strukturbegriff der objektiven
Logik. Vgl. dazu die grundlegende Funktion der intentionalen Unter-
scheidungen von „Einstellung durch ein Urteil hindurch auf Dinge“ und
„Einstellung auf Urteile als Gegenstände Worüber“ u. dgl. –
3. Intentional ist vor allem auch der Begriff der „Naivität“, der der
Grundbegriff ist für die Exposition der objektiven Logik als eines „trans-
zendentalen“ Problems. Wichtig ist zu beachten: daß Naivität nicht eine
solche irgend eines vorbekannten Sinnes ist, die vor der Problemstellung
schon bestünde. Vielmehr entwirft Husserl gerade mit der These der
Naivität (und in ihrer intentionalen Charakteristik) das Problem.
*
III/19a I. | Die Vorbildlichkeit der apodiktischen Evidenz durch die Gleichset-
zung von apodiktisch und Evidenz der „analytischen“ Erkenntnis, d. i.
derjenigen der Logik und Mathematik.
II. Logik und Mathematik traditionell vorgegeben als Syllogistik und
„mathematische Analysis“. Moderne Vereinheitlichung, die dem Par-
allelismus nicht genügt. Husserls Problemansatz ist die Bestimmung
des Gebietssinnes der beiden Momente: parallelistische Einheit von
Syllogistik und Mathematik: formale Apophantik und formale Ontolo-
gie.
III. Die Differenz der Grundbegriffe („Urteil“ und „Gegenstand“) und die
zwiefache Äquivalenz: 1) „Plural“ der Urteilstermini und Plural der
Etwas‹s›e ‹?› und 2) doppelte Einstellung: Urteil als Thema und Urteil
als Durchgang.
IV. Die Entwicklung der „Differenz“ von formaler Apophantik und forma-
ler Ontologie.
V. Die Charakteristik der Erkenntnisart: ‹bricht ab›
III/20a 1. | Die Seinsweise der idealen Gegenstände?
*
2. „Die Anfangsfrage der Philosophie“.
3. Die religiöse Erfahrung des Übermächtigen!

III/21a | Ist die Verdeutlichung denkendes Ausarbeiten und Gründelegen ‹?› einer
meinenden Intention, so ist zunächst an einer Erfahrungsintention der Unter-
schied von bloßer Meinung als solcher und Wahrheit als Bewährung ver-
ständlich.

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.
Der Kontrast der Evidenz der Deutlichkeit gegenüber der Evidenz der
Klarheit ist zunächst innerhalb von solchen Intentionen, die sich erfüllen kön-
nen.
Ist das Denken, das analytische Erkennen, nicht ein Erkennen, also
eine Klarheitsevidenz?
Vielleicht zu unterscheiden das tautologische Erkennen und das erst die
Sphäre tautologischer Verhältnisse schaffende Erkennen??
*
1. | Die Problemstellung der analytischen Erkenntnis gipfelt in der These III/22a
von der „fundierten“ Evidenz der analytischen Erkenntnis. „Fundiert-
heit“ ist hier ein formal-anzeigender Begriff und bedeutet nicht allein die
leicht verständliche Fundiertheit der komplexen „kategorialen Formen“
in der passiven vorgebenden Erfahrung als Vorfinden von kategorial
explikablen Ursubstraten, sondern „Fundiertheit“ bezeichnet auch das
Verhältnis von Prädikation und vorprädikativer Sphäre, ferner auch
die Undurchsichtigkeit der Sinnbildung (Verhältnis von „niederen“
und „höheren“ Gegenständen). Lebenswelt „fundiert“ – aber nicht im
Sinne einer offenen, thematischen Fundierung, sondern als vergessene
überdeckte Situation der Sinn-Bildung der Idealisierungen.
*
2. Begriff der „Urteilstheorie“?
*
3. Disposition:
a. Die Problementwicklung der Evidenz der analytischen Erkennt-
nis führt bis zur Skizzierung eines Rückgangs auf die Theorie
der Erfahrung
b. Die Ideation
| Ideation III/23a
Husserls Lehre von den Invarianten, die Gegenstand der …
Positionales und neutrales Bewußtsein als Unterlage für die Ideation.
1. Husserls Ansatz ist bestimmt durch die Selbstgebung des Apriori,
d. h. durch die g e g e n s t ä n d l i c h e Erscheinungsweise des Wesens.
Ideation ist Vergegenständlichung: Operation der Variationsidentität.
2. Wesenswissen als apodiktisches Bewußtsein.
Die Verweisung auf die phänomenologischen Fundamente der Ideation.
*

1. | Husserls. Begriff der Logik resp. der „Analytik“? Evidenz der analyti- III/24a
schen Erkenntnis ist Evidenz der Deutlichkeit.
Die Stellung des Problems ist durch die subjektiv-intentionalen Frage-

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.
stellungen, die die parallelistische Struktur der Logik aufweisen, vorge-
zeichnet.
Begriff der „Naivität“?
2. Die intentionale Charakteristik der Einstellungen auf „Urteile“.
3. „Urteilstheorie“? Entfaltung der Sinngenesis der Prädikation überhaupt.
4. „Ideen“: die Ideation = Methode der Vergegenständlichung einer
Wesensstruktur im Seienden.

III/24b | 1. Die Überleitung?


Die Darstellung der Klärung des Unterschiedes von formaler Apophantik
und formaler Ontologie.
Die Erkenntnisart der Analytik.
Die phänomenologischen Analysen, die der Husserlschen Klärung zugrun-
deliegen:
1. Der Einstellungswandel, Urteil als Gegenstand ist Urteil über ein Urteil
Urteil und Sinn. – Die subjektiven-intentionalen Unterscheidungen
zeigen doch die Richtung, in der sich der Problementwurf bewegt:
die intentionalen Korrelate
2. ‹bricht ab›

Reihe IV:
IV/1a | Begriff der Wissenschaft bei Hegel (nach der „Vorrede“ zur Phänomenolo-
gie des Geistes)
Drei Thesen?
1. „Die wahre Gestalt, in der die Wahrheit existiert, kann allein das
wissenschaftliche System derselben sein.“
2. „Das Wahre ist ebensosehr wie als Substanz so als Subjekt aufzufassen“.
3. „Das Wahre ist das Ganze“.10
In welchem Verhältnis stehen die 3 Thesen? Sie sind Entwicklungen des
einen Gedankens.
1) = 2) = 3)??
*
Inwiefern ist der Begiff des Absoluten gleich dem des ὄντως ὄν? Begriff der
Metaphysik. Die Frage nach dem Sein als Grundproblem des Deutschen Idea-
lismus.
Die Philosophie des Deutschen Idealismus also nicht eine Spekulation
über ein postuliertes „Absolutes“, sondern Ontologie als Ontogonie.

10 [1) Hegel, PhG, S. 12, 2) PhG, „Vorrede“, S. 19 und 3) PhG, „Vorrede“, S. 21.]

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Wie wird die Frage nach dem „Wahren“, der „substantia vera“, dem
ὄντως ὄν, dem „Ding an sich“ (im Gegensatz zur „Erscheinung“) eine
Philosophie des „Absoluten“? Hegels Grundeinsicht ist Bewegung des
Ansichseins der Dinge, denen das Erkennen „ein äußerliches Tun“ ist, in das
Sein für uns als Wesen = Begriff. Die Problematik der Reflexion eines Seien-
den (Gegenstandes) in sich selbst (die Wandlung von der Erscheinung in das
Wesen) ist das Problem von ens und verum. Am Leitfaden des Problems
| der Intelligibilität des Seienden gelangt Hegel zum Geist, zum Absoluten. IV/1b
Auslegung des 2. Satzes:
a. „nach meiner Einsicht“. Hegel springt voraus mit einer Forderung.
Begriff der Substantialität = „Allgemeine“ (das unmittelbare Wissen)
und auch das gegenständliche (unmittelbare) Sein.
b. Substanz = Sein als Subjekt = Sichselbstsetzen? – nein, Bewegung des
Sichselbstsetzens = Vermittlung des Sichanderswerdens.
c. der Weltsturz ist Leid.
Ansich = Wesen? Für-sich = Form?
Form = Erscheinung des Wesens. Wesentlich dem Wesen eigentümlich.
Auslegung von Satz 3:
‹Das› Wahre ist das Ganze = das Absolute ist als Erscheinung. Es ist
das Gegenteil seiner selbst, das Nichtabsolute, das Endliche, der Prozeß des
Selbstabfalls und Rückkehr in sich.
Resultat = Inbegriff des Prozesses.
Begriff der Vermittlung. Analogie zur prädikativen Explikation A = B
(= Non-A).
Begriff der Versöhnung.
| Die gemeinsame Vorhabe, einen Weg zum Philosophieren zu suchen, IV/2a
bedarf einer besinnlichen Klärung des Vorhabens selbst.
II.
Der Anfang als Aufgabe, die Idee der Philosophie zu klären.
Jede Einleitung in die Philosophie als der Versuch, als Anstrengung, das
Philosophieren in Gang zu setzen, ist zumeist geleitet von einem Vorbegriff
dessen, was unternommen werden soll.
1. Philosophie als Fragen.
2. Vorgegebenheit von vor-philosophischen Wahrheiten über die Philoso-
phie: den Popular-Begriff der Philosophie.
Dieser Popularbegriff als Entstellung der Philosophie.

I. Vorgabe des Themas, der vorwissenschaftlichen Stufe als des Funda-


ments, der Bestimmungsbahn, des Ausstandshorizonts:
bei den Erfahrungswissenschaften:

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.
Struktur = Physik;
bei den Formalwissenschaften:
Vorgegebenheit des Sinnbodens; der Bestimmungsbahn und des Aus-
standhorizontes.
II. a. Intersubjektive Bewährung (Methode).
b. Fortschritt (Stand) (Tradierung).
Hat Philosophie ein Gebiet, eine Struktur, einen Sinnesboden vorgegeben?
Ist die Weise ihres Fragens und Bestimmens bahnhaft vorgegeben? Ist
die Ausständigkeit
IV/2b | der Philosophie vorgegeben?
Das Thema, das Wie, die Richtung des philosophischen Fragens unbe-
kannt.
Intersubjektivität fragwürdig, Methode und Fortschritt fragwürdig.
(Zunächst aus historisch-faktischen Gründen. Unwissenschaftlich als
Modus deficiens?)
Wenn Philosophie Fragen ist, und aus Fragen Antworten möglich sind,
Anworten aber Wissen ist, ist es dann nicht offen, ob am Ende Philosophie
eine eigene Weise der Wissenschaftlichkeit habe?
In welchem Sinne Philosophie Wissenschaft ist, wissen wir nicht. Wenn
sie aber Wissenschaft ist, kann sie es nur nach ihrem eigenen Wesen sein.
Philosophie ist keine Wissenschaft, wenn zuvor ausgemacht ist, was
Wissenschaft, ist d. h. Philosophie darf nicht unkritisch unter die Idee der
Wissenschaftlichkeit gestellt werden, die einer Formalisierung der positiven
Wissenschaften entspringt.
Ob und wie Philosophie Wissenschaft ist, ist ein Problem.
Die historische Anzeige der Emanzipation der Wissenschaft. – Verwand-
lung ihres philosophischen Sinnes in einen instrumentalen.
IV/3a | Philosophie und Weltanschauung.
Die Philosophie ist nicht Wissenschaft, ist die These der Schwarmgeisterei.
Philosophie vom Menschen aus verstanden.
Philosophie ist die unbekannte Weise fragend zu sein.
Fragen nach dem fraglosen „Selbstverständlichen“. Die Welt der gemei-
nen Weltansicht. Kontrast von vorwissenschaftlicher und wissenschaftlicher
Welt ist harmlos gegen den Kontrast von vorphilosophischer Welt und
philosophischer Welt der Infragestellung des Seins.
Fragen nach dem Selbstverständlichen = Wissen, daß man nicht weiß.
Die Geburt der Philosophie ist die Frage nach dem „Warum des Warum“.
Was ist eigentlich das Selbstverständliche: das Sein, die Dinge, Raum, Zeit,
Leben, Ich, Menschheit, Sitte, Staat.
Das Fragen nach dem Fraglosen ist vor allem Fragen nach sich selbst.
Nicht bloß private Reflexion. Der Mensch ist das Seiende, das der Ort des
Verständnisses von allem anderen Sein ist; er frägt also, wenn er radikal sich

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.
in Frage stellt, nach dem Seienden überhaupt. Γνωσθε σεαυτòν = Erkenne
die Welt.
Das Für-sich-Sein als Wesen des Menschen = Sich zum Sein verhalten.
Die Lässigkeit und die Unruhe als Fundamentalweisen.

Reihe V:
| Wissenschaft V/1a
Wesen der Wissenschaft: 1. Feld, Ausgang, Fragebahn,
2. intersubjektive Kontrolle der
Wahrheitsgewinnung,
3. Fortschritt (Stand).

I. Hat Philosophie ein thematisches Feld?


oder eine Weltstruktur?
oder eine Struktur-(leer)?
oder??
Die Welt? Das Sein?
II. | Frage: Welches ist die Vorstufe (Ausgang)? V/1b
III. Frage: Welches die Richtung des Ausstandes?
Philosophie ist nicht eine Wissenschaft neben den anderen, weil sie die
Strukturen der Wissenschaft hinsichtlich des Themas ‹bricht ab›
I. | Thema (Gebiet, Struktur, Form) V/2a
II. Vollzugsart: intersubjektive Verifizierung (Kontrolle)
III. Richtung: Fortschritt (Vervollkommnung eines bestehenden Wissens)

Philosophie ist keine Wissenschaft. Die Idee der Wissenschaft: die im Aus-
gang von einer vorgegebenen Weise des Wissens fortschreitende Verwahrung
in theoretischen Sätzen.
| Der polemische Begriff der Unwissenschaftlichkeit der Philosophie: eines V/2b
Tages soll sie eine Wissenschaft werden wie die Physik; eine Wissenschaft,
die man lernen kann (Husserl). –
*
Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie ein Problem. Die Unterstellung
unter die an den positiven Wissenschaften abgelesenen Formalbegriffe von
Wissenschaft ist unzulässig, weil damit über die Philosophie im voraus
geurteilt wird: ein Vorurteil. Ferner, weil der Wissenschaftsbegriff der
positiven Wissen-

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.
V/3a | schaften selbst undurchsichtig ist (ein Problem ist).
1. Anzeige dafür die Grundlagenproblematik.
2. Historische Anzeige: die Genealogie der Wissenschaft aus der Metaphy-
sik und die Emanzipation der Wissenschaften. (Am Ende ein Zeugnis für
den Verfall alles Menschlichen.)
These: Philosophie ist keine Wissenschaft, wenn ungefragt entschieden ist,
was Wissenschaft ist.
V/3b | Philosophie und Weltanschauung:
Die scientistische Interpretation der Philosophie (ihre Gefahr ist die Ver-
kümmerung der Existenzbedeutung der Philosophie). Demgegenüber die
Auslieferung an die Schwarmgeister. (Mystizismus)
Philosophie ein Phänomen des Menschen?:
das geisteswissenschaftliche – soziologische – pathologische – biologische
– biographische „Erklären“ des Systems. Anspruch auf ein hintergründige-
res Verstehen.
Philosophie und Existenzphilosophie (Romantik des Menschen) –
Theologie und Philosophie
V/4a | Philosophie kein Phänomen des Menschen; durch keine topische Reflexion
erreichbar. Alle topische Reflexion ist utopisch. Das Wesen des Menschen
ist Aufgabe der Philosophie. Philosophie ist keine Weltanschauung, wenn
ausgemacht ist, was das Wesen des Menschen sei.
Philosophie ist weder Wissenschaft noch Weltanschauung.
Sie ist eine unbekannte Weise, wie der Mensch existiert.
V/4b | Der Problembegriff der Philosophie = unbekannte Seinsweise des Men-
schen besagt also: vor der Philosophie kann nichts über sie gewußt werden.
Sie bestimmt sich selbst. Sie entzieht sich jeder „Definition“. Also Aufgabe
ist: die Epoché gegenüber allem Vorwissen, Vorurteilen hinsichtlich der
Philosophie. Die Epoché als Methode der Fassung des Problembegriffs
der Philosophie.
2.
Philosophie als unbekannte Weise des Menschen, zu sein, ist doch bekannt
als Fragen.
V/5a | Analyse der Frage: 1. Boden, Basis, Richtung = Bahn. Vorwissenschaftliche
und wissenschaftliche Bahnen. Neue Bahnen.
2. Philosophie ist ein Fragen, das keine vorgegebenen Bahnen hat.
Begriff des Selbstverständlichen, Unfraglichen. Fraglichmachen des
Unfraglichen.
Naive und philosophische Welt.
V/5b | Der Kontrast von Naivität und philosophischem Fragen zurückzunehmen in
die Seinsart des Menschen: das Für-sich-sein.
Jeder Mensch philosophiert. Philosophieren ist Sein als sich zum Sein verhal-
ten.

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.
Der Mensch existiert als Fragender
Die Lässigkeit und die Unruhe.

| Bezeugungen für den Problembegriff der Philosophie resp. für die These: V/6a
Philosophie ist keine Wissenschaft:
Kant (Begriff der Wissenschaft in der Vorrede zu den Prolegomena).
Hegel (Vorrede zur Phänomenologie des Geistes).

Reihe VI:
| (Ott-Stunde am 18.XII.36)11 VI/1a
1. Begriff der Wissenschaft am Verhältnis von Prädikation und vorprädika-
tiver Sphäre.
2. Ist der Begriff des prädikativen Seins, so wie er auf der Substantivierung
(Nominalisierung) beruht, irgendwie mitbestimmend für den Begriff
des Formalen?
3. Antwort:
Prädikatives „Sein“ (: „Ist“ der Kopula) ist logisches Sein. Logisches
Sein ist zweideutig:
a. bloß prädikatives Sein,
b. Sein des „Idealen“ (Formalen).
*
Das Sein des Formalen ist ein „esse in rebus“; ist nicht Existenz von
Idealitäten (Entitäten).
Qua Gegenstand ist das Mathematische z. B., aber nicht als Seiendes.
Doch auch nicht bloß prädikativ, weil es S t r u k t u r i n d e n D i n g e n ist.
| Formalisierung = Ideation. VI/1b

Offene Probleme:
1. Wie ist eine formale Ontologie als „formale Substanztheorie“ (Ding-
lehre) bezogen auf das Problem der Ontologie (Frage nach dem Sein)?
2. Reales Seiendes: Stein, Pflanze, Tier, Mensch, Gott, – Gebilde, Institu-
tionen, wie dieses Seiende in seinem „allgemeinen Wesen“ zu bestim-
men??
3. Wie verhält sich Wesensbestimmung und Bestimmung der Seinsweise??
4. Eine Auseinandersetzung mit Husserls Wesensbegriff ist erst dann mög-
lich, wenn die Natur des Gegenstandseins eines Seienden begriffen ist.

11 Die Notizen für die Stunden vom 12. und 20.XII.36 finden sich entsprechend auf Bl. 45–50

und Bl. 50–51 unten.

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.
VI/2a | Die traditionell prototypische Evidenz ist die Erkenntnis, die mit Notwen-
digkeit erkennt, die Erkenntnis des notwendigen So-Seins von bestimm-
tem Seienden.
„Notwendigkeit“ als Erkenntnisdignität und der ontologische Charakter
des in einer solchen Erkenntnis erkannten Seienden??
Mathematische Erkenntnis? Ist sie So-Seinserkenntnis oder Existenz-
Erkenntnis? Was heißt „mathematische Existenz“??
*
Erkenntnis des notwendigen Seins. Erfahrungserkenntnis ist Erkenntnis, daß
es so und so ist. Erkenntnis der Notwendigkeit ist: daß es so und so sein muß.
„Notwendigkeit“ ist äquivalent mit Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit.
Die Erkenntnis von notwendigen Sachverhalten haben wir in der Mathematik
und Logik, deswegen heißt sie, sofern sie in den Wissenschaften der
VI/2b | „Apodeixis“ auftritt, apodiktische Erkenntnis. Die apodiktische Erkenntnis
ist nicht identisch mit der logisch-mathematischen, aber die logisch-mathe-
matische ist jedenfalls „apodiktisch“. Ob es darüber hinaus noch „apodikti-
sche“ Erkenntnisse gibt, ist ein Problem.
Zu unterscheiden also:
1. die Idee der apodiktischen Erkenntnis
2. und die prototypische Rolle der logisch-mathematischen Erkenntnis
für die apodiktische
und 3. die prototypische Rolle der (prototypisch als logisch-mathema-
tisch interpretierten) apodiktischen Erkenntnis für die Bestimmung
der „Evidenz“.
Die Husserlsche Exposition des Problems der Evidenz ist aus dem Zusam-
menhang der Grundintention der Formalen und transzendentalen Logik zu
verstehen? Welches ist dieser Zusammenhang? Das transzendentale Problem
der Logik! D. h. das transzendentale Problem der prototypischen Erkenntnis,
also die Infragestellung des traditionellen Erkenntnisideals.
VI/3a 1. | Prototypische Evidenz? (Apodiktische Evidenz? Soseinserkenntnis?
Erkenntnisdignitäten und die ontologischen Charakteristika.)
2. Wie wird für Husserl die traditionell apodiktische Evidenz Prob-
lem? Problemexposition.

VI/4a I. | Der Begriff der prototypischen Evidenz?


1. = apodiktische Evidenz
2. = logisch-mathematische Erkenntnis.
Verhältnis von Apodiktizität und Wahrheit?

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.
Gewißheitsgrad einer Erkenntnis?
„Notwendigkeit“ als erkenntnisdignitiver Charakter eines Seienden

| (Vorbereitung für Ott-Stunde 14.XI.36) 1


Wir sind in der Situation des Versuchens, in das Fragen der Philosophie
hineinzukommen. Jeder solche Versuch – wenn er sich auch von der
Verständigkeit des Popularbegriffs freihält und offen sein will für den
Problembegriff der Philosophie – ist in einer zweiseitigen Gefahr: 1) in der
Gefahr, in einem einzelnen Problem zu versacken, 2) in der Gefahr des
Geredes (Geschwätzes).
Die Kategorie des „Ernstes“ und des „Enthusiasmus“ drücken „exis-
tentielle“ Bedingungen für das Philosophieren aus. Sie gehen der dialekti-
schen Spannung von Spekulation und Analytik voran. (Skepsis und Arbeit
des Begriffs.)
Wir stehen in der vorläufigen Analyse der Rede. Dies kein zufällig
aufgegriffenes „Spezialproblem“; denn Reden ist das Medium des Verstehens
überhaupt. Die Frageentfaltung bringt uns in die Nähe der wesentlichen
Fragen der Philosophie.
Wir müssen die Problematik von Seiendem – Wahrheit (vorprädikativer
und prädikativer) – und Mensch (Individuum und Gemeinschaft) unmittelbar
| aus dem Problem der Rede entwickeln. 2
Stand unseres Fragens: zunächst bestimmt durch die Lektüre der Logi-
schen Untersuchungen. Zunächst haben wir eine willkürliche Mannigfalt
von Unterscheidungen aufgegriffen, die wir jetzt auf ihren Problemgehalt
zurückführen müssen.
Äquivokationen: Zeichen und Ausdruck.
Formalbegriffe von Zeichen und Ausdruck: Zeichen = Verweisendes;
Ausdruck = Manifestation.
Beispiele: Zeichen als Symptom, als indizierender Bekanntheitscharak-
ter. Ausdruck. Z. B: wir fassen etwas, was an ihm selbst nichts ausdrückt, als
Ausdruck auf. D. h. 1) das Zeichensein und Ausdrucksein als Seinsbestimmt-
heit von etwas und 2) als Auffassungscharakter von uns aus, also der ihm „an
sich“ nicht zukommt.
Zeichen sind Ausdrucksmittel (für mittelbaren Ausdruck als Hand-
lung des Lebens). Zeichen = Expressionsmittel: Stiftung einer Bewandtnis
(Aktualität des Zeigens und Potentialität des Zeichenseins).
| Andererseits sind „Ausdrücke“ (nicht als Expressionen, sondern als 3
„Objektivationen“) eine Weise des Zeichenseins, d. h. sie repräsentieren.

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.
Schema
Mittelbares Zuverstehengeben Unmittelbares Zuverstehengeben

Ausdruck als Expression 1) Gebärde, 2) Sprache, 3) „Werke“


(Mimik, Tat, Opfer, Verzicht) = Objektivation von Sinn; Objektiva-
Fürsorge u. dgl. tionen sind z. T. Zeichen, z. T. nicht
als Zeichen (Repräsentationen). Eine
Symphonie ist kein „Zeichen“, son-
dern objektivierter Sinn im Medium
der Musik.
Die Quelle der Äquivokationen ist 1. das Übersehen des Unterschiedes
des formellen und fixierten Begriffs von Zeichen und Ausdruck, 2. das
Übersehen des metaphorisch-analogischen Charakters der Rede von „ein
Zeichen bezeichnet“, „ein Ausdruck drückt aus“.
*
Aa | 121. Problem der Wissenschaft.
Wissenschaft und Satzwahrheit. Satz = Ausdruck und Bedeutung. Logi-
sche Unterschungen II.1.
Satzwahrheit und Wahrheit. Vorwissenschaftliche Erkenntnis. Begriff der
Erfahrung. Thematisches Bewußtsein und Horizontbewußtsein. Intentio-
nale Strukturen der Erfahrung. Die „perceptio“. Die Analytik der „Sinne“
(αἴσθησις). Innen- und Außenhorizonte. Orientierung. Leibanalyse. – The-
matisches Bewußtsein und Selbstbewußtsein. (Ichanalytik.) Die Regionen
der Gegenstände. Ideation. „Ideen“: Tatsache und Wesen. Morphologisches
und exaktes Wesen. Sinnesgenealogie der Wissenschaften: die induktiven
Ab | Erfahrungswissenschaften. Induktion der vorwissenschaftlichen Erkennt-
nis. Die prinzipiell offene Begriffsbildung der Erfahrungswissenschaften.
Die „idealen“ exakten Wissenschaften als Methoden der Erfahrungswissen-
schaften.

4 | Auffassung der Sprache, soweit sie in der Voranalyse sichtlich ist. Reden
ist das denkende Gliedern von Sinn als das bedeutungsmäßige Artikulieren
einer Verstandenheit von Seiendem und zugleich die Objektivation des
gegliederten Sinnes (das Heraussagen).
Aktuelles Reden und Bereitstand der Sprache. Husserls Analyse der
Bedeutung weitgehend orientiert auf die bereitstehende Sprache. (Z. B. die
Lehre von der „Idealität der Bedeutung“). (Ferner der Unterschied von
„sinngebenden und sinnerfüllenden Sprechakten“?)

12 Dieses Blatt wurde zwischen S. 3 und 4 eingelegt.

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.
Analyse des „Wortes“: Laut + Bedeutung? „Laut“ (als physisch reales
akustisches Phänomen) ist kein Zeichen für das Wort. Denn Wort ist die in
allen Wiederholungen angelegte Zuordnung einer Bedeutung auf den Laut.
Schriftzeichen und Laut (Repräsentationszeichen). (Zeicheniteration.)
*
Übergang zur Problematik: 1. Die Sprache (Logik)
| und die Strukturen des Seienden: Problem der ursprünglichen Wahrheit 5
des Verstehens und Satzwahrheit. Seiendes und Wahrheit. Ist die formelle
Struktur von Subjekt und Prädikat Widerschein der ontologischen Struktur
von Substanz und Akzidenz?

Reihe B:13
| Der Problembegriff der Philosophie: Philosophie ist keine Wissenschaft, B/1a
führte uns zur peripheren Frage nach dem Bezirk, in dem „Wissenschaft“ da
ist: in Büchern, in Theorien, in Sätzen.
Satz? – Verstehen und Verstehenlassen – Zeichenanalyse – Ausdruck als
unmittelbarer und mittelbarer.
Sprechen = Sinnartikulation und Objektivation im intersubjektiv-öffent-
lichen „Medium“ Sprache. – Medium? = Bereitstand = Wortschatz + Syntax.
– Objektives Zeichensystem (Zuordnungssystem)? – Bereitstand = onto-
logischer Vorgriff. – Problem: Seiendes und „Logos“?? Prädikative und
vorprädikative Sphäre? – Problem der Wahrheit? – Satzwahrheit? Erkennt-
niswahrheit – Enthülltheit des Seienden? – Gegen „erkenntnistheoretische“
Behandlung: Bewahrheitung und Gültigkeitsproblematik sekundär? – Die
Problematik der „Adäquation“?? Das „Stimmen“ setzt schon das Verständnis
der Wahrheitsbezüge voraus. – „Wahrheit“ in ihrem „Ort“ charakterisiert: sie
geschieht im Bezug des Menschen zum Seienden.
Die Bestimmung des Wesens der Wahrheit so schwer, daß wir nicht ein-
mal gleich die Größe der Aufgabe ahnen. Was Wahrheit ist = ein spekulatives
Problem. Etwa wie das Problem, was Sein ist.
| Aber ist es eine erkenntnistheoretische Problematik? Nein, ein Problem B/1b
der M e t a p h y s i k. ens – verum
*
Mein Begriff der Metaphysik = Transzendentalphilosophie: Einheit der aus-
einandergefallenen Fragerichtungen: erkenntnistheoretische – ontologische.
*

13 Reihe B wurde zwischen S. 4 und 5 eingelegt. Blatt B/1 ist gefaltet und hält die sieben

übrigen Blätter zusammen. Der Text auf S. 5, der den nächsten Teil des Unterrichts dieser
Stunde, die „Ausführungen“, weiterführt, wird nach Reihe B wieder aufgenommen.

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.
Eingangsproblematik zur Phänomenologie:
I. Die formale Wahrheit der „Logik“?? Forderung des Rückgangs auf
vor-logische Wahrheit.
II. Mathematik und Rückgang auf vor-mathematische Dinge.
III. Die unmittelbare Situation: erfahrend-wachend in die Welt hineinle-
bend:
A. Intentionale Analyse der Erfahrung:
a. Analyse der Aisthesis,
b. Apperzeption und Perspektivierung,
c. kinästhetische Phänomene,
d. „Feld“-phänomene und Homogenisierungen,
e. Raumzonen,
f. Aktintentionalität und „Hof“.

B/2a 1. | 14Wissenschaft ist da als Satzeinheit. Logik und Satzlogik. Prädikative


Sphäre und vorprädikative. Aufgabe: in der vorläufigen Auslegung des
Satzes intentionale Analytik zu lernen.
2. Satz = sprachliche Grundeinheit. Wort – Verbum.
Subjekt. Nennen und Grammatik.
Sprache – Sprechen – Satz.
Satz = das Gesagte
a) des aktuellen Redens, b) „Der Satz“; c) der Sachverhalt, d) das
angesprochene Seiende.

B/2b | Reden: Mitteilung – Adresse an – Andere.


Reden über – Dinge
Reden über
Denken – Gedanke
Reden an
„Haus ist groß“.
Das Beredete = Haus.
Das Geredete = Großsein des Hauses.
Denken – Gedanke – Bedeutung – Sachverhalt – Ding.

B/3a | Was ist ein Satz?


Situation unseres Suchens nach einem Anfang der Philosophie ist
folgende: die Erschütterung des Popularbegriffs von Philosophie ist zunächst
nur bis zur vorbeugenden These gediehen: Philosophie ist keine Wissen-
schaft, denn unkritisch voraus gilt der an den positiven Wissenschaften

14Die Stelle der Blätter B/2 und /3 ist unsicher. Blätter B/4 bis /8 sind von Fink von 2 bis 6
nummeriert, jedoch wurden B/2 und /3 zwischen die Blätter B/4 und /5 geschoben. Kein Blatt
wurde mit 1 paginiert. Möglicherweise ist dieses das hier nummerierte Blatt B/3.

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.
abgelesene Wissenschaftsbegriff. Wir müssen aber in eine Auseinander-
setzung eintreten. Die Wissenschaft zum Problem machen. Eine Reihe von
Besinnungen durchführen, die Wissenschaft als Problem erfahren läßt. Was
ist Wissenschaft? Wir werden aus den zentralen Problemen der Wissenschaft,
den Fragen, was der Lebenssinn
| der Wissenschaft sei, ‹…›. Polemik gegen die flache instrumentalistische B/3b
Auffassung von Wissenschaft. Wissenschaft und der Enthusiasmus. Der
Mensch als Selbst.
Wir fangen an mit einer Außenposition der Wissenschaft. Wissenschaft
= Inbegriff von Sätzen. Was ist ein Satz?
Prädikative Sphäre und vorprädikative. Analyse als intentionale. Ein-
sicht: daß Verständnis im Rückgang auf die vor-prädikative Sphäre allein zu
gewinnen ist.

| Wesentlich sind nicht die Namen, sondern ‹ist› die Syntax als die ontologi- B/4a
schen Interpretationen, die vorweggehen jedem aktuellen Reden.
Stummsein (Schweigen) ist nicht, einer sprachfreien Welt der Dinge
gegenüberstehen, sondern ist ein Gegenüberstehen, für das Dinge nennbar
und aussagbar sind gemäß dem sprachlich vorverstandenen Wesen.
Die Sprache steht bereit als ontologischer Vorgriff, als eine vorgängige
Vorauslegung des Seienden, als „logische“ Interpretation der Dinge. –

| Wenn Seiendes immer schon „logisch“ interpretiert ist, so ergibt sich B/4b
das Problem: ist der Vorgriff eine definitive Interpretation oder eine, die
aufgehoben oder modifikabel ist? M. a. W. ist das Verstehen des Seins,
das in der Sprache „lebt“, einer Kritik zuführbar, die auf die vergessene
Ursituation des verstehenden Lebens zurückgeht? Kommen wir zurück in die
Ursituation? Ist das Seiende aus der Sprache verstanden oder die Sprache ein
richtiges Seinsverständnis?
Der Ansatz, der uns zur Problemstellung einer ursprünglichen Frage
nach dem Sein führen soll, ist die Frage
| nach dem Wesen der Wahrheit. B/5a
Wahrheit? 1. Wahr ist eine Rede.
2. Wahr ist eine Erkenntnis, d. i. der Mensch.
3. Wahr ist ein Seiendes.
Ort der Wahrheit
ist die Beziehung des Menschen zum Seienden.
„Wahrheiten an sich“.
„Wahrheit“ ist nicht vorhanden wie Dinge, sondern geschieht.
| Ort der Wahrheit ist die Beziehung des Menschen zum Seienden. B/6a

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Der Mensch verhält sich zum Seienden, indem er ständig und unablässig
Seiendes freilegt (enthüllt), mit dem Seienden etwas vollführt und die
Enthüllung als solche verwahrt und mitteilt.
1. Eine Rede ist wahr, wenn sie einen Sinn als Resultat des Enthüllendseins
des Menschen verwahrt und mitteilt, stimmend im „Sinn“.
2. Der Mensch ist in seinem Verhalten zu dem Seienden „wahr“, wenn er
enthüllend ist.

B/6b 1. | Das Zusammenstimmen? (Rede und Erkenntnis – und Erkenntnis


und Ding.)
2. Wahrheit und Abwandlung der Wahrheit – je nach dem Seinsgebiet.
3. ὄν ὡς ἀληθές = das Für-uns-Sein.
4. Formale Wahrheit und „Logik“.
5. Nivellierende Funktion der Prädikation.

B/7a | Ist „Wahrheit“ ein Gegenstand der Erkenntnis?


Erkennen wir Wahrheiten? (Nein: Seiendes!)
Die Verkehrtheit des Ansatzes des Wahrheitsproblems als Verifikationspro-
blem von Sätzen.
Das ist „Bewahrheitung“ (Nachweisung einer Meinung an einem Wis-
sen).
Die Bestimmung des Wesens der Bewahrheitung setzt den Einblick in
das prinzipielle Wesen der Wahrheit voraus.

B/7b | Ein Seiendes ist wahr, wenn es enthüllt ist: das heißt, wenn es für-den-Men-
schen-ist.
*
Wahrheit als beheimatet im Grundbezug des Menschen zu den Dingen und zu
sich selbst.
Wahrheit also kein Verhältnis von Vorstellungen zu einander, oder
von Meinungen zu Dingen u. dgl. „erkenntnistheoretische Konstruktionen“.
„Wahrheit“ = das Wesen des „Wahrseins“.
Oder: eine „Wahrheit“ ist eine Meinung, eine These, ein Satz.

B/8a | Fernere Verkehrtheit ist die Orientierung des Wahrheitsproblems am Prob-


lem der Gültigkeit von „Wahrheiten“.
1. „Ewige Wahrheiten“,
2. historisch wandelbare Gültigkeit von „Wahrheit“.
Verifikation und Gültigkeit sind sekundäre Seiten des Wahrheitsproblems.
Die primäre Gestalt des Problems ist: wie muß der Bezug von Mensch und

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Seiendem begriffen werden, wie muß Wahrheit des Menschen, des Seienden
und der Rede in ihren inneren Bezügen bestimmt werden?

| Das ontologische Wesen der Wahrheit verweist auf das Grundproblem von B/8b
Sein und Vernunft, Sein und Mensch, Sein und Erkenntnis. Erkennen =
ein Seinsverhältnis??
Die Frage, was Wahrheit sei, in der dreifachen Weise ihres Seins als Satz-
wahrheit, als Lebenswahrheit und als Dingwahrheit, wird für uns zum Motiv,
die Wahrheit zu einem durchgängigen Thema zu machen: Intentionalanalyse
als i n t e r n e!!

| (Ausführungen in der Stunde:) 5


Uneigentlicher und eigentlicher Begriff von „Zeichen“ und „Ausdruck“.
Uneigentlich = 1) formell, 2) analogisch. Formell, d. h. Zeichen als Verwei-
sendes von etwas auf etwas ist eine Verweisung für uns und ist ein Charak-
ter der Gegebenheit eines Seienden, der aber nicht dem Seienden selbst
zukommt. Ontologisches Problem ist die Bestimmung eines „Seienden, das
verweist“: wir haben 1) Dinge, die sind, ohne daß ihr Sein auf den Menschen
verweist (τὰ φυτὰ); 2) Dinge, die in ihrem Sein verweisen, z. B. Tasse, Haus,
Feld u. dgl. (τὰ πράγματα); 3) Dinge (seien es φυτὰ oder πράγματα), die uns
bekannt sind oder in bekannten Zusammenhängen stehen: sie verweisen auf
etwas gemäß der Bekanntheit der Zusammenhänge.
| Hinsichtlich dieser reden wir von „Zeichen“ im formellen Sinne. – Zeichen 6
im eigentlichen Sinne aber sind ontische Dinge, „Zeichen“, d. h. Träger und
gestiftete „Bedeutung“ (Beispiel ein „Wegweiser“). Zeichen sind Dinge, die
verweisen (nicht aktuell nur für uns), sondern sind Verweisungspragmata.
– „Ausdruck“ im uneigentlichen (formellen) Sinne ist der formelle Begriff
von Manifestation. Z. B. Reden wie „die Tat drückt einen gemeinen Charak-
ter aus“ oder „die Staatsform ist Ausdruck für ein besonderes Lebensgefühl“.
„Ausdruck“ ist in diesem Sinne nicht verstanden als Sinnmanifestation vom
Manifestierenden her, sondern für uns und von uns aus.
„Ausdruck“ im eigentlichen Sinn ist Manifestation von „Seelischem“
(„Innerlichem“, „Immanentem“) in der Sichtbarkeit des leiblichen Erschei-
nungssystems. Ausdruck als Expression von Sinn (d. i. von „Wahrheit“)
ist ein Urphänomen, das schwer faßlich ist. Der Mensch ist als leiblich
daseiendes Wesen immer in physiognomischem
| Ausdruck. Dieser „Ausdruck“ ist keine Semiotik, kein Zeichensystem, son- 7
dern ist ermöglichende Voraussetzung für die Statuierung eines Zeichensys-
tems. Die elementare Erscheinung (Manifestation) von „Seelischem“ (von
Sinn) ist das u n m i t t e l b a r e Ausdrucksphänomen. Dessen Reichweite
ist schwierig abzugrenzen, weil die unmittelbaren Ausdrucksmöglichkeiten
eine Modifikation erfahren können und so mittelbare Ausdrucksphänomene

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werden (z. B. man bekommt seine Mimik in die Gewalt und handhabt sie
willkürlich, evtl. um zu täuschen; also „Verstellung“, „Maske“ u. dgl.; ferner
Konventionalisierung der Mimik und Gebärden: z. B. eine Verbeugung ist
ein im Medium eines konventionell kanonisierten „Benehmens“ objektivier-
ter Ausdruck).
Mittelbarer Ausdruck ist Objektivation des Sinnes in einem intersub-
jektiv bereitstehenden (also nicht vom Objektivierenden geschaffenen und
erzeugten, sondern ihm vorgegebenen) Medium. Mittelbarer Ausdruck kann
objektiviert sein in einem Medium, das den Sinn einer bloßen Objektivations-
möglichkeit (Hilfe der transzendenten Objektivierung von „Sinn“, wobei das
Medium weitgehend gleichgültig ist) hat, wie z. B. in der Sprache.
8 | Sprechen ist mittelbarer Ausdruck: d. i. hier Objektivation von „Gedan-
ken“ (als den in der Aktivität des sprachlichen Denkens erzeugten Sinnarti-
kulationen) im intersubjektiv bereitstehenden Medium „Sprache“.
– Eine andere Weise der mittelbaren Objektivation von „Sinn“ ist die Bildung
von „Werken“. „Werke“ sind keine bloßen Objektivierungsmöglichkeiten
von Sinn; sondern sie ‹sind› nicht Mittel, sondern Selbstzweck. (Z. B. ein
„Kunstwerk“ ist kein Objektivationsgebilde einer „Innerlichkeit“ resp. ihres
Sinnes, sondern ist bestimmt durch das Wesen von Werk (Kunstwerksein,
darin durch das Wesen von Stoff für das Kunstwerk, evtl. Wesen des
„Marmors“, der „Töne“ usw.) und den im Werk resp. seinem ontologischen
Wesen vorgezeichneten Sinnbezug zur manifestierenden „Innerlichkeit“
(dem „Welterlebnis“, das ins Werk eingeht).)
Ein Mißverständnis wäre es, wollte man das Kunstwerk zu einem
mittelbaren Ausdruck, der einzig in Ausdrucksfunktion (d. i. in Mitteilung als
Zuverstehengeben) steht, machen. –
9 | Analytisch-uneigentlicher Begriff von Zeichen und Ausdruck ist fol-
gender: wir nennen bisweilen einen Namen nennend, ein Zeichen bezeich-
nend, einen „Ausdruck“ ausdrückend. Ein Name nennt nicht, sondern der
nennende Mensch nennt in einem Namen ein Seiendes; ein Zeichen bezeich-
net nicht, sondern als Zeichen ist es objektiv-vorhandenes Zeichending,
mittels dessen der Mensch bezeichnet. Ein „Ausdruck“ (hier nicht als
Expression, sondern als objektivierter Gedanke genommen, d. h. als ein im
Phänomen des „mittelbaren Ausdrucks“ [d. i. der mittelbaren Expression]
beheimatetes Zeichen für einen Gedanken) drückt selbst nicht aus, sondern
mittels seiner drückt der Mensch aus, d. h. er objektiviert Sinn. Diese analo-
gisierenden (metaphorischen) Reden sind eine Quelle von Äquivokationen. –
Die Analyse der „Rede“ – bevor sie zum eigentlich philosophischen Problem
wird in der Zurückstellung in den Zusammenhang von Sein und Logos – ist
schon in der vorläufigen Ausführung ausdrücklich von den Äquivokationen
freizuhalten, die aus der Vermengung von eigentlichem (ontischem) und

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uneigentlichem (formellem und analogischem) Begriff von „Zeichen“ und
„Ausdruck“ herstammen.
*
| (Ott-Stunde am 17.11.36) 10
1. Analogischer Gebrauch des Begriffs von „Zeichen“ und „Ausdruck“.
Husserls Analyse im 1. Kapitel der Untersuchung „Ausdruck und Bedeu-
tung“ setzt ein bei dem analogischen Begriff von „Ausdruck“, ohne ihn
als solchen zu kennzeichnen. Das erschwert das Verständnis der Husserl-
schen Analyse. Zudem schaltet er den „eigentlichen“ (alle analogischen
abgeleiteten Begriffe sinnführenden) Begriff des Ausdrucks aus.
2. Ausdruck als mittelbarer in „Sprache“ als Ausdrucksmittel.
Sprache als mittelbarer Ausdruck ist Mittel.
Mittelbare Ausdrücke (Expressionen) sind nicht immer „Mittel“, z. B.
„Werke“ (Kunstwerke: Sprachwerke (Gedichte und dgl); Kunstwerke
und Bauten u. dgl.).
3. Zwischenpause: Lektüre der Logischen Untersuchungen ist – wie die
Lektüre aller philosophischen Literatur – ein Ringen um den Einsprung
in das Problem. Z. B. Plato oder Aristoteles können nicht „gelesen“
werden, wenn wir uns selbst nicht an-
| strengen (die Arbeit des Begriffs auf uns nehmen). Vgl. die Problem- 11
exposition im Anfang des Dialogs Parmenides. Wahrheit über Philoso-
phie ist nicht am Leitfaden der schlichten Wahrheit über ein unverdeckt
erkanntes vorhandenes Ding zu orientieren. Der gemeine Verstand, der
über die Vielfalt und den Widerspruch der Philosopheme Klage führt,
erwartet doch, daß die Philosophen übereinkommen müßten in einer
endgültigen, allgemein erkannten Wahrheit, die auch für den gemeinen
Verstand als „lernbare“ vorhanden sein müßte. – Diese Idee der vorhan-
denen Wahrheit (die als objektive Lehrmeinung doxographisch
bestimmbar wäre) ist ein Trugbild. Vgl. Aristoteles: die Inkommensura-
bilität der Diagonale durch die Seiten des Quadrats ist für den Laien ein
Anlaß des Staunens. Der Geometriekundige würde staunen, wenn die
Diagonale durch die Quadratseite meßbar wäre. Ebenso ist die Wider-
sprüchlichkeit der Philosophen ein Anlaß der Unzufriedenheit des
gemeinen Verstandes mit der Philosophie. Der durch Anstrengung in die
Philosophie, d. i. das Philosophieren, Eingegangene würde staunen,
wenn eine philosophische Wahrheit vorhanden wäre einmal wie eine
Wahrheit über ein vorhandenes Ding. – Philosophieren ist Seinsver-
ständnis
| in die Seinsfrage verwandeln. Alles Wissen aber in seiner Ursituation 12
bezogen auf die Verhülltheit des Seienden. „Φύσις φίλει κρύπτεσθαι“.
Der Mensch ist das Seiende, das inmitten der schweigenden Weltnacht
das „Licht“ des Erkennens entzündet hat. Licht ist in sich bezogen auf

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das Dunkel, das es lichtet, so die Wahrheit und das Wissen auf das
Geheimnis als die ursprüngliche Verborgenheit des Seienden. („Licht“
eine Metapher für Erkenntnis?? Worin besteht die echte Analogie? Licht
die Weise der „energeia“ des Sehraumes?!?) –
4. 15Aktuelle Rede und „Bereitstand“ der Sprache: Welches ist die Seins-
weise des Bereitstehens? Wie ist überhaupt dieses Phänomen zurei-
chend zu beschreiben? Statisches Sein des Bereitstandes ist offenbar
unmöglich. Eine Sprache „lebt“. Was ist dieses „Leben“ einer Sprache?
Sprache ist ein historisches Phänomen, das in seiner Historizität in die
„prä-historische“ Daseinsstufe des mythischen Daseins zurückleitet. Im
mythischen Dasein ist die Sprache nicht die
13 | “Erfindung“ von Einzelnen, wie die „Fortbildung“ einer Sprache im
wesentlichen die Arbeit der sprachschöpferischen Dichter und Denker
ist. Im mythischen Dasein hat das menschliche Leben in der Ursituation
des Bedrohtseins sich aussprechend die Grundauslegung des Seienden
schon vollzogen. In der stillen Tradition dieser Urauslegung des Seien-
den (d. i. dieser ersten Artikulation des Seinsverständnisses) steht der
Mensch auch dort, wo die Sinnkraft des ersten Sprechens verlorengegan-
gen ist: im Verfall und Verschleiß der Urbedeutungen, im Abgegriffen-
und Abgenütztsein, im durchschnittlichen alltäglichen „genügsamen“
Verstehen des Seienden.
Zu unterscheiden zunächst der Bereitstand als
I. formaler Bereitstand (Wortschatz und Syntax) und
II. Bereitstand a) im Charakter der gemein-öffentlichen Sprache; b) im
Charakter der prägenden Ursprünglichkeit. Diese beiden Modi des
Bereitstandes sind bestimmt durch die Seinsweise (den Vollzugscharak-
ter) des „sprechenden Daseins“: a) die alltägliche Seinsweise (Lässig-
keit), b) die ekstatische Seinsweise (Unruhe des problematischen Seins-
verständnisses).
*

Ca 9. | 16Stunde: Sprachgebilde.
10. Stunde: historisches Gebilde und der Mensch.
11. Stunde: Sinn und Kunstwerk,
Sinn und objektiver Geist.

15 Der gesamte Absatz von hier bis zum Ende der S. 13 wird durch einen vertikalen roten

Strich betont.
16 Blatt C wurde zwischen S. 12 and 13 eingelegt. Ein vorangehendes Blatt fehlt. Auf Cb ist

der Text unter der Linie auf das umgekehrte Blatt geschrieben.

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.
13. Stunde: Subjektivität des Subjekts??
14. Stunde: Sinn des neuzeitlichen Subjektivismus?
Eine geisteswissenschaftliche Grundlegung ohne eine Metaphysik des Geis-
tes ist unmöglich.
Sprachgebilde – Gebilde überhaupt
Subjekt als Täter – und Erleider
Sinn als die Offenheit des Seienden, die Ἀλήθεια.

| objektivierter Geist Cb

Subjektiver objektiver Geist


Subjektivität des Subjekts besteht
nicht im Machen
Seiendes ist nicht Gemachtsein

17

‡ Kategoriale Struktur der menschlichen Umwelt. Diese als eine Welt des
Sinnes. Der Gedanke ist objektiver Gedanke.
‡ ‹Vertikal am Rand neben diesen Sätzen:› Weder Gott noch sonst etwas
kann das Seiende machen.

Machen ist immer ein Eintretenlassen, was seiner Möglichkeit nach schon ist.
ẻν ἐν-έργεια.

| (Ott-Stunde am 20. November 1936) 14


1. Wir fragen nach dem Bereitstand der Sprache, d. i. nach der Seinsweise
der Sprache, in der sie für den aktuell Redenden verfügbar ist, vorgege-
ben ist, „bereit steht“. Vorläufig wurde der Bereitstand gekennzeichnet
als Zur-Verfügung-Stehen eines „Wortschatzes“ (ὄνομα καὶ ῥημα) und
einer „Syntax“. Sprache als intersubjektives (intersubjektiv brauchbares
und zugängliches) Verständigungsmedium ist aber nicht vorhanden als
ein „objektives Zuordnungssystem“ von Namen zu Sachen, sondern
„lebt“, d. h. ist geschichtlich. „Sprache“ ist eine implizite Ontologie, ist
eine Ausgelegtheit des Seienden, ein Angesprochensein des Seienden,
das alles faktisch-aktuelle Sprechen determiniert. Der Bereitstand der
Sprache bedeutet das Phänomen, daß der Mensch schon die Weisen des
faktischen Ansprechens und sprachlichen Auslegens des Seienden im
voraus entschieden hat. Die „Sprache“ als bereitstehende ist der onto-

17 Auf Cb ist der Text unter dieser Linie auf das umgekehrte Blatt geschrieben.

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.
15 | logische Vorgriff, dem gemäß Seiendes für uns je schon vorstruktu-
riert ist.
2. Die Sprache (als implizite Ontologie) steht bereit als ontologischer
Vorgriff des Menschen auf das Wesen des Seienden. „Bereitstand“
ist das Eigentümliche der Sprache, als ontologischer Vorgriff öffent-
lich-gemeinsam zu sein, und von dieser Öffentlichkeit aus die Lebens-
helligkeit des Individuums vorzuprägen. – Damit ist die Seinsart des
Bereitstandes nur noch dunkler geworden; wir verstehen das Sein eines
öffentlichen ontologischen Vorgriffs noch weniger als das „Vorhanden-
sein eines brauchbaren Wortschatzes und einer Syntax“.
Methodologisch ist von größter Wichtigkeit: das „Phänomen“ des Bereit-
standes der Sprache nicht zu exponieren am Zeichenbezug von Sache und
Wort. Das „Wort“ ist ein „Element“ der Rede? Gewiß die kleinste sinnvolle
Einheit; aber das Phänomen des „Sinnes“ ‹ist› nicht in einer „auf
16 | ‚Elemente‘ gehenden Betrachtungsweise“18 ursprünglich faßbar, sondern
nur in einer auf die Ganzheit des Phänomens ‹gehenden› ontologischen
Bestimmung. „Sprache“ ist existent als ontologischer Vorgriff des Menschen
auf das Wesen des Seienden.
*
(24.11. 36) Die „Sprache“ steht bereit als ein ontologischer Vorgriff, d. i. als
eine vorgegebene Auslegung des Seienden, die unser faktisches-aktuelles
Reden als Aussagen einer Offenbarkeit schon determiniert. Der ontologische
Vorgriff als die „Philosophie“ des mythischen Menschen, in dessen Tradition
wir trotz aller Weiterbildung der Sprache stehen, und in der wir auch dann
noch stehen, wenn wir das Verständnis des Seienden zum Problem machen
in der ausdrücklichen Philosophie. Der philosophische Satz bleibt auf den
„natürlichen“ Satz bezogen, ist eine Modifikation desselben. (Vgl. Hegels
These, daß der spekulative Satz die Einheit des identischen Satzes
17 | zerstört, sich aber zu ihm verhält wie Metrum zum Akzent.)19
Wenn Sprache ein latenter ontologischer Vorgriff ist, eine unauffällige
und stille Art, das Seiende je schon interpretiert zu haben, dann können wir
offenbar nicht diese „Auslegung“ los werden, wenn wir nur aufhören zu
reden. M. a. W., nicht durch eine Abstraktion ist die sprachverständnisfreie
Sicht auf das Wesen des Seienden zu gewinnen. Auch im Schweigen ist das
Seiende im ontologischen Charakter der Sprache ständig für uns da.
Wir fragen: ist die Struktur des Seienden entworfen aus dem Wesen der
Sprache (resp. des in der Sprache fixierten Seinsverständnisses), oder ist die
Sprache in ihren Strukturen gebildet nach dem Wesen der Dinge?

18 Vgl. Finks Rekapitulation weiter unten: Z-XXII/ 19–20.


19 PhG, „Vorrede“, S. 51.

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Problem des Ursprungs der Seinsbestimmtheiten, der κατηγορίαι bei
Aristoteles? Inwiefern kann für Kant die „Tafel der Urteile“ Leitfaden für die
„Kategorientafel“ werden???
| Indiziert dieses Problem nicht einen fragwürdigen und dunklen Zusam- 18
menhang von Ontologie und Logos??
Um dieses Problem überhaupt erst einmal als Problem näherzurücken,
fragen wir nach dem Wesen der Wahrheit. Allerdings zunächst ganz einfach
und primitiv.
Wir unterscheiden: 1) Satzwahrheit, 2) Erkenntniswahrheit. Oder prädi-
kative und vorprädikative Wahrheit.
Prädikative Wahrheit ist Verwahrung einer vorprädikativen Wahrheit, ist
wahr, sofern jene wahr ist. Prädikative Wahrheit ist stimmende Verwahrung.
Sie hat als Prädikation die zweideutige Weise des Logos: entbergend und ver-
stellend zu sein. D. h. die zur prädikativen Wahrheit gehörige „Unwahrheit“
ist Falschheit (ψεῦδος).
Die vorprädikative Wahrheit ist stimmend, sofern sie das Seiende in
seinem Ansichsein freilegt: sie ist wesenhaft freilegend. Freilegend trifft
| sie das Seiende, oder aber sie ist „Unwahrheit“ als verfehlender „Irrtum“. 19
Die vorprädikative Wahrheit ist treffende Freilegung des Seienden. Als
solche ist sie aber auf eine „Unwahrheit“ bezogen, die Verhülltheit des
Seienden ist.
Wahrheit wird ausgesagt in dreifacher Weise: 1) von einer Rede (λόγος),
2) von einer „Erkenntnis“ (in weitestem Sinne), 3) vom Seienden.
*
(Ott-Stunde am 27. Nov. 36)
1. „Bereitstand der Sprache“ nochmals Thema einer Erläuterung. Erste
Anzeige des Phänomens war die Unterscheidung von aktualer Rede und
potentieller Verfügbarkeit. Diese potentielle Verfügbarkeit wurde alsdann
charakterisiert als ein intersubjektiv-öffentliches Ausdrucksmittel. Ist dieses
bereitstehende Ausdrucksmittel ein verfügbares Zuordnungssystem von
Zeichen zu Dingen? Dies scheint offenkundig der Fall zu sein, wenn man
das fragliche Phänomen des „Bereitstandes“ der Sprache orientiert an der
Analyse des „sprachlichen Elements“,
| d. i. am Wort. Wort ein Zeichen für ein Ding. Sprache als Wörtermagazin und 20
Syntax. Syntax offenbar ein Inbegriff von Verbindungsregeln von Wörtern.
Wort = ὄνομα καὶ ῥημα. – Ist aber in der Tat „Syntax“ nur ein Inbegriff von
Verbindungsregeln? Eine Auffassung, die die Dinge auf die eine Seite und
die Worte oder Sätze über die Dinge auf die andere Seite stellt, glaubt schon
„sprachlos“ zu sein, wenn wir nicht faktisch reden. Dies aber ist ein Irrtum.
Schweigen ist ein Modus der Rede. Wir stehen nicht unverstellt unmittelbar
den Dingen gegenüber, etwa in einer sprachfreien Erfahrung, sondern die
Dinge haben schon ein Sprachkleid, sind vorverstanden in den möglichen

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Weisen, wie sie ausgesagt werden können. Das Angesprochenwerdenkönnen
(als Subjekt und Prädikat u. dgl.), die Grundformen möglicher Aussagbar-
keit, ist ein implizit-sprachlicher Charakter, in dem die Dinge für uns sind,
was sie sind. M. a. W. der Bereitstand der Sprache ist nicht
21 | primär ein Verfügbarsein eines Wortmagazins samt möglichen Kombinati-
onsformen, sondern ist ein Bereitstand in den Dingen. D. h. nicht, daß die
Dinge an ihnen selbst durch die Sprache bestimmt wären, aber daß die Dinge
in der Weise, wie sie für uns ihr Ansich zeigen und offenbaren, mitbestimmt
sind durch die latenten Sprachcharaktere. Bereitstand der Sprache als Bereit-
stand in den Dingen ist eine latente Weise des Für-uns-Seins des Seienden,
die wir zumeist nicht abheben und als das erkennen können. Die „Sprache“,
in die wir „hineinwachsen“, ist ein ontologischer Vorgriff, sofern das Wesen
des Seienden schon ausgelegt, „interpretiert“ ist. „Sprache als implizite Phi-
losophie“ ist z. B. bezeugt durch das Verfahren des Aristoteles, die möglichen
Weisen des αἴτιον εἶναι aus dem λέγειν hinsichtlich des αἴτιον εἶναι zu ent-
nehmen. Die möglichen Weisen des Ur-Sache-Seins (‹des› Bedingens) sind
in der Sprache schon vorverstanden. –
22 | Die Frage nach dem Phänomen des Bereitstandes der Sprache wurde
zum Motiv für die Aufstellung einer Frage nach dem inneren Zusammenhang
von Wesen des Seienden und Wesen der Sprache. Ist das Wesen des Seienden
verstanden aus einem vorgreifenden Entwurf seines Wesens, wie er in
der Sprache geschieht, oder besser: geschehen ist, oder ist die sprachlich
verstandene „Seinsstruktur“ wirklich die wahre Seinsstruktur selbst? Wie
verhält sich τὸ ὄν und λόγος? Ist ein notwendiger Zusammenhang damit
genannt? Ist dies ein Einleitungsproblem in den Bezirk der Fragen, die
„onto-logische“ heißen???
Das Problem des dunklen Zusammenhangs von ὄν und λόγος ist ein
spekulatives Problem, das unsere folgenden Analysen und Forschungen
ständig überschatten wird.
2. Was heißt ein „spekulatives Problem“??? Spekulative Probleme in der
Philosophie sind solche, die als Leitfragen durch ein ganzes
23 | Philosophieren so hindurchgehen, daß ständig ihre Fraglichkeit wächst. Sie
sind mit Mitteln der analytischen Forschung überhaupt nicht „lösbar“. Sie
geben aber ihrerseits erst allem analytischen Forschen den prinzipiellen Sinn.
Philosophie ist weder analytisch noch spekulativ. Als ausschließliche Ana-
lytik hört sie auf, „Philosophie“ zu sein, als ausschließliche „Spekulation“
hört sie auf, Wissen zu sein. Philosophieren ist jenes Denken, das – in der
Ergriffenheit durch eine Grundfrage und ständiger bedrohter Leitung durch
diese – Wissen analytisch erarbeitet, wodurch die Grundfrage als Frage
selber ausgearbeiteter und dringlicher wird. Spekulation ist die Kraft des
Geistes, ins Ganze zu fragen und es zu überfragen; Spekulation ist „Tiefsinn“.
Analytik ist die Kraft des Geistes, zu unterscheiden; Analytik ist das Prinzip

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der Verständlichkeit. Philosophieren ist aber nicht das synthetische Ganze
des spekulativen und analytischen Denkens, sondern es ist der Widerstreit
und die paradoxe Einheit des von der
| Spekulation geleiteten analytischen Fragens, das auf das spekulative Prob- 24
lem zurückgeht und es wachsen läßt. Spekulative Probleme sind z. B. „τὶ τὸ
ὄν?“; „Was ist Wahrheit?“ und dgl.
Spekulation und Analytik zeigen einen analogen „Streit“ wie die beiden
Momente der Philosophie, die wir den „enthusiastischen Glauben an die
Vernunft“ und die „äußerste Skepsis“ nennen. Nur „Glauben“, der als solcher
offengehalten ist durch Skepsis, ist „philosophisch“. –
Tiefere Charakteristik des Streites von Spekulation und Analytik durch
die Beiziehung meiner Unterscheidung von „interner“ und „externer“ Ana-
lyse resp. Bestimmung. Beispiele für interne Bestimmung: 1. Husserls Ana-
lyse des Bildphänomens: Husserl bestimmt Bildsein im Kontrast gegen
Zeichensein durch die Ähnlichkeitsrelation. Dies ist eine „interne“ Bestim-
mung. Ähnlichkeit ist zunächst eine Relation zwischen wirklichen Dingen
(Originalen). Die Ähnlichkeit zwischen Ding der wirklichen Welt und Ding
| der Bildwelt ist keine solche, die das Bildsein „erklärt“, vielmehr ist 25
Bildsein schon verstanden, wenn von Ähnlichkeit zwischen Original und
Bildweltding die Rede ist. M. a. W., die Ähnlichkeit zwischen Original und
Bildweltding ist eine solche, die in ihrem Sinn wesenhaft bezogen ist auf
den vorverstandenen Unterschied von wirklichem Ding resp. Wirklichkeit
und Bildweltding resp. Bildweltwirklichkeit. Mit dem Sein von Bildern (z. B.
Spiegelungen) ist eine neue Dimension möglicher Ähnlichkeit gebildet, die
den ganzen Sinn von Ähnlichkeit in diesem Falle bestimmt.
Zusammengefaßt: Ähnlichkeitrelation konstituiert nicht die Bildlichkeit
des Bildes, sondern das Bildsein ist die Ermöglichung der hier möglichen
Ähnlichkeit. (Vgl. „Bildähnlichkeit“, als eine auf einen Unterschied von
Wirklichkeit und Bildweltwirklichkeit sinnhaft bezogene, – und „Identität
einer Zahl“ als sinnhaft auf die Abstraktion von Einzeldingen bezogene;
„Identität“ einer Symphonie, als sinnhaft auf Mannigfaltigkeit von Auffüh-
rungen bezogene, u. dgl.)
| Zweites Beispiel für den Unterschied von „interner“ und „externer“ 26
Bestimmung: die Frage, was Erkenntnis sei, wird zumeist beantwortet
durch eine Fülle von differenzierenden Analysen über Vollzugsmodi, Digni-
tätsstufen, Erkenntnisarten, Evidenzformen u. dgl. Alle solchen Analysen
bewegen sich auf dem Boden des voraus und vag verstandenen Phänomens
„Erkenntnis“. Zu einer ontologischen Bestimmung des Seins der Erkenntnis
kommt es nicht. –
Der Unterschied von interner und externer Bestimmung ist nicht iden-
tisch mit dem von „ontischer“ Beschreibung und „ontologischer“ Bestim-
mung (à la Heidegger), sondern mit dem von „analytisch“ und „spekulativ“. –

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__ __ __
3. Die Frage nach dem inneren Zusammenhang von ὄν und λόγος als
„spekulatives Problem“ führt auch uns zunächst, wenn wir eine Expositions-
möglichkeit suchen in der Bestimmung des vulgären Sinnes von „Wahrheit“.
Wahrheit“ wird in dreifacher Hinsicht ausgesagt:
27 | 1) von einer Rede, 2) von einer „Erkenntnis“ (im weitesten Sinne des
Zugangs zum Seienden), 3) vom Seienden selbst.
Wahrheit „ist“ als Geschehen des „Ἀ-ληθεύειν“, als Geschehen des
Enthüllens von Seiendem.
Enthüllend ist der Mensch (und das Tier und evtl. Gott). Wahrheit „ist“
als Enthüllendsein des Menschen. Jeder Umgang mit den Dingen ist als
solcher „enthüllend“, nicht nur der „theoretische“. Sofern der Mensch wach
ist, ist er enthüllend, d. i. verstehend. Enthüllt wird das Seiende. Mit ihm
geschieht etwas. Ist es gegen dieses Geschehen „gleichgültig“? „Φύσις φίλεί
κρύπτεσθαι“, sagt Heraklit. Ist darin eine Urerfahrung ausgesprochen? Am
Anfang des „Wissens“ steht seine Auslegung als „Frevel“. Das „Enthüllen“
ist ein Geschehen mit dem Seienden, das ihm an ihm selbst nicht zukommt
wie eine Veränderung, aber doch zukommt. Es wird ein „Seiendes für
uns“. „Für-uns-Sein“ ein ontologisches Problem. Wahrheit kann nur zum
Problem werden, sofern damit das Seiende in seinem Sein als „Für-uns-sein“
problematisch wird und mit in die Frage eintritt.
*
28 | (Ott-Stunde: 1.XII.36)
1. Thema der Stunde ist wiederholende Erläuterung des Unterschiedes von
„Spekulation“ und „Analytik“. Anlaß wird die Anzeige des Wahrheitspro-
blems als einer „spekulativen Frage“, ferner des Problems: τὶ τὸ ὄν? als
eines spekulativen.
Was ist das Sein? Eine solche Frage ist prinzipiell nicht beantwortbar
durch eine bestimmende Angabe, was das Sein ist. Als was? soll es bestimmt
werden, und woraufhin? Alles Bestimmen ist ein Verstehen einer Sache
im Rückgang auf ihr αἴτιον, ihre Herstellung, ihr „Was-Sein“ u. dgl. Wir
bewegen uns in der Bestimmung der Dinge in Bahnen des Bestimmens
„etwas als etwas“. Kann „Sein“ als etwas bestimmt werden?
Die ursprünglichen Fragen der Menschheit in Form des Mythos und
der Religion sind „kosmogonische“ Fragen: das Seiende im Ganzen überfra-
gend. Aber naiv, sofern nach dem Ganzen des Seienden so gefragt wird, als
ob es bestimmbar
29 | wäre wie ein Ding (oder eine Dingmenge). Vgl. Kants Abwehr der
Anwendung der Kausalität auf die Reihe der Kausalverhältnisse!
Die spekulative Frage, mit welcher der Mensch aufsteht inmitten des
Seienden, ist die Frage, was das Seiende ist. Dieser „Anfang“ ist kein
„primitives Vorstadium“ des wissenschaftlichen Philosophierens, sondern ist

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der Entwurf des spekulativen Grundproblems der Philosophie selbst. Das
Größte des Philosophierens ist der Entwurf des Grundproblems, den „Anfang
machen“. Die spekulative Frage beginnt in einer Höhe und Allgemeinheit,
die nicht überboten worden ist durch die ganze geschichtliche Fortarbeit
der Philosophie. Philosophie frägt ins Ganze des Seienden und fängt mit
dieser Frage an. Philosophie entspringt einem Verhalten des Menschen zum
Ganzen: nämlich zur Welt. Philosophie ist Weltweisheit.
Die spekulative Frage nach dem Sein ist keine „beantwortbare“ Frage,
wenn Beantwortung
| stilmäßig durch die Idee der Bestimmbarkeit innerweltlicher Dinge vorge- 30
zeichnet ist.
Die spekulative Frage kann sich aber entfalten. Diese „Entfaltung“
ist die eigentliche Geschichte der Philosophie. Entfaltung vollzieht sich in
spekulativen Entwürfen von Dimensionen analytischer Forschung.
Nur wenn die Philosophie spekulativ frägt, ist sie Weltweisheit. Speku-
lativ frägt sie aber nur dann wirklich, wenn der spekulative Entwurf sich
entfaltet und analytische Arbeit leitet.
Der Antagonismus von spekulativer Grundfrage – Entfaltung – und
analytischer Bestimmung ist das Leben des Geistes.
Z. B. die spekulative Frage τὶ τὸ ὄν ist zunächst, bei den Vorsokratikern
entfaltet, ein Versuch, Seiendes im Ganzen zu verstehen wie ein Ding. ὕλη
und ὅθεν ἀρχὴ τῆς κινήσεως als Typen des kosmogonischen Fragens der
Φυσιολόγοι. Vgl. Aristoteles „Metaphysik“ Α. Bei Parmenides fällt die
| erste große Entscheidung der Philosophie: das Sein ist eines. ὄν καὶ ἕν. 31
Die antike Philosophie ‹ist› bemüht, den Zusammenhang von ὄν und ἕν
zu bestimmen. Die spekulative Frage entfaltet sich zur Frage nach dem
Zusammenhang von ὄν und ἕν. Diesen spekulativen Ansatz hält Plato (und
Aristoteles) fest. Plato bestimmt das Sein des Seienden als εἶδος. Problem der
κοινωνία τῶν εἰδῶν und die Idee des ἀγαθόν. Das Ἀγαθόν ist die platonische
Interpretationsthese des Seins als ἕν. Aristoteles begreift als Problemtitel die
Einheit des Seins als „analogia entis“. Das Sein entfaltet I) 1) nach οὐσία,
2) κατὰ τής κατηγορίας, 3) δύναμις και ἐνέργεια, 4) ὄν ὡς ἀληθές; II) das Sein
κατὰ τής κατηγορίας in zehnfältiger Weise entfaltet. –
In der Neuzeit das Sein entfaltet als ὄν ὡς ἀληθές (ens-verum-Problema-
tik als Schlüssel für das Verständnis Kants und Hegels).
Die spekulative Grundfrage der Philosophie „historisch“ entfaltet im
Hineinfragen in die inneren Bezüge der „Transzendentalien“: ens-unum-
verum-bonum.
| „Ansich-Sein“ – „Für-uns-Sein“ – „Erscheinung“-Sein – u. dgl. sind 32
Seinscharaktere, die unter Bedingungen der Existenz der Subjektivität

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stehen. (Problem der Intelligibilität des Seins.) Vgl. Hegel: „Das Wahre
ebensosehr wie als Substanz so als Subjekt aufzufassen“.20 –
2. Die Frage „was ist das Sein?“ ist nicht historisch überkommen und als sol-
che motivierend. Vielmehr setzt ‹sie› das Mächtigwerden der Tradition der
Metaphysik voraus: die Ergriffenheit des philosophierenden Menschen vom
Schrecken des ursprünglichen Staunens. „Weltgefühl“ ein schlechtes Wort,
aber meint das Sich-zum-Ganzen-Verhalten: dieses aber ist: Sehnsucht,
Schrecken, Angst, Entsetzen, alles unzulängliche Worte für die Frage: wo bin
ich, wie bin ich hineingeraten in die Welt, wo Land und Meer, Sterne, Wind
und Bläue, Menschen, Kinder, Frauen, Tod und Trauer usw.?
Das Wissen entspringt einer Verwandlung des Geheimnisses.
Im mythisch-geborgenen
33 | Dasein ist das Geheimnis da als das Heilige und Gewaltige, als Tod und
„letzte Dinge“, als ehrfürchtig gescheutes eigentliches Wesen des Lebens:
Gott und Götter. Mit der Auflösung und Zersetzung der religiösen Mitte
des Lebens (in der Säkularisierung des Christentums z. B.) wird das Leben
profan. „Bildung“, d. i. Wissenskultur, die ihrem metaphysischen Ursprung
schon abgestorben ist, als Surrogat für ein Lebenszentrum. Zerfall der
Wissenskultur durch die Popularisierung und Proletarisierung des Wissens.
Abstieg der Eliten. Heraufkunft der Masse: der Sklavenaufstand auf allen
Lebensgebieten. Die europäische Zeitsituation: eine der metaphysischen
Verwurzelung abgestorbene, im instrumentalen Pragmatismus entartete Wis-
senskultur wird durch die Heraufkunft des „Halbgebildeten“ zur Barbarei
des Massenmenschentums. Tendenz zur „Verstaatlichung“ des Lebens, zur
Flucht vor der nihilistischen Öde des Masse-Daseins. Für den Begriff
der Masse ist wesentlich: 1) Rückbildung der Bildung: Halbgebildete, Bil-
dungsfellachen; 2) Öffentlichkeit des gleichzeitigen Lebensvollzugs: Politik,
Zeitung, Radio u. dgl., d. h. ein Leben, das niemandes Leben ist.
34 | Sofern Wissen ursprünglich geschieht, ist es wesenhaft in der Nach-
barschaft des Geheimnisses; steht in der furchtbaren Spannung, ist prome‐
theischer Raub der Flamme. Wie „Licht“ nur ist, sofern es in der Dunkelheit
ist, ist Wissen nur im Geheimnis. Die metaphysische Natur des Wissens: die
wesenhafte Bezogenheit auf das Geheimnis, ist in der pragmatisch-instru-
mentalen Auffassung der modernen Wissenschaften verloren gegangen. Das
Wissen ist „profaniert“. Das meint nicht ein Fehlen romantisch-mystischer
Legenden über das Wesen des Wissens, sondern meint das Faktum des in der
Lebensnotdurft (und – Luxus) zu einem „Instrument“ gewordenen, seines
metaphysischen Ursprungscharakters beraubten profanierten Wissens. –
3. Das Λάθη βιώσας: die drei Stufen: 1) „lebe abseits“ (Zurückholen des
Lebens aus der „Menge“, aus den Lebensrezepten der Tradition, aus dem

20 Hegel, PhG, „Vorrede“, S. 19.

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Scheine gekonnten Lebens; Leben als Problem); 2) „lebe in der Einsamkeit“.
(Einsamkeit nicht Alleinsein, ist unbezüglich zu den Andern, ist nicht
Abseitigkeit des Lebensvollzugs, sondern
| ist „ein-sam“-Sein als ein „Selbst-Sein“ im Ganzen des Seienden; Beispiel: 35
Leben mit den Dingen, mit Wind und Stern und Wald und Wasserfall, mit
Trauer, Sinnenrausch und Melancholie, im freien Gratwind des Hochgebir-
ges.); 3) „lebe im Geheimnis“ („Geheimnis“ ist das Seiende im Ganzen
als Erscheinung Gottes, „existieren in der großen Sehnsucht“, „einsames
loderndes Feuer in der unendlichen Nacht der Welt“.)21
*
(Ott-Stunde am 4.XII.36)
1. Wenn Wahrheit ein spekulatives Problem ist, dann wird es verständlich
sein, daß dieses Problem durch einfache analytische Bestimmungen nicht
„erledigt“ werden kann. Ferner, daß es einer Anstrengung bedarf, um
überhaupt einmal vorläufig das Problem als Problem zu exponieren. Wir
versuchen zunächst nur eine topische Bestimmung dessen, was Wahrheit ist,
d. i. eine Anzeige, in welchen Bezirk von Fragen es dabei hineinzufragen
gilt. Leitfaden ist uns das griechische Urwort „ἀ-ληθεύειν“ = Ent-hüllen.
„Wahrheit“ ist als das Geschehen der Enthüllung des Seienden. Wahr-
| heit ist kein legitimes Thema der „Erkenntnistheorie“ oder einer Erkennt- 36
nispsychologie, sondern Wahrheit ist ein eigentümliches Problem jenes
Wissens, das hineinfrägt nach dem Zusammenhang von Mensch und dem
Seienden überhaupt.
Jede „Erkenntnistheorie“ setzt schon ein Verständnis der Wahrheit vor-
aus.
Erkenntnistheorie als Theorie der subjektiven Bedingungen und des
subjektiven Zustandebringens von „Gegenständen“ – ist als prätendierte
Behandlung des Wahrheitsproblems vielmehr dessen Amputation. M. a. W.,
Wahrheit hat ihren „Ort“ nicht in dem subjektiven Phänomen „Erkenntnis“,
sondern im Wesen der Erkenntnis als Enthüllung des Seienden. Wenn
nach der Wahrheit gefragt wird, wird ebenso wie nach dem Subjekt nach
dem Seienden selbst gefragt. Seiendes ist nicht = „Gegenstand“, sondern
Gegenstand-Sein ist ein Geschehen mit dem Seienden.
Das Wahrheitsproblem ist mit dem Seinsproblem
| so verklammert, daß es gerade eine zentrale Problematik der Seinsfrage 37
selbst ist: das Problem der „Intelligibilität des Seins“: ens-verum, τὸ ὄν
ἀληθές. Sein und Vernunft!
2. Wahrheit ist nie nicht verstanden. Zum Wesen des menschlichen Daseins
gehört Wahrheit. Aber Wahrheit ist auch nie schon begriffen.

21 Vgl. Nietzsche, Zarathustra, II. Teil, „Das Nachtlied“.

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Die „Erkenntnistheorie“ als interne Analytik des Wahrheitsproblems;
nicht als seine spekulative Bestimmung.
Die Adäquationstheorien: 1) Adäquation der Satzwahrheit an die
Erkenntniswahrheit; 2) Adäquation der Erkenntnis an das Seiende als Wesen
der eigentlichen Wahrheit?
Kann ein Satz „übereinstimmen“ mit einer Erkenntnis? Übereinstimmen
kann Gleichartiges: z. B. eine Größe mit einer anderen, eine Farbe mit einer
anderen u. dgl. Aber ein Satz und eine Erkenntnis? Trotzdem verstehen
wir ohne Schwierigkeit die Rede von „Übereinstimmung von Satz und
Erkenntnis“. Erklärt die Rede
38 | von Übereinstimmung das Verhältnis von Satz und Erkenntnis, oder müssen
wir nicht schon zuvor das Verhältnis von Erkenntnis und Satz verstanden
haben, um die Dimension der hier in Rede stehenden „Übereinstimmung“ zu
verstehen? Die Rede von „Übereinstimmung“ ist bezogen auf die Dimension
des zuvorverstandenen Verhältnisses von Erkenntnis und Satz und als unter
der Bedingung dieses Bezugs stehende keine eigentliche, sondern eine
sinnhaft auf diese Bedingung hin relative; sie ist gleichsam metaphorisch.
Die Übereinstimmungstheorie hinsichtlich des Verhältnisses von
Erkenntnis und Satz verdeutlicht im Grunde nur und bietet ein Schema
für analytische Untersuchungen, aber sie bestimmt nicht, was Wahrheit „ist“.
Das Gleiche gilt für die Übereinstimmungstheorie hinsichtlich des
Verhältnisses von Erkenntnis und Seiendem („adaequatio intellectus ad
rem“): Stimmt z. B. ein Sehen und ein Baum über-
39 | ein? Worin? Die Stimmigkeit dieses Übereinstimmens steht unter der
Bedingung des charakteristischen Bezugs von Erkennen und Erkanntem.
M. a. W., die Theorie der „Übereinstimmung“ erklärt nicht die innere Struk-
tur der Erkenntnis resp. der Wahrheit, sondern umgekehrt: diese „Theorie“
wird erst möglich als eine verdeutlichende Metapher auf dem Grunde des
zuvorverstandenen Wesens der Wahrheit.
3. Die spekulative Grundfrage nach dem Wesen der Wahrheit wird zumeist
durch „interne“ Bestimmungen verdeckt: Haupttypen solcher sekundären
Fragen nach der „Wahrheit“: 1) Bewahrheitungsproblematik (Verifikation);
2) Gültigkeitsproblematik („überzeitliche Gültigkeit“, „absolute und relative
Gültigkeit“ usw.)
Dort aber, wo das Fragen nach dem Sein der Wahrheit selbst frägt, ist das
„ἀληθεύειν“ interpretiert als „Handeln“, „Leiden“, „Erzeugen“, als „Lich-
ten“, „Bildertheorie“ u. dgl., mit einem Wort: interpretiert in Seinsweisen und
Verhältnissen des Seienden, die erst durch das Ἀληθεύειν zugänglich werden.
40 | „Erkennen = ein Seinsverhältnis“? Gewiß, aber die Seinsweise dieses
„Geschehens“ darf nicht einfach orientiert werden an den Seinsweisen, die
erst durch das Seinsverhältnis „Erkenntnis“ offenbar werden. M. a. W. ist
die ontologische Natur des Erkennens prinzipiell charakterisierbar durch

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„ontische“ Verhältnisse, wenn das „Seiende“ resp. die Idee des „Seienden“
eingeschränkt bleibt auf Dinge (und gar auf „Gegenstände“)??
*
(Ott-Stunde am 8.XII.36)
1. In der Rekapitulation der Gedanken der letzten Stunde zeigt sich die
Schwierigkeit: ist die Rede von „Enthüllung“ nicht im selben Sinne eine
Metapher wie die Rede von „Adaequatio“??
Zunächst ist darauf zu erwidern: das „Enthüllen“ ist eine Metapher, aber
eine, die ursprünglich auf eine Grunderfahrung des erkennenden Menschen
bezogen ist: Erkennen zeigt in seinem Verlauf die Dinge, wie sie zunächst
nicht erkannt sind; sie dringt ein, zeigt sie besser, bestimmter,
| vollkommener; zeigt die verborgenen „Innenhorizonte“ u. dgl. – „Überein- 41
stimmen“ ist eine Vergleichung, gleichsam ein Standort „draußen“.
Aber nicht die „Ursprünglichkeit“ der Metapher ist das Wesentliche.
Sondern dies: die „Adäquationstheorie“ will „Definition“ der Wahrheit sein,
will bestimmen, was Wahrheit ist; will Erkenntnis auf ein Seinsverhältnis
resp. auf das ontische Verhältnis der Übereinstimmung zurückführen.
Die Bestimmung der Wahrheit als „Enthüllung“ ist nur als topische
gedacht, d. h. als Anzeige eines Problemzusammenhangs: nämlich der Frage
nach der Wahrheit mit der Frage nach dem Seienden überhaupt.
2. – Einwand: ist nicht mit der topischen Anzeige der Wahrheit als Enthüllung
schon die Voraussetzung mitgesetzt, daß „Seiendes“ ist, daß die „Dinge“
sind? Die „Erkenntnistheoretiker“ machen doch weniger Voraussetzungen.
– Dazu ist zu sagen: vorausgesetzt ist die volle Situation, in der wir fragend
sind: Welt-Sein-Seiendes-Dinge. Diese Voraussetzung ist nicht Prämisse in
einer systematischen Deduktion, sondern ist Thema einer Deskription.
| Alle „Voraussetzungen“ (Welt – Seiendes – usw.) sind erst einmal als 42
solche zu fassen, bevor man sich eine „Theorie“ ihrer Erklärung zurechtlegt.
– Die „Voraussetzungen“ sind gerade das, worauf das philosophische Fragen
sich bezieht. Die fundamentalste Voraussetzung: Seiendes ist. Mit unserer
Existenz ist sie da, sie ist auch Voraussetzung für alles „erkenntnistheoreti-
sche Konstruieren“. – Der Begriff des „Seienden“ darf nicht – wie zumeist
die „Erkenntnistheoretiker“ tun – eingeschränkt bleiben oder werden auf das
Reich der „Gegenstände“.
Die Dinge, als Gegenstände unserer Erkenntnis, sind, aber ebenso der
Erkennende (das „Subjekt“) und die Erkennung.
Problem des „Gegenstandseins“. Entweder wird Seiendes und Gegen-
stand identifiziert („naiver Realismus“) oder Gegenstand und Seiendes iden-
tifiziert („subjektivistischer Idealismus“), oder das Seiende als unerkennbar
– jenseits der Gegenständlichkeit – hinausgestellt („Bildertheorie“
| – „Indextheorie“) – („Noumenon im negativen Verstande“?) – („Kritischer 43
Realismus“). –

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.
Das Problem des Gegenstandseins ist das spekulative Problem von ens
und verum. –
3. – Wenn Philosophieren wesenhaft „fragendes Denken“ ist, hat es dann
noch einen Sinn? Wozu? Der vulgäre Gegensatz von Wissen und Fragen.
Fragen ist – vulgär gesprochen – wissen wollen, also noch-nicht-Wissen.
Wissen ist Kenntnis über etwas. Erfragt kann sein das Wissen über etwas. In
Beantwortung der Frage verschwindet sie und macht dem Wissen Platz. Dies
gilt für alles Wissen über etwas: „Kenntnisse“. Eine Frage kann unvollständig
beantwortet sein; jede Antwort macht die Fragwürdigkeit (das Fragliche)
kleiner. –
Darf aber überhaupt die Idee des Wissens und die Idee der Frage am
Leitfaden des gemeinhinnigen „Fragens“ und „Wissens“ orientiert werden
oder bleiben? Wird im Bereich des Gemeinhinnigen überhaupt denkend
gefragt? – Verhängnisvoll ist hier
44 | die Redeweise: „Fragen“ (also Anfragen bei einem Mitmenschen nach dem
Wissen über etwas).
Philosophisches Fragen ist kein Fragen bei einem Andern nach etwas,
sondern ist ein „προ-βάλλειν“, ein Vorwerfen?? Was wird vorgeworfen,
wer wirft vor?? Vorwerfen? Etwas verstehen ist als Erkennen ein Gegen-
überstehen, ein Vorsichhaben. Dieses Vor-sich-haben gehört zur Struktur
der Erkenntnis. Etwas verstehen als Kennen und Erkennen ist ein im-Ver-
ständnis-von-etwas-Stehen. Das προ-βάλλειν ist das Sich-heraushaltende
Vorwerfen eines vorgängigen In-einem-Verständnis-Stehen, ist „Wissen des
Nichtwissens“! Dieses Nichtwissen des Wissens kommt durch „Antworten“,
d. i. wissenschaftliche Bestimmungen nur ins Steigen. Das Wissen der Philo-
sophie ist durch die These von der „ruhelosen Frage“ nicht entwertet, sondern
gerade bestimmt: es ist nicht Wissen über etwas Fehlendes, Ausständiges,
sondern Wissen über Gewußtes, aber so, daß das Wissen des
45 | Gewußten sich forttreibt in tieferes Wissen. –
Das „Wozu“ der Philosophie? Philosophie hat kein Wozu, so wenig wie
das Leben selbst. Sie ist eine Leidenschaft. Skizze der Lebensstrukturen:
a) das Panische (das Trieb- und Bedürfnissystem des Menschen); b) das
„Historische“: die Kultur, die Ideale u. dgl.; c) das „enthusiastische Leben“
1) in Gefolgschaft von Idealen: „Held“, „Heiliger“; 2) dämonischer Lebens-
vollzug: die Vollstreckung: Prophet, Dichter, Künstler, Denker; 3) das sich
wissende Leben: das Philosophieren. Wesen des Enthusiasmus: das Spiel,
das „Dionysische“, „Notwendigkeit der Freiheit“
*
(Ott-Stunde am 12.XII.36)
Die Erörterung des Unterschieds von prädikativer Wahrheit und vor-prädi-
kativer Wahrheit sollte die „spekulative Frage“ nach dem Zusammenhang
von sprachlicher Seinsinterpretation („Bereitstand“ als ontologischer Vor-

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griff) und dem Wesen des Seienden selbst, – zwischen ὄν und λόγος –
vorläufig ein wenig weiter exponieren: wir fragen, ob nicht im eigenen
Wesen des
| ”Prädikativen“ (der Sprache) Quellen für einen Seinsbegriff liegen, der die 46
Seinsproblematik ausdrücklich oder unausdrücklich mitbestimmt. M. a. W.,
ist das „ist“ der Kopula im Satz „S ist P“ irgendwie bestimmend für die
Konzeption des Seinsbegriffes? Wenn Sprache als mittelbarer Ausdruck
einer Offenbarkeit des Seienden „wahr“ spricht in dem Satz: „Dieser Baum
ist groß“, so entsprechen allen Momenten des Satzes Momente im Reiche
des Seienden: „S“ = Substanz; „ist groß“ = wirkliches Großsein. Wie aber in
dem Satz: „7 ist eine Primzahl?“ – oder: „Das Nichts ist das Gegenteil des
Seienden“? Oder „Sokrates ist gestorben“?
Wir haben die geläufige Unterscheidung schnell zur Hand: daß es sich
hier um den Unterschied von realem Sein und logischem Sein handle. Aber
gerade dieser Unterschied ist ein Problem, ja darüber hinaus erhebt sich die
Frage: ist nicht oft und insgeheim das „logische Sein“
| der Leitfaden für den Seinsbegriff von Philosophemen??? 47
Wir bewegen uns mit dem Titel „logisches Sein“ auf dem schwankenden
Boden eines Verlegenheitsbegriffs; er überdeckt: z. B. Sein des Idealen
(der Zahlen, des Mathematischen überhaupt), Sein als bloßes Gedachtsein
(„Zentaur“), „sog. intelligibles Sein z. B. Gottes, Noumenon im negativen
Verstande“, u. dgl. –
Im Wesen der Sprache liegt eine ontologische Nivellierungstendenz: die
natürlich Ausdruck der Lässigkeit des Seinsverständnisses ist, die das ganze
un-philosophische Sein des Menschen charakterisiert.
Nivellierend wirkt die Sprache resp. der in ihr beheimatete Seinsbegriff
(orientiert am „ist“ der Kopula): 1) verdeckend die verschiedenen Weisen
des Wahrseins resp. der Enthülltheit des Seienden, die sich bestimmt aus dem
Seinscharakter des Seinsgebietes. „S. ist P“ scheint die formale Wahrheits-
struktur für jede, auf
| irgendein Seinsgebiet bezogene Wahrheit zu sein: X ist A, A ist a, b, c. Damit 48
ist aus dem Modus der Sprache, den wir die apophantische „Ist“-Struktur
der Kopula nennen können, das Wahrsein des Seienden einförmig sozusagen
von der möglichen Aussprechbarkeit in „ist-”Sätzen nivelliert. Wahrheit über
Natur (Vorhandenes), Wahrheit über das „menschliche Leben“ erscheint so
gleichgestellt. Jedes Seiende ist „Substrat“ möglicher Prädikation derart,
daß die Wahrheit über dieses aussprechbar ist in Sätzen von der Struktur „X
ist A“, „A ist a, b, c“ usw. Das prädikative „Sein“, als die Gleichgestelltheit
des „ausgesprochenen“ Seins, verführt zum Übersehen der heterogenen
Weisen „wahr zu sein“, auch wenn die verschiedenen Wahrheitsweisen
„uniform“ aussprechbar sind.

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Die Sprache resp. das am Leitfaden des prädikativen Seinsbegriffs
orientierte Verstehen des Seienden nivelliert 2), sofern es verdeckt den
Unterschied von „Sein“ (Wirklichkeit) und Nichtsein.
49 | Wirklichkeit, Nichts, Nichtsein, Möglichkeit, ideales Sein, Gedachtheit
(Phantasiert-Sein) u. dgl. „ist“, sofern es Substrat einer möglichen Prädika-
tion werden kann. –
Die Frage ist, ob der prädikative Seinsbegriff („Sein“ im Sinne der
Kopula) nicht eine Rolle spielt in den „formalen“ Wissenschaften, die
irgendwie zusammenhängen mit dem Problembezirk der „Logik“.
Für den Ansatz des damit angezeigten Problems ist geeignet die Erörte-
rung von Husserls Idee einer „Formalen Ontologie“:
Husserls Begriff der „Ontologie“ prinzipiell eingeengt auf Wesens-
lehre (Eidetik).
Formale Ontologie als die Wesenslehre vom Seienden in einem formalen
Sinne. Ist die Formalität, die für Husserls Begriff der „Formalen Ontologie“
wichtig ist, eine solche, die der Betrachtung des Seienden als Seiendes
zukommt? Ist dabei das Sein des Seienden Problem? Nein. Husserl kennt
den Ausdruck „Ontologie“ für die Problematisierung des Seins nicht. „Onto-
logie“ ist ihm Vorstufe zur „Phänomenologie“; dort stellt er auf seine
50 | Weise das „Seinsproblem“: Sein als „Resultat“ transzendentaler Konstitu-
tion!!
Formale Ontologie ist für Husserl formale Erkenntnis des Seienden,
die beruht auf einer formalisierenden Abstraktion. Abstrahiert wird vom
„Inhalt“, es bleibt die Leerstelle. Formalisieren ist Offenlassen. Nach Husserl
ist der Grundbegriff der Formalen Ontologie das „Etwas“. –
Ansatz einer vorläufigen Kritik: Husserls Begriff der „Formalen Onto-
logie“ überdeckt eine dreifaltige Formalisierung:
I. Formale Ontologie (Formale Lehre vom Seienden (Substanz-Theo-
rie))
II. Formale Gegenstandstheorie (Formale Lehre von Erkenntnisgegen-
ständen überhaupt)
III. Formale Substrattheorie (Formale Lehre vom Nennbaren)
*
(Ott-Stunde am 20. Dezember 1936) 22

Der in der „Vergegenständlichung“ wurzelnde formelle


51 | Begriff des „Seienden“ als Grund für die Undurchsichtigkeit der „formalen
Wissenschaften“ (Mathematik – Logik): die „Probleme der möglichen
Anwendbarkeit der Idealitäten“ auf die naturale Realität; der Seinscharakter
der „idealen Gegenstände“ u. dgl.“ als falsch gestellte Probleme. –

22 Die Stunde vom 18.XII.36 findet sich in Reihe VI oben.

454 Z-XXII

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Der formale Begriff des „Seienden“ (= Gegenstand), soweit er in der
prädikativen Möglichkeit des Thematisierens wurzelt, zeigt an einem Falle
den problematischen Zusammenhang von „Seiendem“ (wie wir es verstehen)
und Logos (Rede als Mittel des Verstehens), von ὄν und λόγος. –
– Husserls Lehre vom materialen Apriori: die Ideation als Methode der
phantasiemäßigen Variation und des Heraussehens der invarianten Identität
des „Wesens“. – Ideation als „Wesensvergegenständlichung”
*
(Ott-Stunde am 15. Januar 1937)
Einführende Worte in Husserls neue Schrift:
| Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale 52
Phänomenologie; vor allem Vorbereitung für den „Galilei-Paragraphen“:
Unterschied von Ideation und Idealisierung. Apriori des Raumes ist nicht die
Geometrie schlechthin. Geometrischer Raum ist ein Interpretationsresultat,
das entsteht durch idealisierende Ausdeutung des umweltlichen Raumes.
Die moderne Erschütterung der klassischen (Euklidischen) Geometrie
berührt die philosophische These von der Apriorität des Raumes nicht; ist
keine „Absetzung Kants“. Kants Lehre vom Raumapriori ist wohl belastet
durch die Gleichsetzung von euklidischem und apriorischem Raume. Husserl
zeigt den Unterschied des morphologischen und des durch Idealisierung
„exakt“ gemachten Raumapriori. –
*
(Ott-Stunde am 23. Januar 1937)
Die erste Phase der gemeinsamen Gespräche ist zu Ende. Sie ist cha-
rakterisiert durch die Ab-
| hebung eines vorläufigen allgemeinen Aspekts der Philosophie: 1. Philoso- 53
phieren ist fragend existieren; 2. das Fragen der Philosophie wächst in den
„Antworten“ (Philosophieren ist ein Tieferhineindringen in die Rätselhaf-
tigkeit der Welt); 3. philosophisches Fragen ist bestimmt durch den Antago-
nismus von Spekulation und Analytik; 4. Die ersten uns begegneten speku-
lativen Probleme: a) Zusammenhang von menschlichem Verstehen des
Seienden und der Sprache (als ‹eines› implizierten „ontologischen Vor-
griffs“); b) was ist „Wahrheit“ (Wahrheitsproblem, topisch bestimmt, als
Frage nach dem Geschehen, das die Enthüllung des Seienden für den Men-
schen ist. – Verklammerung der Fragen nach dem Seienden, dem Erkennt-
nisprozeß, – und dem erkennenden Menschen: m. a. W. das „transzendentale
Problem‹“› von „ens und verum“.) –
Wir beginnen die zweite Phase: die phänomenologische Analytik der
Erkenntnis, mit dem Ziel,
| durch „interne Analytik“ der Erkenntnis (in phänomenologischer Methodik 54
der Intentionalanalyse) das spekulative Problem von „ens und verum“ auf
einen wirklichen Frageboden zu bringen.

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.
Überleitung: in den letzten beiden Stunden war die Rede vom Problem
der „Ontologie“ (in Husserls einschränkender Terminologie = Wesenslehre =
„Eidetik“). Ist der analytische Zugriff auf das Phänomen der Erkenntnis ein
Horizont einer irgendwie schon ausgebildeten oder in Bildung begriffenen
Ontologie? Kann die Analyse „apriorische Voreinsichten“ fruktifizieren?
Welche materiale Ontologie wäre hier zuständig? Die Erkenntnis ist ein
Geschehen im Menschen. Gibt es eine „Ontologie des Menschen“?? Und
wenn – wäre diese für die Erkenntnisanalytik von Bedeutung?
Die beiden in der Philosophie der letzten Jahrzehnte in Deutschland
herrschenden Positionen hinsichtlich des Problems der Erkenntnisana-
55 | lytik: 1) die „idealistische Erkenntnistheorie“ (z. B. Neukantianismus), 2) die
realistische-„ontologische“ Philosophie (z. B. Hartmann, Heidegger).
Für den erkenntnistheoretischen „Idealismus“ ist das Seiende (als
Thema der Ontologie) prinzipiell Gegenstand. Die ontologische Zuständig-
keit für den Ansatz des Erkenntnisproblems wird zurückgewiesen mit der
These, daß die Thematik der Ontologie (das Seiende) auf einer Einstellung
des Lebens beruhe, die gegen die erkenntnistheoretisch aufdeckbaren Bedin-
gungen der Möglichkeit der Gegenständlichkeit blind sei. Der „erkenntnis-
theoretische Idealismus“ übersieht die Subjekt und Objekt übergreifende
Weite des ontologischen Problems, indem er Seiendes mit Gegenstand
gleichstellt. – Die polemische Gegenthese der „ontologischen“ Philosophie
ist: „Wissen (Erkennen) ist ein Seinsverhältnis“; die Erkenntnistheorie ist
dependent von der Ontologie.
*
56 | (Ott-Stunde am 26. Januar 1937)
Die Frage der letzten Stunde war, ob in dem modernen Streit zwischen
„ontologischer“ und „erkenntnistheoretisch-idealistischer“ Philosophie trotz
des argumentativen Stils dieser Polemik ein echtes Problem steckt.
Die polemische These der „Ontologen“ ist: der erkenntnistheoretische
Idealismus, der die Metaphysik durch eine „kritische Erkenntnistheorie“
entthronen will, fußt auf einem eingeschränkten, dogmatisch verengten
Begriff des Seienden durch seine Gleichsetzung: Seiendes = Gegenstand! Er
vergißt die Frage nach dem Sein des gegenstandsbildenden Subjekts, nach
der Seinsart der subjektiven Gegenstandsbildung. Das Sein des Subjekts ist
kein Problem für den „erkenntnistheoretischen Idealismus“.
Die Gegenthese der „erkenntnistheoretischen Idealisten“ ist etwa: bei
den „Ontologen“ ist das Sein der Erkenntnis naiv vom bekannten, uns
durch die Erkenntnis vorgegebenen „Sein der Dinge“ her verstanden und
begrifflich gefaßt. Damit wird dasjenige, wodurch wir überhaupt erst das
Sein von Dingen über-
57 | haupt haben, selbst in dingontologischen Begriffen gefasst und somit „ver-
dinglicht“. Das was „Bedingung der Möglichkeit“ für Dingsein schlechthin

456 Z-XXII

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.
ist, wird unzulässig objektiviert, als ob es selbst ein Ding wäre. Mit einem
Wort: die „Ontologie“ ist überhaupt unfähig, die Erkenntnis in ihrem „Fun-
gieren“, in ihrem ungegenständlichen-gegenstandsermöglichenden „Konsti-
tuieren“ zu fassen, sie verfällt immer dem Schein einer dinghaften Existenz
des Subjekts, weil dieses reflektiv sich vergegenständlichen („objektivie-
ren“) kann und zu einem Gegenstand unter Gegenständen zu werden vermag
– allerdings in einem scheinbaren Modus.
Die Polemik der beiden Positionen verbirgt ein echtes Problem in sich:
die Frage nach dem Sein der Erkenntnis resp. des erkennenden Subjekts.
Der „Ontologismus“ (in seiner massiven Form) beantwortet das Pro-
blem überhaupt nicht, sondern verfällt in einen Dogmatismus, sofern er das
ontologische Problem der Erkenntnis orientiert am bekannten
| Sein der bekannten Dinge, also die Seinsidee unentfaltet läßt. Demge- 58
genüber bedeutet der „erkenntnistheoretische-subjektivistische Idealismus“
einen philosophischen Fortschritt, sofern abgelehnt wird, das Sein der
Erkenntnis (und damit des erkennenden Subjekts) unkritisch am Sein der
durch die Erkenntnis vorgegebenen Dinge zu orientieren. Er ist aber seiner-
seits naiv, als er damit (zufolge der ihm eigentümlichen Gleichstellung von
„Seiendem“ und „Gegenstand“) die Frage nach dem Sein der Erkenntnis
nicht mehr als Problem hat und zudem noch in eine implizite dogmatische
These über das Sein der Erkenntnis verfällt. –
Das Problem des Seins der Erkenntnis ist in der Tradition vorzüglich
am Gegensatz von „Tun“ und „Leiden“ orientiert. Zwischen den Extremen
der realistischen, d. i. am „Leiden“ orientierten Interpretation des Seins der
Erkenntnis und der subjektivistischen („idealistischen“ – in einem modernen
Wortverstande), d. i. am Tun (Erzeugen, Herstellen,
| Hervorbringen, Machen) orientierten Auslegung gibt es historisch eine 59
Unzahl komplizierter Mischformen (Theorien über eine Duplizität von
aktiven und passiven Elementen in der Erkenntnis usw.).
Die massive realistische These, daß der „Gegenstand“ das Für-uns-Sein
eines gegen Erkenntnis neutralen Seienden ist, daß also Gegenstand nicht
= Seiendes ist, diese These vom phänomenalen Ding an sich hängt eng
zusammen mit der dingontischen Auffassung der Erkenntnis. Ebenso die
subjektivistische Gleichsetzung von Ding (Seiendes) und „Gegenstand“
mit der subjektivistischen These vom produktiven (am „Tun“ orientierten)
Charakter der Erkenntnis.
Der „realistischen“ und auch der „subjektivistischen“ Auffassung steht
neutral gegenüber der „Korrelativismus“ (z. B. in manchen Spielarten des
„Positivismus“), der stolz darauf ist, jede ontologische These über das
Sein der Erkenntnis zu vermeiden, sich nur auf die „interne Analytik“
des Erkenntnis-

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.
60 | phänomens zu beschränken. Aber hier liegt trotzdem noch eine ontologi-
sche These implizit vor: allerdings keine dogmatische Entscheidungsthese
wie z. B. beim „Subjektivismus“, der in der Nachweisung der Unzulässig-
keit, das Sein der Erkenntnis am Seinscharakter des durch die Erkenntnis
gegebenen Seienden zu orientieren, im Gegenzug gegen die dingontische
Interpretation des am „Leiden“ orientierten „Realismus“ den Schritt vom
„internen“ Charakter des erkenntnismäßigen Vorgängigseins des Subjekts
zum „absoluten“ Charakter des produzierenden Vorgängigseins vollzieht.
Beim Idealismus erkenntnistheoretisch-subjektivistischer Prägung ist die
μετάβασις von der internen Analytik zur spekulativen These über das Sein
der Erkenntnis unschwer abzugrenzen. [Bei Husserl überall dort, wo die
intentionale Analytik der leistenden Subjektivität in eine Metaphysik der
sein-leistenden Subjektivität umschlägt.]
Der „Korrelativismus“ ist in der Täuschung
61 | befangen, als ob eine Analytik ohne irgendeinen Seinsbegriff überhaupt
möglich sei. Es ist möglich, die „Analytik“ von der „Leiden“- oder „Tun“-
Interpretation freizuhalten, aber nicht von einer Idee des Seins überhaupt. Im
„Korrelativismus“ wird nicht nur nicht das Sein der Erkenntnis als Problem
verstanden, sondern wird in der durchschnittlichsten und problemlosesten
Weise irgendwie als „seiend“ angesprochen und ausgelegt. Der „Korrelati-
vismus“ im törichten Stolze, metaphysikfrei zu sein, ist Ausdruck jener
metaphysischen Trägheit, die das Sein nicht mehr als Problem begreift, nicht
einmal dogmatische Thesen darüber entwirft, sondern es in der Leere völliger
Problemlosigkeit stehen läßt. –
Die Erörterung der Polemik zwischen „Realismus“ – „erkenntnistheo-
retischem Idealismus (Subjektivismus)“ und „Korrelativismus“ weist uns
auf das Problem des Seins der Erkenntnis. Aber in eins damit auf seinen
spekulativen Charakter. Das heißt:
62 | 1) es ist die große Einsicht des „erkenntnistheoretischen Idealismus“,
daß das Sein der Erkenntnis nicht am Leitfaden des durch die Erkenntnis
gegebenen Seienden begrifflich gefaßt werden kann; – 2) es ist die Einsicht
des „Realismus“, daß das Dingsein nicht aus dem Gegenstandsein begriffen
und daß die Bezogenheit der Erkenntnis auf ein Seiendes nicht mit der
„internen“ intentionalen Charakteristik des Schemas „cogito-cogitatum“
angezeigt werden kann. Das Gegenstand-Sein muß aus dem Dingsein irgend-
wie begriffen werden; – 3) es ist die Einsicht des „Korrelativismus“, daß die
„Analytik der Erkenntnis“ eine in sich geschlossene Thematik darstellt.
Das Problem der Erkenntnisauslegung scheidet sich also in das „interne“
(in das vorgegebene Verständnis von so etwas wie das „Erkenntnisphäno-
men“ einspringende) Problem der „Erkenntnisanalytik“ und in das spekula-
tive (aber davon nicht ablösbare) Problem der „Bestimmung des Seinscharak-
ters der Erkenntnis“.

458 Z-XXII

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.
| Das spekulative Problem ist durch das intern-analytische insofern 63
mitbestimmt, als die Frage, die das spekulative Problem führt, durch die
Analytik überhaupt erst ausgearbeitet werden kann. Andererseits hat die
Analytik ihren Sinn erst, sofern sie in das Fragen der Spekulation einbezo-
gen wird.
Das spekulative Problem der Erkenntnis haben wir bereits in zwei
unausgearbeiteten Fragestellungen kennengelernt: 1) in der vom Bereitstand
der Sprache (ihres „ontologischen Vorgriffs“) ausgehenden Frage nach dem
Zusammenhang von Seinsauslegung und sprachlicher Seinsauslegung (ὄν
und λόγος); 2) in der von der topischen Bestimmung der Wahrheit als
Geschehen der Enthüllung von Seiendem für den Menschen ausgehenden
Frage nach einer spekulativen Bestimmung der Wahrheit und darin des „ὄν
ὡς ἀληθές“ (ens-verum). Auf diese Horizonte angedeuteter spekulativer
Fragen muß unsere folgende Analytik sinnhaft bezogen sein, sofern sie
Vorbereitung der ausgearbeiteten spekulativen Problem-
| stellung ist und sich als solche weiß. 64
In dieser Dienstfunktion müssen die analytischen Versuche der folgen-
den Stunden aufgefaßt sein. Unsere nächste Aufgabe ist: die Analytik der
Erkenntnis mit den methodischen Mitteln der phänomenologischen Intentio-
nalanalyse zu beginnen, und zwar als Analyse der sinnlichen Erkenntnis.

Reihe D:
| 30.I.37: D/1a
Aristoteles (Ansatz, Seelebegriff, Sinnesempfindung, Vermögensbegriff.)
*
4.II.37:
Aristoteles: Gesichtssinn
I) Farbe II) Farbe im Licht = Wirklichkeit des Durchsichtigen
Möglichkeit und Wirklichkeit des Durchsichtigen

6.II.37 Sehen – Auge – Dingqualität

1. Aristoteles scheidet Dingfarbe und Farbempfindung. (Vgl. den neuzeit-


lichen Sensualismus.)
2. Weltoffenheit des Sinnes: Sinnesraum (spezifische Räumlichkeit).

Z-XXII 459

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.
D/1b | 10.II.37:
Grundstrukturen der Intentionalität
(Thematik, Feld = Horizonte (Innen-Außen))
Iterations-, Präsentations-, Erinnerungs-, Erwartungs-, Kernbestands- und
Appräsentations-, Optimale Gegebenheits-, Bewährungs-, Kinästhetische-
Intentionalität

13.II.
Repetition der Intentionalitätsstrukturen. Homogener Raum als Beispiel für
die überdeckende Leistung der Homogenisierung.
Methodologie der intentionalen Explikation: keine Auslegung von
Bestandstücken, sondern Explikation von Implikationen (anonymer).
*
16.II.
1. Die Welthabe als ein Nebeneinander von Akten staffeln nach der in
den Akten selbst liegenden „intentionalen Ordnung“ (Wahrnehmung,
Erinnerung – Nähe, Ferne u. dgl.). – Selbstgebung nicht formell und for-
malisiert.
2. Wahrnehmung = selbstgebendes Bewußtsein (originäre Selbstgegeben-
heit) = Präsentation (Gegenwärtigung) = gegenwärtiges gegenwärtigen-
des Bewußtsein von Gegenwärtigem = Wahrnehmen → Gegenstand.

D/2a | 20.II.
1. Rekapitulation. (Sein und Zeit; Begriff der Phänomenologie = Logik der
Ausweisung (nicht „Beweis“!))
2. Begriff des Erlebnisstromes:
Schema der Intentionalitäten:
a. Zeitintentionalität
b. Aktintentionalität und ihre Mit-Strukturen (Feld – Horizont usw.)
c. Habitualität
d. Ichintentionalität
3. Ichbewußtsein und Reflexion
Reflexion als Grundmethode
(Vordeutung auf die Reduktion)
4. Phänomenologie als Angriff auf die Einstellung auf die „Identitäten“:
Zurücknahme derselben in das subjektive Intentionalsystem, aus dem
D/2b | her sie für uns als Seiendes gelten.
*

460 Z-XXII

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.
23.II.37
Repetition: Aktarten und Arten der Vergegenwärtigung? – Apriori als
I. Parmenides: ὄν καὶ ἕν
II. Plato: εἴδη (Was-Sein)
III. Aristoteles:
1. Substanzsein (Was-Sein – Sosein) (Kategorien)
2. δύναμις και ἐνέργεια
3. ὄν συμβεβηκός
4. ὄν ὡς ἀληθές
*
Das „Staunen“ des ἔκπληξις („Schönheit“ – Angst – Grauen – Entsetzen
= entsetzende Erlebnisse, die uns heraussetzen aus der befangenden Welt
des „Selbstverständlichen“.)
„Sinn“ und Sinnsuchen
*
| 2.III.37 D/3a
Problem der Reflexion:
1. Phänomenologie = reflexive Analytik der ursprünglichen Evidenzen, in
denen Seiendes für uns zur Gegebenheit kommt.
2. Empirismus der Tradition und die phänomenologische Ausweitung des
Begriffs „Erfahrung“ und „Evidenz“.
Ideation als „Erfahrung des Apriori“.
3. Ist die Reflexion auf die ursprünglichen Evidenzen ein Gegenwärtigen
oder Vergegenwärtigen – oder keines von beidem??
4. Reflexion als Vollzugsbewußtsein in ausdrücklicher Steigerung.
5. Vollzugsbewußtsein als Moment der Selbstkenntnis (συνείδησις – con-
scientia – Gewissen)
6. Vgl. Kants Lehre von der Einheit des „Ich denke“ als Bedingung der
| gegenstandsbezüglichen Erkenntnis. D/3b
7. Problem der „Wachheit“??
*

Z-XXII 461

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.
5.III.37
1. Reflexion und iterierte Reflexionen
2. Thetischer Charakter der Wahrnehmung
Modalisierungen
3. Universalthesis = Seinsfeld
4. a. Epoché als „Modalisierung“
b. reflexive Epoché
c. Beispiel für Glaubensdistanz
„Erinnerung“
d. Glaubensdistanz zwischen reflektierendem und reflexiv-themati-
schem „Ich“.
e. Phänomenologische Epoché als
1. Schritt der Reduktion
2. Schritt: Analytik der „Konstitution“
*

462 Z-XXII

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.
Beilage I Einführung in die phänomenologische Philosophie
(Ott-Stunde 1936)

Beschreibung:
Die vier von Fink zusammengehefteten maschinengeschriebenen Blätter wurden
vor den Text des Entwurfs von Dorothy Ott zu ihrer Dissertation „Das Problem der
Evidenz in der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserls“ gelegt.

Text:

| 1. 1
Einführung in die phänomenologische Philosophie bedeutet nicht eine
lehrmäßige Vermittlung einer als „phänomenologische Philosophie“ festste-
henden Doktrin, bedeutet nicht ein unter pädagogischen Gesichtspunkten
erfolgendes „objektives“ Referat über ein Philosophem, sondern den in
der Gemeinsamkeit des Wechselgesprächs ausgehenden Versuch, in einer
besonderen Weise des Fragens einen Zugang zur Philosophie zu gewinnen.
Die „Einführung in die phänomenologische Philosophie“ wird zum
Versuch einer Einleitung in die Philosophie. „Phänomenologisch“ ist die
Weise des Fragens.
Einleitung in die Philosophie ist kein pädagogisches Problem. Vielmehr
ist es das Problem, die Philosophie anzufangen. Anfang der Philosophie ist
aber nicht ein „Anfangsstadium“ der philosophischen Erkenntnis, sondern
die wesentliche, nie überholte Aufgabe des Philosophierenden. Der Anfang
wird nie überholt; er ist unüberholbar. Anfang der Philosophie ist die Grund-
legung der Philosophie, der Entwurf der Grundfrage. Die Situation des
Anfangs bleibt der Horizont aller philosophischen Fragen und Antworten.
Das Schwerste des Philosophierens ist: im Aufbruch des Anfangs aus-
zuhalten, „Anfänger zu sein“. Die innere Gefahr des Philosophierenden:
den „Anfang“ hinter sich zu lassen, zu gesicherten und fixen Resultaten zu
gelangen, die nicht mehr von der Fraglichkeit der Grundfrage bedroht sind,
d. h. in die Sicherheit festen Besitzes an Wissen und Einsichten zu verfallen,
zum „Sophisten“ zu werden.
Weil Philosophieren, solange es echt ist, immer am Anfang ist, kann
Philosophie nicht autoritär gelehrt werden.
| 2. 2

Beilage I 463

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.
Der formale Begriff der Philosophie ist angezeigt als Fragen. Und zwar
als Fragen, das in allen seinen Verzweigungen eingehalten sein muß in
eine Grundfrage.
Unser Interesse gilt der Einleitung in die Philosophie. Wir suchen einen
Weg, einen Zugang zur Philosophie. Setzt nicht alles Suchen, alle Ausfor-
schung von Wegen und Zugängen nach etwas, schon eine Vorstellung, einen
mehr oder minder klaren Begriff dessen, was man sucht, voraus? Genügt
es, zu wissen, daß „Philosophie“ Fragen ist? Wir fragen in mannigfachen
Weisen und Situationen, vorwissenschaftlich und wissenschaftlich. Fragen
ist eine uns bekannte Weise unseres Lebensvollzugs. Fragen bestimmen sich
ferner durch das, wonach gefragt wird. So fragen wir nach Abwesendem,
Unbekanntem, Näherzubestimmendem usw. Wonach frägt die Philosophie?
Aber kennen wir denn nicht die Gegenstände, nach denen die Philoso-
phie frägt? Ist uns denn nicht die allgemeine Richtung des philosophischen
Fragens bekannt und vorgeben?
Wir kennen doch die Philosophie als ein historisch-kulturelles Phäno-
men. Wir haben sogar einen sehr reichhaltigen Vorbegriff von der Philo-
sophie, eine Menge von Kenntnissen über sie aus Geschichte und allen
irgendwie auf den Menschen bezogenen Wissenschaften. Philosophie ist
ihrem allgemeinen Stil nach bekannt. Diese Bekanntheit macht es sogar
möglich, Bestimmungen über die Philosophie auszusprechen, ohne selbst
auf dem Boden eines bestimmten philosophischen Systems zu stehen: wir
können geistesgeschichtliche Motivationen, soziologische Bedingtheiten,
psychologisch-biographische Ursprünge eines philosophisches Weltbildes
aufweisen, eine biologische, ev. auch pathologische Genesis des menschli-
3 | chen Typus „Philosoph“ und dergleichen freilegen und somit außerhalb
eines bestimmten Philosophems das Philosophieren und die Philosophien
„im Allgemeinen“ charakterisieren.
Ist dieser Vorbegriff von Philosophieren und Philosophie nicht geeignet,
unserem Suchen eine erste bestimmende Richtung zu geben? Nein.
Vielmehr ist er gerade das stärkste Hindernis für eine Einleitung in
die Philosophie. Dieser Vorbegriff ist die uneigentliche Weise, wie die
Philosophie für den „gemeinen Verstand“ da ist. Mit diesem Vorbegriff
ist der Anschein erweckt, als ob Philosophie eine bekannte und vertraute,
jederzeit einnehmbare Weise des Lebens sei. Sie wird gerade in diesem
Vorbegriff in ihrem eigentlichen Wesen verkannt und zu einer populären
Möglichkeit erniedrigt. Diesen Vorbegriff nennen wir den Popularbegriff der
Philosophie. Seine Macht ist so groß, das er nicht nur die Menge in ihrer
Ansicht von Philosophie bestimmt (darunter fast alle philosophiegeschicht-
liche Literatur), sondern auch die Selbstinterpretation von Philosophen
zuweilen beeinflußt.

464 Beilage I

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.
Die Einleitung in die Philosophie ist fürs erste notwendig ein Versuch,
sich der Macht dieses Popularbegriffs von Philosophie zu entziehen, und
bedeutet die Anstrengung eines Sichenthaltens von allen Vor-Urteilen, Vor-
Bestimmungen, Vor-Meinungen über die Philosophie. Weil die „Bekannt-
heit“ der Philosophie nur ein Schein ist, muß man es sich versagen, vor der
Philosophie über die Philosophie zu urteilen. Philosophie kann nicht vorweg
bestimmt werden.
Die Erschütterung des Popularbegriffs von Philosophie ist unsere
erste Aufgabe.
Die mannigfaltigen Bestimmungsrichtungen, die der populäre Vorbe-
griff von Philosophie in sich schließt, können zusammengegriffen und in
zwei Thesen ausgesprochen werden:
| 1) Philosophie ist eine Wissenschaft; 2) Philosophie ist Weltanschauung. 4
Philosophie ist eine Wissenschaft?
Was ist Wissenschaft? Diese Frage muß hier offenbar nicht als ein phi-
losophisches Problem verstanden werden, wenn umgekehrt die Philosophie
vom Begriff der Wissenschaft her bestimmt werden soll. Welches ist der
vorgegebene Wissehschaftsbegriff? Eben derjenige der positiven Wissen-
schaften und ihrer formalen Hilfswissenschaften. Der Begriff der „Wissen-
schaft“ entspringt hier also aus einer formalisierenden Abstraktion, die das
Methodisch-Allgemeine an den Naturwissenschaften, Mathematik, Logik,
Geisteswissenschaften heraushebt. D. h. er ist sinnhaft bezogen auf die
historische Situation der Ausgebildetheit von Wissenschaftsgruppen in der
vollzogenen Emanzipation dieser Wissenschaften von der Metaphysik.
Schon eine ganz allgemeine Charakeristik zeigt, daß die auf Seien-
des (Dinge) gehenden Wissenschaften, also abgesehen von den Formalwis-
senschaften, ihr thematisches Forschungsgebiet vorgegeben haben. Z. B.
die Zoologie thematisiert die Tiere. Dieses Gebiet ist schon dem vorwis-
senschaftlichen Leben in einer begrenzten und vagen Typik vertraut. Wis-
senschaftliche Erkenntnis ist eine Steigerung und Vervollkommnung der
vorwissenschaftlichen Kenntnis der Dinge. Vorgegeben ist aber nicht nur das
Gebiet (das thematische Feld), nicht nur die Bahn des Bestimmens als eine
Steigerungsreihe (Näherbestimmung, systematische, den ganzen Umfang
eines Gebietes ausschöpfende Bestimmung usw.), sondern auch die Richtung
des Forschens. D. h. vorgeben ist auch der Horizont von Unbekanntheit,
in den es einzudringen gilt. Das „Unbekannte“ an den Dingen ist ein
horizonthaft bekannter Wissensausstand. Die auf Seiendes gebietshafter
Prägung bezogene Forschung ist charak-1

1 Die Fortsetzung des maschinengeschriebenen Manuskriptes fehlt von hier an.

Beilage I 465

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Beilage II Plan der Dissertation von Dorothy Ott

Beschreibung:
Dieser Plan der Dissertation von Dorothy Ott wurde um die Blätter der Reihe II/
3a-11/b in Z-XXII gefaltet (siehe die Beschreibung der Mappe). Der folgende maschi-
nengeschriebene kurze Bericht über die Situation des Entwurfs wurde von Fink mit
einer Durchschlagkopie des 39-seitigen Entwurfs zusammengeheftet. Fink erklärt
den traurigen Verlauf dieses Projekts:
Die nachstehenden Aufzeichnungen Dorothy Otts bilden die erste Niederschrift des
Gedankenmaterials zu einer geplanten Dissertation.
Sie bestehen zum Teil aus den Nachschriften Dorothy Otts in dem ihr von mir gege-
benen Unterricht (1936–1937) und aus Auszügen aus Husserls Formale und trans-
zendentale Logik, die das Interpretationsthema des Unterrichts war.
Der frühe Tod des hochbegabten Mädchens (18.XI.1937) setzte dem Plan der Schrift,
die gedanklich weit über diese erste rohe Skizzierung hinausgewachsen war, ein
Ende.
R. I. P.
Freiburg i. Br., 11. Dezember 1937, Eugen Fink

| Plan: II/1a
„Das Problem der Evidenz in der phäomenologischen Philosophie Edmund
Husserls“, von Dorothy Ott
I.
Einleitung:
1. Das Evidenzprobem als Perspektive durch das Ganze der Husserl-
schen Philosophie;
2. Die Grundmotive der „transzendentalen Phänomenologie“;
3. Die Disposition der Abhandlung.
II.
1. Abschnitt: Allgemeine Theorie der „Evidenz“.
a. Evidenz als „Selbstgebung“;
b. Die prinzipielle Weite des phänomenologischen Begriffs der Evi-
denz (jede Art selbstgebenden Bewußtseins = Evidenz);
c. Thematische Evidenz und die Evidenz von der Evidenz;
d. Evidenz als „intentionales Problem“.

Beilage II 467

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.
III.
2. Abschnitt: Die zwei Richtungen der phänomenologischen Zurücklei-
tung der traditionell prototypischen Evidenz der logisch-mathemati-
schen Erkenntnis.
a. Husserls Charakteristik der Evidenz der logisch-mathemati-
schen Erkenntnis;
b. Die Evidenz der „Deutlichkeit“ als das Eigentümliche der „forma-
len Wesenserkenntnis“;
c. Die materiale Wesenserkenntnis und die Ideation als „Selbstge-
bung“;
d. Die Zurückleitung der (traditionell) prototypischen Evidenz 1) auf
„lebensweltliche“ Evidenzen und 2) auf die Evidenzen der „anony-
men“ subjektiven Leistungen der Idealisationen, die den themati-
schen Idealisaten zugrundeliegen;
IV.
II/2a 3. | Abschnitt: Die intentionale Auslegung der Evidenz der Erfahrung.
a. Die Evidenz der Wahrnehmung;
b. Die Evidenz der Erinnerung;
c. Die Evidenz des Horizontbewußtseins;
d. Die Evidenz der Fremderfahrung;
e. Die Evidenz der „Idealisation“
V.
4. Abschnitt: Die Evidenz von der Evidenz
a) Die Evidenz der Reflexion (Iterativität der Evidenz);
b) Evidenz der sogenannten „Inneren Erfahrug“ (Problem des Psycho-
logismus);
c) Das Transzendentale Problem der Evidenz: die Evidenz der Selbst-
erfassung der leistenden Subjektivität in der „Phänomenologi-
schen Reduktion“.

468 Beilage II

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.
Z-XXIII

Beschreibung:
Der Umschlag des Spiralheftes mit Notizen trägt keine Aufschrift; Fink hat jedoch
auf der inneren Seite des Umschlags „Pos, Wilhelminastraat 30, Haarlem“ notiert,
vermutlich die damalige Adresse des holländischen Sprachphilosophen Hendrik J.
Pos, eines ehemaligen Studenten von Husserl, der ihn manchmal besuchte (HChr,
S. 238, 264, 316, 345 und 364). (Vgl. Notizen von einem Gespräch mit Pos vom
3. April 1940, Z‑XXVI CXXIII/1–7.) Die meisten Blätter sind in der Spiralbindung
geblieben, einige Blätter (Notiz A, Reihe B, Notizen C und D) wurden vorne und
hinten in das Heft eingelegt; Blatt E wurde zwischen 25 und 26 eingeschoben.
Daten:
Aa – 28.X.38
9 – 1938
15 – 1938

Text:

| Aus einem Brief an E. Weltin1 (28.X.38) Aa


2
‹…› Ziegler gehört zu den Menschen, auf die es ankommt, daß nicht die
„Lichter erlöschen im Abenland“, daß nicht die Idee des Menschen als
des Seinssuchers, Gottsuchers und Schönheitssuchers verlorengeht. Denn
dies ist die Gefahr des zwanzigsten Jahrhunderts: daß der Mensch die
„große Sehnsucht“ verliert nach dem Wahren, Heiligen, Schönen, nach
den sein Leben übersteigenden Ideen preisgibt; die Muße als Müßiggang
verwirft und die heilige Stunde der Musen einer Ideologie der Arbeit opfert,
die in der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung eines bloß vegetativen
Daseins, in Mehrung der „Macht“ und einer maßlos gesteigerten technischen

1 Eugen Weltin war ein Jugendfreund aus Konstanz. Die Originalfassung des hier erwähnten

Briefes ist verloren gegangen.


2 Angeblich zielt Finks Bemerkung auf Leopold Zieglers Gestaltwandel der Götter (Berlin

1920) hin. Dieses Buch, sowie Zieglers spätere Überlieferung (Leipzig 1936), waren für Fink
wichtige Bücher. Vom 30.III.39 bis 8.V.1951 haben Fink und Ziegler hin und wieder korre-
spondiert; von dem Briefwechsel sind 18 Briefe erhalten geblieben, 6 von Ziegler an Fink
(Originale im Fink-Nachlass, Freiburg) und 12 von Fink an Ziegler (Originale im Leopold-
Ziegler-Nachlass der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe und Kopien im Fink-Nachlass.
– Siehe auch: Leopold Ziegler, Gesammelte Werke in Einzelbänden, Band 5: Briefe und
Dokumente, Würzburg 2005, S. 374–386). Vgl. Z-XXVI 62a–b und 99a.

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Zivilisation den Sinn des Menschenlebens sieht. Die Profanierung des
Lebens, seine Verkürzung um all das „Zwecklose“ und „Nutzlose“ (wie
Religion, Philosophie und Kunst) – dies ist die Tendenz eines entgötterten
Zeitalters. Ein apokalyptisches Grauen überfällt einen, wenn man sieht, was
Europa seit vierhundert Jahren mit seiner Befreiung des Menschen aus der
Übermacht der Natur (Technik) und aus der Hut der Götter (Säkularisierung
des Christentums) endlich erreicht hat. Nietzsches
Ab | Prophezeiung des Nihilismus ist in einer furchtbareren Form, als er ahnte,
in Erfüllung gegangen. Nietzsches Begriff des „Nihilismus“ meint eine Ver-
zweiflung des Menschen, dem alle seine „Ideale“ nichtig geworden sind.
Aber man muß ja noch den Untergang der Ideale (Nietzsches „Gott ist tot“)
empfinden können, um verzweifelt zu sein. Nietzsche erwartete eine furcht-
bare Verzweiflung des europäischen Menschen, die ihn entweder vernichtet
oder zum Entwurf neuer Ideale („Umwertung aller Werte“) zwingt. Nietz-
sches Nihilismus ist die Seelentragödie von „Einzelnen“, ist die Seins- und
Gottverlassenheit von „höheren Menschen“. – Was aber faktisch eingetroffen
ist, ‹ist› ein Nihilismus im Zeichen der Heraufkunft der Masse: die Ideale
überhaupt sind nichtig geworden, ohne daß die Menschen daran leiden; Oh
sie fühlen sich wohl in einer Welt ohne den Wurf zu den Sternen ‹…› –
*
Zu „Heilung des Lebens“.3
*

1 | Zu Kants Begriff des „Dogmatismus“:


„Dogmatisch“ ist das Unterlassen der Frage nach dem problematischen
Zusammenhang von ens-verum oder das Unterlassen der Frage nach der
ἀλήθεια. „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ = Wie ist die
ἀλήθεια περί τῆς φύσεως möglich!4

Reihe B:
B/1 | Zum Problem der „ontologischen Erfahrung“ sind zwei Motive von größ-
ter Wichtigkeit:
1. das Sich zum Sein alles Seienden Verhalten = das „Fürsichsein“,
2. das „Scheinen“ (die Selbstentfremdung und die Heimkehr in sich).
*

3 Zum Thema der Heilung des Lebens vgl. Z-XXV 18b, 27a und 54a.
4 Notiz 1 wurde auf die erste Seite des Heftes geschrieben, dann wurde das Heft umgedreht
und die Notizen von 2 ab von hinten an eingetragen. Reihe B und Blätter C und D wurden
zwischen dem Umschlag und der ersten Seite hinten in das Heft eingelegt.

470 Z-XXIII

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Die Negativität als inneres Moment des Seins – Sein und Nichts in der Natur
des Seins – Wesen und Erscheinung –
Absolutes und Nichtabsolutes in der Einheit des Seins –
Komparativische Natur des Seins – Möglichkeit der Wahrheit als ‹bricht ab›
Das Seiende verbirgt sich in sich selbst: in seinem Schein.
*
Die Philosophie beginnt mit dem Unterschied des eigentlichen und uneigent-
lichen Seienden, in der Ahnung der Idee des ὄντως ὄν und des μὴ ὄν.
*
| Philosophie ist nur möglich, weil das Sein „außer sich geht“ – in den Schein. B/1b
Philosophie beginnt als die Ahnung der ‹bricht ab›

Zu Heideggers Begriff der ἀλήθεια: Diese besagt Entborgenheit eines vor-


dem Verborgenen. Was heißt positiv Verborgenheit? Nur Nichtentborgenheit
oder ontologischer Verfall in die Erscheinung.

1. Stillstand der vorgängigen Bestimmung des Seienden und der Wahrheit.


„Auf dem Boden“ einer stehenden Seinsinterpretation = dies ein Urphäno-
men. –
„Dialektik“ = Dialog des Geistes über die Transcendentalien.

| Zwei Gedankenkreise: 1) Theoretischer Systembegriff der Philosophie B/2a


und 2) weltanschaulicher Begriff der Philosophie.
Zu 1) Ausgehend vom Problem der „ontologischen Erfahrung“, d. i. der
Grundlegung des Seienden als solchen und des Wahrseins von Seiendem,
d. i. des Entwurfes von Sein und Wahrheit im Ringen um das ansichseiende
Wesen des Seienden.
Transzendentalienmetaphysik
Theorie des Spiels (Interpretation von Nietzsches metaphysischem
Schlüsselbegriff des „Spiels“).
Phänomenologie der Erkenntnis, Tragweite und Kritik des Husserlschen
Ansatzes –
Hegelinterpretation und Kritik des „gottgleichen“ Standpunktes, der nur
eine „Idee“ ist, –
Theorie des Anfangs der Philosophie in der „Naivität“ (Naivität = ein
spekulativer Begriff) –
| Zu 2) Philosophie und Religion – Nietzsches Begriff des „Todes Gottes“ – B/2b
Feuerbach und die typische Reflexion des „Anthropologismus“ – Vom
Wesen des Enthusiasmus – ΟΜΦΑΛΟΣ – Lob des otiosen Lebens – „Dui-
neser Elegien“-Interpretation – Von der Verwandtschaft der Götter – Vom
Seligen Leben (Wesen der Seligkeit!) – Lebensrolle und Jenseits der „Rollen“

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– παρουσία – Religiöser Humanismus – Pole der Existenz: die Nähe = Fami-
lie, und die unendlichen Ferne = Gott. – Religion der Liebe (amor dei als alle
Liebe umfangend) – Keine Verleugnung des „Hiesigen“, – Magna mater,
Demeters stiller Friede –

Vom Seienden als solchem redet man gemeinhin nicht. Die Transcendentali-
enproblematik liegt immer unthematisch vorweg.
Eine Anomalie des Lebens, wenn es den Grund seiner Existenz selbst in
den Blick bringen will.
Also: 1) Die Einstellung auf den unthematischen Boden.
2) Die Prüfung dieses Bodens.

B/3a |*
Wie ist zu kontrastieren die Problematik der Cartesianischen Suche nach dem
gewissesten Fundament der menschlichen Erkenntnis und das Suchen nach
dem „seiendsten“ Seienden??
Die Kategorien der „Modalität“ als Initium der Philosophie?!?!!
*
Erst die spekulative Ahnung hebt die fixe Entgegensetzung von Sein und
Nichts auf und entdeckt die Negativität im Sein selbst: damit Geburt der Dia-
lektik.
*
Der Weg des Zweifels (der Verzweiflung, wie Hegel sagt) als getrieben von
der „Entbehrung”
*
Hegel und Aristoteles über den Begriff des Philosophen: bei Aristoteles
hat Gott allein die Σοφία, der Mensch nur die Φίλο-σοφια, bei Hegel muss
die Philosophie die Anstrengung machen, ihren Namen, Liebe zum Wissen,
abzulegen und das absolute Wissen selbst zu sein. Bei Aristoteles bleibt der
Unterschied von Gott und Mensch, bei Hegel kommt es zur spekulativen
„Henosis“. Bei Aristoteles ὁμοίωσις, bei Hegel ἕνωσις!
*
Ca | Die Idee des Descartes, auf eine erste Gewißheit zurückzugehen, ist eine
Gegenposition gegen die Hegelsche Position.
Descartes beginnt wohl auch mit dem Zweifel. Sein Zweifel ist aber kein
solcher an der Seinsidee. Er vollzieht keine ontologische Erfahrung. Sondern
sucht im Festhalten der vorphilosophischen Seins- und Wahrheitsidee nach
der sichersten Wahrheit.

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| Zu Heideggers These, daß die Wissenschaften sich auf Seiendes, die Da
Philosophie aber auf das Sein beziehen:
Heißt Seiendes = Dinge (Einzeldinge) oder Gegenstände?? Hat es die
Geometrie mit Seiendem zu tun? Und nicht mit apriorischen Formen des
Seienden? Sind Zahlen nicht vergegenständlichte Weisen des Vielfach-
seins des Seienden?
| 5Die Wahrheit hat einen inneren Bezug zum Sein. Ist das Sein nicht einfältig, 2
sondern in sich differenziert: als eigentliches Sein und als Schein, so ist
Wahrheit (selbst als „Übereinstimmung“ begriffen) bezogen auf das eigent-
liche Sein und auf den Schein nur, sofern er als Schein doch auch „ist“ und
ein Sein des Scheins hat. – Hier ist die nivellierende Funktion des an der
prädikativen Kopula „ist“ orientierten Seinsbegriffs zu beachten. –
Das Seiende an ihm selbst ist nicht belanglos in dem Sinne, daß
es „wahr“ ist, wenn es in die „Helle“ („die Lichtung“) des als „Licht“
begriffenen Menschen hereinsteht.
M. a. W. Wahrheit ist nicht nur ein „Existenzial“ (Heidegger). Sondern
Wahrheit als „Unverborgenheit des Seienden“ ist mit bestimmt durch den
Seinscharakter des Seienden, der prinzipiell als „Wesung“ bestimmt werden
kann: d. i. als Offenbarung, „Äußerung“ eines Wesens, als inneres Leben des
Außersichgehens des Seienden. [Vielleicht ist dies Aristoteles’ „organische
Seinsauffassung“: Wesung!?? [Εντελέχεια – δύναμις?!]

| G. Schulemann: Die Lehre von den Transcendentalien in der scholastischen 3


Philosophie Leipzig 1929.
*
Eislers Kant-Lexikon: 6

u. a.: „Daher ist ‚weder der Raum, noch irgendeine geometrische Bestim-
mung desselben apriori‘ eine ‚transzendentale Vorstellung‘, sondern ‚nur
die Erkenntnis, daß diese Vorstellungen gar nicht empirischen Ursprungs
sind, und die Möglichkeit, wie sie sich gleichwohl apriori auf Gegenstände
der Erfahrung beziehen können, kann transzendental heißen‘.“ [Der Begriff
des „Transzendentalen“ ist bei Kant in allen Erklärungen immer schon ein
„Resultatbegriff“, der seinen inneren Ursprung aus dem Problem nicht mehr
offen anzeigt. Der Fehler der üblichen Interpretationen ist, daß dieser Resul-
tatbegriff eben nicht als Resultat-, sondern als Einsatzbegriff verstanden
wird. Daraus ergibt sich dann der „subjektivistische“ Sinn der Auslegungen

5 Dieses hinten vor den noch gehefteten Seiten liegende lose Blatt scheint aus demselben

Spiralheft herausgerissen worden zu sein.


6 Rudolf Eisler, Kant-Lexikon. Nachschlage-Werk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und

handschriftlichem Nachlaß (Berlin 1930), S. 538f. Der auszugsweise aus Kant zitierte Satz
findet sich auf S. 539 dieser Ausgabe.

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der kantischen „Transzendentalphilosophie“. – Der obige Satz aus „Eisler“
muß so verstanden werden: „Die Erkenntnis, daß diese Vorstellungen nicht
empirisch, also nicht in der Begegnung mit dem Seienden entsprungen,
sondern wahr d. i. objektiv gültig sind, vom Seienden gelten; und gerade
die Erhellung, wie so das Seiende vor aller Erfahrung wahr sein kann, ist
das ens-verum-Problem.“]

4 | Transzendentalphilosophie: Sie ist „das formale System der Ideen, dadurch


das Subjekt sich selbst zum Objekt macht“, ein „Idealismus, da … das Sub-
jekt sich selbst konstituiert, nicht Erkenntnisart irgendeines Objekts der Phi-
losophie, sondern nur eine gewisse Methode oder (formales) Prinzip zu phi-
losophieren“. Altpreuss. Mth XXI 373 f.7 [Diese Stelle ist meiner
Interpretation zunächst ganz widersprechend und zeigt in die Richtung der
subjektivistisch-idealistischen Interpretation, also in die Richtung einer the-
matischen Metaphysik des „Geistes“!?? – Aber gerade diese Auffassung ist
in meine Interpretation einzubeziehen; so nämlich: die Problematik von ens-
verum wird zu einer Theorie des Subjekts, aber der Zugang zum Subjekt ist
geöffnet von der prinzipiellen Weite des Seinsproblems, der Mensch als
Weltwesen rückt ins Thema. Es gilt gerade den extremen Subjektivismus von
Kant bis Hegel begreiflich zu machen aus dem Problem von ens und
verum. Der Fehler der üblichen Auslegungen besteht darin, daß sie den
„Subjektivismus“ nicht aus seiner Problemgenesis her verstehen, ihn als ein-
fache These nehmen.]
*
5 | ‡ NB. Seiendes als Seiendes: „Seiendes“ ist das immer schon Verstan-
dene, aber so Verstandene, daß es belassen wird in der unangegriffenen
„Selbstverständlichkeit“; Seiendes als irgendetwas Bestimmtes, als Stein,
Pflanze, Tier, Mensch, Zahl, Stuhl, Denkmal, Buch, Staat usw. Aber Seiendes
als Seiendes, ὄν ᾗ ὄν, ens qua ens? Diese „äußerste“ Allgemeinheit, die
nicht gebildet wird in einem abstrahierenden Denken, sondern von der
man herkommt, die nicht „Gegenstand“, Thema ist, sondern „Boden“ jeder
Thematik, äußerster Horizont??? Die „transzendentale“ Allgemeinheit??
ens qua ens, ens qua unum, ens qua verum, ens qua bonum: das ist die
Problematik der „Metaphysik“ oder der „Ersten Philosophie“.
‡ ‹Betonung durch einen vertikalen roten Strich am Rand dieses Absatzes›
*

7 Zitat aus „Ein ungedrucktes Werk von Kant aus seinen letzten Lebensjahren als Manuscript
herausgegeben von Rudolf Reicke“, in: Altpreußische Monatsschrift zur Spiegelung des pro-
vinziellen Lebens in Literatur, Kunst, Wissenschaft und Industrie, Königsberg 1864-, XXI,
S. 373 und 374.

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‡ NB. Die Involution der metaphysischen Begriffe, die ontische Begriffe
für die innere Entfaltung des Seienden als Seienden nicht vermeiden kann.
‡ ‹Betonung durch einen vertikalen roten Strich am Rand dieses Absatzes›
*
NB. Die Menschen lieben das Angenehme, Nützliche, auch teilweise das
Schöne; wer aber liebt das Seiende und gerade als Seiendes? Das ist
der Philosoph.
*
| 8NB. Das Kalte und das Seiende? Der Begriff des „Kalten“ ist mehrdeutig: 6
1) das Kalte = das Kaltseiende, von der Kälte Ergriffene, z. B. ein Stück
Eisen; d. i. ein Ding, dem gelegentlich das Kaltsein zukommen kann. –
2) Kaltseiendes seiner Natur nach: z. B. Schnee, Eis. – 3) Das Kaltsein.
4) Die Kälte.
Wie ist nun der Begriff des „Seienden“ ebenfalls mehrdeutig? Das Kalte
ist Seiendes, das kalt ist. Das „Seiende“ ist Seiendes, das seiend ist!??
1) Etwas, dem Sein gelegentlich zukommt? [Ist das nicht widersinnig?!?]
2) Etwas, dem Sein seiner Natur nach zukommt? [Ebenfalls widersinnig!?]
3) Das Sein, das noch nicht ein Was-Sein ist? 4) Die „Seiendheit“???!??
Das „Seiende“, diese Allgemeinheit versteht jeder, und doch ist sie
das Schwerstverständliche. Die „transzendentale Allgemeinheit“! – Wenn
die Dinge „Seiendes“ genannt werden, dann gleitet das Verständnis gerade
ab vom Seienden: „Seiendes“ das ist das Äußerste. Die transzendentale
Allgemeinheit ist immer schon vollzogen, so aber, daß der Mensch sie nicht
mehr wiederholen will.
*
| ‡ NB. Begriff der „Spekulation“ (als θεωρία) bei Aristoteles Metaphysik VI. 7
1, 1025b 18; IX. 8, 1050a 10; De anima II. 1, 412a 11.
‡ ‹Betonung durch einen doppelten vertikalen roten Strich am Rand
dieses Absatzes›
‡ NB. Bei Aristoteles ist das Forschen der „Ersten Philosophie“ ein Fragen
nach dem Seienden, Einen, Wahren, Guten (Hier liegt der Ursprung der
Philosophie als „Seinsproblem, Weltproblem, Wahrheitsproblem und Got-
tesproblem“) [Auch der Ursprung der Metaphysik als das jeweils Ganze als
„Ontologie“ –”Kosmologie“ – „Psychologie“ – „Theologie“!!] ‡– Bei Aris-
toteles sind die ”transzendentalen Gleichungen“ Problem. In der Scholastik
Thesen, die aus dem kanonisierten „Aristoteles“ kommentiert werden; die
scholastische Problematik von ens qua ens, qua unum, qua verum, qua bonum
ist die Stilllegung des Problems.

8 Betonung durch ein großes rotes Sternchen am Ende der ersten Zeile dieses Absatzes.

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‡ ‹Betonung durch einen roten Strich am Rand von ‡ bis ‡›
*
NB. „Kant als Metaphysiker“, diese Formel der gegenwärtigen Kantinter-
pretationen ist nur dort das Zeichen einer neuen Sicht, wo der Begriff der
„Metaphysik“ nicht im populären Verstande (als „Weltanschauung,” und
Theorem über das Übersinnliche) gebraucht wird. [Dies ist vor allem bei
Heidegger der Fall; dort ist Metaphysik = Ontologie!]
*
8 | NB. Zu „Hütte im Oytal“:9 Umgang mit Wolken und Wind und den
ziehenden Nebeln im Tal, den flimmernden Sternen und dem bleichen
Mondeslicht in der Nacht des Gebirgs ist kein nutzvolles Geschäft, es kommt
nichts dabei heraus. Es ist zu großspurig. Wer so mit dem Seienden gleich
umgehen will und Verkehr pflegen, und nicht mit Haus und Hof, Pflug
oder Verkaufstisch, Maschine und staatlicher „Gerechtigkeit“, hat zu Recht
kaum, wovon er seine Blöße bedecke. Es ist ein rechtes Narrengeschäft, eine
Windbeutelei und ein Name für den Müßiggang. „Arbeiten“ kann man nicht
mit Stern und Edelweiß. Ein Leben jenseits der Arbeit ist mit Fug verachtet
von den Menschen.
Dort wo einem Volk die „Arbeit“ als Sinn des Lebens durch Staatsideo-
logie eingehämmert wird, vergißt es gewiß die überirdischen Träumereien,
die Erfindungen von Müßiggängern, vergißt es das „Seiende“, und hat eine
Fülle lebensnaher Dinge, das „wirkliche Leben“ um sich. Religionen und
9 | Philosophien sind keine „Arbeitsleistungen“ des Menschengeschlechts.
Opiate für den Arbeitsamen, Gift für das Volk, das werktätige, Werte = Güter
schaffende. Religionen entstehen in einsamen Wüstennächten, am Meer, und
im Wald. – „Bergreligion“ gibt es noch nicht; weil erst die Neuzeit die Gipfel
erkämpfte und die unzugänglichen Wände.
*
“Kants transzendentale Frage”
“Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls”
“Der Begriff der Metaphysik” 1938
“Die Hütte im Oytal”
“Zur Lehre vom Weltbegriff”10

9 Das Thema der „Hütte im Oytal“, das erstmals in Notizen von 1936 (OH-VI 3 und OH-VII 13,
A/8a, 24–25 und 47–49) auftaucht, wird in den Mappen Z-XXIII (hier, 9, 10 und 15), Z‑XXV
und Z-XXVI wieder aufgenommen. Das Oytal liegt östlich vom Bodensee.
10 Von den hier genannten Schriftprojekten wurde ausschließlich „Die Entwicklung der Phä-

nomenologie Edmund Husserls“ veröffentlicht, und zwar erst 1976 – nach Finks Tod (1975)
– in ND, S. 45–74. Vgl. dazu jedoch Z-XXVII 53a, Anmerkung.

476 Z-XXIII

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.
*
‡ Heideggers „Was ist Metaphysik?“ ist die metaphysische These über das
Seiende: „omne ens qua ens ex nihilo fit“.
‡ ‹Betonung dieses Satzes durch einen vertikalen roten Strich am Rand.›
*
‡ Descartes’ „Meditationen“, in denen man den Beginn der „Wende zum
Subjekt“ sehen will („Das Ich als Prinzip der modernen Philosophie“ usw.),
sind Metaphysik, sind „Meditationes de prima philosophia“. Vgl. Aristote-
les’ Bestimmung der Philosophie als Theorie der Wahrheit über das Seiende
im Ganzen!
‡ ‹Betonung dieses Satzes durch einen vertikalen roten Strich am Rand.›

| NB. (für „Hütte im Oytal“): das Erlebnis des Ganzen des Seienden am See, 10
am Meer, in Steppe, Wüste und Wald und Hochgebirge ist einem bestimmten
Typus Mensch allein dringlich. Die griechische Philosophie entsprang am
Meer und auf den Inseln. (Milet und Samos!) „Weit hinaus glänzt mir Raum
und Zeit!“11
– Kontrast ist das „Erlebnis des Unbeachteten, des Kleinen, des bedeu-
tungslosen Seienden“: der Stein im Bahnschotter einer Station, wo der
Schnellzug ein paar Minuten hält; auch er ist „Seiendes“. Symbol der
Unbarmherzigkeit des Schicksals, ein Seiendes sein zu müssen!
*
Schicksalbewußtsein, Dostojewskis Satz „der Selbstmord ist die größte
Sünde“, Platos Satz „wir stehen auf Wache“.12
*
Die Liebe zu einem Menschen ist das, was uns am meisten das Leben
lieben läßt. – Wenn die geliebten Menschen sterben, kann auch bei dem, der
das Leben liebt und den Sinn der Erde nicht mißachtet,
| die Todessehnsucht aufsteigen. – Die Liebe ist allein der „Beweis der 11
Unsterblichkeit“: es kann und darf nicht zu Ende sein. – Die Gerechtigkeit
(des „Totenrichters“) muß sein, wie der Sinn der Güte und Opferbereitschaft.
Ein Leben ohne die metaphysische Gerechtigkeit, Menschenliebe und Güte
ist so ein Unbegriff wie die Vorstellung der Wahrheit des Materialismus.
*
„Einsamkeit“ ist nicht Verlassenheit, Alleinsein, sondern das staunende Sein
inmitten des Ganzen des Seienden.

11Nietzsche, Zarathustra, 3. Teil, „Die sieben Siegel“, 5.


12Zu Dostojewski, vgl. Finks Ausführungen in: Z-XXV/171a; zu Platos Satz, vgl. Politeia,
Viertes Buch, 419a-420a.

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*
Nietzsches Satz: „Der Mensch ist der Sinn der Erde“ = Der Mensch Weltwe-
sen!!!13
*
Zu Heideggers Interpretation des Begriffs „transzendental“: Heidegger inter-
pretiert transzendental von Transzendieren her, vom Überstieg des Menschen
vom Seienden zum Sein! – Philosophieren ist verallgemeinern; verallgemei-
nern ist transzendieren. „Seiendes“ = das ist die „Allgemeinheit“, die immer
schon vollzogen ist und immer wieder in Anstrengung vollzogen werden
muß im Philosophieren.
*
12 | ‡ Der Begriff der Metaphysik, der der üblichen Interpretation der neuzeitli-
chen Philosophie und vor allem des „Deutschen Idealismus“ zugrundegelegt
wird, ist zumeist bestimmt durch die christliche Auffassung von Metaphysik;
demgegenüber vertrete ich die These: Metaphysik ist „Transzendentalphilo-
sophie“ als die spekulative Erkenntnis des Seienden als Seienden, als Einen,
als Wahren, als Guten.
‡ ‹Betonendes großes X mit Rotstift am Anfang dieses Absatzes›
Hegel interpretiert von der „Transzendentalien-Philosophie“ aus die christli-
chen Glaubenslehren und nicht umgekehrt!!! [ens qua ens = „metaphysica
generalis“, ens qua unum = rationale Kosmologie; ens qua verum = rationale
Psychologie; ens qua bonum = rationale Theologie!!] – Die transzendentale
Allgemeinheit und die vierfachen αἴτια καὶ ἀρχαί?? Wichtig ist es, den
metaphorischen („involutiven“) Charakter der Begriffe αἴτιον und ἀρχή zu
beachten. „Ur-sachen und Anfänge“ nicht im innerweltlichen Verständnis-
sinn!!! Ferner zu beachten ist Aristoteles’ Bemerkung, daß αἴτιον und ἀρχή
sich verhalten wie ὄν und ἕν!!. –
1. Ƞ੝ı઀Į – IJઁ IJ઀ ઝȞİੇȞĮȚ 1. Bewegungssubstrat: der Erkenntnis
2. ੢ȜȘ– ਫ਼ʌȠțİ઀ȝİȞȠȞ 2. Bewegungssubstrat: des Geschehens.
3. ੒șİȞਕȡȤ੽ IJોȢțȚȞ੾ıİȦ 1. Bewegungsausgang
4. ੖ȣਪȞİțĮ – ਕȖĮșંȞ 2. Bewegungsziel
1. ens qua ens
2. ens qua unum ?
3. ens qua verum
4. ens qua bonum
13 | ‡ Wichtig für meine These: Metaphysik = Transzendentalphilosophie,
ist vor allem der innere Nachweis, daß der „Idealismus“ Subjektivismus
ist als F o l g e (oder Fehlfolge) des Problems von ens qua verum. Der

13 Zarathustra, „Vorrede“, 3.: „Der Übermensch ist der Sinn der Erde.“

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Subjektivismus ist nicht der innere Ansatz des Problems, vielmehr seine
Folge. Ebenso wie die „Kritik der reinen Vernunft“ die Folge der Frage nach
der Möglichkeit der Metaphysik ist.
‡ ‹Betonendes großes X mit Rotstift am Anfang dieses Absatzes›
Man hat die neuzeitliche Philosophie unter dem falschen Aspekt ihrer
„Resultate“ interpretiert, als ob diese von vornherein angenommene „Stand-
punkte“ seien. – Die Identifizierung der rationalen Theologie mit der natür-
lichen Theologie des christlichen Glaubens ist eine Folge des metaphysi-
schen Problems von „ens qua bonum“ und nicht ist umgekehrt die Thematik
der Metaphysik durch das Faktum der christlichen Glaubenslehre bestimmt.
– Fichte z. B.ist kein Subjektivitätsphilosoph, sondern Transzendentalphilo-
soph. –
Die Hegelsche These: „Das Prinzip der ächten Spekulation ist die Iden-
tität des Subjekts und Objekts“14 ist allein verständlich auf der Problembasis
von ens qua verum.
| Es gilt, die „subjektivistische“ Philosophie seit Descartes und vor allem 14
seit Kant so innerlich aus dem Problem der Metaphysik (als „transzendenta-
ler“ Erkenntnis) begreiflich zu machen, daß verständlich wird, warum das
Problem von ens qua verum zu einem „Subjektivismus“ führen mußte.
Der „Subjektivismus“ ist nicht die von vornherein angenommene Ent-
scheidung dieser Philosophie, sondern ist eine Problemfolge.
Es gilt daher von dem „Resultat“ (das ja für sich genommen nichts
ist) zurückzugehen auf das Problem, das durch das „Resultat“ gleichsam
verdeckt wird.
Die landläufige Interpretation geht aus von dem Standpunkt, dem bloßen
Resultat, in der Annahme, daß das Resultat doch das Ganze einer Philosophie
sei, gleichsam ihr „Extrakt“.

14 Vgl. G. W. F. Hegel, „Vorerinnerung“, in: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen


Systems der Philosophie, Hamburg 1962, S. 4: „… das Prinzip der Spekulation ‹ist› die Iden-
tität des Subjekts und Objekts …“.

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15 | Pläne für 1938:
I. Studien: 1. Platos Dialoge kommentieren
2. Aristoteles’ Metaphysik kommentieren
II. Schriften: 1. „Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls“
2. „Kants transzendentale Frage“
3. „Ursprung der Zeit“
4. „Lehre vom Weltbegriff“
5. „Kierkegaards Irrtum“
6. „Hütte im Oytal“

*
Zu „Hütte im Oytal“: Ein Haus auf den Hügeln des Vorgebirges, Holunder-
sträuche, ein Kreuz, Ländlichkeit, Kinder, Tiere und ein Leben mit Wolken,
Wind, Tag und Nacht und Jahreszeiten.
*
„Anmerkung“ zu „Kants transzendentaler Frage“:
Dieser Artikel ist ein auf den Grundgedanken hin vereinfachter Teilauszug
aus dem Vortrag, den der Verfasser 1935 in Dessau unter dem Titel „Die Idee
der Transzendentalphilosophie bei Kant und Husserl“ ‹gehalten hat.›15
*
16 | Sammlung meines Lebens: Dichtung zur Dichtigkeit einer wesentli-
chen Existenz.
1. Verhältnis der vierfachen αἴτια zueinander und zu den „Transzendenta-
lien“?
2. ἕν und ὄν verhält ‹sich› wie ἀρχὴ und αἴτιον.
ὄν : ἕν : ἀληθές : ἀγαθόν = ἀρχὴ : αἴτιον
3. Gegen die Hegel-Interpretation: Hegel als synthetischer Harmoniker
und Versöhner aller Gegensätze. Die Verflüssigung der Begriffe ist nicht
aus dem „Versöhnungswillen“ zu begreifen.
4. Die „Phänomenologie des Geistes“ ist das Zum-Vorscheinkommen des
Geistes in seiner Tätigkeit des Philosophierens: das Fürsichsein ist.
Seinsproblem als Wahrheitsproblem: „ens qua verum“.
5. Problem der „Eremitage“: die geistige Existenzform von heute.
17 | Der Begriff der „Ersten Philosophie“: die Philosophie der Philosophie,
Genesis aus dem „Staunen“; die Erhebung zur „spekulativen Allgemeinheit“,
dies eine Handlung des Menschen in der „äußersten Einsamkeit“ und Unzeit-
gemäßheit.

15 Siehe Z-XXV 62b-63b, 94b und 153. Vgl. die Beschreibung zu Z-XVI und ND, S. 7–44.

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Erste Philosophie = Ursprünglichstes Wissen = Ursprungswissen, Spiel-
setzung des Geistes, der „Weltentwurf“, der immer schon hinter dem Men-
schen liegt und unthematischer Lebensboden ist.
Begriff der „Wissenschaft“ zunächst immer orientiert an einer schon
ausgebildeten, aus der „Metaphysik“ entsprungenen Wissenschaft und
zumeist blind gegen die metaphysische Natur des Wissens.
*
Die These für die metaphysische Interpretation der neuzeitlichen Philoso-
phie: der Begriff der Metaphysik als transzendentales Fragen (ens – unum
– verum – bonum) ist vor allem zu sichern gegen die Harmlosigkeit des
Allgemeinbegriffs „Seiendes“. Die Erhebung zur Allgemeinheit des Begriffs
„Seiendes“ ist die Großtat der antiken Spekulation, die Geburtsstunde
der Philosophie.

| * Die Hoheit (Souveränität) der Philosophie liegt in ihrer Selbstsetzung, 18


in ihrer freien Selbsterschaffung.
* Weisheit ist nicht Vielwisserei. Wissen ist überhaupt nicht Kenntnis
über, sondern ist Wissendsein. „Wissendsein“ ist in sich bezogen auf eine
Steigerung; und auch auf die Situation der „dämmerhaften Helle“, der
Gelichtetheit von Seiendem.
*
Hoheit der Philosophie interpretierbar aus dem metaphysischen Begriff
für das Wesen des Lebens: aus dem Begriff des „Spiels“. Der Philosoph ist
derjenige, der sich zurückholt aus den „Rollen“, den Selbstauffassungen,
den „Selbstverdeckungen“ des Lebens. Der Philosoph als das „Gewissen
des Lebens“ ist der Wiederhersteller seiner Ursprünglichkeit; „Integration
des Lebens“!
*
Die Philosophie ist das „Spielende Sein“: „ὁ θεὸς παίζων“!
*
| „Spiel“ und „Für-sich-Sein“??!? 19
Im Verhältnis von Spiel und „Fürsichsein“ drückt sich der einheitliche
Zusammenhang aus, der die beiden Gedankenrichtungen meiner philosophi-
schen Bemühungen, die nicht mehr „phänomenologisch“ sind, in eins zusam-
mengehen läßt: 1) „Spiel“ als die in der Interpretation Nietzsches gewonnene
Metapher für das Sein des Lebens, für das „pathische Weltbild“, das Phi-
losophieren nicht als in einer kulturellen Kategorie begreift, sondern den
Naturbegriff der Philosophie als einer Leidenschaft rehabilitiert und damit
den moralistischen Dualismus von Leidenschaft und Erkenntnis überwindet,
– „Spiel“ also ist die ontologische Metapher, die das Sichzusichselbstverhal-
ten, das Sichselbstverdecken, das Sichzurückholenkönnen, den „geworfenen

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Entwurf“ menschlicher Freiheit, mit einem Wort das Für-sichsein, dessen
Aktualisierung „Philosophieren“ ist, ausdrückt.
*
20 | Motive:
1. „Dogmatismus“ bei Kant: evtl. nicht nur das „unkritische“ Verfahren
der traditionellen Metaphysik, sondern primär das Nichtinfragezustellen
der Ἀλήθεια περί τῆς φύσεως u n d das Nichtfragen nach der Natur des
Dings [bei Kant des Naturdings im Sinne der Naturwissenschaften] für
das Wissen.
2. Der formale oder nivellierte Seinsbegriff und der Seinsbegriff
der Kopula!?

3. Kant – Hegel:

4. Die „Natur des Seienden für das Wissen“:

(5. „Kritizistisch“ ist das Fragen nach der Natur des Seienden für das
Wissen. Die Intelligibilität als Problem!!)

21 | Erläuterung von Begriffen, die den Gedankengang der Wegräumung bestim-


men. Wichtige Unterschiede, die am Bewußtsein vorkommen:
1. es selbst im Unterschied von etwas, worauf es sich bezieht. Jenes ist
etwas für dasselbe. Begriff des Wissens: S e i n v o n e t w a s f ü r e i n
B e w u ß t s e i n, d. h. = das Sein vom Seienden als Wahrsein. Dieser
Begriff des Wissens bestimmt den Begriff der Wissenschaft (d. i. der
Philosophie!). –
2. Begriff des Ansichseins = Sein des Seienden auch außer der Beziehung
des Wissens. Das Sein des Seienden (als seiend außerhalb der Wissens-
beziehung) heißt Wahrheit (??). – Dieser Wahrheitsbegriff scheint mei-
ner Interpretation des Hegelschen Grundproblems als der transzenden-
talen Frage nach dem Sein des Seienden als Wahrsein ins Gesicht zu
schlagen. – Aber die Entwicklung, die Hegels Begriffe gerade auf dem
Wege der Erfahrung des Bewußtseins machen, ist entscheidend.
Zunächst greift er Unterschiede des natürlichen Bewußtseins auf. –
„Wahrheit“ = das in Wahrheit Seiende! – Diese Unterschiede aufge-
nommen am natürlichen Bewußtsein, gehen uns in der Frage, was sie
eigentlich sind, noch nichts an. –

22 | Dialektisches Ingangsetzen des den Zirkel beseitigenden Gedankengangs:


Untersuchung der Wahrheit des Wissens = Untersuchung des Ansich des
Wissens; aber in der Untersuchung ist es Gegenstand = Sein für uns. Wider-
spruch: Ansichsein wäre = Sein für uns!! Behauptetes Wesen wäre nicht

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wahres Wesen. – Diese Konsequenz ergibt sich, wenn das Wissen genommen
wird als ein von uns getrenntes Ding gleichsam. (Vgl. die kritische Polemik
gegen die Voraussetzungen des natürlichen Bewußtseins, zu denen auch die
Meinung der Getrenntheit von Kritiker und Erkenntnisvermögen gehört!) –
„Die Natur des Gegenstandes“ = Bewußtsein ist kein Ding (mit Ansichsein)
und evtl. Sein für ein Bewußtsein, sondern es ist ansich fürsich! d. h. diese
Unterschiede fallen in es. Vgl. „Vorrede“! Untersuchung des Bewußtseins =
Vergleichung seiner mit sich selbst. Für es sein und Ansichsein fällt in es.
In sich selbst hat es die Unterschiede des Wahren (Ansich) und des
Wissens. [[„Hinter das Wissen kann man nicht zurückgehen“, Paraphrase von
| Diltheys These!!]]. – Charakteristisch die Begriffsvertauschung von 23
„Begriff“ und „Gegenstand“ (Begriff: 1) = Wissen; 2) = wesentliches Sein
(τὸ τί ᾖν εἶναι)) – (Gegenstand: 1) = Seiendes (Wesen, Ansich); 2) = Fürsein
(„objectum“)). – Die Untersuchung der Realität des Erkennens hat ihren
Maßstab in sich!! –
Begriff, Gegenstand, Maßstab, das zu Prüfende: liegt im Bewußtsein
selbst. Aber auch die Prüfung. Uns ist reines Zusehen aufgegeben!? – Das
Selbstbewußtsein ist latent schon die Prüfung! – Die Unterscheidung von ὄν
und ἀληθές = Ansich und Sein für es.
Die Entsprechung von Seiendem und Wissen (ὄν und ἀληθές) (Seinsidee
und Wissensidee) als die Prüfung, die ins Bewußtsein fällt, als die ihm
einwohnende Unruhe der Philosophie! Änderung des Wissens = Mitände-
rung des Gegenstandes; = Mitänderung des Maßstabes. Somit Prüfung des
Wissens auch P r ü f u n g d e s M a ß s t a b e s!!
Diese dialektische Bewegung (im Selbstgespräch der Seele mit sich über
das Seiende, das Wahre, das Wesen, das Wissen, den Maßstab des Wissens)
= E r f a h r u n g (des Bewußtseins). Diese
| Bewegung, die zum verborgenen Wesen des Wissens führt, ist der Gegen- 24
stand der Philosophie.
X.
Wichtiges Moment für die wissenschaftliche Seite der Darstellung (in der
Phänomenologie des Geistes): Erfahrung ist eine Erfahrung machen mit
etwas, so nämlich, daß dieses Etwas ihm ein anderes wird. Dieses Sichan-
derswerden von Etwas ist: eine Erfahrung damit machen. Hegels Beispiel:
zunächst Differenz von Ansich und Füreinanderessein; Erfahrung machen
damit, daß das Ansich als dieses ein für uns als Ansichsein geltendes
ist. Damit Wandlung des Ansichseins-Begriffs (und des Begriffs „Wesen“
oder des „Wahren“!). Der „neue Gegenstand“ = Nichtigkeit des ersten, er
ist die mit dem ersten gemachte Erfahrung. „Erfahrung machen mit“ =
Umkehrung des Bewußtseins. – Der übliche Begriff der Erfahrung resp. des
„eine Erfahrung machens“: statt des bisher Vermeinten ein besseres Wissen

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über etwas finden. (Z. B. einen Heuchler erkennen!) Die Umkehrung ist die
In-Gang-Setzung der ontologischen Vorstellungen im
25 | Ganzen!! – Dies als methodologische Reflexion!! –
Die Erfahrung machen = ist die Bewegung des Bewußtseins auf dem
Weg zur Wissenschaft. Es ist in dieser Bewegung begriffen und ergriffen von
der Gewalt seiner Selbstsuchung. – Die methodologische Reflexion ist mög-
lich im Ansichsein (= Fürunssein) des Bewußtseins. Das Bewußtsein macht
seine Erfahrungen stationär, für den Philosophen ist es eine Bewegung,
Werden. – Damit Weg zur Wissenschaft selbst Wissenschaft, Wissenschaft
der Erfahrung des Bewußtseins.
Zusammenfassung: Erfahrung als ganze (ihrem Begriffe nach) = System,
oder das ganze Reich der Wahrheit des Geistes. Termination im absoluten
Wissen: d. i. wo die Erscheinung dem Wesen gleich wird, wo es den Schein,
mit Fremdartigem (Außersichseiendem) behaftet zu sein, ablegt, – [wo es das
Prinzip der Spekulation realisiert: das Wissen, alle Realität zu sein].
*

Ea | 16Inwiefern ist Heideggers Begriff der Unverborgenheit eine Bestimmung


des Seienden selbst? Ist das Seiende unverborgen in einem anderen Sinne
als „erkannt“? Ist „unverborgen“ kein erkenntnisrelativer Begriff wie Gegen-
stand und dgl.?
Heißt unverborgen soviel etwa wie sich nicht versteckend, sich nicht
verhüllend, aus sich herauskommend??
Unverborgen = sich nicht verbergend.?? Es scheint, daß Heideggers
Intention so liegt. Vor allem im Hinblick auf die Heraklitstelle: Φύσις
κρύπτεσθαι φιλεῖ.
*
Gegen Heideggers These vom Wandel der Wahrheit in Gewißheit, der die
neuzeitliche Philosophie beherrschen soll. Ist der Subjektivismus der Neuzeit
nur die Verlagerung von der Wahrheit als Unverborgenheit auf die Gewißheit
als subjektiven Modus der Erkenntnis?
*

26 | 1) „Heimsuchung“. * 2) Begriff des „Absoluten“. * 3) Begriff des „absoluten


Wissens“. * 4) „Weg der Seele“ = „Rationale Psychologie“ als Fundamen-
talphilosophie (Erste Philosophie). * 5) Heideggers These über Hegels
Grundposition: „Ontotheologie“!?? = verfehlt, wenn „Theologie“ hier als
geistesgeschichtliche Mächtigkeit des Christentums in Hegels Philosophie
bestimmt werden soll; zutreffend, aber nicht vollständig, wenn „Theologie“
als das transzendentale Problem von ens qua bonum begriffen wird. * 6)

16 Dieses aus dem Heft herausgerissene Blatt wurde zwischen 25 und 26 eingelegt.

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.
Der Begriff der „Theorie“ = θεωρία περὶ φύσεως = „Spekulation“ = Σοφία =
transzendentales Wissen.
Titel: „Theorie des Weltbegriffs“.
Edmund Husserl
Phänomenologische Analytik der Zeit

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Z-XXIV

Beschreibung:
Die Aufschrift des Umschlags zeigt das Hauptthema der Mappe an: „E. Fink,
Interpretation von Hegels Phänomenologie des Geistes 1938 –”. Ein kleinerer
Innenumschlag mit der Aufschrift „Notizen zur Exegese der Phänomenologie des
Geistes von Hegel“ schließt drei Reihen von Notizen ein: A, B und C. Vor und
nach diesem Innenumschlag liegen zwei weitere Reihen: I und II. (Siehe die
Anmerkungen zu diesen Reihen.) Schließlich liegt im äußeren Umschlag auch
der von Fink maschinengeschriebene Text: „Versuch einer Auslegung von Hegels
Phänomenologie des Geistes“. Weder Finks Notizen noch sein maschinengeschrie-
bener Text enthalten irgendwelche Datierungen; jedoch hätte das Kolloquium mit
Alphéus und Seidemann (vgl. Z-XXV 77a), auf das die Notiz I/4a–b hindeutet, den
unmittelbaren Anlaß zu ihrer Niederschrift bilden können. Zur Betonung wurden
bestimmte Textstellen durch vertikale Striche am Rande mit Rotstift bzw. mithilfe
normaler Unterstreichung markiert. Die Beilage gibt den von Fink ausgearbeiteten
„Versuch einer Auslegung von Hegels Phänomenologie des Geistes“ wieder.

Text:

Reihe I:1
| Zu Phänomenologie des Geistes I/1a
These: Die Gewißheit der αἴσθησις, der sinnlichen Erkenntnis, ist nicht
überhaupt falsch, sinnliches Sein ist nicht nur Trug und Irrtum, sondern die
Gewißheit der sinnlichen Erkenntnis ist falsch, sofern sie Seinsgewißheit sein
will und sich als solche ausgibt.
Die Weise des Menschen, der Befangenheit in der sinnlichen Welt, greift
Hegel an und zerstört ihre Sicherheit.
__
Der Mensch lebt immer mit der Idee des Seins, die ihm aber beim Zugriff ent-
weicht.
__
Die dialektische Bewegung ist eine solche der Seinsidee.

1 Diese Reihe besteht aus losen Blättern, die vor dem Innenumschlag mit den Reihen A bis

C liegen.

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.
__
Sofern die „sinnliche Gewißheit“ s p r i c h t, verwickelt sie sich in Wider-
spruch und treibt über sich hinaus.
__
Sprechen ist „sich zum Sein Verhalten“.
__
I/1b | Ist „Seiend“ zu steigern?
Seiender, am Seiendsten
Das Absolute ist das „Summum ens“, das „entissimum“.
Das „seiender Weise Seiende“ = das ὄντως ὄν!!
*
Gerade die Nichtsteigerungsfähigkeit des Begriffs „seiend“ ist der Index
des nivellierten Seinsbegriffs. Man sagt dann etwa: entweder ist etwas
oder nicht.
*
Das μὴ ὄν Platos ist ein minderes Seiendes, das aber nicht nichts ist; aber auch
nicht bloß „minder“ ist, weil es flüchtig ist.
*
I/2a | Das Wesen der Erkenntnis ist ein ontologisches Problem, es ist die Frage
nach der „Natur“ der Erkenntnis.
Natur der Erkenntnis ist „Erkennen“. Gewiß, aber dieser neutrale
Begriff des „Erkennens“ ist unempfindlich gegen die Unterschiede der
Seinsvalenz der „Erkenntnis“.
„Erkenntnis“ ist mehr oder minder Erkenntnis, je mehr das in ihr
Erkannte einen höheren Seinsrang innehat.
Die Erkenntnis wächst in ihrer „Valenz“ mit der Seinsvalenz des in
ihr Erkannten.
Dieser „Rang“ ist nicht gleich mit der „Dignität“, dem Gewißheitsgrad
des Wissens.
(Je „strenger“ eine Erkenntnis sei, desto höher ihr Rang: dies ist die
Irrlehre des Descartes.)
Die Erkenntnis ist „eigentlicher“, je mehr sie sich ihrer inneren Entel-
echie nähert, der Σοφία, dem „absoluten
I/2b | Wissen“. –
„Erkenntnis“ untersuchen zu wollen, bevor diese sich heimgebracht hat
in ihr Wesen in der Erkenntnis des Wesentlichen, des ὄντως ὄν, ist keine
voreilige und zu kurz tragende „Erkenntnistheorie“. –
Erkenntnis „ist“, sofern sie erkennt; gewiß, aber nicht das Treffen oder
Verfehlen ist das Wesen der Erkenntnis, sondern das Treffen und Verfehlen
des Seienden.
Die Erkenntnis „ist“, wie alles Seiende, in der Seinsvalenz der uneigent-
lichen Erkenntnis und der eigentlichen Erkenntnis. (Auch die uneigentliche

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.
Erkenntnis ist „treffend“, aber nicht das eigentliche Sein, sondern das
uneigentliche Sein.)
Wenn Seiendes der formalisierenden Nivellierung entzogen bleibt und
ebenso der Begriff des Erkennens, dann steht alles Seiende, auch die
Erkenntnis, in der Seinsspannung von Wesen und Erscheinung. Dies ist
Hegels Grundansatz und auch der antike Ansatz!!!
| Nicht weil die „Realität“ der Erkenntnis in der Stimmigkeit bestünde, ist I/3a
die Unstimmigkeit der „sinnlichen Gewißheit“ (als Motiv des Hinausgehens
über sie) ein Argument für die Auffassung der „Realität“ als Stimmigkeit,
sondern umgekehrt,
weil die Realität der Erkenntnis in der Seinserkenntnis besteht (und
zwar in der Erkenntnis des eigentlichen Seins), deswegen ist das Verfehlen
des eigentlichen Seins durch die „sinnliche Gewißheit“ das Motiv des
Weitergangs der dialektischen Jagd nach dem Sein.
__
Also nicht um eine Unstimmigkeit schlechthin handelt es sich, somdern
um eine Unstimmigkeit in der Erkenntnis des „wahren Seins“.
*
(Philosophieren ist die Jagd nach dem Sein, die Suche und Heimsuchung
des Menschen.)
Gott und das Sein? Hegels spekulative „Vision“: Ontotheologie, Gott ist
das Sein, ist die Kraft und das Wesen!!?
*
| „Prüfung“ der Realität = Prüfung auf die Realität hin = Maßstab der „Wis- I/3b
senschaft“ (= Σοφία). Wissenschaft (Σοφία) als eigentliches Erkennen soll
Maßstab eines Erkennens (und zwar Seinserkennen sein wollenden Erken-
nens) ‹sein›.
Die Wissenschaft ist also auf dem Wege zur Wissenschaft vorausgesetzt.
Aber wie „vorausgesetzt“?
Vom erscheinenden Wissen selbst, dieses trägt in sich die Ausrichtung
auf das „wahre Wissen“ als seine Entelechie.

| Alphéus-Stunde2 I/4a
3
1. „Prüfung der Realität des Erkennens“ = Prüfung des Erkennens auf
seine Wesenhaftigkeit hin.
Also nicht „erkenntniskritische“ Untersuchung des Treffendseins, der „Stim-
migkeit“ der Erkenntnis, sondern ihres Seinsgrades, ihrer Seinsvalenz.

2 Wahrscheinlich handelt es sich um Gespräche mit Karl Alphéus, die Fink im Zusammen-

hang mit dem in Z-XXV 77a erwähnten Kolloquium führte. Dieses Kolloquium hat vermutlich
um 1937 stattgefunden. (Zu Alphéus vgl. Z-XIII 36a, Anm.) Vgl. weiter A/10a–b.
3 Diese „Prüfung“ nach Hegels PhG (S. 70–75) ist ein Haupthema der Reihen I, A, B und C.

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.
__
Alphéus wendet ein: Realität des Erkennens = Erkenntnissein der Erkenntnis,
d. i. das „Stimmen“.
Meine Gegenantwort: Die Untersuchung des Erkenntnisvermögens setzt
eine bestimmte Seinsidee voraus.
„Treffen oder Verfehlen“, dies ist sozusagen neutral gegen die Unter-
schiede der Seinsvalenz; diese Neutralität aber hat das Problem Hegels ver-
schluckt.
Nicht die Frage, wie muß eine
I/4b | Erkenntnis sein, wenn sie Seiendes trifft, ist entscheidend, sondern: wann
ist eine Erkenntnis eigentliche Erkenntnis? Antwort: Wenn sie das eigentlich
Seiende trifft.
Darf aber das Treffen des eigentlich Seienden orientiert werden am Tref-
fen von verschiedenem Seienden und dessen gemeinsamem Grundzug, wenn
dieses Mannigfaltige ein Seiendes von metaphysischer Minusvalenz ist!???
*
2. Erkenntnistheoretische Einstellung ist „ontologisch naiv“ – ontologi-
sche Einstellung ist erkenntnistheoretisch naiv.
Begriff der transzendentalen Frage nach ὄν ὡς ἀληθές.
*
3. Ontologische Unterbestimmung des Seins des Subjekts, Einengung des
Seinsbegriffs auf Gegenstand!!
I/5a 4. | Die „sinnliche Gewißheit“ ist nicht falsch, sondern insofern falsch, als
Sinnlich-Seiendes für das Sein genommen wird.
__
Die positive Wahrheit der sinnlichen Gewißheit (αἴσθησις ὁτί ἀληθές) von
Hegel nicht entwickelt!
Problem der Rehabilitierung der „Sinnenwelt“; z. B. Nietzsches „umge-
kehrter Platonismus“!! Das ὄν συμβεβηκός!?
*
I/6a | Die Prüfung der Realität der Erkenntnis ist Prüfung der Erkenntnis auf ihren
Grad von „Realität“, auf ihre ontische Valenz als Erkenntnis.
Erkenntnis ist sie aber nicht, sofern sie überhaupt trifft (Treffen ist
eine conditio sine qua non), sondern sofern sie das wahrhaft-Seiende, das
eigentlich-Seiende trifft.
__
Die „Phänomenologie des Geistes“ ist die Heimkehr des erscheinenden
Wissens ins Wesen, ihre Entwicklung zur Σοφία, zum „absoluten Wissen“.
Das Wissen kehrt aus der Erscheinung ins Wesen, indem es erkennend
von der Erkenntnis des erscheinenden Seienden zur Erkenntnis des wahrhaft
Seienden wird.

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.
__
Σοφία = göttliche Erkenntnis
Philo-Sophia = ὁμοίωσις θεῷ
(Vgl. Aristoteles’ „Metaphysik“ Α)
| Man kann auch die „Stimmigkeit“ (wie Alphéus) betonen, dann aber ist I/6b
vor allem der nivellierte Seiendesbegriff und der nivellierte Erkenntnisbegriff
zu überwinden.
Treffen heißt dann nicht nur Seiendes-Treffen, sondern eigentlich-Seien-
des-Treffen.
Die „Prüfung der Realität“ der Erkenntnis = (so gewendet) Prüfung der
Stimmigkeit im Treffen des wahrhaft Seienden.
__
„Erkenntniskritik“ im voraus, ohne der Erkenntnis das Endziel (die
ἐντελέχεια) der wahrhaften Erkenntnis des wahrhaft Seienden zu geben
und sie auf diesen Marsch zu setzen, ist, „Schwimmenlernen, ohne ins Wasser
zu gehen“, ist „Wetzen, ohne zu schneiden“ usw.
„Erkenntnistheorie“ als Theorie der Stimmigkeit der Erkenntnis über-
haupt, ohne ein Eingehen auf die ontische Valenz des Erkannten, ist leer-„for-
mal“, ist „analytische“ Explikation des Begriffs des treffenden Erkennens.
Die vorweggehabte Seinsidee (Modell des Seienden) ist die nivellierte.
*
| Wichtige Formulierungen der „ontologischen Erfahrung“ in meiner I/7a
Exegese der „Einleitung“ zur Phänomenologie des Geistes:
1. Die dialektische Bewegung ist eine solche der Seinsidee.

| Ansichsein und Fürunssein der „Erkenntnis” I/8a


oder die Frage nach dem Verhältnis der Erkenntnis an sich (der wesenhaften
Erkenntnis) und der Erkenntnis für uns (= der erscheinenden Erkenntnis).
*
Wenn man Hegels Ausdruck „Prüfung der Realität der Erkenntnis“ auslegen
will als Prüfung der „Stimmigkeit“ der Erkenntnis und „reale Erkenntnis“ =
stimmende (treffende), nichtreale = unstimmige, verfehlende setzt, dann ist
die „Prüfung“ mißverstanden als „Erkenntnistheorie“ und nicht als „Darstel-
lung des erscheinenden Wissens“, als Ins-Verhältnissetzen von „erscheinen-
dem Wissen“ und „Wissenschaft“ (Σοφία).
Hegel sagt aber ausdrücklich, daß die Prüfung ‹eine› am Verhalten der
„Wissenschaft“ zum „erscheinenden Wissen“ ist. „Wissenschaft“ als das
Ansichsein der Erkenntnis genommen, als ihr „Wesen“; und „erscheinendes
Wissen“ als das „Fürunssein“ der Erkenntnis genommen, als „Erscheinung“.

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Reihe A:4
A/1a | Zum II. Abschnitt der „Einleitung”

A/1b | „Selbstgebung der Begriffe“!? Ist diese nur Klärung von vorhandenen
Begriffen oder Bildung von Begriffen? Und wenn „Bildung“ – ist dann diese
Begriffsbildung eine nachträgliche Fixierung einer schon vorausbestehenden
Kenntnis oder eine Bildung von Wahrheit? Ist das Verhältnis von Wahrheit
und Begriff ein solches von Verstehen und nachträglicher „begrifflicher
Fixierung“?? Nein!! Philosophische Begriffe sind als Begriffe „ursprin-
gend“: aufblitzende Offenbarkeiten von Seiendem. Vor dem philosophischen
Begriff ist keine vorbegriffliche Helligkeit, die der nachkommende „Begriff“
erst verwahrt und fixiert, philosophische Begriffe sind ursprünglich „lich-
tend“. Wahrheit ist fundamentaliter „Begriff“.

A/2a 1. | Die Trennung von Absolutem und Erkennen führt zur These des
wahrhaften Seins außerhalb des Absoluten, d. i. des wahrhaft Seienden!
(Nur im Ansatz der Unterscheidung der Seinsmächtigkeit, also nicht des
nivellierten Seinsbegriffes, gilt Hegels Argument!)
2. Selbstaufstellung der Philosophie als Selbstbildung der Begriffe. Die
Philosophie entspringt im Sprung aus dem Selbstverständlichen!
3. Begriff der „Erscheinung“ (Wesen und Äußerung – keine Fixation des
Unterschieds von Wesen und Erscheinung).
4. Begriff der „auftretenden“ Wissenschaft: 1) beginnenden, 2) wo des
Auftritts, 3) wogegen.
5. Gleichgültig = g l e i c h g e l t e n d.
6. „Neben anderem“. – Nicht ein Stehenlassen, als Außersichlassen, son-
dern ein Gegenwenden als Einbegreifen. Σοφία muß sich gerade in dem
beweisen, daß sie das unwahre Wissen als Erscheinung seiner selbst
begreift. –
A/2b | „Darstellung des erscheinenden Wissens“ = zum Gegenstand das erschei-
nende Wissen (aber a l s erscheinend). Weg des natürlichen Bewußtseins
zum wahren Wissen (d. i. zum wahrhaften Wissen) = zur Philosophie; „Weg
der Seele“. Bewegung. Weg und Bewegung! Motiv der „Läuterung“; Motiv
der „Selbsterfahrung“, der Verwesentlichung! Vom Außersich zum Beisich-
sein.

4 Diese ist die erste Reihe von Blättern, die in den inneren Umschlag eingelegt sind. Ein
gefaltenes Blatt mit der Aufschritt „Hegel Phänomenologie des Geistes“ hält die Blätter der
Reihe zusammen.

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| 5Sein des Seienden ist Ansichsein und „Erscheinung“ [Äußerung] A/3a
Als Seiendes hat es aber eine „Natur für das Wissen“.
Ansichsein (= keine Natur für das Wissen haben)
Erscheinung (= für das Bewußtsein Sein)

| Hegel setzt an: A/4a


das Verfahren ist eine „Prüfung der Realität des Erkennens“.
Prüfung ist ein Verhalten des Ansichseins zum zu Prüfenden. Prüfung ist
ein Maßnehmen am Wesen von Etwas.
Ansichsein = W e s e n (Beisichsein).
Fürunssein = Erscheinung (Außersichsein).
Hegel wendet zunächst die Unterscheidung von Ansichsein und Erschei-
nung auf das Wissen an.
Dann entwickelt er diesen Unterschied vom Wissen her. (Ansichsein =
das Sein als unbezogenes auf das Wissen; für das Bewußtsein = Wissen.)
Und dann kommt er zu der spekulativen Bestimmung der Natur des
„Bewußtseins“ = Bewußtsein ist Proklamation der Seinsidee und Wissens-
idee.
__
[D. h. die Anwendung der ontologischen Unterscheidung von Ansichsein
und Fürunssein (oder von Wahrheit und Wissen) oder von Wesen und
Erscheinung auf das Wissen ist naiv und wird entwickelt.]

| 1. Gedanke und Sein A/4b


2. Wesen und Erscheinung
Diese beiden Motive in der Hegelschen Philosophie zentral.
Die „Darstellung des erscheinenden Wissens“ ist seine „Enwicklung“
von der Stufe der Seins- und Wissensidee, auf der das Sein verstanden ist
als unabhängig vom Subjekt – und das Wissen (der Begriff) ohnmächtig, zu
jener Stufe des „absoluten Wissens“, wo der Begriff das eigentliche Sein des
Seienden ist und Wesen und Erscheinung zusammen‹fallen›.
*
Thema des Methodenabschnittes ist:
Methode = ein Verfahren. Wie ist das Verfahren der Darstellung des
erscheinenden Wissens? Was müssen wir (die Philosophierenden) dabei tun?
Hegel antwortet: Zusehen. Dieses Zusehen ist das Erkennen der Bewegung
der Seinsidee und Wissensidee in ihrer Notwendigkeit, ihrem Ziel und
ihrer Eigenart.

5 Die Blätter von A/3 bis A/14 wurden in ein zweites gefaltetes Blatt mit der Aufschrift:
„Hegel zu Phänomenologie des Geistes“ gelegt.

Z-XXIV 493

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A/5a 1.| “Methode“ – Abschnitt
I. Das Sein des Seienden und der Wahrheit ist nicht „einförmig“.
II. Die Erscheinung des Seienden und der Wahrheit.
III. Das Wesen des Seienden und der Wahrheit.
IV. Die „Vermittlung“ als Weg der Erscheinung in das Wesen.
V. Das V e r h ä l t n i s von Erscheinung und Wesen.
Die Einleitung gibt Auskunft, was die Phänomenologie des Geistes ist:
1. Darstellung des erscheinenden Wissens (erscheinend als erscheinendes)
2. Weg der Seele, Bewegung der Seele zu ihrem Sein
3. Das Verhältnis als ein Sichverhalten
a. natürliches Bewußtsein und „wir“
b. „Wir“ und die Philosophie
A/6a 1. | “Trennung von Sein und Wissen“ = (unter dem „Methode“-Motiv)
führt zum Entwurf des wesenhaft Seienden. „Erscheinung“ und erschei-
nendes Wissen.
2. Die These über das eigentliche Sein und die eigentliche Wahrheit.
3. Der Weg als Vermittlung von Wesen und Erscheinung.
Von der Erscheinung ins Wesen, die Erscheinung a l s Erschei-
nung begreifen.
4. Reflexion auf das Verhältnis der „Vermittlung“ [der Philosoph als „Mitt-
ler“!].
Zusammengefaßt: Die Bewegung des Gedankengangs in der „Einleitung“:
1) gegen die Verabsolutierung der Erscheinung, 2) Entwurf auf Wesen,
3) Weg von der Erscheinung zum Wesen, 4) Reflexion auf das Verhältnis.
(Der Weg ist an sich; er muß für uns werden.)
A/6b | Was als Methodenreflexion aussieht, ist die radikale Formulierung der
Problemstellung und so die Klärung des Begriffs der „Darstellung des
erscheinenden Wissens“.
„Methode“ als das Fürunswerden des Verhältnisses von Sein-Erschei-
nung-Wesen. [Vgl. Sein-Erscheinung-Wesen-Wirklichkeit als die großen
Problemtitel der „Logik“!]
Methode als ein Sichverhalten der „Wissenschaft“ zum „erscheinenden
Wissen“. Das Verhältnis bestimmt als ein Verhalten, dessen Subjekt die
„Wissenschaft“ ist.
Die beiden Verhältnisse: Wissenschaft und erscheinendes Wissen
„Wir“ und das natürliche Bewußtsein
Station und „Bewegung“
Naivität und Wissenschaft
auf dem Wege — die Bewegung, die die scheinbaren
(Gestalt des Geistes) — Ruhepunkte in der Bewegung aufnimmt
A/7a | Methode des Weges? Methode der „Ausführung“ dieses Weges. Natürli-
ches Bewußtsein (= unwahrhaftes = erscheinendes Wissen) und wir (die

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.
Philosophierenden) als die beiden Subjekte des Weges der Phänomenologie
des Geistes.
Einheit, – Personalunion dieser Subjekte, ihr „Verhältnis“ zu einander.
Das Verhältnis der „beiden“ Subjekte ist keine schlichte Relation, sondern
das Verhältnis einerseits der Philosophierenden und des naiven Bewußtseins
[äußerlich gleichsam als eine Art pädagogischer Situation], andererseits als
der „Philosophie“ in uns zu uns als den noch-nicht-Philosophierenden, also
ein Verhältnis des Menschen zur Philosophie in ihm. („Die Philosophie“
im Menschen ist seine „in ihm geschehende Metaphysik“ [Heidegger],
das „Dasein“ in ihm, das „Seinsverständnis“ in ihm, – bei Hegel nicht
anthropologisch begrenzt, sondern „der“ Geist im Menschen!)
__
Das zweite Verhältnis Fürunssein (= Wissen) und Ansichsein.
1. Gedanke und Sein
2. Wesen und Erscheinung
| Untersuchung und „Prüfung“ der Realität ‹des› Erkennens. A/7b
„Voraussetzung“? nicht Annahme einer „Erkenntniskritik“, die Hegel schon
mit seinem Spott bedacht.
Voraussetzung = Vorsprung, Vorgriff, Vorentwurf.
Verhältnis und „Maßstab“. Der Begriff des messenden Maßstabes nicht
hier am Platze. Maßstab nicht das Womit eines Maßwerkzeugs. Sondern das
Woraufhin einer Bestimmung, einer Beurteilung. Z. B. die Rede von einem
heldenhaften Menschen setzt einen Begriff des Helden voraus. Dieser Begriff
ist der Maßstab. „Prüfung“ ist das Hinhalten des Gegebenen an das „Wesen“
(den Begriff).
Prüfung des Gegebenen an den Entwurf des Wesens; dieses I n s - V e r -
h ä l t n i s - S e t z e n des Gegebenen (Erscheinung) an das Wesen ist „Prü-
fung“. Prüfung = Vermittlung. Der Maßstab = das A n s i c h, das
W e s e n. –
Widerspruch: Prüfung im Entwurf der Idee des wahrhaften Wissens, also des
Ansich des Wissens, bevor das Ansich, das Wesen gegeben ist.

1. | Begiff der „Methode“ (Methode der Philosophie, ihre „Wissenschaft- A/8a


lichkeit“).
2. Der Zusammenhang: die Problemstellung ist: Sein und Wahrheit in
den Stadien: Sein – Erscheinung – Wesen – Vermittlung (Weg) –
Das V e r h ä l t n i s.
3. I. Die beiden „Subjekte“ (das „natürliche Bewußtsein“ und die „Phi-
losophie“ in uns). Die Wandlungen des „natürlichen Bewußtseins“ (der
„Ruck“) und die Rolle des „Zusehens“ (die „Bewegung“)
II. Ansichsein und Fürunssein a. [Sein und Wissen]

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.
b. [Wesen und Erscheinung]
4. Die „Aporie“: [Selbstvoraussetzung der Philosophie] = „Maßstab“ der
„Prüfung“ [= „Heimsuchung“]. „Realität“ = Wesenhaftigkeit. Maßstab
kein Meßzeug, sondern das Woraufhin einer Beurteilung.
[Begiff des „Bewußtseins“ n i c h t intentional oder sonstwie psycholo-
gisch!]
5. Ausarbeitung der Aporie in der Aufnahme der ontologischen Begriffe
von Sein und Wissen, wie sie im natürlichen Bewußtsein vorkommen. –
Sein des Wissens; ontologische Kategorien auf
A/8b | das Wissen [gleichsam von außen] angewandt. In Frage steht das
Verhältnis des Wissens für uns und des Wissens an sich. „Fürunssein“
und Ansichsein a u s d e m W i s s e n entwickelt!!
Das Ansichsein (des Wissens) für uns: Dialektik des „Ansich“ „für uns“!
(Keine leerformalistische Argumentation; sondern spekulative Allge-
meinheit)
„Natur des Gegenstandes“? – Die Seele als Inbegriff der metaphysi-
schen Begriffe

A/9a 1. | Warum bei Hegel („Logik“) der Primat der Qualität? Q u a l i t a s – dies
der Index seiner M e t a p h y s i k d e s W e s e n s.
*
2. Begrif der Metaphysik: die ursprünglich-lichtenden B e g r i f f e
Verhältnis von B e g r i f f u n d A n s c h a u u n g ist ein anderes als
bei den in der Anschauung fundierten Begriffen.
*
3. Das „Vor-ontologische“ ist ebenfalls begrifflich, ist n i c h t „vor-begriff-
lich“.
*
4. Notiz à propos Landgrebes These, daß Husserls Phänomenologie, weil
sie auf gegenständliche Einheit, in Mannigfaltigkeit sich konstitutie-
rende Form des „Gegenstandes“ fixiert ist, offenbarende Stimmungen
wie „Angst“ nicht erfassen könne: Seiendes ist überhaupt nicht
„G e g e n s t a n d“.
Das Gegenstandsein („Fürunssein“) des Seienden wird in Husserls
Phänomenologie nicht begriffen.
Die Problematik der Seinserkenntnis ist „gegenstandstheoretisch“
angesetzt. Dies ist der H a u p t f e h l e r.

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.
| Hegel-Stunde6 A/10a
1. Die Trennung von Absolutem und Erkenntnis in der Form einer Subjekt-
Objektkorrelation bedeutet die falsche Gleichstellung der o n t o l o g i ‐
s c h e n Erkenntnis mit dem Modell einer o n t i s c h e n.
*
2. Schlüssigkeit der Hegelschen Argumentation besteht nur, wenn der
Begriff des „Seienden“ aus der Leere des kopulativen (= prädikati-
ven) Begriffs für das Seiende herausgehoben wird. Seiendes ein k o m ‐
p a r a t i v i s c h e r Begriff. Stufen der Seinsmächtigkeit. (Begriff des
„summum ens“.)
3. Begriff der „Wahrheit“ (Koinzidenz von Eigentlich-Seiendem und her-
ausgekommenem Seienden).
4. Wahres und sonstiges „Wahres“ –
S e l b s t g e b u n g d e r B e g r i f f e. – „Erscheinung“
| [Hauptthema der antiken Philosophie: das Sein des nichteigentlich Sei- A/10b
enden!?]
5. „Leere“ Erscheinung = Erscheinung, die sich nicht als Erschei-
nung begreift.
6. Wissenschaft als auftretende = Erscheinung.
Darstellung des erscheinenden Wissens = Einbegreifen des erscheinen-
den Wissens in der Darstellung desselben als Erscheinung.
7. Weg = Bewegung der Seele (methodisches Motiv)
„Läuterung“ (kathartisches Motiv). (Heimkehr ins Wesen)
‡ | Die „Vergleichung“ ist eine doppelte!? Wesen und Erscheinung und A/11a
Ansichsein und Fürunssein (Seiendes und Wissen).
Begriff – Gegenstand

I. Wissen – Seiendes
II. Wesen (Ƞ੝ıȚĮ IJઁ IJ઀ ਷ȞİੇȞĮȚ – ਕȞIJȚțİ઀ȝİȞȠȞ +HUDXVJHNRPPHQHV
‡ ‹Am Rand neben den zwei hier nacheinanderfolgenden Punkten:›
Dies die „ontologische Prüfung“
Zu Hegels „Einleitung“ zur Phänomenologie des Geistes; S. 76.7
_______________________
I. | Prinzipien der „Interpretation“? „Geistesgeschichtliche“ oder mitfra- A/12a
gende Interpretation?

6 Vgl. I/4a.
7 Seitenzahl der Jubiläumsausgabe (Stuttgart, 1927) = PhG, S. 71.

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.
Die geistesgeschichliche Weise der Auslegung nimmt Philosophie als
eine Ausdrucksform des allgemeinen Zeitgeistes, der allgemeinen Seelen-
lage eines Jahrhunderts, eines Volkes usw. Gewiß spielt dies alles auch
in ‹die› Weise des Daseins einer Philosophie mit hinein und ist interessant.
Aber das Interesse am Interessanten ist dann illegitim, wenn man glaubt,
dadurch etwas Wesentliches über eine Philosophie zu erfahren, wenn man sie
mit dem Zeitgeist in Verbindung bringt. Was ist der Zeitgeist? = die öffent-
liche Lebens- und Weltauffassung, die auf dem unerhellten und traditional
vorhandenen Grunde einer bestimmten Seins-interpretation ruht. –
Die „geistesgeschichtliche“ Behandlung einer dokumentierten
Philosophie, wenn sie eben nicht eigens philosophiegeschichtlich ist, ist
die naive Anmaßung, das Wesen der Philosophie im voraus zu kennen; es der
Beurteilung der selber nicht-philosophierenden Intelligenz zu unterwerfen.
Hegel hat aber doch selbst die Philosophie und den Zeitgeist zusammen-
gefaßt!? Ja, aber nicht vom bekannten Zeitgeist aus die Philosophie, sondern
von der
A/12b | P h i l o s o p h i e a u s d e n Z e i t g e i s t !!
[Wie verhält sich überhaupt allgemeine Geistesgeschiche und Philo-
sophiegeschichte? Ist die Philosophie „geschichtlich“ oder „zeitlos“? Sie
ist „geschichtlich“ als die Geschichte der Erfahrung des Wissens um das
Seiende als Seiendes; also „geschichtlich“ als „ontologische Erfahrung“,
als „geschehende Metaphysik“ (Heidegger!); aber nicht als Geschichte,
d. i. Wandel von Lebensauffassungen auf dem Boden einer ruhenden Seins-
interpretaton. Seit 2000 Jahren hat es nur einige wenige „Ereignisse“ in
der Geschichte der Philosophie gegeben, einige große „Rucke“, „Verrückun-
gen“. –]
Daß Hegel das Verhältnis von Philosophie und Zeitgeist nicht „historistisch“
[d. i. die Unterordnung der Philosophie unter den Wahrspruch der positiven
Geschichtswissenschaft] auffaßt, sondern spekulativ – dies ist vor allem
wichtig für das Begreifen des Verhältnisses der beiden Wege der Phänome-
nologie des Geistes: die „Geschichte der Bildung“ des philosophischen
Bewußtseins (der Σοφία) und ‹die› „Geschichte der ‚Bildung‘“, d. i. des
Selbst- und Weltverständnisses des abendländlischen Geistes.
*
A/13a | Hegels Gedankenführung scheint auf den ersten Blick der Lektüre eigen-
tümlich massiv und simpel. Seine eigentümliche sinnliche Phantasie, seine
spekulative Anschaulichkeit (intellektuelle Anschauung: er bewegt sich in
der spekulativen Allgemeinheit mit einer kaum einholbaren Sicherheit des
Vollzugs). –
Rein argumentativ wird man vieles scheinbar falsch oder leicht zu
lösen finden. Hegel bewegt sich mit einer grandiosen Sicherheit in den
spekulativen Gedanken, ohne in die Gefahr einer leerformalen Dialektik oder

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einer spekulativen Phantasie zu verfallen. Schwierig ist es, die Schlüssigkeit
seiner Gedankenführung nachzuvollziehen, weil sie uns zu leicht erscheint.
*
Es besteht die Gefahr einer doppelten Unterschätzung: Hegel weder
reinformal noch massiv, allzu sehr die Metaphern ernst nehmend.
Hegels ‹Gedankenführung› fast sinnlich uns anmutend und doch abstrakt. –
Nicht die leerformale „Abstraktheit“!
*
| Hegel hat die ontische Problematik des „Wesens“ im metaphysischen Sinne. A/13b
Was ist das „W e s e n“, die οὐσία? „Wesen und Erscheinung“.
Wesen und εἶδος. Wesen und Ewiges, Bleibendes, eigentliches Sein.
*
Das Seiende ist seinem Sein nach Kraft, Äußerung eines Wesens.
Der metaphysische Entwurf einer Seinsidee, die zutiefst durch die ontische
Differenz von Erscheinung und Wesen bestimmt ist, läßt sich mit den
logischen Mitteln einer indifferenten (nivellierten) Seinsidee nicht fassen!
*
| Hegels „Phänomenologie des Geistes“ ist – nach meiner Interpretati- A/14a
onsthese – eine Einleitung in die Philosophie als Einleitung des Philo-
sophierens, als Selbstbegründung und Selbstaufstellung der Philosophie,
als B i l d u n g der philosophischen Problematik. Also „zeitlos“? Hegels
Einleitung gilt immer, wie alle wesentliche Philosophie. Und doch ist
ja für ihn diese Einleitung der Philosophie, dieser Weg der Erkenntnis
zum wesentlichen Sein, auch ein Weg der „historischen Entwicklung“ des
abendländlichen Geistes. Zumeist faßt man die Beziehung zwischen diesen
beiden Arten von „Wegen“ so, daß Hegel ausgeht vom faktischen Weg
der historischen Entwicklung und ihm eine prinzipielle Bedeutung geben
wolle. Nach meiner Auffassung aber ist es gerade umgekehrt. Das primäre
ist nicht die „Geschichte der Bildung“, die „Gestalten der historischen
Bewußtseinsstufen“, sondern umgekehrt die Geschichte der „Bildung“ der
Philosophie, um alsdann die spekulative Deutung der faktischen Geschichte
zu entwerfen als ein Weg in der Zeit des Menschengeschlechts, was ein Weg
des Einzelnen zuerst ist.

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.
Reihe B:
B/1a | 8Zu III. Abschnitt der „Einleitung“ („Methode“)

B/1b 1. | “Trennung“ von Absolutem und Erkenntnis: Hegels Argumentation


ist nur schlüssig, wenn bereits der nivellierte Seinsbegiff ausgeschal-
tet ist. Nur die Erkenntnis beansprucht, „etwas Reelles“ (d. h. etwas
wesenhaft Seiendes!) zu sein, […] resultiert der Widersinn, außerhalb
des Inbegriffs des wesenhaft Seienden wesenhaft sein zu wollen. – Der
methodische Zweifel (als das seichte pseudokritische Räsonnement über
den Anfang der Philosophie) als „Furcht vor der Wahrheit“, d. h. als
ontologische Naivität. („Problemverfall“).
2. Trennung von Absolutem und Erkenntnis = die pseudokritische Auf-
spaltung des transzendentalen Problems von Sein und Wissen durch
den verfehlten Ansatz der ontologischen Erkenntnis am Modell der
ontischen Subjekt-Objektrelation.
3. Hegels Polemik dient zur Freilegung der ersten These der Philosophie:
„Das Absolute allein wahr, das Wahre allein absolut“. Begriff der Wahr-
heit als die Koinzidenz von Eigentlich-Seiendsein und Unverborgenheit.
(Dieser Doppelsinn als Problem ‹bricht ab›

B/2a | Wir wenden uns der Einleitung zu. Damit ein Wechsel der Interpreta-
tion. Die „Vorrede“ stellt allgemeine Reflexion auf das Ganze der Phäno-
menologie des Geistes dar. Sie handelt vom „wissenschaftlichen Erken-
nen“, vom Erkennen der Wissenschaft, d. i. der Philosophie. Aber wie ist
diese Reflexion vollzogen? Ist sie eine methodologische Erörterung? Nein,
zunächst eine Aufstellung des Begriffs der Wissenschaft. „Wahre ist System“,
„Substanz und Subjekt“ – „Wahre ist das Ganze“.
Methode als Methodos, als der Weg, als die Bewegung der Wahrheit und
des Seienden.
Das Spekulative ist die Erkenntnis der Bewegung der Fundamentalbe-
giffe: W a h r h e i t u n d S e i e n d e s.
Damit ist keine bestimmte Region von Seiendem im Blick, etwa die
Geschichte gegenüber der Natur, sondern das Seiende als solches; nicht ist
das „Lebendige“, das „Organische“, das „Geschichtliche“ Thema, nicht eine
neue Realität, eine neue Grunderfahrung, sondern die Unruhe des Lebens, die
sich in der Bewegung der Grundbegriffe zeigt, jener Begriffe, die den Grund,
den Boden unseres Daseins, unseres Seins bei den Dingen ausmachen.

8 Dieses gefaltene Blatt hält die anderen Blätter der Reihe zusammen.

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.
Die spekulative Erkenntnis und der spekulative Satz – ist dies nicht eine
„Erkenntnistheorie“? Nein, sondern eine Reflexion auf den Zusammenhang
von Sein und Wahrheit. [ens und verum!]
Die Vorrede stellt die allgemeinste Reflexion Hegels über die Phänome-
nologie des Geistes dar. Vgl. Logik und Enzyklopädie.

| Vgl. § 36 der Enzyklopädie: „Phänomenologie des Geistes“ = wissenschaft- B/2b


liche Geschichte des Bewußtseins (philosophische Geschichte) = erster Teil
der Philosophie als vorausgehend der reinen Wissenschaft, da sie die Erzeu-
gung ihres Begriffs ist. – Aber kein absoluter Anfang, sondern Glied in dem
Kreise der Philosophie! Vgl. Logik: „Einleitung“: „Phänomenologie des
Geistes“ = Bewußtsein in seiner Fortbewegung vom ersten unmittelbaren
Gegensatz seiner und des Gegenstandes bis zum absoluten Wissen. Dieser
Weg geht durch alle Formen des Verhältnisses des Bewußtseins zum Objekt
und hat den Begriff der Wissenschaft zum Resultate. – Was ist das Verhältnis
des Bewußtseins zum Objekt? Ist dies die Erkenntnisbeziehung? Oder die
Voraussetzungen der Erkenntnisbeziehungen? Die Wahrheitstheorie?
Sache und Gedanken (Sein und Denken). Die reine Wissenschaft
enthält als Befreiung vom Gegensatze des Bewußtseins den Gedanken,
sofern er ebensosehr die Sache an sich selbst ist, oder die Sache selbst,
insofern ‹sie› ebensosehr der reine Gedanke ist. Vgl. dazu die Stelle aus der
Vorrede der Phänomenologie des Geistes: das Wahre ebensosehr als Substanz
wie als Subjekt! –
Die „Einleitung“ zur Phänomenologie des Geistes also ist ein Anfang,
der nicht schon das Ganze voraussetzt. Sondern anfängt, das Problem
zu exponieren. Also nach dem Überblick auf den Grundsinn jetzt eine
Interpretation, die Lektüre ist. Hegel so zu lesen, daß das sachliche Problem
in das Fragen gebracht wird.
| Der III. Abschnitt der „Einleitung“ hat zum Thema die „Methode der B/3a
Ausführung“. Dies ist die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der „Darstel-
lung des erscheinenden Wissens“. Wie ist der Weg zur Wissenschaft (Σοφία)
schon selbst „wissenschaftlich“? [Frage nach dem „Subjekt“ der „Darstel-
lung des erscheinenden Wissens“; „Zutat“ = das Wissenschaftliche daran!!]

1. „Prüfung der Realität der Erkenntnis“? = Prüfung des erscheinenden


Wissens auf die „Realität“ des Wissens hin! „Realität“ = Wesen; also
eigentliches Wissen (wahres Wissen [in einem analogen Wortsinn wie
„wahrer Freund“, „wahres Geld“]). Das wesentliche Wissen als das
Ansichsein des Wissens im Verhältnis zum erscheinenden Wissen als
dem Wissen „für uns“.
[Die Fragestellung ist eine ontologische und zwar nach dem Sein des
Wissens. In Frage steht das Für-uns-sein des Wissens im Verhältnis zum

Z-XXIV 501

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Ansichsein des Wissens. – Von prinzipieller Bedeutung ist, daß Hegel
hier die Unterscheidung von Ansichsein und Fürunssein (Wesen und
Erscheinung), die wir gewohnt sind vom Wissen her zu begreifen, auf
das Wissen anwendet.] –
Das Für-uns-seiende, d. i. erscheinende Wissen aber ist nicht schlecht-
hin „falsch“ und das ansichseiende Wissen nicht schlechthin „wahr“.
„Stimmigkeit“ (im nivellierten Sinne auf das nivellierte „Seiende“
angewandt) steht nicht in Frage; wohl ‹aber› Stimmigkeit in Bezug auf
das wahrhaft-Seiende.
Die „Ontologie des Wissens“ eingestellt in den alles Seiende betref-
fenden Unterschied von „Wesen“ und „Erscheinung“!! „Prüfung“ ist
Prüfung, inwieweit die „Erscheinung“ des Wissens auf das „Wesen“ des
Wissens hin zielt; Prüfung seiner Realität als der Entelechiekraft der
Realität in ihm.
2. Der „Maßstab“ ist das Ansich des Wissens; = die Wissenschaft (Σοφία).
Widerspruch im Begriff der „auftretenden Wissenschaft“ – „Selbstvor-
aussetzung der Philosophie“ für die „Einleitung in die Philosophie“!??
B/3b 3. | Aufnahme der abstrakten Bestimmungen von „Wissen“ und „Wahr-
heit“ am „Bewußtsein“!
Wissen = Fürunssein oder Sein für ein Anderes.
„Wahrheit“ = hier nicht gleich eine Bestimmung einer Erkenntnis oder
eines Satzes, sondern = wahrhaftiges Sein von Seiendem; = Ansichsein.
Der vorläufige, „abstrakte“ Unterschied von „Wissen“ und „Wahrheit“
wird vom Seienden her gemacht; wohl im „Bewußtsein“, aber vom Sei-
enden her formuliert: Wissen = ein Sein von Etwas für ein Bewußtsein.
„Wahrheit“ = Ansichsein.
4. Untersuchung der „Wahrheit“ des Wissens? Heißt nicht der „Stim-
migkeit“ des Wissens, sondern des Ansichseins!!! Widerspruch
eines „Ansich-für-uns“!
Wer ist der „für uns“? Wir die Prüfenden, Philosophierenden. Wissens-
idee und Seinsidee als „Thema“? 1) „Wir“, die Prüfenden, müssten das
Ansichsein des Wissens, die Wissenschaft (Σοφία) voraushaben, wo es
hier doch um das Auftreten der Wissenschaft geht; 2) und ferner wäre das
Ansichsein, das Wesen des Wissens, die Wissenschaft (Σοφία) „für uns“
und also nicht „an sich“. Der „Maßstab“ wäre ein von außen applizierter
und „fiele in uns“. Das „Wesen“ des Wissens, das im erscheinenden
Wissen „steckt“, muß in ‡ ihm selbst liegen. „Notwendige Anerkennung“
des Maßstabes ist nur dort, wo das „Geprüfte“ als Erscheinung an seinem
„Wesen“ gemessen wird!!
‡ ‹Betonung dieses Satzes durch einen doppelten vertikalen
roten Strich›

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.
5. „Natur des Gegenstandes der Untersuchung“ = Natur des „Bewußt-
seins“! [Ist dies „Immanenz“? Keine intentionalistische Deutung des
Bewußtseins als „Erlebnisstrom“ oder „inneres Erfahrungsfeld“, son-
dern als „Seele“, als Inbegriff von „Ideen“. Also keine Argumentation:
die Ansetzung eines Nicht-für-das-Bewußtsein-Seienden wird doch in
einem Bewußtseinsakt gedacht. Keine „Akt“-Problematik.] „Maßstab“
und”Prüfung“ fällt ins Bewußtsein selbst!
[„Bewußtsein“ – „Seele“ als „Seinsverständnis“, „Seinsentwurf“]

 | 9Weil die Wissenschaft sich selbst aufstellen (sich zum Auftritt bringen) B/4a
nur kann, wenn sie das Wissen, das eine unwesentliche Weise des
Wesen des Wissens ist, aufhebt in das absolute Wissen und dieses
dadurch gerade entwickelt, wenn sie nicht neben dem stehengelassenen
nichtabsoluten Wissen auftritt, sondern in diesen, es verwandelnd, –
deswegen hier eine „Darstellung des erscheinenden Wissens“!

6. Diese Darstellung (= „Phänomenologie des Geistes“) hat zum Gegen-


stand das erscheinende Wissen = das Erscheinen des absoluten Wis-
sens in der inneren Entwicklung vom gewöhnlichen zum absoluten
Wissen [[intellectus archetypus und ectypus!!? Keine fixe Trennung,
sondern Verhältnis von Erscheinung und Wesen!!?]] – Lehre (λόγος)
vom Erscheinen (Φαινόμενον) des Geistes = Phänomenologie des
Geistes = Selbstaufstellung der Wissenschaft (Σοφία) = Entwicklung
des unwahrhaften Wissens zum wahrhaften Wissen = Einleitung in die
Philosophie = Weg des natürlichen Bewußtseins zum Wissen = Weg der
Seele (als Weg zur ihrer ganzen Natur) = Selbsterfahrung = Kenntnis des
Wesens (οὐσία) der Seele.
7. Der Weg nimmt den Ausgang vom natürlichen Bewußtsein, das nur
Begriff, nicht r e a l e s Wissen ist. [[Begriff der „Realität“? Kants
Terminologie oder die heutige? These: „real“ = wesenhaft, eigentlich
seiend; reales Wissen = ein solches, das dem inneren Wesen des Wissens
entspricht, nicht den unwahrhaften Formen seiner Erscheinung!!?]]
„Negative Bedeutung“ = Untergang für das natürliche (selbstverständ-
liche) Bewußtsein. – „R e a l i s i e r u n g des Begriffs“ = Verwesentli-
chung des Begriffs! Vom vor-philosophischen Menschen her gesehen
ist der Weg in die Philosophie = Weg des Zweifels, der Verzweiflung!
Gewöhnlicher Zweifel („kritische Distanz“) und philosophischer Zwei-
fel: dieser ist ein Fahrenlassen und Preisgeben des Selbstverständlichen
und des Sichersten, ein Loslassen des als wesenhaft vermeinten Seien-

9 Die Blätter B/4 bis B/6 sind von Fink auf 2 bis 4 nummeriert.

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den überhaupt. Nicht das bislang Sichere wird unsicher, sondern viel-
mehr der Begriff von Sicherheit (Wahrheit) überhaupt. Im aufblitzenden
Licht einer neuen Idee des Sicheren und ‡ Wesenhaften versinkt das
bislang Sichere und (vermeintlich) wahrhaft Seiende ins Unwesentliche;
das erscheinende Wissen wird als erscheinendes erkannt. Dies die
Geburt der Philosophie!!
‡ ‹Betonung dieses Satzes durch einen vertikalen Strich›
B/4b 8. | Dieser p h i l o s o p h i s c h e „Skeptizismus“ (der Einleitung der Phi-
losophie) ist mehr als das Prinzip der Originalität. (Dieses ist eine
Maxime des Selbstdenkens, aber kein Prinzip der philosophischen
Wahrheit.) – Der philosophische Skeptizismus (der mehr ist als eine
originale Attitude, die sich gegen Autoritätsgläubigkeit richtet) ist
Bildung des natürlichen Bewußtseins zur Wissenschaft, ist dessen innere
V e r w a n d l u n g ins wesentliche Wissen, durch die Verzweiflung, die
den ganzen Umfang des erscheinenden Wissens betrifft; ist Prüfen
der Wahrheit, im Gegensatz zum „Prüfen geradezu“, das die Idee der
Wahrheit immer schon mitbringt. –
9. Vollständigkeit der Formen … im Fortgang und Zusammenhang
gewährleistet durch die Notwendigkeit, die der Entwicklung des erschei-
nenden Wissens zur Wissenschaft innewohnt. „Negative Bedeutung“
für das natürliche Bewußtsein ist nicht schlechterdings negativ. Dies
der Fehler des [nihilistischen] Skeptizismus. Begriff des b e s t i m m t e n
N i c h t s. [Ist damit das Problem des Nichts gestellt!?] – Die Einsicht
in die Unwahrheit eines gemeinhin gültigen Wissens entspringt erst im
Lichte einer neu aufblitzenden Idee eines eigentlicheren Wissens!??!
10. Das Ziel des Weges: wo das Wissen sich findet. (Prinzipielle Endlichkeit
des Rückgangs ins Wesen! Vgl. Aristoteles!!) U n a u f h a l t s a m k e i t
der Heimsuchung des Geistes (Rückkehr ins Wesen, in den Ursprung!?)
B e i s i c h s e i n bestimmt durch die Entsprechung von Begriff und
Gegenstand. – Das beschränkte Leben ist [gleichsam daheim, während
der Geist außer sich, in der seine Selbstentfremdung ausmachenden
Erscheinung ist.] Tod als Hinaustreiben des Beschränkten über sich
selbst. [Vgl. Hölderlin: „Daheim in sich zu bleiben strebet nur der
Pflanze Leben und das frohe Tier. Beschränkt im Eigentume sorgen sie
wie sie bestehen und weiter reicht ihr Sinn im Leben nicht, doch müssen
sie zuletzt, die Ängstlichen, hinaus und sterbend kehret ins Element ein
jedes, daß da wie im Bade sich erfrische. Menschen ist die große Lust
gegeben, daß sie selber sich verjüngen.“]10 –
Der Mensch = ontologischer Imperfekt! „Bewußtsein ist für sich selbst
sein Begriff“ = Bewußtsein ist Für sich sein und damit sich über sich

10 Hölderlin, Der Tod des Empedokles, II. Akt, 4. Auftritt.

504 Z-XXIV

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hinaustreibendes Selbstsuchen. Begriff des „Begriffs“: (Aristoteles’ τὸ
τί ἦν εἶναι!) Begriff des „Beschränkten“: das Einzelne, das Fixe, das
Gesetzte!
| Bewußtsein (als Leben des Geistes) ist bestimmt durch ein E r l e i - B/5a
d e n der Gewalt von innen (vom innersten Wesen her!). „Ruhelosig-
keit“ der Selbstsuchung! Philosophieren als L e b e n s t e n d e n z begrif-
fen [„als ein Geschehen im Dasein“ (Heidegger)] und im Kampf gesehen
mit der natürlichen Gegentendenz der [metaphysischen] T r ä g h e i t.
Reflektierter Widerstand: 1) „Empfindsamkeit“ (Meinen, Wissen, Glau-
ben ist je in seiner Art gut! [Zerstörung des einheitlichen Wesens des
Wissens!]), 2) Eitelkeit der skeptischen Vereitelung jeder Wahrheit.

III.
Der dritte Teil der „Einleitung“ „methodologisch“??
Die Methode der Darstellung des erscheinenden Wissens ist Problem.
Problem des M a ß s t a b e s = Problem des „Z i r k e l s“!! Zunächst:
„Phänomenologie des Geistes“ = Verhalten der Wissenschaft zum erschei-
nenden Wissen oder Untersuchung und Prüfung der Realität des Erkennens!?
Weg in die Philosophie setzt Philosophie voraus, nicht im pädagogischen
Verhältnis, sondern im Philosophieren selbst. Der „Zirkel“ = Prüfung des
erscheinenden Wissens setzt ein Im-Voraushaben des Wesens (Ansich) des
Wissens als Maßstab voraus. – W e g r ä u m u n g d e s Z i r k e l s:
Zunächst Erläuterung von Begriffen, die den Zirkeleinwand bestimmen:
1) Bewußtsein unterschieden von Etwas, worauf es sich bezieht. Jenes ist
Etwas für dasselbe. Begriff des W i s s e n s (formal bestimmend auch den
Begriff der Wissenschaft = Philosophie!): Sein von etwas für ein Bewußtsein.
[[= Das Sein des Seienden als Wahrsein ist in Frage, wo nach dem Wesen des
Wissens gefragt wird.]] 2) Begriff des Ansichseins: Sein des Seienden, auch
außerhalb des Erkennens. Dieses Sein (als Ansichsein) = W a h r h e i t!?
(das ὄ ν τ ω ς ὄ ν) – Aufnahme dieser Begriffe aus natürlichem Bewußtsein.
Zurückstellung ihrer Prüfung!!
| Dialektisches In-Gang-Setzen des Gedankengangs für die Wegräu- B/5b
mung des Zirkels: 1) Untersuchung der Wahrheit des Wissens = Untersu-
chung des Ansich (des Wesens) des Wissens. 2) In der Untersuchung aber
ist das Ansich Gegenstand, d. h. für uns. Widerspruch! Als Konsequenz der
Auffassung, die das Wissen nimmt wie ein fremdes Ding. (Vgl. Eingangspo-
lemik gegen die Trennung von uns und Erkenntnisvermögen!)
Bewußtsein kein getrenntes Ding, sondern Maßstab in sich selbst: in
ihm ist ein für ein Anderes! In ihm ist die Idee des Ansichseins und die
Idee des Füresseins und die Idee der Wahrheit. [[Das heißt nicht: ein
„Bewußtsein“ im psychologischen Verstande der „I m m a n e n z“, sondern
in der Seele als „Seinsverständnis“.]] – (Beisichsein) oder das wesentliche

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.
Sein des Wissens wurde bestimmt durch die Entsprechung von Begriff
und Gegenstand (als das τέλος des Weges des erscheinenden Wissens zur
Wissenschaft). Die Prüfung ist somit eine Frage nach dieser Entsprechung:
(Begriff: 1) = Wissen; 2) wesentliches Sein (τὸ τί ἦν εἶναι); Gegenstand:
1) Seiendes (Wesen, Ansich); 2) Füreinanderessein („objectum“). – Diese
Begriffe Ansich-Füreinanderessein – Begriff und Gegenstand fallen ins
Bewußtsein, in das Wissen. (An-und-fürsichsein der Sache, wenn wir den
Maßstab ihr entnehmen.))
– Begriff – Gegenstand, Maßstab, das zu Prüfende, u n d a u c h d i e
P r ü f u n g selbst liegt im Bewußtsein selbst, als S e l b s t b e w u ß t s e i n,
als Wissen, was ihm als Seiendes, als Ansich, als Gegenstand gilt. Selbstbe-
wußtsein ist latent die Prüfung. – Der Seinsentwurf von Ding und Gegen-
stand! – Die Entsprechung von Seiendem und Wissen (ὄν und ἀληθές)
(S e i n s i d e e u n d W i s s e n s i d e e) als die P r ü f u n g, die ins Bewußt-
sein fällt als die ihm einwohnende Unruhe der Philosophie. Änderung des
Wissens = Mitänderung des Gegenstandes = Mitänderung des Maßstabes.
Prüfung des Wissens = Prüfung des Maßstabes!!
B/6a | ‡ Diese dialektische Bewegung – im Selbstgespräch der Seele mit
sich über das Seiende, das Wahre, das Wesen, das Wissen und den Maßstab
des Wissens – = E r f a h r u n g (die das Bewußtsein macht). [[„Erfahrung“
nicht im kantischen (oder positivistischen) Sinne, sondern fast im Sinne
von „Lebenserfahrung“, eine „trübe Erfahrung machen“ u. dgl.]] Erfahrung
machen: etwas wird einem ein anderes!
‡ ‹Zusätzliche Betonung des Satzes durch einen vertikalen Strich›
Heraushebung eines Momentes, das den wissenschaftlichen Charakter
beleuchtet: Hegels Beispiel: Ansichsein und seine Zweideutigkeit: 1) Ansich-
sein, 2) das Füressein des Ansich! Dieses 2. auch ein neuer Gegenstand; neue
Idee der Wahrheit: „Füressein des Ansich“! – Dieser 2. Gegenstand als die
Nichtigkeit des 1. ist die darüber gemachte Erfahrung. – Üblicher Begriff
von „Erfahrungmachen“: statt etwas ein Neues, Anderes setzen. Bewußtsein
bleibt gleich. – Dagegen in der (philosophischen) Erfahrung des Bewußtseins
eine U m k e h r u n g d e s B e w u ß t s e i n s; diese ist das In-Gangbringen
der Frage nach den tragenden ontologischen Grundvorstellungen im Gan-
zen. –
Dieses Erfahrungmachen des Bewußtseins geschieht für dieses s t a ‐
t i o n ä r (es rückt ein in neue Gestalten seines Selbst- und Seinsverständnis-
ses). Dieser stationäre Charakter zeigt sich für uns, d. h. den Philosophen
(Fürunssein = Ansichsein? im Gegensatz zum Füressein!) – aber als Bewe-
gung, als Werden. Damit Weg zur Wissenschaft selbst schon Wissenschaft,
oder die Einleitung in die Philosophie selbst schon Philosophie.
Zusammengefaßt: die Erfahrung des Bewußtseins als ganze (ihrem
Begriff nach) = System = ganze Reich der Wahrheit des Geistes. Termination

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.
im a b s o l u t e n W i s s e n: Koinzidenz von Erscheinung und Wesen; Able-
gung des Scheins einer Fremdheit des Seienden für das Wissen, Koinzidenz
von Sein und Vernunft: Prinzip der Spekulation!
*
| (S. 77, erster Absatz)11 B/7a
Das Dilemma im Begriff einer „Prüfung der Realität des Bewußtseins“ ent-
stand durch die Anwendung des ontologischen Gegensatzes von Ansichsein
und Fürunssein (verkoppelt mit dem Gegensatz von Wesen und Erscheinung)
gleichsam von außen auf das Bewußtsein. Dilemma besteht darin, daß
Begriff und Gegenstand und Maßstab außerhalb des zu Prüfenden bleiben.
Die Lösung des Dilemmas besteht in der spekulativen Bestimmung der
„Natur des Bewußtseins“. „Bewußtsein“ = in sich Entwurf der Sein- und
Wissensidee; „Erklärung“.
*
Begriff, Gegenstand, Maßstab u n d P r ü f u n g s e l b s t im Bewußt-
sein!
Bewußtsein = 1) Bewußtsein des Gegenstandes und Bewußtsein seiner
selbst
= 2) Bewußtsein dessen, was ihm das Wahre ist, und Bewußt-
sein seines Wissens davon
Ist 1) und 2) dasselbe? 2) ist die ontologische Interpretation von 1). – Wissen
um das Seiende und Wissen um das Wissen um das Seiende.
In 1) ist zu unterscheiden: die Ausrichtung auf das Wahre und das
Geltenlassen von etwas als des „Wahren“. M. a. W. der Entwurf auf das
eigentliche Seiende und die vorläufige Ansetzung eines Sichgebenden-
als des Wahren!
*
Reflexion auf die Seinsidee ist von einer gewöhnlichen Reflexion, auch im
Überhaupt-Modus, verschieden!
*
„Änderung“ des Gegenstandes = Änderung der Seinsidee und damit auch der
Wissensidee und umgekehrt. = Änderung des Maßstabes, d. h. Wandel der
Idee des wahrhaften Wissens!
*

11 Seitenzahl der Jubiläumsausgabe (Stuttgart, 1927) = PhG, S. 72.

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B/8a | ‹…›12
6. In der Seele liegt die Idee des Seienden, die Idee des Seienden an sich
und des Seienden für uns!
Die „Proklamation der Seinsidee“ = „erklärt“, d. h. apriorischer Ent-
wurf von Sein. Ist dieser Entwurf unbewegt und unveränderlich? Oder
ist eine Bewegung des Entwurfs der Seinsidee möglich?
7. Zwei Möglichkeiten:
a. Wissen = Begriff; Wesen [Wahres] = Seiendes oder Gegenstand.
So ist Prüfung: ob der Begriff dem Gegenstande entspricht.
b. Wesen = Begriff (οὐσία, τὸ τί ἦν εἶναι)
Wissen = Gegenstand (ἀντικείμενον, objectum)
So ist Prüfung: ob Gegenstand dem Begriffe entspricht.
‡ Die Entsprechung von 1) Gedanke und Sein, 2) Wesen und Erschei-
nung (Ding an sich) ist die Problematik des ontologischen Entwurfs.
‡ ‹Betont durch einen doppelten roten Strich›
*
B/8b | Begriff, Gegenstand, Füreinanderessein und Ansichselbstsein fallen in das
Wissen (in das „Bewußtsein“): Maßstab in sich.
*
8. Aber auch die Prüfung selbst fällt in das „Bewußtsein“, d. h. eine Sich-
selbstprüfung des Bewußtseins; es ist nicht nur Objekt der „Untersu-
chung und Prüfung der Realität des Erkennens“, sondern auch ihr Sub-
jekt. –
Bewußtsein als Selbstbewußtsein ist die ständige (stillstehende oder
bewegte) Prüfung der Seins- und Wissensidee.
*
9. Entspricht sich die Seinsidee (als Antagonismus von Ansichsein und
Füreinanderessein) nicht selbst?
Die Ausdenkung des Widerspruchs von Ansichsein und Füreinande‐
ressein (Wesen und Erscheinung) führt zu einer „Änderung des Wis-
sens“.
Diese ist aber = Änderung des Gegenstandes. Wieso? Änderung des
Wissens besagt Änderung der Wissensidee, nicht eines bestimmten
Inhaltes.
B/9a | Einer bestimmten Wissensidee entspricht eine bestimmte Seinsidee und
umgekehrt – Änderung ist somit zwiefach!
Der Änderung der Seinsidee und Wissensidee entspricht eine Ände-
rung des Maßstabes.

12 Die Blätter B/8 bis B/10 sind von Fink auf 2 bis 4 nummeriert.

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‡ M. a. W. wo eine bestimmte Seinsidee und Wissensidee preisgegeben
wird, wird auch die Idee des Maßstabes, die Idee der Entsprechung von
Sein und Wissen preisgegeben. –
‡ Der Wandel der Seinsidee (Wissens- und Entsprechungsidee) ist die
ontologische Bewegung oder „o n t o l o g i s c h e E r f a h r u n g“.
‡ ‹Betonung der zwei Sätze durch einen langen Strich›
10. Kontrast zu Erfahrung von Einzelseiendem!
*
Hegels Beispiel: das Ansichsein wird zu einem Ansichsein-füruns und
vernichtet so das schlichte Ansichsein und ist als dessen Negation die
über das erstere gemachte „Erfahrung“.
*
„Erfahrung“ aber nicht ein reines Auffassen „anstatt“ der frühe-
ren. „Erfahrung“ als „ontologische Erfahrung“ ist eine Umkehrung
des Bewußtseins.
11. | Dies die „Zutat“, die legitime, „wissenschaftliche“ Zutat. Für das B/9b
Bewußtsein selbst zeigt sich die ontologische Erfahrung nicht als
Umkehrung des Bewußtseins, sondern als Verrückung, als Sprung. Die
„wissenschaftliche“ (= philosophische) Bedeutung ist die Bewegung
der Seinsidee in den „Erfahrungen“, die das Bewußtsein macht, das
„Thema“ ist.
12. Die Nichtigkeit des Seinsanspruches eines nicht wahrhaften (= nicht
eigentlichseienden) Wissens ist nicht ein leeres Nichts, eine Preisgabe
der Seinsidee, sondern eine Nichtigung einer bestimmten Gestalt der
Seinsidee. Hegels Beispiel: der Wandel des vermeinten „Gegenstandes“
in ein Wissen vom Gegenstand, des Ansichseins in ein fürunsseiendes
Ansichsein, dieser Wandel und diese gewandelte Seinsidee bedingt
einen neuen Entwurf von „Sein“ und „Wissen“ (und Idee des „Wesens“).
[„Gestalten des Bewußtseins“ = Stufen des Seinsentwurfs!!].
13. Der „Umstand“ des Nichts des Nichtigen = der Wandel der Seinsidee und
ihre Entelechie in allem Wandel charakterisiert die Notwendigkeit des
Weges, aber auf das „Seiende im absoluten Sinne“ hin!
14. | Die „Entstehung“ der neuen Seinsidee, der „Seinsentwurf“ ist für B/10a
das entwerfende „Bewußtsein“ „hinter seinem Rücken“ ‡ [der Mensch
existiert erst auf dem Grunde eines Seinsentwurfs und hat ihn schon
hinter sich!] – aber „für uns“, die Philosophierenden, zugänglich! ‡
‡ ‹Betonung von ‡ bis ‡ durch einen vertikalen Strich›
Die Bewegung des Seinsentwurfs ist nicht „für sich“ (= nicht für das
entwerfende Bewußtsein). Dadurch ein Moment des „Ansichseins“ in
der ontologischen Bewegung!
„Ansichsein“ hier gleichgesetzt mit „für uns sein“!??

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Im Gegensatz zum „Fürsichsein“!!
Das „Seiende“ (= das „Inhalt“ ist für das Bewußtsein); das „Entste-
hen“ der Seinsidee ist für uns, die Philosophierenden. Für das Bewußt-
sein Gegenstand. „Für uns“, Wissenschaftler (Φιλόσοφοι) als Bewegung
und Werden. [Gegenstand und „Entstand“ (Heidegger!) = intellectus
ectypus und intellectus archetypus.]
15. Weg zur Philosophie, Wissenschaft (absolutem Wissen) selbst
schon Wissenschaft.
‡ „Inhalt“: Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins = Wissenschaft
der ontologischen Erfahrung oder der Erfahrungen, die das Bewußtsein
macht auf der Jagd nach dem wahren Seienden!!
‡ ‹Betonung des Satzes durch einen vertikalen Strich›
B/10b 16. | Die „ontologische Erfahrung“ ist ihrem Begriffe nach keine „infinite“,
sondern eine das System der ontologischen Erfahrung umfassende. „Sys-
tem“ = “‹das› ganze Reich der Wahrheit des Geistes“ [‹das› ganze Reich
des wahrhaft seienden Geistes als Inbegriff von Erscheinung und
Wesen!???].
„Momente“ der Wahrheit des Geistes = Momente des Seins des Geis-
tes, aber nicht als „reine, abstrakte Momente“ des Geistes, sondern
bezogen auf die Erscheinung des Geistes (also „für das Bewußtsein“!!).
Dadurch „Momente des Ganzen (des Geistes)“ = „Gestalten des Bewußt-
seins“.
[Die „Erscheinung des Geistes“ ist als „Darstellung des erscheinen-
den Wissens“ nicht nur die Aufzeigung der „Erscheinung“ als solcher,
sondern als ihre „Prüfung“ ihre „Opferung“ und zugleich so das zum
Vorscheinkommen des Wesens des Geistes. [[„Darstellung“ heißt, z. B.
als „Darstellung“ Jesu als Kind im Tempel, seine Opferung!]]]
17. Darstellung des erscheinenden Wissens, als ontologische Erfahrung,
Bewegung der Seinsidee, ist Heimsuchung, Heimkehr in die wahre =
wahrhaftige Existenz, Erscheinung und Wesen koinzidieren, „Darstel-
lung“ koinzidiert mit „Wissenschaft vom Geiste“, diese „Koinzidenz“
als Wesen des Geistes = „absolutes Wissen“ (Einbezug des endlichen
Wissens ins unendliche, nicht Vernichtung! Das „Endliche“ als Moment
des Unendlichen!!!).
*
13
B/11a 1. | „Darstellung des erscheinenden Wissens“? = Einleitung in die Philo-
sophie. Einleitung aber ist nicht ein Beginnen mit einer Erkenntnis eines

13 Obwohl dieses Blatt nach den drei vorhergehenden Notizblättern (B/8 bis B/10) in die
Mappe gelegt wurde, stellt es den Anfang einer Reihe von Auslegungspunkten dar, die auf
B/8 mit Nr. 6 beginnen. Es ist daher zu vermuten, dass es diesen Blättern vorangestellt werden
sollte. Zahlreiche Unterstreichungen auf diesem Blatt mit Blaustift.

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gegebenen Erkenntnisgebietes. Einleitung ist nicht bestimmt durch die
Perfektivität des Erkenntnisvermögens, sondern ist erst Erhebung der
Erkenntnis zu ihrem eigenen Wesen in der Erkenntnis des wesenhaften
Seienden, ist erst die Bildung der philosophischen Erkenntnis. Einlei-
tung in die Philosophie ist Einleiten des Philosophierens als einer
Lebensbewegung, nämlich der Bewegung der Heimsuchung (der „Refle-
xion in sich“); der Bewegung des Sichheraushebens und Herauswickelns
der Seele aus dem unwahren Wissen, aus der Befangenheit im Sinnli-
chen, die Läuterung zum Geist.
Die Lebensbewegung des Philosophierens ist der radikale Skeptizis-
mus, der Weltuntergang des gemeinen Verstandes. Und unterschieden
vom statischen Skeptizismus.
Maxime der Originalität [Φρόνησις gegenüber Σοφία?]
[Hegels „existenzialer“ Begriff des Philosophierens ist vorläufig. Phi-
losophieren ist von kosmischer Bedeutung.]
Ontik des Philosophierens: Vollständigkeit der Formen, allgemeine
Charakteristik der Darstellung des erscheinenden Wissens. Statischer
nihilistischer Skeptizismus und philosophischer Skeptizismus!

1. | Methode der Ausführung der Darstellung des erscheinenden Wissens. B/12a


Darstellung = Verhalten der Wissenschaft zum erscheinenden Wissen,
und Prüfung der Realität des Erkennens.
Verhalten ist Bewerten.
Prüfen und Verhalten fordert einen Maßstab.
Problem der Methode = Problem des Maßstabes.
Maßstab für das zu Prüfende ist das Ansich (Wesen).
‹Das› unwahre Wissen = nicht eigentlichseiendes Wissen.
Die Prüfung des Uneigentlichen vom Eigentlichen aus!
Zirkel der Selbstvoraussetzung der Philosophie.
1. Einleitung des = Weg der Seele zum Selbst als Weg zum
Philosophierens eigentlichen Sein
= Darstellung des erscheinenden Wissens
= Verhalten des Wissens zum Unwissen
= Prüfung
= Problem des Maßstabes.
Auftretende Wissenschaft!

I. | Problemstellung der „Methode“: Maßstab (Selbstvoraussetzung der B/12b


Philosophie) [Hegel-Leser – natürliches Bewußtsein]
II. Wegräumung
a. Abstrakte Bestimmung des Wissens

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1. Wissen als ein Sein von Seiendem für ein anderes Seiendes
= „Sein für ein Anderes“
2. Ansichsein = Wahrheit
Dies die natürlichen Seinsbestimmungen des erscheinenden
Wissens, unmittelbares Auffassen der Seinsbegriffe: Ansich-
sein und Füreinanderessein (Wissen), im natürlichen Bewußt-
sein.
Seiendes (im Horizont des vorgefundenen natürlichen
Lebens) ist 1. Ansichseiendes
2. Füreinanderes-Seiendes.
B/13a b. | Untersuchung der Wahrheit (des eigentlichen Seins) des Wissens
scheint zu sein eine Untersuchung des Ansichseins. Aber in der Unter-
suchung wird es für uns.
Wäre das Wissen ein Ding (Seiendes), so wäre die Untersuchung des
Ansich das Fürunswerden dieses Dings.
c. Natur des Gegenstandes hebt die Trennung auf.
Das Bewußtsein gibt seinen Maßstab an ihm selbst. Ist dies nur die
Reflexivität des Bewußtseins?
Untersuchung ist Vergleichung desselben mit sich.
Bewußtsein ist an sich Füreinanderes (Für-sich-sein).
Bewußtsein gleich das Erklärende, das Sein (Wahre) Proklamierende.
Bewußtsein als S e i n s e n t w u r f ist Aufstellung des Seins für das Wis-
sen.
B/13b | Sein und Wissen
I. 1. Wissen = Begriff Prüfung = Ist das Wissen ent-‡
2. Wesen = Gegenstand (Seiendes) sprechend dem Seinsentwurf?

II. Wesen = Begriff (Ƞ੝ı઀Į) Prüfung = Ob das Wissen dem


Gegenstand = Füreinanderes Sein entspricht
= Gegenstand (ਕȞIJȚțİ઀ȝİȞȠȞ)
‡ ‹Am Rand zu dem gesamten Passus:› Ontologisches Problem
B/14a | Ansichsein – Füreinanderes Sein (Wissen)
I. Naive ontologische Charakteristik: Wissen und Seiendes
II. Thema = die Seele als Seinsverständnis,
in ihr liegen die Unterschiede von Ansichsein und Füreinanderes Sein
(oder die ontologischen Ideen).
III. Prüfung ist ontologisches Fragen nach der Entsprechung von Sein
und Wissen.

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a. Wissen – Begriff
Wesen – Gegenstand (Seiendes)
b. Wesen – Begriff (οὐσία)
Wissen – Gegenstand (ἀντικείμενον)

Reihe C:14
| (Novum?) C/1a
II. = Vorläufige Charakteristik des Begriffs der „Darstellung des erschei-
nenden Wissens“
1. Mit dem Satze: „Diese Konsequenz …“15 gibt Hegel den Blick frei
auf die G r u n d a n s c h a u u n g, die die Basis seiner Polemik darstellt
und im Hinblick auf welche die Position, von der er ‹sich› abstößt,
konstruiert ist.
Wichtig ist die Interpretation des Begriffs „Wahr“ in diesem Satz. Ent-
weder = „eigentlich seiend“, oder = „unverborgen sein“? Oder?? Viel-
leicht: Koinzidenz des eigentlich Seienden und des eigentlichen Wahr-
seins!!??! (des „wissenschaftlichen Wahrseins“!!)
2. Die Ablehnung „dieser Konsequenz …“ unter Berufung auf die „Wahr-
heit“ des u n w i s s e n s c h a f t l i c h e n Erkennens. „Unwissenschaft“
– „Wissenschaft“; sonstiges Wahres – „absolut Wahres“: diese Neben-
einanderstellung verkennt nach Hegel die i n n e r e E i n h e i t s -
w e i s e d e s W i s s e n s und innere Einheitsweise der W a h r h e i t
[(ist eine Art Averroismus!!)]. „Trüber Unterschied“ = auf dem Boden
der mitgebrachten „natürlichen Vorstellungen“ von Sein, wahrem Sein,
Wissen, Wahrheit. Statt dessen: Aufstellung der Begriffe! –
‹Am Rand neben Absatz 2:› Vgl. Aristoteles „Wissenschaft“ = Σοφία
3. „Verwerfung“ der mitgebrachten und in der „Kritik“,
| d. h. dem pseudokritischen Räsonnement benützten „u n k r i t i - C/1b
s c h e n“ Vorstellungen von Absolutem, Sein, Erkennen, Objektivem,
Subjektivem für den Philosophen (Wissenschaftler) möglich?? Sind sie
nicht „Betrug“? D. h. für ein pseudophilosophisches Argumentieren, das
diese Begriffe wie erprobte nimmt.
Hegels Begriff der Philosophie = Selbstaufstellung im Sichselbstge-
ben der Grundbegriffe!! Sprung aus dem „Selbstverständlichen“.
4. Gemessen an der „Wissenschaft“ (Σοφία) ist das unwissenschaftliche
Wissen = „leere Erscheinung“. Aber doch kein Verzichtenkönnen der

14 Die Blätter dieser Reihe wurden alle hälftig zusammengefaltet.


15 Hegel, „Einleitung“, Phänomenologie des Geistes, Jubiläumsausgabe (Stuttgart 1927),
S. 69 (= PhG, S. 65): „Diese Konsequenz ergiebt sich daraus, daß das Absolute allein wahr,
oder das Wahre allein absolut ist.“ Vgl. Beil. I unten, 15.

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Philosophie auf die A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit dem unwissen-
schaftlichen Wissen. Sie kann es nicht s t e h e n l a s s e n. M. a. W. die
Philosophie entspringt, indem sie im Sprung aus dem gängigen, „natür-
lichen“, selbstverständlichen Wissen herausspringt, ihm „entspringt“ im
Sinne von Entkommen. Sie ist so durch den Gegensatz zu jenem
bestimmt. (Dies der Grund für Hegels „Polemik“.)
Als „auftretende“ ist die Wissenschaft selbst „Erscheinung“. Inwie-
fern? 1) Weil sie „auftritt“, d. h. beginnt, nicht schon bei sich
ist; 2) wo sie auftritt: im „unwissen-
C/2a | schaftlichen“ Felde, 3) wogegen sie auftritt: gegen das unwissen-
schaftliche Wissen. – „Auftreten“ = Herauskommen. Herauskommen ist
Sichentfalten; aber noch nicht Entfaltetsein, ist Werden!
Die „auftretende“ Wissenschaft hat im Abstoß vom unwissenschaft-
lichen Wissen dieses außer sich gelassen und es nicht vermocht einzu-
behalten. Dieses U n v e r m ö g e n bestimmt den Begriff der „auftre-
tenden“ Wissenschaft! – Hegel wendet sich schon in seiner „Polemik“
gegen die Auffächerung des Erkennens in „Arten“ u. dgl.; gegen alle
polytomischen Schemata weist er hin auf die innere Einheit und Gänze
des Erkennens. Also keine „fixe“ dualistische Einteilung des Wissens
in unwissenschaftlich und wissenschaftlich!! Sondern ein Begreifen des
Verhältnisses von Unwissenschaft und Wissenschaft [vorphilosophische
Einstellung und Philosophie] am Leitfaden des Begriffs „E r s c h e i -
n u n g“.
[[Erscheinung und „Schein“: Erscheinung = Äußerung eines Wesens.
Antiker Begriff: Φαινόμενον 1) das Hereinstellen des Seienden in die
Helle der Ἀλήθεια; 2) das Nach-Außen-gehen eines Wesens (eines
Seienden) (vom Inneren an die Oberfläche der eigenen Gestalt kom-
men!!).
C/2b | Hegels Begriff meint vor allem ein Verhältnis des Seienden zu seinem
Wesen (zu seinem eigentlichen Sein). – „Erscheinung“ als dialektischer
Fundamentalbegriff!!: Äußerung a l s O f f e n b a r u n g u n d V e r -
b e r g u n g! Das Sein des Seienden ist „Erscheinen“. Wesen ist, indem
es im „Unwesen“ erscheint. Die Erscheinung nicht ohne die in ihr ver-
borgene Wesenheit, das Wesen nicht die äußernde Erscheinung! Hegel
kämpft gegen isolierende Fixationen des Wesens und der Erschei-
nung.]]
Dieser Begriff von „Erscheinung“ ist für Hegels Ansetzung des Ver-
hältnisses von unwissenschaftlichem und wissenschaftlichem Wissen
zugrundezulegen!! „Gleichgültig“ = es gilt gleich, das unwissenschaft-
liche Wissen (sofern es befangen ist in den „natürlichen Vorstellungen“,
d. h. Vorurteilen über Absolutes, Erkennen, Ansich, Wahrheit) Erschei-

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nung der Wissenschaft zu nennen oder diese als auftretend inmitten des
unwissenschaftlichen Wissens.
5. Die Wissenschaft kann sich vom unwahren Wissen nur befreien durch
Gegenwendung, d. h. durch Begreifen des Verhältnisses von Unwissen
und Wissen als eines Verhältnisses von
| Erscheinung und Wesen, und nicht durch Stehenlassen! Stehenlassen C/3a
wäre autarke Versicherung des Besserseins der Wissenschaft oder die
Berufung auf die Ahnung der Wissenschaft in der Unwissenschaft. –
Weil die Wissenschaft sich selbst aufstellen, d. h. sich zum Auftritt
bringen nur kann, wenn sie das Wissen, das eine unwesentliche Weise
(Erscheinung) des wesenhaften Wissens ist, „aufhebt“ in das absolute
Wissen und dieses dadurch gerade entwickelt, – wenn sie nicht neben,
sondern im unwissenschaftlichen Wissen „entspringt“, deswegen eine
„Darstellung des erscheinenden Wissens“!
6. ‹bricht ab›

| ‹…› als In-Gang-kommen einer Bewegung ist nicht die durchgeführte C/4a
Bewegung selbst. Die „auftretende“ Wissenschaft = das im Endlichen
anhebende „absolute Wissen“; sie ist nicht nur bestimmt durch den „Ort“
des Auftritts: das endliche Wissen, sondern auch durch die Nebenstellung zu
ihm. D. h. also: die Wissenschaft als auftretende hat ein Wissen außer sich
gelassen und noch nicht vermocht, es einzubehalten. Dieses Unvermögen
der „auftretenden“ Wissenschaft bestimmt den Begriff des „erscheinenden
Wissens“: es ist „gleichgültig“, d. h. es wiegt gleichviel: das unbewältigte
unwissenschaftliche Wissen [(d. i. das un-philosophische = in den Selbstaus-
legungen der „natürlichen Vorstellungen“ über Absolutes, Wahrheit, Ansich,
Erkennen (als Werkzeug und Medium) befangene Wissen)] „Erscheinung“
der Wissenschaft zu nennen oder die Wissenschaft selbst, sofern sie in der
unentwickelten Gestalt (d. i. durch den Gegensatz zum un-wissenschaftli-
chen Wissen bestimmt) existiert im „Auftreten“.
„Erscheinung“ und „Schein“: wie hängt beides zusammen?
| Erscheinung als „Äußerung“ des Wesens?? Dies überhaupt das Ur- C/4b
modell Hegelschen Denkens. Antiker Begriff des Φαινόμενον: das sich
Zeigende, einen Anblick Bietende, Herauskommende, Hereinstehende in
den Lichtkreis menschlicher Erkenntnis‹,› das Offenbare. Zweideutigkeit
des Phänomenbegriffs: Wesensoffenbarung als Äußerung ist Verbergung.
Offenbarung und Verbergung in eins; „Erscheinung“ = dialektischer Funda-
mentalbegriff!! „Erscheinung“ nicht allein oder vorwiegend am „Für-uns-
Sein“ des Seienden begriffen (Wahrsein als Sein des Seienden), sondern
begriffen als ein Sein des Seienden selbst: das Seiende ist, indem es sich
äußert, „erscheint“; das Wesen ist, indem es im Unwesen erscheint; die
Erscheinung als das Unwesen des Wesens gehört zum Wesen und dieses ist als

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Unwesentlichung. Die Erscheinung, die nicht die Sache (d. h. das Absolute)
selbst ist, ist nicht ohne die Sache, und die Sache nicht ohne die Erscheinung.
Hegel nimmt die Erscheinung nicht isoliert und auch
C/5a | das Wesen nicht isoliert, kennt keinen Dualismus von Wesen und Erschei-
nung, sondern kämpft gegen die „statische“ = „fixe“ Trennung. Die Erschei-
nung ist das Wesen, sofern dieses in der Bewegung der Äußerung (des
„Sichanderswerdens“) ist. Die Erscheinung auf das Wesen hin und das Wesen
als einbehaltend („aufhebend“) die Erscheinung begriffen, ist in Hegels
Begriff der „Vermittlung“ als Prinzip ausgesprochen. (Vgl. „Vorrede“
S. 25)16 –
Die „Wissenschaft“ kann sich vom unwahren Wissen nur befreien
durch Gegenwendung, nicht durch Stehenlassen. „Stehenlassen“ aber wäre
Verwerfen wie der Hinweis auf die im unwahren Wissen angelegte „Ahnung“
eines „höheren“ Wissens. Bloße „Versicherung“ ist Berufung auf ein Sein.
Seiend ist aber auch das „nicht wahrhafte“ Erkennen. Berufung auf die
„Ahnung“ aber wäre Berufung auf eine „schlechte Seinsweise ihrer selbst“.
„Aus diesem Grunde …“ = d. h. weil die Wissen-
C/5b | schaft „sich selbst aufstellen“ nur kann, wenn sie das Wissen, das die
„Erscheinung“ des absoluten Wissens ist, aufhebt in das Absolute und dieses
gerade „entwickelt“; m. a. W., wenn sie das „unwahrhafte Wissen“ bewältigt
und nicht stehen läßt.
V.
Die Darstellung (der „Phänomenologie des Geistes“) hat zum Gegenstand
das erscheinende Wissen = d. i. das Erscheinen des absoluten Wissens in
der inneren Entwicklung des Wissens bis zum absoluten Wissen. Lehre vom
erscheinenden Wissen = „Phänomenologie des Geistes“ = Selbstaufstellung
der Wissenschaft (Σοφία) = Entwicklung des „unwahrhaften Wissens“ zum
wahrhaften Wissen = Einleitung in die Philosophie = „Weg des natürlichen
Bewußtseins, das zum Wissen dringt“ („Weg der Seele …“).17 „Weg der
Seele“ = „Selbsterfahrung“ = „Kenntnis desjenigen, was sie an sich selbst ist“
= Wesen (οὐσία) der Seele!
VI.
Der Weg vom „natürlichen Bewußtsein“ (= unphilosophische Existenz-
C/6a | weise) zur Selbsterfahrung der Seele nimmt seinen Ausgang vom natürli-
chen Bewußtsein, das „nur Begriff des Wissens, oder nicht reales Wissen“
ist. [Was heißt hier „real“??? Ist es noch Kants Terminologie oder schon
die heutige; heißt es „wesenhaft“ oder „wirklich“?? Ich meine wesenhaft =
eigentliches Wissen, reales Wissen = ein solches, das dem inneren Wesen des
Wissens entspricht, nicht den unwahren Formen der Erscheinung!?!?!]

16 Seitenzahl der Jubiläumsausgabe (Stuttgart 1927) = PhG, S. 20.


17 PhG, S. 67.

516 Z-XXIV

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.
Die Einleitung in die Philosophie als der Weg des „natürlichen Bewußt-
seins“ zur Wissenschaft ist zunächst für dieses Untergang („negative
Bedeutung“); „Verlust seiner selbst“. „Realisierung des Begriffs“ = Verwe-
sentlichung des Begriffs!?!! Vom „natürlichen Bewußtsein“ (= dem vorphi-
losophischen Menschen) her gesehen ist der Weg in die Philosophie der „Weg
des Zweifels“ oder eigentlicher „Weg der Verzweiflung“,18 der gewöhnliche
Zweifel ist nur kritische Distanzierung! Anders der philosophische Zweifel:
er ‹ist› ein Fahrenlassen und Preisgeben des Selbstverständlichen und des
Sichersten, ein Loslassen des wesenhaft vermeinten Seienden überhaupt.
Nicht das bislang
| Sichere wird unsicher, vielmehr der Begriff von Sicherheit überhaupt. Im C/6b
aufblitzenden Licht einer neuen Idee des Sicheren und Wesenhaften versinkt
das bislang Sichere und (vermeintlich) wahrhaft Seiende ins Unwesentliche;
das erscheinende Wissen wird a l s erscheinendes erkannt. Dies die Geburt
der Philosophie!
Dieser „Skeptizismus“ der auftretenden Wissenschaft, d. h. der Ein-
leitung der Philosophie, ist mehr als bloß das Prinzip der Originalität
(Selbständigkeit) des Denkens. Dieses Prinzip ist eine Maxime der philo-
sophischen Persönlichkeit, aber noch kein Prinzip der philosophischen
Wahrheit. „Wahrheit“ ist nicht = nicht Autoritätsgläubigkeit [gegen das
Prinzip der „Aufklärung“!]. Der philosophische Skeptizismus (der also mehr
ist als die originale Attitude, deren Skeptizismus sich gegen „Autorität“
richtet), ist Bildung des natürlichen Bewußtseins zur Wissenschaft durch die
Verzweiflung, die den ganzen Umfang des erscheinenden Wissens betrifft; ist
„Prüfung der Wahrheit“
| im Gegensatz zum „Prüfen geradezu“, das schon weiß, was Wahrheit ist, und C/7a
mit dieser mitgebrachten Idee von Wahrheit sein kritisches Geschäft beginnt.
VII.
„Die Vollständigkeit der Formen …“19 im Fortgang und Zusammenhang
einer „E n t w i c k l u n g“! Dieser Weg hat nicht nur eine „negative Bedeu-
tung“, die er hat für das natürliche Bewußtsein. Ein Wissen von Untergang
der natürlichen Welt wird eine Form auf dem Wege der Einleitung der Phi-
losophie sein. –
– Begriff des bestimmten Nichts. Negation von etwas! Kritik des Skepti-
zismus: dogmatisch in der Setzung und Fixation des Nichts!!?! – Der Skep-
tizismus als Entwertung des vermeintlich gültigen Wissens des natürlichen
Bewußtseins bleibt bei der „Abstraktion“ der Unwahrhaftigkeit dieses Wis-
sens stehen.

18 PhG, S. 67.
19 PhG, S. 68.

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Begriff der „bestimmten Negation:” die Einsicht in die Unwahrheit des
gemeinhin gültigen Wissens entspringt erst im Lichte einer neu aufblitzenden
Idee eines eigentlicheren Wissens!???!?
C/7b | VIII.
Das Ziel des Weges!? Wo das Wissen nicht mehr über sich hinausgeht, wo es
sich selber findet. Rückkehr ins Wesen ist prinzipiell kein „unendlicher Weg“
[(vgl. Aristoteles’ prinzipielle Endlichkeit des Rückgangs in die Gründe
und Ursachen des Seienden!)]. Fortgang zum Ziel „unaufhaltsam“, Weg
der Entelechie!? Seiendes, „das beschränkt ist auf sein natürliches Leben“:
= Stein, Pflanze, Tier!?! Tod als Hinausgetriebenwerden. [[Vgl. Hölderlin:
Tod des Empedokles. „Daheim in sich zu bleiben strebet nur – der Pflanze
Leben und das frohe Tier. – Beschränkt im Eigentume sorgen sie – wie
sie bestehen, und weiter reicht ihr Sinn – im Leben nicht, doch müssen sie
zuletzt, – die Ängstlichen, hinaus, und sterbend kehret – ins Element ein
jedes, daß es da – zu neuer Jugend, wie im Bade sich erfrische. Menschen ist
die große Lust gegeben, daß sie selber sich verjüngen:”]]20 – Der Mensch (das
„Bewußtsein“) = ontologisches Imperfekt! „Bewußtsein ist für sich selbst
sein Begriff“?? = „Bewußtsein ist
C/8a | Fürsichsein und damit sich über sich hinaustreibendes Selbstsuchen. Begriff
des „Begriffs“? [Vgl. Aristoteles’ τὸ τί ἦν εἶναι.] (Wohl zu beachten den
gegensätzlichen Gebrauch des Begriffes „Begriff“ S. 71, Z. 13 von unten und
dann S. 72, Z. 2–3 von oben!)21
– „Hinausgehen über das Beschränkte“!?? Begriff des „Beschränkten“ =
das Fixe, das Gesetzte! Das Seiende im Geradezumeinen!?! Das Einzelne.
Problem des Einzelnen in der Theorie der αἴσθησις (in der „sinnlichen
Gewißheit“) entwickelt! – Bewußtsein als „Leben des Geistes“ ist bestimmt
durch ein Erleiden der Gewalt der inneren Unruhe des Sichselbstsuchens.
Keine Gewalt von außen, sondern von „Innen“ (vom innersten Wesen her!).
– Ruhelosigkeit des in die Bewegung seiner Selbstsuchung gekommenen
„natürlichen Bewußtseins“. – ”Insofern es eine Art ist“?? Die natürliche
Gegentendenz des Lebens gegen die Unruhe der philosophierenden Tendenz
[(Philosophie als Lebenstendenz begriffen, als „Geschehen im Dasein“!)] ist
die Gedankenlosigkeit und die Trägheit. [Dies das Prinzip des inneren
Widerstands, „Stagnation des Seinsverständnisses“, Aufbruch und Ansied-
lung als Momente des Spiels des Fürsichseins.]

20 Vgl. B/4b.
21 PhG, S. 67, Verweis auf die Sätze: 1) „Das natürliche Bewußtsein wird sich erweisen, nur
Begriff des Wissens oder nicht reales Wissen zu Sein.“ und 2) „Sondern er ist die bewußte
Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden Wissens, dem dasjenige das Reellste ist, was
in Wahrheit vielmehr nur der nichtrealisierte Begriff ist.“

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| Reflektierter Widerstand: 1) Empfindsamkeit (Meinen, Wissen, Glauben ist C/8b
je in seiner Art gut. Seinlassen!) 2) Eitelkeit der skeptischen Vereitelung der
Wahrheit überhaupt. –
IX.
„Methode der Ausführung“ in der Darstellung des erscheinenden Wissens
oder in der Einleitung der Philosophie!? Problem des „Maßstabes“ = oder
des „Zirkels“ ist das Problem der Methode. Zunächst: „Phänomenologie
des Geistes“ = Verhalten der Wissenschaft zum erscheinenden Wissen oder
Untersuchung und Prüfung der Realität des Erkennens!?
= Der Weg in die Philosophie setzt Philosophie voraus, nicht im päda-
gogischen Verhältnis, sondern im philosophierenden Selbst!! – Der „Zirkel“
lautet: Prüfung der Realität (= des Wesens) des Erkennens setzt voraus als
Maßstab, an welchem das erscheinende Wissen gemessen wird, das Zuvor-
schonhaben des Wissens als des Wesens oder des Ansich. –
Wegräumung dieses Widerspruchs: zunächst <bricht ab>

Reihe II:22
| Einleitung. II/1a
Wechsel der Interpretation. Vorrede als allgemeine Reflexion auf die Phä-
nomenologie des Geistes „Vom wissenschaftlichen Erkennen“! Methodolo-
gie? Aufstellung des Begriffs der Wissenschaft. Methode = μέθοδος = Bewe-
gung. Der Wahrheit und des Seienden. Spekulation ist Erkenntnis der
Bewegung der Fundamentalbegriffe des Seienden und der Wahrheit. Nicht
Geschichte statt Natur, nicht eine ontische Bewegung, sondern eine ontolo-
gische, die Metaphysik der Bewegung des Begriffs des ὄν. – Vgl. Enzyklo-
pädie: Phänomenologie des Geistes = wissenschaftliche Geschichte des
Bewußtseins, 1. Teil der Philosophie als die Erzeugung ihres Begriffs. – Vgl.
Logik, Einleitung, Phänomenologie des Geistes = Gegensatz von Bewußt-
sein und Gegenstand. [Trennung] Sache und Gedanken.
– Die Auslegung der Einleitung soll die durchgängige Interpretation
aller Sätze sein. Keine Vorwegnahme der Hegel-Position, sondern Aufbau.
Exposition des Problems.
[Referat] – Natürliche Vorstellung über den Anfang der Philosophie. –
Warum das Absolute nicht gegeben ist. – Damit Problem der Zugänglichkeit.
Sache der Philosophie: = wirkliches Erkennen dessen, was in Wahrheit
ist. (Dies die erste Definition des Absoluten.) Das in Wahrheit-Seiende,
ὄντως ὄν. Gibt es auch ein un-wirkliches Erkennen des wahrhaft Seienden?

22 Diese Reihe besteht aus verschiedenen Blättern, die außerhalb des Innenumschlags in der
großen Mappe hinten zusammengelegt wurden.

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Und ein wirkliches Erkennen des Scheins? Erkenntnis als Mittel. Vermitt-
lung???
Arten der Erkenntnis. Auffächerung? – An sich = das Absolute. Tren-
nung! von Seiendem und Erkennen!! Das Erkennen als seiend = als
II/1b | wahrhaft seiend.
‹Das› Absolute allein wahr = das eigentlich Seiende ist allein in einem
wahrhaftseienden Erkennen zugänglich.
‹Das› Wahre allein absolut = das in wesenhaftem Erkennen Erkannte ist
allein wesenhaft seiend.
Seinsrang des Gegenstandes und Seinsrang der Erkenntnis.
Absolutes Wissen seiendstes Wissen vom Seiendsten.

II/2a 1. | Keine ontische Bewegung, sondern die Bewegung des Seienden selbst.
Der Begriff des Seienden und der Wahrheit bewegt sich in der Phänome-
nologie des Geistes.
2. Die erste Definition der Sache der Philosophie.
Damit das entscheidende Verhältnis im Blick, das Hegel verbindet mit
der antiken Philosophie: Sein und Schein, Dasein und Wesen.
3. Falsche Vermittlung.
Trennung der Erkenntnis und des Seienden.
Sein der Erkenntnis = und Sein des Seiendsten.
‡4. Dingontologische Auffassung der Erkenntnis.
Skeptizismus argumentiert.
5. Leimrute: das Einfangen des Absoluten; wenn die Erkenntnis als seiende
außerhalb des Seins des wahrhaft Seienden ist, dann kann sie nicht
wirklich erkennen.‡
‡ ‹Vertikal am Rand neben 4 und 5:›
Überwindung der Übereinstimmung
II/2b | ‹Das› Absolute allein wahr = das Seiendste ist allein seienderweise gewußt.
Wahrsein ist.
Das Wahre allein absolut?
Heißt das, das wahrhaft Seiende allein absolut? Das wäre eine Tautolo-
gie. Oder heißt es, ‹daß› das seienderweise Erkannte auch allein das
Absolute ist? Dass νοεῖν und εἶναι zusammengehören. τἀυτὸ τὸ νοεῖν
καὶ εἶναι.
*
Unphilosophische Vorstellungen über die Philosophie:
Man könnte (ein philosophischer Hochmut) dieses Vorurteil beiseite stoßen –
wenn man im Sprunge schon dieses seiendste Wissen vom Seiendsten hätte.
Also kein Eingehen auf diese Vorurteile und das Geben der Begriffe (des
Absoluten usw.).

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Auftretende Wissenschaft.
| Die Gliederung der Einleitung:23 II/3a
1. Kritik der falschen Vermittlung:
Erkennen als Mittel, d. h. das Erkennen und das Seiende sind disparat.
Das νοεῖν und das εἶναι sind verschieden. Das Erkennen ist ein dem Sein
äußeres. (Nicht der Gegensatz, der zur Subjekt-Objektrelation gehört!)
Das S e i n d e s E r k e n n e n s? Steht die Erkenntnis als seiende
außerhalb des wahrhaft Seienden? Dann ist sie ein „un-wirkliches“
Erkennen des wahrhaft-Seienden. Ein endliches Erkennen des Absolu-
ten. Oder sie ist ein seiendes Erkennen des Seiendsten.
Seiend ist nicht der Gegenbegriff zu nicht-seiend, sondern zu bloß
anscheinend-seiend (μὴ ὄν)!
Eine Erkenntnis, die selbst nicht ὄντως ὄν ist, ist unvermögend, das
Seiendste zu fassen.
Denn nur die seiendste Erkenntnis ist eine solche vom Seiendsten.
Eine seiendste Erkenntnis aber, die außerhalb des „am meisten“ Sei-
enden wäre, müßte selbst wieder eine absolute sein. Also Unbegriff von
zwei Absoluta.
| Wir sind das letzte Mal im ersten Satz hängen geblieben. Aber er ist ein II/4a
entscheidender Satz, über dessen Bedeutung man allzu leicht hinwegliest.
1. Definition des Absoluten.
Begriff der Philosophie
w i r k l i c h e s E r k e n n e n d e s w a h r h a f t S e i e n d e n.
Damit ist das Ziel angegeben und das Problem des Weges.
Die wahrhaft seiende Erkenntnis des wahrhaft Seienden. Die Erkenntnis
soll ins eigentliche Sein kommen in der Erkenntnis des eigentlich Seien-
den.
Also gegeben ist die nicht wahrhafte Erkenntnis und das nicht wahrhafte
Seiende, die erscheinende Erkenntnis und das erscheinende Seiende.
Und daraus resultiert nun die Vorstellung von der Vermittlung.
Erkennen als Mittel. Philosophie als Vermittlung!
Weil das eigentlich Seiende nicht gegeben ist, soll es eingefangen
werden, soll es bearbeitet ‹werden›. Die aktive und passive Interpretation der
Erkenntnis als eines Mittels.
| Die Gliederung der Einleitung: II/5a
I. Kritik des Kritizismus
(Absolutes Seiendes) und Wahrheit. Wahrheit ist absolute Wahrheit als
Offenbarkeit des am meisten Seienden in einem am meisten Wissen
seienden Wissen.

23 II/3a und II/4a sind auf zwei auseinandergerissenen Hälften desselben Blattes geschrieben.

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Erscheinung Seiendes
erscheinendes Wissen und ansichseiendes = wesenhaftes Wissen.
II. Darstellung des erscheinenden Wissens?
III. Methode der Ausführung: „Prüfung der Realität des Erkennens“

Die Realität des Erkennens = die Wesenhaftigkeit des Erkennens, das Wahr-
haftsein des Erkennens. (Dies ist nicht Stimmigkeit, sondern Seinsmächtig-
keit des Erkennens!)
II/5b | ‹Das› Absolute allein wahr?: das eigentliche Seiende ist allein wahr.
Dieser Satz ist die Basis der Kritik des Kritizismus. Der Kritizismus stellt
das Erkennen dem Absoluten gegenüber.
Erkennen, das auf Unwirkliches geht, etwa das Mathematische, ist
doch auch wahr!
‡ Ein Seiendes Erkennen ist nicht allein ein solches, das ist, das vorhanden
ist, sondern das wesenhaft ist.
Erkennen, das außerhalb seines Wesens ist, ist nichtiges Erkennen.
Nur das Absolute als das eigentlichseiende ist wahr, ist in einem
Erkennen zugänglich, das wesenhaftes Erkennen ist.
Und nur das wesenhaft Erkannte, d. i. in einem wesenhaften Erkennen
Erkannte, ist absolut.
‡ ‹Vertikal am Rand neben den vier hier aufeinanderfolgenden Sät-
zen:› Damit hat Hegel einen Wahrheitsbegriff, der über den der
Übereinstimmung (der bloßen Richtigkeit) hinausliegt.

II/6a | Die Voraussetzungen der falschen „Vermittlung“:


1. Vorstellungen (= Meinungen) vom Erkennen als Mittel
2. Distanz des Erkennenden und des Erkennens
3. Vorzüglich: das wahrhaft Seiende ist dort
unser Erkennen ist hier
und daß das Erkennen etwas Seiendes (etwas wesenhaft Seien-
des, etwas Reelles) sei.
Wahrheit ist nicht gleich Offenbarkeit, sondern die Offenbar-
keit von wahrhaft Seiendem.
Hegels Argument ist nur wirksam, wenn der eigentliche Wahrheitsbe-
griff begriffen wird.
Wahrheit ist das Offenbarsein des wahrhaft Seienden, nicht des bloß
erscheinenden Seienden.
‡ Wenn Erkennen selbst nicht wahrhaft seiend ist, dann könnte man meinen,
daß es außerhalb des wahrhaft Seienden stehen könnte.

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Aber ein nichtiges Erkennen des wahrhaft Seienden ist kein treffendes.
Es ist höchstens Ahnung. Das endliche Ahnen des Unendlichen.
‹Das› Absolute allein wahr
I. = das eigentlich Seiende ist allein wahr.
II. = das Wahre allein absolut.
‡ ‹Vertikal am Rand neben den Sätzen von hier bis zum Ende der Seite:› Ist
das Wesen der Erkenntnis die Übereinstimmung?
endliches Wissen vom Absoluten
absolutes Wissen vom Absoluten = Wissen des Absoluten selbst.
| Natürliche Vorstellung? Eine Vorstellung überhaupt des natürlichen Lebens II/6b
oder erst eine solche der historischen Situation (Descartes – Berkeley –
Kant)? Warum ist diese Vorstellung natürlich? Weil die Philosophie zunächst
keinen Gegenstand hat. Die Zoologie untersucht die Tiere, die Botanik die
Pflanzen. Hier wäre es sinnlos, eine Methode voranzustellen. Methodologie
in den positiven Wissenschaften! Aber Philosophie = Weisheit, höchste
Erkenntnis? Wovon? Des Absoluten! Warum ist es natürlich, hinsichtlich des
Absoluten so zu tun? Weil dieses nicht ein Gegebenes ist. Die Ungegebenheit
des Absoluten läßt überhaupt erst die Frage des Zugangs offen.
‡ „Sache der Philosophie“ = ‹das› wirkliche Erkennen dessen, was in
Wahrheit ist.
das eigentliche Erkennen des eigentlich Sei-
enden.
Gibt es auch 1) wirkliches Erkennen des nichtig Seienden?
und 2) nichtiges Erkennen des wahrhaft Seienden?
In 1) = philosophische Erkenntnis der Erscheinung als solcher,
2) = Ahnung des Absoluten.

Arten: Hegel stellt die Arten der Erkenntnis in Frage. Aber hat die Phänome-
nologie des Geistes nicht selbst verschiedene Arten des Bewußtseins?
Erkennen und Absolutes = Ansich (Ansichseiendes) = (Substanz)
‡ ‹Vertikal am Rand neben den von hier bis zum Ende der Seite aufeinan-
derfolgenden Punkten:›
Trennung des Bewußtseins von Seiendem.
Erkennen = ein Mittel? V e r m i t t e l t ist das Seiende. Ist diese
Vermittlung das Gegenteil der echten Vermittlung? Inwiefern? Also
sie vermittelt das Seiende nicht an ihm selbst.

| In der Enzyklopädie findet sich derselbe Gedankengang wie am Beginn II/7a


der Einleitung der Phänomenologie des Geistes: die Polemik gegen Kant.
Nämlich die: 1) Erkenntnis der Erkenntnis ist doch selber ein Erkennen.
2) Annahme eines Erkenntnisvermögens vor dem wirklichen Erkennen (Ver-

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mögen, Kraft, subjektives Erkennen [= ein solches, das untersucht werden
kann, ohne auf die Natur des Seienden einzugehen!!]).

Was will die Einleitung?


Sie exponiert das Problem als die Prüfung der Realität des Erkennens.
Darstellung des erscheinenden Wissens ‡
Prüfung der Realität des Erkennens
‡ ‹Vertikal neben diesen zwei Punkten:› W i s s e n
und Schein
Hegel hat gerade nicht den neuzeitlichen Begriff der Richtigkeit, son-
dern ‹den› der Wesenhaftigkeit des Wissens.

II/8a | unwirkliches Erkennen des in wahrhaft seiender Weise Seienden


= die Ahnung.
wirkliches Erkennen des nicht wahrhaften Seienden.
Die Formen der Verstandesbegriffe und der Anschauungen deformieren.
Dies der metaphysische ‹Begriff› ungeheuer plastische
des Absoluten Vergröberung
Das Wahre ist das ‹…›
Leimrute Werkzeug – Medium
I. Vermittlung des räsonnierenden Denkens.
II. Vermittlung des spekulativen Denkens.

Das Seiendste wird nicht einem Erkennen zugänglich, das orientiert ist auf
ein Totes und Unlebendiges, auf den Begriff in seiner Unbewegtheit und
Leblosigkeit, wie in der Mathematik – und auch der Schullogik.

II/8b  | Bisher ist der Gang der Vorlesung wenig befriedigend.


1. Eine Grundfrage, die gar nicht im Horizont der positiven Wissenschaft
ist, ist die Weltfrage. –
Welt ist nicht eine Fiktion der Vernunft, sondern das Hiesige, der
Schauplatz des Lebens.
Weltfrage und der Entwurf. Weltentwurf als eine Grundhaltung der
Philosophie.
Wahrheit des Seins
Sein der Wahrheit
Analyse und Spekulation
Husserls Phänomenologie ist orientiert auf die Analyse, Heideggers auf
ontologische Deskription: Analytik, Finks Philosophie auf ontologische
Setzung: Dialektik.

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.
Heideggers Philosophie hat das Vorurteil, daß Verstehen nicht nur
begrifflich ist; also einen ‹bricht ab›

| Das wesentliche Wissen, das zunächst nur auftritt, erscheint nebengeordnet, II/9a
es hat noch nicht das Nichtige in sich aufgenommen. Der Schein der auftre-
tenden Wissenschaft besteht in ihrer Nebenordnung, ihrem Herauskommen
in das Reich der Erscheinung und das Auftreten (als das Eingehen in die Zeit
und ‹den› Raum).
Darstellung: die Erscheinung als das Aufgehen der Philosophie in der
natürlichen Welt.

| Mittel-Auffassung und die dingontologische Interpretation der Erkenntnis. II/10a


Nicht nur eine natürliche Vorstellung des neuzeitlichen Geistes, sondern
immer schon ist der Skeptizismus z. B. argumentativ so verdinglichend.

1. | Einleitung? II/11a
Die übliche Interpretation geht auf die Meinung Hegels: etwa daß für
ihn ‹…›
Welches das Phänomen, welches die Grunderfahrung Hegels?
Grunderfahrung ist die Erkenntnis der Bewegung (der Wahrheit an ihr
selbst und des Seienden an ihm selbst).
Bewegung der Wahrheit = Wandlung der Wahrheit.
Worin bewegt sich die Wahrheit?
Bewegung des Seienden, die Natur des Seienden für das Wissen.
Das Grundverhältnis von Wissen und Seiendem!

| Prinzip der Auslegung: II/11b


In der bisherigen Interpretation kam es darauf an, die Grundauffassung
Hegels deutlich zu machen: die Erfahrung ‹…›
‡ Die Vorrede: = vom wissenschaftlichen Erkennen? Ist dies nicht selbst
eine Reflexion auf das Erkennen?
Thema ist wahrhaftes Sein und erscheinendes Sein.
Kritizismus überhaupt geht nur auf das erscheinende Sein.
‡ ‹Vertikal am Rand neben den hier angebrachten Punkten:›
Eine Metaphysik der Erkenntnis
Erkenntnis (Wissen) ist selbst N i c h t i g e s und S e i e n d e s.

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.
Beilage I Versuch einer Auslegung von Hegels Phänomenologie
des Geistes

Beschreibung:
Dieser undatierte, von Fink maschinengeschriebene Originaltext liegt in dem äuße-
ren Umschlag, der seine handschriftlichen Notizen enthält. Die Titelseite nennt
das genaue Thema: „Versuch einer Auslegung von Hegels Phänomenologie des
Geistes“. Die Seiten nach dem Titelblatt sind von 1 bis 18 paginiert.

Text:

I. | Exegese des Textes 1


1. | 2
Da die „Vorrede“ zur Phänomenologie des Geistes die prinzipiellste Refle-
xion Hegels über diese darstellt, wird ihre Textanalyse an den Schluß gestellt.
Die Textauslegung beginnt somit mit der „Einleitung“. Diese zerfällt
sinnhaft in drei Teile: 1) in die Polemik Hegels gegen die „Mittel“-Auffassung
der Erkenntnis; 2) in die vorläufige Charakteristik des Begriffs „Darstellung
des erscheinenden Wissens“; 3) in die Reflexion auf die „wissenschaftliche
Methode“ dieser Darstellung.
Zu 1):
Hegel beginnt mit einer Polemik. Das Wesentlichste daran ist nicht die
Auseinandersetzung mit einem bestimmten Gegner (etwa einer zeitgenös-
sischen herrschenden Auffassung; man könnte vielleicht den verflachten
Kantianismus, nicht Kant selbst als den Angegriffenen vermuten), sondern
eine Gegenstellung, Gegenwendung gegen eine „natürliche Vorstellung“.
„Natürlich“? = selbstverständlich! Besagt nicht eine zur Natur des
Menschen gehörende, im „Natürlichen Weltbegriff“ notwendig liegende
Vorstellung, sondern eine selbstverständliche, d. i. in die Problemlosigkeit
eingegangene Vorstellung über den Anfang der Philosophie. Eine bestimmte
Vormeinung über die Philosophie wird angegriffen. Dabei stellt Hegel schon
im ersten Satz einen Begriff der Philosophie auf, wenn er als ihre „Sache“
bezeichnet: „das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist“. Was heißt
hier “.. in Wahrheit..“? = in eigentlicher Weise; = „ὄντως ὄν“; und heißt
nicht: „was in der ‚Unverborgenheit‘ ist“. Das „in Wahrheit“ Seiende =
das „Absolute“.

Beilage I 527

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.
3 | Ein Motiv für die Voranstellung einer „Erkenntniskritik“ vor den Anfang
der Philosophie sieht Hegel in der zunächst gegebenen und dann reflektiv
fixierten Mannigfaltigkeit von Erkenntnisarten; d. h. in der polytomischen
Auffächerung des Erkenntnisvermögens und d. h. wieder in der Zerspaltung
des innerlich einheitlichen Wesens der Erkenntnis. Das natürliche Bewußt-
sein hat den Unterschied von alltäglichem und z. B. (positiv-) „wissenschaft-
lichem“ Erkennen, den Unterschied von Anschauung und Denken statisch
fixiert und stillgestellt.
Ein anderes Motiv sieht Hegel in der auf den Charakter der menschlichen
Erkenntnis vorgreifenden (und zwar dogmatisch vorgreifenden) Interpreta-
tion derselben als eines bedingten Vermögens (d. h. als einer endlichen
Erkenntnis im Gegensatz zu einer ebenfalls dogmatisch verstandenen unend-
lichen Erkenntnis; d. h. am Leitfaden des antithetischen Schemas von „intel-
lectus archetypus“ und „intellectus ectypus“).
Als innere Konsequenz der Auffassung, daß vor der Philosophie eine
Kritik des Erkenntnisvermögens vorangehen müsse, führt Hegel an die
schließliche Preisgabe des Absoluten als des eigentlichen Erkenntnisthe-
mas. Das Absolute wird als Gegenstand der Philosophie preisgegeben!
(Gegen Kant??)
Die der Forderung nach einer vorgängigen Erkenntniskritik zugrunde-
liegende Vorstellung von der Erkenntnis als eines Mittels, um durch dieses
das Absolute zu erreichen, führt durch den inneren Widerspruch einer
Vermittlung des Ansichseienden zur Resignation: daß nämlich durch das
Mittel das zu Erreichende in seinem Ansichsein verstellt wird und somit
keine treffende Erkenntnis desselben möglich sei. Die Erkenntnis, als Mittel
aufgefaßt, verstellt das Absolute, indem es dieses durch seine eigene Natur
des Mittelseins entstellt.
4 | Hegel weist auf den entstellenden Charakter des Mittelseins hin
im Hinblick auf drei Formen der „Mittel“-Interpretation der Erkenntnis:
1) Erkenntnis als „Werkzeug“ (d. i. der Repräsentant der „aktiven“ Auffas-
sung des Mittelseins der Erkenntnis; die Erkenntnis bestimmt durch die ihr
einwohnende Aktivität – z. B. der „reinen Verstandesbegriffe“ Kants – den
Erkenntnisgegenstand.); 2) Erkenntnis als „Medium“ für den Lichtstrahl
der Wahrheit (d. i. der Repräsentant der „passiven“ Erkenntnis-Auffassung;
die Erkenntnis „deformiert“ nicht aktiv, aber sie bestimmt durch ihr Sein
leidend den Gegenstandscharakter des Gegenstandes; „Brechungswinkel des
Lichtmediums“); 3) Erkenntnis als „Leimrute“, nicht entstellend (aktiv oder
passiv) im Sinne des Veränderns, aber entstellend im Hinblick auf das an sich
bestehende Verhältnis des Gegenstandes zur Erkenntnis: das Absolute soll
durch eine „List“ nahegebracht werden.
Die Voranstellung einer Erkenntniskritik (als die gängige, selbstver-
ständliche, „natürliche Vorstellung“ über den Anfang der Philosophie) unter

528 Beilage I

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.
der Leitung der Auffassung der Erkenntnis als eines „Mittels“ entspringt
nach Hegel einer „Bedenklichkeit“, einem „Mißtrauen“, das sich kritisch
gebärdet, ohne es wirklich zu sein: denn es stellt seine kritischen Erwägungen
an, ohne die die „Kritik“ leitenden Grundvorstellungen über das Sein, das
Ansich, die Erkenntnis usw. selbst in Frage zu stellen; es ist ein „kritisches“
Räsonnement mit unkritischen Voraussetzungen.
Auf diese Voraussetzungen weist Hegel hin und stellt deren drei heraus:
1) Erkennen = Werkzeug, Medium; 2) Unterschiedenheit unserer selbst als
der Kritisierenden und der Erkenntnis als der kritisierten; 3) „vorzüglich“ die
Voraussetzung von der Getrenntheit von Absolutem und Erkennen.
| (((Deutungsversuch des I. Teils der „Einleitung“: 5
Hegels „Polemik“ gegen die „natürliche Vorstellung“ einer der Philoso-
phie vorzuordnenden Erkenntniskritik ist in ihrer Argumentation nicht die
„Widerlegung“ einer solchen Auffassung überhaupt, sonder muß begriffen
werden als das Ringen um den Ansatz seiner Problematik; m. a. W., weil
die Phänomenologie des Geistes Hegels Einleitung in die Philosophie, und
zwar nicht in einem pädagogischen, sondern prinzipiellen Verstande, ist, ist
die „Polemik“ nichts anderes als der Abstoß, in dem Hegel sein Problem
aufstellt. Jede Philosophie stößt ab von einer gewöhnlichen, „naiven“,
selbstverständlichen Weltansicht und gewinnt in diesem Abstoß gerade erst
ihr Problem. Der Begriff der „Naivität“ (der Weltansicht des gemeinen
Verstandes usw.) ist nie ein im Horizont der Naivität gewonnener Begriff,
sondern eine philosophische Konstruktion. Diese Konstruktion ist bereits als
der Begriff der Nicht-Philosophie orientiert am Begriff der sich im Abstoß
selbst aufstellenden Philosophie. Jede Philosophie setzt sich selbst voraus
und dies auch im Begriff dessen, wogegen sie sich aufrichtet.
Der Begriff der von Hegel „polemisch“ angegriffenen „natürlichen
Vorstellung“ ist die negative Kehrseite der Hegelschen Grundposition.
Die „Naivität“, wogegen Hegel den Grundansatz seiner Problematik zu
gewinnen sucht, ist keine vor-philosophische Einstellung schlechthin, also
nicht die Unschuld der noch nicht philosophierenden Existenz, sondern
die geschichtliche Situation eines Problemverfalls, nämlich des sich in
der „Selbstverständlichkeit“ einer vorzuordnenden „Erkenntniskritik“ aus-
drückenden Verfalls der aus der Antike überlieferten, in der Neuzeit seit
Descartes zentral gewordenen Problematik von Sein und Wahrheit.
Dieses ist unsere eigentliche Interpretationsthese:
| Hegels Philosophie ist Metaphysik, d. h. steht in der Tradition der vierfach- 6
einheitlichen Grundfrage nach dem Seienden als Seienden = als Einem = als
Wahrem = als Gutem; d. h. sie ist „Transzendentalphilosophie“ als das Fragen
nach den „Transzendentalien“: ὄν-ἓν-ἀληθές-ἀγαθόν, oder ens = unum =
verum = bonum; oder sie ist Philosophie in der vierfachen Einheit des Seins
= Welt = Wahrheit = Gottesproblems.

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Hegels Philosophie ist nicht: „Panlogismus“, „Metaphysik des Geistes“,
„absoluter Subjektivismus“ und wie dergleichen übliche Interpretationen
lauten, die gerade in der Situation des Problemverfalls befangen sind, die
Hegel polemisch angreift. Hegel wendet sich nicht thematisch der „Subjek-
tivität“ oder dem „Geiste“ zu und verabsolutiert dann diese Seinssphäre,
sondern für Hegel wird die Frage nach dem Sein des Seienden zu einer Frage
nach einem in diesem Sein liegenden inneren (transzendentalen) Bezug
zur Wahrheit und damit zur Vernunft. Sein und Vernunft, „τἀυτὸ τὸ νοεῖν
καὶ εἶναι“.
Die neuzeitliche Philosophie, inauguriert durch Descartes, bedeutet
keinen Bruch mit der wesentlichen Tradition der Metaphysik aus der Antike
durch die patristische und scholastische Philosophie hindurch. Die „geistes-
geschichtlichen“ Zäsuren sind philosophiegeschichtlich nicht entscheidend.
Die Neuzeit ist keine grundsätzliche Preisgabe der Seinsfrage zugunsten
der Erkenntniskritik oder zugunsten einer „subjektivistischen“ Einengung
der Seinsauffassung, sondern eine Verlagerung innerhalb des vierfachen
Problemhorizontes der Metaphysik. Die Ἀλήθεια, die tragende Helle der
antiken Seinsfrage, wird radikal Problem und damit die Seinsfrage erneut
gestellt. Descartes – Kant – Hegel: Transzendentalphilosophie unter der
Führung des transzendentalen Problems von Sein und Wahrheit!!!
Der Problemverfall (gegen den Hegel sich wendet,
7 | um den Ansatz seiner Problemstellung zu gewinnen) ist das Auseinander-
fallen des Seinsproblems und des Wahrheitsproblems, ist die Preisgabe der
transzendentalen Einheit von ὄν ἤ ὄν und ὄν ὡς ἀληθές in der Form der
plausiblen Trennung von „Erkenntnistheorie“ und „Ontologie“, thematischer
Seinserkenntnis und reflexiver Bewusstseinserkenntnis; d. h. in der Form
einer korrelativen Unterscheidung von Sein und Erkenntnis. Was damit
preisgegeben ist, ist die totale Seinsimmanenz der Erkenntnis und die
Erkenntnisimmanenz des Seins; das führt notwendig zur Vernachlässigung
der ontologischen Bestimmung des Seins der Erkenntnis (und des Erkennen-
den) einerseits und zur Verkennung der prinzipiellen Intelligibilität des Seins
des Seienden andererseits.
Der Problemverfall ist die Trennung von Absolutem und Erkenntnis. Im
polemischen Abstoß von dem Verfall bildet sich Hegels eigener, der echten
metaphysischen Tradition gewachsener Problemansatz.
Der letzte Sinn der die „Einleitung“ zur Phänomenologie des Geistes
einleitenden Polemik ist der Angriff auf die „natürliche Vorstellung“ einer
Getrenntheit von Erkenntnis und Absolutem. Getrenntheit besagt hier: ein
„sich-nichts-Angehen“, ein „keinen notwendigen Bezug Haben“, ein Außer-
einanderstehen. Erkanntheit kann gelegentlich dem Seienden zukommen,
braucht es aber nicht notwendig; Sein und Vernunft läßt sich gegenseitig
gleichgültig. Weil Sein und Erkennen so auseinandergehalten werden, kann

530 Beilage I

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dann das (Pseudo-) Problem einer vor dem Seinserkennen notwendigen
„Erkenntniskritik“ aufkommen.
Hegel wendet sich nicht gegen eine „Prüfung und Untersuchung“ der
Erkenntnis überhaupt (– bezeichnet er doch wenige Seiten später die Phäno-
menologie des Geistes als eine „Prüfung und Untersuchung der Realität des
Erkennens“, vgl. S. II. 67–),1 sondern
| gegen eine bestimmte Form dieser Prüfung, d. h. gegen jene, die zur inneren 8
Voraussetzung die Trennung von „Sein “ und „Erkenntnis“ hat.
Die Trennung von Sein und Erkenntnis läßt die Auffassung möglich
werden, es ginge an, ja es sei „methodisch“ richtig: zuerst die Erkenntnis zu
untersuchen (ihre Grenzen, ihre Dignität usw. zu bestimmen) und dann aus
der vorgängigen Klärung des Erkenntnisvermögens heraus zu bestimmen,
wie diese Erkenntnis tauglich sein könne, ein von ihr getrennt seiendes
Seiendes zu fassen. Die Reflexion auf die eventuelle Tauglichkeit oder
Geeignetheit der Erkenntnis in Ansehung eines vom Erkennenden getrennten
Seienden, das es zu fassen gelte, ist der Ursprung der Selbstinterpretation der
Erkenntnis als eines „Mittels“. D. h. im Gefolge der (den „Problemverfall“
ausmachenden) Zerreißung des Problembezugs von Sein und Wahrheit in der
Form der plausiblen Trennung von Sein und Erkenntnis am Leitfaden der
Subjekt-Objekt-Korrelation kommt erst die „Mittel“-Auffassung auf.
Hegels prinzipiellste „Argumentation“ in der einleitenden Polemik ist
im Anschluss an die Metapher „Leimrute“: nicht die Untauglichkeit eines
Mittels als Mittels für die unvermittelte Erfassung des eigentlich Seienden
ist das Wesentliche, sondern die Unverständlichkeit der Nähe des Absoluten,
die Unverständlichkeit der Möglichkeit einer Beziehung des Erkennens
zum Seienden, oder des Hereinstehens des Seienden in die Reichweite
der Erkenntnis und des Dabeiseins der Erkenntnis beim Seienden. Für
Hegel sind Sein und Erkenntnis nicht getrennt, aber auch nicht in einer
plausiblen, d. i. problemlosen Einheit beisammen. (Hegel kommt mit der
heutigen flachen Rede von der Erkenntnis als „einem Seinsverhältnis“,
mit der „ontologischen“, d. i. heute im anti-idealistischen Affekt gegen
die „Erkenntnistheorie“ gebrauchten Argumentation nicht aus; bei ihm ist
das Zusammen
| von Sein und Wahrheit, ὄν καὶ ἀληθές, ens und verum ein transzendenta- 9
les Problem.)
Die Prüfung der Erkenntnis aus dem Motiv der „Bedenklichkeit“, eines
aus Schaden klug gewordenen „Mißtrauens“ ist, prinzipiell gesehen, eine
Voreiligkeit, eine Voreiligkeit des auf „Methode“ ausgehenden Anfangens
in der Philosophie. Dieses methodische Motiv, seit Descartes besonders
wirksam (teils unter dem Einfluß der in einer Revolution der Methode von

1 Wie in Z-XXIV A/11a ist dies die Seitenzahl der Jubiläumsausgabe (Stuttgart, 1927).

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Grund auf erneuerten Naturwissenschaft), wird schon bei Descartes selbst zu
einer Verdeckung einer eigentlichen metaphysischen, d. h. transzendentalen
Fragestellung nach dem inneren Zusammenhang von Sein und Wahrheit,
zur Verdeckung der mit Descartes sich vollziehenden Verlagerung in der
inneren Geschichte der Metaphysik, die man so anzeigen kann, daß nicht
die „erste Philosophie“ diejenige sei, die vom Seienden als Seienden han-
delt, sondern die von der Wahrheit vom Seienden als Seienden handelt.
(Diese Verlagerung zeigt sich darin, daß die Psychologie im metaphysischen
Verstande der „psychologia rationalis“ die Grundlegungsaufgabe der Philo-
sophie übernimmt, nicht als „Disziplin“, sondern als Theorie der Wahrheit,
θεωρία περί ἀληθείας περί φύσεως, vgl. Kants „Kritik der reinen Vernunft“ –
Descartes „Meditationes de prima philosophia“ – Hegels „Phänomenologie
des Geistes“ – Heideggers „Existenziale Analytik als Fundamentalontolo-
gie“!!!). Die Verdeckung der Descartes’schen Grundfrage, die als solche die
neugestellte Frage nach dem transzendentalen Bezug von Sein und Wahrheit
ist, vollzieht sich in zwei Richtungen: 1) als Interpretation seiner Philosophie
als methodistischer Erkenntnistheorie; 2) in der Deutung derselben als einer
thematischen Verabsolutierung des „Subjekts“, als Wendung zum „subjekti-
vistischen Idealismus“.
Die Erkenntnisprüfung im Banne des pseudo-cartesianischen
10 | Motivs ist (– das mag auch in Hegels Verwerfung derselben und in seinem
Hohn gegen die „kritische“ Attitude stecken –) prinzipiell voreilig, sofern
sie eine Erkenntniskritik ist als Kritik des Erkenntnisvermögens. Mit dem
Begriff des „Vermögens“ wird die Erkenntnis gleichsam als eine fixe Größe
genommen, die seinsmäßig abgeschlossen ist; sie ist übersehbar gedacht.
Die Übersehbarkeit, Prüfbarkeit vor der Philosophie, d. h. „dem wirklichen
Erkennen dessen, was in Wahrheit ist“: dies ist der Irrtum, der der methodis-
tischen Idee einer vorgängigen Erkenntniskritik zugrundeliegt. Gewiß ist vor
der Philosophie die Erkenntnis in ihrem Stil vermögenshaft vorgegeben, aber
als „lebensweltliche“ und wissenschaftliche (d. i. als positivwissenschaftli-
che) Erkenntnis samt einer Geschichte von Erkenntnisversuchen, die „philo-
sophisch“ genannt und geistesgeschichtlich tradiert sind. Genügt aber das
selber nicht-philosophierende Kennen von alltäglicher, „wissenschaftlicher“
Erkenntnis und das geistesgeschichtliche Wissen von „philosophischen
Versuchen“, um im voraus Wesen und Grenzen der philosophierenden
Erkenntnis zu bestimmen? Ist eine solche „Kritik“ nicht voreilig, weil sie
vor der eigentlichen Erkenntnisaktion unter Zugrundelegen eines verkürzten
Vermögensbegriffs kritisiert? Ist sie nicht voreilig, weil sie das Erkennen
vor seiner Selbstentfaltung zum „wirklichen Erkennen“, d. i. zur Σοφία
als dem Wissen des Transzendentalallgemeinen (ens=unum=verum=bonum)
zum kritischen Thema macht?

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Für Hegel ist das Erkennen des Absoluten als des in Wahrheit Seienden
auch das wahrhafte, d. i. eigentliche Erkennen; und ebenso das Erkennen des
nicht eigentlich Seienden ist als Erkennen nicht eigentliches. (Eigentlich =
wesenhaft; Erkenntnis des Wesenhaften ist wesenhafte Erkenntnis!!!)
| Das bedeutet: voreilig ist jede der Philosophie vorangehende Erkenntnis- 11
kritik, weil sie die Erkenntnis prüft vor deren Selbstentwicklung zu ihrem
wesenhaften Sein. Diese Selbstentwicklung vollzieht sich gerade in der
Erkenntnis des eigentlich Seienden, d. i. in der Philosophie.
In Hegels Hinweis auf die drei Voraussetzungen der „natürlichen Vor-
stellung“ von einer der Philosophie vorauszuschickenden Erkenntniskritik,
also auf die Voraussetzungen der den Problemverfall charakterisierenden, in
„kritizistischer“ Attitude vollzogenen Zerreißung des transzendentalen Pro-
blems von Sein und Wahrheit, steckt der eigentliche Abstoß, der Sprung, der
Hegels Problemstellung „einleitet“. Die „Mittelauffassung“ der Erkenntnis
ist eine Folge der Trennung von Absolutem und Erkenntnis. Aber sie ist
auch in sich Ausdruck einer zur vorphilosophischen „Naivität“ gehörigen
fast unvermeidlichen Selbstinterpretation der Erkenntnis. Der Mensch lebt
zunächst „geradehin eingestellt“ (Husserl), eingestellt auf Dinge. Das Sein
des Dinges ist das – scheinbar – Vertrauteste. Die ursprünglichen Begriffe der
Sprache sind „räumliche“. Die Sprache als die erste Ontologie ist in ihrem
Anfang dingontologisch orientiert: Prototyp von „Sein“ ist dinghaftes Sein.
Die dieser Grundeinstellung des Lebens hörige Auslegung von „Sein“ bleibt
auch weithin mächtig, wo die begriffliche Interpretation des Seins einsetzt:
Vorrang und Vorherrschaft der Dingontologie in der Geschichte der Meta-
physik! (Descartes’ „res cogitans“; Kants These von der Nichtanwendbarkeit
der Kategorie der Substantialität auf die Seele; Husserls Kampf gegen die
Naturalisierung des Geistes; Heideggers Wiederingangsetzung des Problems
der Ontologie in Auseinandersetzung mit der herrschenden Orientierung des
Seinsbegriffs am Sein des „Vorhandenen“!!!!)
| Die Auffassung der Erkenntnis als eines Mittels im Sinne von „Werk- 12
zeug“, „Medium“, „Leimrute“ ist eine implizite dingontologische Interpre-
tation ihres Seins. D. h. das Sein desjenigen Seienden, wodurch für uns
überhaupt erst Seiendes in der Seinsart von Dingen zugänglich ist, wird
am Leitfaden dinglichen Seins ausgelegt; das „Wodurch der Zugänglichkeit
von Dingen“ wird verdinglicht. ((Das Ding selbst und sein Sein bleibt aber
gerade in dieser „dingontologischen Verallgemeinerung“ unterbestimmt,
weil das Sein des Dinges selbst die Natur des Dinges für das Wissen (seine
metaphysische „Intelligibilität“) in sich faßt. Es ist der Grundirrtum der alle
Erkenntnisprobleme ausschaltenden „Ontologie“ z. B. Nikolai Hartmanns,
in der sogenannten „intentio recta“ das Seiende als Seiendes bestimmen
zu können. Zum Seinsproblem gehört auch das Sein der Erkenntnis als

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des „Wodurch der Zugänglichkeit von Dingen“ – oder: die transzendentale
Koinzidenz mit dem Wahrheitsproblem.))
Die zweite der genannten drei Voraussetzung ist die Unterscheidung
unserer selbst und des kritisierten Erkenntnisvermögens: d. h. es ist die
Fiktion einer kritischen Distanz; die Fiktion, daß wir gleichsam außerhalb
des kritisierten Erkennens stünden und es nicht an uns sei, die Erhebung der
Erkenntnis in ihr Wesen zu vollziehen.
Die dritte Voraussetzung, die Annahme einer Getrenntheit von Absolu-
tem und Erkennen, ist die Fundamentalvoraussetzung und der Ausdruck des
von Hegel angegriffenen Problemverfalls.
Der Begriff des „Absoluten“:
Das Absolute ist nicht ein bestimmtes Seiendes, in dem Sinne, daß einem
aus dem Weltzusammenhang her begegnenden Seienden alle Wirklichkeit
zugesprochen wird, indem sie allem anderen Seienden abgesprochen wird.
Ein solcher Begriff von „Absolutem“ macht gerade das
13 | eigentliche Sein nicht zum Problem, sondern verfügt naiv darüber so, daß
es einem bestimmten Seienden zugesprochen werden kann; dies ist der
Vulgärbegriff vom „Absoluten“, mag als „absolut“ nun Gott oder Geist
angegeben werden. Der echte Begriff des „Absoluten“ bezeichnet kein
bestimmtes Seiendes, sondern das Seiende i m e i g e n t l i c h e n S i n n e.
Es ist kein „ontischer“, sondern ein „ontologischer“ Begriff. ((Daß es darüber
hinaus der transzendentale Grundbegriff ist als die spekulative Koinzidenz
von eigentlich Seiendem, eigentlich Einem, eigentlich Wahrem und eigentlich
Gutem, kann erst in der Entwicklung des Begriffs in der Phänomenologie
des Geistes gesehen werden. Hier handelt es sich um den Vor- und Leitbe-
griff!!)) Es ist eine Urerfahrung der abendländischen Philosophie, daß das
„Sein“ nicht ein schlicht und einfach-einfältig Gegebenes ist, sondern etwas,
was vor dem bestimmenden Zugriff zurückweicht, sich ihm entzieht, was
vielfältig und mehrfach, schillernd und rätselhaft ist. Das Sein des Seienden
ist – gemäß der antiken Erbschaft – verstellt durch Schein: uneigentlich
Seiendes, Vordergrund, Erscheinung usw. Zum Wesen des Seins gehört mit
das Unwesen des Scheins und des Nichts. „Sein“ – „Nichtsein“ – „Schein“ –
„Sein des Nichtseienden“ – „Sein des Scheins“: dies ist der Problemhorizont
des dialektischen Gesprächs über das Sein seit der Antike. Das Absolute
ist der im Seinsproblem wurzelnde Begriff des eigentlich Seienden, also der
Begriff dessen, worum willen die „γιγαντομαχία περί τὴς οὐσίας“ entbrennt.
Der Begriff der Trennung (Absolutes auf der einen, Erkenntnis auf der
anderen Seite):
Das Absolute ist nicht Gegenstand (Thema), sondern Inbegriff. Als
wahrhaftes oder eigentliches Seiendes begreift es das Sein der Erkenntnis,
wenn dieses eigentlich ist und nicht nichts ist, ein. Die Annahme der
„Getrenntheit“ verkennt den Inbegriffscharak-

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.
| ter des Absoluten und führt zur widersinnigen These, daß „außerhalb“ des 14
Inbegriffs des eigentlich und wahrhaft Seienden ein eigentlich („reelles“)
und wahrhaft Seiendes, eben die Erkenntnis, stünde; d. h. zur These von
der reellen Existenz eines Nicht-Absoluten, oder antik formuliert, zur These
vom Sein des Nichtseienden. (Der Begriff „reell“ besagt nicht einfach
„wirklich“, „seiend“, sondern „wesenhaft seiend“; realitas = das Wesen!!)
Erst im Hinblick auf die Bedeutung von „reell“ = wesenhaft seiend gewinnt
Hegels Gedankengang seine letzte Schärfe. Der formale (nivellierte und
nivellierende) Seinsbegriff bezeichnet unterschiedslos eigentlich und unei-
gentlich, wesenhaft und unwesentlich Seiendes eben als „seiend“. Für Hegel
besteht der Widersinn in der Annahme einer Getrenntheit von Absolutem
und Erkenntnis nicht darin, daß außerhalb des Absoluten ein Sein behauptet
würde, sondern darin, daß ein wesenhaftes Sein des sich aus dem wesenhaft
Seienden heraushaltenden Erkennens behauptet würde, indem die Erkenntnis
dem Absoluten gegenüber und damit auf eine ähnliche Seinsdignitätsstufe
gestellt würde. Besteht die Trennung, dann ist die Erkenntnis entweder nichts
(oder nur ein wesenloses Seiendes) oder der genannte Widersinn ist unver-
meidlich. Diese Konsequenz zieht zumeist jene durch den Problemverfall
bedingte „kritische“ Attitude nicht, sie weicht ihr aus, und somit ist das
sich selbst als „Furcht vor dem Irrtum“ und als Sorge um die Wahrheit glo-
rifizierende kritische Unternehmen einer der Philosophie voranzustellenden
Kritik des Erkenntnisvermögens, sofern und soweit es von den drei erörterten
„Voraussetzungen“ getragen ist, „Furcht vor der Wahrheit“. ((Damit gräbt
Hegel als tiefsten Grund des Problemverfalls von Sein und Wahrheit ein
existenzielles Motiv aus: die Furcht vor der lebenerschütternden Wahrheit
der Philosophie.)))))
| Der zweite Abschnitt der Einleitung hat zum Thema die vorläufige Charak- 15
teristik des Begriffs der „Darstellung des erscheinenden Wissens“.
Die Darstellung des erscheinenden Wissens ist die Einleitung in die
Philosophie, begriffen als das Anfangen der Philosophie. Hat Hegel im
ersten Abschnitt der „Einleitung“ eine Auffassung über den Anfang der
Philosophie angegriffen, die in der Trennung des Erkenntnisproblems vom
Seinsproblem einen Verfall des „transzendentalen Problems von Sein und
Wissen“ bedeutet, so stellt er zuerst die positive Grundthese voran, die
die eigentliche Basis seiner vorangegangenen Kritik einer der Philosophie
vorzuordnenden Erkenntniskritik darstellt, nämlich: „das Absolute allein
wahr, und das Wahre allein absolut“.2
In dieser These vollzieht sich der Entwurf des leitenden Seins- und
Wahrheitsbegriffs. Damit auch zugleich Entwurf der Hegelschen Problem-
stellung. War seine Polemik im ersten Abschnitt gerichtet gegen den

2 Vgl. Z-XXIV C/1a, Anm.

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Ansatz einer Gleichgültigkeit des Seienden gegen die Erkenntnis, gegen
jene Trennung, die das ontologische Problem am Modell einer ontischen
Erkenntnis, d. h. am Gegenüber von Subjekt und Objekt orientieren will,
ferner gegen die Verkennung der inneren Wesenseinheit der Erkenntnis,
welche Verkennung sich in der Aufspaltung in „Arten“ zeigt, so fängt
Hegel an mit der Philosophie ermöglichenden, sie anfangenden Einsicht
in die komparativische Natur des Seienden und der Wahrheit. Gerade im
Hinblick auf die höchste Möglichkeit des Seins und der Wahrheit bestimmt
sich ihre Natur. Das Absolute, das „summum ens“, nicht vulgär verstanden
als ein höchstes Seiendes neben anderem niederen Seienden, sondern als
eigentlichstes Seiendes, besser Inbegriff des eigentlichsten Seins, ist „allein“
wahr; und das eigentlichst Wahre, die höchste Möglichkeit des Wahrseins ist
allein eigentlich
16 | seiend. M. a. W., das eigentlichst Seiende, das seiendste Seiende, ist das, in
bezug worauf die Wahrheit selbst in ihre höchste Seinsmöglichkeit einrückt.
Zwischen dem höchsten Sein des Seienden und dem höchsten Sein der
Wahrheit ist eine Entsprechung.
Was heißt hier „Wahrheit“? Bisher hieß Wahrheit gerade nicht „Unver-
borgenheit“, sondern das wahrhaft-Sein, das eigentlich-Sein von Seiendem,
und war gleichgesetzt mit dem Ansichsein von Seiendem, hieß also soviel
wie das „Absolute“. Diesen Sinn kann es hier aber nicht haben. Heißt es nun
einfach „Unverborgenheit“? Bedeutet dann Hegels erste positive These: das
Seiende der höchsten Seinsdignität ist unverborgen in der höchsten Weise
der Unverborgenheit? Oder ist der Sinn dieses Satzes noch tiefer, vielleicht
so, daß er nicht nur die Entsprechung des höchsten Seins des Seienden und
der Wahrheit (qua Unverborgenheit) aussagt, sondern den ontischen Grund
der Möglichkeit dieser Entsprechung, dieser Intelligibilität des Seienden,
anzielt: die „Nous“-Natur des Seienden?
Jedenfalls koinzidieren in Hegels Begriff der „Wahrheit“ der Begriff des
wahrhaft-Seins und der Begriff des unverborgen-Seins.
Mit dem Satze, daß das Absolute allein wahr und das Wahre allein
absolut ist, hat Hegel den Zusammenhang von Sein und Wissen im Entwurf
auf das Wesen dieses Zusammenhangs hin fixiert. (Wesen hier nicht als
„Invarianz“, wie z. B. bei Husserl, verstanden, sondern als eigentliches Sein,
antik verstanden als Gegenbegriff zur „Erscheinung“.) So ist das „allein“
hier aufzufassen: das Absolute ist allein im eigentlichsten Sinne wahr, allein
wesenhaft wahr; und das Wahre allein im wesenhaften Sinne seiend. Das
Nichtabsolute und das Nichtwahre, das den Hintergrund dieser These abgibt,
ist demnach das erscheinende Seiende und das erscheinende Wahre, genauer
die Er-
17 | scheinung des Seienden und die Erscheinung der Wahrheit.

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Wenn die Philosophie anfängt im Entwurf dieses auf ein Wesen
ausgerichteten Zusammenhangs von Sein und Wissen, also im Entwurf
der Sophia als des eigentlichsten Wissens vom eigentlichsten Seienden, so ist
der Entwurf der Idee der Sophia noch nicht die Herstellung der Sophia selber.
Der philosophische Anfänger hat die Philosophie, die „Wissenschaft“, noch
nicht, sondern beginnt im Entwurf des zu Suchenden. Er weiß, daß er noch
nicht eigentlich weiß, nämlich das eigentlich Seiende.
Der die Philosophie einleitende Entwurf der Idee eines in einer
eigentlichen Weise des Wissens zu suchenden eigentlichen Seienden sieht
sich der ständigen Möglichkeit einer Ablehnung gegenüber, eben im Hinweis
auf das faktische Vorhandensein von Erkenntnissen, Wahrheiten (so z. B. die
Erkenntnisse des vorwissenschaftlichen und auch positiv-wissenschaftlichen
Lebens). Und gerade die in Hegels Polemik angegriffene Auffassung über
den Anfang der Philosophie führt zumeist zu einem Verzicht auf eine
Erkenntnis des Ansichseienden und zu einer kritischen Bescheidung auf
Erkenntnis der „Erscheinungswelt“, wobei das Faktum der Wissenschaft
(oder gar nur der Naturwissenschaft) die Idee des Wissens bestimmt.
Hegels Begriff der „Wahrheit“ ist grundsätzlich mehr als nur der Begriff
der „Stimmigkeit“, der „Übereinstimmung“. Wie Hegel oben gegen den
nivellierten Seinsbegriff, gegen die Unempfindlichkeit für die Grade der
Seinsmächtigkeit, kämpft, so jetzt gegen den nivellierten Wahrheitsbegriff,
wonach jede stimmige Erkenntnis „wahr“ genannt wird. Wahr ist die wahr-
haft-Seiendes enthüllende Erkenntnis. Das Verfehlen der Einsicht in die
wesenhaftes Sein erschließende Funktion der Wahrheit führt zu dem „trüben
Unterschied“ eines „absolut Wahren und sonstigen Wahren“. Eine solche
Unterscheidung tut auch so, als ob schon
| bekannt wäre, was „absolut wahr“ bedeutet, also bekannt, bevor 18
überhaupt die Anstrengung des Suchens nach dem eigentlich Seienden
unternommen wird.
Von der Philosophie könnte ein solches Vorgeben, im voraus schon zu
wissen, was absolute Erkenntnis sei, und zwar auch dann, wenn man gerade
die Unmöglichkeit einer solchen dekretiert, „verworfen“ oder „als Betrug
angesehen“ werden.
Ein solches Verwerfen aber setzt, wenn es nicht eine leere Attitude
des Hochmuts sein soll, voraus, daß der Verwerfende wirklich selbst aus
der Philosophie spricht, daß er in ihr steht, daß er also das schon hinter
sich gebracht hat, was hier gerade das Problem ist, nämlich den Anfang
der Philosophie. Kann man denn „wie aus der Pistole geschossen“ (vgl.
„Vorrede“)3 mit der absoluten Erkenntnis anfangen? Ist denn der Mensch
dieses Anfangs jederzeit mächtig, wie eben irgendeiner sonstigen Tätigkeit,

3 Jubiläumsedition (Stuttgart, 1927) = PhG, „Vorrede“, S. 26.

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die er kennt und die anzufangen er sich nur selbst bestimmen muß? Anfang
der Philosophie als die Selbsterhebung der Erkenntnis in ihr Wesen, ihr noch
nicht gekanntes eigentliches Sein, eben im Erkennen des eigentlich Seienden,
ist zuerst nur der suchende Entwurf der Ideen des eigentlichen Seins und der
eigentlichen Wahrheit.
Die „Hauptsache“ (des echten Anfangens) aber nennt Hegel das „Geben
der Begriffe“ (und zwar nicht irgendwelcher oder aller Begriffe, sondern der
Begriffe des „Absoluten“, des „Erkennens“ und der „Wahrheit“). Die Philo-
sophie ist selbstaufstellend, indem sie ihre fundamentalen Begriffe aufstellt.
Diese ursprünglichsprechende Selbstaufstellung der Fundamentalbe-
griffe ist das Wesen der Dialektik, des Gesprächs über das Seiende. Und
gerade als „Geben“, d. i. das schöpferische Setzen der metaphysischen
Begriffe, ist die Dialektik weit entfernt von einer Kunst der Hantierung
mit vorgegebenen Begriffen, der sophistischen Rhetorik, oder einer lee-
ren Begriffsdeduktion.

538 Beilage I

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Z-XXV

Beschreibung:
Der Umschlag der Mappe dieser großen, unterschiedliche Blätter zusammenschlie-
ßenden Sammlung trägt den von Fink mit Tinte geschriebenen Titel: „Mosaik“ und
das von ihm zudem handschriftlich eingetragene Datum: „1938“; außerdem vermerkt
sind die Daten „1937“ und „1939“. Eine weitere Angabe lautet: „auch Gespräche
mit Husserl und Vorschläge für seine Arbeiten“. Die Notizen erwähnen ein einziges
Mal das Datum von 1938 (50a), sonst aber häufig das Jahr 1937 (1b, 38a, 39a,
41a, 42a, 93b, 108b, 109a und 161b; vgl. auch 182a). Reihe LVIII besteht aus mit
einer Heftklammer zusammengebundenen Blättern, während die Reihen CXCVII
und CXCVIII kleine Notizblöcke sind, in denen die Blätter befestigt blieben. Zu
bemerken sind die Notizen zu Gesprächen, die Fink mit Kollegen (19a, 48a–b
und 50a-51b) und insbesondere mit seinem Lehrer E. Husserl (1a–b, 38a, 39a, 41a,
42a, 93b, und 108a–b) geführt hat.

Text:
| Gespräch mit Husserl über Fritz Kaufmann. 1a
1. Das Erlebnis der Hohlheit der Bildung und „Wissenschaft“.
Grund ist die „Bildung“ als institutionelles und traditionelles Surrogat echter
Lebensmächte: Säkularisation. Kulturbegriff der „Bildung“ zu einem guten
Teil durch die Säkularisation bestimmt und auch durch die Emanzipation der
Wissenschaften von der Metaphysik. („Spezialisierung und Technisierung“)
und drittens durch die Vulgarisierung der Bildung für die M a s s e n. Auf-
gabe derer, denen Philosophie nicht elementare Notwendigkeit ist, denen
sie nicht Grundmacht oder Schicksal ist, ist es, hinter der Bildungswelt zu
ursprünglicheren Lebensmächten zurückzugehen: zu Religion oder Kunst
oder Rasse.
2. | Wesen als „Eidos“ und Wesen als Lebensmacht („wesendes Wesen“). 1b
*
3. Der Mensch als „Weltwesen“: das schließt auch in sich ein, daß seine
Einsamkeit ein inniges Sein inmitten der Dinge ist.

Eine „Vermutung“:
Wenn der Beginn der Philosophie „wahrheitstheoretisch“ ist, ist vielleicht
dann nicht Descartes’ Anfang mit dem „cogito ergo sum“ zu interpretieren

Z-XXV 539

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als die „wahrheitstheoretische Grundthese“, die ihm erst die Frage nach dem
Seienden (Gott und Seele und Ding) eröffnet???
(13.IV.37)
*

2a | Die Apriorität vom Begriff „Seiendes“??


Ontologie und Ontogonie
Welt als Horizont des Seienden
Welt und Zeit
Apriorität von Zeit und Raum??

3a | Notiz zur Descartes-Interpretation:


Aus dem „cogito ergo sum“ folgt nicht tautologisch-analytisch die Existenz
des Ego, wie im Falle „ich laufe – also bin ich“. Während ich laufe, bin ich.
Daß ich laufe, ist nicht gewiß. Daß ich denke, ist gewiß. Die Selbst-erkennt-
nis ist diejenige, die die Existenz des Denkenden verbürgt. Apodiktische
Existenz des Ego ist ein erkenntnisrelativer Seinsgrad. Descartes ist es aber
gerade um diesen erkenntnisrelativen Seinsgrad zu tun.
Denn gegen alle ontischen Mächtigkeiten des Seins von Seiendem ist
3b | immer das Mißtrauen möglich, daß wir uns hinsichtlich desselben in einer
Täuschung (des deus malignus) befinden. Descartes führt seine ontologische
Deduktion vom Fundament seines „wahrheitstheoretischen“ Grundsatzes
aus. (Vgl. dazu Heideggers Interpretation, die die Bedeutung der IV. Medi-
tation unterstreicht.) (Die Interpretation Descartes’ als eines „überspitzten
Methodismus, der an Stelle von Wahrheit Gewißheit intendiert“, ist vielleicht
irrig, und statt dessen müßte am Ende gerade Descartes auf die Interpretation
des „ego cogito, ergo sum“ als Wahrheitstheorie (als Problem von ens und
verum) verstanden werden können??)
*
4a 1. | Übergang von einer Wesensbetrachtung zu der Erfassung des „Ego“
(„comme existence nécessaire“):
Die Phänomenologie E. Husserls ist ‹in› ihrem zentralen Aspekt nicht
eine Wesenslehre des Seienden, sondern eine Philosophie, der es um
das Seiende selbst geht. Die Phänomenologie beginnt gewissermaßen
in der Geschichte der Metaphysik mit einem Bruch der metaphysischen
Tradition, die das „νοεῖν“ zum Organon der Philosophie machte: das
spekulative Denken. Anstelle des spekulativen Denkens entspringt die
Phänomenologie dem Willen zur methodischen Ausweisung aller The-
sen:
4b | daraus resultiert der phänomenologische „Intuitionismus“ und „Positi-
vismus“: Befragung der Sachen selbst, d. h. in jedem Falle Rückgang auf
die ursprünglichsten Evidenzen, die sinngebenden Erlebnisse. [In dieser

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.
methodischen Forderung ist schon ein Verständnis der „Intentionalität“
impliziert: nämlich die Einsicht in die Fundierungsordnung von „Urmo-
dus“ und „intentionaler Abwandlung“.] Die Analyse der sinngebenden
Erlebnisse führt zum korrelativen Ansatz der Seinsfrage; alles Seiende
wird in den ursprünglichen Gegebenheitsmodus zurückverfolgt. Das
Wesen der Dinge auf das Wesenswissen.
*

| Vorschlag für Husserls Weiterarbeit: 5a


1. Die historisch-teleologische Betrachtung der neuzeitlichen Philosophie
zeigt deren innere Ausrichtung auf eine Transzendentalphilosophie: die
Philosophie ist anzufangen.
2. Anfang der Philosophie ist im Gegenzug gegen die Tradition.
3. Kant und Descartes als Anfänger.
a. Kant fängt an, aber auf dem Boden eines vorgegebenen Problems
(Problem des Apriori). Kants „Argumentativer Denkstil“ ist bedingt
durch das Fehlen der Analyse der intentionalen Subjektivität.
b. Descartes’ Verfehlen der Intentionalität.
4. Intentionalität nicht ein Thema reflexiver Analytik, sondern korrelativer:
Problem der Lebenswelt.
5. | Lebenswelt und Universalsystem der subjektiv-objektiven Korrelation: 5b
6. Frage nach der Subjektivität, die leistende-fungierende ist: Reduktion.

1. | Problem des Formalen. 6a


2. Problem des Wesens (materiales Wesen und formales). Die ontologi-
schen Grundbegriffe und Unterscheidungen: Seiendes („Wesen“). Evi-
denz des „Formalen“.
Ansatz des Problems des Wesens:
1. ontologische Problematik des Wesens,
2. die „Ideation“ (Phantasievariation),
3. die gegenstandstheoretische.
Die formalen Disziplinen: Aufgabe der Zurückstellung der Formalwissen-
schaften in das Fragen der Metaphysik.

| Das Lebensalter, in dem ich mich befinde, hat Macht über mich; es ist 7a
ihm eigentümlich, den Menschen in einer Weise zum Ganzen seiner Zeit zu
stellen, die man als Entscheidung zur Definitivität bezeichnen kann.
*

Z-XXV 541

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.
Die Einstellung der Unmittelbarkeit:
1. benommen vom Seienden,
2. verfangen in den Aprioristrukturen,
3. befangen in der Welt.
Diese drei Momente des Lebens sind aus der idealistischen Interpretation zu
lösen und in eine transzendentale Problematik zu verwandeln.

8a | Vollstrecker sein seines Lebens: das ist die Aufgabe des Menschen.
Die Lässigkeit des Daseins als ständige Entspannung (die „Ruhe“ als
bewahrende und hütende Macht des Lebens).
„Unruhe der Freiheit“ = Philosophieren.
„Flamme als Symbol“. Aufwacht der Mensch in der Nacht der Welt, ein
kleines brennendes Licht. Im Scheine seines Feuers erkennt er die Dinge,
die aus der Nacht hervortreten und wieder zurücksinken.

9a | Das Problem der Philosophie: das Sein in den transzendentalen Frage-


dimensionen.
Seiendes und Gegenstand.

10a | Philosophieren ist eine Weise der Ergriffenheit (des Enthusiasmus): die
Leidenschaft des fragenden Denkens. Philosophieren ist Spielen.
„Spiel“ ist ständig Beginn und Untergang des Beginnens.
Ausdrücklich leben, wach leben, glühend, bewegt, „Rasen“, Wahnsinn.
Der Enthusiasmus als Bewegung des Lebens. Es ‹…›
1. Die Trägheit, Lässigkeit des Lebensvollzuges; die „Programme“,
Berufe, Regeln.
Freiheit = spontan leben, gespannt sein, Bereitschaft zum Aufbruch.

10b | Die kühle Ruhe und heitere Gelassenheit, die glühende Seele und die Skep-
sis.
Wie die Dohlen die Gipfel, umkreisen mich die Gedanken der Höhe:
schwarz und drohend und einsam.
Die tiefe Lust zu sein („Wille“).
In Momenten der Weltweite, der Lust am Klettern.
Die Kulturrechtfertigung der Philosophie geht meinen Instinkt nichts an. In
jenen Bezirken des Lebens bin ich heimatlos
Warum ich philosophiere? Um inständiger zu sein.
Das Sein des Ansichseienden kennt keine Grade der Existenz. Intensität
und Dichte des Daseins. Der Mensch ist ein Zu-Seiendes. (Ontische Dyna-
mis).

11a | Situation der Interpretation.

542 Z-XXV

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.
Das Mißverständnis der eigenen Situation.

Theorie der Bildhaftigkeit


Theorie des Schlafes
Theorie des Hörens
Theorie der Imagination
Theorie der Iteration
Theorie der externen Intentionalanalyse.
Kritik der Husserlschen Idee einer „phänomenologischen Philosophie“.
Kritik der ontologischen Metaphysik Heideggers.
Kritik der ‹bricht ab›

| Die Gefährlichkeit der Philosophie 11b


1. im Verhältnis zur festen Weltanschauung: Philosophie ist Auflösung
aller Sicherheiten;
2. im Verhältnis zur Selbständigkeit: sie liefert den Menschen an das
„Werk“ aus;
3. sie vereinsamt;
4. sie stellt ihn auf „verlorene Posten“. (materiell)
Philosophie ist als „Staatsphilosophie“ schon einer Autorität unterstellt.
Philosophie ist das Wagnis des Menschen, sich auf sich selbst zu stellen.

| Der Begriff der Phänomenologie: 12a


1. der formale Vorbegriff:
Phänomen: „die Sache selbst“.
Prinzip der Sachlichkeit
Derivation: Intuitionismus, Selbstgebung, Ausweisung, Anschauung.
2. Husserls Weiterbildung des intuitionistischen Ansatzes zur korrelati-
vistischen Methode.
Das Seiende als Gegenstand zu fassen.
3. Die Entdeckung des Korrelationssystems.
4. Die reflexionsphilosophische Argumentation.
5. Die Metaphysik der Geltung.

1. | Das Problem der Philosophie der Philosophie. 13a


Philosophie ist kein Thema einer anderen Wissenschaft: weder der
Biologie, Soziologie, Anthropologie, noch der Historik. Jede außerphi-
losophische Charakteristik der Philosophie verfehlt ihren Gegenstand.
2. Das Problem des „Generativen“: ein in der Philosophie der Geschichte
zumeist übersprungenes Problem.
3. Die Phänomenologie der „Institutionen“.
Formelle Grundstruktur der Selbstverdeckung („Selbstversehrung“).

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.
14a | Anmerkungen zum Dessau-Vortrag:1
1. Die Kantinterpretation Husserls ist schon eine spekulative, sofern Kants
Transzendentalphilosophie als teleologische Ausrichtung auf die phä-
nomenologische Antwort (auf das transzendentale Problem von ens
und verum) ausgelegt wird. Vgl. Husserls „Die Krise der europäischen
Wissenschaft und die Psychologie“.2
2. Heideggers Interpretation betont den ontologischen Charakter des kan-
tischen Problems, und ist darauf ausgerichtet, Kants Ontologie (Sein
und Vernunft) als Durchgang zur ontologischen Grundfrage Heideggers
(Sein und Zeit) auszulegen.
3. Der Interpretationsansatz: (Kants transzendentale Problematik ist ein
Fragen in den Bezug von ens und verum) ist bloß ein Ansatz. Die
Ausführung dieses Interpretationsversuches (vgl. E. Fink, „Problem-
theoretische Untersuchungen zur Lehre vom Weltbegriff“)3 will die
„Welt als den kosmologischen Horizont des Seins“ bestimmen.

15a | Donoso Cortez’ Thesen:4


„Jeder Staat hat das Prinzip, auf welchem er beruht, der Diskussion entzo-
gen“. „Die ständige Diskussion der Prinzipien des Staates ist von zerstören-
der Wirkung“. „Die Entchristlichung führt zur diktatorialen Staatsform“.
Cortes’ These von der zersetzenden Diskussion ist richtig, sofern er
damit den Fehlbegriff des liberalen Staates als ständig aktuale Freiheits-
exekutive angreift, dessen Extrem etwa in der These sich ausspricht: „der
Staat ein tägliches Plebiszit“.
Freiheit ist die Quelle der Souveränität. Freiheit als staatsbildender Wille ist
die Selbstbindung. Gegen die Gefahr des Selbstverlustes der Freiheit in der
Erstarrung ist die Möglichkeit der Reflexion auf den souveränen Willensakt
gegeben. Reflexion auf die freie Setzung der Selbstbindung ist aber nicht
ein „tägliches Plebiszit“, ein tägliches Neuentscheiden, sondern „von Zeit zu
Zeit“. Der Rhythmus des Willens, der „Atem des Schöpferischen“.
*
16a | Das Wissen des Nichtwissens:
Zur Problemtheorie wichtig. Wissen des Nichtwissens ist kein Wissen um ein
fehlendes Wissen, um einen Wissensanstand, eine Lücke in einem Reich von
Gewußtheiten, die in dem Stil „Gewußtheit“ bekannt sind.

1 Siehe Z-XVI; vgl. 62b-63b unten


2 Titel des am 14. und 15. November 1935 in Prag gehaltenen Vortragszyklus (HChr, S. 469
und Hua XXIX, S. XXII und XXX–XXXI).
3 Siehe die Beschreibung zu V-II.

4 J. Donoso Cortés, Marqués de Valdegamas.

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.
Problemtheoretisch ist das Erste die Verabschiedung dessen, was als
„Wissen“ gilt, die Proklamation seiner Ungenügendheit: also ein Nichtwissen
des Wissens. Das Zweite ist die Bemächtigung des Nichtwissens des Wissens,
seine theoretische Ausformung zum Problem.
Ist die philosophische Frage ein Nichtwissen des Wissens, so ist das phi-
losophische Problem: e i n W i s s e n d e s N i c h t w i s s e n s d e s W i s ‐
s e n s.
‡ Vgl. dazu Sein – Fürsichsein – Anundfürsichsein – als die Gegenstruk-
tur der philosophischen Wahrheit?????
‡ ‹Betonung durch einen doppelten Strich am Rand›

| Philosophie als „Aufgabe“, als intersubjektives Ideal. 17a


Fundamentalwissenschaft?
Aber ist notwendig Wissenschaft? Ist notwendig „Kultur“?
Die Genealogie des Kulturbegriffs.
Das Wesen des Lebens ist Gewalt.
Problem der Stabilisierung der Gewalt, z. B. Staat und staatliche Inter-
pretation des Lebens: Ordnung.
Geistige Betätigung = Spitze der Kulturarbeit.
Das Selbstverständnis meines Lebens kann nicht die öffentlichen Auslegun-
gen des „Sinnes und Zweckes“ des menschlichen Daseins mitmachen.
Philosophie eine absolute Handlung, ein Tun, das um seiner selbst willen
geschieht. Zum Wesen einer absoluten Handlung gehört, daß sie aus allen
Mittelbarkeiten des Umwillen herausgenommen werden muß, und in sich
selbst verstanden.
Philosophieren ist ein Trieb des Lebens. Dort, wo das Leben absolut
handelt, ist es jenseits aller Zwecke für und jenseits aller
| rationalen Einsehbarkeit des Umwillen. 17b
Warum ein Mensch philosophiert, ist keine Frage, die durch Hinweis auf
eine Motivation erklärt werden kann.
Dort wo Philosophieren aus Motiven entspringt, ist es wesensmäßig
unecht. Allerdings kann es selbst sich motivisch maskieren.
Die absolute Handlung hat kein Motiv im Sinne eines Umwillen, aber das
Telos: das woraufhin sie handelt. Wenn ein Leben das Telos einer absoluten
Handlung kennt, so versteht es sich in diesem seinem Handeln.
Z. B. „Liebe“: Telos ist Symbiose. Telos der Philosophie, der Liebe zum
Wissen ist Wissen. Welcher Art? In den Wissenschaften existiert der Mensch,
auch im Streben nach Wissen. Instrumente der Wohlfahrt oder Neugier.
Wissen ist die Bewahrung des Verstehens des Seienden.
Unser Leben ist Umgang und Verstehen des Seienden, das wir sind,
unsergleichen, fremder Art und Weise.

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.
18a | Wissen ist selbst vorgegeben als „Wissenschaft“.
Die Wissenschaften prinzipiell in der Situation des Verlustes der meta-
physischen Anfangssinngebung: dies aber ist die Spannung des Wissens
zum Geheimnis.
Das Leben ist als ursprüngliches und primitives Dasein offen für
den gefährlichen Charakter des Seins: für seine Unheimlichkeit, seine
Bedrohtheit. Der Mensch existiert zitternd inmitten der Dinge.
Wissen ist ursprünglich der Raub am Seienden, der prometheische
Frevel des Menschen: Wagnis und Gefahr.
Der Aufstand des Menschen gegen den kosmischen Frieden der Dinge.
Wissen ist nicht = ‹in› der harmlosen und technisierten Weise des Wissens
in den sog. „Wissenschaften“, sondern ist das ausdrückliche Verstehen des
Seienden, das in der Spannung steht zum Geheimnis.
Philosophieren ist das Ringen um das Verstehen der Dinge, ist die
absolute Handlung des Eros zum Wissen.

18b | Philosophieren als Leidenschaft des ursprünglichen Wissenwollens?


Was aber ist Philosophieren als Handlung? Nichts anderes als eine
Lebensbewegung. Unter Lebensbewegung ist nicht zu verstehen ein Han-
deln, das das gleichbleibende Subjekt ausführt in bezug auf etwas, sondern
ein Handeln, in dem und durch das das Subjekt des Handelns in Bewe-
gung kommt.
Philosophieren als Theorie ist die Praxis der Selbstbemächtigung. Das
Sichzurückholen aus Institution – Ideal – in die ursprüngliche Grundsituation
des Verstehens von Seiendem:
Heilung des Lebens – Befreiung der Freiheit.

19a | Notizen:
1. Riemenspergergespräch:5 über den Unterschied spekulativer und analy-
tischer Bestimmung.
2. Husserlgespräch: Bergson als Sucher nach dem Wesen des Lebens.
Rückgang hinter die Gebilde (Verärmlichung).
3. Husserlgespräch: Das Selbst als Grund des Einbruchs in die Geschichte
(der Mensch und das Panische, das Historische und Selbständige
in ihm).
4. „Ursprünglichkeit des Lebens als Spiel und seine Selbstversehrung“ und
„Sein zum Sein“ als Wesen des Menschen?? Wie hängt das zusammen??
5. ‹bricht ab›

5 Über Alfred Riemensperger siehe Z-XI 58a (Bd. 2).

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.
1. | Husserls Angriff auf die traditionell leitbildliche Evidenz: die Evidenz 20a
der formal-analytischen Erkenntnis. These: die Evidenz, die prototy-
pisch ist, wird Problem.
2. Husserl analysiert nicht den einzelnen Akt, sondern den Sinn der Logik
und Mathematik von der U r s t i f t u n g her.
3. Die Gliederung der Logik (Parallelismus).
4. Der Seinssinn der logischen Gebilde: die Idealität.
5. Die subjektiven Sinneshorizonte.
6. | Die problementwerfende Charakteristik der objektiven Logik: ihre 20b
Naivität, ihre Historizität, Anonymität, der Dogmatismus des „Seins
an sich“.

| Wie liegt es im Wesen der Rede, die formale Entleerung zuzulassen? 21a
Ist das ontologische Problem der Formalisierung der Rede schon gestellt?
D. h. ist aus dem Wesen der Rede begriffen ihre mögliche Auffaßbarkeit als
formale Apophantik??
*
Aristoteles hat keine Realontologie im Gegensatz zu einer formalen Ontolo-
gie – sondern eine „Ontologie als Problematik des Seins des Seienden“.
*

1. | Die poetischen Charaktere des Für-uns-Seins-des-Seienden als 22a


„lebensweltliche“ Gegebenheitsweise gegenüber der „substruierten
exakt gedachten Natur“ der Naturwissenschaft, die sich als eine in einer
poetischen Indifferenz (Gleichgültigkeit) fundierte Einstellung erweist.
Problem des existenzialen Sinnes der Naturwissenschaft!?
*
2. Iterationen in festen Iterationsbahnen und Iteration von Iterationsbah-
nen!?
*
3. | Die Frage nach der Seinsart der Erkenntnisrelation? Husserls Metaphy- 22b
sik der Intentionalität bestimmt nicht extern das Wesen der Erkenntnis!?
*
4. Seiendes als Seiendes = Seiendes als verum, unum, bonum!??
*

| Begriff der Phänomenologie: Rückgang auf die ursprünglichen Evidenzen 23a


der Seinserfahrung. Das Seinsproblem wird zum Problem der Evidenz.

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.
I. Evidenz = optimaler Erkenntnisvollzug: Selbsthabe.
II. Evidenz = optimale Erkenntnisart.
III. Evidenz und „Apodiktizität“.
IV. „Subjektive“ und objektive Evidenz (Allgemeinheit und Allgemein-
gültigkeit).
23b | Evidenz und das Problem eines „Erkenntniskriteriums“ (Wahrheitsin-
dex, subjektives Gefühl des „nicht-anders-denken-und-urteilen-Kön-
nens“), biologistische und pragmatistische Deutungen der Evidenz.
V. Evidenz und Axiomatik: „Axiome“ als das „wo von aus“ des Bewei-
sens. Tendenz in der Philosophie, auf einen axiomatischen Satz zurück-
zugehen.
*
24a |
Das Selbstsein als Wesen des Menschen wie hängen die vier
Die Freiheit als Wesen des Menschen Bestimmungen zusam-
Das Spiel als Wesen des Menschen men und welche davon
Das Für-sich-Sein als Wesen des Menschen ist die ursprünglichste?
25a | Das Für-sich-Sein als S e l b s t s e i n.
Nur ein Selbst kann spielen.
Tiere „spielen“ nicht??
Spielen ist nur möglich als Sich zu sich selbst Verhalten!!

26a |  „Ideenrealismus“
Wesen = Seinsmacht des eigentlich Seienden.
Husserls gegenstandstheoretischer Begriff des Wesens.
Demgegenüber der metaphysische Begriff des Wesens (= eigentlich Sei-
endes).
Metaphysik der Wissenschaft.

26b | Das Sein vergessend ist der Mensch auf sich zurückgebogen und steckt den
Kopf in den Sand seiner kleinlichen Ichbekümmerung („Selbstumkreisung“
als Zug der Neuzeit).

Sein (Φύσις). – Der Mensch sich selbst begreifend als Weltwesen ist einge-
stellt in das Ganze des Seienden.

27a | Notiz:
1. Aristoteles „Aporetik“.
2. Reflexionsphilosophie = eine Reflexionskrankheit der Vernunft.

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.
3. Metaphysik: Substanzsein – Kategoriensein – Wirklichkeit, Möglichkeit
– Nichtsein – Wahrsein – Ansichsein – Fürsichsein – Anundfürsich-
sein usw.
4. Heilung des Lebens: die Integrität im Sichzurückholen aus allen „Über-
fremdungen“.
5. Zeit und Zeitbewußtsein? Zeitbewußtsein selbst in der Zeit.
6. Die Weite des „Jetzt“ ???
7. Nietzsches Idee der „Unschuld des Werdens“ am Leitfaden der ästhe-
tischen (künstlerischen) Weltbetrachtung: aber nicht „ästhetisch“ im
Sinne Kierkegaards.
*
8. Die Analyse der „Lebenswelt“ nicht eine schlicht deskriptive Thematik.
Vielmehr eine Epoché notwendig, die die Sinnbildungen reaktiviert.
9. | Husserls Lehre von der Weltapperzeption ist trotz der Sichtung der 27b
Phänomene des „Bodens“, der „Himmelsferne“, der „Inexistenz der
Dinge in der Welt“ eine iterative Wiederholung der Nahzone, wenn auch
in Form der „apperzeptiven Übertragung“. Für ihn ist Welt „später“ als
die Nahzone.
10. Meine Frage an Husserl: Hat die euklidsche Mathematik resp. Geome-
trie nicht in der Konzeption der homogen unendlichen ‹…› den phäno-
menologischen Unterschied von Fernzone und Weltferne übersprungen?
11. Husserls „Phänomenologie“ ist in das transzendentale Problem von ens
und verum zurückzunehmen. Sein ontologischer Grundsatz ist „gegen-
standstheoretisch“.
12. Philosophieren ist ein Fragen, das nicht in der Bewältigung des Fragens
getilgt wird. Der „Fortschritt“ in der Philosophie ist die Ausarbeitung der
immer stärkeren Fragwürdigkeit. Nicht weniger an Fragen
| hat der Ausgang als der Eingang, sondern mehr und besser dieselbe 28c
Frage radikaler.
13. Das Moment des „spekulativen Denkens“ in der Phänomenologie
(z. B. Reduktion)?
14. ‹bricht ab›

| Der Anfang der Philosophie („philosophia prima“) und die W a h r h e i t s ‐ 28a


t h e o r i e, vgl. den Ansatz von
1. Aristoteles (ist der „Satz vom Widerspruch“ ein „logischer“ oder „onto-
logischer“ oder „wahrheitstheoretischer“?),
2. von Descartes (das „cogito ergo sum“ als die wahrheitstheoreti-
sche Grundsetzung)
?????
*

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.
29a | Die drei Bezirke meines philosophischen Fragens:
1. Husserls Phänomenologie entschränkend aus der Enge der Gegen-
standsphänomenologie, aus der Enge der „erkenntnistheoretischen“
Problematik, aus der Enge der „internen Analytik“.
*
2. „Die Bestimmung des Menschen“; Wesen des Lebens als „Spiel“;
das pathische Weltbild; „Bildung“; die Grundmächte: das Heilige, das
Göttliche usw.; Nietzscheinterpretation. Kultur- und Naturbegriff des
Geistes; – Hütte im Oytal.
3. Metaphysik: ens-verum-Problematik. Die Intelligibilität des Seienden.
*
30a | Wesen des Wesens und Wesen des Faktums?
*
Wesen als „Sosein“ und Wesen als wesende Seinsmacht.
*
„Tugend“ (ἀρετή) ist lehrbar: d. h. der Seinsgrad der Vollkommenheit ist
erkennbar. „Tugend“ kein Soll, sondern ein Sein.
*

31a | Der nihilistische Historismus als moderne „Sophistik“!


„Reflexivität der Existenz“: dies ein Zeichen größter Gesundheit, d. i.
Seinsmacht, oder aber auch Zeichen der décadence. Unmittelbarkeit und
Mittelbarkeit als „Kategorien des Lebens“.
*
Auslegung des „Sonderlings“, des Abseitigen, des Asozialen, des „Idioten“.
*
32a | Nietzsche polemisiert gegen das Christentum, sofern er gegen seine
Lebensattitude kämpft. Nicht gegen die „christliche Dogmatik“, sondern
gegen die menschliche Lebensweise, die in der „Dogmatik“ symptomatisch
manifestiert wird.
??
*
33a | Merknotizen:
1. Das Vorverstehen des „Lebensaktes“.
2. Das Sein (Währen) nicht Derivat der Substanz, sondern Substanz (Iden-
tität) = Derivat des Seins.
3. Aufgabe der Philosophie ist die Befreiung der Freiheit, Selbstbemächti-
gung des Lebens: die Gefährlichkeit der Philosophie liegt in der Skepsis
gegen alle „Setzungen“.
4. Staatstheorie:
Meine Analyse richtet sich einerseits gegen die naturrechtliche Auf-

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fassung (und moralische Auffassung) und gegen den romantischen
Antimoralismus (Mensch = Raubtier).
Alles Lebendige in Bezügen der Gewalt. Erscheinungsformen der
Gewalt: Brachialgewalt, List, Reiz, Beliebtheit usw. Staat = stabili-
sierte Gewalt.
| Notiz: 33b
Theoretischer Affekt? Weil Erkennen ein Trieb ist (und nicht ein „reines“
Vermögen, das erst von Willensimpulsen angetrieben werden muß), hat es
seine ihm eigenen Weisen des Begehrens, der Affekte. „Πάντες ἀνθρωποι τόυ
εἰδέναι ὀρέγονται φύσει“.
*
Aristoteles’ Lehre von der Sinnlichkeit vgl. Περὶ της ψυχής. Das „Verhält-
nis“, in welchem ein Sinn und das von ihm Erfahrene zusammenkommen:
das Medium, teils phänomenologisch auffaßbar, teils als ein ontisches,
dinghaftes Medium beschrieben. Vgl. meine These: „Stille ist der Raum
des Lauts“.

| Hegels Bestimmung in der „Einleitung“ zur Phänomenologie des Geistes: 34a


„Das Sein von Etwas für ein Bewußtsein ist das Wissen“ besagt also: Das Sein
des Seienden als Wahrsein (Offenbarsein für …) ist das Wissen.
Und von daher ist der Begriff der W i s s e n s c h a f t zu fassen (ὄν –
ἀληθές). Philosophie als transzendentale Frage nach dem Wahrsein als dem
Sein des Seienden.
*

| Spiel als Spielen des Spiels?? 35a


*
Der Impuls im Spiel, der Start; die Freiheit des Handelns??
*
Selbstvollstreckung als Seinsweise des Menschen ist Spielen.
*
Spielen ist Schöpferisch-Sein, ist „Schaffen“.
*
„Arbeit“ und die Seinsweise des „Schaffenden“??
*
„Sport“ als Spielform des Lebens.
*
| „Spiel“ ist die positive Charakteristik der negativen Bezeichnung „Freiheit“. 35b
Freiheit ist „Freisein wovon und zu“, ist „unabhängig sein“.
„Freiheit“ ist Spielen.

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.
*
Musik (das Problem des Ausdruckscharakters der Musik). Spiel als gestalt-
loses Wesen des Lebens.??
*

36a | Theorie ist nur im Eingehen auf das Problem nachverstehbar und dabei ist
dieses Nachverständnis immer noch Interpretation.
Die Natur philosophischer Probleme: 1) nicht vorhanden, sondern erst
im Entwurf erzeugt. 2) Alles philosophische Arbeiten ist ein Entwickeln
von Problemen, d. i. ein Mächtigseinlassen von Fragwürdigkeit, kein
Beseitigen, sondern ein Wachsenlassen des Problems.
Ist eine Philosophie unter den Aspekt des Problems gerückt, so ergibt sich
1. die Frage, wie und mit welchem Recht ein bestimmtes Problem als das
Problem angesetzt werden kann (Rechtsfrage der Interpretation).
2. charakterisiert sich die Entwicklung einer Philosophie nicht als der
äußere Verlauf der Schriftenfolge, der den geistigen Lebensweg eines
Denkers dokumentiert, auch nicht als die in den Schriften manifest
werdende Entwicklung einer Lehre, von Anfangsstadien bis zum fortge-
schrittensten Endstadium, – sondern als das in der Abfolge der Schriften
indizierte Wachstum eines Problems.
36b | Wird in dem einen Fall die Entwicklung einer Philosophie gleichsam von
der Entwicklung eines Menschen mitgenommen und mitgetragen und mit
Begriffen interpretiert, die lebensgeschichtliche sind, so wird im zweiten
Fall die Entwicklung der bestimmten Philosophie von der Entwicklung der
Äußerungsform übermächtigt, die in wissensfortschrittlichen Kategorien
geschildert wird.
Entartet die Auffassung der Philosophie als Werk in die Psychologisie-
rung und Subjektivierung, so die Auffassung einer Philosophie als Lehre in
die Erstarrung, die Gefahr der Orthodoxie, der Schule und Schülerschaft.
Die wahre Rangordnung also zeichnet sich aus der Rückverweisung des
Werkes auf die Theorie, der Lehre auf den „Sinn“ vor. „Theorie“, „Sinn“ aber
führen auf das Problem als die eigentliche Seinsweise einer Philosophie.

37a 1. | Zum Begriff der Transzendentalphilosophie: Thema der antiken Speku-


lation: ὄν und ἕν und ὄν ὡς ἀληθές und ἀγαθόν (ὠφέλεμον).
Seiendes als Eines (Pythagoras).
Sein als Eines (Parmenides).
*
Aristoteles’ Begriff der „zweiten“ und „dritten“ Philosophie?
Keine Arten des Seienden, sondern „Arten“ des Seins.

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.
*
1. | Gespräch mit Chef.6 38a
Begriff der Wissenschaftsmethodologie im Neukantianismus, Subjekti-
vismus als den Objektivismus einbegreifend.
2. Gespräch am 12.3.37.
Der Begriff der „Naivität“ ein „erkenntnistheoretischer“; demgegenüber
Philosophie eine „höhere Weise des Wissens“. Demgegenüber eine existen-
zielle Charakteristik der Philosophie als „Selbstbemächtigung des Lebens“,
„Befreiung der Freiheit“, „Spiel und Rolle“; Rolle = Tradition. Die „Selbst-
ständigkeit des Lebens“ als Zurückholung aus Verlorenheit (Selbstverges-
senheit); dies leicht zu sehen als Zurückholung aus „Institutionen“, Sitte.
u. dgl.; schwieriger zu sehen ist die Zurückholung aus der naturalistischen
Selbstauffassung als Seiendes inmitten des Seienden. –
Die phänomenologische Reduktion und das „unbeteiligte Ich des trans-
zendentalen Zuschauers“: keine existenzielle Indifferenz.
Die phänomenologische Reduktion als methodologisch reflektier-
tes „Staunen“!?

1. | Philosophie des Philosophierens: Staunendsein inmitten des Seienden. 38b


Das „universale Staunen“: Weltstaunen.
2. Aristoteles’ Lehre von den zweiten und dritten usw. Philosophien!??
3. Aristoteles’ Begriff der „ersten Philosophie“ nicht Ontologie (im Gegen-
satz zu „Erkenntnistheorie“), „Transzendentalien“-Problematik!!
4. Die Philosophie der Sprache muß ihren Ansatz nehmen nicht in einer
Analyse des Verhältnisses von Wortlaut und Bedeutung, sondern vom
Bereitstand der Sprache. (Die „Ontologie“ der Vorzeit.)
5. Aristoteles’ Lehre vom Leitbegriff der Philosophie als „Theorie der
Wahrheit über das Seiende im Ganzen“, und das Problem des Staunens.
Begriff des philosophischen Wissens. Keine Erkenntniserweiterungen,
sondern die Vertiefung des Staunens: d. i. des SichzumSeinVerhaltens.
6. Aufgabe in einer Zeit des dogmatisch tätigen Lebens: das Wachhalten
der großen Fragen. „Auf den Bergen brennt das Feuer des Geistes“.7

6 Vermutlich ist Husserl gemeint. In den meisten Fällen nennt Fink Husserl jedoch ausdrück-

lich wie in 1a, 39a, 41a, 42a, 93b und 108b.


7 : Möglicherweise die erste Verszeile eines Liedes – „Wenn auf den Bergen brennt das Feuer“

–; zugleich taucht dieses Bild häufig bei Nietzsche auf, vgl. z. B. als „Das Feuerzeichen“ in
den Dionysos-Dithyramben.

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39a | 27.VII.37 Gespräch mit Husserl.
Meine Thesen:
1. Die Situation der Jugend ist heute die Situation nach der Sintflut
des Nihilismus. Nihilismus ist das geschichtliche Grundgeschehen der
Gegenwart. Die Erfahrung der „Sinnlosigkeit“!?
2. „Sinn“ ist Ausdruck der Stellungnahme des Menschen zu sich selbst
und Welt. Tiere leben „sinnfrei“, der Mensch sinnhaft, d. i. entweder
„sinnvoll“ oder „sinnlos“.
Das „sinnhafte“ Leben gründet im Fürsichsein des Menschen.
4. Das Tier lebt ohne Ideale, der Mensch lebt im Entwurf von „Idealen“.
„Ideal“ ist Ausdruck für die biologische Grundverfassung des Men-
schen.
5. Das „Idealentwerfen“ ist keine offen bewußte Tätigkeit des Lebens,
vielmehr seine verborgenste Handlung. Wir wachsen in
39b | „Ideale“, d. i. Wertschätzungen als Lebensinterpretationen hinein, in
Form von Religionen, Sitten (auch die „innere Sitte“ des „Gewissens“).
„Ideale“ sind von außen begegnende Sinnhaftigkeiten, denen wir die
eigenen, die Liebhabereien, die Wünsche, die „Helden der Seele“ entge-
gensetzen.
7. Auf dem Idealentwurf des Lebens gründet die Möglichkeit von „Insti-
tution“. Die meisten „Revolutionen“ wandeln bestimmten Inhalt von
Institutionen, aber nicht die Institutionen. Die meisten staatlichen Revo-
lutionen lassen „Staat“ bestehen.
Die „Autonomie“ der Renaissance stellte die tradierten Institutionen
nicht in Frage, sondern lediglich die religiöse Form der sie tragen-
den „Ideologie“.

40a | „Das Problem der Transzendentalphilosophie im Hinblick auf Kant


und Husserl“.8
ens qua ens = metaphysica generalis
qua unum
qua verum = metaphysica specialis
qua bonum
1. Seiendes als eines und Sein als eines (Kosmologie)
2. Seiendes als wahres und Sein als wahres (Psychologie)
3. Seiendes als gutes und Sein als gutes (Theologie)

8 Zum Zusammenhang einer mit diesem Titel benannten Schrift siehe 63a–b.

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| II. „Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls“ 40b
1. Der rückleitende Charakter der Phänomenologie
2. Die Methode der gemeinen Erfassung des „Lebens“
3. ‹bricht ab›
| 30.VII.37 41a
1. Gespräch mit Husserl:
a. Der Einwand gegen die „Ichspaltung“ im Vollzug der phänomenologi-
schen Reduktion.
b. Jaspers: Einwand gegen Descartes, das Ich ist kein Bewußtseinsich,
sondern „Existenz“. Bewußtseinsich ist eine theoretische Konstruktion
aufgrund des konkreten Ich. –
Person (oder „Existenz“) ist pathetisches Sein. – Die „kurzatmige“
Interpretation des „Pathos“ durch die moderne „Existenzphilosophie“.
2. Kolloquium bei Kaufmann:
1. These von der „Objektivität“ des historisch gegebenen Philoso-
phems. Interpretation vom Problem aus. Seinsart von „Problem“.
2. Nietzsches Wendung vom „Dionysischen“ zu „Dionysos“: als
Überwindung der naturalistischen Kategorie des Lebens.

| Meine Thesen im Husserlgespräch am 4. Nov. 1937: 42a


1. Hegels Theorie des „philosophischen Satzes“ als Schlüssel zum Ver-
ständnis seines Begriffes der Dialektik! [Gegen die statische „ontische
Wahrheit“ die bewegte „spekulative“].
2. Begriff der „natürlichen Einstellung“? Ist diese unphilosophisch oder
das schlafende Philosophieren? Der Begriff des Menschen als des „Phi-
losophierenden“.
3. Das „Staunen“ als Ursprung von Religion, Kunst und Philosophie.
4. „Welttrunkenheit der Vernunft“ = Staunen.
5. „Im Freien philosophieren“ = inmitten der Dinge, in Wind und wei-
tem Raum!
6. Aufgabe der „Phänomenologie“ ist das positive Begreifen der Möglich-
keit der spekulativen Denkens!! (Intuitives Problem des Signitiven!!)

| Sie gibt nur einen Wink! 42b


Trotzdem philosophiert der Mensch immer schon: aber im Modus der
„Trägheit“. Sprache ist zum Stehen gekommene Philosophie. In der Kunst ist
sie noch „lebendig“.
Philosophieren ist „sich zum Sein Verhalten“

I. | Husserls Exposition der Logik als eines transzendentalen Problems? 43a


1. Inwiefern ist die Evidenz der Logik kein traditionelles Problem?

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Leitthesen:
1. Logik ist evidente Erkenntnis leitbildlichen Charakters.
2. Evidenz der Logik ist apodiktische Evidenz.
3. Leitbildliche Evidenz ist apodiktische.
4. Apodiktische Erkenntnis?
Modalität der Urteile und die Modalität der Erkenntnis.
„Evidenz“ als Modalität der Erkenntnis.

Fällt Evidenz und Apodiktizität zusammen?

Dies ist der Ansatz, von dem aus Husserls Exposition der Logik als eines
transzendentalen Problems entwickelt werden soll.
1. Apodiktizität als Seinscharakter der Gegebenheitsdignität eines Seien-
den.
„Formale und transzendentale Logik“

44a 1. | Die erkenntnistheoretische Position der Phänomenologie: Das Sein der


Dinge eine Antizipation, eine Präsumption auf ein Bewährungssystem,
das Horizonthafte.

Husserl gibt keine Deskription der Evidenz der logischen Erkenntnis, weil er
sie voraussetzt.
Gerade dies ist das Positive, daß er die Evidenz der „logischen Erkennt-
nis“ ‹bricht ab›

44b 1.| Keine Bestimmung der logischen Evidenz?


2.Die traditionelle Charakteristik der logischen Evidenz:
a. Bewußtsein der Notwendigkeit (impliziert Allgemeinheit und Allge-
meingültigkeit).
b. Der Sinn der Allgemeinheit unterbestimmt, ebenso die Intersubjek-
tivität als Sinneshorizont der Allgemeingültigkeit.
c. Die skeptische Kritik an der logischen Evidenz, Gültigkeit
= Gewohnheit.
d. Husserls Leistung in den Logischen Untersuchungen: Die erledi-
gende Kritik des Psychologismus.
45a | Die Evidenz selbst ist die der formalen Erkenntnis: die der notwendi-
gen Folge.
Die ontologische Charakteristik der „Notwendigkeit“. Notwendigkeit
und Allgemeingültigkeit.

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Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit. Möglichkeit

1. | Weltbegriff (Tier = ansichseiendes Bewußtsein, „weltloses“ Leben?) 46a


Tier, Schlaf, Wesen als Seinsmacht, Φύσις, „ontologische Erfahrung“

| Rilke 47a
1. Der Dichter als der „Erkennende“, d. h. der das eine im anderen
„erkennt“, der Erbarmende der Dinge, der Umarmende der Dinge. Das
dichterische Wachsein ist für das Sein der Dinge wichtig. Das Seiende
kommt im Dichter zur Heilung und Heiligung.
2. Die dunkle Nacht der Φύσις, „Abendlicht, Wiesenhang, Wind, Stern“,
das Gestaltlose, die Umfängnis der Natur und das Herausfallen des
Menschen. Die Mächte des Dunklen und die apollinische Helle! –

| Gedanken bei der Unterredung mit Prof. Bühler.9 48a


1. Metaphysik des „Selbst“
2. Die Ontologie des „Lebendigen“ (Tier als „Mitgenommenes“)
3. Spiel (psychologischer und metaphysischer Begriff)
(z. B. Spielen ist kein „als ob“, aber auch nicht die Wirklichkeit der
alltäglichen Sicht der Dinge)
(Spielen ist bedürfnisfreier Verkehr mit den Dingen, so sind sie die
„Spielsachen des Menschen“)
(Spiel und Rolle; Spiel und Kind; Spiel und Götter; Spiel und Frei-
heit; Spiel und tiefere Sicht auf die Dinge) (Spiel und Fürsichsein)
4. Begriff von Bild und Traum („Film“?)
5. | Wesen des Menschen als „Fürsichsein“ (= Spiel = sichzusichselbstver- 48b
halten = Selbstsein = Freisein: Ehre, Scham, Würde, Werk, Ethos.)
Rolle.

| Naturbegriff und Kulturbegriff des „Philosophierens“: 49a


1. Spielen, Freiheit, Staunen, Bodenlosigkeit, unversehrtes Leben,
„ὁμοίωσις θεῷ“, Φιλο-Σοφία, Loslassen und Suchen.
2. Verzweiflung, καθάρσις, μελέτη θάνατου, ἕνωσις.
3. Sein, Eine, Wahre, Gute, – ἀει ὄν (Wesen).
4. Tod, Gerechtigkeit, Güte, Gott und Götter, ἄνγελοι
5. Leidenschaft, Schicksal = Selbst (Endlichkeit des Selbst)

9 Außer Sprachtheorie (Jena 1934) hat Karl Bühler 1918 (Jena) Die geistige Entwicklung des
Kindes veröffentlicht, von dem bis 1930 mehrere Auflagen erschienen.

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49b 1. | Das subjektiv-objektive Einheitsschema („Bewußtseinsanalyse“ –
„Ontologie“) = dies ist eine intentionalistische Vorentscheidung über das
Wesen des Seienden.
2. Husserls Metaphysik des „leistenden Lebens“???
= ein Irrweg; subjektivistisches Verkennen des Problems des ὄν ἀληθές
3. Mensch als „anthropozentrische Weltmitte“ und als „Seiendes, in dem
Wahrheit geschieht“ (Weltwesen) [Ἀληθέυειν!]

50a | Gespräch mit Prof. Méry, Maixent (28.8.38)10


1. Hegel:
a. methodischer Grundsatz der Interpretation (nicht die Thesen als
Resultate in einem plausiblen Sinne nehmen, sondern vom Problem
her verstehen! Z. B. Kant, Descartes, Fichte, Hegel. = keine sub-
jektivistische Thematik, sondern das Problem von ὄν ὥς ἀληθές,
d. h. das Problem der transzendentalen Bestimmung des Seins des
Seienden als Wahrsein).
50b b. | Kants Frage nach den „synthetischen Urteilen a priori“ = Frage
nach dem Wahrsein des Seienden!
c. Der Verlust des transzendentalen Problems des ἀγαθόν in der
Neuzeit (moralische Auffassung des ἀγαθόν; zusammen mit der
„Moralisierung des Christentums“. Das Ἀγαθόν nicht mehr als
ontologisches Problem der Seinsvollkommenheit!).
d. Die geistesgeschichtliche „anthropozentrische“ Wendung der Neu-
zeit als Grund der philosophischen Thematisierung der sog. „Sub-
jektivität“ mißverstanden!
51a | (Gespräch mit Méry)
2. a) Husserl immanentistisch oder „realistisch“? (Φαινόμενα und Ding
an sich!??) [b) Sinnlichkeit – Denkbestimmungen des Seienden!?] Dieser
Unterschied von Ansichsein und Fürdasbewußtsein-sein, mit dem die tra-
ditionelle Philosophie spekulativ operiert, ist für Husserl eine vorläufige,
vorphänomenologische Unterscheidung, die erst einer intentionalen Analytik
unterworfen werden muß. Die massiven Vorstellungen von Gegenstand
und Wahrnehmungsakt, die das natürliche Bewußtsein bereit hat, sind
philosophisch unzulänglich und fragwürdig. Die intentionale Explikation am
Leitfaden von Einheit-
51b | Mannigfaltigkeit der Erscheinungsweisen und Gegebenheitsweisen führt
zu einer Wandlung der Unterscheidung von Ding an sich und Ding für uns.
Dieser gewandelte ‹bricht ab›

10 Die genaue Identität dieser Person ist nicht bekannt.

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| Hütte im Oytal. Einsamkeit des Menschen vor Gott. Gott: das Geheimnis 52a
der Welt, das sie verbirgt, „Der Erde treu sein“ – d. i. in der Spannung leben
zwischen Gottferne und Gottsuchen: d. i. mitten zwischen Nichts und Gott.
Der Mensch ein Spannungswesen: Schopenhauers Antithese von Gehirn
und Geschlecht. Die Scham und die erotische Bewußtheit. Ehe: ist erotisch
Resignation; ist eine Form der Haltung, vielleicht eine sinnvolle oder
sinnlose Tapferkeit. Ehe ist keine institutionelle Regelung des menschlichen
Geschlechtsbedürfnisses, eine staatliche Kanalisation der Sexualität; sie ist
eine Lebenskameradschaft, eine Bergung vor dem heillosen, dunklen und
nächtlichen Leben, ein Sakrament des Lebens; Zusammenleben, Altwerden,
Freud und Leid teilen.
*
| 52b

Ehe ist keine Lebensform, die glücklich im sinnlichen Sinne macht: Einbruch
der fleischlichen Lockungen. Aber sie ist wie das „Gute“, das Gütige, das
eigentlich Menschliche, die Mutterliebe, das Heilige: ein Hauch Gottes in der
Wüste der fleischlichen Begierden.
*
Die ostasiatische Lösung von Ehe und sexuellem Glück: sie ist span-
nungsloser als die europäische Form, die den Ehebruch als Sünde begreift
und auch in der Prostitution das Konkubinat diffamiert hat; aber sie wirft den
Menschen nicht auf den anderen Stern.
*

| Orionik, oder die prinzipielle Einmaligkeit einer Ehe. Wenn Ehe nicht nur 53a
staatliche Regelung des Geschlechtsverkehrs und der Kinderaufzucht ist,
sondern ein „Sakrament des Lebens“ ist, so ist sie wie die Gerechtigkeit
übergreifend über den Gegensatz von Tod und Leben und hat wie jene
einen Sinn, der über die Binnenzeit des irdischen Daseins hinausgeht: die
Vollendung der Ehe im Leben nach dem Tode!! Das ist der Sinn der Worte:
Ehen werden im Himmel geschlossen.
*
| Die Konzeption einer moralfreien, „rein ontischen“ Betrachtung des Lebens 53b
ist der Gefahr ausgesetzt, in jenen abstrakten und völlig irrtümlichen „Natu-
ralismus“ zu verfallen, der den „Menschen als Raubtier“, als Triebwesen
ansieht, wobei gerade der Begriff des Triebhaften aus der negativen mora-
listischen Skala stammt, also die Amputation des Lebens bedeutet gerade
hinsichtlich der Lebenstriebe des Gütigseins, des Opfers, der Liebe. –
Ähnlicher Irrtum wie die übliche Entgegensetzung von Leidenschaft
und Erkenntnis.

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.
*

54a | Das Problem der „Urgötter“, der Urüberlieferung, des orphisch-pythagorei-


schen Wissens um das Schicksal der Seele, den Kreislauf der Wiedergebur-
ten, das Wissen um das den irdischen Verlauf des Lebens übersteigende Sein
der Seele.
*
Philosophie und Religion: transzendentales Wissen und Offenbarungswissen
(Schelers Begriff des „Erlösungswissens“??)
*
Die Liebesreligion des Christentums: Leid und Güte tiefer als Lust. –
*
Die Heilung des Lebens ist seine Bergung im Heiligen, im Geheimnis,
seine Heiligung.
*
54b | Spiel und Transzendentalphilosophie?
Pathisches Weltbild und Metaphysik?
Spielen ist „Für-sich-Sein“
*

55a | Die Würde des Menschen ist seine „Selbständigkeit“, d. i. der „Stand im
Selbst“. „Selbst“ ist das „Fürsichsein“, d. h. das freie Sichzusichselbstverhal-
ten, oder das „Spiel der Freiheit“.
Was ich als Forderung der „Wahrheit meines Lebens“ ansehe, ist dies:
Selbständigkeit in der Stellung zu allen Fragen des Daseins, d. h. des ganzen
Welt- und Selbstverständnisses. Dies ist mein „Gewissen“!
*

Selbständigkeit ist die Wahrheit der Φρόνησις! nicht ein Prinzip der „theore-
tischen Wahrheit“.
*
56a | Aristoteles’ „fünffache Erschließung der Welt“ (Heideggers Interpretation)
1. IJ੼ȤȞȘ Kunst)
2. ਥʌȚıIJȒȝȘ Wissenschaft) Die fünf Weisen des
3. ijȡȩȞȘıȚȢ ÄGewissen“) ܻȜȘșİުİȚȞ
4. ıȠij઀Į Weisheit) YJONikomachische Ethik
5. ȞȠ૨Ȣ ÄNus“?) VI. Buch Kap. 3)
IJ੼ȤȞȘ EH]RJHQDXIGDV6HLHQGHGDVDXFKDQGHUV
ijȡȩȞȘıȚȢ VHLQNDQQÄIJઁ ȜȠȖȚıIJȚțંȞ³
ਥʌȚıIJȒȝȘ EH]RJHQDXIGDV6HLHQGHGDVnicht DQGHUVVHLQNDQQ
ıȠij઀Į DXIGDVEwige ÄIJઁ ਥʌȚıIJȘȝȠȞȚțંȞ³

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φρόνησις = „Gewissen“ oder die Erschlossenheit der „Existenz“
(= „praktische Vernunft“ ???)

| σοφία = („theoretische Vernunft“?) Wissen der ἀρχαί und αἴτια 56b

1. | Das Äußern als Kraft des Wesens. 57a


Wesen ist das eigentliche Seiende, das sich „darstellt“
Die Epiphanie des Wesens.
Das Seiende „scheint“:
tritt außer sich,
„zeigt sich“? „Sichzeigen“ als Aktivität im Seienden, „Herauskom-
men“, „Aufgehen“, „Heraustreten“, „Ausströmen“,
| „Sichoffenbaren“, „Sich äußern“ 57b
S i c h - A u s l a s s e n Auslassung als die Kraft des Wesens

Reihe LVIII:11
| Landgrebe, Einleitung zu Logischen Studien: LVIII/1a
Generelle Kritik:12
Die Einleitung macht nicht das Problem der Schrift zum Expositionsthema:
nämlich, warum eine philosophische Aufklärung der Logik resp. der logi-
schen Evidenz zu einer Theorie der Erfahrung werden muß; – warum die
Genealogie der Logik zur Analyse ihres Gründens in der lebensweltlichen
Erfahrung werden muß.
Statt dessen zeichnet Landgrebe einen plausiblen Motivationsgedanken-
gang, der nicht nur Sprünge macht, sondern gerade auch das
| eigentliche Problem cachiert und eine „petitio principii“ begeht, indem der LVIII/1b
zentrale Problemgedanke als Beweismittel verwandt wird.
*
(1) | Landgrebes Zitat aus der Formalen und transzendentalen Logik13 LVIII/2a
bezieht sich nur auf die vorläufige parallelistische Unterscheidung von
„formaler Apophantik“ und „formaler Logik“, die bei Husserl nur für
den Ansatz des Problems dient und in der Entfaltung der Problematik
aufgehoben wird.
(2) | Ist der „historische Begriff“ der Logik = formale Apophantik? Oder ist LVIII/3a
dies eine Konstruktion Husserls? Muß nicht die „syllogistische“ Logik
des Aristoteles aus der Leitfadenfunktion des λέγειν für die Gewinnung

11 Die Blätter wurden mit einer Heftklammer zusammengeheftet, aber erst vom zweiten Blatt
an von Fink nummeriert (von 1 bis 11).
12 Vgl. Z-XXVIII 17a.

13 Erfahrung und Urteil, S. 2, Anm. 1; Hua XVII, I. Abschn., Kap. 4 und 5.

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des strukturierten Seinsbegriffs begriffen werden?
Ist der Satz vom Widerspruch z. B. bei Aristoteles ein „wahrheitslogi-
sches“ Prinzip? Oder ein wahrheitstheoretischer Grundsatz über die
Offenbarkeit von Seiendem überhaupt?
LVIII/4a (3) | Der „Vorbegriff“ der Logik?
Aristoteles’ Position ist nicht gleichartig mit derjenigen Husserls, was
das Verhältnis von prädikativer Sphäre und vorprädikativer Sphäre
betrifft; sie verhalten sich sozusagen umgekehrt zueinander.
LVIII/5a (4) | Landgrebe operiert von Anfang an mit dem allgemeinen, noch nicht
bestimmten Begriff der „Genealogie“, der „genetischen Methode“. Das
bedeutet, er gewinnt den Sinn der Genealogie nicht aus dem Wesen
der intentionalen Problemstellung, die eine intentionale Rückfrage ist,
sondern supponiert von vornherein eine Bedürftigkeit der Logik, genea-
logisch aufgeklärt zu werden.
*
LVIII/6a (5) | Der Begriff des „ὑποκείμενον“ vieldeutig! Es wird nicht klar, ob
damit das Satzsubjekt in der Sprachsphäre gemeint ist oder das vor
aller Prädikation liegende sprachfreie Ding, das dann Gegenstand einer
Beurteilung wird.
Diese Unklarheit hat Konsequenzen, weil Landgrebe später mit dem
„Gegenstand-worüber“ operiert und ihn dann als Voraussetzung, als
Bedingung verwendet im Sinne der Vorgängigkeit des vorprädikativen
Urteilssubstrates vor der Beurteilung.
LVIII/7a (6) | Urteil als Gebilde? Gebilde = Sprachding oder Gedankending?
Landgrebes Einführung des Begriffs der „Doppelseitigkeit der Logik“
soll ihm dienen, den Gedanken der Genealogie mit dem Evidenzproblem
zusammenzubringen. Aber hier ist der Gedankengang nicht klar.
1. Bisher war von der traditionellen Logik die Rede. Jetzt erscheint plötz-
lich der „Logiker“ im phänomenologischen Verstande.
2. Die subjektive Seite der Logik müßte doch sein
LVIII/7b | eine phänomenologische Analyse des logisierenden Denkens des Logi-
kers und nicht eine Evidenzanalyse des Urteilenden, unter Aufweisung
der Fundiertheit seiner Urteilsevidenz in der Evidenz der den Gegen-
stand selbst gebenden Anschauung. –
Eine fundamentale Unterscheidung ist hier notwendig, die Husserl in
der Formalen und transzendentalen Logik nur einmal streift und sonst
auch (wie Landgrebe) vernachlässigt:
1. Der Logiker ist in Urteilen logisierenden (formalisierenden – idea-
lisierenden) Denkens eingestellt auf die idealgesetzlichen Formen

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wirklichen Urteilens, das im Husserlschen Modell immer ein Beur-
teilen einer Sache ist.
2. Der Beurteilende ist im Urteilen eingestellt auf Dinge.
(7) | Der Begriff der „phänomenologischen Genealogie“ ist hier erst LVIII/8a
bestimmt als „subjektive Logik“. Aber warum ist diese nicht charak-
terisiert als eine Phänomenologie des Denkens des Logikers, warum
rückt unvermerkt an diese Stelle die Phänomenologie der Evidenz des
Urteilenden (d. h. hier des eine Sache Beurteilenden)??

(8) | Ist alles Urteilen im Dienste der wissenschaftlichen „Feststellung“ oder LVIII/9a
ist es zuerst aus dem Gesamtphänomen der Sprache zu begreifen?
*
Landgrebes durchgängiges Modell für das Verhältnis von Prädikation
und vorprädikativer Sphäre ist die Situation einer Beurteilung eines
wahrnehmungsmäßig gegebenen Dinges.
Der Vorzug dieses Modells wird aber nicht aus der intentionalen Rück-
verweisung auf den „Urmodus“ dargetan, was ja Husserls konstruktives
Prinzip der intentionalen Deskription ist. –
(9) | Ist alles Urteilen „fundiert“ in vorgängiger anschaulicher Selbstgebung LVIII/10a
des „Gegenstandes, worüber …“? Urteilen als Sinnäußerung!?
(10) | (Landgrebe unterscheidet nicht die Evidenz des Logikers von der LVIII/12a
Evidenz des Urteilenden, dessen Urteile das Material für die formali-
sierende Abstraktion des Logikers bilden.
Natürlich geht die Evidenz des Urteilenden resp. Be-Urteilenden
auch den Logiker etwas an, sofern darin allgemeine Bedingungen der
Wahrheit von Urteilen herauszuheben sind.
Aber die bloße Vorgängigkeit des Urteilssubstrates vor der Beurtei-
lung ist kein zwingendes Motiv für eine phänomenologische Genea-
logie der Logik.
| Landgrebe gibt im Ganzen dem Problem der „Genealogie“ eine Moti- LVIII12b
vation, die eine scheinbar einleuchtende Verkettung von „Wahrheits-
charakter von Urteilen“ – „subjektive Logik“ – „Evidenzproblem“
usw. darstellt, aber einer Reflexion nicht standhält.
*

(11) | Landgrebe benützt (aus einem Husserlmanuskript) den Gedanken der LVIII/11a
intentionalen Verweisung auf ursprüngliches Urteilen als unmittelba-
res originäres erzeugendes Urteilen aufgrund der Selbstgegebenheit
des Urteilssubstrates, um das Urteilen über Individuelles ‹bricht ab›
*

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59a | Nietzsches Polemik gegen die „Moral“ entspringt dem Verfall des transzen-
dentalen Problems von ὄν – ἀγαθόν, der Trennung von Sein und Sollen, Sein
und Wert. Nietzsches Tendenz war gerichtet auf eine ontische Erfassung der
Phänomene der Moral. Gerade weil er von der Trennung ausging, erschien
ihm das Seiende an sich wertfrei, jenseits von Gut und Böse; er wollte
keine Illusionen, wollte sich nichts vormachen, wollte nicht befangen sein
in den „Idealen“ des „Guten“, sondern unerbittlich, d. h. philosophisch das
Seiende sehen, wie es ist, nicht wie wir es durch „Wünschbarkeiten“ und
Zweckmoralen verdecken.
Das Leben als das Seiende, das wir sind, (und auch Tier und Pflanze) ist
„unverstellt“ und „ohne Illusion“ Wille zur Macht.
Nietzsches Seinsbegriff enthält die Ausschließung des ἀγαθόν aus dem
Sein des Seienden, und dieser nicht-transzendentale Seinsbegriff muß als die
Wurzel von Nietzsches Kampf gegen die „Moral“ angesehen werden.
59b | Deswegen Nietzsches furchtbares Bild von der „Natur“, d. i. dem Seienden,
wie es an sich ist; Natur als Privation der Seinscharaktere des ὄν – ἀγαθόν!!
Der transzendentale Begriff des „Guten“ ist kein moralischer Begriff,
sondern ein Begriff der Metaphysik oder der „theoretischen Philosophie“.

60a | Memorandum über die Nachlaßmanuskripte E. Husserls.14


1. Die Beurteilung: Die analytische Phänomenologie!
2. Die „Situation“ der Entstehung dieser Manuskripte – Eigenart der Manu-
skripte!
3. Publikation mit Niveau und unter Niveau.
4. Tragische Situation, daß die Energie des radikalen Denkens die Mög-
lichkeiten der Auswertung übersprungen hatte.
5. Die Bedingungen einer zureichenden Publikation: 1) Ausarbeitungen
mit strengstem Maßstab. – Keine „Philologie“, – keine willkürli-
chen „Interpretationen“.
6. Die Leute mit der Qualifikation: Landgrebe, Patočka, Cairns, Fink.
7. Eine Angelegenheit von höchstem menschlichem Interesse – aber keine
materielle Grundlage dafür.
8. Völlig verfehlt und unter der Würde ist der Vorschlag, mit ein paar
vorläufigen Publikationen „Stimmung“ zu machen. Kein Betrieb um
irgendwelcher Effekte willen. Philosophie ist wie alles Große „ohne
Nutzen“ und kann nie als „Mittel“ gebraucht sein.
*

14 Ob von Fink eine formelle Erklärung der hier entworfenen Punkte in Leuven abgegeben

wurde, konnte nicht mehr ermittelt werden.

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| Memorandum über die Nachlaßmanuskripte Edmund Husserls 60b
von Eugen Fink
| Das Problem von Sein und Wahrheit! 61a
1. Der Gedankengang ist: Wenn außerhalb des Absoluten ein wahrhaft
Seiendes behauptet wird, ist es widersinnig. Aber nicht ein bloßer
Widersinn, der sich aus dem Begriff des „Absoluten“ als des Inbegriffs
des wahrhaft Seienden analytisch ergibt. Der Widersinn ist ein Verken-
nen der Seinsnatur des Wissens und der Seinsimmanenz des Wissens
überhaupt; als solches Verkennen ist es ein Ausweichen vor der Wahrheit
des Philosophierens, wo der dunkle Zusammenhang von Sein und
Wahrheit ausdrücklich in Frage kommt.
2. Das Absolute allein wahr; heißt nicht das Totale allein wahr im Gegen-
satz zum Einzelnen; sondern das eigentlich Seiende allein wahr, d. h.
wahr im eigentlichen Sinne.
Der „parallele Bezug“ zwischen eigentlichem Sein und eigentli-
cher Wahrheit!
Wahrheit nicht gleichen Wesens

| Sehr verehrter Herr Professor! 62a


Mit einer Bitte, die zu erfüllen Ihre Zeit beanspruchen würde, wage ich
Sie zu stören. Ich bin zur Zeit mit der Druckfertigung eines Manuskriptes
beschäftigt, das zum Thema hat: „Die Lehre vom Weltbegriff“. Der Aufriß
ist folgender:
I. Weltweisheit.
II. Aristoteles’ Weltbegriff.
III. Suarez’ Weltbegriff.
IV. Ed. Husserls Weltbegriff.
V. M. Heideggers Weltbegriff.
Darf ich Sie bitten, den beigelegten Abschnitt über Ihren Weltbegriff einer
Durchsicht zu unterziehen, die es mir möglich machen würde, ein krasses
Mißverständnis zu vermeiden?
M. Heideggers „existenzialer Weltbegriff“:
I. Die transzendentale Form des „existenzialen Weltbegriffs“.
II. Welt und Dasein (der Weltentwurf).
III. Welt und Erde (Seiendes als Seiendes). 15

15 Offenbar Entwurf eines undatierten Briefes an Heidegger hinsichtlich des Projekts der in

V-II entworfenen Schrift. Finks Durchstreichung einer ganzen Seite – wie hier – bedeutet
oft, dass sich die entsprechende Angelegenheit erledigt hatte; bislang ist kein an Heidegger
gerichteter Brief Finks zu diesem Thema bekannt.

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62b | Zu Kants „transzendentaler Frage“:
I. Kants Frage = „Kritik der reinen Vernunft“ oder „Wie ist metaphysi-
sche Erkenntnis möglich?“?
II. „Erkenntnistheorie“ oder Ontologie? Nein: Wahrheitstheorie.
III. Die antike Problematik (ὄν – ἕν – ἀληθές – ἀγαθόν) als der vierfache
Horizont der Metaphysik. (Seins-, Welt-, Wahrheits-, Gottesproblem.)
IV. ὄν ὡς ἀληθές: zentrale Thematik der „modernen“ Philosophie von
Descartes – Hegel. Keine reflexiv-thematische Wendung zum Sub-
jekt, sondern zur „Vernunft“ als dem Grunde des Wahrseins des
Seienden (Wahrheit = das Währen des Seienden!).
V. Wahrheit als Wahrsein des Seienden. (Ist das Sein des Seienden das
Wahrsein??) Transzendentale Bestimmung des Seienden als „Wah-
ren“!
VI. „Wie ist synthetische Erkenntnis a priori möglich?“ als die Frage nach
dem Sein des Seienden, sofern
63a | es als solches schon ein wahres, d. h. ein erhelltes ist. Also keine
Untersuchung des Erkenntnisvermögens als eine vorgängige Aufgabe
(Werkzeuginterpretation!!), sondern die Frage nach dem Sein des
Seienden als (transzendental gleichbedeutendem) Wahrsein des Seien-
den: diese Wahrheitstheorie ist Kants eigentliche Frage. Die Helle
des gelichteten Seienden, die der tragende Grund der antiken leiden-
schaftlichen Frage nach dem Seienden war, wird selbst Problem: ὄν ὡς
ἀληθές (ens qua verum); der Mensch als Weltwesen.
VII. Kants „transzendentale Erörterung“ = Frage nach der Möglichkeit der
metaphysischen Erkenntnis als Frage nach der Möglichkeit des Wahr-
seins als einer transzendentalen Bestimmung des Seins des Seienden.
VIII. Kants „transzendentale Deduktion“ = als wahrheitstheoretische
Bestimmung der Möglichkeit des apriorischen Wahrseins des Seien-
den.
IX. Denken und Anschauung.
X. Transzendental Fragen = vierfältiges Fragen der Metaphysik. (Einheit
des Seins-, Welt-, Wahrheits-, Gottesproblems!)
63b | Anmerkung zu „Kants transzendentaler Frage“:
Dieser Artikel skizziert den Grundgedanken des I. Teiles eines Vortrages, den
der Verfasser unter dem Titel „Das Problem der Transzendentalphilosophie
bei Kant und Husserl“ im Dezember 1935 in der Kantgesellschaft zu Dessau
gehalten hat.16

64a | Problem der Ἁλήθεια


Seiendes mitten unter dem Seienden versetzt in das Sein

16 Vgl. 14a oben.

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| Sein intelligibel Sein nicht total intelligibel 64b

Hegel gegen Kant


Ontologie und Erkenntnistheorie Erkenntnistheorie
N. Hartmann Ontologie
| Hegels Bestimmung der „Phänomenologie des Geistes“ in der „Einleitung“ 65a
als Weg der Seele ist die Formulierung der „rationalen Psychologie“ als der
Grundlegung der Philosophie. „Weg“ der Seele ist Bewegung (Selbstbewe-
gung der Selbstfindung und Selbsterfahrung, Wesenssuche). Dieser Weg –
„Heimsuchung“ – ist „Methodos“ (μέθοδος). In diesem Sinne ist die Methode
das Erste der Philosophie
Die erste Philosophie (πρώτη φιλοσοφία). –
„Weg der Seele“ ist nicht Weg, auf dem die Seele in einem anderen geht,
sondern Weg in sich selbst. „Insichgehen“

1. | Philosophieren als ein „Erwachen“. Deshalb im Ruck, im Sprung, im 66a


„Entsetzen des Staunens“ zu vollziehen, das ein Loslassen und Abstoßen
von … ist
*
2. Descartes’ Problem von Sein und Wahrheit als die transzendentale
Leitfrage der neuzeitlichen Philosophie ist seit seiner Inauguration
überlagert und verdeckt von seinem Mißverständnis als eines Absehens
auf einen „Methodismus“.
Dieser Methodismus wird gesehen in der Vorrangstellung der „Erkennt-
nistheorie“.
Die Polemik Hegels gegen die „Mittel“-auffassung der Erkenntnis richtet
sich [vielleicht] zutiefst gegen das „methodistische Mißtrauen“ als der
Verfälschung des echten Problems von Sein und Wahrheit.
| Denn die Mittelauffassung ist i m G e f o l g e der „methodisti- 66b
schen“ Erkenntniskritik.
Weil man im voraus „kritisch“ (mißtrauisch) eingestellt ist, fordert
man eine Kritik der Erkenntnis und zwar eine vor der Erkenntnisaktion als
Philosophie vorangehende (!)
[Ist Propädeutik der Philosophie die Erkenntniskritik der vorphilosophi-
schen Erkenntnis – oder der Erkenntnis überhaupt (wobei die Leistung und
das Wesen der „Erkenntnis überhaupt“ im unausgesprochenen Hinblick auf
die vor-philosophische Erkenntnis bestimmt wird).]
| Zu unterscheiden: 66c
1. Erkenntniskritik (der Erkenntnis überhaupt) vor der Erkenntnisaktion
überhaupt. (Ohne die Erkenntnis einer Verwirklichung auszusetzen.)

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2. Erkenntniskritik, die – in unbewußter Bindung an eine vorgegebene Idee
von Wahrheit – die Erkenntnis untersucht, ohne sie als Erkenntnis des
Seienden als Seienden (und als Einen, Wahren, Guten) überhaupt, d. h.
als philosophische zugrundezulegen.

Problem der „philosophischen Erkenntnistheorie“, d. h. der Theorie der


philosophischen Erkenntnis!! [Bei Kant!?]
*
Das „absolute Wissen“:
1. das transzendentale Wissen (Wissen vom Transzendental-Allgemeinen:
Seinsidee, Welt-, Wahrheits-, Gottesidee);
2. das Wissen des Absoluten, d. i. des wahrhaft Seienden, von sich selbst:
Identifikation von Sein und Wahrheit (spekulative Identität!);
3. absolut in der Weise des Wissens = wesenhaftestes Wissen, d. h.
66d | das Wissen in der innersten Wesensweise, die nicht mehr „erscheinen-
des“ Wissen ist. –
Das „erscheinende Wissen“ ist nicht-absolutes Wissen, verhält sich zu jenem
wie die offenbarend-verbergende „Erscheinung“ zum Wesen.
*
Wie aus dem Begriff des Absoluten bei Hegel die traditionalen Dichotomien
von „absolut“-„endlich“ (intellectus archetypus und ectypus), menschlich-
göttlich usw. fernzuhalten sind, so noch viel mehr die platteste Form des
Mißverständnisses, die den Begriff „absolut“ auffaßt als objektivistisch
absolut (z. B. „absolute Wahrheit“ = in keiner Weise relativ!). „Absolut“ als
starres Sein ist der äußerste Gegensatz von Hegels lebendigem Begriff.
*
67a 1. | Σοφία und φρόνησις?
Σοφία = ἀρετή der τέχνη?
Σοφία und φρόνησις = theoretische und praktische Vernunft!??
φρόνησις nicht durch die Verfallsmöglichkeit der λήθη bestimmt.
φρόνησις: das Phänomen des Gewissens. Gewissen kann durch Lust und
Trauer betäubt sein, aber nicht vergessen wie etwas Gelerntes.
67b | Σοφία: Gang von καθʼἕκαστον zum καθʼὅλον! und vom καθʼὅλον
zum καθʼἕκαστον!
Νοῦς keine Seinsmöglichkeit des Menschen!

68a 2. | Welt
a. Welt als Horizont,
a. Husserl,
b. Heidegger.

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3. „Welt“ im metaphorischen Sinne ist des Plurals fähig.
„Welt“ im kosmologischen Verstande ist nur im Singular: das Ganze
des Seienden.
4. | Bei Heidegger ist die kosmologische Problematik überhaupt 68b
nicht gestellt.
5. Welt nicht Ganzheit des „Seienden an sich“, aber auch nicht Ganzheits-
form der Offenbarkeit des Seienden für uns.
Ganzheit der Φύσις!
W e l t : d e r Ü b e r g r i f f u n d I n b e g r i f f.
6. In der „Physik“ die Weltganzheitsfrage als Frage nach der R a u mganz-
heit gestellt!!?!?!

| „Wahrheit als Existenzial“ = Wahrsein als Lichtung des Seienden? Wie 69a
die Helle zum Feuer sich verhält, so das Wahrsein des Seienden zum
menschlichen Dasein?
Gibt es Wahrheit nur, weil es Dasein (als ἀληθεύειν) gibt, oder liegt es
auch am Seienden selbst, daß es Wahrheit gibt. Sofern es überhaupt Lichtung
duldet und zuläßt!
Schelling!

| 1. Nicht die Prüfung der Erkenntnis ist es, wogegen Hegel sich wendet, 70a
sondern die Form dieser Prüfung, die vor der Philosophie (das ist der
Erkenntnis des wahrhaft Seienden) sich anschickt, die Erkenntnis wie ein
Ding [ohne sie in ihrem Leben, nämlich der Erkenntnis des Seienden, zu
fassen] einer „kritischen Untersuchung unterwerfen will“.17
Erkenntnis als „Vermögen“. Ist dieser Begriff eindeutig? Ist Erkenntnis
ein Vermögen, das übersehbar nach Tragweite, Leistung, Grenze usw.?
Oder ist Erkenntnis (und ihr Sein) eine Erfahrung des Lebens, die dieses
nur machen kann, wenn sie der inneren Bewegung (des inneren Zuges der
Erkenntnis auf das „Wissen“ hin (Σοφία)) sich überläßt? – Ist Erkenntnis
für sich getrennt zu untersuchen, ohne sie als Erkenntnis des Seienden zu
nehmen? – Ist das Seiende getrennt zu untersuchen, ohne es als Gegenstand
der Erkenntnis zu fassen??
*

| Hegels Begriff des „Absoluten“ = 70b


1. das eigentlich Seiende (ὄντως ὄν)
2. das ganze Seiende (ἕν καὶ πᾶν)
3. Das Wahre (ἀληθές)

17 D. h. „einer,kritischen Untersuchung zu unterwerfen‘“.

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4. das Gute (ἀγαθόν)
1. οὐσία und τὸ τί ᾖν εἶναι (Wesen)
2. Φύσις (ύλη – ὑποκείμενον)
3. (ὅθεν ἀρχὴ τῆς κινήσεως)
4. ‹bricht ab›
Hegels Begriff des Absoluten ist die Koinzidenz der Transzendentalien.

71a | Heideggers Disposition in seiner Vorlesung über „Sophistes“ 1924:18


1. Interpretation oft Nachsprechen und Wiederdurchsprechen des
Gesprächs.
2. Begriff der Phänomenologie: das Zugehen auf das Sichzeigende. „Zu
den Sachen“ und durch das Gerede hindurch. Die griechische Forschung
vollzog sich gegen die Sophistik und die Rhetorik.
3. Plato von Aristoteles aus. Hermeneutisches Prinzip: vom Hellen
ins Dunkle!
4. Aristoteles’ Begriff der Ἀλήθεια orientiert am Schema der Weisen
des ἀληθεύειν.
5. Fünf Weisen des ἀληθεύειν
1) τέχνη, 2) φρόνησις, 3) ἐπιστήμη, 4) σοφία, 5) νοῦς;
71b | τέχνη und φρόνησις = λογιστικόν = τὸ ὄν συμβεβηκός
ἐπιστήμη und σοφία = ἐπιστημονικόν = τὸ ὄν ἀεὶ ὄν
λόγος = a) λέγειν
b) λεγόμενον
ἀληθεύειν μετὰ λόγον??

72a | Hegels „Prüfung der Realität der Erkenntnis“ = Erprobung des Wesens
der Erkenntnis.
„Prüfung“ ist auch Prüfung im Sinne von Heimsuchung.
*

73a | Das „absolute Wissen“


ist die Koinzidenz des Absoluten, d. h. des eigentlich Seienden
und des Wissens.
Die Trennung von Seiendem und Wissen verschwindet.
Es ist das Absoluteࣜࣜࣜals Thema
௔௔ als Subjekt das eigentlich Seiende ist der ªGeistº
௔௔als Weise
Das Absolute = das eigentlich Seiende

18Martin Heidegger, Platon: Sophistes (Wintersemester 1924/25), HGA 19, hrsg. von Inge-
borg Schüßler, Frankfurt am Main 1992. Vermutlich stand Fink eine Nachschrift der Vorlesung
zur Verfügung.

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= als Thema ist es die Koinzidenz von S e i n und Wahrheit
= als Subjekt ist es die Koinzidenz von W a h r h e i t und Sein
= als Weise ist es eigentliches Wissen, d. h. die Koinzidenz

| Begriff des „Auslassens“ oder „A u s s t e l l e n s“. 73b


Das Seiende, als Wesen, west ausstellend und hat diese Natur für das Wissen.
Das bloße Hereinstehen des Seienden in die Helle der daseinsmäßig seienden
„Ἀλήθεια“ macht nicht begreiflich die Möglichkeit, daß „Seiendes“ fragwür-
dig ist, daß es Schein, Verstellung, Irrtum, Vordergrund usw. überhaupt ist. Im
Sein des Seienden liegt eine Dimension des Sichentziehens des Seienden für
den Zugriff; Sein des Seienden ist in sich ausstellend (εἶδος!??)

| Die Φρόνησις ist ein Bezirk individueller Wahrheit. Die Maxime der 74a
Φρόνησις ist die S e l b s t ä n d i g k e i t („Autonomie“).
„Selbständigkeit“ des Denkens ist in der ἐπιστήμη und Σοφία kein
Prinzip der Wahrheit. Vgl. Hegels Kritik der „Selbständigkeitsmaxime“ in
der „Einleitung“ zur Phänomenologie des Geistes.

| 75a
1. Zugang zum Sein („Sinn“ von Sein) die Involution
2. Sein des Subjekts, dessen, wofür der beiden
das Seiende ist Einstellungen
Jede setzt die andere voraus; der Zirkel: die Seinseinstellung macht Gebrauch
von der Zugänglichkeit („Offenbarkeit“), die Zugangsproblematik setzt das
Sein des Subjekts voraus.
Dies ist die Verschlingung des Seinsproblems und des Wahrheitspro-
blems. Der Problemverlust in der Scheidung von „ontologischer“ und
„erkenntnistheoretischer“ Problematik, dies ist die Zerreißung des „transzen-
dentalen“ Bezugs von ὄν und ἀληθές.
Das echte Problem stellt gerade die transzendentalen Zirkel ins Zen-
trum und bewegt sich in ihnen. Philosophieren ist das In-Gang-Setzen und
In-Gang-Halten der kreisenden Frage nach ὄν – ἕν – ἀληθές – ἀγαθόν.

| Hegels These, daß das Erkennen als Erkennen des wahrhaft Seienden erst 76a
wahrhaftes = wirkliches = eigentliches Erkennen sei und sich so im Philoso-
phieren erst zu seiner eigentlichen Seinsvollkommenheit erhebe, ist Tradition
der abendländischen Metaphysik seit Plato und Aristoteles. Die Σοφία ist das
Wissen der ἀρχαί und αἴτια und als solches am meisten „Wissen“.
*
Diese Grundanschauung der europäischen Philosophie ist in der Neuzeit
zuweilen zusammengegangen mit das These, daß das „strengste Wissen“
das Wissen vom eigentlich Seienden sei, daß somit die „Mathematik“ das

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eigentliche Sein des Seienden intendiere. Dies zur Geschichte der „methodis-
tischen“ Umdeutung des transzendentalen Problems ὄν – ἀληθές.

77a | Colloquium über Hegels Phänomenologie des Geistes


Dr. Alphéus, Dr. Seidemann,19 Dr. Fink
I. Begriff der Wissenschaft
II. Begriff des philosophischen Satzes
1. Einleitung
2. ‹bricht ab›
Hegels Begriff der Metaphysik.

Platons Phaidros

M. Heideggers Weltbegriff20
1. Die transzendentale Form des Weltbegriffs
2. Welt als Existenzial
3. Welt und Erde.
77b | Der Begriff der Metaphysik.
Metaphysik als „Naturanlage“
Das Heilige, das Schöne, der Tod, die Gerechtigkeit, die Liebe, das Leiden, die
Güte, das Opfer???

Das Philosophieren ist das staunende Wissen vom Wesen der Dinge.
Das Staunen ist des Menschen beste Kraft.
Staunen ist spielende Freiheit

78a | Thesen:
1. Einleitung in die Philosophie.
2. Anfang der Philosophie.
3. Polemik gegen eine Vorstellung vom „Anfang der Philosophie“, die
diesen setzt in eine kritizistische Attitude (der vorgängigen Erkenntnis-
kritik).
Erkenntnis wird als perfekt vorausgesetzt
Hegels Grundüberzeugung ist: Anfang der Philosophie ist das Einleiten
der Bewegung des Ganzwerdens der Erkenntnis in der Erkenntnis des
wahren Seins.

19 Zu Alphéus vgl. die Anmerkungen zu Z-XIII 36 und Z-XXIV I/4a–b. Alfred Seidemann

hat 1935 in Freiburg sein Studium mit einer Dissertation über Bergsons Stellung zu Kant
(Veröffentlichung: Endingen-Kaiserstuhl, E. Wild 1937) abgeschlossen.
20 Vgl. 62a und die Anmerkung dazu.

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Sein und Erkenntnis: nicht Gegenüberstellung, sondern
1. Seinsimmanenz der Erkenntnis;
2. Natur des Seienden für das Wissen;
3. wahres Erkennen (seinsvollendetes Erkennen) und wahres Sein
(seinswichtigstes Sein) ist sich zugeordnet.
1. | Gegen die Trennung von Erkennen und Sein. 79a
2. Philosophie = wahrhaftes Erkennen des in Wahrheit Seienden.
3. Philosophie bestimmt durch den Gegensatz zu gewöhnlicher Wahrheit
und ihrem Sein. Philosophie als „auftretende“ (entspringende) bestimmt
durch die Bewältigung des Gegensatzes.
4. Bewältigung am Leitfaden des Verhältnisses von Erscheinung
und Wesen.
5. Begriff des „erscheinenden Wissens“ (1. vom naiven Wissen aus, 2. von
der Philosophie aus). Darstellung des erscheinenden Wissens = Einlei-
tung in die Philosophie. (verte)
6. Einleitung in die Philosophie ist Lebensbewegung (philosophi-
scher Skeptizismus).
7. Vollständigkeit der Formen dieser Lebensbewegung. (Bestimm-
tes Nichts.)
8. Ziel dieser Lebensbewegung (endlich); ‹bricht ab›

| Begriff der „Darstellung des erscheinenden Wissens“ = 79b


1. Weg des natürlichen Bewußtseins zum wahren Wissen [μέθοδος];
2. Weg der Seele (durch Reihe naturvorgezeichneter Gestaltungen) als
Läuterung zum Geist [καθάρσις];
3. Erfahrung des Selbst der Seele [Bewegung der Selbstfindung und
Selbstbefreiung]. [Philosophie hier nicht ein Erkenntnisfortschritt in
einer Bahn, sondern eine Lebensbewegung!!]
1. | Ist das „synthetische Urteil a priori“ = transzendentaler Erkenntnis? 80a
Seinserkenntnis = ὄν ᾖ ὄν!
*
2. Der Kritizismus glaubt nicht die „Dinge an sich“, sondern nur die
Erscheinungen der Dinge erkennen zu können und die Relation selbst,
durch die das Ansichsein verstellt wird.
Der Irrtum besteht im Verkennen, daß die Dinge uns bekannter sind als
dasjenige, wodurch wir Dinge haben.
*
1. | Der „natürliche Weltbegriff“ (die Basis des Abstoßes der Philosophie) 81a
= der Stillstand des Seins-, Wahrheits-, Erkenntnis-, Ansichs-, Absolutes-
u. dgl. Begriffs.
Bodenständigkeit = Stillstand des Gesprächs über das Sein.

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Staunen ist die Ent-setzung aus der stillstehenden Welt und das Loslassen
des tragenden Grundes.
*
„Erkenntniskritik“ mit dem unkritischen Maßstab einer festliegenden
Auffassung von Sein und Erkennen ist nicht Philosophie.
*
Philosophieren einleiten ist den Stillstand der Welt, das ruhende Seins-,
(Welt-, Wahrheits-, Gottes-)verständnis anstoßen!!
82a | Begriff des Philosophierens als „Heimsuchung“
als Gewissen des Menschentums.
als Wachheit
als Wissen und Wissenschaft
als ἕνωσις (Überwindung der Individuation
und Endlichkeit)
als κάθαρσις
als Bewegung (gegenüber dem Stillstand und
der Stillegung der Seinsfrage)
als Staunen (Ent-setzen)
als Φιλία zur Σοφία (Ἔρως)
als „Spiel“ [als Befreiung der Freiheit]
als Fragen nach dem Menschen als
„Weltwesen“
als θεωρία περί τῆς ἀληθείας περί τῆς φύσεως
83a 1. | Die „natürliche“ Sprache ist die erste Philosophie, aber bewegungs-
los geworden.
2. Philosophische Aussage ist Sagen des Unsäglichen, aber nicht der mys-
tischen Begriffslosigkeit, sondern der im Staunen bewegten Geistigkeit.
3. Auch der nicht auf Lehrwirkung bedachte, „für sich“ formulierende
Philosoph formuliert für das Publikum. Publikum ist er dann selbst.
4. Philosophische Mitteilung ist bestimmt durch den Spannungszustand
der beiden Sphären: Jedermannswelt und einsame Welt, oder anders
gesagt: Welt der „natürlichen“ Sprache und Welt des philosophi-
schen Problems.
5. Keine Mystik des philosophischen Satzes! Nur muß er im Hinblick auf
die Bewegung des Seinsverständnisses hin verstanden werden.
83b 6. | Nach der scharfen Trennung von vorphilosophischer und philosophi-
scher Welt muß diese Trennung wieder rückgängig gemacht werden,
d. h. die Ruhe und Bewegungslosigkeit des natürlichen Seinsverständ-
nisses ist in Wahrheit nicht ein Gegensatz zur philosophischen Bewegt-
heit des Seinsverständnisses, sondern ist eine Modifikation der Bewegt-
heit: metaphysische Trägheit, „Lässigkeit“!

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7. Zu der These: Philosophische Mitteilung = Selbstaussetzung der Philo-
sophie in der Welt des „Selbstverständlichen“; vgl. Hegels „Vorrede“ zur
Phänomenologie des Geistes!
*
| Die Transzendentalphilosophie ist überhaupt nur möglich auf dem Grunde 84a
einer Handlung des Menschen, die sein verborgenes Sein zum Ganzen, sein
Weltoffensein aktualisiert. Spekulation ist die Erhebung zur Allgemeinheit
des „Seienden“. Die „Allgemeinheit“ der Vorsokratiker, und die von Plato
und Aristoteles, ist der „Anfang, der über alle Zukunft schon verfügt hat“
(Heidegger), ist die Erhebung zur „transzendentalen Allgemeinheit“, der
Aufschwung der Seele und die Katharsis.
Hegels Begriff des „Allgemeinen“ ist nicht die Allgemeinheit eines Gat-
tungsbegriffs (einer „Klasse“), sondern transzendentale Allgemeinheit. Es ist
Kierkegaards Mißverständnis, Hegels transzendentale Allgemeinheit mit der
Allgemeinheit eines Gattungsbegriffs verwechselt zu haben. Kierkegaards
Protest im Namen des Einzelnen, des Konkreten, der Existenz
| gegen anonyme Allgemeinheit, die Abstraktheit, und das verabsolutierte 84b
Wassein (Idee) – ist ein Protest, der Hegel überhaupt nicht trifft.
*
1. | Die synthetischen Urteile a priori sind die Vollzugsform der metaphy- 85a
sischen Erkenntnis. Sie sind erweiternde Urteile und doch „a priori“.
Als erkenntniserweiternde haben sie eine Strukturanalogie zur Erfah-
rung. Aber als apriorische sind sie der Erfahrung entgegengesetzt. Die
Grundbegriffe des Menschen über das Sein sind im Wandel. Ein Ent-
wurf (ὑπόθεσις) derselben bestimmt eine Zeitlang den Umgang und die
Möglichkeiten der Erfahrung.
Mit anderen Worten: synthetisches Urteilen a priori ist das Wiederin-
gangsetzen des „bodenständig“ gewordenen Seinsverständnisses; ist (in
der Terminologie Heideggers) Entwerfen des Weltentwurfs.
*
1. | „Kant als Metaphysiker“ – „Kant als Zermalmer der Metaphysik“: 86a
diese beiden Richtungen der Interpretation verfehlen beide den eigentli-
chen Begriff der Metaphysik; beide sind orientiert am Popularbegriff der
Metaphysik als einem dogmatisch auftretenden Wissen vom „Übersinn-
lichen“.
*
2. Philosophie als Wissen des am meisten Wißbaren!? Wissen vom „Allge-
meinsten“. Das Allgemeinste aber ist das Transzendental-Allgemeine.
*

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3.Die Gefahr des sog. „Idealismus“ ist der „Dogmatismus der Egoität“.
Husserls Phänomenologie hat die immanente Gefahr der verabsolutie-
renden ontischen Hypostase der Intentionalität.
*
4. Theorie der Intentionalität ist „ein Prozeß“. Intentionalität kein thema-
tisches Feld. Sondern das „Leben“, bestimmt durch die Struktur der
Iteration. Intentionalität und phänomenologische Reduktion!?
*
87a | Das Wesen erscheint, offenbart sich und verbirgt sich als Wesen. Sich
offenbaren ist ein Sichanderswerden, Entfremden, Herauskommen, Hervor-
kommen, Sichaustreiben.
*
Der „νοῦς“ als unmenschliche Seinsweise ist vielleicht dieses Sichaussetzen
des Seienden, das Außersichgeraten.
*
Die Erscheinung verbirgt das Wesen und ist als Offenbarung verbergend.

88a | Begriff der Freiheit = Selbstantrieb, Angetriebensein vom „Selbst“.


Freiheit als Spiel des Selbstes.
*
Die freie Seinsweise des Menschen zu unterscheiden vom Antrieb durch
Dämonen und Götter.
*
Die „Ergriffenen“ als die Gejagten der Götter.
„Selbstgänger“ und „Gejagte“.
Huld und Fluch der Götter: Selbstlassen und Vergewaltigen.
„Gnade“: Lassen der Götter oder ein Überfluten durch den Gott.
*
88b | Zieglers „Theologie“:21
Gott = Vater-Mutter
Sohn
Gott – Gottmensch
Gott an sich – Gott-Erscheinung
Φύσις und Ἀλήθεια
Dunkel und Helle
Gestaltloses und Gestalt
„Mutter“ und Apoll

21 Siehe Z-XXIII Aa, Anm.

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| Die Dinge und die Φύσις!? z. B. bei Heidegger der Widerstreit von „Welt“ 89a
und „Erde“ bisweilen anscheinend der Gegensatz von φυτά und ποιοῦμενα,
Naturdingen und Menschengebilden!? oder dann wieder von „Seiendem“
und Seiendem als „ernanntem“ Seienden (die Welt des „Säglichen“).
*
Φύσις und κόσμος?
Das Chthonische und die geordnete Welt!?
(Das Dionysische [in einer Bedeutung] und das Apollinische!?)
Erdgötter und Olympier!?
*
| Problem der „Gestalt“!? 89b
Die Dinge sind die gestalthaften Erscheinungen ihres Wesens (als Wesung
verstanden!); sind die Exposituren der Bewegung des Sichaussetzens, des
Hervorkommens des Seienden. Sofern Seiendes „herauskommt“ und eintritt
in die Helle der Ἀλήθεια, ist es „Gestalt“ [εἶδος]!
?
| Ist es nicht ein Irrtum Husserls, den „Satz“ im Sinne der Logik als 90a
„verdeutlichten Satz“ anzusehen? Ist logische Konsequenz und Implikation
u. dgl. ein Verhältnis der Deutlichkeit? Ist überhaupt der Logiker auf
„deutliche“ Sätze eingestellt oder auf „Formen“ von Sätzen, (solche, die der
Form nach unter Bedingungen der Wahrheit stehen, und solche, die eben
„Formen“ der wahren Sätze sind? Logik hat es nicht mit Wahrheit zu tun,
sondern ihr wird vorgegeben, was Wahrheit von Sätzen ist, um daran deren
„Form“ herauszuheben???)

| Ἀρχὴ = principium = Anfang (Grund) (Wurzel) 91a

*
Der Anfang ist das Unüberholbare (Heidegger). Der Anfang ist „Stiftung“.
Der Mensch als geschichtliches Wesen von Husserl begriffen als ein „stiften-
des“ Wesen.
„Stiften“ (ποιεῖν) (Sinnbildner) „δεμιουργ“. [Nicht geschichtlich ist bei
Husserl der leidende Mensch; der den „Erfahrungen“ der Natur und der
Götter ausgesetzte Mensch. – Der Mensch ist in einem größeren Ausmaße ein
leidendes als ein „stiftendes“ Wesen. Spiel die Einheit von Leiden und Tun.]
*
1. | Husserls Interpretation Descartes’ ist bestimmt durch die Vorstellung 92a
der „Wende zum Subjekt“. Meine Gegenthese: Descartes’ „cogito
ergo sum“ ist die „wahrheitstheoretische Fundamentalsetzung“ und
entspricht als „philosophia prima“ der Aristotelischen wahrheitstheo-
retischen Fundamentalsetzung des sog. „Satzes vom Widerspruch“,
Metaphysik Γ. Descartes erneuert das transzendentale Problem des

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.
Bezugs der Transzendentalien „ens-verum“, steht also im Machtbereich
des Problems der „Intelligibilität des Seins“.
2. Husserls These (in der „Krisis der europäischen Wissenschaft“) in der
Interpretation des „Rationalismus“ ist: Descartes und vor allem Kant
sind in ihren Fragestellungen motiviert durch das Faktum der „nuova
scientia“, Descartes will sie radikal begründen, Kant will nach den
Bedingungen der Möglichkeit der objektiven Gültigkeit von „Mathe-
matik, Naturwissenschaft“ (– und Metaphysik??) forschen.
Meine Gegenthese: Husserls Interpretation bedeutet eine Umdrehung
der Problematik. Die „nuova scien-
92b | tia“ ist allerdings das erregende Problem für Descartes und Kant; aber
nicht als „nuova scientia“, als von der Metaphysik emanzipierte Wis-
senschaft, sondern weil die „nuova scientia“ für Descartes und Kant nur
eine Gestalt der traditionellen Metaphysik war, weil sie im Auftrag der
Anfangsprobleme der antiken Philosophie aushielten, m. a. W. n i c h t
d i e E m a n z i p a t i o n d e r „ W i s s e n s c h a f t “ m i t m a c h t e n.
Kant (und Descartes) identifizierten den „ontologisch relevanten“ Raum
mit dem Euklidschen, die „scientia“ mit der Ontologie der Natur.
Nicht das Faktum der neuen Wissenschaft, sondern das Mißverständnis
der neuen Wissenschaften als echter Teil der Metaphysik, ist der Grund
für den Descartischen-kantischen Ansatz bei der „Wissenschaft“. –
Husserl erklärt Descartes und Kant ohne die Problemtradition der
Antike, als ob das Philosophieren der beiden „wissenschaftsbegrün-
dend“ gewesen wäre. Husserl betont in dieser Interpretation
93a | gerade das Mißverständnis des Rationalismus, die Wissenschaftsge-
bilde der Vernunft für Wesen der Dinge an sich zu halten, aber er inter-
pretiert doch Kants Problem von der Frage nach der „Objektivität“ der
Mathematik (als eines subjektiven Instruments der Rationalität) aus.
Kant habe zunächst die objektivistische Vorstellung von einem „Ding
an sich“ und dazu die besondere „objektivistisch-physikalistische“ Vor-
stellung von einer mathematischen Bestimmtheit der Natur an sich und
im Hinblick auf die Vorstellungen von „Objektivität“ entzünde sich sein
Fragen nach der Gültigkeit der logisch-mathematisierenden Wissen-
schaften.
Meine Gegenthese ist: nicht die an vorgefundenen Vorstellungen von
Objektivität orientierte Frage nach einer transzendenten Bedeutung der
logisch-mathematisierenden Vernunftaktionen ist das Problem Kants,
sondern die Frage nach dem Sein von Dingen, Sein der Seele, Sein Got-
tes.
*

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.
| Thesen im Gespräch mit Husserl am 3.V.37: 93b
1. Die Affinität der Intentionalität in allen ihren Abwandlungen.
Die personalistische Kategorie der „Handlung“ in der traditionalen See-
leneinteilung; ferner das „erkenntnistheoretische“ Schema von dispara-
ten Vermögen („Anschauung“ und „Verstand“), deren Zusammenspiel
erst Seinserkenntnis zustande bringe: Seele als „Apparatur“.
2. Der Begriff des „Lebens“ ist nicht dingontologisch. Anläufe sind die
„Lebensphilosophie“, die aber in eine – auf einen Begriff des Seins
verzichtende – Mystik der theoretischen Unbestimmbarkeit des Wesens
des Lebens mündet. Der phänomenologische Begriff der Intentionalität
ist eine nicht dingontologische „Kategorie des Lebens“.
*
| Warum beginnt Aristoteles die systematische Entfaltung seiner Problematik 94a
in der „Metaphysik“ (Γ) mit der Aufstellung des „Satzes vom Widerspruch“?
Ist damit ein „logisches“ oder ein „ontologisches“ Prinzip als Fundamental-
prinzip behauptet?? Kommt also die „Apodeixis“ im Gehalt der Metaphy-
sik vor??
Meine These: Der sog. „Satz vom Widerspruch“ ist bei Aristoteles
das „wahrheitstheoretische Grundprinzip“: d. h. die Selbstbegründung der
Möglichkeit des Wissens, der Wissenschaft. Philosophie beginnt mit der
Selbstbegründung im Entwurf ihrer Wissensidee. Dies ist der Begriff der
„philosophia prima“.
*
Heisenbergs Unterscheidung von „Naturwissenschaft“ und Naturphiloso-
phie (als „Beschreibung“ und „Erklärung“) ist äußerst wichtig für die
Problematik der „Emanzipation der Wissenschaften“.
*
| Die Ausarbeitung des Dessau-Vortrags muß vor allem die Ansätze 94b
abgeben für eine „transzendentale“ Betrachtung der modernen spekulati-
ven Philosophie, die man – auch bei Husserl – unter dem Begriff der
„subjekti‹vis›stischen“ oder „immanenz-philosophischen“ Tendenz zu sehen
gewöhnt ist.22
*

1. | „vis dormitiva“? 95a


*
2. Der Schein einer Hyper-Skepsis? „Deus malignus“?
3. Die αἴσθησις des Menschen ist keine tierische, d. i. eine solche, die der
Mensch und das Tier gemeinsam haben. Dies ist eine Konsequenz der

22 Vgl. Z-XXIII 15.

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Schichtentheorie: Mensch = vitales Tier + Geist.
Die αἴσθησις des Menschen ist aus seinem Grundcharakter: dem „Für-
sichsein des Seienden“ einzig zu begreifen.

96a 1. | Der antike Ansatz des spekulativen Denkens: vgl. Phaidon [S. 84]23
*
2. Wesen und sinnfällige Erscheinung: dieser Gegensatz für die Entgegen-
setzung von Wahrnehmen (αἴσθησις) und Denken (νόησις) wichtig.
*
3. Das Problem der „Transzendentalien“ ein zweifaches:
a. als transzendentale Bestimmungen des Seienden,
b. als transzendentale Bestimmungen des Seienden καθʼὅλον.
a. Jedes Seiende ist als Seiendes ein unum, verum, bonum.
b. Das Seiende im Ganzen ist eines = Welt (Kosmologie).
Das Seiende im Ganzen ist wahres = Psychologie (Mensch
als Weltwesen).
Das Seiende im Ganzen ist gutes = Theologie (Weltgrund).

97a | Nicht die Doktrin des Aristoteles, sondern ein Fragen als Mitfragen. Hüten
wir uns vor der Meinung, ein System als ein fertiges Gedankengebäude vor
uns zu haben. Vielmehr ist hier alles offen.
Das Thema ist das Seiende als solches und das eigentlichste Seiende
(das „θεῖον“).
Verstehen wir denn das Seiende (etwas Fliegendes ist ein Seiendes, das
fliegt, ein Seiendes ist ein Seiendes, das ist ???)
Das Seiende ist!
Das Seiende = die Substanz?
Das Seiende = das Seiende im Ganzen?
Das Seiende und die Situation des Lebens, in der uns Seiendes begeg-
net??

98a | Die ontologische Problematik der „Notwendigkeit“:


1. Ist ein Seiendes „an sich“ notwendig? (Notwendigkeit und Zufälligkeit
als Bestimmungen des Dinges??)
2. Ist Notwendigkeit ein Seinscharakter, besser eine Seinsdignität, ein
Seinsrang, eine Seinsmächtigkeit, die den Dingen eignet, aber den Din-

23 Seitenzahl nach Platon, Sämtliche Werke in 2 Bänden, hrsg. von Friedrich Schleiermacher,

Wien 1925, Bd. 1, in Finks Bibliothek (= Phaidon 65a–e).

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gen für uns („Erscheinungen“)? Denn bei den „Erscheinungen“ haben
wir den Unterschied von Seinsdignität und relativer Erkenntnisdignität
(gnoseologischer Seinscharakter).
3. Hat „Notwendigkeit“ überhaupt einen Sinn für das Seiende an sich????
(N. B. wenn das „Ansich“ nicht das phänomenale Ansich bedeutet.)
4. „Sein“ – hat dies Sinn für das „Seiende an sich“ ??????
*
| Das „Sich-zum-Sein-Verhalten“?? Wichtige Momente: 99a
1. Das schon seiend-Sein des Sich-verhaltenden. D. h. das Sichverhalten
als die Seinsweise des Menschen.
2. Ringen um den Begriff des Seins.
3. Staunen (Verwunderung) als „Auseinandersetzung“,
4. als „Beginn“,
5. als „Für-sich-Sein“,
6. als „Freiheit“,
7. als „Spiel“,
8. als „Aufstand“,
9. als „Sein zum Geheimnis“,
10. als „ontologische Wahrheit“,
11. als θεωρεῖν περὶ τῆς ἀλὴθείας (περὶ τῆς φύσεως)

| Der „Antagonismus zwischen Philosophie ‹und› Naivität des Lebens“ 99b


(„Geist der Schwere“ und die „schöpferische Existenz“).
(Die anarchistische Funktion der Philosophie, der „Enthusiasmus“ als Auf-
schwung des Menschen).
*
Das Für-sich-Sein ist die Seinsweise des Seienden, das Mensch ist. Die
„Perseitas“, σύνειδησις, Bewußtsein, conscientia.
*
Das Fürsichsein kann aber auch als das F ü r - s i c h - S e i n des Seins
angesetzt werden. Philosophieren ist das Geschehen der Reflexion des Seins.
*
| Begriff der „Erfahrung“ = erschließender Zugang zum Sein der Dinge. 100a
*
Die vorwissenschaftliche Welt ist nicht nur eine Praxis-Welt, sondern eine
Welt des Seienden: mit Wolke-Wind-Stern-Gebirge-Meer-Ebene-Haus und
Hof, Land und Stadt, Flüssen-Seen.
*
Die theoretische Einstellung = naturalistische Einstellung (Substanz-Prä-
dikat-Verhältnis). Metho‹do›logisches Primat der Einstellung auf stoffli-
che „Sachen“?!!
*

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101a | Idealismus – Realismus
„Idee der Metaphysik“
ens – unum – verum – bonum
Ontologie – Kosmologie – Psychologie – Theologie
Die Idee der Metaphysik als Weitertreiben der Seinsfrage (Weltproblem,
Wahrheitsproblem, Seinsproblem), als Wiederaufnehmen des Problems, als
ausdrückliches Fragend-existieren, als ausdrückliches SichzumSeinverhal-
ten.
*
102a | Die wichtigsten Stadien des ens-verum Problems:
Parmenides – Plato – Aristoteles –? –? –? Universalienstreit –? Descartes –
Spinoza – Leibniz – Kant – Fichte – Hegel.
*
Das Seiende ist „intelligibel“ (noumenal) – die korrelativen „Einteilungen“
der „Seelenvermögen“ (z. B. Hegels 1) sinnliche Gewißheit, 2) Wahrneh-
mung, 3) Verstand, 4) Selbstbewußtsein, 5) Vernunft, 6) Geist. 7) das
absolute Wissen).

103a | Philosophieren ist Staunen, unaufhörliches Staunen, Wissen, in dem das


Staunen steigt.
Philosophieren ist „Sein im Versuch“, „Aufbruch“? Suchen, Seinsuchen,
Seinwollen, „Seinen“?
Der Begriff des „Lebens“ ist amputiert in der sog. „Lebensphilosophie“:
Leben ist ohne die Ekstasen des Schöpferischen Vegetieren.
Das Heilige, der Opfermut, das Heldentum, die „Größe“ überhaupt ist
ursprünglichstes Leben.
*
103b | Was ist Metaphysik?
Metaphysik ist „transzendentales Fragen“. Das Hineinfragen in die Problem-
horizonte des ens qua unum, verum, bonum!!!

104a | Das Wesen des Geistes ist die „Auseinandersetzung“, das „Entsetzen“, das
Fragen und Staunen über das Sein der Dinge.

105a ‹1.› | Der Begriff der „E r f a h r u n g“ besagt einmal die doxische und
wissenschaftlich-doxische Erkenntnis a posteriori. Diese Erfahrung ist
der Lebensvollzug, der auf der problemlosen Ruhe des erfahrenden Ich
basiert. Erfahren ist dann weiter und näher und besser Kennenlernen
mit gelegentlichen „Korrekturen“.

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2. „Lebenserfahrung“ als Inbegriff von Weltauskenntnis (vgl. Land-
grebe).
3. Erfahrung als außerordentliche Begegnungsweisen der Welt, z. B.
schöpferische Erlebnisse, religiöse Erfahrung, „Sinn des Lebens“ und
dgl. – Hegels Phänomenologie des Geistes ist eine „Erfahrung des
Bewußtseins“. – Das „Staunen“ als Grunderfahrung. –
„Die Stimme in der Weltnacht“ = das ist der Mensch.24

| Das philosophierende Staunen als die Erfahrung der Problematik des Sinnes 105b
des Lebens, des Einsturzes alles Bodens, der Katastrophen der natürlich-nai-
ven Welt, als Erfahrung der Grenze des gemeinen Verstandes, – ist eine in sich
selbst problematische Erfahrung.
__
Alle Erfahrung in diesem Sinne ist ein Sich-aussetzen, ein Sichpreisgeben
(vgl. Heideggers These vom „Preisgabecharakter des Daseins“!!),25 ein
Wagen, eine Verwegenheit, ein „Wurf des Spiels“!
*
Philosophieren ist preisgebendes Sichaussetzen und als solche die Auseinan-
dersetzung des Fürsichseins.
*
Entsetzung wird – Aussetzung – diese Auseinandersetzung.
*

1. | Bedeutet die ontologische These vom Wesen der αἴσθησις als eines 106a
Erleidens und Bewegtwerdens einen „Naturalismus“?

2. Dingfarbe und Farbempfindung. Die Lehre von der „Subjektivität der


sekundären Qualitäten“ basiert auf der Verwechslung der Dingqualität
mit „Empfindung“.
*
Lehre vom „Medium“ und Problem der Leibdeskription. Das Sinnesorgan
als leiblich-objektiviertes und als subjektive Fähigkeit. Das Sehen ist die
Bedingung der Möglichkeit für das Auge und nicht umgekehrt.
*

24 Vgl. 8a und Z-XXII II/5b.


25 Vgl. Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie (WS 1928/29), HGA 27, hrsg. von
Otto Saame und Ina Saame-Speidel, Frankfurt am Main 2001, § 37, S. 323f., S. 328, 336 und
S. 337f.

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106b | Wahrnehmungsgegenstand
Ding in Horizonten.
Gegenstand als Vergegenständlichung
und Gegenstände.

Gegenstand als Korrelat des Urteils

107a | Spinozas Lehre von der „Substanz“ ist charakterisiert durch die Aristoteli-
sche Fassung der οὐσὶα als τὸ τὶ ᾖν εἶναι. Dies ist ein Erscheinungsverhältnis.
Die Attribute sind die Seinsweisen der naturata natura, die Substanz ist
natura naturans.
Descartes’ Dreifalt: deus – res cogitans – res extensa, seine Dichotomie
ens finitum – ens infinitum verwandelt sich bei Spinoza
= deus sive substantia erscheint
in res cogitans und res extensa.
Die absolute Substanz aber ist Gegenstand der Vernunfterkenntnis, ist kein
Gegenstand der „Erfahrung“. Dahinter steckt die ganze Tradition des Pro-
blems der „Intelligibilität des Seins“.

108a | „Teleologie“ im phänomenologischen Sinne ist eine Verwandlung des tra-


ditionellen, mit Recht suspekten theologischen oder säkularisierten Begriffs.
Diese Verwandlung besteht – allgemein ausgedrückt – im Rückgang von
einem Vernunftresultat zur lebendigen Vernunft; d. h. hier im Übergang von
der Vorstellung eines Weltplanes oder eines Endzwecks (und Endabsicht) zu
seinshafter Selbstvollstreckung des transzendentalen Selbst-
108b | bewußtseins.
Teleologie ist keine „Vernünftigkeit in der Geschichte“, als herausheb-
barer Sinn für uns, sondern ist die Existenz der Vernunft als des geschichtli-
chen Subjekts. *
(Meine These im Gespräch mit Husserl am 12.IV.37)
*
109a | Kritische Anmerkungen zu Nicolai Hartmann „Zur Grundlegung der Onto-
logie“26:
1. Die Unterscheidung von intentio recta und intentio obliqua ist Zeichen
dafür, daß Hartmann das Seiende trotz seiner an sich guten Polemik
gegen die Gleichsetzung von Seiendem und Gegenstand in der Gegen-
standsrichtung, im „Transobjektiven“ sucht.
2. Seine Polemik gegen Heidegger ist verfehlt, da er Heidegger eine
Vorentscheidung unterlegt (das Seiende ist Seiendes für uns).

26 Berlin 1935.

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3. Seine Polemik gegen den Idealismus ist falsch, weil er den Idealismus
subjektivistisch deutet.
4. Seine These, Hegels Philosophie sei, in ihrem bleibenden Wert betrach-
tet, weniger eine Ontologie als eine Kategorienlehre, zeigt, daß Hart-
mann den Zusammenhang von ens-Problem und verum-Problem nicht
begriffen hat.
7.IV.37 *
| Das Problem der „Kosmologie“: 109b
1. These: Welt ist der Problemtitel für die Einheit des Seinsproblems und
des Wahrheitsproblems.
2. These: die antike Theorie der „Physis“ ist Welttheorie. Welt ist das
Thema der Spekulation.
3. These: Kants Philosophie ist die kosmologische Aufweisung der Welt
als des Horizonts des Seins.
4. These: Husserls Analyse des Weltbewußtseins ist durch den Binnenan-
satz bestimmt.
5. These: Kosmologie ist keine Disziplin der Metaphysik, sondern die
Metaphysik selbst.
1. | Thematisches Bewußtsein 110a
„Wahrnehmung“
2. Umgebungsbewußtsein („Feld“)
3. Horizontbewußtsein
4. Außen-, Innenhorizonte
5. Optimale Gegebenheit als relative
6. Seinsthese
7. Monothesen und Polythesen
8. Vergangenheits-, Zukunftsbewußtsein als Akte (Erinnerung – Erwar-
tung)
9. Zeitbewußtsein
10. Habitualitätsbewußtsein
11. Ich- (Selbst-)Bewußtsein (Reflexion und Thematik)
12. Wahrnehmung und das Wahrgenommene. Selbstdasein als phänome-
nal bezeugter Charakter des Wahrgenommenen. Kontrast zu modalen
Abwandlungen der Wahrnehmung. Ferngegebenheit – Nahgegebenheit
– Erfüllungsprozesse: „Intention und Erfüllung“ (Logische Untersu-
chungen)
13. | Ding in Seitengegebenheiten (Perspektiven) 110b
14. Perspektiven in mannigfaltigen Akten der Zuwendung. Identität dessel-
ben in Mannigfaltigkeit subjektiver Perspektiven. „Das“ Ding als idealer
Pol mannigfaltiger Synthesen.
15. Das Originale am Ding ein „Kernbestand“ mit Appräsentationen

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16. „Ding“ eine apperzeptive Tradition.
17. Strenge Wesensnotwendigkeit in dem Korrelationssystem von „Identität
und Mannigfaltigkeit“.
18. Die intentionale Analytik der Subjekt-Objektkorrelation ist Aufdeckung
eines intentionalen Systems.
Die Phänomenologie wendet sich so gegen eine Grundeinstellung unse-
res Lebens: die Fixiertheit auf Identitäten.
*
111a I. | Sein – Erkenntnis
Darf die Frage nach dem Sein der Erkenntnis aus der Seinkenntnis beant-
wortet werden, die auf der thematischen Grundeinstellung der Erkenntnis
basiert? Nein, das wäre naiv.
Darf umgekehrt das Seiende im Erkenntnismodus thematischer Gegebenheit
allein verstanden sein? Nein, ebenfalls naiv.
111b II. | Erkenntnis und die 1. objektive Einstellung dazu
2. und die fungierend-reflektierende
3. und die Vorgegebenheit als Ineinander der beiden Einstellungen.

112a | Der Begriff des T h e o r e t i s c h e n?


‡ Die Tradition der Auslegung als Bestimmen des Seienden in seinem
Was-Sein und So-Sein gilt es in Bewegung zu bringen. Der Gegensatz zur
Praxis verkehrt. Theoretisieren ist eine Praxis.
Eine Seinsauffassung dogmatischer Art fundiert den Gegensatz von
„Theorie und Praxis“. Praxis ist Umgang, Theorie ist abstraktes Bestimmen
des bloß Stofflichen (Seiendes = fixes Festliegendes).
‡ ‹Betonung durch einen doppelten vertikalen Strich›

112b | Erfahrung ist Zugang zum Seienden.


Zugang zum Hammer ist „Hämmern“.
Zugang zum Sichtbaren ist Sehen.
„Theorein“ ist nicht ein privativer Modus des Handelns, sondern ist
ursprüngliches Erfahren.
Denken – Tun (Tat)? Was ist mit diesem populären Gegensatz?

113a 1. | Dionysos und Nietzsches Lehre vom „Spiel“ (Geist der Schwere,
hütende Tradition, „Schaffen“ als des Lebens Leichtwerden!).
Das Dionysische kein panisches Prinzip!
Philosophieren ist Freilegen der Freiheit, d. i. das Rückgewinnen der
enthusiastischen Tiefe des Lebens.
*

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2. Das „Sich-zum-Sein-Verhalten“ als „fragendes Existieren“ ist ein
Sichlosreißen vom „Bann“, ein Abstandschaffen, ein Heraustreten,
„Ekstase“, „ἔκβασις“.
3. Das „Staunen“ (für das ein treffendes Wort fehlt) als Ursprungshorizont
des „Heiligen“ (Göttlichen), des Schönen und des Philosophischen.
(Also der Religion, der Kunst, der Philosophie.)
4. Staunen als „Entsetzen“ vgl. den griechischen Ausdruck ἔκπληξις:
die Herausschlagung. Herausgeschlagen aus der Vertrautheit mit dem
Seienden staunt der Mensch: Staunen = ein Sein zum Geheimnis.
*
1. | Die Philosophie Friedrich Nietzsches 114a
2. Der Anfang der Philosophie (Eine Phänomenologie des Staunens)
3. Die Frage nach dem „Leben“. (Bei Bergson, Husserl, Heidegger, Nietz-
sche)
4. Die Bestimmung des Menschen. (Die mannigfaltigen wissenschaftli-
chen Hinsichten und das Fehlen einer Anthropologie. Der Mensch als
Kulturträger, als religiöse Existenz, als Naturwesen. Die Freiheit des
Menschen: Philosophieren als Befreiung der Freiheit, als Sichzurückho-
len des Lebens. Die Metaphysik des Spiels. Gott und das Geheimnis.)
5. Die Spekulation in der Philosophie (Spekulation und Analytik).
6. Gegenstand und Ding.
7. Ding und Seiendes (Gott und Freiheit = keine Dinge).
8. Ansichsein – Fürsichsein – Anundfürsichsein.
9. Die subjektivistische Philosophie und ihr Selbstmißverständnis als
„Idealismus“. Ihr Recht und ihre Grenze.

1. | Das Problem der Geschichtlichkeit (Ontologie des geschichtlichen 115a


Seins und der Seinsschicht im Menschen).
2. Geschichtlichkeit und ontische Reflexivität (Für-sich-Sein).
3. Husserls gegenstandskonstitutiver Ansatz.
4. Bergsons Theorie der „attention à la vie“ und die „durée“. Analogon zur
Reduktion und Verschiedenheit (biologistischer Naturalismus).
5. Bakunin; Sorel; Proudhon; Donoso Cortez; Nietzsche. „Die Gewalt“.
6. Wort für „Verhalten“?? Sein verstehen und zugleich nicht verstehen:
Probieren! Zu verstehen suchen? Wagen? Freiheit? Spiel?

1. | Stimmung als objektiver Naturfaktor. „Stimmung“ als psychisches 116a


Phänomen und Stimmung als Offenheitscharakter der Natur. Stimmung
im letzteren Sinne keine „Auflage“!?!

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*
2. Die Grundhaltung des Problementwurfs: Wort dafür???
*
3. Phänomenologie und das Prinzip der Analytik. Analytik und Prinzip
der „Selbstgebung“. Voraussetzungen der Selbstgebung: Welt als ent-
lassend-freigebender Horizont, Gegenstandsein als Erscheinungsweise
eines „Seienden“. Ist das Weltsein begriffen in der Phänomenologie
E. Husserls und etwa auch das Gegenstandsein?
*
4. „Formale Ontologie“ und die Gegenstandstheorie? (Prädikation und das
„ist“ der Kopula.)
*
5. Die „Nachlässigkeit“ als „Geist der Schwere“ (Nietzsche): das Absinken
des Lebens, sein Ausruhen in vollzogenen Spielen, in „Rollen“. Das
Leben als Geistiges spielt; Enthusiasmus als Wesen des Spiels.
116b 6. | Die ontologischen Begriffe von „Sein“:
1. Wirklichkeit (Wirklichsein)
2. Vermeintsein (mentale Existenz)
3. Möglichsein
4. Notwendigsein
5. Was-Sein
6. So-Sein
7. Daß-Sein
8. Wahrsein
9. Zufälligsein
10. Ansichsein
11. Für-uns-sein (Gegenstand-Sein)
12. Für-sich-sein
13. An-und-für-sich-sein
14. Dingsein (Substanz-sein)
15. Weltsein
16. Von-sich-selbst-sein (φύειν)
17. Werksein (πράγμα εἶναι)
18. „Ideal“-sein (τὰ μαθηματικὰ)
19. Nicht-Sein
20. Anders-sein
21. Weltlichsein – Nichtweltlichsein (Endlichsein – Unendlichsein)
*

117a | Die Phänomenologie Husserls und die spekulativen Momente „phänomeno-


logische Reduktion“, „Teleologie“ und dgl.

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Für die „Metaphysik der Transzendentalien“ ist Husserls Phänomenologie
zunächst in der internen Analytik der Intentionalität, d. i. in der Analytik
der Gegenstandsbezogenheit des „Lebens“ bedeutsam. Eliminiert müssen
alle „reflexionsphilosophischen“ Momente der Husserlschen Philosophie
werden, d. i. alle Momente, die externe Thesen über die Intentionalität dar-
stellen.

| Seiendes und Wahrnehmung. 118a


Seiendes und Vergegenwärtigung.
Das Seiende und die kontingenten partialen Erkanntheiten von ihm.

Die Dinge stehen, ruhen, bewegen sich, sind vorhanden.


Die Gegenstände der Vergegenwärtigungen sind nicht. Seiendes und das
korrelative Erscheinungssystem??
Problem: während ich wahrnehme, verharrt das Ding. Während ich
wahrnehme, bewegt sich ein Ding (im Geschehen). Die Geschehensphase ist
nicht Mannigfaltigkeit von identifizierenden Synthesen.

| Die pathische (dämonische) Auffassung der Philosophie; die Frontstellung 119a


gegen den Moralismus in der Philosophie; Enthusiasmus und Größe des
Lebens: Einseitigkeit. Das Selbst und die „Notwendigkeit“. Die Freiheit als
Notwendigkeit der Selbstvollstreckung. Der Naturbegriff der Philosophie: es
gibt nur eine praktische Vernunft – die „theoretische“ nämlich. Philosophie
ist kein Instrument zum seligen Leben, kein Mittel der kultivierten Existenz
des Menschen. Sie ist ursprünglicher Trieb, Enthusiasmus wie die Kunst, sie
hat ihren Zweck rein in sich. Ihr Zweck ist Wahrheit, d. i. Verständnis des
Seienden. Philosophie normiert nie. „Werte“ sind kein möglicher Problemti-
tel in der Philosophie. Werte werden nicht erkannt, sie werden gewollt.

| Philosophie. 119b
Der Mensch philosophiert. Feiert. Erschauert. Der Mensch, der philoso-
phiert, stellt sich auf sich selbst. Er bricht aus der Hut des Mythos und der
Religion, der Sitte, der Institution: er ist Prometheus. Das Wesen des Lebens
ist die Gewalt. Das Wesen des Lebens ist die Freiheit. Das Wesen des Lebens
ist das Spiel. Unruhe des spontanen Lebensvollzugs: die Vollstreckung.
Lässigkeit des erstarrten Lebens: das Gleiten.

| Polemik gegen den Kulturbegriff der Philosophie. Philosophieren ist 120a


eine Weise des Lebensvollzugs des Menschen, der jenseits der Dimension
kultureller Anliegen ist. Philosophieren ist Sein im Fragen. Die Unruhe
des Für-sich-Seins.

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Philosophie und Geschichte? Die Dimensionen der transzendentalen
Bezüge der Seinsfrage.
Philosophie und „Wissenschaft“? Keine Wissenschaft unter andern,
sondern überholendes Wissen.
Philosophie = die Lebensbewegung der Selbstbemächtigung,
= das Spiel der Freiheit mit sich selbst.
120b | Der philosophierende Mensch: der Versucher des Seins, der Spieler im
Spiel, dessen Einsatz der Spieler selbst ist.
Philosophierend spielt das Leben mit sich selbst um sich selbst, um
seine Wahrheit als dichte Existenz und in der Weite seines Weltwesens.
Philosophieren ist die Rückkehr des Selbst in den Urgrund: die Heilung des
versehrten Lebens: der Untergang in Gott.

121a | Zur Idee der formalen Ontologie:


Die Entleerung zum „Formalen“ muß rückgängig gemacht werden und die
Entfaltung der Seinsfrage, wie sie der Entleerung zur Idee der formalen
Ontologie vorhergeht, im Gegenzug gegen die Formalisierung wiedergewon-
nen werden.
Husserls Begriff der formalen Ontologie: gegenstandstheoretischer
Grundbegriff: Etwas.
122a 1. | Seiendes – Seiendes als Gegenstand.
2. Idealitäten (wie Zahlen und dgl.) sind keine einfachen Gegenstände.
Die Rede von Gegenstand (evtl. Gegenstand höherer Ordnung) ist eine
Quelle von Mißverständnissen.
Einheit eines Gegenstandes braucht nicht Einheit eines Seienden
zu sein.
Sinngegenstände nur verstehbar durch den Hinblick auf ihre Bil-
dung.

123a | Die Gemeinschaft soll sich konstituieren. Gemeinschaft eines Interesses. Ist
das Interesse echt? „Bloße Bildung“. Oder ergreift es uns in unserem eigenen
Sein? Wollen wir Philosophie? Und wenn ja, warum?
Aristoteles: Metaphysik? Frage nach dem Seienden. Infragestellen des
Lebens. Heraus aus den Geborgenheiten. Einsam bei sich ist der Mensch
in der Ursituation. Aufwachend in einer fremden Welt der Dinge. Die
brüderliche Verwurzelung mit den Dingen ist vorbei. Der Mensch hat sich
aufgerichtet aus der gebückten Reihe der Tiere, indem er fragend das Haupt
erhebt. Umblickend, aufblickend zu den ewigen Feuern des Firmaments
überfällt ihn das Staunen: wo bin ich, was bin ich, wohin gehe ich?

124a 1. | Ratlosigkeit, Verlegenheit, Suchen, Staunen, Verwunderung, Fragen


(nicht als ein in der Antwort vernichtetes Fragen);

590 Z-XXV

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.
2. Schrecken, Entsetzen, Angst;
3. Geheimnis? Rätselhaftigkeit = Geheimnis des Seienden.
4. Grund (ἀρχή) Urgrund.

1. | Die Phänomenologie Husserls ist eine Metaphysik der Subjektivität, die 125a
das Seiende prinzipiell als Gegenstand, d. i. als „Sein für“ begreift und
aus dem konstituierenden Leben der leistenden Intentionalität ableitet.
Dabei ist Intentionalanalyse das wichtigste methodische Prinzip: die
analytische Ausweisung an den originären Quellen ursprünglicher
Gegebenheit.
Husserls Philosophie ist methodisch nicht reflektiert genug, um das
spekulative Element in den Grundgedanken der
| phänomenologischen Reduktion, der Konstitutionsidee, der teleologi- 125b
schen Grundauffassung der Historie und dgl. bewußt zur Abhebung zu
bringen und eine phänomenologische Begründung des spekulativen
Denkens zu versuchen. Vielmehr hält Husserl seine Phänomenologie für
durchgängig analytisch (d. h. aufweisend). Mein Einwand gegen das
analytische Denken: Analysis ist als interne Bestimmung fruchtbar, als
externe versagt sie, ja ist unmöglich.

1. | Der „Urzustand“ bei Rousseau und Hobbes in gegenteiliger Perspek- 126a


tive. Beide konstruieren aber ihn als einen möglicherweise existenten.
Dieser Urzustand ist überhaupt nie. Der Mensch lebt nie in bloß
naturhaft sozialen Verbänden, sondern hat diese Verbände schon reflek-
tiert: soziale Verhältnisse bestehen nicht nur, sondern zu ihnen als „Ver-
hältnissen“ verhält sich der Mensch bereits; sie sind öffentliche Entitä-
ten.
*
2. | Das τὸ τί ᾖν εἶναι = das Wesen, sofern es bezogen ist auf seine 126b
Erscheinung. Das Erscheinende ist in der Erscheinung, „das, was sein
war“ und gerade ist, indem es war.

| Die Lebensbedeutsamkeit der Philosophie? Philosophie ist nicht Wissen- 127a


schaft, die instrumental etwas für das Leben bedeutet. Die Orientierung der
Frage nach der Lebensbedeutsamkeit der Philosophie an der instrumentalen
Auffassung der Wissenschaft ist grundfalsch. Philosophie ist nicht „eine
Theorie“, die praktische Konsequenzen für das praktische Leben hätte.
Philosophie ist allein als Philosophieren praktisch: für das „praktische
Leben“ zu nichts nütze. Das Wissen ist kein Mittel für ein Handeln. Wissen
ist Selbstzweck. Die metaphysische Natur des Wissens ist in der modernen
instrumentalistischen Interpretation gänzlich mißkannt.

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.
127b | Die Philosophie von einer außerphilosophischen Bedeutung für das
praktische Leben her rechtfertigen zu wollen, ist „Moralismus“. Philosophie
ist nicht ethische Selbstbesinnung, nicht Selbstverantwortung, u. dgl. son-
dern eine als Leidenschaft begonnene Bewegung des Lebens auf sich selbst
hin. Philosophie gibt nie Resultate als Rezepte vom seligen oder guten oder
vernünftigen Leben.
Husserls „humanitärer Moralismus“ in der Kennzeichnung der Lebens-
bedeutsamkeit der Philosophie: Philosophie als Norm des richtigen (einstim-
migen) Lebens.
Meine Grundauffassung: Philosophieren das Spiel der Freiheit, ihrer
mächtig zu werden, eine Lebensbewegung, als „Spiel“ jenseits von Gut
und Böse.

128a | Das Wesen des Menschen ist Für-sich‹-›Sein als sich verwundernd verhalten
zu allem Sein.
Verwunderung = Staunen = Infragestellen = Infragehalten = verstehen +
nichtverstehen, begreifen wollen.
Verwundern = Versuchen = Schöpferisch sein = Sich zu sich und zu den
Dingen fragend verhalten.
Was ist das „ist“ der Frage „Was ist das Seiende“?
Seinsverständnis = Unverständnis
128b | erschüttern, – aufs Spiel setzen.
Philosophie ist das Aufs-Spiel-setzen des Lebens.
Der Mensch gibt sich auf; er verhält sich zu sich ausdrücklich fragend:
infragestellend. Riskieren – Wagen – Versuch.
Der Mensch ist Versuch: fragmentarische Existenz, Unruhe des Stau-
nens. Staunen = ist Verwunderung

129a | Der Mensch ist das fragliche Wesen: das ist, indem es versucht zu sein,
indem es improvisiert, indem es spielt: Der Mensch der Seinsspieler.
Spielen = versuchen zu sein, schöpferisch die Rolle des Wissenden spie-
len.
Philosophie ist die Lösung einer Unruhe der versucherischen Existenz.

130a | Philosophie ist Fragen. Fragen, wonach? Begriff der Fragebahn. Ausgang
= Basis – Richtung = Tendenz –
Alles Suchen – Finden – Kennenlernen – Näherbestimmen ist in
einer Bahn.
Basis =?
Philosophie fährt nicht auf eingelaufenen Bahnen. (Aber Philosophie
und die geschichtlichen Probleme?) Philosophie ist das Fragen nach dem
Fraglosen, dem Selbstverständlichen. – Kontrast: Welt des Selbstverständli-

592 Z-XXV

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.
chen und (Fragwürdigen in Bahnen) und Welt der philosophischen Frage.
Philosophie = „verkehrte Welt“.
| Aber ist damit Philosophie etwas Absonderliches? Nein, das Wesen 130b
des Menschen ist das Philosophieren. Das Zu-sich-selbst-Verhalten. „Das
Für-sich-Sein“. F ü r - s i c h - S e i n u n d B e w u ß t s e i n?
(Gründet das Fürsichsein im Bewußtsein oder umgekehrt? Ist das
Bewußtsein am Menschen wie eine Eigenschaft an einem Stein?)

| Der Mensch ist das Seiende, das existierend spielt. Spielen = ein Sein 131a
zum Sein.
Das Verhältnis von Spieler (vor dem Spiel) und Spieler in der Rolle:
ein ausdrückliches Sichzusichselbstverhalten und gemäß seinem Selbstver-
ständnis zu der Umwelt verhalten.
Der Mensch = der Spieler des Seins.
| Der Mensch als schöpferischer spielt. 131b
Kulturen, Institutionen, Sitten, Wertschätzungen = Spiele des
Lebens. –
Die Wagenden, die große Lust des Daseins ein Spiel: ein Würfelspiel
der Götter.
Dionysos: Das Mysterium des Lebens und die Philosophie.

| Das Problem von ens und verum bei Hegel? 132a


Die „Phänomenologie der Geistes“ als Entfaltung des Geistes in den Dingen.
Denken und Sein. Sein aus Vernunft.
Hegels Methode, das Seiende überhaupt „in sich reflektieren zu lassen“ als
Methode, die spekulative Identität von Denken und Sein zu erweisen.

| Anarchistische Bedeutung der Philosophie: 133a


Das Leben ruht zumeist aus in Dogmen (Mythos, Sitte, Religion, konserva-
tive Mächte der Geschichte). Die Fertigkeit eines Welt- und Menschenbildes
ist Voraussetzung aller wirklichen Kultur.
Philosophieren ist der Versuch, schöpferisch zu sein: der „Mittag“ des
Lebens, die Umkehr.
Die Metaphysik des Spiels: Dionysos.
(Nietzsches Metaphysik als Lehre vom Leben unter der Leitidee
des Spiels.)
| Begriff des „schöpferischen Lebens“: 133b
Kunst – Religion – Philosophie:
Kunst = die schöpferische Feier des Daseins.
Religion = die schöpferische Sinngebung des Daseins.
Philosophie = die schöpferische Weise, zu sein.
Philosophie = die Befreiung der Freiheit.

Z-XXV 593

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.
*
Schöpferisch fragen = philosophieren.

134a 1. | Topische Bestimmung der Wahrheit. Was „Wahrheit“ ist, ist ein
spekulatives Problem.
Wahrheit topisch charakterisiert: Wahrheit geschieht. Wo ist dieses
Geschehen: im Zusammensein von Mensch und Dingen.
Die antike Ontologie entwirft das ὄν ὡς ἀληθές. „Enthülltheit“.
Enthüllendsein als Wesen des Erkennens, jedes Zugangs zu Seien-
dem, jedes Verstehens.
Enthülltheit und Enthüllendsein ist die Enthüllung. Sofern Wahr-
heit ge-
134b | schieht, geschieht auch das Erscheinen des Seienden.

135a | Die spekulative Wahrheit ist in sich bezogen auf ein Fragen, das durch
Wissen nicht vernichtet, sondern in seiner Fragwürdigkeit radikaler wird.
Ein Geheimnis, das als solches wächst, wenn der Mensch es auf den Begriff
zwingen will.
Philosophieren ist das Fragen der spekulativen Fragen, die als solche
alle Wissensfortschritte offen halten und in die „Leitfragen“ einstellen.
Philosophie ist nie „Wissenschaft“ (im Sinne positiver Wissenschaft), weil
sie selbst nicht in anonymen Horizonten sich bewegt. Was bei den positiven
Wissenschaften anonyme Horizonte sind, wird zum Wissensgegenstand der
Philosophie; aber sie hat die Fragehorizonte der spekulativen Fragen, die nie
in „Wahrheiten“ aufgelöst werden können.
135b | Analogie: analog wie sich die Mannigfaltigkeit des Seienden verhält
zum Universalenthalt der Welt, die nie in Mengen von Seiendem aufgelöst
werden kann, so verhält sich das Wissen der positiven Wissenschaften zur
philosophischen Erkenntnis, und diese in ihren Wahrheiten verhält sich
ebenfalls analog zu den sie leitenden spekulativen Fragen. Philosophie
ist „Welt-Weisheit“

136a | Husserl sieht die Krisis der Wissenschaften in der Verengung der Ver-
nunftproblematik auf Tatsachenerkenntnis, d. h. in der Eliminierung der
Sinnfragen als theoretischer Fragen.
Die Philosophie ist nicht mehr Universalwissenschaft und Fundament
einer theoretischen Kultur. Husserls Begriff der Philosophie = Wissenschaft
vom Seienden und Seinsollenden.
Meine Kritik:
1. Husserls Auffassung der Philosophie ist moralistisch.
2. Husserls Kritik der Wissenschaften ist nicht metaphysisch orientiert.

594 Z-XXV

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.
| Meine positive Forderung: 136b
1. Eliminierung des Kulturbegriffs von Philosophie;
2. Restitution des metaphysischen Begriffs des Wissens und der Wissen-
schaft durch Austreibung des instrumentalen Pragmatismus in der Wis-
sensidee der Neuzeit.

| Das transzendentale Problem ist das Problem der Metaphysik: das Fragen 137a
nach dem Seienden im Hineinstellen in die drei großen Fragerichtungen der
abendländischen Philosophie, in die Problematik der „Transzendentalien“.
Der phänomenologische Subjektivismus Husserls bedeutet eine ent-
scheidende Leistung in der Freilegung der Subjektivität. Die Subjektivität
im unendlichen Reichtum ihrer intentionalen Strukturen ist die Entdeckung
der Husserlschen Phänomenologie – wenn diese auch zu einer dogmatischen
Metaphysik der Subjektivität (Reflexionsphilosophie) sich verfestigt.
*

| Zur Idee der „formalen Ontologie“ (im Husserlschen Sinne) ist kritisch fest- 138a
zustellen, daß die Formalisierung als die sinnbildende Grundmethode nicht
analysiert wird, daß die formale Ontologie unbestimmt ist – im spezifischen
Sinne ihrer Formalität, d. h. daß sie im Rückbezug auf eine „metaphysica
generalis“ nicht aufgehellt ist; ferner daß die „formale Ontologie“ sich mit
einer „formalen Gegenstandstheorie“ überkreuzt; resp. daß der Unterschied
von formaler Ontologie und formaler Gegenstandstheorie nicht beachtet
wird. (Vorgriff auf die „phänomenologische“
| Gleichsetzung von „Seiendem“ und „Gegenstand“: Metaphysik der Inten- 138b
tionalität!)
Der thematische Grundbegriff der „formalen Ontologie“ ist das Substan-
tivum; der thematische Grundbegriff der „metaphysica generalis“ als Lehre
vom Seienden als Seienden ist die Substanz; der thematische Grundbegriff
der formalen Gegenstandstheorie (d. i. formalen Ontologie in der Perspek-
tive der Gegebenheit) ist das „Etwas“ als Korrelat eines Meinens.
*

1. | Versuchen = Sein zum Sein. 139a


2. Spielen = Sich zu sich selbst verhalten und zum Ganzen der Dinge in
einer einheitlichen Weise (der „Rolle“ gemäß).
3. Für-sich-Sein (und zu den Dingen Sein).
4. „Staunen“ = Wissen und Nichtwissen in eins = Fragen = Fragen nach
dem Sein.
| Spielen = hat in sich die Möglichkeit, sich in seiner Rolle zu 140a
verlieren, sich zu vergessen.

Z-XXV 595

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.
Spielen = Etwas (Jemand) sein wollen.
Spielen = Spiellust = „Und alle Lust will Ewigkeit“.
Spielen = „Lust tiefer noch als Herzeleid“.
ist Verhalten zu sich und demgemäß eine Lebens-
rolle.
Spielen und Staunen = Spielen ist Wagen, Wagnis, „Wurf“.
140b | Spielen = Selbstverdeckung.
Spielen = Maske des Lebens.
Menschsein ist Unterwegsein, Übergang, zwischen Wissen und Nichtwis-
sen.
Das integrale Leben = Ziel der Zurückholung aus den Institutionen, den
Idealen, den Rollen.
Spielen und Freiheit = Vollstreckung („Sichselbstsetzen“ des „Deut-
schen Idealismus“).

141a | Versuch einer Auslegung der Duineser Elegien von R. M. Rilke:


Elegie = der Sang der „heiligen Trauer“.
Elegisch ist alles menschliche Singen; die „Elegie“ die dem Wesen des
Menschen gemäße Dichtung. Elegisch dort, wo der Mensch um sich weiß,
wo er nicht benommen vom Jubel oder direkter Trauer, Elegie ist Abstand,
ist also Wachheit, ist Wissen. Elegische Dichtung ist nie unmittelbarer
„Gefühlsausdruck“, sondern ist Wehmut, ist Ferne, ist „Allgemeinheit“.
Der Mensch als Thema der Elegie.
Was ist der Mensch, was ist das Leben, die Welt, das Sein, die Mächte, das
Kind, das Tier, die Erdmächte, das „Sägliche“, „Wille der Erde“?
Der Mensch als der „Mittler“, zwischen Nichts und Gott, als das
Unzulängliche, das Schwindende, das Vergängliche.
Tod, Liebe, Engel, Abschied, „Vorsicht menschlicher Geste“, Sein als das
Gesuchte und Gewagte, auf Ungefähr, das Leere, die Toten, das Geheimnis,
das Wehende.

142a | Ehre, Würde, Scham


Sprache, Lachen, Komik, das Tragische
„Begriff“
Tod, Freiheit, Institution, (Rolle), Spiel

Sein als solches


Möglichkeit
Nichtsein
Zeit
Glück oder Unglück („Taxation des Daseins“)
Sinn des Lebens

596 Z-XXV

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.
Frage nach dem Woher, Wozu, Wohin
Gott
*
Das Sein des Menschen ist als Fürsichsein, als Selbsthaftigkeit: S p i e l!
*

| Nietzsches „Philosophie des Spiels“ 143a


I. Der Begriff des Spiels
II. Der philosophische Begriff des Spiels
III. Das Sichzurückholen aus den Rollen des Lebensspiels („Das Kind“)
IV. Der schöpferische Mensch, der Spieler.
(Das Tänzerische, das Chaos und der tanzende Stern)27
[Der Spielraum und die Spielzeit]
[Die „Kunst“ und die „Natur“]
V. Dionysos, der Gott des Spiels
*

| Das „τὸ τί ἦν εἶναι“ = das „Wesen“ als das Herausgekommene und Insich- 144a
gewesene, Außersichgegangene, das Seingewesene und Seinsherkünftige,
jetzt Hervorkommende.
*
Die Grunderfahrung, daß „Sein“ verstellt ist durch „Schein“, durch Vorder-
grund und Täuschung und minderes Sein, drängt den Seinsbegriff in einen
„gegenstehenden“ Bezugssinn, während doch das „Sein“ auch das Umfan-
gende ist, das Einbehaltende, das alles Erkennen und allen Erkennenden
immer schon einbegreift. –
Das Sein und die „Erscheinung“
*
Die Substanz (das Seiende) ist für Hegel in der Bewegung des Außersich-
gehens und Reflexion insichselbst – nicht also primär der heilsgeschichtli-
che Gott.
*

| Das Binnenweltliche in seinem Begriff zu fassen ist eine vorgängige 145a


Aufgabe vor der Bestimmung des Weltbegriffs.
Die philosophisch bedeutsamste Kosmologie (Kants „Kritik der reinen
Vernunft“) ist die Erarbeitung der Einsicht, daß Welt keine binnenweltliche
Gegenständlichkeit ist, daß alle binnenweltlichen Begriffe auf die Welt
angewandt versagen.
„Größe“ (endliche – oder unendliche –) ist ein binnenweltlicher Begriff.

27 Vgl. Z-XXVI 53a.

Z-XXV 597

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.
*
Welt ist das Urapriori wie Sein.
Die Vorbekanntheit von Seinsbezirken ist keine so vorgängige wie die
der Begriffe „Sein“ und „Welt“.
Ist Seins- und Weltapriori „allgemeiner“?
*
145b | Die Apriorität von Sein und Welt ist eine fundamentale, Apriorität von
Seinsbezirken erst ermöglichende.
Keineswegs ist alles Apriorische im gleichen Sinne „vor aller Erfah-
rung“.
*
Der Begriff der „apriorischen Erfahrung“, der Wandlung der Seinsidee,
der Weltidee, der Wahrheitsidee, der Gottesidee, vergleiche dazu Hegels
Phänomenologie des Geistes.
*
Weltbewußtsein ist nicht intentional. Welt kein Gegen-Stand, kein Gegen-
über.
Weltoffenheit, als Horizontintentionalität, ist nicht einerlei mit der Apriorität
des Weltbegriffs resp. der Weltidee.
*
146a | Eine Theorie des Weltbegriffs eine Kardinalfrage der Metaphysik. Welt
ist das Bekannteste, bekannt wie das Sein. Nie ist der menschliche Geist
„weltlos“, nie ist er ohne die Seinsidee. Aber einen Begriff des Seins und
einen Begriff der Welt hat er auch nicht als einen gesicherten, niemals mehr
fragwürdigen Besitz.
Philosophieren heißt: in Bewegung bringen. Die Seinsidee, die Weltidee,
die Wahrheitsidee und die Gottesidee.
Welt als Begriff heißt zugleich einen Begriff des Seins, der Wahrheit
und Gottes.
Der Weltbegriff bestimmt immer den Seins-, Wahrheits- und Gottesbegriff.
„Welt“ ist ein „transzendentales“ Problem.

147a | Phänomenologische Bedeutung des „Weltbegriffs“:


1. Welt als Generalthesis der „natürlichen Einstellung“;
2. Welterfahrung;
3. In-die-Welt-Hineinleben (Geradehineinstellung);
4. Gegenständlich-Seiendes als Inexistenz (Himmel, Boden usw.);
5. Welt als Horizont (apperzeptive Übertragung);
6. Weltliche Bedeutung der traditionellen Logik. (Weltliche, d. h. objekti-
vistische Seinsidee.)
7. Welteinklammerung („Epoché“);

598 Z-XXV

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.
8. Weltkonstitution;
9. Welt und Natur (res extensa)!?
10. Mundane Situation der Subjektivität;
11. Die „Weltflucht“ der „ontogonischen Distanz“. (κάθαρσις – ἕνωσις
– θέωσις).
1. | Theorie des Weltbegriffs – ist ein Problem der Philosophie, ist die 148a
Frage nach dem Seienden im Ganzen als einem Einen. ὄν und ἕν. Ein
transzendentales Problem.
Die Theorie des Weltbegriffs ist eine der vierfach-einheitlichen Grundfragen
der Philosophie, die den Begriff der „Metaphysik“ bestimmen. –
Seiendes und Welt – die Offenheit, aus der Seiendes für uns ist und
begegnet. – Das Gedachtsein und seine ontologische Bedeutung ist wichtig,
weil Welt eine „Idee“ sein soll. Ist die Welt die bloß gedankliche Einheits-
form, die wir mitbringen oder die wir uns zusammentragen oder ist sie an
sich? –
Die begriffliche Durchdringung des Urphänomens Welt ist eine zentrale
philosophische Aufgabe.
Ist Welt ein „Phänomen“, ein Sichzeigendes, oder eine vorgängige Stätte
für Zeigungen? Ist Welt ein „Gegenstand“, oder Worin für Gegenstände?
| Ist die Frage nach der Welt „subjektivistisch“ zu stellen, d. h. vom 148b
„Welterlebnis“ her? Ist Welt eben nur die ganzheitliche Weise, wie wir
Seiendes erleben? Welterlebnis-Analyse – ist dies der zuständige Weg, den
kosmologischen Begriff zu erreichen? –
Wie hängt der „religiöse“, mythische Begriff der Welt mit der philoso-
phischen Frage nach der Welt zusammen? –
Welt und κόσμος (geordnetes Seinsall)?
„Welt“ und die anklingenden Stimmungen:
Welt als Weltlichkeit, Weite und Grenzenlose, das Sehnsüchtige, das
Welttiefe, das Ungeheure, „Vor Gott wird alles zur Welt“. –
*
Welt und das erschienene Sein?
Welt und Φύσις?
Welt und die Zyklik, die Kreislauflehren?
__
Welt und Weltoffenheit des Lebens, die Wachheit, Welt und Schlaf –
Heraklit: ἴδιος κόσμος und κοινός κόσμος! –

| Die Not der Seinsferne, der „Seinsverlassenheit“, der seinssucherischen 149a


Verzweiflung –

Z-XXV 599

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.
Die Seinsnähe, die Seinsgeborgenheit, die Seinsschau –
Sind dies nicht Termini, in denen in säkularisierter Form die „Gottferne“ und
„Gottnähe“, diese Urerfahrungen des Menschen, durchscheinen?? –
„Staunen“ ist zunächst immer Seinsverlust, Seinsverlassenheit, der Unter-
gang einer vertrauten Welt und einer langen Seinsgewöhnung; Staunen ist
desorientierend, störend und zerstörend; ein „Erdbeben“ in der gesicherten
Welt der geltenden Seinsidee; Staunen ist welterschütternd. –
149b | Als entsetzendes Geschehen ist das Staunen schrecklich und alle Rede
verschlagend, aber auch ergreifend und erschütternd in der Seligkeit des
Anblicks des Ewigen Gesichts der Dinge. Staunen ist ein Erfahren des Seien-
den, das uns aus den Vorläufigkeiten und Unentwickeltheiten des Gebrauchs
und der Vernutzung der Dinge zurückstellt in das heilige Aufgehen der
Dinge, in ihren uralten und ewigen Aufgang, in ihr „Heimfallen zum Uralten“
(Rilke).28 –
Wir sind vom Sein umfangen und können es nie suchen wie ein
verlorenes oder unbekanntes Ding. Das Sein ist das Immerumfangende, das
Niezuverlassende, und doch das Gesuchte und Erschreckende, Entsetzliche
und Schöne und Heilige. Staunen ist in Bewegung geraten der Seinsidee (und
der transzendentalen Ideen überhaupt), ist „ontologische Erfahrung“ (nicht
ontische Erfahrung). (Hegels Begriff einer „Erfahrung des Bewußtseins“
meint diese ontologische Erfahrung.)

*
150a | Spiel und das „Umwillen“!?
Aristoteles’ Analyse des menschlichen Handelns ist orientiert am „Tun
umwillen“. Ist Spielen ein Tun umwillen, oder ist es nicht gerade durch die
Zwecklosigkeit seines Vollzugs charakterisiert?
Spiel und „Arbeit“?!?
*
Spiel ist die „Metapher“, die das Ansichhalten eines Entwurfs und die
Aktualität des Entwerfens als Möglichkeiten in sich birgt.
Spiel ist Selbstverdeckung, verspielt sich selbst.
*
151a | Metaphysik als Transzendentalienproblem

152a | Welt (im kosmologischen Verstande) ist keine Ganzheitsform binnenweltli-


cher Art. Raum und Zeit ist existenzial nicht völlig zu begreifen, weder als
ursprüngliches Raumgeben („Einräumen des Daseins“), noch als ekstatische
Ganzheit und durchlebte Gleichzeitigkeit von Gegenwart, Vergangenheit,
Zukunft. Welt ist weder objektivistisch als Stellenmannigfaltigkeit, noch

28 Sonette an Orpheus, Erster Teil, Nr. 19, aus der ersten Strophe.

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.
subjektivistisch als Offenheit des Daseins für die Ausbreitung von in seinen
Weltkreis hereinstehendem Seiendem zu interpretieren, sondern allein als
Subjekt-Objekt durchgreifende, sie einbehaltende Enthaltung.
*
| Kants Unterschied von statischen und dynamischen Ideen?? 152b
Welt: eine Idee, also zugänglich dem νοεῖν?
„Welt und Wahrheit“ (ἕν καὶ ἀληθές)
____________________

Vgl. V‹iktor› Kraft, Weltbegriff.29


Titel „Zur Phänomenologie des Weltbegriffs“?? oder „Theorie des Welt-
begriffs“ (Phänomenologische Untersuchung zum Problem von Welt
und Wahrheit).

| Kants transzendentale Frage ist das Staunen über die Ἀλήθεια, in der stehend 153a
die dogmatische Philosophie das Wesen des Seienden bestimmt.
Das Seinsproblem als Wahrheitsproblem, dies ist der Sinn der „Deduk-
tion der reinen Verstandesbegriffe“.
| Anmerkung zu „Kants transzendentale Frage“: Dieser Artikel ist eine 153b
gedrängte Zusammenfassung des Grundgedankens eines Vortrags, den der
Verfasser 1935 in der Kantgesellschaft zu Dessau gehalten hat.30

Das Heilige, das Schöne, das Weise – all das ist jenseits der Lebensnot-
durft und seiner Zweckhaftigkeit. Religion, Kunst, Philosophie [und Wissen-
schaft, (allerdings instrumental verstanden)] ist zwecklos, sofern es nicht dem
Lebenskampf, nicht der Selbstbehauptung dient; sie haben die Zwecklosigkeit
des Spieles.

| Die Kantinterpretation, die Kant als Metaphysiker (der Interpretation 154a


„Transzendentalienphilosophie“) begreift, ist der Ansatz einer Auslegung,
die in Kants Philosophie die Ausarbeitung der Welt als des transzendentalen
Horizonts der Seinsidee ‹darlegt›.
Kants Philosophie ist de facto Transzendentalphilosophie: Seinsproblem
– Welt-, Wahrheits- und Gottesproblem.
*

| Wieso ist die Frage, „Wie ist Metaphysik überhaupt möglich?“ die Aufrich- 155a
tung dieser selbst als Wissenschaft?

29 Viktor Kraft, Weltbegriff und Erkenntnisbegriff. Eine erkenntnistheoretische Untersu-

chung, Leipzig 1912.


30 Vgl. 63b.

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.
Ist diese Frage in ihrer Form gleichbedeutend mit „Wie ist Biologie
möglich“? „Wie ist Mathematik möglich“? Bedeutet die Frage die Skepsis,
ob es so etwas wie Metaphysik geben kann, also das eventuelle Wirklichsein-
können der Metaphysik? Nein – sondern ist die Frage nach der Möglichkeit
der ständigen Unverborgenheit des Seienden (ens – verum).
Begriff der Metaphysik: ens – verum – unum – bonum! Aristoteles: ὄν
ὡς ἀληθές, das Wahre, das „Währende“.
Fernzuhalten sind: Übereinstimmungstheorien.

155b 1. | Allgemeine Charakteristik.


2. Kants doppelter Ansatz:
a. Kritik der reinen Vernunft;
b. Wie ist Metaphysik möglich?
3. Was ist das eigentliche Problem?
4. Philosophie und „Thematik“!?
5. Das Problem ist: ὄν – ἀληθές.
Wahrheitstheorie (nicht „Erkenntnistheorie“, nicht Ontologie, nicht
Metaphysik im traditionellen Sinn der Lehre vom Übernatürlichen).
6. Der historische Ansatz der abendländischen Philosophie: vierfa-
ches Fragen.

156a | Ein phänomenologischer Interpretationsansatz:


Die neuere Philosophie sucht das Wesen des „Lebens“ zu bestimmen. Das
Lebendigsein, das Fungieren, die leistende Intentionalität.
Kants Metapher, um das Sein des Subjekts anzuzeigen, ist das Urteilen
(Synthesis des Verbindens).
Fichtes Metapher: die sittliche Selbstsetzung der freien Persönlichkeit.
Schellings Metapher: das Schaffen des Künstlers.
*
Meine These: Synthesis, Selbstsetzung. Poiesis enthalten Momente, die
zusammen in der Metapher des Spiels impliziert sind.
*
156b | „Imagination, Schlaf und Traum”
Idealismus ist Transzendentalphilosophie
„Philosophische Disziplinen“?
Ontologie, Kosmologie, Psychologie, Theologie!?
Transzendentalien und Transzendentale „Allgemeinheit“!
Spielen hat in sich die Möglichkeit zu starten!

157a | Das Seiende und das Eins


Eins ist = Grundbildende.

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Die antike Philosophie ist keineswegs eine Ontologie der „Substanz“ oder
„Ideenlehre“ usw., sondern Ontologie der Substanz ist sie im Gefolge der
Entfaltung des spekulativen Problems von ὄν und ἕν, und ebenso ist sie im
Gefolge „Ideenlehre“. –
Die antike Philosophie ist keine Theorie des objektiven Seienden, son-
dern die transzendentale Einheit von Seins-, Wahrheits-, Welt- und Grund-
problem.
*
1. | Die Transzendentalphilosophie und der Idealismus überhaupt sind 158a
nicht eine thematische Philosophie des Subjekts, sondern Metaphysik als
Fragen nach den transzendentalen Horizonten des Seinsproblems.
*
2. Die Leistung des Idealismus und Subjektivismus ist die Ontologie
des Lebens, d. h. die nicht-dingontologische Bestimmung des Lebens,
wodurch dinglich Seiendes zur Gegebenheit kommt.
*
3. Gerade in seinem „Subjektivismus“ ist der „Deutsche Idealismus“ das
transzendentale Fragen nach ens qua verum.
*
4. Schlußpartie für „Kants transzendentale Frage“:? Die Resultatthesen
einer Philosophie müssen auf das Problem zurückgenommen werden!!!

| [Ropohl: „Das Eine und die Welt“]31 158b

Seiendes und Sein


੕Ȟund İੇȞĮȚ ?
Eins und Welt ?
‫ݐ‬Ȟ und ʌ઼Ȟ

31 Heinrich Ropohl, Das Eine und die Welt. Versuch zur Interpretation der Leibniz’schen

Metaphysik. Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Philosophischen


Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg, Leipzig 1936. Heinz Ropohl war Stu-
dent bei Husserl zur gleichen Zeit wie Fink und hat wie Fink für seine eigene Bearbeitung des
Themas des Preisausschreibens der Freiburger Philosophischen Fakultät den Preis bekom-
men. Vgl. „Einleitung des Herausgebers I“, Bd. 1 der vorliegenden Edition, S. XXXIII–
XXXIV, Studien, S. 1. Anm. 1, und Bw IV, S. 89 und S. 96, Anm. 23; vgl. die ausführliche
Information in: Guy van Kerckhoven, Mundanisierung und Individuation bei E. Husserl und
E. Fink. Die VI. Cartesianische Meditation und ihr Einsatz, Würzburg 2003, S. 66f., insbes.
Anm. 105.

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159a | Hütte im Oytal

160a | Zu „Hütte im Oytal“:


Das Phänomen der Selbstauslegung des Lebens in seinen Rollen. Z. B.
Berufssituation, Sitte, S.A.-Dienst usw. Dem „Leben selbst“ begegnet man
nicht so leicht. Begriff eines Nihilismus des Jasagens: Nietzsches „Optik
des Lebens“.
Der Mensch hält das Leben unverstellt zumeist gar nicht aus. Das
„direkte Gespräch“, die Liebe und die Schande!

161a | Konstruktion des Lebenssinnes von den Bedürfnissen her: Ideologie der
„Arbeit“. Arbeit ist Bedingung der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung,
ist ein Mittel des Lebenskampfes. Aber Lebenskampf ist nicht sinnfrei. Das
Leben gewinnt erst Sinn durch das „Zwecklose“ und „Nutzlose“, durch das
Heilige, das Schöne und das Sinnvolle, mit einem Wort durch das Selbstver-
hältnis.
Einsamkeit als eine Grunderfahrung des Menschen, die ihn heraustreibt
aus der vorgegebenen Sinnauslegung des Lebens und ihn zurückstellt in den
Grund der Dinge.
161b | Eugen Fink 1. Dissertation 1929
I.32 2. Kantstudienaufsatz 1933
3. Tatwelt-Aufsatz 1934
Eugen Fink 1. Entwicklung 1937
II.33 2. Kants transzendentale Frage
3. Lehre vom Weltbegriff
4. Bestimmung des Menschen
34
III. „Hütte im Oytal“ („Alpine Philosophie“)
IV.35 Nietzsches Metaphysik des Spiels
162a | Einsamkeit: eine Grunderfahrung, das Befreien der Freiheit, das Zurückho-
len des Lebens aus Öffentlichkeit und ihrer Lebensauffassung, die „Integra-

32 Diese drei Schriften sind selbstverständlich resp. VB/I, „Vergegenwärtigung und Bild I“

(Studien, S. 1–78), „Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwär-


tigen Kritik, I“ (Studien, S. 79–156) und „Was will die Philosophie Edmund Husserls?“
(Studien, S. 157–178).
33 Von diesen vier Schriften wurden die ersten zwei nach Finks Tod veröffentlicht: „Die Ent-

wicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“ und, in Form des Dessau-Vortrags, „Die
Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“ (ND, S. 45–74
und 7–44). Die letzten beiden wurden nicht ausgeführt, vgl. aber: V-II und Z-XVIII 4a und
die Anmerkungen dazu.
34 Zu dieser von Fink geplanten Schrift gibt es zahlreiche Notizen.

35 Vgl. Fink, Spiel als Weltsymbol, EFGA 7; vgl. Fink, „Nietzsches Metaphysik des Spiels“

(1946), Probevortrag zur Habilitation vom 9.III.1946 an der Philosophischen Fakultät der
Universität Freiburg; vgl. EF05–75, Bilder Nr. 532–533.

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tion“ des Lebens, das Heimkehren in die Natur. Einsam ist der Mensch, der
von sich aus lebt und von sich aus zum Ganzen des Seienden Stellung nimmt.
Einsamkeit ist Selbständigkeit im Ganzen der Dinge; ist Selbststand und
Selbstvollstreckung des Lebens; ist ungestütztes, ungeteiltes Stehen vor Gott.
*
1. | “Theorie des Weltbegriffs“ E. F. III. 162b
2. „Bestimmung des Menschen“ IV.
3. „Nietzsches Metaphysik des Spiels“ V.
Vorträge:36
1. Das philosophische Problem des Größenwahns
2. Das Wesen der „Theorie“ (die metaphysische Natur des Wissens)
3. Der Narzißmus des Geistes (die Afterphilosophie)
4. Kierkegaards Irrtum (Generelle und transzendentale Allgemeinheit)
5. ‹bricht ab›

| Allgemein Philosophisches 163a

| Wort für die Reflexion über die Philosophie? 164a


Philosophieren beginnt immer schon mit einem Selbstbegriff. Philosophieren
bringt sich erst in seinem Selbstbegriff zuende. Alle üblichen Schemata
von naivem Tun und reflektierter Bestimmung des Tuns sind unanwendbar.
„Methodenlehre“?? Kants Schema scheint auf den ersten Blick das Modell
der „Reflexion“ zu verraten. Aber dies ist ja die Anordnung für den philoso-
phisch Angesprochenen. Platons und Aristoteles’ Philosophieren ist ständig
durchsetzt mit Charakteristiken der Philosophie.
Beginn einer Philosophie ist Selbstentwurf, Selbstsetzung, Selbstaufstellung,
Aufrichtung, Autogenesis, „Aseität“!? „F r e i e s S p i e l“.
| Die epilogische und prologische e x t e r n e Bestimmung der Philosophie ist 164b
das Zerrbild des Problems der philosophischen Selbstbestimmung der Philo-
sophie.
Beispiele: geistesgeschichtliche (historische), soziologische. rassistische,
biographische, biologische, „Seelentümliche“, jede Art und Weise, die
außerphilosophische und also unphilosophische Begriffe auf die Philoso-
phie anwendet.
Das Freisein läßt sich nicht aus Bedingtheiten der Unfreiheit des Men-
schen bestimmen.
*

36 Diese Vorträge wurden nicht gehalten oder verfasst.

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165a |
Heideggers “Weltbegriff”?
Heideggers “Spielbegriff”? Das Problem der Kosmologie!
Heideggers “Wahrheitsbegriff”?
Heideggers “Transzendenzbegriff”?
*
Endliche und absolute Philosophie:
1. Die geistesgeschichtliche Typisierung: a) ein abgeschlossenes, skepti-
sches – und dogmatisches Philosophieren; b) existenzieller „Ruck“
– und „systematischer Ruck“; c) Differenz von Glauben und Wissen
(Gott draußen) – und absolutes Wissen als Vollendung der Religion
und Wissenschaft: d) anthropologisches Wagnis – und Selbstbewußtsein
des Absoluten; e) historisches Selbstbewußtsein – und ungeschichtliche
Zeitlichkeit (Ewigkeit);
165b f) | “Wahrheit“ als Helle auf dem dunklen Hintergrund des Geheim-
nisses – und Wahrheit als „göttliches Licht“; g) die Pseudo-Gegen-
sätze:
1) Tod – Tod kein Problem
2) Einzelner – der allgemeine Geist.
3) Irrational – Rational
h) Historische Typen: Kant – Hegel
Heidegger – Husserl?
2. Die philosophische Problematik des Unterschieds von endlicher und
absoluter Philosophie: endlich-absolut: Schicksal der Grunderfahrung,
die das philosophische Denken trägt. Mensch und Gott. Gott:

166a 1. | Wahrheitstheorie ist die Metaphysik der transzendentalen Frage nach


dem Seienden als Wahren (τὸ ὄν ὡς ἀληθές)
*
2. Der Aufgang des Seienden in die Sphäre der Helligkeit des menschli-
chen Seinsverständnisses: der Mensch ist die Wahrheit.
*
3. Der „Zeitraum“ der Wahrheit: die Phänomenalität der Phänomene (d. i.
des erscheinenden Seienden) liegt in der zeiträumlichen Struktur!??
(Heideggers Terminus „Zeitraum“!!)
*

167a | Zur Analyse der „Idealität”


Husserls Beispiel: Goethes „Faust“ = Raffaels „Madonna“ = Identität in Wie-
derholungen.

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Eine Symphonie wird nicht wiederholt, nicht kopiert, sondern mehrmals
aufgeführt. Ihr Seinssinn liegt in der x-fachen Aufführung. Raffaels „Sixtini-
sche Madonna“ aber ist original-einzig. Ihre Identität ist die eines einzigen
Bildes. Bild kann kopiert werden. Idealität des Bildsinnes und die Faktizität
seines „Trägers“?

| Aristoteles’ Begriff des Wissens, wie er ihn vor allem in den ersten Büchern 168a
der „Metaphysik“ entwickelt, ist analog dem Begriff des Wissens und der
Wissenschaft Hegels: beide fassen Wissen als Gradualitätsphänomen, von
der αἴσθησις bis zur Σοφία! Wissen ist vor allem nicht eine fixe, unbewegte
„Kenntnis über“ eine Sache! Wissenschaft also nicht ein Inbegriff von
Kenntnissen, „Theorie“ nicht bloß eine Vorstellung, ein Gedanke von wirk-
lichen Dingen.
Wissen (und Wissenschaft) bei Aristoteles und Hegel aus dem Totali-
tätsphänomen des Wissens: Philo-sophie

| Zum Problem der Geschichtlichkeit des Lebens: 169a


Geschichtlichkeit ist eine Bestimmtheit des individuellen Daseins, nicht sein
Wesen. Der Mensch ist als „Seele“ so in der Zeit, daß er unberührt eintritt und
dann der Öffentlichkeit verfällt. Der Mensch ist seiner „Substanz“ nach end-
lich, ein „vitales Programm“. Der schöpferische Mensch ist ein „Anfänger“.
Geschichte ist das öffentliche Verflechtungsfeld der individuellen
Lebensentwürfe!? Im Dunkel der schöpferischen Seele entwirft der Mensch
ein neues Lebensgefühl, eine neue Interpretation. Individuen und geschicht-
liche Mächte??

| Die „Hütte im Oytal“ stellt meine Art zu sein heraus, aber ganz und 170a
gar nicht in beispielgebender Absicht. Die Apolitie als Lebensform ist nur
dann echt, wenn sie nicht zu sich überreden will. Staat als notwendiges
Übel, als Notdurftinstrument. Staat als die öffentlich stabilisierte gewalttä-
tige Selbstauffassung des Menschen (charakterisiert durch Dostojewskjis
Tendenzen des Menschen 1) Nichtaushaltenkönnen der Freiheit, 2) gemein-
sames Verehrungsbedürfnis, 3) Autoritätsbedürfnis), die das Leben des
heutigen, um die metaphysische Existenz amputierten Menschen bestimmt.
Der wesentliche Mensch, der nicht in der Arbeit, sondern im Spiel, d. i. in
seiner metaphysischen Existenz den Sinn des Lebens sieht, ist staatlos.
*
| Welt als Bedeutungsganzes einer Weltauslegung ist ein Existenzial, ist 170b
„Weltschein“, der geschichtlich im Entwurf des Daseins gebildet wird. –
Welt im kosmologischen Verstande ist die Ganzheit der Φύσις, ist die Allheit
des Seienden, die Weltweite des Raumes und die Weltdauer der Zeit. Raum
und Zeit sind primär keine Dingformen, sondern Weltcharaktere.

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171a | Dostojewskjis Menschen stehen alle in „Grenzsituationen“, so zwar, daß sie
gerade diese Grenze überspringen wollen, Wagnisse des Menschseins:
Raskolnikoff: Wagnis des Mordes als Versuch, über diese Grenze in der
inneren Natur des Menschen zu springen.
Iwan: Wagnis der Gottlosigkeit beim Wissen, was Gott ist.
Der Held in Dämonen: Aushalten der Möglichkeit zum Bösen und
Widerstehen der Liebe.
Der Selbstmörder in Dämonen: Sprung über die Grenze der Todesfurcht.

172a | Heideggers Begriff der Ἀ-λήθεια:


1. Das „Offene“, die Helligkeit der Unverborgenheit des Seienden.
2. Wahrheit und Unwahrheit als Verstellung, Schein, Täuschung.
3. Die Verborgenheit des Seienden, das Dunkel, das die Helle eingrenzt.
4. Die Verschlossenheit der „Erde“, d. i. der Φύσις, die sich gerade zeigt,
indem sie herauskommt in die Helle und in der Helle die Grenze des
Sichtbaren ist.
172b | Wer sind wir? Weltentwerfer?

173a | Das „als”


1. reflektiert auf das vordem naiv Thematische
2. Seiendes als Seiendes (transzendentale Allgemeinheit)
3. Seiendes als Seiendes („Erscheinung“)
4. Auffassen als etwas
5. Zum Zeichen nehmen usw.
174a 1. | Begriff der „Spekulation“:
= Wissen des transzendental Allgemeinen
= Wissen vom „Sein“ (Seienden als Seiendem)
= von den vier Anfängen und Gründen des Seienden als solchen (ὄν – ἕν
– ἀληθές – ἀγαθόν)
*
Die Metaphysik des „Wissens“: Wissen: nicht ein bloßes „Resultat“ von
Erkenntnissen. Wissen ist nicht allein Erfahrungswissen.
Wissen ist in sich „graduell“: nicht nur Gradualität der Dignität (pro-
blematisch – assertorisch – apodiktisch), sondern „graduell“ in seiner Stu-
fung von αἴσθησις bis zu Σοφία. (Hegels Phänomenologie des Geistes ist
ebenso wie
174b | Fichtes Wissenschaftslehre eine Wahrheitstheorie, d. h. eine Metaphysik
der ἀλήθεια περὶ τῆς φύσεως und d. h. eine transzendentale Frage nach dem
Seienden als Wahrem.)

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.
(„Das Wahre ist ebensosehr wie als Substanz so als Subjekt aufzufassen“
Vorrede zur Phänomenologie des Geistes.)37
*
Begriff der Spekulation und des spekulativen Anfangs der abendländischen
Philosophie im Hinblick auf die Σοφία als das Wissen des am meisten Wiß-
baren, als das Wissen um die Vierfalt der Anfänge und Gründe des Seienden.

| In der Vorlesung von 1935 bestimmt Heidegger die Gliederung der „meta- 175a
physica specialis“ durch die traditionelle und herrschende christliche Grund-
erfahrung des Seienden.38
Demgegenüber behaupte ich, die christliche Glaubenslehre gibt ledig-
lich einer Urgliederung der abendländischen Philosophie eine dogmatische
Auslegung. Die Urgliederung ist die vierfache der Gründe des Aristoteles: 1)
οὐσία (τὸ τί ἦν εἶναι = ens = Seiendes (Wesen) (Substanz)); 2) ὑποκείμενον
(ὕλη) = ἕν = Eins; 3) ὅθεν ἀρχη τῆς κινήσεως (vier Weisen der Bewegung
[φόρα, φθίσις, αὔξησις, ἀλλοίωσις]) = verum; ὅυ ἕνεκα (τὸ ἀγαθόν) = bonum.

| Der Kontrast in der Interpretation Descartes’ durch Husserl und Heidegger: 176a
Husserl: Descartes als Vollender der objektivistischen Mathematisie-
rung der Natur und zugleich als Inaugurator des den Objektivismus
sprengenden subjektivistischen Motivs.
Heidegger: Descartes als Aufsteigerung der mathematischen Weltin-
terpretation, aber Mathematik verstanden als „apriorischer Entwurf“,
der sich selbst vorgängig entwirft und so zum „ego cogito“ kommt.
M. a. W.: der mathematische apriorische Weltentwurf faßt sich selbst
im „Ich-Satz“!
| Meine Interpretation: Descartes’ „cogito ergo sum“ ist der wahrheitstheo- 176b
retische Grundsatz. Die Ἀλήθεια wird damit selbst das vorgängigste Prob-
lem, Philosophie somit Selbstbegründung, Begründung und Selbstvorgabe
ihrer Wahrheit.
*
| Der Grundsinn aller Theorie? 177a
Ist Wissen = ein Wissen über ein Ding, einen Sachverhalt, oder ist Wissen,
Wissenschaft, Erkenntnis usw. aus dem Wesen des θεωρεῖν als des Wissend-
seinwollens, d. i. des Weise-Sein-Wollens, d. i. des Sich im Entwurf zum Sein
Verhaltens, d. i. im Sein zum Geheimnis des Seienden zu begreifen? Vgl. den
Ursprung der Wissenschaft aus der Metaphysik.

37 PhG, S. 19.
38 Vgl. Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding (WS 1935/36), HGA 41, hrsg. von Petra
Jaeger, Frankfurt am Main 1984, § 19, S. 108f.

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178a | Was ist der Künstler? Ein staunender Mensch und sein Staunen zum
Ausdruck bringender.
*
Wesen des ursprünglichen Menschen: der religiöse, der dichterische, der den-
kende!?
*
Wesen des Priesters und des Heiligen?
178b | These: Religionspsychologie ist solange eine sterile Sache, als sie nicht über
einen theologischen Begriff verfügt.
Ebenso: die Psychiatrie des Größenwahns bedarf erst einer philosophischen
Begrifflichkeit, die den genialen vom vulgären Größenwahn zu unterschei-
den erlaubt. Die Methode der Simplifikation des Lebens ist „Materialismus“.
Das Problem der Existenz des Geheimnisses und seine Überschattung des
menschlichen Lebens ist ein Abc-Problem der philosophischen Psychiatrie.
*
179a 1. | Heideggers „Zirkel“:
Die Frage nach dem Sein als Frage nach dem Seienden, das wesentlich
Seinsverständnis ist.
*
2. Wichtige philosophische Problematik:
die „Öffentlichkeit“ des Lebens.
Stufen des Gegensatzes von Öffentlichkeit und Einsamkeit.
Wahre Einsamkeit ist nicht-öffentliches Sein bei den Dingen im Ange-
sichte Gottes.
*
180a 1. | Warum schreiben? Weil der Sinn, d. i. die reflektierte wache Begegnung
mit dem Seienden selbst ein Gut für den Schreibenden ist und ihm
erhalten werden soll als sein Leben.
*
2. Das „Kind“ als das Alter des Menschen, das noch integral sein ursprüng-
lichstes Wesen zeigt, nämlich: die Kraft des Staunens und die wahre
Freiheit des Handelns: das Spielen.
*
3. Der Rückgang der Phänomenologie auf das nicht vernutzte, abge-
brauchte, unmittelbare Sein des Menschen bei den Dingen.
*

181a | Besteht das Wesen des Sprechens im Formen wahrer Aussagen, oder
ist das „die Wahrheit sagen“ eine besondere Weise des Sprechens in der
Welt? Sprechen kann sein „Mitteilung“, Täuschung, Ausruf, Verwahrung von
Erkenntnissen usw. Sprechen ist Sinnäußerung.

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| Erste Notiz zu Heideggers „Ursprung des Kunstwerks“.39 182a
1. Allgemeines: Kunst als Weltaufstellung und Erdebeistellung ist zu
„historisch“: geschichtliche Welt umfaßt nach Heidegger auch das
Sein der Natur. Kunst als dichtender Weltentwurf (Welteingang von
Seiendem oder Seiendem als Seiendem) = Stiftung einer weltweiten
Seinsinterpretation und Wertsetzung.

2. Heideggers Modell der “Wahrheit”40 =

| Zu Heideggers „Ursprung des Kunstwerks“ 182b


Die Frage, ob Seiendes als Seiendes, d. h. hier als welteingegangenes, sich
wandelt je nach der dichtenden Stiftung der Welt und darin als ihre „Grenze“
Erde entwerfenden Seinsinterpretation – ist das nicht ein „Historismus“, der
gerade mit einer unhistorischen Weltentwurfsstruktur des Daseins operiert?
Oder ist das Seiende „an sich“, so aber, daß es sich öffnet im Gange
der Geschichte!??
*
| Wichtige Notiz, auszuarbeiten! 183a
1. Heideggers Begriff des Seienden als Seienden: als einmal das Seiende,
sofern es gerade und nur Seiendes ist, d. h. in seiner transzendentalen
Allgemeinheit; dann aber auch Seiendes als Hereinstehendes in den
Lichtkreis der Offenbarkeit (Unverborgenheit) von Seiendem. („Erde“)
(Ding an sich und „Erscheinung“)
2. Die Momente der Heideggerschen ἀλήθεια und das Modell des „Lich-
tes“!

| Staunen als die Grundstimmung der „Theorie“!? 184a


Die Natur des Wissens ist nicht charakterisierbar, wenn das Wissen im
Hinblick auf eine Kenntnis über eine Sache bestimmt wird. Wissen ist in sich
graduell, d. h. einbehalten in die Weisheit.
Wissen ist aus dem Wesen der ἀλήθεια περί τῆς φύσεως allein zu begreifen.
*

39 Heidegger hielt diesen Vortrag am 13. November 1935 – vgl. Martin Heidegger, Holzwege
(1935–46), HGA 5, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1991,
S. 1–66; vgl. Martin Heidegger Vorträge, Teil 2: 1935–1967, HGA 80.2, hrsg. von Günther
Neumann, Frankfurt am Main 2020, S. 595–621. (Vgl. Z-XVII 1a–b und Z-XXVIII 20a–b).
40 Vgl. gerade unten 183a; dazu Z-IX 31a, Z-XIX II/4a und Z-XX XXV/7a.

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185a | Staunen
Verwunderung ist aktualisiertes Fürsichsein. Auf dem Grunde der „Theorie“
ruht das Entsetzen.
Im „Fürsichsein“ gründet so etwas wie Sprache, und von ihm aus ist
das Bewußtsein als eine „Ausstattung“ des Menschen zu verstehen. Dies der
eigentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier.
*
„Selbständigkeit“ = Fürsichsein!
185b | Fürsichsein ist kein „statisches Sein“, sondern ist die Spannung
des Seinsverständnisses.
Staunen ist die Grundhandlung der Vernunft, ist „Weltentwurf“, ist
Flackern des Lichtes des Geistes, ist das Ringen mit der Dunkelheit, d. i.
Verborgenheit des Seienden.

186a | Der Begriff des „Spekulativen“?; terminologische Festsetzung: Spekulation


ist das Erkennen des transzendental-Allgemeinen. Also das Erkennen und
Wissen, das in der zunächst gegebenen Einstellung des Menschen überhaupt
nicht bekannt ist. – Der Mensch ist vor der Philosophie immer benommen von
bestimmtem Seienden.
Hegels Begriff des Spekulativen? [Wissen von der Identität des Subjekts
und Objekts = Wissen vom ens qua verum!!]
*
Hegels Phänomenologie des Geistes: die Stadien des Wissens von der
αἴσθησις – Wahrnehmung – Selbstbewußtsein – Geist – zum „absoluten
Wissen“ ist die Genesis des transzendentalen Wissens.
*
186b | „Seiendes“: gibt es etwas, was das Wer des Seins ist.

187a | „Größenwahn“ ein bestimmtes Sein zu sich selbst, eine Weise des Fürsich-
seins, eine „Rolle vor sich selbst spielen“; Zwei Formen:
1. der passive Größenwahn, der den gängigen Begriff von „Größe“ auf-
greift und sich identifiziert, hier vielleicht „Kompensation“ und dgl., die
„Lebenslüge“ und dgl.;
2. der aktive Größenwahn, der den Begriff der „Größe“ setzt: der Pseudo-
Künstler, der Pseudo-Religionsstifter, der Pseudo-Philosoph. –
Das philosophische Problem des „Größenwahns“ besteht darin, daß ein
Ernstnehmen des kranken Anspruchs gerade die „Sicherheit“ der Beurteilen-
den erschüttert: also
187b | das Problem der Anthropologie wachruft: was ist Größe im Felde des
menschlichen Seins, die allgemein anerkannte oder die „einsame“? Ist das
Sichzusichselbstverhalten, d. h. eine Selbstauffassung haben, orientiert an

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einem festen Maßstab, oder ist der feste Maßstab nur der Kanon der Gewöhn-
lichkeit?
Nietzsches „Größenwahn“: Dionysos, der Gekreuzigte! Der Mensch
und seine „Grenze“ (Goethes Begriff der Persönlichkeit als „geistige
Gestalt“). Der Mensch und das „Maß“. „ἄνθρωπος μέτρον πάντων …“.

| Begriff des Spiels 188a

| Der Mensch ist bedingte Freiheit, „Spiel“. 189a


Spielen ist sich selbst im Ganzen und im Vorhinein bestimmen und so
ein vorgreifendes, freies Sichselbstbinden der Freiheit, ein Sichverspielen;
aber es ist kein Selbstinsdaseinbringen des Spielens und auch kein totales
Sichselbstbestimmen: Grenze der allgemeinen Bedürfnisse und Triebe usw.
*

| Spiel und Sorge 190a


Sorge (als Besorgen, Fürsorge, Selbstbekümmerung) ist ein Sichzusich-als-
einem-Seienden-unter-dem-Seienden-Verhalten.
Aber ebenso das Spiel: etwas spielen, eine Rolle spielen, sich verspielen,
Untergang der spielbildenden Freiheit und Selbstverdeckung des Spielenden.
Spielen ist Freiheit zu …, Anstoß, Entwurf, „Unschuld“, „Versehrung“.
| Zu „Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls“:41 190b
Die Abkehr Husserls vom spekulativen Stil der traditionellen Philosophie
durch die Wandlung des Seinsproblems in das Wahrheitsproblem in der
Form der Zugänglichkeit (Selbstgebung des Seienden) ist keineswegs am
traditionellen unkritischen Begriff der Wahrheit zu orientieren.
Wahrheit = das Seiende als Erscheinung, als „Phänomen”

φῶς – φαίνεσθαι – φαινόμενον – φύσις

| Platos Mythos vom verkehrten Lebenslauf, der in der Urzeit sich gerade 191a
umgekehrt vollzog, vom welken Greis zum Kind, ist eine wunderbare
Symbolisierung des ursprünglichen Seins des Menschen. Das Kind, zumeist
mißverstanden als ein unfertiger, unwesentlicher Mensch, ist gerade das Sein
im Zustand der Wesenseinheit, die alles Seiende, indem es sich aussetzt in die
Zeit, verliert.
*
1. | Nietzsches „Optik des Lebens“ ist die eigentliche Theorie seiner 192b
Philosophie und ist unabhängig von den neuen Werten seines Ideals.

41 Erstmals veröffentlicht in ND, S. 45–74; siehe jedoch Z-XXVII 53a, Anmerkung.

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2. Der „Übermensch“ weniger eine Art von Heros, als der Wissende, der die
Tapferkeit der Weisheit besitzt und die „Optik des Lebens“.
3. ‹bricht ab›

193a | Kampf ist die Seinsform des tierischen Daseins, das ja auch den Menschen
wesentlich mitbestimmt. „Mensch“, d. i. ein Selbst, ist er nicht in der
Seinsweise des Kampfes, sondern des Spiels, d. i. des Sich-zu-sich-selbst-
Verhaltens. Kampf ist Lebensbehauptung. Spiel ist Selbstsein.
*
194a | Spiel und Kampf!?
Ist „Kampf“ eine echte lebenserhellende Metapher für das Sein des Lebens?
* *
Spiel: Bewußtheit stört den impulsiven Vollzug des Lebens. Spielen ist
impulsives Handeln, das um seiner selbst willen geschieht!?
Trotzdem bietet gerade das Spiel die beiden Möglichkeiten: des Sichhinge-
bens (bis zum Sichverlieren) und des Sichzurückholens (Ironie und Freiheit
des schöpferischen Tuns!). *
195a 1. | Das Fürsichsein als Spiel:
Rolle = die Selbstauffassung des Menschen im Ganzen seiner Welt, sei-
ner „Lebensatmosphäre“. Diese Selbstinterpretation ist das Wandelnde,
die jeweils geschichtlichen Gestalten der Ἀ-λήθεια!
2. Bei Nietzsche zu unterscheiden: seine philosophische Theorie vom
Lebensursprung und seine besonderen neuen (Spiel-)„Setzungen“.
*
196a | Der Gegenstandscharakter der idealen Sinngegenstände
(Allgemeines und Symphonie42
eines an vielen
Rotsein Symphonie = eine in vielen
Röte = Rotsein Aufführungen?
= Sosein
eine = Regel der Aufführungen
Was-Sein allgemeine
So-Sein Begriffe
Verben = irgendwie Sein

42 Die schließende Klammer fehlt.

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.
Reihe CXCVII:43
1. | Selbst-Fürsichsein (Ehre, Scham, Würde, Verhältnisse als reflektierte CXCVII/1a
Gegenstände, Taxation des Lebens, Tod usw.)
*
2. Horizontintentionaler Weltbegriff bei Husserl! Existenzialer
bei Heidegger!
*
3. Vita philosophica!
4. | Die kosmische Bedeutung des Menschen. (Die dingontologische CXCVII/1b
Denkweise des naturalistischen „Objektivismus“ – die unverlierbaren
Einsichten des Subjektivismus!?)
*
5. Die Philosophie und die Götter!?
*
6. | Die Politik als Völkerkampf und die Bedeutung des „Einzelnen“!? CXCVII/2a
*
7. Transzendentalien und Wesen! Wie hängt dies zusammen?
Hegel: Sein – Wesen – „Begriff“
Plato: Sein – Wesen
| Kant: Wesen = Kategorien (Verstand) CXCVII/2b
Transzendentalien = „Ideen“ (Vernunft)
Das Ganze als „Wahrheitstheorie“
*

| Die Überwindung des „Naturalismus“ (die Leere der Seinsvorstellung einer CXCVII/3a
sich selbst überlassenen „Natur“). Das Problem der Φύσις (ihrer Dunkelheit,
Verschlossenheit und Undurchdringlichkeit) ist ein Problem, das aus der
Helle der Ἀλήθεια gestellt wird.
Gott muß sein, damit Seiendes in seiner Verschlossenheit ist.
*
| Der Mensch als „Ebenbild Gottes“ = Schöpfer, Spieler (παῖς παίξων). CXCVII/3b
*
Der Mensch und der Engel (vgl. Rilke)
*
| Raffael – Husserl – Schiller CXCVII/4a
Michelangelo – Heidegger – Goethe

43 Die noch befestigten Blätter dieses kleinen Notizblocks wurden von vorn (1–8) wie auch

von hinten (9–12) beschrieben.

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CXCVII/5a | Die spekulative und die analytische Position Husserls deckt sich nicht mit
seiner massiven und sublimen
und nicht mit subjektivistisch und ontogonisch.

CXCVII/5b | In „Theorie des Weltbegriffs“ ist zu erörtern Welt und Gott. Ist Gott, das
Göttliche, in der Welt???

CXCVII/6a | Vortragstitel: „Der metaphysische Sinn des Menschen“ (Notwendigkeit


oder Zufälligkeit des Menschen).
[Mensch = das „Weltwesen“; das zum Sein alles Seienden notwendig ist als
Ort der Wahrheit; Sein = Sein als Wahrsein; gegen die anthropozentrische
Mißdeutung des „Idealismus“!]

XCVII/6b | Vortrag: Die Stellung des Menschen


Sein bei Dingen
Sein in der Welt
Sein in der Natur
Sein in der Geschichte
Sein vor Gott

CXCVII/7a | Der Mensch und Gott (θεῖον)


Die neuzeitliche Konzeption des Menschen bei Descartes sieht noch die
metaphysische Stellung zwischen Nichts und Gott. Dies bis Hegel (nach
Kants Scheidung von theoretischer und praktischer Philosophie). Hegel: Gott
als Thema der theoretischen Philosophie (Σοφία).
CXCVII/7b | Der Mensch vor Gott: die Idee Gottes im Menschen als Basis der Frage
nach Gott?? Ist damit Gott nicht schon subjektiviert, eine Vorstellung des
Menschen? Ist es analog wie bei den „Dingen“, der Mensch als Bedingung
des Wahrseins als Seins der Dinge in der Welt?

CXCVII/8a | VI. Meditation = eine Übung des Scharfsinnes, der Konsequenzen der
Husserlschen Hypostase des „Transzendentalen“ aufzeigt.
*
Ontogonisches Motiv in der Metaphysik und ἀλήθεια-Motiv.

CXCVII/9a | Bachofen, J. Burckhardt, Kretschmayr, „Venedig” II.44

44 Vgl. Johann Jakob Bachofen, Mutterrecht und Urreligion, Leipzig 1927 und Der Mythus

von Orient und Occident: eine Metaphysik der Alten Welt aus den Werken von Johann
Jakob Bachofen hrsg. von Manfred Schröter, München 1926; Jacob Burckhardt, insbes.

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Ziegler45

?46, Ägyptologie

| Wesen des Priesters ist nur aus dem Sein des Menschen zu Gott zu begreifen. CXCVII/10a
– Die Erklärung, die ad rem minorem vereinfacht, „Entlarvungspsychologie“
(Psychologismen, Soziologismen usw.) mehr oder minder „Materialismus“.
*
| Das Fürsichsein des Fürsichseins ist das Spielen!? CXCVII/11a
*
Das Sich zu seinem Sichzusichselbstverhalten Verhalten ist Spielen.
*
| Das Fürsichsein ist das Ansichsein der Subjektivität. CXCVII/12a
Dieses muß als „Wissenschaft“ noch zum Fürsichsein gebracht werden. Das
Selbstbewußtsein des Geistes als Philosophie.
*

Reihe: CXCVIII:47
I. | 1. Vorträge CXCVIII/1a
2. Kurse
3. Seminar
II. Schriften:48
1. Das Problem der Phänomenologie Husserls
2. Der analytische Stil der Husserlschen Philosophie
3. Nietzsches Begriff der Freiheit
4. Die transzendentale Problematik der modernen Philosophie.

I. | Plato, Aristoteles CXCVIII/2a


II. Thomas, Suarez
III. Descartes, Leibniz

Weltgeschichtliche Betrachtungen, Leipzig 1935; Heinrich Kretschmayr, Geschichte von


Venedig, Bd. 1: Bis zum Tode Enrico Dandolos, Gotha 1905, Bd. 2: Die Blüte, Gotha 1920, Bd.
3: Der Niedergang, Stuttgart 1934.
45 Siehe 88b und die Anmerkung zu Z-XXIII Aa.

46 Fragezeichen von Fink; der Name fehlt.

47 Ein Notizblock vom selben Format wie CXCVII, dessen noch befestigte Blätter von vorn

(1–5) und von hinten (6–9) beschrieben wurden.


48 Nur der erste dieser Vorschläge wurde tatsächlich verfaßt; der erste Teil der Schrift erschien

1939 in der Revue internationale de philosophie I (S. 226–270) und wurde später in Studien
(S. 179–223) abgedruckt.

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IV. Kant, Fichte, Schelling, Hegel
V. Husserl, Heidegger

CXCVIII/3a | Die prinzipielle Apolitie als meine Entscheidung. Ich kann es nie zugeben,
daß die Wahrheit im Bereiche der philosophischen Theorie von der Rasse des
Philosophierenden abhängig ist.
Vielleicht kann jemand seine Erkenntnis von Wahrheiten mißbrauchen zu
außertheoretischen Zwecken. Dieser Missbrauch geht mich nichts an. Ich
verteidige keine Individuen, keine „Lehren”
CXCVIII/3b | um des Ruhmes der Lehrenden willen. Mich interessiert nur die Wahrheit,
sonst gar nichts.
Wahrheit ist nicht ein in der Macht des Menschen Liegendes, offenbart
also nicht die typische Rasseneigenschaft eines Menschen. Wahrheit ist
Offenbarkeit des Seienden.
Die anthropozentrische Relativierung der Wahrheit ist der Grund für
CXCVIII/4a | die europäische Dementia.
*
Wahrheit als Ziel der philosophischen „Theoria“ ist immer schon bestimmt
durch die Befreiungstendenz des Menschen von seinem „Verfängnis“.
*

CXCVIII/5a | Tijdschrift voor Philosophie


[Ausdrucksorgan der niederländisch-flandrischen Kultur!!] Adresse:
Hoogstraat 39, Gent (Belgien)

CXCVIII/6a | “Meine Gedanken”


1. Staunen = Entsetzen und Seinsidee in Bewegung
2. Mensch = „Spieler“ und „Mittler“
3. Fürsichsein als „Selbst“
4. Philosophie = Metaphysik der „Transzendentalien“
5. Die ἕνωσις
6. Wesen als sich aussetzend

CXCVIII/6b | Glauben
1. Gott und Götter und Engel und Dämonen
2. Die Toten
3. Das Geheimnis
4. Die „Natur“
5. Liebe – Güte – Opfer – Treue
6. Gerechtigkeit
7. Die Erdmächte

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8. Der Auftrag (der schöpferische Mensch)
9. | Das Schöne (das Schönsein des Seienden) CXCVIII/7a
10. Das Heilige (der sakrale Bezirk)
11. Der „Staat“: Ablehnung des profanen Menschen als des Bevollmächtig-
ten zur Herrschaft.
12. Öffentlichkeit und Masse.

1. | Schlaf- und Traumanalyse CXCVIII/7b


2. Das Gedachtsein als ein Sein!? (Weltlosigkeit)
3. Tier (ohne Selbst = ohne Welt)
4. Welt als Inbegriff der Dinge (Kant) Gott, Seele, nicht in der Welt!??
Seiendes als Ding.
5. Raum- Zeit-Analyse
*
| Zur Kosmologie CXCVIII/8a
1. Platos Timaios
2. Aristoteles Physik und Metaphysik
3. Heraklit, Parmenides
4. Stoa
5. Welt bei Augustin
6. ‹bricht ab›
| Nikomachische Ethik (über das Sein des Philosophen) CXCVIII/9a
Plato Theaitet
1. | Argumentation gegen die Leugnung der „objektiven Wissenschaft“: 199a
Objektivität ist nicht gleich Unbezüglichkeit auf den Menschen. Es kommt
auf die rechte Weise der Bezüglichkeit an. Der rechte Bezug ist das Offensein
des Menschen für das Seiende selbst. Dieses Offensein aber ist nicht einfach
gegeben oder eine mühelose Einstellung des Menschen; vielmehr ist eine
Anstrengung des Menschen notwendig: eine Lösung aus dem „Verfängnis“
und eine Kraft des Aushaltens der Offenbarung des Seienden.
Die „Sophistik“ der dogmatischen Ideologien, die heute die Idee der
„objektiven Wissenschaft“ bekämpfen, besteht darin, die Subjektsbezogen-
heit des Wahren (des wahrseienden Seienden) in seinem Sinn zu verdrehen:
die Abhängigkeit des Menschen vom Seienden in eine Abhängigkeit des
Seienden vom Menschen zu verdrehen. Nicht der Mensch bestimmt von sich
aus, aus eigener Kraft, was das Seiende sei; sondern das Seiende bestimmt
von sich aus, was es ist. Der Mensch bestimmt aber im Bestimmtwerden
vom Seienden, was das Seiende ihm ist. Der schöpferische Entwurf, die
ontologische ὑπόθεσις, ist nur solange schöpfend, als er im Ringen mit dem
Seienden, im Abtrotzen des Seinssinnes dem Seienden gegenüber, im Rauben
der Wahrheit sich vollstreckt.

Z-XXV 619

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Die Reflexion auf die Setzung im Menschen kann
199b | zur Irrmeinung verführen, daß der Mensch beliebig setzen könne, was ihm
beliebe, als ob der Mensch der Herr des Seins wäre.
Es ist die tödliche Gefahr des echten Subjektivismus, daß sein Sinn sich
unvermerkt verdreht.
Beispiele solcher Verdrehungen:
Ein Volk charakterisiert sich durch die Weise, wie es sich in seiner
ganzen Geschichte zu den Seinssphären des Heiligen, Schönen, Wahren
gestellt hat.
Eine furchtbare Verdrehung aber ist es nun, wenn die Entscheidung
darüber, was das Heilige, das Schöne, das Wahre sei, gefällt wird nicht in
einem Aufsuchen des Heiligen usw., sondern in einer Reflexion auf die
typisch völkische Art, das Heilige zu erleben.

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V-II

Beschreibung:

Dieses Büchlein enthält nur die Skizze des Projekts, dessen Titel in der ersten
Notiz angedeutet wird. Die Idee einer geplanten Schrift „über Welt und Weltbegriff“
taucht unter abweichenden Formulierungen in vielen Notizmappen auf (siehe die
nachfolgende Tafel); die spätere Variante (Z-XX 1a und 3b, OH-VI 19, OH-VII 16 und
A/1b) entspricht am meisten der Formulierung des Titels auf Bl. 1:
Z-XI I/2a – 1935 Z-XX 1a und 3b – 1936
Z-XIII 29a Z-XXIII 15 und 26 – 1938
Z-XIV II/1b, VI/5b – 1934 Z-XXV 62a
Z-XV 105a-b OH-II 48 – 1935
Z-XVI 9a OH-VI 19
Z-XVIII 4b OH-VII 16 und A/1b
Noch viele anderweitige Notizen behandeln Themen, die in Zusammenhang mit
diesem Projekt stehen. Eine Zeit lang trug Fink sich mit dem Gedanken, das Projekt
zu einer Habilitationsarbeit auszuarbeiten (vgl. OH II-48 und Z-XV 105a).

Text:

| Skizze zur Schrift: „Welt und Weltbegriff“, „Eine problemtheoreti- 1


sche Untersuchung“:
1.
Die darin zu behandelnden Probleme: 1) Begriff der Philosophie als „Welt-
weisheit“, als Frage nach dem Ganzen des Seienden; der Philosoph als der
Mensch, der über das Seiende der praktisch interessierenden „Umwelt“ sich
ausdrücklich-fragend zur Welt verhält; der Philosoph als der Weltmensch.
– Kritik der „anthropozentrischen“ Existenzphilosophie (nicht Heidegger;
denn bei ihm ist Philosophieren ein ins Ganze Fragen). Nicht der Mensch ist
das Thema der Philosophie, sofern er ein Teil des Seienden ist, sondern die
Welt. Der Mensch als das „rationale Tier“ ist wesenhaft das Weltwesen (vgl.
Heideggers These: Stein = weltlos, Tier = weltarm, Mensch = weltbildend).1
Ratio und Weltweite des Lebens? Nicht die Aisthesis, die auch das Tier

1 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, HGA

29/30, II. Teil, § 42. (Finks Nachschrift dieser Vorlesung ist unter der Signatur Nr. U-MH-IV
archiviert.)

V-II 621

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hat, ist eigentlich „Ratio“, sondern allein die Vernunft des in der Weltweite
lebenden Menschen. [Problem des Zusammenhanges von Ratio
2 | und Welt: Ist das Eigentümliche der „Ratio“ gegenüber der „Aisthesis“ die
höhere Stufe des Erkenntnisvermögens, traditionell durch den Unterschied
von διάνοια gegenüber αἴσθησις, von Denken gegenüber Anschauung, von
intuitiver und diskursiver Weise des Erkennens bestimmt??
These: Das Eigentümliche der ratio liegt in der Weltweite der Vernunft.
Inwiefern hängen Welt und Vernunft zusammen? Vgl. Kants Lehre von den
„Vernunftideen“ (im kosmologischen Verstande).2 Vgl. Husserls Lehre von
der „Unendlichkeit der Welt als ‚iterative Idee‘”3, die erst die eigentliche
Logifizierung des in der Erkenntnis gegebenen Seienden möglich macht.
Vgl. Heideggers Lehre vom „Seinsverständnis“ als Weltentwurf der „Trans-
zendenz“.4]
Philosophieren ist Frage nach der Welt. Das Problem der Philosophie ist die
Welt. Inwiefern ist die Welt ein Problem? Welt = das Ungegebene, paradox
das immer gegebene
3 | Ungegebene; immer sind wir in der Welt, verstehen Seiendes als in der Welt
und haben doch nie überblickbar das Ganze.
2.
Keine Theorie der Welt, sondern nur Exposition des Problems der Welt.
Problem des Weltbegriffs. „Welt“ ein empirischer oder reiner Begriff? Gibt
es eine Welterfahrung oder gibt es ein Welt-Apriori? Hat der Mensch ein
Verhalten zur Welt? Ein zeitweilig mögliches, oder ein ständiges? Ein
direktes und thematisches, oder ein reflexiv-indirektes? Jeder Problemansatz
zunächst naiv, insofern Fragestellungen, die im Hinblick auf das Seiende
oder auf Wesen in der Philosophie ausgebildet worden sind, auf Welt
übertragen werden.
Von den fundamentalen Einstellungen des Lebens: a) Einstellung auf Seien-
des, b) Einstellung auf Wesen, c) Einstellung auf Welt. Eine kurze Erörterung
der drei Stufen unbedingt notwendig für die Möglichkeit der Exposition des
Problems der Welt.
4 | 3.
Kantinterpretation: Kants „Kritik der reinen Vernunft“ als die Grundlegung
der Kosmologie.
Kant ist auszulegen als der Entdecker des kosmologischen Horizontes des
Seins des Seienden.

2 Vgl. KrV, A408/B435–A420/B448.


3 Vgl. Hua III/1, § 143f. und 149f.
4 Vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, HGA 27, § 35–36 (Finks Nachschrift dieser

Vorlesung ist unter der Signatur Nr. U-MH-I archiviert), sowie Heidegger, Grundbegriffe der
Metaphysik, HGA 29/30, § 76.

622 V-II

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Sein = prinzipiell weltlich, Seiendes = prinzipiell binnenweltlich! Von daher
Zerstörung der dogmatischen Metaphysik, sofern sie über die Welt hinaus
Sein ansetzt als Gott und Jenseitsschicksal der Seele.
(Themata: z. B. der Begriff der „Erscheinung“, „Paralogismen der reinen
Vernunft“, „Axiome der Anschauung“ und die ganze „transzendentale Dia-
lektik“.)
Die negative Sicherung des Weltbegriffs gegen ontische Fehlbegriffe von
Welt Kants wichtigster Beitrag zur Theorie des Weltbegriffs. Darüber hinaus
zuweilen schon das „kosmologische Pathos“ da.
4.
Die Abtrennbarkeit der kosmologischen Leistung
| Kants in der Konzeption des nicht-ontischen Weltbegriffs von der subjekti- 5
vistischen Interpretation der Weltlichkeit der Welt.
Kants kosmologischer Subjektivismus: Welt = Vernunftidee von „bloß regu-
lativem Gebrauche“.
Welt hat zwar wesenhaft einen e i g e n t ü m l i c h e n Bezug auf das „Leben“,
so daß in Kants „kosmologischem Subjektivismus“ große Einsichten lie-
gen. Welt ist keine Substanz und kein substanzielles commercium von
Substanzen, hat also keine ontische Realität, aber ist dadurch noch nicht
bloß subjektiv.
Welt als „Existenzial“?? Diskussion des kosmologischen Ansatzes der „her-
meneutischen Phänomenologie“: Heideggers Methode des Aufweises des
„In-der-Welt-Seins“ am Phänomen der Arbeitswelt als Leitfaden ist die
Vertiefung des „metaphorischen“ (geisteswissenschaftlichen) Begriffs von
Welt zum „transzendentalen“ (in Heideggers Terminologie!!). Das „In-der-
| Welt-Sein“ ist keine Binnenweltlichkeit, sondern der vorläufige Begriff der 6
„Transzendenz“. „Transzendenz“ = Weltentwurf. Ist Welt nur ein Existen-
zial? (Fragen an Heidegger!)
5.
Husserls Ansatz des Problems der Welt: Welt der Index des iterativen
Systems der apperzeptiven Übertragung. Welt = Horizont aller Horizonte.
Kritisches: 1) Intuitionismus. 2) Seiendes = Gegenstand. 3) Welt = Universal-
feld der Gegenstände. 4) Welt in Bewegung (Ausweitbarkeit!!). Positives: 1)
Prinzipieller Unterschied von Himmel und Erde. 2) Grenze des gegenstands-
theoretisch-ontologischen Ansatzes sichtbar. 3) Welt = subjektives System
von Zonenerweiterung.
6.
Theorie des „Welt“-Problems: Lehre vom reinen Enthalt als dem Übergriff
über Subjekt und Objekt. Unableitbarkeit der Welt
| vom Objekt oder vom Subjekt her. Kritik der Gleichsetzung von All der 7
Dinge (Natur) mit Welt. Ferner der Gleichsetzung von All von Gegenständen
mit Welt. Kosmologie: Lehre von der Welt. Geschichte des Weltbegriffs.

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Raum und Zeit? Drei Raumbegriffe: 1. figuraler Raum, 2. Ortsraum, 3. Welt-
raum. Raum und Weltweite. Seele und Welt-Tiefe. Welt und Zeit? Welt nicht
auf Zeit rückführbar, sondern Zeit-Raum = Welt. Sein und Zeit = Sein und
Welt. Welt der Horizont des Seins.
Welt = Sein + Nichts. Mundane Lehre vom Nichts. (Vgl. Heideggers „Angst“
als Offenbarwerden des Nichts, als Nichtsverständnis im Bezug auf Sein und
Seinsverständnis im Horizont der Welt.)5
7.
Terminologische Erörterungen über den kosmologischen „Dogmatismus“,
die Stufen der kosmologischen „Naivität“. Interpretationsschema der
Geschichte des Weltproblems.
8 | 8.
Kant und sein Verhältnis zur vor-kritischen Metaphysik und zum Deutschen
Idealismus vom Problem der Kosmologie aus gesehen: 1) Kant als Überwin-
der der kosmologischen dogmatischen Metaphysik: „Zermalmer“! 2) Kants
Lehre von der „intelligiblen Welt“ als Bewahrung des Ursprungsproblems.
Der „Deutsche Idealismus“ wiederholt auf dem Boden der kantischen kos-
mologischen Restriktion die Ursprungsfrage, durch die Entwicklung der
Vernunft zum Geist. Vernunft = das welthafte Sein des Geistes. Wiederholung
des Zwiespaltes im „Deutschen Idealismus“, der schließlich in eine spekula-
tive „Ontologie“ des Geistes mündet.
9.
Die Kosmologie als Herausstellung des Welthorizontes des Seins ist die
Erledigung jeder „idealistischen“ Hinterwelt. Von da aus das Pathos zu
verstehen: der „Tod Gottes“, der „spekulative Charfreitag“,
9 | das Pathos der Diesseitigkeit. Das Erlöschen der Fata Morgana des „abso-
luten Seins“!
Gegen die „bloße Gedankenerlösung“ (Husserl).
Die drei Haltungen des Lebens: die ontische, die eidetische, die kosmologi-
sche. 1) Benommenheit vom Seienden, 2) Versponnenheit in die Wesenshori-
zonte, 3) Befangenheit in der Welt! Ontik, Eidetik, Kosmologie! In der ordo
cognoscendi ist das Erste: das Seiende, dann erst das Wesen, und dann erst die
Welt. In der ersten Haltung sind wir je schon ausdrücklich, in der zweiten und
dritten in steigendem Grade der Verborgenheit. Die zweite Haltung wird dem
Leben erobert von Plato, die dritte von Kant.
10.
Welt und Weltbefangenheit: Problem eines Überfragens des Seins. Grenze
des ontologischen Verständnisses. Grenze der Kosmologie! Das Problem des
Ursprungs der Welt als Frage der Metaphysik, die sich selbst begründet,

5 Vgl. Heidegger, „Was ist Metaphysik?“, in: Wegmarken, HGA 9, S. 111f. [9]; auch Sein und
Zeit, HGA 2, § 40.

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als Aufreißen der onto-gonischen Dimension, als die „meontische Distanz
zum Sein“.
* * *
| In der Schrift „Welt und Weltbegriff“ bei der Kant-Auslegung ist das 10
Verhältnis der kantischen kosmologischen Begrenzung der Seinsidee zu
seiner eigenen Metaphysik der Freiheit (Lehre von der „intelligiblen Welt“)
auszulegen, sowie das Verhältnis seiner „kosmologischen Ontologie“ zur
vor-kantischen Metaphysik (Leibniz und Wolff – Baumgarten usw.) und
andererseits zum Deutschen Idealismus. Grundzüge der notwendigen Inter-
pretationen: 1) Kants „kosmologische Ontologie“ (Welt als Horizont des
Seins) = seine „theoretische Philosophie“; Philosophie als „Wissen“. –
Kants Lehre von der „intelligiblen Welt“ = seine „praktische Philosophie“;
Philosophie als „Glauben“.
Abwehr der trivialen Deutung: Kants Lehre von der „intelligiblen Welt“
hätte keine „theoretische“ Bedeutung, sei ein „Moralismus“. „Postulate der
praktischen Vernunft“ sind keine theoretisch zwar nicht nachweisbaren, aber
aus den
| Gründen menschlicher Gemütsbedürfnisse oder gar aus Zwecken der 11
Ordnung des möglichen Zusammenlebens der Menschen als wahrscheinlich
vermutete metaphysische Wahrheiten (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit).
Problem: was bedeutet der „Glauben“ als Zugang und Ausweis der „intelli-
giblen Welt“? In welchen Formen spricht dieser „Glaube“? Im „Gefühl der
Achtung vor dem Sittengesetz“, im Wissen um die Freiheit, im „Gewissen“,
in der „Ahnung der Unsterblichkeit“ usw. Die „intelligible Welt“ = noume-
nale Welt, über die kein Wissen, aber auch kein bestimmtes Nichtwissen
möglich ist (vgl. Kants Formel: „ich mußte das Wissen einschränken,
um dem Glauben Platz zu machen“). „Glaube“ also der Inbegriff der
Verhaltungen des Menschen zur „intelligiblen Welt“. „Intelligible Welt“
(noumenale Welt): also eine geistige Welt, oder Welt des Geistes. (Kant und
die Tradition der abendländischen Metaphysik, die in dem durch Sinnlichkeit
verunreinigten Verstand ein Hindernis sieht, die eigentlich spirituelle Welt zu
erkennen?? Vgl. Plato und Plotin.)
| Kants „praktische Vernunft“ ist keine irrationalistische Ergänzung 12
zur einseitigen „theoretischen“ Vernunft, sondern ist das endliche Ahnen
des absoluten Wissens. M. a. W. „Glaube“ ist die in der Situation des
„Außersichseins des Geistes“ allein mögliche, bereits im „kritischen Wissen“
um die „kosmologische Begrenztheit des Seins“ (und damit des in endlicher
ontisch-ontologischer Erkenntnis zugänglichen Wissensbereiches) stehende
Vorform des spekulativen Wissens, bleibt so in der negativen Wendung
durch die Charakterisierung als „Glauben“ die Bewahrerin des spekulativen
Mysteriums: des „Problems des Ursprungs“. „Glaube“ ist zunächst ein
Gegensatz zum Wissen, der sich selbst im Bereich des ontischen Verhaltens

V-II 625

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zum Seienden hält: z. B. als Für-wahr-Halten, Meinen, Vermuten, Überzeu-
gung teilen usw. „Glaube“ so als unbewiesenes, unbegründetes Wissen
oder vermeint-
13 | liches Wissen, oder Ahnen. Glauben in diesem Sinne kein prinzipieller
Gegensatz zum Wissen, denn er ist überführbar in Wissen. Anderer Begriff
von Glaube, der ihn in einen Gegensatz zum Wissen stellt: Glauben als
Meinen von etwas, wo ein Wissen prinzipiell nicht möglich ist, also ein über
den Bereich des Wissensmöglichen Hinausmeinen.
Kants Begriff des „Glaubens“ als „praktische Vernunft“ scheint diesen
Begriff zu intendieren. So daß man sagen könnte: der „Glaube“ als Organ der
„praktischen Vernunft“ hat zwar eine geringere Dignität als das „Wissen“,
aber eine größere Reichweite und entscheidendere Bedeutung (sofern er
sich auf die höchsten Zwecke des Menschen: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit,
bezieht). – Dies ist der gemeinsame Zug an den mir bekannten Interpretatio-
nen von Kants Lehre von der „intelligiblen Welt’”. – Hier wird der „Glaube“
in seiner ontischen Dignität belassen und nicht erkannt, daß durch die
„Gegenstände“ dieses Glaubens (Gott, Freiheit, Unsterb-
14 | lichkeit), sofern sie gerade durch die Begrenzung der Seinsidee auf die
Welt vom Sein ausgeschlossen sind, der Glaube als ein Meinensbezug des
Menschen zu Seiendem eine radikale Sinnverwandlung erfährt.
These: der kantische Begriff des „Glaubens“ (als Verhaltung der postulativen
praktischen Vernunft zu Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) ist ein über den
Bereich des Seienden (das durch die theoretische Philosophie als Einheits-
zusammenhang der Erscheinungen, d. i. als Welt herausgestellt wurde) Hin-
ausmeinen auf solches hin, was nicht „Nichts“, aber auch nicht „Seiendes“
genannt werden kann und was als eigentliches Thema der Philosophie (als
Gegenstand der „Metaphysik im Endzweck“) begriffen ist. M. a. W. dieser
„Glaube“ ist meontisches Meinen, das in seinem Wesen Sein-übersteigend,
weltdurchbrechend ist. In der kantischen Unterscheidung von „Wissen“ und
„Glauben“ verbirgt
15 | sich die grandiose kosmologisch-ontologische Einsicht in die Welthaftigkeit
des Seins und in die Nicht-Seinshaftigkeit des Absoluten. Voraussetzung einer
Metaphysik des Absoluten ist die vorgängige Herausstellung der Grenzen
der Seinsidee.
I. Kant ist der „Zermalmer“ einer unkritischen, d. h. Sein dogmatisch
(d. h. in einer nicht auf den Horizont der Welt zurückbezogenen)
Weise gebrauchenden Metaphysik, die das ens finitum neben das ens
infinitum stellt.
II. Kant ist der alle „Hinterweltlerei“ vernichtende Entdecker der Welt
und der Welthaftigkeit des Seins, also der Gründer der kosmologischen
Ontologie (mit ihrem Pathos der „Diesseitigkeit“), und damit Heraus-

626 V-II

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arbeiter der Weltgefangenschaft des Lebens, mit ihren am Bewußtsein
der Weltgefangenschaft sich entzündenden „Sehnsüchten“.
III. Kant ist der kritische Wegbereiter einer Metaphysik des Geistes, die
Meontik des Absoluten, d. h. die „Gebanntheit des Lebens in die
Seinsidee“ sprengende Bewegung des inwendigsten Lebens ist, das so
meontisch Distanz nimmt zum Sein, es so begreift im Rückbezug auf
die Dimension des Ursprungs.
*

V-II 627

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V-III

Beschreibung:
Offenbar enthält dieses Spiralheft Entwürfe von Schriften, die entweder bereits
verfasst wurden oder mit deren Konzeption sich Fink bereits länger beschäftigte. Auf
neun Seiten des Heftes wurde der ganze Text oder mindestens ein Teil desselben
durchgestrichen, was bedeutet, dass der entworfene Text von Fink als erledigt
betrachtet wurde. Dennoch bedeutet „erledigt“ nicht unbedingt, dass der gestrichene
Text ungültig geworden sei, sondern vielmehr, dass der Text schon verwendet wurde
bzw. keiner weiteren Bearbeitung mehr bedurfte. (Vgl. die Anmerkungen zu 8,
14–16 und 17–20.) Zudem lassen die in der Spiralbindung verbliebenen Papierstreifen
vermuten, dass manche Seiten aus dem Heft herausgerissen wurden; so ist es z. B.
nach der Art der Blätter zu beurteilen sehr wohl möglich, dass die Notizen Z‑XXVI
36–43 and 68–70 aus diesem Heft stammen.
Die Notizen weisen keine Daten auf, aber die Verweisung auf den Dessauer Vortrag
und die Charakterisierung desselben als eines „Artikels“ (vgl. 2 unten) deuten auf
eine Entstehungszeit nach Dezember 1935 hin (vgl. Z-XXV 63b, 94b und 153b).
Hinweise auf geplante Schriften sind auf 2, 8, 16 und 17–20 zu finden. Offensichtlich
wurden einige Notizen als Fortsetzung von schon entworfenen Texten verfasst; so
enthält z. B. der Text in 14 (nach dem Sternchen) einen Satzteil, der mitten in einem
Wort beginnt – wie übrigens auch der Text am Anfang des Blattes 14. In bestimmten
Fällen (14–16) werden gestrichene Passi hier als solche wiedergegeben, wenn durch
sie der Zusammenhang der verbliebenen Texteile verständlich wird.

Notizen:

| Anfang einer Philosophie setzt gerade diese Philosophie voraus. Deswegen 1


ist die schwierigste Aufgabe immer wieder, eine „Einleitung“ in die Philoso-
phie zu geben. Einleiten d. h. Problementwurf. Der Problementwurf ist nicht
ein erstes Stadium der Philosophie, über den sie bald in ihrer sachlichen
Forschung hinauskommt, sondern bleibt die ständige und dringlichste Ange-
legenheit einer Philosophie.
Die Grundfrage muß immer schon am Anfang da sein und wächst,
solange Philosophie fortarbeitet. Denn philosophische Arbeit (Wissensver-
mehrung u. dgl.) ist nichts anderes als ein Wachsenlassen des Problems.
*
Problem einer Philosophie: kann dieses dargestellt werden in objektiver
Treue? Ist es nicht immer „Interpretation“? Gewiß. Dennoch gibt es eine

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.
objektive Treue des Textes und eine subjektive Aufforderung, in das Prob-
lem miteinzugehen.

*
Die Grundfrage der Phänomenologie ist eine alte und eine neue Frage.
Keine „Problemgeschichte“ im Windelbandschen Sinne! – Alt, weil sie ein
unbewältigtes Problem der antiken Philosophie aufgreift, neu, weil sie es in
einer verwandelten Form aufgreift, ja durch diese Ver-
2 | wandlung eigentlich erst als Problem entwirft. Alt? Das Problem der Meta-
physik! Husserl gewinnt sein Problem gerade in einer Frontstellung gegen
die philosophische Tradition, in seiner Kritik der „spekulativen Philosophie“.
– Die Frage, wie die Einheit des Problems der Metaphysik (ens – unum –
verum – bonum) mit der Husserlschen Selbstinterpretation der Phänomeno-
logie (‹in der sie› als die Sinnvollendung der neuzeitlichen Philosophiege-
schichte und als Gegenzug gegen die antike Philosophie begriffen ‹wird›)
zusammenpaßt, ist das Thema des Artikels „Das Problem der Transzenden-
talphilosophie (im Hinblick auf Kant und Husserl)“.1 –
Ist es eine Auseinandersetzung mit der Tradition? Nein. Es geht um den
freien und schöpferischen Ansatz, der in einer Besinnung auf Philosophie
überhaupt gewonnen werden soll. Deswegen ist nicht entscheidend die
Kritik der spekulativen Philosophie, sondern die in dieser Kritik zutagetre-
tenden programmatischen Forderungen. Der Begriff der spekulativen Philo-
sophie ist
3 | also ein Abhebungsmittel und bedeutet keineswegs eine phänomeno-
logische Bewältigung des Problems der spekulativen Methode. Husserls
Begriff der spekulativen Philosophie: 1) zunächst äußerlich genommen: der
argumentative Charakter. Beweis und Gegenbeweis! – 2) das „Denken“ als
der eigentliche Zugang zum Seienden; das Seiende = „intelligibel“! – 3) die
Mittelbarkeit – 4) Begriff eines „absoluten Seins“, das anschauungstran-
szendiert in eindeutiger Ansichbestimmtheit ist. „Wahres Sein“ = wissen-
schaftlich erfaßtes Seiendes, d. h. aber in einer mittelbaren Methode
bestimmtes Seiendes. 5) Ent-Sinnlichung der Welt, „Sinne trügen“. Vorbild-
lichkeit der Mathematik („Pythagoräer“) –
Die Seinsfrage durch die spekulative Methode abgedrängt von den
ursprünglichen Zugangsweisen zum Seienden. Reform der philosophischen
Methode: 1) Rückgang auf die Anschauung. 2) Ausdrückliche Rückbezie-
hung des Seienden auf die ursprünglichen Wissensmodi, in denen „Seiendes“
erscheint. Phänomenologischer „Intuitionismus“. – Nicht mehr über das
Seiende direkt zu philosophieren! Warum?

1Vgl. „Die Idee der Transcendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“, erst-
mals veröffentlicht in ND, S. 7–44.

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.
| Weil dies bedeutet: auf dem Boden einer Kenntnis von Seiendem stehen, 4
der ein „ein-ebeniges“ Gemenge von Vorstellungen, Seinserfahrungen und
Geltungsmodi ist, die in ihrer inneren Sinnhaftigkeit und in ihrem Geltungs-
aufbau unverständlich sind. – Es ist also die Reflexion darauf, was es heißt,
direkt über das Seiende Aussagen zu machen, die zur Kritik der spekulativen
Philosophie wird. – Es erhebt sich also die Aufgabe, das Seiende 1) wieder
zurückzugewinnen aus allen Mittelbarkeiten; 2) das unmittelbare Wissen
vom Seienden, von der Welt, auf die ursprünglichen Modi zurückzuleiten, in
denen es wurzelt; 3) eine Philosophie der konkreten Bestimmung des Seien-
den durchzuführen als eine Arbeitsphilosophie; 4) Seiendes als „Phänomen“,
als Erscheinung, zu verstehen und auszulegen.
Zusammengefaßt: die Verwandlung der spekulativen Frage nach dem
Seienden, die den theoretischen Habitus der traditionellen Metaphysik
bestimmt, in eine intuitive Ausweisung und Ursprungsauslegung von den
gebenden Seinserfahrungen her. – Mit einem Wort: die Kritik
| der spekulativen Philosophie entwickelt die Forderung, das Wissen vom 5
Seienden durchzuprüfen und die Sinngeschichte des Wissens im Rückgang
auf die ursprünglichen Wissensmodi aufzuhellen. Diese Forderung ist weder
„Erkenntnistheorie“ noch Psychologie, sondern ist Philosophie als Bestim-
mung dessen, was ist. Sie ist der Ansatz der phänomenologischen Grund-
frage.
Dieser Ansatz entspringt also einer Verwandlung der traditionellen
Grundfrage der Philosophie, der Frage, was das Seiende sei, in die durch-
gängige Ausweisung des Seienden, in die Bestimmung des Seienden als
Phänomen. –
§ 2. Intentionalität als Thema.
Ist die Erfassung der Ursprungsmodi, die Seiendes ursprünglich begegnen
lassen, einfach zu bewerkstelligen oder gilt es eine neuartige Aufgabe
zu umgrenzen? Ist irgendeine „Erkenntnistheorie“ die Instanz dafür, was
Ursprungsmodus ist? Oder ist es eine sinngeschichtliche Aufgabe, der
die gewöhnlichen Erkenntnistheorien mit ihrer „ein-ebenigen“ Theorie der
Seelenvermögen nicht gewachsen sind???

| Disposition: 1. Ist nicht der Aspekt einer Philosophie als Lehre der objek- 6
tive? Gegenüber der subjektivierenden (vermenschlichenden) Einstellung,
die das Philosophieren vom Menschen aus charakterisiert und zwar vom
Menschen vor seinem Philosophieren. Ist der Mensch bestimmbar ohne
Mathematik-Treiben? Ist Philosophieren eine Tätigkeit des Menschen unter
anderen, oder ist sie das Menschsein in einem entscheidenden Sinne?
2. Die „Philosophie von der Philosophie“ ist nicht eine nachträgliche
methodologische Aufgabe, sondern liegt im Entwurf des philosophischen

V-III 631

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Problems. Philosophie entwirft sich selbst, indem sie ihr Grundproblem ent-
wirft. Problementwurf ist auch immer der Selbstentwurf einer Philosophie.
*
3. Lehre – Sein einer Philosophie als eines Inbegriffs von Meinungen, die
objektiv referierbar sind? – Objektivität einer „Tatsache“? – die geistige
Haltung, in der „Tatsachen“ begegnen? – Die Unbewegtheit des Seinsver-
ständnisses! – Echte und unechte Funktion der Lehre; ‹Fortsetzung fehlt›

7 | Der Begriff des „Für-sich-Seins“ ist ein „ekplektischer“ Begriff. Nicht nur
Sein, sondern sich zum Sein verhalten, Sicheinspielen auf …

‡ Im Für-sich-Sein gründet: Bewußtsein – Sprache – „Verstehen“ (etwas


als etwas) – Seiendes als Seiendes – Selbst – Welt – Freiheit – : im „Einzel-
nen“: Todesbewußtsein – „Sinn“ des Lebens – Scham – Ehre – Sitte – Staat –
Geschichtlichkeit – Lachen – Komik – Tragik – Kunst überhaupt – Religion
– Philosophie – Verzweiflung
‡ ‹Betonung durch einen mehrfach gezogenen grünen Strich am Rand.›

Das Für-sich-Sein = Selbstauffassung?! Die Selbstauffassung ist nicht eine


Meinung über sich selbst, sondern die Auffassung seiner selbst in seiner
„Rolle“, d. i. im Ganzen der Lebensumwelt. Fürsichsein = Selbstauffassung
= „Rolle“ im Spiel!?
*
Das Für-sich-Sein ist nicht das „immanente“ Erlebnis der Reflexion, sondern
das Sein des Menschen inmitten des Seienden für ihn. Der Mensch allein
hat eine „Stellung im Kosmos“, er kann nur sein, indem er sich zu seinem
Sein inmitten der Dinge verhält: indem er „Welt“ (im existenzialen Sinne
Heideggers) entwirft. Ist denn das Fürsichsein = „Inderweltsein“?
*
8 | Läßt sich das „Problem“ der Phänomenologie interpretieren als aus-
drückliche Intensivierung des Fürsichseins des Menschen, das ja immer
auch das Für-den-Menschen-Sein des Seienden überhaupt und im Ganzen ist:
die Frage nach dem Menschen als dem „Ort“ der Wahrheit des Seienden:
„ens qua verum“!????!?!!2
*

2 Vgl. „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“, in: Studien, S. 178–223.

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Notiz: Satz für den Abschluß des § 1:3
Die Erörterung über den Sinn einer Darstellung, die die Entwicklung einer
Philosophie zum Gegenstand hat, beansprucht in keiner Weise „methodolo-
gischen“ Charakter, weil über die Philosophie reden bedeutet: die sichselbst-
bewegende Bewegung des Fürsichseins festlegen zu wollen. Die Erörterung
zeigt nur den Aspekt an, unter welchem hier gefragt werden soll nach der
Phänomenologie E. Husserls: Versuch einer Interpretation der Phänomeno-
logie als einer Entwicklung ihres Grundproblems.
*
Wenn man die Phänomenologie „idealistisch“ nennt, hat man denn dann
schon begriffen, was „Idealismus“ ist??
*
Die „Produktivität“ des Subjekts ist bei Husserl orientiert am „Sinngeben“
und am „Machen“. Meine Interpretation der Produktivität ist orientiert am
„Spielen“. (νοῦς ποιητικός!?????!)

| ‹…› als ein „Sein zum Ganzen“, die Aktualisierung des vergessenen 9
„Weltgefühls“. – Staunen ist die Selbstverjüngung, im Feuerbrande entsteht
die neue Welt, der Mensch steht in der Ursituation der „Interpretation
des Seienden“, er existiert im Ursprünglichkeitsmodus des Für-sich-seins,
das Für-sich-sein kommt in Bewegung! Unbewegtheit des Fürsichseins =
metaphysische Trägheit der Naivität; Bewegtheit = das „metaphysische
Bedürfnis“ des Menschen, Ursprung der Religion, Kunst und der Philoso-
phie.
Philosophie entspringt als das denkende Standfassen in der Bewegung
des Fürsichseins; als die denkende Kraft der Verwunderung.
*
Kraft der Verwunderung = Problementwurf = eigentliches Handeln des
Philosophierenden = Selbstbegründung der Philosophie = Ständiges Thema
der Philosophie („Entwicklung“ = Entfaltung des Problems!!)

| Notiz: 10
1. Das Staunen als Ingangbringen des Fürsichseins ist die Auflockerung
aller „Erstarrungen“. (Vgl. dazu Hegels These von der „Selbstbewegung
des Begriffs“!)
*
2. Die Erörterung über die Philosophie ist unnötig, wo unmittelbar philo-
sophiert werden kann. Wo aber von einer dokumentierten Philosophie
die Rede ist, ist die Besinnung notwendig auf die zutreffende Weise, über

3Vermutlich der § 1 in: „Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“ (siehe die
Anmerkung zu 8 oben).

V-III 633

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.
eine Philosophie zu sprechen. Denn die üblichen Zugänge sind ja selbst
durch und durch voraussetzungsvoll.
*
3. Keine Biographie, keine Geistesgeschichte, keine Soziologie, keine
Rassentheorie kann über die Philosophie urteilen. Philosophie kann nur
philosophisch beurteilt werden.
*
Positivismus ist die These von der Superiorität der Natur‹wissenschaft›,
Dilthey die These von der Superiorität der Geisteswissenschaft über die Phi-
losophie.
*
11 | ‹…› noch „sinnlos“, weil es sich überhaupt nicht zu seinem Leben verhal-
ten kann. Der Mensch ist, wie das Tier, geschlechtlich; aber er verhält sich
auch immer zu seiner Geschlechtlichkeit in „Scham“ oder „Schamlosigkeit“.
Der Mensch lebt, wie das Tier, unter seinesgleichen, verhält sich aber gerade
zu diesem seinem Sein unter seinesgleichen: in seiner „Ehre“. Der Mensch
ist frei, verhält sich zu seiner Freiheit in seiner „Würde“ (oder „Würdelo-
sigkeit“). Der Mensch ist sterblich, verhält sich zu seiner Sterblichkeit in
seiner Haltung zum Tode. Der Mensch lebt in Sozialverbänden, verhält sich
aber auch zu seiner Sozialität: im Staate. Der Mensch ist, wie das Tier,
wahrnehmend bei Ereignissen, verhält sich aber auch dazu, indem er etwas
„komisch“ findet, im Lachen.

*
1) Sich zu sich selbst verhalten = zu sich verhalten, sofern man in einer
Selbstauffassung (Rolle) ist. – Die umfassendste Rolle = Sein inmitten des
Seienden; Selbstverhältnis = Weltverständnis! – 2) Fürsichsein = Weltausle-
gung. Staunen ist Ursprünglichkeit des Selbst- und Weltverständnisses!

12 |????

‡ Prinzipielle Bedenken gegen meine Analyse des Fürsichseins: 1) das


Fürsichsein scheint etwas Nachträgliches zu sein: nämlich das Fürsein des
Ansichseins. „Ansich“ ist das Tier in der Zeit, sterblich, geschlechtlich,
erkennend beim Seienden, aber nicht für sich!!?
?
Das Fürsichsein ist aber das Sein zu Sein, Sein zum Seienden a l s Seiendem,
und als dieses nichts Nachträgliches, sondern die Bedingung, wie „Ansich-
sein“ sein kann: nämlich im Fürsichsein gegeben.
Das „Fürsichsein“ ist a priori.?
?

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.
Wie verhält sich die Wahrheit des Erkennens von Seiendem und die Wahrheit
des Sichverhaltens zum Erkennen des Seienden????
*
‡ ‹Grüner Strich am linken Blattrand, aber weiter nach unten gezogen bis
zum unteren Rand.›

| ‹…› aber auch nicht „statische Unbeantwortbarkeit“, „Wissensverzicht“ 13


und falsches Pathos (wie der statische Agnostizismus und das „statische
Gottsuchertum“; nicht die Reflexion auf die eigene Haltung und ihre Verfes-
tigung zur „Attitude“!).
Bodenlosigkeit des philosophischen Fragens = Im Fragen nach dem
Seienden als Seienden „wach“ bleiben, es nicht in den „Schlaf der Selbstver-
ständlichkeit“ (die „metaphysische Trägheit“ des Menschen) fallen lassen. –
„Problem“-Entwurf kein „Vorstadium“, kein „bloßer Anfang“, sondern
ständige Aktualität des Philosophierens. Problementwurf ist keine „Pro-
blemformulierung“, sondern Problementwicklung, -entfaltung. Das Wissen
im philosophischen Sinne ist kein Wissen über Seiendes, sondern ist seins-
sucherisches Wissen, der Philosoph: der Seinssucher!

*
[Verhältnis von „Philosophie“ und „Wissenschaft“: Wissenschaft ist boden-
ständiges Wissen. Philosophie ist das „Erdbeben“ für den Boden der Wissen-
schaft. Wissenschaft baut in den Ruhepausen das Land an. – Philosophie ist
die „Katastrophe“ für die bebende Welt.!?]
*

| 4‹…› mißdeutetwerden als Versagen des Fragens 14


ein Mangel, etwa die betrübliche Resignation vor dem Unerkennbaren.
Unmöglichkeit des Wissens, Unbeantwortbarkeit einer „bodenständigen
Frage“ ist „statisches“ Ausbleiben einer Antwort. Vgl. Gottsuchen oder
Skeptizismus, der das Wissen des Nichtfindens selber dogmatisiert und nicht
sucht und nicht zweifelt. Unbeantwortbarkeit = ist nicht Stehenbleiben der
Frage ohne Antwort, als unbewegte unlösbare Fragwürdigkeit; ist keine
Frage, die „keinen Übergang“ vollzieht, die also kein Wissen zum Resultat
hat, und nur der aufgerissene Wissensausstand ist. Frage ohne Antwort: 1) die
faktisch ohne Antwort bleibt, 2) die falsch gestellt ist, 3) die über menschliche
Erkenntnismöglichkeit hinausliegt.

4 Die genaue Verwendung dieses Texts bleibt unklar, aber die Textstelle ist thematisch ver-

wandt mit dem Aufsatz „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“, zuerst
erschienen in ND, S. 45–74.

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.
*
5‹Beant›wortbarkeit einer „bodenständigen“ Frage. (Das philosophische
Problem ist unbeantwortbar, weil es nicht in einer Antwort vernichtet wird.)
Die Charakteristik der Unbeantwortbarkeit des philosophischen Problems
auf dem Boden einer stehenden Seinsinterpretation soll aber auch nicht in die
Nähe jenes falschen Pathos kommen.

15 | 6Was heißt überhaupt „über eine Philosophie berichten“, wenn der den
Bericht leitende Aspekt das Problem einer in einem großen Schritftum
dokumentierten Philosophie sein soll?

Die Möglichkeit eines Berichts über eine Philosophie ist Bericht über
ein Problem. Probleme im philosophischen Verstande sind keine vorgege-
benen allgemeinverständlichen Gegenstände, sondern die wache und im
Enthusiasmus der Wachheit gesteigerte Verwunderung. Problem ist wirklich
in der Problementfaltung, erstwirklich im originalen Problementwurf des
Denkens. Das InderZeitsein des erstwirklichen Entwurfs ist bei der Darstel-
lung der „Entwicklung“ gar nicht Gegenstand; es ist überhaupt nicht zugäng-
lich als in der Erinnerung des Denkens selbst, es ist bewahrt im verschlos-
senen Geheimnis seiner Innerlichkeit. Die Biographie verfehlt schon die
Richtung einer sinnvollen Berichterstattung. –
Disposition: 1) Problemaspekt: Bericht über ein Problem? Problem nicht
vorgegeben. Also nur zugänglich im Versuch, mit-fragend einzuspringen.
Die „Lehre“ als Index. – Das InderZeitsein als ständig mögliches, nicht
als das „erstwirkliche“ des originalen Problementwurfs. Interpretation als
Zugang zum Problem unter der Bedingung des Vollzugs ist selbst bedingt.
*
16 | Die „Bedingtheit“ ist nicht aufhebbar, ihrer selbst nicht mächtig; also
eine ohnmächtig bedingte Interpretation der „Entwicklung“, also fragwür-
dige Interpretation. – Eine Interpretation, die weiß um ihre Bedingtheit, aber
in dieser Bedingtheit gerade sich selbst undurchdringlich und undurchsichtig
ist, ist ein Versuch.
Die Entwicklung der Phänomenologie E. Husserls soll
Die bisherigen Erörterungen über den Sinn von Entwicklung einer Philoso-
phie stellen keine methodologische Theorie ‹dar›, sondern geben lediglich
der subjektiven Überzeugung Ausdruck, gemäß welcher die im Titel dieser

5 Vor diesem Textpassus (der allerdings mit dem Teil eines unvollständigen Wortes beginnt)

ist ein Kreuzchen vermerkt, das vermutlich andeutet, wo die hier verfasste Ergänzung
oder Veränderung in einen bereits entworfenen Text eingefügt werden sollte. Der genaue
Zusammenhang ließ sich bislang nicht rekonstruieren. Zu diesem Passus sowie zu 16 vgl.
jedoch „Die Entwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls“.
6 Hier steht erneut ein Kreuzchen, vermutlich mit derselben Bedeutung wie in 14.

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Schrift genannte Aufgabe sein soll der Versuch einer bedingten Interpretation
der inneren Problementwicklung der Phänomenologie als des Leitfadens für
die Auslegung der Schriften E. H.

Aristoteles’ vier Prinzipien: 1) οὐσία – τὸ τὶ ᾖν εἶναι 2) ὑλη – ὑποκείμενον 3)


ἀρχὴ, ὅθεν κίνησις 4) ἀγαθόν.
Wie verhält sich diese „Tafel“ zur „Tafel“ τὸ ὀν λέγεταὶ τετραχῶς:
1) Kategorien, 2) Dynamis und Energeia, 3) ὄν ὧς ἀληθές, 4) ὄν συμβεβηκός.
– und zur „Tafel“: 1) ὄν (ens),
| 2) ἕν (unum), 3) ἀληθὲς (verum), 4) ἀγαθόν (bonum)? Wie dazu der Aufriß 17
der Metaphysik als Ontologie, Kosmologie, Psychologie, Theologie??
Vielleicht:
ἀρχὴ τῆς κινήσεως → Dynamis + Energeia!?
τὸ τὶ ᾖν εἶναι + ὑποκείμενον → ὄν ὧς ἀληθές???
οὐσία + ὑλη → „Kategorien“???
ὄν συμβεβηκός → ἀγαθόν????
Vielleicht:
Ƞ੝ı઀Į–IJઁIJ੿ઝȞİੇȞĮȚ ĺ Ontologie
ਫ਼ȜȘ–ਫ਼ʌȠțİ઀ȝİȞȠȞ ĺ Kosmologie??
ਕȡȤȘț઀ȞȒıİȦȢ ĺ Psychologie??
ਕȖĮșંȞ ੖ȣਪȞİțĮ  ĺ Theologie

7 „Der Ansatz der phänomenologischen Grundfrage“ gliedert sich in zwei


Motive: I. Husserls „Intuitionismus“ entspricht einer Neuordnung auf die
Philosophie (in einer Kritik der spekulativen Tradition). Das Wahrheitspro-
blem als Seinsproblem führt zur „Lehre von der Intentionalität“.
II. Interpretation: Husserls Neugründung ist die verwandelnde Aufnahme des
metaphysischen Problems von ens-verum. Begriff der „Transzendentalphilo-
sophie“.

| III. Das intuitive Seinsproblem: „Das Sein ist vermittelt“. 18


Die Vermittlung, d. i. das Wahrsein des Seienden als konsequente Pro-
blem-Thematik = Rückgang auf Urmodus „originärer Anschauung“. Das
Seinsproblem als Wahrheitsproblem wird zur Lehre von der Intentionalität.
§ 3. Intentionalität als Thema
§ 4. Intentionale Explikation
§ 5. Intentionalität als Ursprungserhellung

7 Von hier bis 20 ähneln die Themen – außer dem Verweis auf Aristoteles – denen in „Das
Problem der Phänomenologie Edmund Husserls“ K. 5–6, aber ohne genaue Entsprechung.

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§ 6. Die Rückleitung in zwei Schritten
§ 7. Die phänomenologische Reduktion

Die prinzipiellen Motive: 1. „Intentionalität“ kein Spezialthema, etwa


Gebiet der Psychologie, sondern als Problem aus dem Zentrum der Meta-
physik (ens-verum) erwachsen. – Also Polemik gegen die Auflösung der
metaphysischen Problematik in „Ontologie und Erkenntnistheorie“. Dies
ist die Wurzel dafür, daß Husserl interpretiert wurde als Rückkehr zum
Subjektivismus nach seiner „Wende zum Objekt“, aber auch daß er sich selbst
als „Subjektivisten“ versteht. Die innere Einheit des Wahrheitsproblems mit
dem Seinsproblem ist
19 | der transzendentale Grund von Descartes bis Hegel. Descartes’ Ansatz
ist aus dem Problem von ens = verum zu begreifen. Hegels These: „Das
Wahre ist ebensosehr wie als Substanz so als Subjekt zu begreifen“. „Sein
und λόγος“.
2. Das Problem der Wissenschaft (der „positiven“). Die Klarheit der
phänomenologischen Wissenschaftskonzeption ist streng zu beachten,
keine Abwertung der Wissenschaften. Das Verhältnis von Philosophie
und Wissenschaften! Gegen die „Schwarmgeisterei“, die die Schärfe des
Begriffs vermeiden will und die Philosophie in einen „romantischen“
Gegensatz zu den Wissenschaften setzt.
3. Intentionale Analyse von „Einstellungen“ als Lebensverfassungen.
4. Intentionalität als Seinsweise des „Lebens“ (also nicht-dingontolo-
gisch!). (Keine „res cogitans“!)
5. Husserls Lehrbegriff des „phänomenologischen Idealismus“ ist eine
„Verdinglichung der Intentionalität“.
6. Der „Untergang“ des Lebens in seinem Leistungsgebilde: die „Selbst-
verdeckung“.
7. Die positivistischen Ansätze Husserls z. B. „Daten“ usw.
8. Keine Deskription, sondern intentionale „Deskription“.
20 | Wichtig ist das Beiziehen von Aristoteles’ „Metaphysik“, über das „ὄν ὡς
ἀληθές“; denn es soll ja auf den ursprünglichen Sinn der Metaphysik als des
Problems von ens = ens = unum = verum = bonum hingewiesen werden
und damit die Problemauflösung des modernen Gegensatzes von Ontologie
und Erkenntnistheorie als Zerstörung der Metaphysik charakterisiert werden.
Nicht Kant ist der „Zermalmer“, sondern die Interpreten, die Kants Kritik
der reinen Vernunft als „Erkenntnistheorie“ deklarierten. In Wirklichkeit ist
aber Kants Kritik … sowenig eine Erkenntnistheorie wie etwa Aristoteles’
Bestimmung über die Σοφία ein Anfang der „Metaphysik“ oder die Bestim-
mung der Philosophie als “ θεωρία περὶ τῆς φύσεως ἀληθέιας“.

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Disposition zu § 2:
I. Der Ansatz der phänomenologischen Grundfrage als Besinnung auf
die Möglichkeit der Philosophie: Rückgang auf die Urgegebenheiten.
(„Intuitionismus“) „Seiendes als Wahres“. Husserls Kritik der spekula-
tiven Philosophie.
II. Konstruktion dieser Interpretation: Husserls Ansatz steht in der Tra-
dition der Metaphysik. Begriff der Metaphysik als Fragen nach den
„Transzendentalien“. (Aristoteles – Descartes – Kant – Hegel)

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OH-I

Beschreibung:
Das erste der acht „OH“ genannten Hefte sieht genauso wie alle anderen aus, nämlich
ein mit Heftklammern gebundenes Oktavheft mit purpurnem Umschlag, das mit
„Mosaik“ betitelt und als „I“ gekennzeichnet ist. Außerdem trägt das Etikett dieses
Heftes das Datum: „1934“. Wie in allen Oktavheften enthalten die Notizen in diesem
Heft meistens fließende, kompakte Gedankengänge. Im vorliegenden Oktavheft
markiert das Datum auf der ersten Seite den Zeitpunkt, an dem Fink seine Notizen
in diesem Heft begann: am 14. November 1934.

Text:

| (14. November 1934) 1


*
„Motiv“ für die phänomenologische Reduktion der Weltzeit: dies kann sein
das in mannigfachen Formen aufgetretene Problem des Ursprungs der Zeit.
Frage nach dem „Ursprung“ überhaupt die Grundfrage der Metaphysik.
Frage nach dem Grunde des Seins. Trotz aller Wandlungen der ursprünglich
chronologisch gemeinten Frage nach dem Ursprung (etwa in logische oder
prinzipielle Vorgängigkeit der Ursprungsdimension) bleibt der temporale
Sinn sublimiert erhalten. Zeit also die Basis für die metaphysische Frage nach
der Herkunft des Seins.
| Die Einsicht in die Weltlichkeit der Zeit (z. B. Kant) läßt die Zeit als 2
das unüberfragbare Urphänomen, als letzten Horizont der Metaphysik stehen
(Heideggers Interpretation des Seins aus der Zeit). Hinter die Zeit kann man
nicht zurückgehen!!?!
Und trotzdem ist das Problem des Ursprungs der Zeit in der naiven Form
(als Frage nach dem Ursprung der Zeitvorstellung usw.) mit der Einsicht in
die Weltlichkeit der Zeit nicht erledigt als sinnlos. Der Widerspruch eines
Anfangs der Zeit, die Paradoxie einer Chronologie der Zeit, als die erregende
Motivation der Erwägung der Möglichkeit, „hinter die Zeit
| zurückzufragen“. Die Frage nach einem Anfang der Zeit scheint beantwortet 3
werden zu können, falls überhaupt eine Antwort möglich sein soll, in der
Konstruktion des Anfangens, in der Konstruktion eines Intellekts, der das
in der Vergangenheit liegende Anfangsstück der Zeit, die Geburt der Zeit
thematisch macht. Damit wäre also das Problem des Anfangs der Zeit

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prinzipiell in einer hypothetischen (indirekten) Erkenntnis zu lösen. – Dies
ist die widersinnige Form des Problems, die gar nicht die Situation des
Problementwurfs ausdrücklich mitdenkt in der Stellung des Problems. Frage
nach dem Anfang
4 | der Zeit ist ein Mitten-aus-der-Zeit-Herausfragen. Der Fragende steht
mitten in der Zeit. Nur weil er mitten-inne ist, kann er fragen nach dem
Ursprung. Allgemein geht aus dem Wesen der Frage nach dem Ursprung
hervor, daß das Sein dessen, was in der Antwort auf die Ursprungsfrage
verstanden werden soll, dem Ursprung selbst vorhergeht. Das scheint eine
platte Selbstverständlichkeit zu sein, eben im Wesen des Erkennens liegend:
inverses Verhältnis der ordo essendi und der ordo cognoscendi!! Doch phäno-
menologisch gedacht, wird diese Trivialität zu einem Problem. Das Mitten-
5 | in-der-Zeit-Sein darf vielleicht gar nicht als Zukunft der Vergangenheit des
Anfangs sein. Nach dem Ursprung fragen hat am Ende einen gewichtigeren
Sinn als die Konstruktion eines Anfangs der Zeit. Ist eine solche Konstruk-
tion überhaupt sinnvoll? Zeit fängt nicht an, sie ist auch nicht aktual immer
schon gewesen, sondern alles Anfangen und Dauern ist binnen-zeitlich. Die
am Leitfaden binnenzeitlicher Größen orientierte Ursprungsfrage notwendig
unlösbar. – Dennoch das Problem nicht sinnlos. Aufgabe der Verwandlung
des Problems: ein Herausdrehen aus einer falschen Fragerichtung. Kurz: Statt
des „hori-
6 | zontalen“ Richtungssinnes einen „vertikalen“. Das Mitten-in-der-Zeit-Sein
des Fragenden als die Basis der Frage. Ist ein „Ich“ möglich, das mitten in
der Zeit nicht in der Zeit ist? Dies die verschärfte Stellung des Problems.
Widerspruch eines Ichs, das in der Zeit ist und „zugleich“ nicht in der Zeit ist.
Eine offenbare Unmöglichkeit?!? Ist eine Ichspaltung denkbar, so daß das in
der Reflexion auseinandertretende Ich einesteils in und andernteils nicht in
der Zeit ist?
Die Frage nach dem Ursprung der Zeit verwandelt sich so in die
Frage nach der Möglichkeit des nicht in der Weltzeit stehenden reflekti-
ven Zuschau-
7 | ers. Damit die Richtungsänderung des Problems.
*
Zeitlichkeit des Reduktionsvollzugs: in welcher Zeit geschieht die
phänomenologische Reduktion?
Solange die Darstellung der Reduktion (wie z. B. in den Ideen) orientiert
bleibt an der universalen Thematik der Welterfahrung resp. deren „Modifi-
kation“, solange ist der Übergang von der natürlichen Einstellung in die
transzendentale Einstellung relativ leicht darzustellen. Aber Reduktion resp.
Epoché der Weltzeit? Das Ich, das „Reduktion“ vollziehen soll, braucht Zeit,
es löst ‹sich› auf in der naiven Weltthematik, ändert seinen theoretischen
Habitus, thematisiert

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.
| in Hinkunft das in der Naivität gläubig vollzogene Welterfahren. 8
Aber „Zeit“ ist über Immanenz und Transzendenz übergreifende Welt-
Zeit. Reduktion darf also auch nicht auf dem Boden der „subjektiven“
(immanenten) Zeit sich abspielen. Ist sie überhaupt noch möglich? Reduktion
der Temporalität (der Weltzeit) also viel schwieriger als die von Husserl
dargestellte Reduktion der objektiven Seinsgeltungen.
*
Husserls „Reduktion“ (wie in den „Ideen“ und sonst auch), die den ausdrück-
lichen Begriff der Welt nicht kannte und ihn mit dem All der objektiven Dinge
| gleichstellte, also ist im Grunde nur eine Ent-Naturalisierung des Geistes: 9
eine ontologische, sich als „absoluten Idealismus“ mißverstehende Methode.
Diese Methode konnte sich als „absoluter Idealismus“ mißverstehen, weil sie
eben nicht die ontologische Natur des Erkennens erforschte, weil sie in der
charakteristischen Zweideutigkeit verblieb, die die „interne“ „korrelativisti-
sche“ Interpretation der Erkenntnisrelation kennzeichnet.
*
Der Mensch ist das Seiende, zu dessen Seinssinn die Unvollendetheit gehört,
aber nicht als eine patente Eigenschaft, sondern als die „Freiheit des Geistes“.
*
| Das mundane Wesen des Geistes ist fragmentarisch. Vgl. dazu die These: 10
der Mensch als die Lücke im Kosmos; der Mensch als die Entstelltheit,
Versehrtheit der absoluten Subjektivität.1
Aber keine „Romantik der Unvollendetheit“, wie sie in der Deutschen
Romantik mit der Konzeption der nach dem Unendlichen offenen Endlich-
keit getrieben wurde, obwohl darin ontisch massiv ein Kern absoluter
Wahrheit steckt.
Desiderium, Heimweh, Rückkehr zu Gott usw. als die dumpfen Ahnun-
gen des Gefühls, die gemengt mit irdisch-allzu-irdischen Sehnsüchten sind.
Erst die Helle der Begrifflichkeit ist
| das Scheidewasser, das gemütsvolle „Romantik“ und echte philosophische 11
Wahrheit absondert.
*
Aufweisende Darstellung der „Intentionalität“ hat nicht den Stil einer Rede
über vorfindliches Seiende. (Dies der Fehler Brentanos, der die Intentiona-
lität zu einer Art von psychischem Datum macht.) Intentionalität kann nur
in intentionaler, d. i. Intentionalität weckender Darstellung beschrieben wer-
den.
*
Nietzsches Unterscheidung von Herrenmoral und Sklavenmoral zweideutig:
1) einmal sind diese Begriffe materiale, d. h. Maximen eines herrschenden,

1 Vgl. unter anderem Z-V VI/1b, Z-VII XVII/31b, Z-XI 24a und Z-XV 62a und 67a-68a.

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.
12 | gewalttätigen, starken Lebens und eines dienenden, gehorchenden, schwa-
chen Lebens; 2) aber gegenüber dieser fragwürdigen materialen Unterschei-
dung eine philosophische: „Herrenmoral“ als die souveräne, freie, schöp-
ferische Wertung (die selbstheitliche, dämonische!); Sklavenmoral als die
heteronome, nach vorgegebenen Werttafeln orientierte.
„Autonomie“ und „Heteronomie“ zweideutige Begriffe. Einmal meinen
diese Begriffe den Vollzugscharakter der Willensentscheidungen. Z. B. bei
Kant ist der sittliche Wille autonom, aber nicht souverän. Er bestimmt sich
selbst im Vollzug, aber
13 | er setzt keine Werte; er ist im Vollzug sich selbsteigen, aber er ist nicht selbst-
herrlich.
Der philosophische Sinn der Unterscheidung von Herrenmoral und Skla-
venmoral scheint mir in der Richtung von wertschöpferischer Souveränität
des Willens und wertanerkennender Untertänigkeit des Willens zu liegen.
Nietzsche als werttheoretischer „Idealist“.
Die ethische Reflexion Nietzsches entdeckt den Lebensursprung der
scheinbar lebenstranszendenten Normen; so zerstört er die Naivität der
vorgegebenen Wertewelt und legt den Überschwang des Lebens, das sich im
„Guten“ selbst überschwingt, frei.
14 | Dieser werttheoretische Idealismus ist entfernt von der platten These der
Subjektsrelativität der Werte, so wie der erkenntnistheoretische Idealismus
sich auch nicht auf die aktuale Subjektsrelativität des Erkenntnisgegenstan-
des stützen kann.
Nietzsches Tendenz kommt wundervoll zum Ausdruck in dem Satz:
„Alle Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten
Dingen geliehen, will ich zurückfordern als Erzeugnis des Menschen, als
seine schönste Apologie.“2
*
Die Naivität in werttheoretischer Hinsicht ist ein Vergessenhaben des
Lebensursprungs der Werte, das schwer nur aufzu-
15 | hellen ist.
*
Die werttheoretische „Reflexion“ muß sich vor jener klugen, allzu klugen
Hinweisung auf die aktuelle Relativität des Wertes auf den Wertenden hüten,
die den Freibrief jeder Libertinage abgibt. Leben ohne Exzentrizität ist nicht
schöpferisch, wenn es auch „willkürlich“ wertet dank der These von der
Subjektsrelativität der Werte. Das ist falsche Freiheit. Das Leben in der
selbstvergessenen Leidenschaft, der exzentrischen Lebenssteigerung, wertet
zumeist in Vergessenheit seines Schöpfertums. Beispiel der „Fanatismus“ als
Hingegebenheit an eine Sache, für die auch das Leben gewagt wird.

2 Wille zur Macht, 2. Buch, „Vorspruch“. Vgl. Z-XIX IV/6a.

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.
*
| Nietzsches Zarathustrakapitel „Von den Verwandlungen des Geistes“ stellt 16
die Verwandlung vom Wert-Realismus zum Wert-Idealismus dar. Alle drei
Stufen aber sind solche des Lebens in der Größe. Das Leben in der
Form, für die das Gleichnis das „Kamel“ ist, hat Größe, ist exzentrisch
(Beispiel für diese Lebensform Fanatismus, ethischer Rigorismus). Sie ist
ein Lebenszustand, ist die werttheoretische Naivität. Aber wesentlich ist,
daß diese Lebensform nicht allein als Traditionalität bestimmt werden kann.
Traditionalität und revolutionäres Werten sind Gegensätze, die in anderer
Richtung liegen. Ein
| revolutionäres Werten braucht nicht souverän zu sein. M. a. W. der 17
Gegensatz von Tradition und Revolution ist ein „historischer“, im Wesen
der Geschichtlichkeit als des Verbrauchs und Zu-Ende-Kommens eines
Lebensgefühls liegender.
Nicht als Emanzipation von der Tradition ist der „Löwe“ zu verstehen,
sondern als der Übergang von der Wertknechtschaft zur Wert”freiheit“, die
eine negative ist, ein Frei-sein-von, noch nicht ein Frei-sein-zu. Aber auch
diese bloß „negative Freiheit“ ist nicht schweifende Willkür des kleinen
Geistes, sondern die gefährliche, richtungslose des exzentrischen Lebens.
Das „Kind“ ist das Freisein aus
| dem eigenen Selbst: die Freiheit der inneren Notwendigkeit. „Unschuld“, 18
„ein aus sich rollendes Rad“: die Souveränität des Wertschöpferischen, aus
dem eigenen Selbst heraus Werte setzenden Lebens.
*
Drei Begriffsgegensätze, die sich konkret immer überkreuzen und vermen-
gen, aber für die Theorie des Wertes prinzipiell zu unterscheiden sind:
I. Traditionalität – Revolution
II. Heteronomie – Autonomie
III. Knechtschaft („Kamel“) – Souveränität („Kind“).
*
Kants Begriff der „Autonomie“ ist: Nur durch sich selbst Bestimmtsein des
Willens. Willen aber
| ist praktische Vernunft. Der Wille als praktische Vernunft ist durch sich 19
selbst bestimmt, wenn er unvernünftige Motivationen nicht auf sich wirken
läßt. Solche unvernünftige Motivationen sind Gemütsregungen des „Mit-
leids“, die durch Wohltun ausgelöste Befriedigung, „Neigung“. „Wider die
Neigung“, d. h. nicht, gegen die natürlichen Tendenzen des Lebens im Sinne
eines ihnen material entgegengesetzten Handelns (etwa im Sinne christlicher
lebensfeindlicher Askese!), sondern besagt nur ein Freisein im Entschluß
von determinierenden Motivationen des Gemüts. Da aber diese ständig
andrängen, (etwa auch durch

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.
20 | das christliche Sittengesetz als die Motivationen des Lohnes für das Gutsein
und der Strafe für das Bösesein) fordert Kant ein Abdrängen solcher Motiva-
tionen, um den Willen durch sich selbst, d. i. vernünftig zu bestimmen. Die
„Achtung vor dem Sittengesetz“ (nicht Hoffnung auf Lohn oder Furcht vor
Strafe) ist allein der Vernunftgrund, der den Willen, als praktische Vernunft,
determinieren kann, so daß er „autonom“ handelt.
*
Kant ist in der Auffassung des Willens als praktischer Vernunft und in der
Forderung des Vernunftgrundes für das Handeln „Sokratiker“.
*
21 | Heideggers Interpretation des kantischen Begriffs der „Achtung“ in „Kant
und das Problem der Metaphysik“3 scheint mir nicht überzeugend. Heidegger
interpretiert am Schema der theoretischen Vernunft in allzu enger Analogie
die „praktische“. Wie die theoretische Vernunft als Inbegriff von Verstand
und Vernunft für Heidegger der Weltentwurf der „Transzendenz“ ist, das
apriorische Vorentwerfen der Objektivität der in der Erfahrung erst zur
Gegebenheit kommenden Objekte, also die als „Welt“ vorentworfene Gegen-
ständlichkeit der Gegenstände, oder m. a. W. die Bewegung des „Daseins“ als
„hinaus auf sich zurück“ (als „Begegnen lassen“), so sei
22 | die praktische Vernunft auch das Vorentwerfen des von Außen auf das
Dasein in der faktischen Situation zukommenden Sittengesetzes. In der
Autonomie (in der „Achtung“, als der Einsicht in das „Sittengesetz“ als
Vernunftgesetz) hole das „Dasein“ sich zurück auf seinen Entwurf selbst.
Das bedeutet: Heidegger interpretiert die kantische „Autonomie“ in die
Richtung der Souveränität und nivelliert so den fundamentalen Unterschied
und setzt sich der Gefahr des „Sokratismus“ aus.
*
23 | „Größe“ des Lebens ist bei Nietzsche oft ein undurchsichtiger Begriff:
einmal wird er gebraucht im Sinne der materialen neuen Werttafel, d. h.
als ein moralischer Begriff. Dann aber auch, im eigentlich philosophischen
Sinne, als ontologischer Begriff, der die Exzentrizität des Lebens bedeutet,
eine besondere Mächtigkeit des Lebens.
Nietzsches Maxime: die Moral unter der „Optik des Lebens“, das Leben
unter der „Optik der Kunst“ zu betrachten, wird von da aus verständlich. Was
bei Nietzsche scheinbar „ästhetische Kategorien“ sind, wie z. B. „Größe“,
„prachtvolles Übermaß“ usw., sind in Wahrheit Grundbegriffe einer Ontolo-
gie des Lebens. Der ge-
24 | gen Nietzsche gerichtete Einwand, er hätte als Künstler, in der einem
solchen zukommenden Freude an der Buntheit und dem Wirbel des Lebens,

3Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, HGA 3, hrsg. von Friedrich-
Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1991, § 30, S. 156–160.

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.
das Problem der Moral, d. h. in einer grundsätzlich falschen Perspektive,
also in einer methodischen μετάβασις εἴς ἄλλο γένος, angefaßt – dieser
Einwand hat zunächst viel für sich. Der Künstler steht in der künstlerischen
Betrachtung der Welt „jenseits von Gut und Böse“, er liebt das wilde bunte
Bild des Daseins, die hellen und die dunklen Farben. War also nicht das
starke und oft bezeugte Künstlertum Nietzsches eine Gefahr und Verführung
seiner philo-
| sophischen Erkenntnis?? Nein –! Obzwar diese Gefahr nicht bestritten 25
werden kann, so haben die Grundbegriffe „Jenseits von Gut und Böse“
und „Unschuld des Werdens“ einen ganz anderen, philosophisch sehr
schwer exponierbaren Sinn als den harmlosen der „außertheoretischen“
künstlerischen Perspektive. Sie sind ontologische Begriffe. Ebenso wie die
von Nietzsche am Phänomen der Kunst entdeckten Lebensprinzipien des
„Dionysischen“ und „Apollinischen“. Kunst ist für Nietzsche ontologischer
Leitfaden. Daß darin, wie überhaupt in jeder Art von „Leitfaden“, Gefahren
stecken, ist nicht zu leugnen.
*
| Eine interessante Aufgabe der Nietzsche-Interpretation wäre, die Systematik 26
seiner Philosophie aus den ohne methodologische Reflexion vorhandenen
Entwürfen und genialen Konzeptionen auszuzeichnen. Besondere Aufgaben
wären dann: die Struktur des „werttheoretischen Idealismus“, die Epoché des
Standpunktes „Jenseits von Gut und Böse“, das „Jenseits von Gut und Böse“
kein Standpunkt des Wertens, sondern die Einsicht der werttheoretischen
Reflexion in den Lebensursprung der Werte und damit die Entdeckung
der „Souveränität“ als Ermöglichung des Wertens. Ferner der Entwurf
einer Ontologie des Lebens. Nietzsche ontologischer „Monist“: die an der
ontologischen Bestimmung des
| Lebens gewonnenen Grundbegriffe werden zu kosmologischen Begriffen 27
erweitert. –
Schema der Nietzsche-Interpretation
I. Der werttheoretische Idealismus [Problem der Kultur – Problem der
Freiheit (Souveränität) – Apologie des Menschen (Tod Gottes) – Die
ontologischen (scheinbar ästhetischen) Begriffe, mit denen Nietzsche
den werttheorethischen Idealismus begründet].
II. Ontologie des Lebens [Lehre vom „Dionysischen“ und „Apollini-
schen“; der Antagonismus der Lebensgewalten; das „Tragische“;
Lehre vom „Bewußtsein“ und vom „Selbst“ (Inspiration); Wille
zur Macht].
III. Kosmologie [Die „Ontologie des Lebens“ zur Weltontologie erweitert.
Lehre von der ewigen Wiederkunft.]
*

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.
28 | Zu den sachlichen Differenzen mit Husserl gehört vor allem die These von
der Unumkehrbarkeit der reduktiven Bezüge. Husserls Auffassung der sog.
„Randprobleme“ Geburt und Tod, sowie seine Theorie des Instinkts kann
ich nicht teilen. Ich lehne es prinzipiell ab, die auf dem „korrelativistischen“
Ansatz basierende Verdoppelung der Welt (Wiederholung der „Welt“ in der
Sphäre der „Monaden“) mitzumachen.
Geburt und Tod sind konstituierte Wahrheiten, keine absoluten, sind
ontische Wirklichkeiten, keine meontischen Bestimmtheiten.
*
Die These von der Nichtumkehrbarkeit der reduktiven Bezüge
29 | wird in ihrem schwer einsichtigen Sinne verständlich durch die fundamen-
tale Unterscheidung von ontischer und konstitutiver Identität.
*
Das Verfehlen der Unterscheidung der ontischen und konstitutiven Identität
drängt die Philosophie in einen „phantastischen“ Idealismus, in eine spiri-
tualistische Ontologie ab: die Gefahr des Deutschen Idealismus, vor allem
Hegels. Die Phänomenologie entartet zum „rationalistischen“ Optimismus,
zur Verkennung des Unterschiedes des ordo essendi und cognoscendi, zur
„Apodiktizität als Seinsprinzip“, zum Husserlschen „Cartesianismus“, zur
„ontologischen Reflexionsphilosophie der Subjektivität“.
*
30 | Zum Problem der „Primitiven-Logik“, die nicht substanzlogisch sei (vgl.
Cassirer, und Lévy-Bruhl):4
eine Weltauffassung, die das Geschehen nicht substantiell faßt, als Verände-
rung, Änderung, Entstehen und Vergehen von Dingen, sondern als reines
Geschehen, verharrende als Verharrungen, ist, wenn sie überhaupt als
„Tatsache“ besteht, – was bei der methodologischen Unzulänglichkeit der
„Primitivenforschung“ immerhin fraglich ist – vielleicht so zu erklären: die
Weltauffassung der Substanz-Ontologie setzt Selbst, gegeben im Selbstbe-
wußtsein, voraus als das prototypische Schema für das Vorstellen einer
31 | Substanz hinter den Veränderungen (Geschehensvorgängen). Im Selbstbe-
wußtsein ist der Täter des Tuns gegeben. (Vgl. Nietzsches Interpretation
des Selbstbewußtseins als Prototyp des „Seienden“ in „Wille zur Macht“!
Welchen Charakter hat diese „Deutung“? Ist sie „erkenntnistheoretisch“,
„psychologisch“? Oder versagen solche Rubrizierungen vor dem damit
berührten Problem?)

4 Vgl. Ernst Cassirer, Die Begriffsform im mythischen Denken, Leipzig 1922 und Lucien
Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven (La mentalité primitive), übersetzt von Marga-
rethe Hamburger, München 1927 sowie Die Seele der Primitiven (L’âme primitive), übersetzt
von Else Baronin Werkmann, Wien 1930. Vgl. HChr, S. 459 mit Bezug auf Husserls Lektüre
von Lévy-Bruhls Werken und sein Schreiben an Lévy-Bruhl vom 11. März 1935, Bw. VII,
S. 161–164.

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Wenn aber die These vom „ontologischen Prototyp“ des Selbst wahr
wäre (vgl. die gewichtigere kantische Lehre von der Apriorität der Kategorie
der Substanz, die allerdings in höherer Form auf die Einheit des Selbstbe-
wußtseins („transzendentale Apperzeption“) gegründet ist!!)
| – wenn – dann könnte man die Geschehens-Ontologie der „Primitiven“ 32
durch das Fehlen des Selbstbewußtseins (als der prototypischen Ermögli-
chung der Denkform „Substanz“) erklären. Das „primitive Leben“ vollzieht
sich, „es“-hafter Lebensvollzug.
Vielleicht noch Rudimente der archaischen primitiven Logik in den
„Es“-Sätzen („Es blitzt“).
Vgl. ferner der es-hafte, s.z.s. subjektslose Lebensvollzug in dem Erfah-
ren elementarer Lebensgewalten (z. B. Erotik).
*
In der „Lebensphilosophie“ (vor allem Nietzsches) wird das Sein der Subjek-
tivität orientiert am paradigmatischen Charakter des
| elementaren, dionysischen (rauschhaften) Lebensvollzugs. D. h. das 33
„Leben“ ist keine Zustandsweise des Subjekts, sondern das Subjekt ist eine
Erscheinungsform des „Lebens“.
*
Zwei Thesen:
1. das Ich (als „Täter“, als „Identität“, als „Einheit des Selbstbewußtseins“)
ist Prototyp der „Substanz“. Das bedeutet die Anthropomorphisierung
der Welt. Ontologie als vermenschlichende „Ontologie“.
2. Ich (als Sein der Subjektivität, als „Tathandlung“, „Freiheit“, als „Exis-
tenz“) ist bislang unter dem ontologischen Schema des Dinges (οὐσία)
gefaßt und vergewaltigt worden.
| Vertreter der ersten These: Nietzsche (in sehr anfechtbarer, pragmatischer 34
Darstellungsform! Wichtiger ist sein Gedankengang, daß die Welt des
Festen, „Identischen“, als Fiktion, aber scheinbar erlebt als Einheit des
Ich und übertragen auf alles Seiende, eigentlich eine Täuschung ist und
sich wie „Erscheinung“ zur wahren Welt des „Werdens“ verhält. Nietzsche
dreht also das traditionale Schema: „unzeitliche ewige Welt des Seins und
Erscheinungswelt der Veränderungen“ um in seine (pseudo-)heraklitische
Auffassung von der Wirklichkeit des Wandels und der Fiktivität des „ewi-
gen Seins“.)
Ferner, erkenntnistheoretisch begründend Kant (vgl. „Deduktion“ in B).
| Vertreter der zweiten These: „Lebensphilosophie“ Bergson, (Dilthey- 35
Misch), Heidegger (Ontologie des Subjekts eine neu zu ergreifende Auf-
gabe), Kant (Paralogismen), Fichtes Lehre vom Wesen des Subjekts als Tat-
handlung.
– Wie ist der Widerspruch der beiden Thesen zu erklären? Man könnte sagen,
das Leben ist urtümlich „transitiv“ gerichtet, umgehend mit den Dingen. In

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dieser „transzendenten“ Attitude des Lebens vollzieht sich das Verstehen des
Seienden. Dabei macht das Subjekt Gebrauch von einem Selbstverständnis,
das nicht reflektiver Natur ist, es unterlegt „primitiv“ dem Seienden ein
„Ich“-Sein als Substanzsein. Diese Auslegungsrichtung verhärtet
36 | sich in den höheren Stufen des durch Reflexion zustandegekommenen
Selbstbewußtseins. Das Ich gerät in seinem ausdrücklichen, d. i. reflexiven
Selbstverständnis in den Bann seiner naiv vollzogenen Substanzlogik.
*
Das „Ich“ ist das „exemplum crucis“ der ontologischen Philosophie. Onto-
logische Unerreichbarkeit des Ich! Damit zusammenhängend die Paradoxie
des doppelten Ansatzes der Philosophie: a) der ontologische Ansatz, der
thematisch das Sein intendiert, unthematisch aber von der Erkenntnisrelation
Gebrauch macht; b) der „erkenntnistheoretische“ Ansatz, der thema-
37 | tisch die Subjekt-Objektkorrelation als Basis fixiert, aber unthematisch
ständig „Sein“ voraussetzt. (Vgl. „Das ontische Argument in der idealisti-
schen Position“.)5
*
Die Lösung der Antinomie des „doppelten Ansatzes der Philosophie“ ist
versucht worden einmal durch die Identitätsphilosophie (Sein und Denken
sind eines) [von Parmenides, Plato bis Hegel!], dann durch den Versuch einer
Ontologie des Erkennens: die Antinomie scheint zu verschwinden, wenn
man das Erkennen, das Organ der Erkenntnis vom Seienden, selbst in seiner
Seinsverfassung durchschaut. Das Problem der Erkenntnis der Ontologie des
Erkennens wird als iteratives, also harmloses Problem gefaßt.
38 | Eine neue dritte Lösung liegt in der Konzeption der Seinsfreiheit des
Geistes, also in der meontischen Auffassung der Erkenntnis. (Diese schließt
beide anderen Lösungsversuche als subordinierte Probleme ein!!)
*
Der Begriff der „Konstitution“ bei Husserl ungeklärt, d. h. er bleibt als intern-
intentionaler Begriff fixiert, also in der zweideutigen Unterbestimmtheit,
die den ontologischen Sinn der Erkenntnisrelation nicht kontrastiert zum
„transzendentalen“. Analog wie Husserls Begriff der „Apodiktizität“. Was ist
aber „Konstitution“?
39 | Konstitution ist Ontourgie, „Genesis des Seins“ als das Selbstwerden
der absoluten Subjektivität.
Gleichbedeutend mit „Konstitution“ ist Temporalisation und Individua-
tion.
Das weltlich Seiende, d. i. das Seiende, weil Welt der Enthalt des Seins
ist, über den hinaus „Sein“ nicht mehr sinnvoll gesetzt werden kann, ist in
der „Form“ der Zeit, und in der „Form“ der Individuiertheit. Weltlich gibt

5 Dies ein Thema in früheren Mappen: Z-IX V/1a, 11a und 25a; und Z-XIII 27a.

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.
es kein Zeitigen und kein Individuieren. Zeitigung und Individuation als
meontisch-prozessuale Begriffe sind prinzipiell unvorfindlich.
*
| Wichtige methodologische Gliederung: 40
I. Die welthaft-ausweisbare Subjektsbezogenheit des Seienden (das „Für-
mich-Sein der Welt“):
a. gnoseologische Fundierung der Geltungen, durch die Seiendes für
mich ist;
b. invers dazu verhält sich die ontische Fundierung.
II. Durch die Reduktion
a. ereignet sich die Aufhebung des inversen Verhältnisses von onti-
scher und gnoseologischer Fundierung: d. h. Aufgabe ist zunächst
die transzendentale Geltung des Weltphänomens für das
| Welt-in-Geltung-haltende Ego in ihrer Zonengliederung zu ana- 41
lysieren, so zwar, daß die Gefahr des Abgleitens in die bloße
Erkenntnisgliederung (gnoseologische Fundierungsordnung) der
natürlichen Einstellung vermieden wird. So muß gerade die inverse
Interpretation der „bloß erkenntnismäßigen“ Gliederung mit in die
Analyse aufgenommen werden. (Die „inverse Interpretation“ Index
für die konstitutive Entstellung des jeweils Vorgängigen!!)
b. Die transzendentale Analytik der Geltungsgliederung (einschließ-
lich des zur Weltlichkeit gehörenden Gegenverhält-
| nisses von gnoseologischer und ontischer Fundierung) wird zum 42
„Leitfaden“ des Schemas der konstitutiven Analytik im eigentli-
chen Sinne.
Hier ist aber zu unterscheiden
a. die konstitutive Ordnung der Probleme, auslaufend und rückver-
weisend auf die Sphäre der „Primordialität“, als Stufenfolge von „Konsti-
tutionen“ von je nach der Stufe v e r s c h i e d e n a r t i g e m Charakter. D. h.
mit der Konstitution einer über die Primordialität hinausgehenden trans-
zendentalen Seinsstufe, z. B. der Monadenintersubjektivität, transzendiert
(objektiviert) sich nicht allein die
| „Primordialität“ in der Selbstentstellung zur Monade unter Monaden, son- 43
dern zugleich damit auch ihr „Leben“, ihr „Konstituieren“, das somit einen
konstituierten Sinn annimmt. So ist verschieden dem Charakter nach pri-
mordiale Konstitution und monadische (objektivierte) Konstitution. Eigent-
liche Konstitution, verstanden als Kreation, als Schöpfung, ist allein die
urtümliche, vor aller Entstellung liegende Konstitution in der Primordialität.
Monadische Konstitution ist nicht schöpferisch, auch noch nicht rezeptiv wie
das menschliche Erkennen, sondern eine Zwischenstufe in dem emanativen
Verfall der leisten-

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.
44 | den Subjektivität. Der Zonengliederung der konstitutiven Problematik
entspricht so auch eine Stufenfolge des Verfalls der konstitutiven Idee und
damit der philosophischen Verständlichkeit.
Das weist auf eine tiefere Gliederung hin, die nicht am Leitfaden der
ontologischen-regionalen, ins „Phänomen“ versetzten Weltgliederung und
deren Geltungsfundierung entlang geht, sondern den Verfall der konstitutiven
Kraft in seiner Konstituiertheit selbst durchleuchtet, also die „Konstitution“
des „Konstituierens“ selbst in die Analyse ein-
45 | bezieht.
b. Dies ist die konstitutive Gliederung, die auf allen Stufen die schöpfe-
rische (kreative) Intentionalität transparent macht. –
In der Primordialität allein ist intentionale Kreation patent und braucht
also nicht transparent gemacht zu werden, (obzwar ihre „Patenz“ keine
weltlich vorfindliche, sondern erst reduktiv zu erschließende ist). Auf allen
konstituierten Emanationsstufen des absoluten Lebens (also überall, wo
schon Individuationen perfekt geworden sind) aber ist das Transparentma-
chen der ursprünglichen „Konstitution“ notwendig.
*

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OH-II

Beschreibung:
Dieses Oktavheft ohne Aufschrift trägt das Datum 1934/1935. Blatt 48 weist zudem
auf Pläne für das Jahr 1935 hin. Die ersten Seiten, die von 1 bis zum obersten Teil von
8 durchgestrichen wurden, stammen aus der Zeit, in der Husserl sich mit der Absicht
trug, einen Beitrag für den Philosophie-Kongress in Prag (1934) vorzubereiten. Der
Text der durchgestrichenen Seiten entspricht nämlich dem Text Husserls aus dem
Msk. M III 17a, Bl. 5–8 (vgl. dazu auch die erhaltene Durchschrift in M III 17b, Bl.
2–5), den Fink offensichtlich transkribiert hat.1

Text:

| E. Husserl:2 1
Die Philosophen der Jahrtausende haben insgesamt versagt, sie haben es
nicht vermocht, in der Geschichte der Menschheit die Funktion zu üben,
zu der sie ihrem eigenen Sinn gemäß sich für berufen hielten. Vergeblich
mühten sie sich um eine Methode, in welcher wir unserem Dasein in einer
Welt unendlich unbegrenzter Horizonte einen verständlichen Sinn geben
könnten. Nun ist auch der Lebensschwung der Neuzeit dahin, mit dem sie
in Jahrhunderten befeuernden Glauben, endlich in dem Rationalismus einer
positiven Philosophie und Wissenschaft und Technik die wahre Methode
gefunden zu haben und die Menschheit auf die Bahn der echten, sich ins
Unendliche steigernden und ausbreitenden Eudai-
| monie gebracht zu haben. Der [] positiver Leistungen in Theorie und Praxis 2
läuft weiter, aber jener Glaube an seine Bedeutung ist der Skepsis erlegen.
Doch nun betrifft sie nicht bloß Philosophie und Wissenschaft der Neuzeit
[] Lebensmethode, sondern den „Rationalismus“ überhaupt, nämlich jede
Meinung, durch eine Philosophie einer universalen Welterkenntnis in Form
einer universitas scientiarum der Menschheit die autonome Norm sinnvollen
und dadurch sich selbst befriedigenden Lebens geben zu können.

1 Siehe dazu: Hua Bd. XXVII, Beilage XIX: ‹Der neuzeitliche Rationalismus erfüllt nicht
den Ursprungssinn der Rationalität› ‹1934›, S. 236–238 sowie die Textkritischen Anmerkun-
gen zur Beilage XIX, S. 326.
2 Die mit [] angezeigten Lücken sind in Finks Transkription als solche markiert.

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Indessen, konnte es nicht im allgemeinen Stil aller bisherigen und
zuletzt auch der neuzeitlichen Philosophen liegen, daß sie den wesensmäßig
unverlierbaren Sinn
3 | einer Philosophie überhaupt wahrmachen konnten? Könnte es nicht sein,
daß alle ihre Fragestellungen und Methoden auf dem gemeinsamen Boden
der Selbstverständlichkeit ruhten, in welchem verborgenen Grunde die
tiefsten und eigentlichsten Welträtsel unenthüllt und unbefragt verblieben?
Müßte in diesem Falle nicht jede kritische Umbildung vorangegangener
Philosophen immer wieder zwar zu neuen, aber in gleicher Weise unbe-
friedigenden Resultaten führen? In der Tat, das ist unsere Situation. Ein
völlig neuer Modus des Philosophierens ist notwendig, welcher in einem
unerhörten, extremen Radikalismus und Universalismus der
4 | skeptischen Epoché und Besinnung sich jenes allgemeinen Bodens naiver
Selbstverständlichkeiten mit seinen niebefragten Fraglichkeiten bemächtigt
und von dem aus allererst zurückfragt nach dem in apodiktischer Einsicht
unbedingt Letzten, das allen sinnvollen Fragen Sinn gibt, das also die
urtümliche Quelle alles Selbst- und Weltverständnisses und in systematisch
notwendigem Fortgang die Urquelle der echten Philosophie und aller echten
Wissenschaften ist. Nur so kann ernstlich eine [] werden und jener aus
verzweifelnder Skepsis erwachsende Irrationalismus wieder verschwinden,
der uns des heroischen Kampfes um eine sinn-
5 | volle Gestaltung unseres Daseins, um eine Vergeistigung unserer Umwelt
dadurch enthebt, daß er die zum Wesenssinn des Rationalismus als universa-
ler Philosophie ständig gehörige Relativität von Verständlichkeit und Unver-
ständlichkeit (somit beide als Modi positiver und negativer Rationalität)
in eine Mystik und Sensation verwandelt. Er verschließt sich den Weg zu
einer Philosophie, welche im Wesen der bewußtseinsmäßigen ständigen End-
lichkeit des Menschen im Horizont seiner unendlichen Welt die radikalste
Irrationalität entdeckt, welche, solange das natürlich-naive Leben als
6 | Leben in dieser Weltlichkeit ungebrochen bleibt, notwendig verborgen
bleibt: nämlich als das Welt und Menschentum konstituierende transzenden-
tale intentionale Leben. Er erkennt daher nicht die Möglichkeit, die absolut
konkrete rationale Struktur der Universalität des im Transzendentalen gebor-
genen Seienden aller Seinsstufen rational ins Unendliche fortschreitend
zu erkennen und in weiterer Folge die Möglichkeit, die Lebenspraxis der
sich selbst in ihrem transzendentalen Sein bewußt gewordenen Menschheit
aus dieser absoluten Erkenntnis her zu erkennen. Das aber in Form einer
unendlichen Aufgabe
7 | in unendlicher Arbeit an sich selbst und seiner Weltlichkeit, in einer Arbeit,
die es allein möglich und apodiktisch praktisch notwendig macht, unserem in
der Endlichkeit und prinzipiellen Unverständlichkeit unbefriedigten Leben
die Form eines sich befriedigenden zu geben, sich befriedigend in Erfül-

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lung der uns selbst frei [], sich durch uns verwirklichenden unendlichen
Teleologie. Nur durch eine neu anfangende, in heroischem Radikalismus
auf die echte Arché aller Erkenntnis, aller Seins- und Sollensgeltungen
zurückgehende Philosophie, kann der Menschheit wieder Bodenständigkeit
des Daseins, Glauben an sich selbst und an
| den Sinn der Welt gegeben werden, und nur so einen Glauben, welcher 8
niemehr durch Skepsis bedroht werden kann.
*

Mein Kampf geht gegen den Moralismus in der Philosophie; gegen die
Beruhigung in der humanitären Kultur; gegen die Selbstentfremdung,
Selbstverlorenheit, Verstrickung, Versklavung des Lebens.
Philosophie ist Ontologie und Ontogonie.
Es gibt keine „praktische Vernunft“ als die theoretische!!

| Merkzettel 9
1. Das nicht-in-der-Zeit-Sein des Lebens (im Gegensatz zu allem währen-
den Seienden), das die Zeitlichkeit gewissermaßen spontan vollzieht –
dies ist der Grund der Unterscheidung Heideggers von Innerzeitlichkeit
und eigentlicher Zeitlichkeit?!?
*
2. Selbstvollzug = das metaphysische Wesen des Lebens, das bedeutet:
ob „bewußt“ oder „unbewußt“, das Selbst als fundamentale Struktur
des Lebens.
*
3. Philosophie und Weltanschauung. Weltanschauung = Lebenserfahrung,
Werthaltungen, „Substanz der Individualität“.
| ‹leere Seite› 10
1. | Die primordiale Reduktion als Eröffnung der eigentlich-konstituti- 11
ven Phänomenologie.
*
2. a. Ontologie der Erkenntnis
b. „Ideale Existenz“
c. Selbstbewußtsein
d. Problem der Interpretation
e. „Stimmung“ oder „Grunderfahrung“ des Lebens.
Verhältnis von Stimmung und Affekt und „Selbstbewußtsein“.
Z. B.. Zorn, Haß, Liebe, Trauer, Grauen, Angst, Heiterkeit, Freude, Ruhe
und die ruhigen Stimmungen, Bewegtheit und die bewegten Stimmungen.
Dumpfe und wache Stimmungen.

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Stimmung – Erlebnis – Anlage (Haltung)
(z. B. Trauer) (Freude) (Verhaltenheit)
(Zorn) („elegischer Charakter“)
12 | „Einsamkeit“ (als eigentlicher Lebensvollzug des Philosophierenden) keine
flüchtige Stimmung, sondern eine Haltung des Lebens, keine Eigenschaft
charakterologischer Art, sondern eine Weise des Seins des Lebens.
Das Leben hat kein starres System von möglichen Seinsweisen über
sich, „Leben“ ist im Spiel der Weisen des Vollzugs. „Befindlichkeit“,
„Stimmung“, „Affekte“, „Temperament“, „Charakter“, „Lebenserfahrung“
= Vollzugsweisen.
„Vollzug“ als Wesen des Lebens – im Gegensatz zu allem Gegenständ-
lichen. Gegenstände „währen“. Währen = In-der-
13 | Zeit-Sein / = Sein (existere, esse).
Das Leben „währt“ nicht als sich-vollziehendes, sondern in seinem
Vollzug begegnet ihm Währen der Dinge und seiner selbst. „Vollzug“ als
entstellter eine ontologische Kategorie. „Vollzug“ (Schöpfung, Schaffen,
„Setzen“) die me-ontische Fundamentalbestimmung des Lebens.
Vollzug nur die vorläufige Formalkategorie, in der sich die Paradoxie
der ontologischen Fixierung des Lebens signalisiert. Vgl. die These von der
„ontologischen Unerreichbarkeit des Lebens“!
„Spiel“ – „Arbeit“ – „Wehen“ (πνεῦμα) „Tun u n d Leiden“, „Mächti-
gung“
14 | statt „Vollzug“?? Vollziehen = ausführen, durchführen. Vollzug =
Exekution. Spiel ist reiner Vollzug des Lebens, ist Selbstvollzug. Das Leben
vollzieht nicht primär Handlungen, sondern sich. Es führt sich aus, es
absolviert sein Pensum, sein „vitales Programm“ (Ortega).3 Leben ist Selbst-
verwirklichung. „Selbstvollzug“ ist als Terminus noch besser als Selbstver-
wirklichung. Leben ist kein „Geschehen“, sondern ein Sich-geschehen.
Das Leben „strömt“ auch nicht eigentlich („Erlebnisstrom“). Strömen
und Geschehen sind objektivistische Begriffe, die auf Seiendes zutreffen.
15 | Vollziehen =
Ausführen, Durchführen, Verwirklichen, Exekutieren, Fungieren, „Leisten“,
Tathandlung, Selbst-Setzung, Arbeit, Spiel, Lässigkeit, Selbstzeugung, Sich-
ausgeben, Sich-auslassen, Sichausleben, Wagen (Wagnis), Sich-inszenieren,
Sich-darstellen, sich gebärden, sich einsetzen, sich vollführen, sich voll-

3 Von José Ortega y Gasset wurden vor 1935 auf deutsch La rebelión de las masas (Madrid
1929; Aufstand der Massen, Berlin 1931), Estudios sobre el amor (Buenos Aires 1939; Über
die Liebe, Berlin 1934) und Buch des Betrachters (Stuttgart 1934; El Espectador, Madrid 1916–
1934) veröffentlicht. Ortega hat Mitte November 1934 (HChr, S. 453) Husserl besucht; in Folge
dieses Besuches entstand die Bekanntschaft mit Mercedes Alonso.

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enden, sich tun = sich zelebrieren = sich erledigen, sich besorgen, s i c h
v o l l b r i n g e n , s i c h v o l l s t r e c k e n.

| ‹leere Seite› 16

I. | “Leben“ in der Welt: Aufgabe der Philosophie = 17


1. die Befreiung des Lebens von der Transzendenz der Werte, der
Verlorenheit in die Selbstobjektivation der „Kultur“. Nietzsches
„Apologie des Lebens“.
[Die Aufgabe des „werttheoretischen Idealismus“. Diese Befreiung
setzt aber noch andere voraus: nämlich die Rückholung aus Erstar-
rungen und Verkrustungen, falscher Tradition, Ballast des Lebens.]
2. Die Befreiung des Lebens vom naturalistischen „Ontologismus“
(z. B.. psycho-physischer Aspekt des Lebens). „Leben als ontologi-
sche Paradoxie“.
II. | Heimkehr des Lebens zu sich aus der Verlorenheit in die Welt: Leben 18
als „Geist“.
*
Selbstentfremdung als metaphysische Bestimmung des Lebens charakteri-
siert die Weltbefangenheit (die metaphysische Entstellung).
Innerhalb der metaphysischen Selbstentfremdung des Lebens eine
Reihe notwendiger Einlassungen des Lebens in Natur, Geschichte, (in die
Seinsmächte des Anorganischen, Organischen: die „berechtigten“ ontischen
Interpretationen des Lebens.) – Auf dem Boden
| dieser „Einlassungen“ vollzieht sich dann die blinde „Ausleihung des Schö- 19
nen und Erhabenen“ an die wirklichen und eingebildeten Dinge: die ideale
Eruption des Lebens (das Kultur-Schaffen als prometheisch und ‹als› kollek-
tiver Schaffensprozeß). Damit die Gefahr des Lebens: die Verstrickung in
seinen „Idealen“.
Das in den eigenen (eruptiv hinausgeworfenen) Idealen verstrickte
Leben ist dem Prozeß der Erstarrung und Entleerung ausgesetzt, die aus dem
metaphysischen Unwesen des Lebens: der Trägheit, her begriffen werden
muß. Das verstrickt-träge, entleerte und erstarrte, verkrustete Leben verfällt
der Sklaverei der Institutionen (Staat, Kirche, Rechtsordnung).
*
| ‹leere Seite› 20
| Ad „Bestimmung des Menschen“: 21
Einleitend: der Lebenszerfall, der als „Kulturkrise“ heute den Blick freigibt
auf das problematische Wesen des Menschen, eine günstige philosophische
Chance. Der Mensch das Seiende, das sich selbst als Problem erfährt. D. h.
der Mensch steht nicht jetzt und heute in der Ungewißheit über sich selbst,
sondern er ist, wenn er ist, in der Fragwürdigkeit. D. h. die „Bestimmung

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des Menschen“ ist kein gleichgültiges theoretisches Bestimmen im Zusam-
menhang einer Bestimmung alles Seienden, sondern ist die ursprünglichste
menschliche Not.
22 | ‹leere Seite›
23 | Vitalbegriff der „Vernunft“:
„Denken“ als Sturm, als Leidenschaft, als exzentrische Größe des Lebens.
Denken = dem-Chaos-nahe-Sein. Denken ist revolutionär-leben.
*
Ich fordere einen strengen, harten, verwegenen Rationalismus, der groß im
Vernichten und groß im Aufbauen, der mit einem Wort: schöpferisch ist.
*
Die Verstaatlichung des Lebens ist das, wogegen heute der Kampf der
Geistigen sich richten muß.
*
24 | ‹leere Seite›

25 | Was ist der Mensch?


Versklavt in „Institutionen“ –
Verstrickt in „Idealen“ –
Eingelassen und preisgegeben der Natur –
Ausgeliefert dem Kosmos –
Benommen vom Seienden –
Eingestellt in die Spielräume des „Wesens“ –
Befangen in der Welt –
Sich-selbst-entfremdet –
Degradiert und entstellt –
Unvollendet und fragmentarisch –
das ist der Mensch!
Und dieses versklavte, verstrickte, eingelassene, ausgelieferte, benommene,
eingestellte, befangene, sichselbstentfremdete, degradierte und entstellte,
unvollendete und fragmentarische Wesen, dieses so metaphysisch gebro-
chene Wesen revoltiert
26 | in der Philosophie, und vollstreckt in der Vernichtung seiner übernommenen
Endlichkeit die Befreiung seiner meontischen Selbstmacht.
*
27 | Aristokratische Revolution: das ist die Befreiung des Lebens aus der
Verstrickung in den „Idealen“. Sie hat ihr Gegenbild in der „Ideallosigkeit“
des spannungslosen Lebens. Das „Durchschauen“ der eruptiven Tendenz des
Lebens kann bei dem großen substantiellen Leben gar nicht zum Aufhören
der idealistischen Tendenz führen.

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Das Durchschauen der Idealität der Ideale kann nur dann zur anti-idea-
listischen Haltung führen (die Libertinage der Moderne), wenn „Ideale“
traditionale und nicht mehr lebendige sind.
| ‹leere Seite› 28
I. | Mundane Theorie der endlichen Erkenntnis 29
1. Interne-gnoseologische Analyse der Erkenntnis.
2. Externe-ontologische Analyse der Erkenntnis

II. Transzendentale Theorie der Erkenntnis (Theorie der produkti-
ven Erkenntnis).
*
Problematisch Modalitäten,
Assertorisch = Dignitäten der Erkenntnis
Apodiktisch (Gewißheitsgrade)
Möglichkeit als Bestimmungen des Seienden in Relativität auf
Wirklichkeit Erkenntnis, d. h. Charaktere der Offenbarkeit des
Notwendigkeit Seienden; des “੕Ȟ ૵ȢਕȜȘșȑȢ”.
__
Apodiktizität also kein ontologischer Titel, sondern ein erkenntnisrelativ-
ontischer.
| Dagegen ontologische (resp. kosmologische) Begriffe sind die folgen- 30
den:
I. Zufälligkeit und Notwendigkeit: dieses Begriffspaars zielt auf den onto-
logischen Unterschied von zufälligem (nichtwesensmäßigem) Seienden
und dem Wesensstil des Seienden. (ὄν ὧς συμβεβηκός und οὐσία).
II. 1. Dasein (Faktizität)
2. Notwendigkeit
Alles weltliche Seiende ist. Das Sein des weltlich Seienden ist einfach da.
Daß Seiendes ist, hat zunächst keine einsichtige Notwendigkeit. Das Sein des
| weltlich Seienden ist metaphysisch kontingent. Unableitbar, unbegründ- 31
bar!???!
In der Tradition hat allein „Gott“ das Prädikat des notwendigen Seins:
„ens necessarium“.

| ‹leere Seite› 32

| Welches ist die Struktur des „tautologischen“ Arguments der „Immanenz- 33


philosophie“? „Wir haben keine andere Welt als die in unserem Erfahren
erfahrene, vermeinte, bewährte“!! D. h., „wir haben keine andere Welt als
Gegenstand der Erkenntnis, als die wir erkennen.“ Die Tautologie wird

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aber immer so ausgelegt: „es gibt keine andere Welt als die erkannte; denn
von einer solchen können wir nichts wissen.“ Die Existenz einer erkennt-
nisirrelativen Welt ist aber weder auszuweisen noch sinnvoll zu denken.
34 | ‹leere Seite›

35 | Terminologische Unterscheidung zwischen Gnoseologie und Ontologie


der Erkenntnis: die Gnoseologie ist die interne Analyse der Erkenntnis.
Setzt Faktizität der Erkenntnis voraus als ontologisch unbegriffene, deckt
lediglich verborgene Dimensionen der Erkenntnis auf. Z. B.. die „Naivität“
im gnoseologischen Verstande besteht in der Fixiertheit auf die thematischen
Einheiten (die Terminative). Dieser Naivität gegenüber entdeckt die gnoseo-
logische Analyse die mannigfachen Systeme subjektiver Gegebenheitswei-
sen, Erscheinungsweisen, Abschattungen, Identifizierungen, Bewährungen
usw. –
36 | Die gnoseologische Analytik deckt also das wesensmäßige Korrelativ-
system auf, in dem „Einheiten“ (Seiendes im Modus der subjektiven
Erkanntheit) allein auftreten können; die Gnoseologie verschafft damit die
Wesenseinsicht in den strukturellen Zusammenhang von Mannigfaltigkeit
und Einheit.
Dieser korrelative Zusammenhang aber ist eine Wesensnotwendigkeit
bedingter Art. D. h., er ist notwendig, wenn Erkenntnis statt hat.
Das Korrelativsystem der Erkenntnis ist nicht selbst metaphysisch
„notwendig“, sondern ist notwendig (im Sinne von wesensmäßig), wenn
und nur
37 | wenn Erkenntnis geschieht. Das „System“ ist die Bedingung der Möglich-
keit der Erkenntnis.
*
Das Problem der „Geschichte“ in der Phänomenologie?
Die gegenwärtige Problematik der Geschichte ist durch die Abwendung
von der wissenschaftstheoretischen Frage nach Methode und Dignität der
Geschichtserkenntnis bestimmt und geleitet von der Frage nach dem Sein der
Geschichte selbst. „Geschichte“ als Sein des Menschen; also Wandlung des
wissenschaftstheoretisch-erkenntnistheoretischen Ansatzes zum onto-
38 | logischen Ansatz.
Die ontologische Fragestellung geht aus von der Situation des geschicht-
lichen Seins in der Welt. „Geschichtliche Existenz“ ist zunächst gruppen-
mäßig.
Geschichtlichkeit als ontische Struktur des Lebens ist eine Weise der
realen Situation, in der das Philosophieren einsetzt.
Die Situation überhaupt ist gegliedert in die Individualsituation und die
prädeterminativen Allgemeinmomente: „ich, als organisches Wesen, gebun-

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den an das Bedürfnis- und Triebsystem, an die naturalen raumzeitlichen
„Stellen“ im Kosmos (Erde, Klima), an
| den generativen Charakter, an die Rasse, die Geschichte meiner Gruppe, 39
an Anlage, Temperament usw., an die soziale und geistesgeschichtliche
Situation, bin als Ich, als Individuum, als unzurückführbares einsames Wesen
im Tiefsten nur eingelassen in die über-ichlichen Prädeterminanzen und bin
im wahrsten Sinne nur „Ich“, d. h. der Selbstvollstrecker meines eigenen
Schicksals, der Verwirklicher oder Unterlassende meines kanonischen Wil-
lens als meines eigentlichen Selbst.”

| 4120 East 86th Street, N.Y. City USA5 47

4 Die Seitenfolge der von 40 bis 60 durchnummerierten Seiten ergibt sich aus der Umkehrung

des Heftes, der ersten Seite in der neuen Ausrichtung (40) entspricht somit die letzte des
Heftes. Dennoch scheint Fink auf einigen Seiten, den Seiten 47, 43 und 41, schon vorher
Gedanken notiert zu haben, da diese der ursprünglichen Seitenzählung entsprechen. Aus
diesem Grund werden diese Notizen hier vor den rückwärtig notierten wiedergegeben.
5 Die Adresse von Dorion Cairns 1934 und 1935; vgl. seine Briefe an Husserl vom 17. Januar

1934 und vom 3. Juni 1935 (Bw IV, S. 40 und 46).

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43 | Arb.6

41 I. | 1. Ontik: Seiendes
Vorwissenschaftliche Welt – ihr Begegnungsmodus.
Lehre vom Leben.
2. Ontologie: Wesen
3. Kosmologie: Welten

6 Wenn „Arb.“ in dieser Zeichnung „Arbeit“ bedeutet, entspricht dieses Thema möglicher-
weise dem, das in Husserls Entwurf (Finks Transkription oben, 6–7) eine Rolle spielt und über
das Fink selbst in eigenen Notizen Überlegungen anstellt (vgl. z. B. Z-XXIII Aa und 8, Z-XXV
35a, 161a und 170a).
7 Gehört diese gesamte, aus Kreisen aufgebaute Zeichnung zu dem oben auf derselben Seite

skizzierten Schema, geht es vielleicht erneut um die Rolle eines eigenen Lebens in der Welt, in
allgemeinerer Weise und in Verbindung mit anderen. Zudem zeigt die Kreis-Zeichnung eine
Orientierung, die um 90º gedreht ist. Dennoch könnten die beiden Zeichnungen zueinander
gehören, insofern sich ihre Themen auf dieselbe Situation beziehen: die mannigfaltige
binnenweltliche Existenz des Menschen.

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4. Pathos der endlichen Existenz.
II. Phänomenologie
a. Gegenstandskonstitution
b. Welt-Konstitution
c. Verendlichung

| 8III. Metaphysik9 ‹bricht ab› 40

I II
B. U. B.

III
U. B.

I – II – III

G V.

Ich Ich-G.

I. | 10Kosmologie 42
A. Ontik: Seiendes
‡ B. Ontologie: Wesen
C. Kosmologie: Welt
D. Wissen um die Weltgefangenheit: die Grenzsituation der natürli-
chen Einstellung
‡ ‹vertikal geschrieben:› Weltbefangenheit

8 Diese scheint die erste Notiz zu sein, die in das umgekehrte Heft eingetragen wurde. Wenn

man die folgenden Zeichnungen und Notizen beachtet, tauchen gewisse Interpretationsmög-
lichkeiten auf. „B“ könnte „Befangenheit“, „Binnenweltlichkeit“ oder, vielleicht am besten,
„Bewusstsein“ heißen, während sich „U.“ als „Urmodal“ oder möglicherweise „Ursprüng-
lich“ lesen ließe. „G.“ müsste „Gegenstand“ und „V.“ könnte „Verendlichung“ heißen.
9 Dieser letzte Punkt der Skizze wurde auf S. 40 in normaler Heftausrichtung geschrieben,

umgekehrt in Bezug auf die direkt darunter gegebene Zeichnung auf derselben Seite 40, was
darauf hinweist, dass der Punkt III. zuerst geschrieben wurde.
10 Es ist möglich, dass diese in umgekehrter Orientierung zu Bl. 40 und 41 geschriebene Skizze

die Elemente darstellt, die es erlauben, die vorhergehenden Zeichnungen zu interpretieren,


nämlich die drei Stadien in der phänomenologisch-interpretativen Systematik zu identifizie-
ren, nach der das menschliche Sein und Erfahren zuerst aus dem Konstitutionsprozess (von
I zu II), dann „metaphysisch“ (III) ausgelegt wird. Ein solches Auslegungsschema macht die
Notizen von 41 bis 59 verständlich. Ähnliche Schemata einer philosophischen Systematik
finden sich in weiteren Notizen Finks; vgl. Z-XI 25b, OH-III 19, XXV 101a und 156b, und
Z-XXIX 284a-285a.

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II. A. Reduktion
B. Konstitution
a. Gegenstandskonstitution (Husserl)
b. Welt-Konstitution
c. Selbst-Konstitution. Verendlichung.
III. Metaphysik (Theologie) (θεῖον)

44 | Urmodus = Wahrnehmung
(Eigentliche ‹Wahrnehmung› und Appräsentation)
Thematisch:

(Originäre und appräsentative) = Thematische Wahrnehmung


+ allgemeine Modifikation der Thematik = Wahrnehmungsfeld
I. M11 1, 2, 3, W (W) (((W)))12
I. M I. [(W)]

11Vielleicht „Intentionale Modifikation“ in drei Stufen?


12D. h. „Wahrnehmung“, und möglicherweise nach dem in 41 und 42 skizzierten Unterschied
von drei Stadien eines „Systems der Philosophie im Grundriss“ (50), das in den Notizen in
verschiedenen Gestaltungen dargestellt wird (vgl. Anm. 10 oben und u. a. Z-XI 10a und 25b,
Z-XIII 25a, und Z-XIV V/3a und /4a Nr. 5).

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| 45
‹Originalzeichnung›

‹bricht ab›

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46 |

Enthalt 13

48 | Pläne für 1935


1.„Zeit und Zeitigung“14
I. II.
2. Die phänomenologische Philosophie E. Husserls in der gegenwärtigen
Kritik II. (Phänomenologie und Lebensphilosophie), III. (Phänomenolo-
gie und Ontologie).15
3. Habilitationsschrift: Historisch-systematische Studien zur Lehre
vom „Welt“-Begriff.16
4. „Die Apologie des Lebens“ (Nietzsche-Interpretation).
5. „Theorie der Imagination“ („Vergegenwärtigung und Bild“ neu bearbei-
tet, zugleich ein Stück aus der „Ontologie der Erkenntnis“, die in die
Kosmologie gehört).17

13 Vgl. die Zeichnungen in Z-IX VII/6cund Z-XI 22a.Über “Enthalt” siehe Z-V VI/9a–

b;Z‑VII IX/1b,11a,XVII/15a,XVIII/5bund XXII/5a;Z-XIII 7aund XVIII/4a;Z-XIV II/2a–bund


VIII/2a;und Z-XV 50a.
14 Siehe „Einleitung des Herausgebers I“, Abschn. II.

15 Siehe „Einleitung des Herausgebers I“, Abschn. III und die Anmerkung zu Z-XI 25b, Nr. 5.

16 Siehe V-II.

17 Siehe die Anmerkung zu Z-XX 6a.

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6. „Die Bestimmung des Menschen“.18
7. „Confessionen“ (Buch der „Lebenserfahrung“).
8. | Ontologie des „Idealen“ („Staat“ – „Zahl“ – „Bedeutung“ – „Eidos“ – 49
„Kulturdinge“ – usw.).
9. Problem der „Interpretation“ (Urform: „Einfühlung“).
10. Analyse des „Selbstbewußtseins“, evtl. noch „Metaphysik des Selbst“
(Themalogische und egologische Prädikation).
11. Das ontische Argument in der pseudo-idealistischen („reflexions-philo-
sophisch“ räsonnierenden) These vom „Fürmichsein der Welt“.
12. „Interne“ und „externe“ Analytik. (Fundamentaler Unterschied!!!)
[Husserls ganze Lehre von der Reduktion fußt auf einer bloß inter-
nen intentionalen Analyse der Welthabe. Der metaphysische Sinn der
Erkenntnis bleibt unbestimmt.]
13. | “System der Philosophie im Grundriß“.19 50
14. Das Problem der „Einleitung“.

| ‹leere Seite› 51

| Die ontologische Unerreichbarkeit des Subjekts ist das Paradox der munda- 52
nen Philosophie.
In Kants Lehre von den „Paralogismen der reinen Vernunft“ ist die
naturalistische (substanzialistische) Unerreichbarkeit des „Ich“ das eigentli-
che Problem. Aber Kant entdeckt nicht die ontologische Unerreichbarkeit
der Subjektivität.
1. Fichtes, Schellings, Hegels Lehre von der Subjektivität!?
2. Die Innerlichkeitswendung der Romantik und Kierkegaards.
3. Die Welle der „geisteswissenschaftlich“ orientierten Philosophie (Dil-
they, Yorck).
4. Nietzsches Lehre vom „Leben“.
*
| Alles Seiende in der Welt ist, metaphysisch gesprochen, „durchgängig 53
bestimmt“ (Fichtes erste These in der „Bestimmung des Menschen“),20 d. h.
ist perfekt.
Perfektivität als Eigentümlichkeit des Seienden ist nicht beschränkt
auf verharrendes Seiende (auf Substanz), sondern auch alles Geschehen ist
perfekt. Nicht allein das an Regeln oder invariante Strukturen gebundene

18 Siehe die Anmerkung zu Z-XVIII 4a.


19 Siehe Z-XI 10a, Z-XIII 25a und Z-XIV im allgemeinen.
20 Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen. Erstes Buch, in: Fichte Werke,

hrsg. von I. H. Fichte, Bd. II Zur theoretischen Philosophie, Berlin 1971, S. 172: „Alles was
da ist, ist durchgängig bestimmt; es ist was es ist, und schlechthin nichts anderes.“

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Geschehen (naturale Geschehnisse), sondern auch das freie Geschehen
(Geschichte). Freies Geschehen ist freier Vollzug des geschehenden Seins.
Alle ontologischen Fassungen der „Freiheit im Menschen“ (des Lebens)
tragen zu kurz, treffen nur das ontologisierte, d. i. sich eingelassen habende
Subjekt, tragen also zu kurz.
*
54 | „Was ist der Mensch“? Die Antwort auf die Frage, was der Mensch ist,
beantwortet prinzipiell nicht das philosophische Problem des Menschen.
Jedes Seiende ist verstanden, wenn die Frage nach seinem Sein – idealiter
– beantwortet ist. Der Mensch ist mehr als ein Seiendes. Die spekulative
Tiefe des Wesens des Menschen überschreitet seine ontische Natur. Der
Mensch „ist“ mehr als er ist. Der Mensch ist das fragmentarische Seiende.
Seine fragmentarische Natur ist keine ontische Unvollendetheit. Das Sein des
Menschen ist metaphysisch die Eingestelltheit in das Sein,
55 | das Angenommenhaben der Seinsnatur durch die meontische Subjektivität.
Das Sein des Menschen: das ist das Thema der philosophischen Anthro-
pologie (Ontologie des Menschen). Das Wesen des Menschen überhaupt
(einbegreifend seine „transzendentale Lebenstiefe“ wie die daraus resultie-
rende Seinsnatur) ist Thema der Metaphysik des Menschen.
Die Frage: Was ist der Mensch?, steht in der Unbestimmtheit der
ontologisch oder metaphysisch gemeinten Fragestellung.
Schon die ontologische Frage ist mehr als bloß „regionale
56 | Ontologie“. Der Mensch läßt sich ontologisch nicht als „Gebiet“, sondern
allein als Weltwesen begreifen. (Interpretation von da aus‹:› Heideggers
Lehre vom Wesen des Menschen als „Weltentwurf“.)
Mit der phänomenologischen Reduktion wird der Mensch metaphysi-
sches Zentrum der Welt: als Stätte der Weltkonstitution, d. i. der Kosmogonie.

668 OH-II

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.
| 57
G‹egenstand›

Absolutes Leben
E21

X X

ego

C A B
x X x
| 58
X
X
M<ensch> = Natürliche Einstellung = Endlichkeit
Absolutes endlich (rezeptiv)
Subjekt menschlich (konstituiert)
1 2 3 4
2 3 4 5

m m
m m

m m

m m

21Vielleicht „Endlichkeit“ (vgl. S. 58), aber eher „Emanation“ wie auf S. 60 (vgl. Z-IV 19a,
Z-VII 5a und X/3a, Z-XI III/4b, Z-XIII 58a und Z-XV 38a-b und 105b).

OH-II 669

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.
59 |

M<ensch> S<eiendes>

G‹egenstand›

S<eiendes>

60 | Mensch – Seiendes – Welt


Selbstkonstitution – Gegenstandskonstitution – Welt
(Ver-Endlichung) (Mannigfaltigkeit – Einheit) (?)

Merkzettel:
1. Abnahme der Konstituiertheit, Temporalisiertheit, Individuiertheit

Natürliche Einstellung als die Peripherie der Emanation.


*
2. Anthropologie und die prädeterminierenden Strukturen wie Lebenssta-
dium, generativer Charakter usw.
3. Ontisch-ontologisch-kosmologische Einstellung –
Kant-Interpretation!!

670 OH-II

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.
OH-III

Beschreibung:
Der Umschlag dieses Oktavheftes zeigt den zunehmenden Mond über dem Meer.
Hauptelemente desselben Bildes sowie die Aufschrift: „ΛΑΘΕΒΙΩΣΑΣ“ finden sich
auch auf den Umschlägen von Z-XVIII und OH-IV, die deswegen aus demselben
zeitlichen Zusammenhang stammen. Der Umschlag trägt jedoch keine Datumsan-
gabe. Der Sinn des Themas „λάθε βιώσας“ wird in OH-IV 34 und Z-XXII 34–35
erklärt (vgl. auch Z-XI 4a und Z-XXVI 67b); zudem ist der Gedanke des abseitigen
Lebens das Thema der Aufzeichnungen: „Hütte im Oytal“ (vgl. Z-XXIII 8 und die
Anmerkung dazu sowie OH-VII 47–49).
Die Hälfte der Seiten des Büchleins ist unbeschrieben. Nach Notizen auf den ers-
ten 23 Seiten wurde das Heft umgedreht und neue Notizen wurden vom Ende her als
eine neue Reihe (24–31) verfasst.

Text:

| Der Begriff des „Dogmatismus“ in der Beurteilung Kants gegenüber der 1


traditionellen Metaphysik:
„Dogmatismus“ als Naivität der rationalistischen Metaphysik ist der
thematische Vollzug reiner, d. i. apriorischer Vernunfterkenntnisse vom
Seienden an sich. D. h., Dogmatismus ist das Verfahren der Metaphysik,
im blinden Vertrauen auf die Erkenntnisquellen des Apriori Thesen über
Seele, Welt und Gott aufzustellen. D. h. die traditionelle Metaphysik begrün-
dete sich nicht selbst, sie stellte nicht die Frage nach der Möglichkeit der
apriorischen Erkenntnisse. Die Kritik der reinen Vernunft als Kritik der
Erkenntnisquellen der Metaphysik ist Grundlegung der Möglich-
| keit der Metaphysik. (Vgl. Kants Begriff des „Transzendentalen“ und 2
die Unterscheidung von „metaphysischer Erörterung“ und „transzendenta-
ler Erörterung“.)
*
Wie hängt der Unterschied von (vorkantischer) „dogmatischer“ Metaphysik
und „kritischer“ Metaphysik (d. i. der „Transzendentalphilosophie“), der
in einer Hinsicht den Unterschied von unbegründeter (naiv den Erkenntnis-
quellen der Metaphysik vertrauender) Metaphysik und sich selbst (mit der
kritischen Untersuchung der metaphysischen Erkenntnisart) begründender

OH-III 671

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.
Metaphysik darstellt, zusammen mit dem Unterschied einer im regionalen
Apriori verbleibenden und einer darüber hinaus nach dem „Sein“ über-
3 | haupt fragenden Metaphysik????
Ist es nicht Kants metaphysische Entdeckung, daß „Sein“ überhaupt
Erscheinung, d. i. binnenweltlich ist?
Kant also der Metaphysiker, der den kosmologischen Horizont des Seins
freilegte, und damit die Metaphysik aus dem bisherigen Schwerpunkt der
Aprioriproblematik (vgl. den die abendländische Metaphysik durchziehen-
den Streit von Rationalismus und Empirismus!!!) heraushob und in die
umfassendere Problematik des „Seins“ überhaupt ausdrücklich einstellte.
Die vorkantische Metaphysik = Ideenmetaphysik, Kant = Seinsmetaphysik.
Allerdings Entwicklung der Ontologie
4 | zum Problem der Kosmologie.
*
Die Wandlung der metaphysische Frage von der Frage nach den Wesensallge-
meinheiten zur Frage nach dem „Sein“ vollzieht sich im Übergang von Plato
zu Aristoteles, von der vorkantischen rationalistischen Metaphysik zu Kant,
von Husserls (mundaner) „eidetischer“ Ontologie zu Heideggers Frage nach
dem Sein.
Die vorwiegende Orientierung der platonischen Seinsproblematik am
Was-Sein (den „Ideen“) schließt natürlich das Lebendig-sein der eigentlichen
Seinsfrage nicht aus. Bei Aristoteles ist diese nur zugespitzter. Aber auch
5 | er kommt zu keiner „metaphysischen Distanz“ zum Sein in der Frage nach
dem Ursprung des Seins.
Husserls Begriff der „Ontologie“ ist nicht der Ort seiner metaphysischen
These über das Sein. Der Terminus „Ontologie“ = Wesenslehre. Zudem
Ontologie = theoretische Erfassung des Wesens, d. i. Vergegenständlichung
des Wesens: „Ideation“!!!
Der intuitionistische (gegenstandstheoretische) Ansatz Hus-
serls ‹ist› nicht in der Wesensproblematik allein durch den Ansatz beim
Zugang zum Wesen dokumentiert, sondern vor allem in der „formalen
Ontologie“ durch die Gleichsetzung von Etwas = Gegenstand möglicher
Prädikation illustriert.
*
6 | Kants „Transzendentalphilosophie“ ist aus der Problematik der „Transzen-
dentalien“ her zu verstehen! „ens“, „unum“, „verum“, „bonum“. Bei Kant
der innere Zusammenhang der „Transzendentalien“ ausdrückliches Problem:
dies gilt vor allem für den Zusammenhang von ens und verum. Was hat
überhaupt das „verum“ in der Reihe der alle regionalen Allgemeinheiten
übersteigenden (transzendierenden) höchsten ontologischen Allgemeinhei-
ten zu suchen? Ist das Wahrsein des Seienden nicht etwas, was dem Seienden

672 OH-III

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.
selbst gar nicht zukommt, sondern das Getroffensein eines Seienden von
einer subjektiven zufälligen Erkenntnis bedeutet?
| Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Sein (existentia) und 7
dem Erkanntsein??? Aber meint das „verum“ das kontingente, dem Seienden
äußerlich bleibende Erkanntsein? Oder vielmehr einen notwendigen Zusam-
menhang von „Sein“ und „Seele“, von οὐσία und ψυχή!?? In der Tat! Das
„Transzendentale“ oder „Universale“ „verum“ bedeutet, daß im Wesen des
Seins selbst ein Bezug auf die „Seele“ liegt. Vgl. Aristoteles’ ὀν ὡς ἀληθές!!!
Kant entdeckt die eigentümliche Subjektsrelativität des Seins, die am
Leitbild der Erkanntheit eines Seienden (dem Gegenstand-Sein eines Seien-
den) nie gefasst
| werden kann. Die These von der im Wesen des Seins liegenden „Subjektsre- 8
lativität“ hat nichts zu tun mit einem landläufigen Subjektivismus, der die
seienden Dinge in subjektive Gebilde auflösen will.
Die innere Beziehung von Sein und verum (als „Transzendentale“) ist
das Problem des kantischen Begriffs der „Erscheinung“. „Erscheinung“ als
der in der Auswirkung des Problems des Zusammenhangs von ens und verum
gefundene Titel für das Seiende, sofern es in einer „kritischen“ Metaphysik
auftritt, ist mit Erscheinung als Gegenbegriff zu Wirklichkeit keinesfalls
zu verwechseln.
| „Erscheinung“ im naiven Sinne ist a) Anschein für dahinter verborge- 9
nes Seiendes, oder b) bloßer Sinnenschein, der ein Trugbild eines wirklich
Seienden ist, oder c) ein bloßes Vorstellungsding, ein Phantasiegebilde. Diese
Begriffe von „Erscheinung“ sind in verschiedener Weise Gegenbegriffe
gegen den Begriff des Seienden, des wirklich existierenden Dinges.
Kants These, daß die menschliche Erkenntnis sich nicht auf „Dinge an
sich“, sondern nur auf „Erscheinungen“ beziehe, ist keine Entwertung der
Seinsmächtigkeit der Dinge, also nicht eine ontologische Abwertung, eine
Gleichstellung mit „defizienten
| Modi“ des Wirklichseins, sondern ist vielmehr gerade die Kennzeichnung 10
der wirklichen Dinge, des Seienden selbst, als „Erscheinung“. Kants Lehre
von der „Erscheinung“ ist überhaupt nur auf dem Hintergrund des Problems
des Zusammenhangs von Sein (ens) und Offenbarkeit (verum) zu verste-
hen!!!
Im Begriff der „Erscheinung“ kommt eine lange Tradition des metaphy-
sischen Spiritualismus zur Vollendung: die Intelligibilität des Seins, die
Geistigkeit des Seins erwiesen durch den unlösbaren Zusammenhang von ens
und verum, „ταῶτο τὸ νοεῖν καὶ εἶναι“, „ens et verum convertuntur“!!!!
Der Begriff des „Dinges an sich“
| ist der Begriff eines Seienden, das nicht in dieser im Wesen des Seins 11
aufgedeckten „Subjektsrelativität“ steht, also ein Widerspruch auf dem Hin-
tergrund der kantischen metaphysischen Entdeckung des Zusammenhangs

OH-III 673

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.
von ens und verum! Das „Ding an sich“ nach der Entdeckung des Begriffs der
„Erscheinung“ ein Widerspruch in sich, ein Nichts, ein
„Noumenon im negativen Verstande“ (vgl. die Tafel des „Nichts“!)1.
Vor der Entdeckung des Begriffs der „Erscheinung“ ist das Ding an sich
das Seiende, von dem noch nicht offenbar ist, daß es allein im Umkreis des
Lebens möglich ist. – Die Interpretationsstreitigkeiten über das „Ding an
sich“ bei Kant
12 | beachten die Wandlung im Begriff des Dings an sich nicht; Kant hat
nicht zwei Begriffe vom Ding an sich, aber zwei Einstellungen oder besser
Perspektiven auf das Ding an sich, nämlich die vor und die nach der
Einführung und metaphysischen Exposition des Begriffs der „Erscheinung“.
*
Wichtige Frage: wie verhält sich Kants Lehre von der Subjektsrelativität
des Seins (des Seienden) [in Heideggers Terminologie: der „ontologische
Idealismus“!] zur kosmologischen Grundlegung? Also, wie die Problematik
des Begriffs der „Erscheinung“ zur Problematik in der „Transzendentalen
Dialektik“, also
13 | dem Problem der „Ideen“???
Hinweise:
1. das „Weltproblem“, als das Problem der „vollendeten Synthesis der
Reihe der Erscheinungen“, frägt nach der Weltganzheit über das Sei-
ende, als E r s c h e i n u n g verstanden, hinaus.
2. Das Problem der „Erscheinung“ verweist auf die Metaphysik des
Subjekts: die „Paralogismen der reinen Vernunft“ als die kritische
Metaphysik der „Seele“!!
3. „Welt“ nicht allein in der Außenwendung auf die alle binnenweltliche
Größe übersteigende nichtqualitative Größe der Welt, sondern als Zwi-
schenphänomen von Subjekt und Objekt schon begriffen???
14 | Erfordert nicht so eine Grundlegung der „Kosmologie“ neben der Weltganz-
heitsproblematik („kosmologische Ideen“ in der Kritik der reinen Vernunft)
notwendig eine Metaphysik der „Seele“, sofern „Welt“ weder ein „Außen“
noch ein „Innen“, sondern das Übergreifende ist?
Grundlegung der Kosmologie ist dann negativ auch die Ablehnung
der Ursprungsproblematik (Kritik der rationalen Theologie!!). Bei Kant in
theoretischer Form der „Tod Gottes“!! Also die „transzendentale Dialektik“
trägt zwar den Aufriß der überlieferten „metaphysica specialis“, aber hat
nicht drei getrennte Fragerich-
15 | tungen (Welt neben Seele und neben Gott!!). – Die im Begriff der
„Erscheinung“ vorbereitete „kosmologische“ Wendung Kants, in den kos-
mologischen Antinomien sich verdeutlichend, macht den Welthorizont des

1 Kant. KrV A292.

674 OH-III

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.
Seins und damit die Nichterkennbarkeit einer nichtweltlichen Seele und eines
nichtweltlichen Gottes offenbar. „Seele“ im christlichen Sinne und Gott sind,
weil nicht binnenweltlich, nicht „seiend“, keine möglichen Gegenstände
der Metaphysik.
Die „Restriktion auf den Zusammenhang der Erscheinungen“ ist die
Konsequenz der Einsicht in den notwendigen Zusammenhang von ens und
verum, und in die binnenweltliche Natur des Seins.
*
| Die Vergänglichkeit als das Wesen des Lebendigen? Im Gegensatz zum 16
unvergänglichen Naturstoff. Die „Materie“ als das Immerseiende, nie dem
Sein Entrinnenkönnende, Seinmüssende, das Leben aber nur zeitweilig „sei-
end“?
*
Terminologische Prägung:
1. Systemtheorie = Metaphysik der Philosophie. („System“ in der Philosophie
etwas anderes als in den positiven Wissenschaften. System in der Philosophie
= die Mehrdimensionalität der Wahrheiten: Architektonik der Wahrheitsebe-
nen.)
„Die einzige Gestalt, in der die Wahrheit existiert, kann allein das
wissenschaftliche System sein“.2
*
| Bedeutsame Stelle aus Meister Eckhart: „Als Ich in meiner ersten Ursache 17
stand, da hatte ich keinen Gott und war mein eigener Herr. Ich wollte nicht,
ich begehrte nicht; denn ich war reines Sein und Erkennen meiner selbst im
Genuß der Wahrheit; da wollte ich mich selber und wollte kein anderes Ding;
was ich wollte, das war ich, und was Ich war, das wollte ich, und hier stand ich
frei von Gott und von allen Dingen … Da wollte ich mich selber und erkannte
mich selber, diesen Menschen zu machen, und darum bin ich Ich und Ursache
Meiner selbst … Darum bin ich ungeboren, und nach meiner ungeborenen
Weise kann ich niemals sterben. Nach
| meiner ungeborenen Weise bin ich ewig gewesen, bin Ich jetzt 18
und ‹werde› ich ewig bleiben. In meiner Geburt wurden alle Dinge geboren
und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge; und hätte ich gewollt, ich
wäre nicht, und alle Dinge wären nicht; wäre Ich nicht, so wäre Gott auch
nicht. Ich bin die Ursache, daß Gott Gott ist. Wäre Ich nicht, so wäre Gott
nicht Gott“.3

2 Hegel, PhG, S. 12: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das

wissenschaftliche System derselben sein.“


3 Übersetzung von Fink; Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, Nr. 32, „Beati

pauperes spiritu, quia ipsorum est regnum coelorum“ (Matth. 5,3).

OH-III 675

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.
*
Terminologie: Statt Aporetik besser Problemtheorie!!
Z. B. „Zur Theorie des Weltbegriffs“ ist ein „problemtheoretischer Ver-
such“.
19 | Sehr wichtige Frage: Was bedeutet der Aufriß der „Architektonik der reinen
Vernunft“ bei Kant,4 der, eine Verwandlung des traditionalen Schemas der
Metaphysik, folgendes Schema zeigt:
I. Ontologie,
II. Physiologie (physica rationalis, u n d psychologia rationalis) der rei-
nen Vernunft,
III. Kosmologie,
IV. Theologie???
Kosmologie tritt hier nicht mehr neben rationale Psychologie und
rationale Theologie auf.
Ist es vielleicht schon so:
1. Ontologie,
2. Ontologie der Natur und der Seele,
3. Welthorizont aller Ontologie,
4. Theologie als nicht mundaner Teil der Metaphysik?
20 | Stecken nicht in Kants Begriff der „Erscheinung“ intuitionistische Motive??
Der Begriff der Erscheinung als Begriff für das Seiende, dessen Sein intel-
ligibel, d. i. subjektsrelativ ist. Der „oberste Grundsatz aller synthetischen
Urteile a priori“, der die Antwort auf die Frage, wie synthetische Urteile a
priori möglich seien, darstellt, – tritt doch in der intuitionistisch klingenden
Formel auf: „Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind auch
Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“.5 Aufgabe
der Kantauslegung ist es, diesen „obersten Grundsatz“ gegen den Verdacht
des Intuitionismus zu sichern!!!!
*
21 |*
Zum Problem einer ontologischen Bestimmung des Lebendigseins:
Husserls Ansatz ist von vornherein spiritualistisch, d. h. das Wesen des
Lebens ist Intentionalität; damit Rechtfertigung des Einsatzes beim bewuß-
ten Leben, das unbewußte Leben als Abwandlungsform.
Läßt sich aber das Wesen des Lebendigseins vom Bewußtsein aus verste-
hen, oder läßt sich vom Lebendigsein aus erst das Wesen des Bewußtseins
ontologisch begreifen???

22 | ‹leere Seite›

4 Kant, Architektonik, KrV A846–847, B874–875.


5 Kant, Oberster Grundsatz, KrV B197, A158.

676 OH-III

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.
| Nova: 23
1. Das pathische Weltbild
2. Problem der Kosmologie
3. Theorie des Selbstbewußtseins
4. Differenz von Gegenstand und ὄν.
5. Auffassung des Logischen
6. Meontik des Absoluten
7. Kant-Auffassung
8. Nietzsche-Auffassung
9. Hegel-Auffassung
10. Ontologie der Erkenntnis.

| 6Problem der „subjektivistisch-idealistischen“ Auflösbarkeit der Zeit? 24


Der Husserlsche „Intuitionismus“ (als das fragwürdige Moment in seiner
Philosophie) läßt sich auf die Formel bringen: Seiendes = Gegenstand.
Gegenstand = Einheit subjektiver Leistungen des Identifizierens und Bewäh-
rens. D. h. Seiendes = Gebilde des Subjekts. Die „ontologische“ These der
Husserlschen „Transzendentalphilosophie“: Seiendes ist prinzipiell Resultat
der seinskonstituierenden Leistungen der „transzendentalen Subjektivität“.
Seiendes (intuitionistisch als „Gegenstand“) ist auflösbar in ein System
subjektiver Leistungen. Aber ist auch die Zeit so auflösbar?? Wenn Zeit nur
| als Eigenzeit der Dinge (Dauer) gefasst wird, dann ist allerdings das „kor- 25
relationistische“ Konstitutionsschema anwendbar. Aber die konstituierenden
Leistungen haben doch selbst die Form der Zeit resp. der „Zeitigung“. Ist
das Subjekt als transzendental-konstituierendes (nicht das in die Weltzeit
eingesunkene menschliche Subjekt) immer noch an die Zeitlichkeit gebun-
den, ist Zeitlichsein die Form seines Lebens, also nicht etwas durch einen
Rückgang ins Transzendental-Subjektive Auflösbares? Liegt es aber nicht in
der inneren Konsequenz eines totalen subjektiven Idealismus (allerdings
| nicht eines naiven mundanen „subjektiven Idealismus“), daß das Subjekt 26
wirklich alles aus sich entläßt, auch die Zeit?? Gibt es eine rein-subjektive,
nicht schon von vornherein an die Form der Zeitlichkeit gebundene Konsti-
tution der Zeit? Oder zeigt sich immer doch auf dem letzten Grunde der sub-
jektivistischen-idealistischen Philosophie ein undurchdringliches ontisches
Prinzip (besser kosmisches Prinzip): Zeit als Horizont des Seins???
Oder aber kann der „Idealismus“ die Zeitlichkeit in der Weise der
Zeitigung gerade als das innerste Wesen des Geistes zeigen??? Die Schick-
salsfrage des „konstitutiven Idealismus“: wie verhält sich Zeit und Geist?

6 Es handelt sich hier um die ersten Notizen, die von der letzten Seite des umgekehrten Heftes

an begonnen wurden; siehe Beschreibung oben.

OH-III 677

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.
*
27 | Die Phänomenologie (in Husserls Durchführung) ist spekulativ als Theorie
der Reduktion, die über den begrenzten Bezirk der „gegenstandskonstitu-
tiven“ Phänomenologie hinaus zentrale Bedeutung hat. Aber die eigent-
lich thematische analytische Arbeit ist Phänomenologie der „Gegenstands-
konstitution“ (mit Einschluß der Übertragung „gegenstandskonstitutiver“
Methoden auf die angeschnittenen Probleme der „Weltkonstitution“ und
„Selbstkonstitution“). Ein Zeichen dieser Sachlage ist die durchgängige
Orientierung des Wesens des Lebens am „Subjekt als Bewußtsein“. Das
bedeutet einen transzendentalen „Dogmatismus
28 | der Egoität“, d. i. das Unvermögen, hinter die Individuiertheit des Lebens
zurückzufragen, und einen „Dogmatismus der Statik“ in der Erfassung des
„absoluten Lebens“, d. i. das stationäre Ausruhen in der zunächst (durch
die Reduktion) erschlossenen Dimension des Lebens, im „Bewußtsein“. Der
Vorwurf „Phänomenologie = Bewußtseinsphilosophie“ ‹hat› einiges Recht!!
Husserls „transzendentaler Ansatz“ bei dem „ego“ und seinen „cogitationes“
muß weiter entwickelt werden zum Begriff des „Geistes“. Hegel vollzieht
diese Entwicklung, aber in einer „ontologischen“ Weise. Husserl ist Hegel
überlegen durch die der Methode der Re-
29 | duktion zu dankende Integrität der „transzendentalen Methodik“, aber
unterlegen in der Entwicklung des Wesens des absoluten Lebens vom
„Bewußtsein“ zum „Geist“.
*
Das „Weltbewußtsein“: Weltraumweite des Lebens. Zunächst als „Stim-
mung“, als „Erfahrung“: Blick über Ebenen, Berge und weite Meere, in den
Wolkenhimmel, in die mondhelle Tiefe der Nacht.
*
Merknotiz:
1. Vergegenwärtigung und Wahrnehmung; Wahrnehmen als Zusammen-
stoß mit dem Seienden.
2. Verhältnis von Grundkonstitution und Fortkonstitution.
3. Wesen des Spiels ist nicht Phantasieleben, sondern Widerstandslosigkeit
des Lebens!
*
30 | Ein wichtiges Problem der Kantauslegung ist die Frage, ob Kant nicht in der
„transzendentalen Deduktion“ in einem eigenartigen „Zirkel“ steht, ähnlich
in seiner formellen Struktur dem „Zirkel in der Darstellung der phänomeno-
logischen Reduktion“. In den Prolegomena z. B. wird sehr deutlich, daß die
„transzendentale Deduktion“ von Raum und Zeit und Kategorien von der
apagogisch demonstrierten Voraussetzung ausgeht, daß wir nicht Dinge an
sich, sondern prinzipiell nur „Erscheinungen“ erkennen. Die „Restriktion“

678 OH-III

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.
der metaphysischen Problematik und des Seins auf Binnenweltlichkeit, diese
kosmologische Interpretation des Seins ist einmal das aus-
| drückliche Resultat, dann die (vorweggenommene) Voraussetzung der 31
„Deduktion“, die zu diesem Resultat führt.
*

OH-III 679

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OH-IV

Beschreibung:
Auf den Umschlag dieses Oktavheftes wurde ein zunehmender Mond (ohne Land-
schaft) gezeichnet, unter dem „Mosaik 1935 II“ notiert ist. Diese Aufschrift deutet
darauf hin, dass das Heft als Folge von OH-I, das als „Mosaik I“ bezeichnet wurde,
gedacht ist. Auf Blatt 43 ist schriftlich das Datum 20.III.35 vermerkt.

Text:

| Philosophieren ist eine Verwandlung des Lebens, der Griff des Lebens 1
nach sich selbst, die Vollstreckung der Eigenmächtigkeit der Existenz, die
Heimkehr ins Selbst. D. h., in der „Philosophie“ geschieht mit dem Leben
des Philosophierenden etwas. Gewiß ist Philosophie Wissen und als System
des Wissens „Wissenschaft“; aber die Kennzeichnung der Philosophie als
Wissenschaft zeigt gerade nicht den entscheidenden Lebenssinn der Philoso-
phie an.
Jedes Wissen und jede Wissenschaft verwandelt das in ihr lebende
Dasein, wandelt das Leben aus dem Zustand des Nichtwis-
| sens in den des Wissens. Das lebensmäßige Resultat dieser Wandlung ist der 2
Erkenntnisbesitz, das im-Wissen-Sein.
Diese „Wandlung“ ist eine allgemeine, d. i. formale Struktur, die erst ihr
Gewicht erhält, je nach dem Lebensinteresse an dem erworbenen Wissen.
Die Verwandlung des Lebens, die sich in der Philosophie vollzieht, ist
nicht mit der formalen (vom Nichtwissen zum Wissen gehenden) Wandlung
und der besonderen erkenntnisdignitiven Bedeutung derselben (als dem
Wissen, das alles besondere Wissen der „Wissenschaften“ fundiert) zu
charakterisieren, sondern hat eine
| tiefere Bedeutung: in der Philosophie beseitigt das Leben durch das eigen- 3
tümliche Wissen (kosmologisch-kosmogonischer Art) eine Verfassung seiner
selbst, die elementarer und weniger harmlos ist als der erkenntnismäßige
Zustand des „Nichtwissens“; das Leben beseitigt das Außer-sich-geraten-
Sein.1

1 Hier folgen drei leere Seiten.

OH-IV 681

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4 | Kritische Anmerkung zum Begriff der intentionalen Analytik:
in Husserls „Ideen“ wird die intentionale Auslegungsmethode als „Deskrip-
tion“ bezeichnet. Intentionalität ist aber nicht in einer „deskriptiven“
Methode wirklich zu fassen. Warum nicht?
1. Intentionalität nicht ein homogenes Feld von Seiendem, keine einfache
Thematik-Ebene. „Deskription“ aber ist ein „ein-ebeniges“ Prädizieren,
wie z. B. in der Botanik. Intentionalität ist nie vorgefundene Dinglichkeit.
Deskription ist Konstatieren („Protokollieren“).

5 | ‹leere Seite›

6 | Statt Husserls Begriff des „transzendentalen Zuschauers“ setze ich den


Begriff des „Zeugen“. Damit die Philosophie stärker als Lebensbewe-
gung charakterisiert. „Zuschauer“ klingt zu ausschließlich theoretisch.
Zeuge, Mitwisser, das Atmosphärische ähnlich wie im stoischen Begriff
der συνείδησις.2
*
In der Philosophie greift das Leben nach sich selbst, bemächtigt sich
seines entglittenen, durch den Weltsturz verhüllten Selbst, lebt aus der Tiefe
der eigenmächtigen Lebensvollstreckung.
*
Der Mensch: das ontologische Paradoxon.
„Lebensphilosophie“ und „Existenzphilosophie“ kämpfen gegen
einen Na-
7 | turalismus in der Bestimmung des Subjekts, aber sie überwinden prinzipiell
nicht den „Ontologismus“ und damit die Entstelltheit des Lebens.

„Leben“, „Selbst“, „Subjektivität“ sind ontologisch unerreichbare, d. h.
transzendentale Begriffe.
*
Die „paradoxe“ Auffassung des „Lebens“ in der traditionalen ontologisti-
schen Weise (mag sie auch noch so „antinaturalistisch“ sein), d. h. die
Auffassung des Lebens von seinen „Einlassungen“ her, ist nicht allein eine
theoretische Unzulänglichkeit, die allein für den Wissenschafter von Belang
ist, nein, ist eine Unzulänglichkeit des Lebens überhaupt.3

8 | Das metaphysische Wesen des Lebens, das durch die Bewegung des
Geistes erst erreichbar wird, ist Wille zum Sein. „Weltsturz“, „Untergang“,
„Emanation“ = Wille zum Sein. Ontoorexis.

2 Vgl. Z-XIX II/3b.


3 Hier folgen zwei leere Seiten.

682 OH-IV

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.
*
Zweierlei Konstitution: Ontogonie und Chronogonie!!
*
„Satz“? Verwahrung eines Wissens im Medium der Sprache!
Der Fehler der Husserlschen Analyse der „Bedeutungen“ ist der „Aktua-
lismus“, d. i. die Auffassung, als ob die Bedeutungen in der Sprache
außerhalb ihrer faktischen Realisierung im Sprechen auch aktuell beste-
hen würden.
*
| ‹leere Seite› 9

| Der Kampf gegen den „Idealismus“ ist heute allgemein. Der Idealismus wird 10
als Utopie demaskiert, als Versuch, der Realität auszuweichen.
1. Oberflächliche Kritik: Argumentatio ad hominem: a) religöse, b) sozio-
logische, c) psychologische, d) politische.
2. Kampf gegen „Primat des Geistes“. „Lebensphilosophie“, Existenzphi-
losophie, Theologie. Idealismus und Anthropologie.
3. Kampf gegen den Kulturbegriff des Geistes. Der Kampf gegen den
Idealismus als Symptom des Kampfes gegen die Kultur. Kulturkrise und
Heraufkunft des Chaos.
| Die Kritik des Zeitalters am Idealismus trifft nur sein Zerrbild: die illusio- 11
näre Hinterweltlerei des Pseudoidealismus.
Der Begriff des Geistes ist prinzipiell falsch gesehen. Geist als Kultur-
götze oder gar als Ordnungsprinzip.
Demgegenüber lehre ich den pathischen Begriff des Geistes: Geist als
dämonische Naturmacht. Ich leugne die praktische Vernunft. Ausrottung des
antik-christlichen Gedankens der „vernünftigen Lebensordnung“. Todfeind-
schaft dem Moralismus im idealistischen Gewande.
Kulturbegriff und Vitalbegriff des Geistes. – Verhältnis von Geist
| und Leben: Geist zunächst eine dämonische Weise des Lebens, d. i. eine 12
Leidenschaft. Geist als „Vermögen“, als statische Struktur des Menschen,
und Geist als Vollzugsform des Lebens. Geist: ein Trieb! Herkunft aus
dem Chaos.
Leben und Kultur, Chaos und Kosmos. Die Rangordnung, die der
kosmosbildende Trieb bestimmt und in die er sich selbst als oberster Wert
setzt. Vgl. das griechische Dasein als vom Vernunfttrieb besessenes und auch
von der Gefahr der Maßlosigkeit bedrohtes. Ausweg: Geist als Maß. Die
Erfahrung der Lebensferne und Lebenskühle der „Theoria“. (Mathematik!!)
Kultur als Bau des Lebens,
| als Gehäuse. Eine Kultur so lang echt, als der schöpferische Prozeß 13
fortdauert, d. h. das Leben in der Setzung der Werte verharrt. – Gefahr der

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Verkrustung einer Kultur, ihre Wandlungen. (Z. B. die Säkularisierung der
mittelalterlichen christlichen Kultur in die neuzeitlich-humanitäre!!!)
Kulturwandlungen als Normalität: Generationswandel.
Die gegenwärtige Kulturkrise geht tiefer. Keine Säkularisierung, son-
dern das Sterben eines Weltzeitalters: das Ende der antik-christlichen Kultur.
Signatur der Gegenwart: keine neuen Werte. Sondern Einsturz des
Kulturbodens. Dieser Ein-
14 | sturz ist die erste Phase der ungeheueren Revolution des Lebens, in der wir
uns befinden, an deren Anfang wir stehen. Dieser Einsturz zeigt das Gesicht
der Leugnung aller geistigen Werte, Flucht des Lebens in seine natürlichen
präkulturalen Bindungen.
D. h. Rückbildung des Lebens auf seine animalische-naturhafte Verfas-
sung. Abtragung des „ideologischen Überbaus“ der Kultur. Ökonomischer
und zoologischer Materialismus!!!!
Die große Wendung zum Leben, zum Menschen: der „Tod Gottes“. Wo
Gott, jetzt eine Leerstelle. Wo die Werte, jetzt Leerstellen. Die Fata Morgana
erlischt. „Die Wüste wächst,
15 | weh dem, der Wüsten birgt.“4
Die Krise der Kultur ist die Krise der Lebenstranszendenz der Werte;
d. h. der Einsturz des Himmels über der Erde, der Untergang einer Kultur-
welt.
Die Entdeckung der Lebensimmanenz der Werte: Nietzsches großes
Programm. Heute Nietzsche in den Händen der „letzten Menschen“, d. i.
der Rückgebildeten.
Der Einsturz des „idealischen Himmels“ über dem Leben (Religion,
Moral, Kunst, Wissenschaft usw.) wird heute nicht im Sinne Nietzsches
erlebt. Die Naivität des idealischen Lebens tausendmal besser als die Verwüs-
tung des Lebens, die „Ideallosigkeit“
16 | des Heute. Trotzdem ist für die Philosophen diese Verwüstung als erste
destruktive Phase der Erneuerung des Lebens wertvoll.
Die auf der Lebenstranszendenz der Werte, d. i. auf der Naivität beru-
hende Kultur hat ihr Unvermögen, die Menschen zu halten, gezeigt. Damit
die tiefe Inadäquatheit von Kultur und Leben explosiv demonstriert. Also
kein „Konservativismus“!! Dies nur „retardierendes Moment“, das einen
notwendigen Prozeß aufhält.
Das Zerbrechen der Lebenstranszendenz der Werte und des Kulturbo-
dens ist nur negativ, ist –
17 | noch keine Ausweisung der Lebensimmanenz. Denn die Rede vom Ort des
Wertens im Menschen sagt nur, daß der Mensch das Subjekt der Werthaltung

4 Nietzsche, Zarathustra, 4. und letzter Teil, Unter Töchtern der Wüste, S. 2. (Schlechta-

Ausgabe Bd. II, S. 540).

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ist. Das ist er auch im strengsten Objektivismus. [Vgl. die Subjektivität
der Erfahrung ist ein Befund, von dem Idealismus und Realismus (im
erkenntnistheoretischen Sinne) ausgehen.] Die „topische Reflexion“ ist
also unfruchtbar.5

| Kantinterpretation: 18
Hauptthese: die „Kritik der reinen Vernunft“ ist die Grundlegung der
Kosmologie. „Vernunft“ ist das Vermögen der „Ideen“; „Ideen“ sind die
„Vorstellungen der vollendeten Synthesis der Reihe der Erscheinungen“. Die
„vollendete Synthesis der Reihe der Erscheinungen“ ist die Welt.
Vernunft als der Inbegriff von „Sinnlichkeit“ und „Verstand“. „Sinnlich-
keit“ und „Verstand“ als binnenvernünftige Vermögen, d. h. Vernunft nicht
die Synthese von Sinnlichkeit und Verstand. Sinnlichkeit und Verstand in
ihrer „apriorischen Gesetzgebung“ die das Seiende (in seinem ontologischen
Stil) ermög-
| lichende Funktion der Vernunft. Seiendes ist prinzipiell Binnenweltliches. 19
Vernunft als Vermögen der „Ideen“ ist die apriorische Ermöglichung des
universalen Enthaltes aller „Erscheinungen“, d. i. alles Seienden, d. i. Binnen-
weltlichen.
Dem Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand einerseits und der Ver-
nunft andererseits „entspricht“ das Verhältnis von Seiendem und Welt.6

| Kritisches zum Begriff der „formalen Ontologie“: 20


Der Begriff der „formalen Ontologie“ bei Husserl ist streng genommen kein
ontologischer, sondern ein gegenstandstheoretischer. Der Begriff des „ens in
commune“ der traditionalen „metaphysica generalis“ ist die Formalisierung
der Substanz. Die Formalisierung, die zum „Etwas überhaupt“ führt, ist die
Formalisierung des Gegenstandes, des „objectum“ in der Terminologie der
Scholastik. Der korrelativistische Ansatz Husserls, der in der Gleichsetzung
von Seiendem und Gegenstand besteht, läßt gar nicht das Problem des
ontologischen Begriffs des „Seienden“ wirklich auf-
| kommen. Husserls „Korrelativismus“ schon in den Logischen Untersuchun- 21
gen, in welchen der Begriff des Gegenstandes und des Seienden synonym
gebraucht wird. Seiendes = das Korrelat „selbstgebender“ Akte.
Offene Problematik: Ontologie der Gegenständlichkeit; Gegenstand als
das Getroffensein eines Seienden vom erkennenden Bezug. „Gegenstand“
prinzipiell Seiendes im Sinn.

5 Hier folgen zwei leere Seiten.


6 Hier folgen zwei leere Seiten.

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Hat der Begriff des Seienden (also nicht des Gegenstandes!) überhaupt
einen philosophischen Sinn??? Gewiß: aber der Zugang dazu setzt voraus die
Ontologie der
22 | Erkenntnis: also die Gnoseologie u n d ihre ontologische Interpretation.
(Vgl. das Schema:
Mundane Erkenntnistheorie:
I. Interne Analytik (Gnoseologie),
II. Externe Analytik (Ontologie der Erkenntnis).)
Das Problem der Intelligibilität des Seienden: die Trennung von Gegenstand
und Seiendem!!!
Vgl. Aristoteles: ὄν ὡς ἀληθές.
Seiendes im Horizont der Erfahrbarkeit, d. h. Seiendes grundsätz-
lich intelligibel.
*
Problem: 1) der ontische (korrelativistische) „Subjektivismus”
23 | (Seiendes = Gegenstand); 2) der „apriorische“ „Subjektivismus“ (die
Gegenständlichkeit der Gegenstände ist subjektiv).

24 | Wichtige Stellen für die Kantinterpretation („Kritik der reinen Vernunft“ =


Grundlegung der Kosmologie) u. a. die kantische Lehre von der Erscheinung
(im Zusammenhang mit der Frage nach der Möglichkeit der Intelligibilität
des Seienden); ferner die Lehre vom vierfachen „Nichts“, von dem her
das „Seiende“ verstanden werden kann. Vierfache Bedeutung von „Seien-
dem“ analog???;
ferner Kants Lehre vom „bloß Vorgestellten“ (vom Gedachten).

25 | ‹leere Seite›

26 | Problem des Zusammenhangs von ὀν ὡς ἀληθές und dem (kantischen)


Begriff von „Erscheinung“. Erscheinung = das Seiende für uns (nicht
im aktuellen Für-uns-sein, sondern im prinzipiellen). Ist mit dem Begriff
der „Erscheinung“ schon die Intelligibilität des Seienden von vornhe-
rein gesetzt??
Der Begriff der „Erscheinung“ (als das „Seiende – prinzipiell für
uns“) ist verschieden von dem intuitionistischen (gegenstandstheoretischen)
Begriff des „Seienden“.
Kants Begriff der „Erscheinung“ ist ontologisch, setzt eine metaphysi-
sche Bezogenheit des Seienden
27 | auf die Subjektivität an, keine bloß gnoseologische.
Die „gnoseologische Relativität“ ist die s. z. s. analytisch im Wesen des
Erkennens beschlossene: das Erkannte ist relativ auf das Erkennen!!

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Die gnoseologische „Relativität“ ist, strenggenommen, diesseits von
Idealismus und Realismus. Sie ist in der internen Analyse der Erkenntnis
aufzuweisen, also auf dem Boden der ontologischen Unbestimmtheit des
Wesens der Erkenntnis.
Der Idealismus und Realismus muß die gnoseologische Relativität aner-
kennen.
Das Problem der Ontologie der Erkenntnis entsteht erst,
| wenn nach dem Verhältnis von Seiendem und Gegenstand gefragt wird. 28
Typische Lösungsformen z. B. 1) Leugnung des Unterschiedes von
Seiendem und Gegenstand, positiv gewendet: die Gleichsetzung von Gegen-
stand und Seiendem: Intuitionismus, „Reflexionsphilosophie“; H u s s e r l s
Position, allerdings noch in der Zweideutigkeit mundaner und „transzenden-
taler“ Relevanz. Husserls gegenstandstheoretischer Ansatz führt zu einer
Überspringung der Wirklichkeit, der „Gegenstand“ (also schon das Für-ein-
Subjekt-sein eines Seienden) das ontologische Paradigma. Husserls An-
| satz durch den Primat der aktmäßigen-gegenständlichgerichteten Intentio- 29
nalität determiniert (Ausgang von Brentano!?). Husserls große Leistung
aber hier der Kampf gegen die Verdoppelung der wirklichen Dinge; die
Erkenntnis, daß hinter den Gegenständen keine von ihnen verdeckten Seien-
den stehen, führte zur Eliminierung des Seienden überhaupt, und damit im
Gefolge zur pseudo-ontischen Auffassung des „Gegenstandes“.7

| Die Grenze der ontologischen (d. i. Sein verstehenden) Philosophie liegt in 30


der Unmöglichkeit, die Situation des In-Mitten-Seins im Sein zu übersprin-
gen. Abstandslos s. z. s. „von innen“ frägt die Ontologie nach dem Sein.

| Inwiefern ist „Wirklichkeit“ ein Weltbegriff, also keine Bestimmung von 31


Seiendem, sondern von Welt??
Kants Ansatz beim Leitfaden der Modalitäten der Urteile äußerst frag-
würdig.
Wirklichkeit nicht auf Ausweisungen, etwa das „Widerstandserlebnis“
(Dilthey) oder auf das „Betroffensein“ (N. Hartmann) oder auf Modalitäten
der erfahrenden Erkenntnis (Husserl) zurückführbar. Das „Im-Sein-sein“
als Situation aller Frage nach Seiendem ist als „Sein in der Welt“ ein
„Inmittensein in der Wirklichkeit“.
Wirklichkeit keine Bestimmung einer Seite (oder beider Seiten) der
Subjekt-Objekt-Relation, sondern immer schon übergreifend da, wenn die
Relation statt hat.

7 Hier folgen sieben leere Seiten.

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.
*
32 | Ist Sein (im Sinne von Wirklichkeit) überhaupt erkennbar? Oder ist alles
Erkennen schon im Sein? Sind erkennbar Gegenstände, d. i. bestimmte
Seiende, aber nicht das Sein, die Wirklichkeit?? Stehen wir überhaupt jemals
jenseits des Seins? Haben wir jemals Abstand zum Sein? Ist „Erfahrung des
Seins“ überhaupt gar keine gegenständliche Erkenntnis, sondern nur eine
Weise des Wachseins? Wenn ja – ist dann das Selbstbewußtsein (obwohl
gemeinhin immer am Vorbild der thematischen Erkenntnis interpretiert) als
Wachsein der primäre Zugang zum Sein?? (Vgl. Descartes’ Versuch der
Grundlegung der Metaphysik!!!)
*
33 | Das „Inmittensein“ des Lebens im Kreise des Seienden nicht allein bestimmt
durch die „Befindlichkeiten“, in denen sich die drohende Übermächtigkeit
des Seienden offenbart.
„Glanz und Glück ferner Meere“, „leuchtende Firnen und rauschende
Wälder“, die „tiefe Lust der Weltandacht“, „Wolken und Wind“ und die
„Seligkeiten der Einsamkeit“ und die „Innigkeiten der blutsverwandten und
erotischen Liebe“.
Realismus: auf dem Lebenshintergrunde des weltoffenen, leidenschaft-
lichen Lebensvollzugs.
Ontischer Realismus, „Meontischer Idealismus“.
*
34 |*
Das Problem des Enthusiasmus: das Leben in der Mächtigkeit des notwendi-
gen Lebensvollzugs. Enthusiasmus = Leidenschaft.
*
Λάθε βιώσας: nicht allein das „Pathos der Distanz“,8 die Verborgenheit des
wesentlichen Lebens gegenüber der Menge, das Sichheraushalten aus ihren
Werten, Ehren und Meinungen, nicht allein also das negative Erlebnis der
Einsamkeit, sondern das einsame Leben als Leben auf sich selbst zu, das
Leben in der Werkgesinnung des Schaffenden, aber nicht als Gefangenschaft
im Selbst, sondern als einsames, sich im Werk vollendendes Selbstsein auf
dem Grunde der Offenheit für das Geheimnis der Welt.
*
35 | Der Lebensverfall der gegenwärtigen Kulturkrise (des „Sklavenauf-
standes“) führt zu der furchtbaren Tatsache der materiellen Verelendung der
Eliten. Die Eliten früher immer im selbstverständlichen Besitz der materiel-
len Grundlagen des Lebens (z. B. die antiken Philosophen?); höhere Kultur
(oder besser höheres Menschentum) hatte zur Voraussetzung eine gewisse
Sekurität des äußeren Lebens. Muße als Bedingung des freien Schöpfertums.

8 Vgl. Z-XI 4a.

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Heute die Eliten durch den Sklavenaufstand in ihren materiellen Lebens-
voraussetzungen bedroht. Die Eliten im Exil! Das Menschenwesen wird
nicht mehr von den „enthusiastischen“, d. i. großen Möglichkeiten des
Menschseins geführt, sondern von der Masse.
| Das Problem des Verstehens eines Philosophems: kann man über- 36
haupt z. B. Hegel verstehen, solange man seine These vom „Weltgeist“ als
dem wahren Subjekt des Philosophierens eben als These eines Menschen
nimmt? Ist eine „Doxographie“ dem Philosophieren gegenüber überhaupt
zulässig? Liegt nicht in einer noch so „getreu referierenden“ philosophie-
geschichtlichen Betrachtung die Voraussetzung von der anthropologischen
Erreichbarkeit des Philosophierens, also von der Möglichkeit, jenes im
weltlich-geläufigen Vokabular aussprechen zu können?
These: das anthropologische doxographische Referat über ein Philoso-
phem ist bereits schon eine implizite These der Metaphysik des Philosophie-
rens.
*
| Die „existenziale Fassung“ des Weltbegriffs ist vielleicht doch mehr als 37
eine (intuitionistisch-pseudoidealistische) metaphysische Fassung der geis-
teswissenschaftlichen Rede von „Welt“. Der Begriff der „Transzendenz“ (als
geworfener Weltentwurf) ist die subjektivistische Interpretation der „Welt-
lichkeit des Lebens“. D. h. das Pathos der Diesseitigkeit, die Entschlossen-
heit zur Erde, zu diesem einmaligen vergänglichen Leben, der „Erdenkopf
des Menschen“ (vgl. Nietzsches These vom „Tode Gottes“.)
Das Pathos der Weltlichkeit des Lebens ein Moment der Weltbefangen-
heit: nämlich die Erfahrung der Gebanntheit im Sein.
*
| Heideggers Welt-Begriff orientiert am geisteswissenschaftlichen Weltbe- 38
griff, der eine Metapher ist. Damit ein mundaner Subjektivismus hinsichtlich
der Welt möglich.

| Wie in der Philosophie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein 39
unkritischer methodologischer Primat des naturwissenschaftlichen Denkens
vorherrschte, so ist in der gegenwärtigen Philosophie eine Orientierung
der Philosophie an der Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften unver-
kennbar: also methodisches Vorbild einer endlichen Form des Wissens.
„Verstehen“ als Organon der Philosophie; Philosophieren als Selbstverstän-
digung des Lebens! „Leben“ geisteswissenschaftlich, d. i. vom Phänomen
der Bedeutsamkeit her gefaßt.

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.
40 | ‹leere Seite›

41 | Selbstmacht des Lebens: dies das Ziel der Philosophie. „Selbstmächtigkeit“


aber kein objektiver Wert, sondern ein solcher, der schon durch das Selbst
des philosophierenden Menschen vorentschieden ist. Dies die existenzielle
Interpretation des Philosophierens. Doch diese „existenzielle Interpretation“
erreicht nicht das eigentliche Wesen der Philosophie, ist nur ein Teil der
Metaphysik der Philosophie.

42 | Nietzsches Idee der „Unschuld des Werdens“9 als Formulierung der


Einsicht in den Lebensursprung der Werte.
*
Das Leben in der Schwebe von „Unbewegtheit“ und „Enthusiasmus“. Der
„Enthusiasmus“ als die bewegte Selbstvollstreckungsform des Lebens.
„Fanatismus“ (oder „Idealismus“ im landläufigen Sinne) als „blinde
Größe des Lebens“, als eine Weise des Enthusiasmus.10
*
Dämonischer Lebensvollzug ist das Leben in der unbedingten Gebundenheit
an sein eigenes Gesetz: „Schild der Notwendigkeit …“11 „amor fati“!12
*
43 | Gespräch mit Landgrebe am 20.III.35:13
1. Methodenlehre als Teil der Metaphysik der Philosophie.
2. Welcher Art ist das phänomenologische Erkennen, rezeptiv oder produk-
tiv? Keines von beidem. Erkennen von Meontischem!!
3. Gegen den „Mystizismus“, der das Absolute als „Nichts“ bestimmt, in
der „via negationis“. Das Absolute = das ontogonische Werden, dessen
Pole „Sein“ und „Nichts“ sind.
4. Hegels Ansatz in der „Logik“.
5. Die „absolute Dimension“ = überhaupt kein Seinsfeld, sondern der
Distanzhorizont des Seins. (Die „ontologische Distanz“) Leben = Seins-
schöpfung!!!
6. Problem der „Selbstkonstitution“.
7. Begriff des „Theoretischen“. „Transzendentaler Zuschauer“ = Zeuge.

9 Götzendämmerung, „Die vier großen Irrtümer“, 8.


10 Vgl. Fink, Vom Wesen des Enthusiasmus, Essen 1947, 3. Abschnitt.
11 Vgl. Nietzsche, Dionysos-Dithyramben, „Ruhm und Ewigkeit“, 4. Abschn.

12 Vgl. Ecce Homo,Warum ich so klug bin, Abschnitt 10 (Schlechta-Ausgabe, Bd. II, S. 1098).

13 Weil diese Seite gut zur Notiz Z-XIX II/3a passt (das Datum ist das gleiche), ist deutlich,

dass Finks Durchstreichung nicht unbedingt die Ungültigkeit des Gestrichenen bedeutet.

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.
| „Die Kraft des Geistes ist nur so groß als seine Äußerung …“14 dieser 44
Satz Hegels enthält das Pathos der Spannungen: das Leben in den furchtbars-
ten Gegensätzen.
*

Die dreifache Schichtung des Menschen: 1) sein naturhaftes Sein, 2) sein


historisches, 3) sein individuelles.
1. Der ewige = immerseiende Mensch: Triebsystem und Bedürfnissystem
(z. B. Sexualität als „allgemeine Determinante“).
2. Z. B. der gegenwärtige europäische Mensch in der gegenwärtigen Kul-
tursituation.
3. Z. B. der endliche Mensch, dessen Korrelat sein „Werk“ ist; Einsamkeit
als Aufdeckung der „Individualität“.

14 Hegel, PhG., „Vorrede“, S. 15: „Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Äußerung,
seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren
getraut.“

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OH-V

Beschreibung:
Dieses Oktavheft ohne Aufschrift trägt das Datum: „1935“. Da es Notizen zu dem
Dessauer Vortrag enthält (vgl. 18 und 27, dazu auch 2, 8 und 10), ist es vor Dezember
1935 niedergeschrieben worden (vgl. Z-XVI). Das zwischen 35 und 36 eingescho-
bene Kalenderblatt, das hier als Blatt „A“ genannt wird, trägt übrigens das Datum:
„30. August 1935“.
Es ist durchaus möglich, dass die Notizen 18–48 (die von den letzten Seiten des
umgekehrten Hefts an geschrieben wurden) zuerst und die Notizen 1–17 später ver-
fasst wurden. Notiz 2 scheint die Identifikation des Vortrags vorwegzunehmen, der
in 27 erwähnt ist. Der Titel in 27 wurde jedoch gestrichen, indem der endgültige
etwas anders formuliert wurde (ND, S. 7), nämlich als: „Die Idee der Transzenden-
talphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“. Die Textstellen in 8 und 10
sind der veröffenlichten Fassung (resp. ND, S. 7 und 7f.) sehr ähnlich.
Die Notizen 29–36 stellen einen Entwurf der Schlusssätze für Husserls Prager
Vortrag dar, der in 9 genannt wird: „Die Psychologie in der Krise der Wissenschaft“
(vgl. Hua XXIX, „Einleitung des Herausgebers“, S. XXII, Anm. 6, und S. 137–139).
Husserl hat diesen Vorschlag angenommen und vorgetragen. Zunächst schien das
Thema des Prager Vortragszyklus die „Humanität“ (vgl. Z-XVIII 3 und Reihe V,
und M-III, Nr. 7, 12) zu sein, deren „Krise“ hier analysiert und erläutert werden sollte.
Als „Krise der europäischen Menschheit“ war aber diese schon Thema von Husserls
Wiener Vortrag (gehalten am 7. und 10. Mai 1935), – ein Thema, das für Prag wei-
terentwickelt und dort behandelt werden sollte. Der endgültige Titel des am 14.
und 15. November in Prag gehaltenen Vortragszyklus lautete: „Die Krisis der europä-
ischen Wissenschaften und die Psychologie“. Vgl. HChr, S. 469 und Hua XXIX,
„Einleitung des Herausgebers“, S. XIX–XXII.

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.
Text:
1 1. | Destruktion der idealistisch verabsolutierten Apodiktizität des
„Ich bin“.
*
2. Analyse des Spieles.
*
3. Nietzsches „Optik des Lebens“ ist weltliche Reduktion auf das inte-
grale Leben.
*
4. Die Selbstverdeckung oder Vermummung des Lebens.
– Das Sichüberschlagen im Entwurf von „Idealen“.
*
5. Die Grundlage der „heraklitischen“ These von der Scheinbarkeit des
„Seins“ und der Flüchtigkeit alles Wirklichen ist die vor dieser spekula-
tiven Interpre-
2 | tation / naiv vollzogene Erfahrung von verharrendem und bewegen-
dem Seienden
*

_________________________________________________

Anfangssätze:

Das im Titel angekündigte Thema des Vortrags ist die Kennzeichnung der
Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie.
Das leitende Absehen ist die Herausstellung der prinzipiellen Eigenart des
philosophischen Fragens in der Phänomenologie durch die Abhebung gegen
die Philosophie Kants.

3 | „Theorie der Imagination“:1


1. Teil: Die Aktanalyse unter der thematischen Bevorzugung des Schemas
der Vergegenwärtigungsintentionalität (interne Analyse).
2. Teil: Externe Analyse: Das Wesen der Imagination. Das Ganze des
Lebens und die Rolle der Phantasie.
3. Teil: Ontologische Probleme: Intelligibilität des Seins.

1 Siehe die Anmerkung zu Z-XX 6a.

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_________________________________________________

Analyse des Spieles und des Fanatismus.


*
Philosophische „Apologie des Lebens“.
*
| ‹leere Seite› 4

| Der „reflexionsphilosophische“ Ansatz Husserls argumentiert zumeist so: 5


das Seiende ist Seiendes als gegebenes in der Erfahrung. Äquivalenz von
Seiendem und Gegenstand.
Die Äquivalenz verschiebt gerade das ontologische Problem.

| ‹leere Seite› 6

| Gegen-Thesen: 7
1. Gegen die Auffassung der Transzendentalphilosophie als „Subjektivis-
mus“: „transzendentale Subjektivität“ ist ein Unbegriff. Transzenden-
tale Forschung ist die Frage nach dem Sein, die alle ontischen Weisen
des Fragens übersteigt.
Die Transzendentalphilosophie ist keine Immanenzphilosophie. Ihre
heimliche Gefahr: die „Reflexionsphilosophie“.
2. Kant und Deutscher Idealismus – sowie Husserls Phänomenologie
sind nicht durch den methodischen Stand unterschiedene Stufen der
„Transzendentalphilosophie“: Kants Philosophie als Grundlegung der
Kosmologie. Fichte-Hegel als die „Vollender des Geistes“.
*
| Die Aufgabe einer Darstellung der kantischen und phänomenologischen 8
Idee der Transzendentalphilosophie als mitphilosophierende Entfaltung ihrer
jeweiligen, dem natürlichen Denken fernliegenden Problematik und als
Herausarbeitung ihres zentralen Sinnes in seiner systematisch architektoni-
schen Ausprägung kann im enggespannten Rahmen eines Vortrags nicht
angegriffen, geschweige denn bewältigt werden. Hier handelt es sich um
ein weitaus Geringeres. Die folgenden Ausführungen sind durchgängig
geleitet von der Absicht, die grundsätzliche Weise des der Phänomenologie
eigentümlichen philosophierenden Fragens in Sicht zu bringen; ‹folgender
Satzteil durchgestrichen:› stellen also den Versuch einer Hinleitung zur
phänomenologischen Philosophie dar durch die skizzenhafte Verdeutlichung
ihres Problementwurfs.

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9 | [Entwurf für Schlußsätze von E. Husserls Vortrag: „Die Psychologie in der
Krise der Wissenschaft“]:2
Am Ende unserer Betrachtungen läßt sich der leitende Gedankenzug des
Vortrages in wenigen Sätzen zusammenfassen: die Krise der Wissenschaften
ist im Grunde allein eine Krise der Philosophie.

Das will sagen: sie unternehmen den Versuch, in der Eröffnung eines
Hinblicks auf die phänomenologische Frageweise eine Hinleitung zur phäno-
menologischen Philosophie selbst ‹zu sein›.

D. h. sie unternehmen den Versuch einer – wenn auch ganz vorläufigen


– Einleitung in die Phänomenologie in der Form einer Hinleitung zum
Verständnis des prinzipiellen phänomenologischen Problemansatzes.

10 | Mit dem Begriff der „Hinleitung“ aber ist vorweg ein Zweifaches gefordert:
1) die Bestimmung der Ausgangsbasis, des Standortes, von wo aus die
Hinleitung in Gang gesetzt werden soll, und 2) ein orientierender Vorblick
über die Richtung der zu bahnenden Hinleitung. Dabei ist Bedingung für
einen solchen orientierenden Vorblick ein Sich-orientieren an dem Ziel der
Hinleitung, ein Richtpunktnehmen.
Der Standort als die geistige Situation, in der wir stehen, hier und jetzt, ist
die Kantgesellschaft, nicht weil wir evtl. Mitglieder sind, sondern weil, wenn
eine solche Gesellschaft über einen vulgären Verein hinausgehen soll,
11 | ein Verhältnis unseres Daseins zur kantischen Philosophie damit gesetzt ist.
Aus der Situation der Kantgesellschaft als einem daseinsmäßigen Bestimmt-
sein unserer Gemeinschaft von Kant soll eine Hinleitung zur phänomenolo-
gischen Fragestellung ins Werk gesetzt werden. Der orientierende Vorblick
wählt den Richtpunkt an der „Idee der Transzendentalphilosophie“. Bezeich-
net nicht Kant seine theoretische Philosophie als Transzendentalphilosophie,
ebenso wie Husserl die Phänomenologie Transzendentalphilosophie nennt?
Ist somit die Idee der Transzendentalphilosophie nicht der geeignete direkte
Weg? Ist eine Hinleitung nicht offenbar dann am leichtesten, wenn in zwei
Systemen dieselben Grundbegriffe und Selbstinterpretationen auftreten?
Deutet nicht die Selbig-
12 | keit des Namens auf eine Selbigkeit der Sache? Und wenn selbst die
Sachen verschieden sein sollten, ist dann nicht der Aufweis der Verschie-
denheit gerade ein geeigneter Weg der Charakteristik? Was liegt also
näher, die Hinleitung zur phänomenologischen Fragestellung durchzuführen
als ‹eine› vergleichende Untersuchung der Idee der Transzendentalphiloso-
phie bei Kant und in der Phänomenologie?? Muß nicht Gemeinsamkeit und

2 Vgl. 29–36 und Beschreibung oben.

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Verschiedenheit der beiden Philosopheme am deutlichsten in die Augen
springen, wenn die jeweilige Selbstinterpretation und Selbstcharakteristik
als Transzendentalphilosophie verglichen, unterschieden, abgegrenzt und
bestimmt wird, also in einer getreuen Doxographie, die unvoreingenommen
die beiderseitigen
| Gemeinsamkeiten und die jeweiligen Differenzen herausstellt und so 13
beide Philosopheme durch die kontrastierende Abhebung gegeneinander
an Bestimmtheit gewinnen läßt?? Die naheliegende Selbstverständlichkeit,
mit der sich ein solches Verfahren gleichsam anbietet, gibt einem Verdacht
Raum. Wie steht es überhaupt mit der Methode der vergleichenden Auseinan-
dersetzung, prinzipiell gefragt: wie steht es mit dem Zuständigkeitsanspruch
der Doxographie in bezug auf geschichtliche Gestalten der Philosophie?
Vor der Frage, ob die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant
und in der Phänomenologie dieselbe ist oder verschieden ist, erhebt sich
die radikalere, ob überhaupt eine Vergleichung möglich ist. Das führt zur
Besinnung auf die Voraussetzung der objektiven Vergleichung.
| Aufriß der Kantinterpretation: 14
1. Nur ein Ansatz einer Interpretation: die transzendentale Beziehung von
ens und verum als die Problemdimension, in welcher Kants Philosophie
steht und die verwandelt und von anderen Ausgängen her in der phäno-
menologischen Philosophie im Spiel ist.
2. Kants Definition der Idee der Transzendentalphilosophie, die er vor-
anstellt: Erkenntnis der Möglichkeit der apriorischen Erkenntnis. Bloße
reflexive Methodenbesinnung der apriori erkennenden Vernunft? Oder
wenn es hoch kommt: kritische Zügelung der metaphysischen Erkennt-
nis? Auch so spricht Kant die Transzendentalphilosophie an. Aber
das Wesentliche
| ist: daß die Frage nach dem Sein überhaupt erst in der Kritik überhaupt 15
grundgelegt wird.
Daß also das Schema: 1) naive Metaphysik, 2) kritische Überholung der
naiven Metaphysik versagt. 3) Was also ist das „Problem“ Kants? Zweifellos:
a) Kritik der apriori-Erkenntnis, b) Ermöglichung der Ontologie.
Worin besteht die innere Einheit der Fragen nach Kritik und Grundle-
gung? Verdecken nicht gerade die vorangestellten Bestimmungen der Tran-
szendentalphilosophie ihr Problem? Das Problem einer Philosophie nicht
voranstellbar und aussprechbar. Von dieser Schwierigkeit geht Kant aus: die
Mißdeutungen des bloßen Erkenntnistheoretikers und des „Ontologen“.
| Kann eine Problematik aufgezeigt werden, von der her erst auf diese 16
vorangestellten Definitionen der Idee der Transzendentalphilosophie ein
Licht fällt?

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Dieses Problem – im Gegenzug gegen Kants Stellungnahme – das
Problem der Transzendentalien: weil Kant die Transzendentalien in der
dogmatischen Behandlung vor Augen hat, lehnt er sie ab.
Die Exposition des Problems der Transzendentalien: 1) die „Allgemein-
heit“ der Transzendentalien. Ausschaltung von unum und bonum.
Frage nach dem „transzendentalen Bezug“ von ens und verum: dies
die Auslegungsperspektive.
17 | Sie muß die Definitionen der transzendentalen Erkenntnis verständlich
machen und muß den Problemansatz, 1) die transzendentale Fragestellung,
dann das Prinzip, 2) die transzendentale Deduktion, 3) den Systembegriff:
den transzendentalen Idealismus als Formen des Hineinfragens in den
Zusammenhang von ens und verum darstellen. –
Die Frage nach dem Sein (Ontologie) als Frage nach dem Wesen des
Menschen (Vernunft): nach dem Menschen als Weltwesen fragen, das Sein
des Menschen als die „innere Grenze der Ontologie“.
II.
Aufriß der Phänomenologie:
A. die korrelativistische Phänomenologie als Vorbereitung,
B. die ontogonische Metaphysik als die Selbstbemächtigung des Lebens.
*

18 | 3Zum Dessauer Vortrag


1. Wandlungen des Verhältnisses von Sein und Vernunft:
a. antike Orientierung an der Allgemeinheitsstruktur des Seienden
(Ideen) – Kant – Hegel.
b. Die spekulativen Seinsinterpretationen und die kritischen.
2. Vernunft und Leben: der phänomenologische Begriff der Vernunft als
konstitutives Fungieren.
3. Sinn der Phänomenologie: Selbstbefreiung des Lebens.
19 |*
Die Wandlung der Idee der Transzendentalphilosophie von Kants ontologi-
schem Idealismus über Hegels absoluten Idealismus in den phänomenologi-
schen, d. i. konstitutiven Idealismus ist die Geschichte der Transzendentalien
„ens“ und „verum“.
*
Gegen den Kulturbegriff der „Vernunft“ Herausstellung der Schicksals-
macht „Denken“.
*

3 Mit dieser Seite beginnt Fink, in das umgekehrte Heft von hinten Notizen zu schreiben.

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| Die Ansichten über das „Leben“ 20
1. als Zeitgenosse zur Zeit in Staat, Kultur, Sitte; Typen des Menschseins:
Masse, Individualität, die generativen Bindungen (Frau – Kind – Eltern
– Geschwister), zu Beruf und äußerer Existenz.
2. Haltung zum „Leben“ selbst: zum Geschlechtlichen, zur dominierenden
Leidenschaft, zum Tode, zur Natur, zu den Toten, zu See und Gebirge,
zur Einsamkeit.

| Disposition: Thema: leitende Absicht: Vergleichung: Philosophie und 21


Doxographie: bedingte Sicht auf Kant: Begriff der Transzendentalien: Kants
Frage nach dem Sein als „Kritik“: Begriff des Seienden und verum bei Kant:
Begriff des transzendentalen Problems bei Husserl:

| Die Vortragsperspektive auf die „Phänomenologie“: 22


1. Begriff der Wissenschaft: die Situation des „Aufstandes der Wissen-
schaften gegen die Wissenschaft“. Phänomenologie = Ontologie, ent-
wickelt zur konstitutiven Ontogonie.
Begriff des „Systems“: die Ordnung der mannigfachen Wahrheits-
ebenen.
„Arbeit und Arbeitsfortschritt“? Philosophie nie ein wissenschaftli-
cher „Betrieb“, aber eine Wiederholung der Überfragung vorgegebenen
Wissens.
2. Problem der „Selbstvollendung des Geistes“ auf dem Untergrund der
Einsicht in seine fragmentarische Existenz.
3. | „Stellung des Menschen im Kosmos“. Situation der Entstelltheit. 23
4. Phänomenologische Idee der Philosophie als „Selbstbemächtigung
des Lebens“.
5. Phänomenologie als Synthese von Vernunft und Leben. Die lebendige
Vernunft als das konstitutive Fungieren des Lebens ist der „Geist“.
6. Phänomenologie als Methode der totalen Selbstbesinnung.
7. Aufriß der ontologisch-ontogonischen Problematik.
Nur soweit wir nach dem Sein fragen, fassen wir das Wesen des
Geistes. Die Frage nach dem ens in der Verkoppelung
| mit der Frage nach dem verum – dies das Problem der Transzen- 24
dentalphilosophie.
Das Wesen des Menschen ist die Freiheit. Das Wesen der Freiheit ist
das Spiel.
Der Mensch als philosophierender entreißt sich der Eingelassenheit
in das Seiende und wird zum selbstmächtigen Versucher des Seins, zum
Weltspieler. So gleicht er den Göttern, wie Heraklit von Zeus sagt: „Er
spielt mit den Welten“.
*

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.
25 | ‹leere Seite›

26 | „Sein und Vernunft“: dies das Problem der Transzendentalphilosophie.


Dieses Problem hat nichts zu tun mit den vulgären Diskussionen über die
Vernünftigkeit oder Unvernunft des Lebens und der Welt.
Vernunft im praktischen Sinne? Praktische Vernunft = theoretische Ver-
nunft. Das Wesen der Vernunft ist geistige Aktion. Die Vermoralisierung des
Vernunftbegriffs: Stoizismus, christliche Rezeption der antiken Philosophie!

27 | Titel des Dessauer Vortrags „Das Problem der Transzendentalphilosophie


bei Kant und in der Phänomenologie“

In dem Bereiche der Freiheit geht es um nichts anderes als die „Befreiung der
Freiheit“. Freiheit = Seinsspiel.
Das Spiel als metaphysisches Wesen des Menschen: die „schöpferische
Produktivität“ des Subjekts ist nicht ein Erzeugen oder Herstellen des
Seienden, sondern hat die Weise des Seinsspiels.
Das Seinsspiel ist in sich vergänglich. „Das Spiel ist aus“.
Individualität und meontische Tiefe des Lebens? Individuation doch ein
Ontisches, nicht Absolutes.
*
28 | Disposition
Einleitung: Rückgang hinter die geistesgeschichtliche Situationsauslegung
des ‹…›

„Freiheit“ als Wesen des Menschen?


Freiheit = „Seinkönnen“?
Freiheit = „Selbstmächtigkeit“?

29 | 4I. Am Ende unserer Betrachtungen läßt sich der leitende Gedankenzug des
Vortrags in wenigen Sätzen zusammenfassen. Die Krise der Wissenschaften
und damit der ganzen, auf der Autonomie der wissenschaftlichen Vernunft
basierenden modernen Kultur ist im Grunde allein eine Krise der Philoso-
phie. Für den kühnen und verwegenen Versuch des neuzeitlichen Menschen,
die Wissenschaft zur entscheidenden Lebensmacht seines Daseins werden
zu lassen, ist in unserem Zeitalter die Schicksalsstunde gekommen. Es wird
sich erweisen im Laufe eines Menschenalters, ob die Lebensgrundlagen des
Europäers sich endgültig verlagert haben, ob er sein eigenes Wesen preisgibt,
oder ob

4 Vgl. Z-XVIII 3a und Reihe V; dazu den maschinengeschriebenen Entwurf M-III 44–46 =

Text Nr. 12.

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| die allgemeine Hinwendung zu irrationalen Mächten nur Symptom einer 30
tiefen Erschöpfung ‹ist› – was also die Hoffnung in sich schlösse, daß durch
eine Radikalisierung des Selbstverständnisses eine Neubegründung einer
autonomen, d. i. philosophischen Kultur noch möglich sein könnte.
Die Krise der Wissenschaften hat ihren Grund in der Krise des Selbstver-
ständnisses des Menschen. Die Überwindung dieser Krise wird allein durch
eine Vertiefung des menschlichen Selbstverständnisses gelingen können. Der
geschichtliche Überblick, den wir in unserem Vortrage zu geben versuchten,
betraf nichts anderes als
| die Geschichte der zwei Wege, auf denen seit Descartes die repräsentativen 31
Denker um das Selbstverständnis des Menschen gerungen haben. Es mußte
gezeigt werden, wie in der transzendentalen Spekulation ein dunkles und
ahnungsvolles Wissen um eine, in der objektiven Einstellung nie freizule-
gende, rätselhafte Lebenstiefe des Subjekts zu Worte will und wie es eben am
Mangel einer analytischen Methode notwendig scheitern mußte, ferner wie
andererseits die Psychologie gar nicht zu ihrem Thema, dem Eigenwesentli-
| chen des Seelischen kommen konnte, solange sie im Banne der objektivis- 32
tischen Einstellung (und in der methodischen Befangenheit im Vorbild der
Naturwissenschaft) verblieb. Und vor allem ging es um den Nachweis der
merkwürdigen Verklammerung des schließlichen Versagens der Transzen-
dentalphilosophie mit dem Versagen der Psychologie, nicht weil sie etwa
verbunden waren und so das gleiche Los erfahren mußten, sondern gerade
weil sie getrennt waren. Mit dieser Einsicht war die Aufgabe eo ipso gestellt,
die Psychologie vom Banne des
| naturalistischen Objektivismus zu lösen und die Transzendentalphilo- 33
sophie in der analytischen Methode konkreter Befragung und Auslegung
der Subjektivität, wie sie zunächst von einer reformierten Psychologie
auszubilden ist, in Gang zu setzen.
Auf dem Hintergrund des die ganze Neuzeit durchziehenden Ringens
um das Selbstverständnis des Menschen (in der Form der Transzendentalphi-
losophie und der Psychologie) hat sich damit die Idee der Phänomenologie
zur Abhebung gebracht. Indem die phänomenologische Philosophie am
Leitfaden der erst durch die phänomenologisch-psychologische Reduktion
| möglich gewordenen intentionalen Analyse die transzendentale Lebens- 34
tiefe der Subjektivität, in welcher jede seiende Objektivität als Seinsinn
konstituiert wird, zum Thema intentional-analytischer Auslegungen macht,
bringt sie gerade damit zum Verständnis, wie das objektive Sein des Subjekts
in der Welt, sein Dasein als menschliche Seele, transzendental zustande
kommt. So begreift sie die rätselhafte und zweideutige Natur des Menschen:5

5 Ersatz für „und janusköpfige Wesen des Subjekts“.

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einmal subjektiv-leistendes Leben für alle Objekte, dann auch selbst Objekt
unter Objekten zu sein.
35 | Aus dem Wissen um dieses janusköpfige Wesen des Menschen steigt aber
nicht nur ein theoretisches Selbstbewußtsein auf, sondern vor allem ein neues
und stolzes Lebensgefühl: das Weltall in der ungeheueren Weite seines Rau-
mes, mit Millionen von Sternen, unter denen ein kleiner und unbedeutender
unbedeutende mikrobenartige Wesen trägt – dieses ungeheuere Weltall ist
nichts anderes als eine Sinnesleistung, ein Geltungsgebilde im Leben des
Menschen, dessen Sein diese Spannung überwölbt in seiner transzenden-
36 | talen Lebenstiefe. So mag die Phänomenologie das neue Selbstverständnis
des Menschen6 stolz in dem alten Wort aussprechen: ἀνθρωπος μέτρον
παντων: der Mensch ist das Maß aller Dinge.
*

Was ist das Wesen der „Phänomenologie“? Die im verdeckten Grunde


treibende Intention ist ein Abzielen auf eine ontogonische Metaphysik: ein
Verstehen des Seienden im Konstruieren des ontogonischen Prozesses. Aber
heißt das nicht, die Zeit als Zeit des ontogonischen Werdens als letztes
Verständnisfundament voraussetzen?
*
Aa 1. | Bröcker, „Aristoteles“
2. Jaspers, „Vernunft und Existenz“
3. N. Hartmann, „Zur Grundlegung der Ontologie“7

Ab | Sein und Vernunft

37 | Mein Stil? Als Desiderat: die differenzierende deskriptive Weise Husserls,


aber in strengerer Begriffsbildung, Vermeidung der abgenützten vieldeutigen
Worte wie „Objektivität“ usw. – dann aber gelegentliche Aufschwünge in
einer Verhaltenheit des Pathos.
*
38 | Inwieweit soll Husserls Idee der „Phänomenologie“ im Dessau-Vortrag
gekennzeichnet werden?
I. Der prinzipielle Rahmen ist die Problematik der Befreiung von der
„Benommenheit vom Seienden“. Die korrelativistische Rückfrage: 1) von
der allzuheutigen Welt der wissenschaftlichen Dinge auf die vorwissen-

6 Ersatz für „das Selbstverständnis des Rätsels,Mensch‘“.


7 Kalenderblatt zwischen 35 und 36 geschoben, datiert auf „30. August 1935 Freitag“. Im
selben Jahr (1935) erschienen Walter Bröckers Buch Aristoteles in Frankfurt, Karl Jaspers’
Vernunft und Existenz. Fünf Vorlesungen in Groningen und Nicolai Hartmanns Zur Grundle-
gung der Ontologie in Berlin.

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schaftliche Umwelt. Vom „Ding“ zurück zum Dingmeinen, Dingfürwahr-
halten usw. 2) Methode der Intentionalanalyse. 3) Die Überwindung des
„Psychologismus“: die rein fungierende Subjektivität. Evidenzproblematik:
alles Seiende = Systeme von Evidenzen. Charakteristische Fundierung der
logischen und wissenschaftlichen Evidenz in den vorwissenschaftlichen
Metho-
| den der Rückgängigmachung der „Idealisierungen“: Sinngenesis der Wis- 39
senschaften und das Problem der „Ontologie“. Ontologie bei Husserl in der
Form der Frage nach den allgemeinen Strukturen der Gegenstände. Idee
der Formalontologie und der materialen Ontologien (Formalisierung und
Generalisierung). Ontologie also als Gegenstandstheorie auf dem Boden
der Erfahrung. Die Methode der Ideation (Variation). Die Frage nach den
subjektiven Bedingungen und Voraussetzungen des Eidos. – Die Problematik
der „Geisteswissenschaften“: vor allem Problem der Psychologie. Naivität
der Psychologie ist die Meinung, in der inneren Erfahrung einen un-
| mittelbaren Zugang zu ihrem Thema zu haben. – Einsatz der Psychologie bei 40
den Akten. Von Akten und c o g i t a t i o n e s und der intentionalen Analyse
der Aktarten und Zusammenhänge zu den „Habitualitäten“. Von der Ganzheit
des Erlebnisstromes zu Einfühlung. Die korrelative Subjektivität, die die
fungierende Bildung des Sinnes „Objekt“ und „Objektzusammenhang“
in der Methode der intentionalen Analyse zur Explikation gebracht. Ein
Reichtum deskriptiver Analysen, die ganz neuartig sind.
II. Phänomenologische Reduktion: die Freilegung des Universums der
fungierenden Subjektivität, wie sie in der korrelativistischen Methode der
Rückfrage von der Einheit des
| Gegenstandes in die Mannigfaltigkeit der fungierenden Synthesen usw. 41
vollzogen wird, hat das Seiende prinzipiell als Gegenstand begriffen. Die
Argumentation gegen eine „Hinterwelt“, ein Ding an sich hinter den Gegen-
ständen, ist zwar stichhaltig, aber sie schließt nicht ein die Äquivalenz von
Seiendem und Gegenstand.
Auf welcher Stufe steht hier das transzendentale Problem des Bezugs
von ens und verum? Ist das ens = Gegenstand, und der Gegenstand = aus
Mannigfaltigkeit subjektiver Aspekte synthetisch aufgebaute Sinneinheit?
So bedeutsam die Forschungen Husserls sind in der Ebene der korrelativis-
tischen Problematik, so ist hier das transzendentale Problem noch
| nicht gestellt. Erst mit der Reduktion tritt die phänomenologische Philoso- 42
phie in die transzendentale Problematik (des Bezugs von ens und verum) ein.
Der Grundgedanke ist (in der stärksten Zusammendrängung): die Kor-
relationsbeziehung von Subjekt und Objekt wird als solche Problem. Und
damit wird die Objektivität der weltlich begegnenden Objekte und Subjekti-
vität des weltlich fungierenden Subjekts problematisch. D. h., das Seiende
(ens) wird im Rückbezug nicht auf die korrelative fungierende Subjektivität,

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deren bloße Sinnesleistung ‹es› ist, sondern auf eine tiefere Subjektivität
verstanden als „Gebilde subjektiver Konstitution“ (verum). Zu schildern
ist kurz:
43 | 1) Durchführung und Vollzugsmöglichkeit der Reduktion, 2) die Idee der
konstitutiven Forschung. –
III. Die Gefahren: 1) die „reflexionsphilosophische“ Gleichsetzung von
Seiendem und Gegenstand (also die Überspringung des Grundproblems der
Ontologie: τὶ τό ὄν); 2) der „Dogmatismus der Egoität“ (das Verabsolutieren
des „Ich“ oder „Wir“, sog. Monadologie); 3) die Auffassung des Selbstheits-
charakters des Subjekts als „gegenständlicher“ (das heißt Verfehlen der Pro-
blematik der „Entstellung“).
IV. Was ist also das ens? Prinzipiell „konstituiertes creatum“. (Vgl. die
Auffassung des Mittelalters: ens = creatum, und des Deutschen Idealismus
(Fichte): ens = Nichtich. In der phänomenologischen Auffassung das ens =
konstituiertes creatum.)
44 | Das prinzipiell Andere als bei Kant: ens ist ein verum, nicht weil die
ontologischen Prädikate des Seienden „subjektiv“ sind, sondern weil „ens“ =
„Gebilde“ der schöpferischen Vernunft ist.
Die konstituierte Vernunft und ihr Korrelat: das Seiende; Unzurückleit-
barkeit des Seienden auf die konstituierte (ontische) Vernunft. (Denn das
hieße: ein metaphysisches Verhältnis der Beiordnung in ein solches der
Vorordnung zu verkehren.). Der Grundbegriff der konstituierenden Vernunft,
der sich selbst zeitigenden (seinlassenden) lebendigen Vernunft. Diese kein
„Vermögen“, keine „Natur“ des Menschen, sondern sein meontisches Wesen.
– Die bisherige Skizze
45 | der phänomenologischen Philosophie bezog sich fast immer auf das
Geschehen der Überwindung der „Benommenheit vom Seienden“. (Husserl-
sche Phänomenologie.)
V. Übergang zur Charakteristik der Phänomenologie als ontogoni-
scher Metaphysik. Das Problem des Bezugs von ens und verum (der κοινονία
der Transzendentalien) ist ein solches der ontogonischen Bestimmung des
Seienden als Entsprungenes geworden. Die Problematik, die wir als die
transzendentale bezeichnen, ist somit eine solche nach dem Wesen des Men-
schen geworden.
1. These: die Möglichkeit der Überfragung der ontologischen Problema-
tik setzt voraus die Möglichkeit einer Distanz zum Sein, ein Sichheraushal-
ten. D. h.
46 | ein Überfragen der Ontologie ist nur möglich, wenn die Frage oder besser
der Fragende selbst über das „Sein“ hinausgehen kann. Das Problem eines
Überfragens des Seins wird zur Frage nach dem „Sein“ des Fragenden, also
zur Frage, ob der Fragende ontologisch „erreichbar“ ist.

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.
Damit ein Problem, das das ganze gegenwärtige Philosophieren in
Atem hält. „Entnaturalisierung“ und meontischer Begriff des Wesens des
Menschen!! –
2. These: die Frage nach dem Subjekt wird in sich selbst zur Weite der
ontogonischen Problematik gedrängt. –
VI. Die ontogonische Problem-
| stellung als die Weise der „Selbstbemächtigung des Lebens“. 47
1. Benommenheit vom Seienden.
2. Versponnenheit im „Allgemeinen“
3. Befangenheit in der Welt.
Dies die Fundamentalstruktur des „verdeckten Lebens“. Die ontogonische
Metaphysik als der Weg des Lebens zur Wahrheit seiner selbst, zur „Voll-
endung seiner weltlich-fragmentarischen Existenz“, die in der Befreiung der
Freiheit geschehende Bemächtigung der Macht des Seinsspieles.
*
| Ganz allgemeine Disposition: 48
I. Grundauffassung der Philosophie.
II. Kants Transzendentalphilosophie als Frage nach dem „Sein“: die
Grundstruktur der transzendentalen Frage als Frage nach dem inneren
Bezug von ens und verum.
III. Husserls Phänomenologie.
IV. Phänomenologie als ontogonische Metaphysik.
V. Phänomenologie als Selbstbemächtigung des Lebens.

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.
OH-VI

Beschreibung:
Auf dem Umschlag dieses Heftes ohne Aufschrift wurden zwei Tiere (angeblich
Hunde) gezeichnet. Der Umschlag trägt außerdem das Datum „1936“. Das Datum
„21.I.36“ auf 15 bezieht sich auf ein Gespräch mit Husserl. Wie in anderen Oktav-
heften hat Fink auch hier Notizen in das umgekehrte Heft von hinten an (18–
19) eingetragen.

Text:
| In „Theorie der Imagination“:1 1
1. Die Arten der Vergegenwärtigungen und die Mannigfaltigkeit der Zeit-
horizonte.
2. Lehre von der Wachheit. „Bewußtsein“ als fundiertes Phänomen
des Lebens.
3. Ton und Stille (Stille kein „intentionales Korrelat“!).
4. Das „Tempo des Lebens“.
5. Bildanalyse.
6. Vergegenwärtigung als „Involution der Zeit“.
7. Das „bloß intentionale Objekt“ (Ontologische Probleme des „Vergegen-
wärtigten“).
8. Nichtfingierbarkeit der Zeit und der „Welt“.
9. Die Weltsituation jeder Vergegenwärtigung. (Es gibt keine prä-munda-
nen anschaulich vorstellbaren Vergegenwärtigungsgegenstände.)
*
| Das Wesen des Lebens = das Spiel. 2
*
Λάθε βιώσας = Lebe im Geheimnis.
*
Das Abenteuerliche = das Ungelebte: die „mögliche Existenz“.
*
Philosophieren = souveräne Existenz! „Vom freien Leben“.
*
„Sport“: Leben als Spiel: das zweckfreie Tun.

1 Zu dieser geplanten Schrift siehe die Anmerkung zu Z-XX 6a.

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.
*
Kampf gegen „Bildung“, gegen „Moral“, gegen „Autorität“, gegen alle
Institutionen und überfremdeten Formen des Lebens.

3 1. | Bestimmung des Menschen2


2. „Apologie des Lebens“ (Nietzscheinterpretation)
3. Der Gelehrte und der Philosoph (Wissenschaft und versucherische Exis-
tenz)
4. „Hütte im Oytal“3
(Meine Weltanschauung: Naturtrieb des Geistes, Denken als Trieb, als
Leidenschaft, – Einsamkeit – Selbst – Abenteuerlichkeit und Ständigkeit –
Mitten im Seienden – Tod – Geschlecht – Treue – das „Ideal“ – Vernichtung
der Überfremdung jeder Art und Weise. –
Spiel das Wesen der Freiheit – – – Wahrhaftigkeit der Existenz als Frei-
heit zum Selbst: keine idealistische Rolle des „Ich“, keine Vergötzung seiner
„Freiheit“ (die noch negativ das Positive voraussetzt), keine intellektuelle
Verabsolutierung des Ich, – Heimkehr in das nackte Dasein.‹)›
*
4 I. | Abenteuerlichkeit – Form
II. Bewußtheit – Vitalität
III. Enthusiasmus – Beherrschung
IV. Leidenschaft – Verhaltenheit
V. Chaos – Werk
*
Der Begriff des „Lebens“: er ist nicht zu gewinnen, wenn die seltsame
Verwandlung von Gegensätzen nicht begriffen ist: wie z. B. in der Institution
das Chaos, in der Beständigkeit selbst das wesenhaft Unbeständige, in der
Moralität selbst die Unmoralität inexistent ist.
*
5 | Die Analyse des Schlafes als phänomenologisches Paradigma für die
Analyse des „Unbewußten“.
Die Psychologie, die im Gegensatz gegen die Fassung des Seelenbegriffs
bei Descartes (animus = cogitationes) die Seele als „Leben“ begreift und
„Bewußtsein“ als Funktion des Lebens ansieht, ist in ihrem Ansatz und in
ihrer Begriffsbildung nur möglich, weil das Phänomen des „Schlafes“ die
Abhebbarkeit von „Leben“ (als Sein der Subjektivität) und „Bewußtsein“
als zeitweiliger Zustand dieses Lebens ermöglicht. Die phänomenologische
Analyse des Schlafes ist mit den methodischen Mitteln der Husserlschen
Intentionalanalyse nicht durchzuführen. Die Inten-

2 Siehe die Anmerkung zu Z-XVIII 4a.


3 Siehe die Anmerkung zu Z-XXIII 8.

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.
| tionalanalyse Husserls ist binnenbewußtseinsmäßig, ist bewußtseinsinterne 6
Analyse, die im Rahmen des Bewußtseins Bewußtseinsphänomene ana-
lysiert, ohne das Bewußtsein als Rahmenhorizont selbst problematisch
zu machen.
Die Schlafanalyse aber erfordert eine Abhebung des Wachseins als des
unausdrücklichen, aber ständigen Horizontes jeder intentionalen Analytik.
Also ist Schlafanalyse prinzipiell externe Analyse des Bewußtseins.

| „Vergegenwärtigen“?? 7
Die Analyse der Vergegenwärtigung setzt voraus die Analyse des „Selbstbe-
wußtseins“, des unthematischen Vollzugsbewußtseins.

| ‹leere Seite› 8

| Zu „Bestimmung des Menschen“: 9


1. Teil: der Mensch = das Seiende, das in „allgemeinen Bestimmungen“ nicht
aufgeht. Seine „Individualität“ ist mehr als die Individuiertheit eines Natur-
dinges. Der Mensch ist eingelassen in eine Unzahl von allgemeinen Cha-
rakteren: das Gattungsmäßige des animalischen Triebsystems, das Allge-
meine von Geschlecht, Altersstufe, Rasse, Stand, Temperament,
Konstitution, Kulturlage usw.
Der Mensch ist ein „Selbst“.
Das „Selbst“ das „einsame Wesen“! –
Die Entnaturalisierung des Lebens.
Lebenskategorien und Selbstkategorien.

| ‹leere Seite› 10

| Zum Begriff der „Formalen Ontologie“ bei Husserl: 11


Husserls Grundbegriff der Formalen Ontologie ist das Etwas. „Etwas“
aber bei ihm gegenstandstheoretisch gefaßt. „Etwas“ ist also nicht gleich
Seiendes, sondern gleich Substrat möglicher Prädikation. Hier die „Reflexi-
onsphilosophie“ sehr deutlich.
*
Husserls Kantauffassung ist: Kants „transzendentale Apperzeption“ sei eine
ontische Subjektivität, eben in der Unsicherheit des Unterschiedes von
psychologischer und phänomenologisch-transzendentaler Subjektivität, also
doch in irgendeinem Sinne eine mehr oder minder rein gefaßte „Immanenz“.
| ‹leere Seite› 12

| Husserls „historischer“ Begriff der Transzendentalphilosophie will zwei 13


heterogene philosophische Entwicklungslinien: die immanenz-philosophi-

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sche (subjektivistische) und die Verwandlung des Rationalismus durch Kants
transzendentale Frage (also Kant – Deutscher Idealismus).4
15 | Gespräch mit Husserl am 21.I.36
1. Vitalität und Bewußtheit.
2. Selbstmächtigkeit des Lebens
a. heraus aus der Versklavung in Institutionen und Formen des
genormten Lebensvollzugs: Sitte, Gesellschaft usw.,
b. Staat: notwendiges Übel die Einschränkung der Freiheit.
3. Wesen des Menschen ist Freiheit. Das „Wesen“ ist fast immer versehrt.
Freiheit als Wille zum Sein als Selbst.
4. Das „Selbst“ im Menschen: der Mensch mehr als bloßes Selbst: gebun-
den an Rasse, Geschlecht, Bedürfnisse: Freiheit auf dem Grunde von
Bedingun-
16 | gen: bedingte Freiheit. (Selbst und Einsamkeit.)
Wille zur Selbstmächtigkeit als Wille zum Wesen seiner selbst. Herr-
schender Wille ist nicht die schweifende Willkür des beliebigen „Wol-
lens“, sondern die innere Notwendigkeit des „Dämons“ (d. h. des
Selbst).
„Teleologie“, phänomenologisch gesprochen: als Tendenz des
Lebens.
Der „Inhalt“ der Lebenstendenz absolut unvorherbestimmbar. Frei-
heit will nur sich, das ist das Sein des Selbst.
5. Begriff des „Preußentums“: „Wille zur Entselbstung“,
17 | ist das Gegenteil der Zucht, der sich der freie Geist unterwerfen kann
– als Mittel zu einem Ziel des eigenen Willens.
Frei sein = Sich sein Gesetz geben aus der Fülle und Mächtigkeit des
zum Sein zu bringenden Selbst.
(Wesen der Freiheit = das Spiel. Das „Gesetz des Selbst“, dem das
Frei-sein sich unterstellt, als die „Rolle“ des Weltspielers „Mensch“.)
6. Entselbstung als Verfangenheit des Lebens in seinen „Gebilden“.

18 | 5Zeit und mögliche Erfahrung.


Die Zeit nicht bloß „bekannt“ im Felde der möglichen Erfahrung, sondern sie
ist gerade als Weltzeit hineinreichend in die Horizonte der möglichen Erfah-
rung.
Zeit nicht = temporale Struktur der Dinge.

4 Hier folgen drei leere Seiten.


5 Diese letzten Notizen wurden in das umgekehrte Heft eingetragen; vgl. oben Beschreibung.

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.
1) Einstellung auf Dinge (Einheiten)
2) 6

Husserls Phänomenologie = Metaphysik der Intentionalität


1. | „Theorie der Vergegenwärtigung“: 19
Intentionale Analyse des Unterschiedes von Ich der Vergegenwärti-
gungswelt.
2. Das Selbst und das Ich
3. Problemtheoretische Untersuchung zur Lehre vom Weltbegriff.

6 Die Bedeutung dieser Zeichnung war nicht zu ermitteln.

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OH-VII

Beschreibung:
Die Aufschrift von Fink auf dem Umschlag dieses Oktavheftes lautet: „Januar 1936“.
In dieses Heft wurden aus einem ähnlichen Heft herausgerissene lose Blätter (Reihe
A, mit Ausnahme von Blatt 9, das Löschpapier ist) zwischen 22 und 23 und ein
ähnliches Blatt (B) zwischen das letzte Blatt (44) und den Umschlag gelegt. Das Heft
wurde wie die anderen umgedreht und neue Notizen wurden vom letzten Blatt an
(44–50) eingetragen.
Daten:
36 – 18.II.36 (Gespräch mit Husserl)
44 – 29.I.36 (Gespräch mit Landgrebe)
47 – 30.I.36 (gestrichen)
Notiz 19 erwähnt Husserls am 14. und 15. November 1935 in Prag zu haltenden Vor-
trag; die Aufzählung der Hauptthemen von Finks eigenem Denken (50) in seinem
„30. Jahr“ deutet auf das Jahr 1935–36 hin.

Text:

| Husserls philosophische Position: 1


1. Reflexionsphilosophisches Motiv: Ungeklärtheit der Erkenntnisrela-
tion.
2. Seiendes für Husserl = Gegenstand.
3. Wesen = Zugang in der Verallgemeinerung der „Ideation“ auf dem
Boden der Erfahrung. Also Überspringen des Problems der Apriorität
des Wesens.

| ‹leere Seite› 2

| Ist Husserls phänomenologische Reduktion nicht am Ende die Verabsolutie- 3


rung des (allerdings erstmals als konkret analytisch ausgelegten) Subjekts als
Glied der Subjekt-Objektkorrelation? Seine Thesen: 1) Seiendes = Objekt,
Gegenstand. 2) Erkennendes Fungieren (Sinnleisten) = Seinleisten. Die
wesentliche Undeutlichkeit der Begriffe „Sinngebung“, „Leisten” usw.
| ‹leere Seite› 4

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.
5 | Descartes’ „cogito ergo sum“:
1. Zu unterscheiden zwischen dem „Methodismus“ in der Metaphysik,
also dem Prinzip des Rückgangs auf ein erkenntnisdignitiv ausgezeich-
netes Seiendes, – und der Wendung zum „Ich“, zum „Menschen“,
zum „Leben“.
2. Descartes’ Apodiktizität des Ego ist ein erkenntnisdignitiver Charak-
ter. Zu unterscheiden „metaphysische Notwendigkeit“ und Notwendig-
keit des Seins, wenn bestimmte Erkenntnisbedingungen gegeben sind.
Aus der Faktizität der gegebenen Selbsterfahrung deduziert Descartes
die notwendige Existenz des Ich.
6 3. | Die erkenntnisdignitive Begründung der Metaphysik bei Descartes ist
ein Beispiel für die „unbewußte Ingebrauchnahme“ der Seinsidee in der
Auslegung von Bewußtsein: dubito = dubitans = sum dubitans.
4. Descartes’ Auszeichnung der Selbstgewißheit des „ego sum“ vollzieht
sich über die Suche nach der täuschungsfreiesten Erkenntnis und d. h.
bei ihm nach dem Gegenstande, der in einer täuschungsfreien Erkennt-
nis gegeben wird.
These: Descartes entdeckt die Apodiktizität des Ego als die Erkennt-
nisdignität der Selbsterfahrung,
7 | in der das Ego zum Gegenstand wird. [Also ist eine große Frage, ob
eine Analyse des Selbstbewußtseins, die dieses nicht als Reflexivmodus
des Gegenstandsbewußtseins auffaßt, überhaupt noch eine „cartesiani-
sche Fundamentalbetrachtung“ zulassen würde.]
*
Husserls Auslegung des cartesianischen Rückgangs auf das „Ego cogito“ ist
bestimmt von der „reflexionsphilosophischen Argumentation“. Hier in der
Form, daß die „ordo essendi“ der „ordo cognoscendi“ gleichgestellt wird.
Der erkenntnisdignitive Charakter der Apodiktizität des Ego schlägt um in
eine ontische Absolutsetzung des Ego. Motiv
8 | dieses Umschlagens ist der Gedankengang: die „reflexionsphilosophische“
Überlegung zeigt bald, daß es ein Sein unabhängig von Bewußtsein über-
haupt nicht gibt, daß Sein prinzipiell Korrelat von Erkenntnis ist, die Unter-
scheidung von ordo essendi und ordo cognoscendi auf der Fiktion eines Seins
an sich beruht. Seiendes ist prinzipiell Gegenstand. Die apodiktische Not-
wendigkeit eines Gegenstandes ist zugleich (sofern es eben keine Differenz
von Gegenstand und Seiendem gibt) „ontische“ Notwendigkeit, wobei
„ontisch“ schon im Sinne des thematischen Seinsbegriffes der „Reflexions-
philosophie“ gemeint ist. –
9 | Bei Husserl also ist sein Fundamentalgedanke dann kein Zirkel, wenn
die Rechtmäßigkeit der „reflexionsphilosophischen“ These über das Wesen
des Seins im voraus erwiesen ist. Frage: Deduziert Husserl nicht zunächst
aus dem Sein des denkenden Subjekts als Denkbedingung für das Denken des

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Seins oder Nichtseins seiner Selbst die Notwendigkeit seines Seins (Existenz)
und deduziert er dann nicht aus dieser bedingten Existenz des Ego das Sein
desselben als Selbsterfahrung???
Etwa: Wenn Selbsterfahrung ist, muß das Ego existent sein. Selbsterfahrung
ist, das Ego existiert. Das Ego kann nur existieren in cogitationes = d. h. in
Selbsterfahrungen. —?? —
| Wichtig ist aber, daß Husserls „Reduktion“ – auch abgesehen von 10
ihrem „transzendentalen Sinne“ (den ich auf meine Weise auslege im
Kontrast gegen die „Reflexionsphilosophie“) – nicht auf der cartesianischen
Auslegung der Apodiktizität der Selbsterfahrung gründet.
Vgl. dazu die Auffassung der Intentionalität am Leitfaden der Verge-
genwärtigungsakte (d. h. der Unterscheidung von wirklichem Objekt und
bloß intentionalem), das Modell der Intentionalität als Noesis – Noema –
Gegenstand als Voraussetzung der Epoché!!!!!??!
*
| Husserls „reflexionsphilosophische Argumentation“ als eine unkritische 11
(thetisch-dogmatische) externe These über das Sein des Bewußtseins.
*
Die „Philosophie“? Philosophieren ist immer ein Ringen, die Integrität der
Philosophie zurückzugewinnen; denn sie ist immer in der Gefahr der Über-
fremdung: in der Spätantike geschieht die Überfremdung durch die Ideale
der Müdigkeit (Stoa), im Mittelalter durch die Theologie, in der Renaissance
durch die „scientia nuova“, in der Aufklärung durch die säkularisierten Ideale
der Christlichkeit, im 19. Jahrhundert durch die Naturwissenschaften, im 20.
durch die Geisteswissenschaften.
*
| Zu K. Löwiths Nietzschebuch1: vorläufiges Urteil: Löwith sucht gegen 12
die Nietzscheinterpretationen üblichen Stiles (Nietzsche als Philosoph und
Dichter, als Philosoph und Prophet usw.) Nietzsche nur als Philosophen
zu verstehen: Nietzsche als „Lehrer der ewigen Wiederkunft“, „System in
Aphorismen“ usw.
Hauptthese ist: Nietzsche wiederholt die antike Problematik auf der
Spitze der Modernität: nach dem „Tode Gottes“ die Geborgenheit im
Sein suchen.
D. h. Löwiths Nietzscheperspektive ist ein Versuch, Nietzsche als
Repräsentanten des modernen Menschen in der Situation des Kulturzerfalls
zu begreifen: seine Perspektive ist eine geistesgeschichtliche.
*

1 Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, Berlin 1935.

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13 | Zu „Hütte im Oytal“:
Die Intensität des Lebensgefühls, die wir im Anblick des gestirnten Himmels
über uns empfinden: nicht mehr der Verknüpfung mit dem Menschlich-Erha-
benen, mit dem Sittengesetz; dies eine grausige Naturferne. Das weißlich
blaue Blinklicht der Sterne über den ungeheueren Nachtschatten des Großen
Wilden.2 Zwischen Jetzt und Tod ist mir die ganze Welt eingespannt. Nichts
ist wirklich als das Rauschen der Wasser und die Einsamkeit. Einsamkeit ist
der Weg zum Selbst.
*
Der Eremit in der Hütte im Oytal als der Don Quijote auf der Pilgerfahrt zum
unversehrten Leben.
*
14 | Zum Begriff der „Philosophie“:
Wie hängen die beiden Bestimmungen zusammen: „Philosophie = Lebens-
bewegung der Selbstbemächtigung“ und „Philosophie = versucherische
Existenz“? Wie steht dazu der Imperativ „Λάθε βιώσας“?
Die existenzielle Philosophie als Reaktion gegen die Unterstellung des
philosophierenden Interesses unter die Dienstidee der objektiven Kulturform
„Wissenschaft“: aber sie führt zumeist zu einer philosophischen Attitude, zu
der Statik einer Haltung.
Demgegenüber setze ich die Philosophie als eine Lebensbewegung an.
Diese Bewegung ist überhaupt nur möglich, wenn
15 | wirklich besteht, was erst die Philosophie lehrt: nämlich Benommenheit,
Versponnenheit und Befangenheit. Diese drei zusammen machen das aus,
was in der Philosophie in Bewegung kommt: die natürliche Einstellung.
„Versucherische Existenz“ nicht als „Haltung“, sondern als unablässiges
Hineingehen in Fragen.
In der Analyse des Spielens sind erst die Begriffe zu gewinnen die die phi-
losophische Erkenntnisweise charakterisieren: nämlich der Mut zur Setzung
einer Wahrheit, die Tat des Behauptens, und das skeptische Selbstmißtrauen,
das Sich-in-Freiheit-halten.
*
16 | Wie die „Einleitung“ in die „Problemtheoretische Untersuchung zur Lehre
vom Weltbegriff“??
Der Begriff der „Problemtheorie“:
Vorbegriff von Philosophie und Vorbegriff von „philosophischem Pro-
blem“.
Problem und Wissensausstand. Philosophisches Wissen und Wissen im
Leben, im Alltag, in den Wissenschaften?

2 Der Name eines Berges im Oberallgäu in der Nähe des Oytals (vgl. Z-XXIII, Anm. zu 8).

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.
| Inwiefern ist Nietzsches Begriff des „Dionysischen“ ein „naturhafter“ 17
Begriff? Ist die Lebensvollstreckung des selbstmächtigen Lebens eine „dio-
nysische“?

| ‹leere Seite› 18

| Husserls Vortrag: „Die Krisis der Wissenschaften und die Psychologie“: 19


die beste Grundlage für die Heraushebung seiner „reflexionsphilosophi-
schen“ Position. Dort ist das „reflexionsphilosophische Räsonnement“
geradezu klassisch. Und ist nach allen wesentlichen Momenten vertreten:
1) Gleichsetzung von Seiendem und Gegenstand, 2) Zweideutigkeit der
Begriffe des „Leistens“, der „Geltung“, der „Konstitution“ usw.

| ‹leere Seite› 20

| Merknotiz: 21
1. Husserls „Punktualismus“: die Auslegung durch das in den Zusammen-
hängen Auftretende; z. B. Einsatz beim Aktphänomen und Aufbau der
Ganzheit des Lebens von dort aus; ferner Zeitanalyse: Orientierung an
den Zeitinhalten.
*
2. Mit der Unterscheidung von externer und interner Problemsetzung,
Analyse usw. ist ein wichtigerer philosophischer Gedanke intendiert,
als ich zuerst verstand. Z. B. Ontologie: interne Ontologie macht das
Seiende in seienden Weisen des Fragens usw. zum Thema, evtl. am
Problem des Apriori, aber nicht das Sein als den Horizont
| der Seinsproblematik. – Die externe ontologische Frage überfrägt das 22
Sein, hält es hinein in Spielräume unbekannter Fraglichkeiten

*
Der Mensch ist das sich zu sich selbst verhaltende Wesen.

Reihe A:

1. | Die Selbstverbergung, z. B. in der Situation der Interpretation: der A/1a


Interpretierende (etwa als Psychiater) gibt sich selbst eine Rolle, die des
„Normalen“, und hält diese für getrennt von der Welt des Kranken.
Oder der Historiker setzt seine Gegenwart als eine objektive an.
Objektivierung des Subjektiven.

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.
*
2. Husserls Kulturbegriff der Philosophie: Berufseinstellung mit Berufs-
zeiten.
Nicht ein Berufsinteresse ist Philosophie, sondern eine Revolution des
Lebens.
A/1b 3. | Die Situation eines Kulturzerfalls: der europäische Nationalismus, die
Judenfrage (das Ende der Emanzipation).

4. Die „Welt für uns“: das Seiende im Wie des menschlichen Erlebtseins.
Zu „Problemtheoretische Untersuchung zur Lehre vom Weltbegriff“.

5. Das „lebensweltliche Objekt“ als etwas Subjektives? Die naturwissen-


schaftliche Bestimmung des anschaulichen Dings als etwas Subjektives
setzt den anschaulichen Unterschied von Objekt und Subjekt voraus.
*
6. Die griechische Idealisierung als Idealisierung der Sprache (λόγος) – die
moderne naturwissenschaftlich-mathematische Idealisierung.

A/2a | Meine weltanschauliche Position:


Philosophieren zunächst die Selbstbemächtigung des Lebens, die Rückkehr
in die „Unversehrtheit“. Kampf also gegen die institutionelle „Versehrung“
des Lebens: gegen alle Institutionen, gegen Naturrecht, Moral. Die ontische
d. i. wertfreie Betrachtung des „Geistes“: keine „Gloriole“! Das „pathi-
sche Weltbild“.
I. Die weltanschauliche Position der Metaphysik des Spiels.
II. Die „Zeitkritik“: Analyse des Kulturzerfalls, Abwendung von den
Idealen der Neuzeit und des 20. Jahrhunderts.

A/3a | Merknotizen:
1. Das Schema der traditionellen Auffassung der Struktur der Reflexion
als Auslegungshilfe der beiden Richtungen der abendländischen Philo-
sophie: ontologische und erkenntnistheoretische.
Die transzendentale Problematik als einheitliches Grundproblem
der Philosophie (ens und verum).
2. Der fragmentarische Rechtsstaat: das Sichheraushalten der machtmäßig
den Staat bildenden Schicht aus der Rechtsordnung; Staat für die Unter-
tanen, nicht für die Herren des Staates; Exempte Stellung des Gottes-
gnadenkönigtums oder der revolutionären Partei. (Vgl. Rosenberg:
Nicht Totalität des Staates, sondern Totalität der Partei!)
A/3b | Die Sicherung der exempten Stellung des Staatsherren (König,

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.
absolute Partei) gegen das Aufgefaßtwerden als Despotie durch ideolo-
gische Untermauerung: christliches Gottesgnadentum – Moralgefühl
der germanischen Rasse – Vollzugsorgan des revolutionären Willens des
Proletariates und Ähnliches. –
Der „fragmentarische Rechtsstaat“ ist keine echte Selbstbindung des
Lebens, sondern wurzelt in dem Gewaltverhältnis der Übermächti-
gung.
(Ein Gegenbeispiel ist der totale Rechtsstaat des „aufgeklärten Abso-
lutismus“ Preußens: König = erster Diener des Staates, Staatsorgan.)3
*
| Die Metaphysik des Spiels d. i. die Philosophie des Lebens scheint die A/4a
Verabsolutierung des bloß vegetativen Lebens zu sein, antimoralisch usw.;
vgl. ihre Destruktion des Pflichtethos, der Ideale, der Begeisterung, der
Werkethik usw. – in Wahrheit ist sie der Versuch, die „Apologie des Lebens“
als eine ausdrückliche Weise des Selbstverhältnisses des Lebens durchzu-
führen: sie kämpft nicht gegen die Größe des Lebens, aber gegen die
„moralischen“ Interpretationen des Seins: sie ist „jenseits von Gut und Böse“.

| Das Zerrbild des „Philosophen“: der „gute Jünger“, der im Wahne einer A/5a
Dienstidee lebt und so sein Leben überschlägt. (Beispiel: Husserls Auffas-
sung eines guten Nachfolgers; eine Rolle, die mir zugedacht ist!)
Diese „Selbstlosigkeit“ ist von alters her mit allen Gloriolen umgeben
worden: der „Idealist“ erschien immer als die einzige Form des großen
Lebens gegenüber dem bloßen Lustleben der Allzuvielen.

| Die Metaphysik des Spiels darf nicht in den Fehler verfallen, ihre „Optik des A/6a
Lebens“ in die Nähe eines antimoralischen Ressentiment zu bringen, etwa
in der Glorifizierung der vegetativen „Vitalität“ (Beispiele: Psychoanalyse,
Klages, Irrationalisten): das „Leben“ im antimoralischen Aspekt ist krasser
Naturalismus, ist ein komplementärer Gegenbegriff zur moralischen Lebens-
interpretation. Die philosophische Stellung zum Leben „jenseits von Gut und
Böse“ ist nur durch eine Epoché möglich, durch ein Zurückgehen hinter den
Kontrast von „moralisch“ und „antimoralisch“.
*
| Merknotizen: A/7a
1. Kritik an Husserls These von dem Subjektivsein der „lebensweltlichen“
Dinge. Husserl geht aus von der naturwissenschaftlichen Charakteristik
des erfahrenen Dinges als einer bloß subjektiven Erscheinung. Er sieht
nicht, daß die Naturwissenschaft in der These vom Subjektivsein der

3 Hier zwischen A/3 und /4 liegen zwei leere Blätter.

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.
„Erscheinung“ gerade Gebrauch macht von einem ontologisch relevan-
ten Unterschied von Gegenstand und Seiendem.
*
Das Verhalten des Menschen zum Sein: die ontische Reflexion.
*
Kritik an „Staat“, „Recht“.
*
A/8a | Notiz zu „Hütte im Oytal“:
die großen Realitäten des Lebens: Tag, Nacht, Regen, Sonne, Mond, Sterne,
Kälte, Wärme, Nähe, Ferne, Licht, Berge, Wolken, Wind, Leid, Trauer,
Verlassenheit, Einsamkeit, Verrat, Untreue, Verstellung, Angst, Sehnsucht,
das Geheimnis, das Geschlechtliche, das Mütterliche, die Frau, die Gebor-
genheit, das Kind, tragischer Pessimismus, Krankheit, Schmerz, Abschied,
Wehen in der Zeit.
A/9a | Ontologie des Sinnes
Metaphysik des „Sinnes”

Präsentation und Vergegenwärtigung


(intentionale Unterscheidung von Noesis – Noema – Gegenstand stammt aus
der Auslegung der Vergegenwärtigung).

A/9b I. | Intentionales Objekt in der Rolle des bloß intentionalen „Objekts“ im


Gegensatz zum wirklichen.
II. Intentionales Objekt und Gegenstand (Formale Ontologie)
III. ‹bricht ab›

23 | „Bestimmung des Menschen“ soll sich gliedern:


1. vom freien Leben.
Das Sichzurückholen des Lebens aus allen Verlorenheiten, Verspon-
nenheiten und Selbstüberschlagungen. Pan und Selbst. Wesen der Frei-
heit ist das Spiel.
2. Versucherische Existenz: Wir sind: a) benommen vom Seienden, b) Ver-
sponnenheit in das „Apriori“, c) befangen in der Welt.
3. Die ontologische Unerreichbarkeit des Menschen: der Seinsbann,
die Selbstmächtigkeit.
Der „Untergang in Gott“.
*

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.
| „Die Hütte im Oytal“4 24
Tagebuch eines Abseitigen, eines sich Aussetzenden, der mit dem Aussatz
des Selbstdenkens behaftet die Gemeinschaft fliehen muß, in der es erprobte
„Rezepte“ und die Gesundheit des Irgendwiedurchkommens für die Haltung
zum Leben gibt, in der gemeinsam gelebt wird, „öffentlich“ und geregelt,
staatliche Fürsorge.
Die Gliederung soll durch die allmähliche Verwandlung der Maxime
Λάθε βιώσας geschehen: von der Einsamkeit des Sich-aussondernden, der
aus den Maßstäben flieht, mit denen man das Leben mißt, und nicht dem
Leben begegnet, bis zur Einsamkeit als Heimkehr
| ins „Geheimnis“. Das Λάθε βιώσας verschiedene Stufen: 1) gegen die 25
Öffentlichkeit und unproblematische Weise zu leben. Also sich zurückholen
aus Staat, Sitte, Tradition. 2) „Verhaltenheit“. 3) Heimkehr in die „menschen-
lose Welt“: Hochgebirge. 4) Einsamkeit als Weg zum Selbst. 5) Vom Selbst
zum „Geheimnis”

*
Zum Wesen der „Ironie“: Ironie ist ein Ahnen des Spieles des Lebens, ist erste
Distanz zu der Rolle, ist ein philosophisches Grunderlebnis.
*
Wesen des Lebens ist die „Gewalt“: Gewalt will Macht.
Wie steht „Gewalt“, „Macht“ zum Spiel als metaphysischem Wesen
des Lebens??
*
| Nietzsche: ist seine Philosophie das Ins-Problemsetzen des Philosophie- 26
rens? Eine „Umwertung der Werte“ eben aus einer neuen menschlichen Sub-
stanz?!
Nietzsches Optik des Lebens: Epoché von allen „Rollen“.
Seine Philosophie eine „neue Haltung“? Ist der Zarathustra eine Haltung
und die Lehre von „Dionysos“ die philosophische Befreiung der spieleri-
schen Freiheit?
*

| Merknotizen: 27
Philosophie ein „Phänomen des Lebens“! Ist das immer topische Refle-
xion, immer geisteswissenschaftliche Anmaßung? Oder gibt es eine „Optik
des Lebens“?
*

4 Siehe die Anmerkung zu Z-XXIII 8.

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Apophantische Logik ist nicht an die Idealisierung der Wissenschaften
gebunden. Wohl aber die Logik als „Formale Ontologie“.
Eine apophantische Logik ist auf dem Grunde einer vorwissenschaftlichen
Welthabe wohl ausbildbar.
*
Gespräch mit Dr. Landgrebe:
1. Begriff des „Spekulativen“.
2. Nietzsche – Kierkegaard: die Philosophie wird sich selbst Problem.
3. Kulturbegriff und Naturbegriff der Philosophie.
28 4. | Was ist Philosophie? Eine Wissenschaft? Eine Haltung? Eine Lebens-
bewegung?
Meine Antwort: die Lebensbewegung des „Willen‹s› zur Macht“, die
Selbstbemächtigung des Lebens.
5. Begriff des „Dionysischen“: nicht das „Panische“, sondern das Spiel,
das sich immer wieder einläßt in „Rollen“. Spiel = das unversehrte
Leben, das notwendig untergehen muß in „Rollen“. Nietzsches Begriff
des „Dionysischen“, das freie Leben, jenseits aller Bindungen: das
„Abenteuerliche“, das Mögliche als lockende Lebensmöglichkeit.

29 | Welches ist die Situation, die heute den Start der Philosophie bestimmt?
Die innere Auflösung der christlichen Kultur!
Übermächtigkeit der Institutionen.
Philosophie, indem sie sich selbst in Frage stellt, stellt zunächst sich als
Kulturbegriff in Frage.
Dann erst Infragestellen als „Naturbegriff“: Was soll heute „Philoso-
phie“ im chaotischen Wirbel unseres Lebens?
30 | Meine Formel der Nietzsche-Interpretation: Nietzsches Fragen nach dem
„Leben“ darf nicht als Rückgang hinter die „Kultur“, als Erfassung des
„naturhaften“ Lebens verstanden werden, sowenig seine Kritik der christli-
chen Wertschätzungen eine „Biophilie“ ist, also kein naiver Biologismus,
der an den präkulturalen Lebenswerten wie „Gesundheit“, „Kraft“, Vitalität
orientiert ist.
Nietzsche frägt zurück auf das „unversehrte Leben“. Seine Formel dafür
ist „Dionysos“. „Jenseits von Gut und Böse“ = Jenseits aller Rollen des
Lebens als des Spiels, das gebunden ist an die panische Grundlage. Das
schwierigste Problem der

31 | Nietzscheinterpretation ist die Kennzeichnung von „Dionysischem“


und Panischem. In der Frühzeit Nietzsches erscheint das Dionysische als
Gegenbegriff des Apollinischen, gleichsam als das „Chaos“. Aber es ist das
Chaos des Schöpferischen, nicht des Panischen, das im Grunde nicht das

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Gestaltlose, Ordnungslose ist, sondern die Gewalt des Naturhaften, die ewige
Ordnung, die diesseits aller menschlichen „Ordnung“ ist.
*
Nietzsches sogenannte zweite Periode ist weniger die Zeit der Verabsolutie-
rung des philosophischen Wissens (vivat veritas, pereat mundus), sondern die
Übermächtigkeit des Lebens als Philosophieren:
| d. h. die fanatische-enthusiastische Vollzugsform des Philosophierens. Die 32
sogenannte dritte Periode ist Selbstbemächtigung des Lebens als Philoso-
phieren: d. h. das Zurückholen des im „Ideal“ der Wahrheit verstrickten
Philosophierens auf sich selbst: die Heimkehr des Lebens in das „absolute
Wissen“. – Die zweite Periode ist beherrscht von der Auffassung der Philo-
sophie als „Lebensexperiment“, als „versucherische Existenz“; die dritte
Periode erst ist die „Heimkehr ins unversehrte Leben, jenseits aller Rollen“.
*
Wie steht zu meiner Interpretation der Nietzscheschen Philosophie
| als der „Entdeckung des Lebens“, wobei Leben als das Seinsspiel verstanden 33
werden muß, Nietzsches Selbstauslegung als „Lehrer der ewigen Wieder-
kunft“???? Ist durch die Lehre von der ewigen Wiederkunft das Wissen vom
absoluten Leben, der Begriff des Dionysischen, wieder in einen kosmischen
Zusammenhang eingeordnet? Wird das Dionysische zu einem kosmischen
Begriff, ähnlich wie bei Hegel das „absolute Wissen“ zum „Weltgeist“,
zur „Weltvernunft“? Ist bei Nietzsche ebenso eine Wendung ins Populäre,
ins Reich des „gesunden Menschenverstandes“, also eine Metapher, eine
Auflösung einer anthropologischen Kategorie ins Kosmische, ähnlich wie
bei Bergson der Begriff des „élan vital“????
| Oder sind beide „Auslegungen“ unangemessen? (Die erstere Ausle- 34
gung liegt implizit in vielen wesentlichen Nietzscheinterpretationen, die
in der Wiederkunftslehre ein Ausschaltbares sehen. Allerdings diese Inter-
pretationen zumeist geleitet von der Auffassung, daß die Moralkritik, die
Übermenschenlehre, die neuen Werttafeln der eigentliche Nietzsche sei. –
Die andere Auslegung z. B. bei Löwith, Becker usw.: Löwith interpretiert die
Ausweitung ins Kosmische als existenzielles Aufsuchen einer Geborgenheit
in der Unabänderlichkeit des Seins, das an naturalen Kategorien verstanden
wird. Gewissermaßen ein Zurück zur Natur in der Situation /
| des Kulturzerfalls, also tiefer als bei Rousseau [dort „Zurück zur Natur“ als 35
Flucht vor der menschlichen Institution: Staat, Sitte, usw.]. Die Auslegung,
Nietzsches Wendung zum amor fati, zur „Notwendigkeit“, dem „höchsten
Gestirn des Seins“, sei eine Wendung zum Naturalen, interpretiert das
Dionysische als Panisches.)
Erst n a c h der Scheidung von Dionysischem und Panischem ist die
Frage nach dem Sinn der Wiederkunftslehre zu stellen.

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Vielleicht eine Interpretationsmöglichkeit im Aufhellen des Verhältnis-
ses von „integralem Leben“ (als Spiel) und dem „Geheimnis“ (Gott).
*
36 | Streitgespräch mit Husserl am 18.II.365
1. Das „Gottesproblem“ bei Husserl ist „reflexionsphilosophisch“ orien-
tiert, sofern die Philosophie die Aufgabe haben soll, die „religiöse Evi-
denz“ zum Problem zu machen, „ihr Recht“ herausstellen soll. „Gott“
also schon ein Philosophengott. Der menschliche Zugang zu Gott soll
über ihn etwas entscheiden.
Statt dessen glaube ich, daß das philosophische Problem „Gott“ nicht
in einer Kritik der religiösen Evidenz bestehen darf, weil man dann Gott
als ein Phänomen des Menschen nimmt, sondern daß die Philosophie
von sich aus zuvor entscheiden muß über Gott selbst, nicht über das
37 | menschliche Phänomen des religiösen Glaubens. Also keine Religi-
onspsychologie und Religionsphänomenologie kann über Gott philoso-
phisch sprechen, sondern allein die Philosophie, sofern sie philosophie-
rend nach Gott frägt. –
2. Unterschied zwischen einer „kosmogonischen Religion“ und einer
personalistischen (moralischen). Husserl hält die personalistische (jüdi-
scher Monotheismus) für die philosophisch relevantere; ich umgekehrt.
Kosmogonische Religion ist Bewahrung des spekulativen Geheimnis-
ses, ist wesentlich nicht Offenbarungsreligion, personalistische ist
„Offenbarung“. [Nietzsches „Wie hielte ich es aus, kein Gott zu sein“?!!]
*
38 | Das Wesen des Lebens ist die ständige Selbstverbergung („Untergang“,
„Entstellung“). Ein Wort für „Selbstverbergung“?
*
„Bestimmung des Menschen“ ist nicht als eine reflexionsphilosophische
möglich: der Mensch ist kein Gegenstand.
*
Der terminologische Grundbegriff der Selbstverbergung des Lebens ist
die „Überwerfung“.
Alles Spielen ist Überwurf einer „Rolle”
*
39 | Das Wissen vom Menschen:
1. das vorwissenschaftliche:
a. das Wissen der Altersstufen,
b. der Geschlechter,
c. des Bedürfnisses,

5 Vgl. Z-XXVI 49a-51b.

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.
d. Gesundheit und Krankheit,
e. das alltägliche – kollektive,
f. das der „Lebenserfahrung“,
g. der „großen Erlebnisse“,
h. der historischen Lage
i. staatliche – kirchliche Interpretationen des Menschen
usw. usw.;
2. das wissenschaftliche:
a) Psychologie, b) Biologie, c) Soziologie, d) Medizin, Ethnologie,
Moral, Geisteswissenschaften, Kunstwissenschaft, Religionswis-
senschaft, Kulturwissenschaft, Sexuologie

| ‹leere Seite› 40

| Merknotiz: 41
1. „Reduktion“ als Entkommen aus einer Befangenheit. Ablösbarkeit vom
Modell der Intentionalität.??!
2. Heideggers „ontologische Differenz“ als „externe“ Thematisierung
des Seins???
3. Zeigbarkeit von Hier und Unzeigbarkeit von Jetzt. (Optische und akus-
tische Zeichen.)
4. Die „Optik des Lebens“: d. h. Philosophie als Phänomen des Lebens
genommen ist etwas anderes als die historistische Neutralität!?!?!
5. Die Metaphysik des Spieles: vgl. Zarathustrastellen („Tanz“, „Leicht-
sein des Lebens“, „abhold allem feierlichen Ernste“ usw.)6
| Philosophie und Weltanschauung? 42
Ist Philosophie „Wissenschaft“ und Weltanschauung Religion (auch in
säkularisierter Form)??
Philosophie und Weltanschauung muß begriffen werden im Rückgang
auf das Verhältnis von theoretischer Vernunft und den wertsetzenden Mäch-
ten und Gewalten des Daseins.
(Leugnung der sog. „praktischen Vernunft“).
Weltanschaulich kämpfe ich gegen Husserls „Geist des 18. Jahrhun-
derts“.
| 7Der Staat und die Philosophie: Das Verhältnis der beiden ist nicht am 43
Schulbegriff der Philosophie orientierbar, sondern am Weltbegriff.

6 Zwischen 41 und 42 zwei leere Seiten.


7 Mehrfach gestrichen am Anfang dieser Seite ist die Notiz: „[Nuntius Orsenigo – Rücktritt
– Mgr. Wolker ainsi qu’une centaine de ses collaborateurs à la direction des associations
catholiques des jeunes gens.]“ Mons. Cesare Orsenigo war nunzio apostolico in Deutschland

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.
Wie verhält sich die kantische Scheidung von Schulbegriff und Weltbegriff
der Philosophie zu meinem Gegensatz von Naturbegriff und Kulturbegriff
der Philosophie???

Ba | 8Husserls Teleologie – topische Reflexion – Mut zur Thesis bei skeptischer


Haltung. –
– „Selbst“ und Ich –

I. Ablösbarkeit der Hume-Kantinterpretation von „Moralismus“.


Husserl selbst auf dem Boden der Säkularisation.
1. Säkularisation
2. Kampf um die Integrität der Philosophie
3. „Aufklärung“ – historisches Milieu. „Neuzeit“.
4. Kant (Schulmetaphysik des 18. Jahrhunderts)
5. Kant und die „zeitlose“ Problematik
6. Geschichte der Kultur und der Philosophie
7. Dilthey – Heidegger –

Bb 1. | Zeit
2. Theorie der Imagination
3. „Problemtheorethische Untersuchung zur Lehre vom Weltbegriff“9

1. Husserls weltanschauliche Position


2. Die geisteswissenschaftliche Methode und die Philosophie: Dilthey
3. Geschichtlichkeit der Philosophie?
4. Selbstmächtigkeit eines Philosophierenden?
5. Epoché und Reduktion

44 | Gespräch mit Landgrebe 29.I.36

1930–1946. „Rücktritt“: von Nuntius Orsenigo am 8. Februar 1945. Prälat Ludwig Wolker war
Generalpräses der katholischen Mannesjugend Deutschlands.
8 Hier beginnen die Notizen vom Ende des umgekehrten Hefts an; vgl. Beschreibung.

9 Ob die beigefügte Zeichnung zu diesem Thema oder zum nächsten gehört, ist schwer

zu sagen.

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Landgrebe wiederholt meine Einwendungen gegen den „Kulturbegriff“
der Philosophie (als intersubjektive, generativ-unendliche menschheitliche
Funktion),10 Landgrebe frägt nach der Berechtigung des Ansetzens der Idee
der autonomen Vernunftkultur als Teleologie des neuzeitlichen europäischen
Menschentums. Meine Antwort: Dies Husserls „weltanschauliche Position“:
Husserls „Moralismus“ (d. i. seine Vermengung der philosophischen Proble-
matik mit den traditionalen Werten der „Aufklärung“ als der Säkularisierung
der christlich-antiken Werte) besteht nicht in der Anerkennung einer „Trans-
zendenz der Werte“; denn eine solche widerspricht dem
| subjektivistischen Grundansatz seiner Philosophie; aber er verlegt dieselben 45
(bisher als „transzendent“ gültigen) Werte des europäischen-modernen
Humanismus in die Subjektivität, die Ausrichtung auf das „Gute“ wird bei
Husserl zu einer im Sein der Subjektivität liegenden Tendenz. Die Subjek-
tivität ist an sich „gut“, d. h. auf das Gute hinstrebend. Das Sein (sofern die
Subjektivität bei Husserl das absolut-Seiende ist) ist „moralisch“ gesehen.
– –
Die Rolle, die bei Husserl die Formalisierung der „doxischen Tendenz“
auf Einstimmigkeit spielt für die Begründung des „Moralismus“: Einstim-
migkeit
| wird gleichgesetzt mit Harmonie, mit „Selbstbefriedigung“, mit Glückselig- 46
keit, Eudaimonie, „Unstimmigkeit“ mit Zwiespalt, Zerissenheit usw. D. h.
Einstimmigkeit und Unstimmigkeit werden von vornherein schon in der
moralischen Perspektive gesehen.
Als „analytische“ Grundlage, die illustrativ für Husserls weltanschauli-
che Position zeugen soll, wird die „Einheit der Person“ analysiert: Person-
sein ist nicht nur ein Leben in der Aktualität der Gegenwart, sondern ein
Leben unter einer Zielstellung. Faktisch ist jedes Leben unterbrochen von
„Abfall von sich selbst“ usw.
D. h. die Stileinheit eines personalen Lebens (als ein Willenshabitus)
wird für Begriffe der Einstimmigkeit usw. zugrundegelegt.

| Gespräche mit Landgrebe 30.I.3611 47

Zu „Hütte im Oytal“:
Zynismus ist eine Weise der Auseinandersetzung mit den Menschen, ist
als Monolog unmöglich. Auch wo er als stummer Zynismus der Gedanken

10 Vgl. Z-XX XX/1a, Gespräch mit Landgrebe am 27.I.36.


11 Möglicherweise wurde dieses Datum gestrichen, weil ein vorgesehenes Gespräch verscho-
ben werden musste. Es gibt jedoch keine Notiz von einem Gespräch, das an diesem Tag
stattfand – wenngleich es sich beim Gespräch in 27–28 (ohne Datum) um dieses handeln
könnte, da das Thema „Kulturbegriff der Philosophie“ auf der Liste stand.

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auftritt, ist er kein echter Monolog, ist gleichsam ein innerliches Rechtbehal-
tenwollen, ein Selbstgenuß heimlicher Überlegenheit u. ä.
In der Natur ist Zynischsein unmöglich. Zynismus eine Kategorie des
menschlichen Sichzueinanderverhaltens. –
Begriff des monologischen Denkens: Das Denken in Einsamkeit. Ein-
samkeit aber ist nicht privater Modus der Gemeinschaft,
48 | und ist auch nicht isoliertes Alleinvorkommen, sondern Selbstsein, d. h. sich
selbst erfahren in der Eingestelltheit in das Ganze der Dinge. – – –
Enthusiasmus, Fanatismus, Zynismus, das Panische, die Widersprüch-
lichkeit der Liebe, das „Abenteuerliche“, das Selbst, die „dichten“ Momente
unseres Daseins („Sommerwolke“), Wachheit und Vitalität, Frauen und
Kinder, Tiere, Berge, Blumen, Sterne: unbegreifliches Hineingeratensein in
diese Welt der Dinge, die Freundschaft des Spieles: die trunkene Süßigkeit
des Lebens, Gott durch die Welt verborgen.
Philosophieren ist Heimkehren, besser Heimsuchen. Philosophie –
die Heimsuchung des Menschen. Der Mensch = das unheimliche Wesen
(δεῖνος); der
49 | Philosoph = der Heimsuchende (vgl. Novalis: „Philosophie ist Heim-
weh“).12 Heimsuchung ist nicht Suchung der Geborgenheit („Heimat“ ein
panischer Grundbegriff des Menschentums), sondern die Suchung des
unberührten (integralen) Lebens, ist Selbstbemächtigung des Lebens. Alles
Suchen aber ist kein Suchen in den schon immer gefundenen Bahnen des
(entstellten) Lebens, sondern ist als Hinausgehen über alle eingelaufenen
Pfade ein Versuchen, ein Versucherisch-sein, die große Versuchung, die
Wagnis und Gefahr in einem ist.
*
50 |*
Was in meinem 30. Jahr sichtlich geworden ist an der „Philosophie“, die in
meinem Leben vielleicht liegen mag, ist
1. die Metaphysik des Spieles;
2. die „Idee der Transzendentalphilosophie“ als Überfragen des Seins im
Hineinfragen in die Spielräume der „transzendentalen Bezüge“;
3. „Ontologie“ und „Reflexionsphilosophie“ in kritischer Beleuchtung
(Distanz zu Husserl und Heidegger);
4. der Naturbegriff der Philosophie als Selbstbemächtigung (Heimsuchung
und „versucherische Existenz“).
*

12 „Die Philosophie ist eigentlich Heimweh – Trieb überall zu Hause zu seyn.“ Novalis, Das

Allgemeine Brouillon 1798/99, in: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs,
Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard
Samuel, Darmstadt 1999, S. 675 [Nr. 857].

728 OH-VII

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.
Die Selbstverdeckung des Lebens z. B. Recht = stabilisierte Gewalt; die
schaffende Gewalt geht unter in eine Selbstbindung, innerhalb deren dann der
konträre Gegensatz von Recht und Gewalt besteht.
*

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OH-VIII

Beschreibung:
Die von Fink stammende Aufschrift dieses Oktavhefts nennt als Thema der Notizen:
„Zur Analyse des ‚Sinn‘-begriffes – 1934“. In dieses nahezu unbeschriebene Heft
wurden außerdem drei zusammengefaltete Blätter (Reihe A) zwischen den
Umschlag und die erste Seite gelegt. Die letzten Notizen der Heftseiten 8 bis 12
beziehen sich auf den Besuch des amerikanischen Sprachphilosophen Charles Mor-
ris (von der University of Chicago), der im Oktober 1934 nach Freiburg kam. Dieser
Besuch wurde Morris von Felix Kaufmann empfohlen, als er sich während seiner
einjährigen Forschungsreise in Europa in Wien aufhielt und dort Kaufmann ken-
nenlernte.1 Morris blieb zwei Wochen in Freiburg (vgl. HChr, S. 452; dazu Bw. IV,
S. 204, Kaufmanns Brief an Husserl vom 9.X.1934 und Bw. VI, S. 295, Husserls
Brief an Morris von Anfang Mai 1936).

Text:

Reihe A:
| Sprache als Medium ist ein Äußeres des Gedankens: Äußerung-medium A/1a
= „Sinn“.
Sinnfreie und sinnbegabte Gegenstände? Eine Sprache ist eo ipso eine
intersubjektive, die einsame Sprache ist eine ‹bricht ab›
Denken ist schon eine Objektivierung. Die Objektivität des „Gedan-
kens“, der Gedankenform, die selbst wieder ein Gedanke ist.
Was ist „ideal“: die reine Form! Die Gemeintheit, die selbst zum
Gegenstand werden kann.

1 Felix Kaufmanns Brief an Fink vom 18. August 1934 (vgl. EF05–75, Bilder Nr. 301–303).
Am 20. Juli 1934 (Brief in Finks Nachlass) meldet Kaufmann Fink, das Manuskript der
„VI. Meditation“ (der „Transzendentalen Methodenlehre“), das er damals gerade las, habe
„den allerstärksten Eindruck auf mich gemacht“. Bekanntlich behandelt der § 10 der VI. Medi-
tation das Problem der Sprache. Es verwundert daher nicht, dass Kaufmann Fink (am
18. August 1934) mitteilt, Morris komme „ja bei Ihnen gerade in Hinblick auf den Symbol-
begriff vor die rechte Schmiede“ (Brief in Finks Nachlass). -Vgl. dazu: van Kerckhoven,
Mundanisierung und Individuation bei E. Husserl und E. Fink, S. 80, Anm. 130.

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1. Sprechen ist ein Aussagen über = das Besprochene: das Ding, der Sach-
verhalt.
2. Das Gesprochene = der Satz = eine Gemeintheit = hinausgesetzt in die
Verwahrung von Meinungen im objektiven Medium der Sprache.

A/2a | Die Schrift als Fixierung des Gesprochenen.


Schrift als Bedingung der Möglichkeit für das Sein von „toten Sprachen“.
Das Vorhandensein ohne Gesprochenzusein.
Schrift aber ist doch nur die Verwahrung eines flüchtigen Expressions-
materials in einem dauerhafteren.
Der Sinn ist sinnvoll zumeist auf die Situation des Sprechenden bezogen,
er ist vorübergehend. Was aber bedeutet dann die These: die Bedeutung
ist zeitlos?
Der aktuell gemeinte Sinn ist ausgedrückt durch eine ständige Sinnmög-
lichkeit, eben im Medium der Sprache.

A/3a | Laut als phonetisches Zeichen für einen „Gedanken“ ist eine iterierte Zei-
chenfunktion.
Der „Gedanke“ = die Gedachtheit ist schon ein Sinn.
Diese ist nicht ein „Innerliches“, sondern bereits eine Transzendenz im
Medium der bereitstehenden Sprache.
Denkend, d. i. Gedanken denkend, sind wir schon immer auf Außer-
Immanentes bezogen und zwar nicht allein durch den Gedanken auf
das Worüber des Gedankens, sondern jeder Gedanke als solcher ist eine
Transzendenz, ist ein Sinn. Rein innerliches Denken mag nur im Modus der
Verworrenheit möglich sein, als Denken eines Gedankens, eines sprachlich
objektivierbaren, ist es schon auf ein Objektives bezogen: eben auf den Sinn
als solchen.
Innerlichkeit als Thema des Bewußtseins ist später als Transzendenz!???
Die Bezogenheit auf die transzendente Objektivität „Sinn“ ist
ermöglichender Grund für die objektive Verwahrung im Medium der Spra-
che.

1 | Ontologie des „Sinnes“: vieldeutig; es ist fraglich, ob „Sinn“ überhaupt eine


echte ontologische Kategorie ist.
Zunächst Frage nach dem Verhältnis von „idealem“ Sein und dem rea-
len!?

Beispiele für Arten von „Sinn“:


1. mathematische Gebilde (Zahl, Proportionen, Funktionen);
2. Bedeutungen als Sinn von Sätzen;

732 OH-VIII

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3. Bedeutung als Bewandtnis realer Dinge (z. B. Bekanntheitsquali-
tät, Merkzeichen);
4. Zeuge (πράγματα);
5. Sinn als Kunstwerk, als „Symphonie“, als „Bildwelt“;
6. | “Sinn“ als „intentionales Objekt“ (Wahrnehmungssinn); Sinn 2
als Bezugsphänomen;
7. „Sinn“ als echtes Symbol, nicht als Zeichen, als Sinnbild;
8. z. B. „Staat“ als Sinn;
9. Iterierte Sinnbildungen: Zeichen für „Sinne“ sind iterierte Sinnbildun-
gen: z. B. Laute als phonetische Zeichen für „Gedanken“. „Gedanken“
sind schon intersubjektive Sinne.
| Die traditionelle Fassung des Begriffs des „Sinnes“ birgt in sich eine 3
erkenntnistheoretische Unterscheidung von Wahrnehmen und Verstehen.
Dies phänomenologisch nicht zu halten.

| ‹leere Seite› 4

| Husserls Theorie von der Zeitentrücktheit des idealen Sinnes und seine 5
Methode der Aufzeigung des identischen Sinnes in den mannigfachen
Verwirklichungen ist irreleitend: nicht die „Identität in den Wiederholungen“
ist das Wesentliche des Sinnes. Sinn ist nicht wie Allgemeines und Exempel.
Z. B. eine Symphonie ist identisch in allen Aufführungen: aber was hier
Identität heißt, ist verschieden von einer substantiellen Identität (gegen den
platonisierenden Substantialismus!!!).
Im Wesen des auf Wiederholung angelegten Seins einer Symphonie
liegt ihre
| Identität. Analyse des Phänomens der Sinnidentität im Gegensatz zur 6
ontischen Identität.
Sinnidentität prinzipiell eine abstrakte. Problem dieser Abstraktheit??

| Sinn als Sprachbedeutung: Notwendig aus dem ontologischen Wesen der 7


Sprache zu begreifen. Bedeutung ist ein Gedanke, Gedanke kein ideales
Seiendes, sondern eine Sinnidentität des immer wieder dasselbe Denkenkön-
nens. Identität des Seienden (als Gegenstand des Denkens) ist ontische
Identität. Zuordnung von Gedanken zu objektiven Worten.
Wort = Gedanke + Laut. Dabei ist Gedanke schon sinnidentisch und Laut
auch schon sinnidentisch gefaßt.2

2 Es folgen drei leere Seiten.

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.
8 | Vorbereitung für Stunde für Morris
1. These: Die kosmologische Philosophie als Ontologie hat als legitimes
Problem die „Phänomenologie des Sinnes“. Diese Phänomenologie des
Sinnes hat zwei korrelativ aufeinander bezogene Seiten: a) Thematische
Ontologie des Phänomens „Sinn“; b) die korrelative erkenntnisanalytische
Thematik der „Sinn“-erfassung.
Inwiefern ist die Analyse des Sinnbegriffes eine „Phänomenologie“?
Weil sie in der Methode der intentionalen Explikation verläuft. Dadurch ist
sie in a) und b) den traditionellen Analysen überlegen.
9 | 2. These: Die gegenständlich gerichtete thematische Ontologie hat kein
echtes regionales Thema. „Sinn“ eine heterogene Phänomene überdeckende
Bezeichnung. Versuch einer Übersicht: 1) „Ideale Gegenstände“ wie Zah-
len, Begriffe, Allgemeinheiten, Gedanken. Das ontologische Problem des
„Idealen“. – 2) Sinn als Sprachbedeutung („Ausdruck“). Nur zu verstehen
im Rückgang auf das Wesen der Sprache. – 3) Sinn als „Bewandtnis“ (als
subjektive Prädikate, ohne objektiven Niederschlag). 4) Sinn als Zeug: ein
real Seiendes als Sinngegenstand. Z. B. ein Stuhl.
5) Sinn als „Kunstwerk“ z. B.
10 | eine „Symphonie“.
6) Sinn als magisches Symbol in Dichtung, echtes συμβάλλειν.
7) Bild als eine Form von Sinn. Bild kein Zeichen. Gegen Husserls
Kontrastierung von Bild und Zeichen: Ähnlichkeit und Unähnlichkeit.
„Ähnlichkeit“ als die zwischen Bild und Original ist eine andere als die
zwischen Originalen.
8) Sinn als „Staat“ usw., als Institution.
9) Sinn als iterierter Sinn: Zeichen für Sinn. Einfache und iterierte Zeichen-
funktion.
10) Der gnoseologische Begriff des Sinnes: Wahrnehmungssinn, Erlebnis-
sinn, usw. Hier hat „Sinn“ einen nur aus dem We-
11 | sen des Erkennens heraus zu begreifenden Sinn. (Aufgabe einer
Ontologie der Erkenntnis) – Kritische Zuspitzung der These: man hat
gemeinhin bestimmte, auf eine Art von Sinn zutreffende Charakteristika
unzulässig formalisiert, eben in der falschen Voraussetzung der regiona-
len Affinität des Sinnphänomens.
3. These: Sinnidentität – als abstrakte Identität: Gegensatz zur ontischen
Identität. Grundformen der ontischen oder konkreten Identität je nach den
regionalen Mannigfaltigkeiten des Realen. Nur Reales ist identisch.3
12 | 4. These: Sinnanalyse als zweifache mögliche: a) als interne, d. h. auf dem
Boden der Sinnidentität stehende. Diese gibt kein echtes Verständnis. b) Als
externe, die Sinnidentität destruierende.

3 Hier folgen zwei leere Seiten.

734 OH-VIII

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.
Dieser Unterschied läßt sich auch fassen als a) Auslegung im Sinn-
vollzug: naive Explikation; b) Auslegung des Sinnvollzugs; abständige
Explikation. Epoché!?

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Zwei lose Blätter
aus den dreißiger Jahren
M- IV „Bibliographisches E.F.“

Beschreibung:

Die Blattart, die behandelten Themen und der Stil der Notizen legen die Vermutung
nahe, dass diese zwei losen Blätter ohne Datum aus den dreißiger Jahren stammen.
Sie wurden ohne bestimmten Kontext unter anderen verschiedenen Dokumenten
gefunden, die Frau Susanne Fink in einem Ordner mit der Aufschrift: „Bibliographi-
sches E. F.“ untergebracht hatte.

Text:

| Gegensatz zu Husserl hinsichtlich der Motivation des Philosophierens: 1


bei Husserl ist die Motivation Wissenschaft als Grundlage eines humanen
Daseins. D. h. ein Humanismus ethischer Art, der eine Säkularisierung eines
religiös-optimistischen Lebensgefühls darstellt. Wissenschaft als autonom
gewordene Religion (Judengott im Hintergrund?).
Meine Auffassung vom Antrieb des Philosophierens ist „jenseits von
Gut und Böse“: Philosophieren eine Leidenschaft des Lebens, das ihm
Eigenmacht verschafft.

| Einsamkeit? Λάθε βιώσας!1 2a


„Einsamkeit“ keine Stimmung, sondern eine Existenzweise, die intendiert
werden kann. „Einsamkeit“ und Individualität? Einsamkeit ist nicht Allein-
sein als negativer Modus der Sozialität. Ist auch nicht Isolation (etwa ein
weltloses Ich), sondern ist zugleich Weltgefühl.
Einsamkeit als die Selbstzurücknahme des Lebens aus den ontischen Selbst-
entfremdungen.
Einsamkeit und Tod?
Einsamkeit als Selbstmächtigkeit des Lebens ist die Weise des Lebens, in
welcher erst der Mensch sich Gott und den letzten Dingen stellen kann.
| Einsamkeit – ganz unsentimental verstanden – als Leben in der Wahrheit. 2b

1 Vgl. die Beschreibung zu OH-III.

Zwei lose Blätter 737

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Einsamkeit und Gott? Einsamkeit als Selbsthaftigkeit zerbricht in das meon-
tische „Eine“.
Einsamkeit als die Lebenshaltung der Philosophie.

738 Zwei lose Blätter

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Abschnitt 2. Briefe und Entwürfe

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Brief an Gaston Berger, Mai 1936
‹ohne Originalsignatur›

Beschreibung:
Am 25. Juni 1934 schrieb Gaston Berger an Fink im Zusammenhang des Aufsatzes
„Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?“, den Fink ihm kurz zuvor zuge-
schickt hatte und den Berger in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Les Études
Philosophiques rezensieren wollte. (Der Brief befindet sich im Fink-Nachlass.) In
seinem Brief äußerte Berger zudem den Wunsch, nach Freiburg zu kommen und sich
dort mit Fink ausführlich zu unterhalten über „des positions et des solutions
qu’adopte la Phénoménologie touchant certains problèmes de Théorie de la Con-
naissance qui me préoccupent“. Im August kam es zu diesem Treffen; Berger hin-
terließ einen starken Eindruck bei Husserl (vgl. Husserls Brief an Gustav Albrecht
vom 7. Oktober 1934, Bw IX, S 105f.) und erhielt nach Gesprächen mit Fink von
diesem eine Kopie der „VI. Meditation“ (jedoch ohne den § 12)1. Auf diese Weise
wurde die „VI. Meditation“ im Umkreis der Kollegen und Studenten von Gaston
Berger bekannt – zu ihnen zählte auch Maurice Merleau-Ponty.2 (Bergers Rezension
erschien in Les Études Philosophiques, VIII, 1934, S. 44f.)
Der vorangegangene Brief, in dem Berger die hier von Fink beantworteten Fragen
aufwarf, ließ sich im Fink-Nachlass nicht finden. Finks Antwort liegt in einer
maschinenschriftlichen Abschrift vor.

Antworten an Berger, Marseille, Mai 1936:

Im folgenden will ich noch einmal versuchen, Ihre 6 Fragen zu beantworten:


1. Ihre erste Frage, ob der Akt des Urteilens (juger) mundan oder transzen-
dental sei, und ob die Rolle des „Ego“ in seinem Weltbezug als ein „Akt“
aufgefaßt werden könnte, zielt, soweit ich Sie richtig verstanden habe, auf
die Problematik des Seins der cogitationes des Ego ab. Damit haben Sie
eine Frage berührt, die gar nicht im Rahmen eines statischen Entweder-Oder,
also gar nicht im Rahmen der disjunktiven Unterscheidung von „mundan“
und „transzendental“ beantwortet werden kann, sondern allein aus der

1 Siehe van Kerckhoven, Mundanisierung und Individuation. Die VI. Cartesianische Medi-

tation und ihr „Einsatz“, S. 29 u. S. 80f.


2 Merleau-Pontys Lektüre der „VI. Meditation“ findet Erwähnung in: Herman Leo Van

Breda, „Maurice Merleau-Ponty et les Archives-Husserl à Louvain“, Revue de Métaphysique


et de Morale, 67 (1962), S. 421f.

Brief an Gaston Berger 741

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dynamischen Natur des Geistes, wie sich diese in der phänomenologischen
Reduktion offenbart, begriffen werden kann. Denn die cogitationes des Ego
sind mundan und transzendental, wie das Ego selbst, das wesenhaft in der
Selbstkonstitution (d. i. der konstitutiven Rückbetroffenheit des seinskon-
stituierenden Lebens) sich zum seienden Menschen inmitten der seienden
Dinge konstituiert, sich seiner schöpferischen Vorzugstellung begibt und
scheinbar als Ding unter Dingen sich ansiedelt in der Welt, die in Wahrheit
sein Gebilde ist.
Im Hinblick auf diese „Selbstkonstitution“ des Ego (zum Menschen)
kann also das Sein der cogitationes allein bestimmt werden. Zunächst,
also vor der Philosophie, sind alle Formen des intentionalen Lebens (nicht
bloß die abgehobenen, artikulierten Aktintentionalitäten) mundane Gege-
benheiten, uns ebenso in einer gewissen Vertrautheitstypik vorgegeben
wie die Dinge. Durch den Vollzug der „phänomenologischen Reduktion“
nun entdeckt man im Durchstoßen der scheinbaren Mundaneïtät des Ego
dessen transzendentales Wesen: damit werden auch sofort alle Akte und
sonstigen intentionalen Lebensäußerungen des Ego als transzendental ihrem
Wesen nach, bislang nur durch den selbstkonstitutiven Auffassungscharakter
„menschliche Erlebnisse“ verdeckt erkennbar – aber diese nun in ihrem
wahren Wesen einsichtigen transzendentalen Erlebnisse sind noch in der
massiven Artikulation gegeben, die schon zu ihrer vorgängig-mundanen
Gegebenheit gehört. Wir haben jetzt anstelle psychischer Akte transzenden-
tale Akte. Jetzt erst beginnt die eigentliche transzendentale Analyse der
Intentionalität, die bald in die konstituierenden Tiefen des transzendentalen
Lebens hinabführt, die in der natürlich-weltlichen Einstellung prinzipiell
unzugänglich sind. Damit verwandelt sich also der Begriff „alle“ cogitatio-
nes. „Alle“ cogitationes in der Natürlichen Einstellung sind im Ganzen
genommen ein Universalhorizont analytischer (psychologisch-anthropologi-
scher) Forschungen. Durch die Reduktion werden „alle“ im natürlichen Hori-
zont zugänglichen Intentionalitäten in ihrer transzendentalen Eigentlichkeit
erkennbar; aber es wird auch einsichtig, daß sie selbst konstituierte Einheiten
eines nie gesehenen transzendentalen Tiefenlebens sind. Diese Tiefenschich-
ten im transzendentalen Ego haben nicht mehr die Struktur der Akte. Durch
die phänomenologische Objektivation werden diese Tiefendimensionen des
Lebens wiederum in einer gewissen Weise „vergegenständlicht“ und strömen
durch die ständige Rückkehr der phänomenologischen Resultate in den
intersubjektiven natürlichen Horizont der öffentlichen Wissenschaft in einer
– in Kürze schwer erklärbaren – Weise in die Natürliche Einstellung ein und
bereichern den scheinbar abgeschlossenen Begriff „alle cogitationes“ um
neue Dimensionen. Ich verweise Sie hier nachdrücklichst auf Husserls neue
Schrift, in der diese Problematik des „Einströmens des Transzendentalen in
die natürliche Einstellung“ geklärt wird.

742 Brief an Gaston Berger

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2. Ihre zweite Frage nach dem Sinn des Ausdrucks „Unbekanntheit“
der phänomenologischen Reduktion (in meinem Kantstudienartikel) kann
sich zunächst beantworten durch Abgrenzung gegen die von Ihnen vorge-
schlagenen Termini „inconnaissable“, „ineffable“, „méconnue“. Gewiss ist
die Fundamentalmethode der phänomenologischen Philosophie „méconnue“
im Verhältnis zum Zeitalter, auch „ineffable“, sofern sie nicht in schlichten
Sätzen der natürlichen Sprache exponierbar, sondern vielmehr in einer
Verwandlung der natürlichen Sprachlichkeit allein aussagbar ist; aber sie
ist keineswegs „inconnaissable“, sondern eine durchaus rationale Methode,
die prinzipiell von Jedem vollziehbar und in zwingender Evidenz einsehbar
ist. Der Ausdruck „Unbekanntheit“ meint nicht eine Unbekanntheit dieser
Methode bei den gegenwärtigen Philosophen, keine Unerkennbarkeit oder
Ähnliches, sondern allein die Weise, wie die Reduktion als eine Möglichkeit
des Ego da ist. Thesenhaft gesprochen: sie ist eine Möglichkeit des Ego, keine
Möglichkeit des Menschen. Sofern aber zunächst immer das Selbstverständ-
nis des Ego im Selbstverständnis des Menschen befangen bleibt (eben bis zur
Reduktion), ist sie als Möglichkeit unbekannt. Der Mensch verfügt nicht nur
über ein apriorisches Wissen um die Wesensstrukturen der Dinge, sondern
bewegt sich ständig in einem ungefähren Wissen um seine Möglichkeiten.
Seine Möglichkeiten sind ihm – wenn auch nur dunkel und horizonthaft –
bekannt. Aus der Bekanntheit seiner Möglichkeiten her ist alles und jedes
Handeln im voraus schon immer geführt und für sich selbst erhellt. Die
phänomenologische Reduktion ist nun kein in einer solchen Bekanntheit
als Möglichkeit vorgegebenes und erhelltes Vorhaben. Vielmehr sprengt sie,
wenn sie aus verborgenen (aus der Tiefe des Ego stammenden) Motiven
wirklich wird, gerade den ganzen Bekanntheitshorizont der menschlichen
Möglichkeiten und stellt das Subjekt in den niebetretenen Spielraum seiner
transzendentalen Freiheit.
3. Zum Dritten fragen Sie, inwiefern die Reduktion zwar das Ego
intendiere, aber dabei eine ganz neue Ansicht aller Dinge herbeiführen
soll, und wie ferner bei einer solchen Auslegung der Reduktion das Ego
„konkret“ genannt werden könne. Die Reduktion intendiert das Ego als
den fungierenden Ichpol des intentional-konstituierenden Lebens. Nicht das
„Ich“ als formelles Strukturmoment, das als solches gegen den Unterschied
von „mundan“ und „transzendental“ indifferent ist (oder besser eine durch-
gängige Struktur des Lebens darstellt), ist das Ziel der Denkbewegung
der phänomenologischen Reduktion, sondern das Ego als konstituierendes
Funktionszentrum. Die Freilegung des konstituierenden Ego wird eo ipso
zur Aufklärung des konstitutiven Ursprungs aller Dinge im Ego. Also nicht
allein das „Ich“ ist Thema der Phänomenologie, sondern gerade weil das
Ich in seiner Ichheit radikal begriffen wird als konstitutives Fungieren,
muß das Seiende im Ganzen zum Thema einer neuen Auslegung, eben

Brief an Gaston Berger 743

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der transzendental-konstitutiven werden. Das konstituierende Ich allein ist
das wirklich „konkrete“ Ich. Was man sonst unter Konkretion des Ich
versteht: das Ganze des Menschen (Leib-Seele in naturaler, sozialer und
kultureller Gesamtsituation) ist in Wahrheit als eine konstituierte Sinneinheit
ein unselbständiges Gebilde und muß in die Konkretion des konstituierenden
Lebens zurückgenommen werden.
4. Zur vierten Frage möchte ich kurz bemerken, daß mir Interpretationen
des Husserlschen Weges zum Ego von Seiten seiner Schüler (sofern es keine
Mißverständnisse sein sollen) nicht bekannt sind. – Das „Jahrbuch“ ist seit
1930 nicht mehr erschienen.
5. In welcher Weise es „legitim“ ist, nach „Vorformen“ der Reduktion
bei den früheren Philosophen zu forschen, zeigt der II. Abschnitt des
neuen Buches von Professor Husserl, der in einer philosophisch-historischen
Methode dem Aufleuchten des „transzendentalen Motivs“ in der modernen
Philosophie nachgeht (vgl. vor allem die Interpretation Descartes’, Humes
und Kants). Es wird gewiß nicht mehr lange dauern, bis Sie es studieren
können. Ich werde Herrn Professor Husserl bitten, Ihnen vielleicht den
II. Abschnitt schon in den Korrekturbögen zu schicken.
6. Die sechste Frage scheint mir in Kürze am schwersten zu beant-
worten. Gewiß ist richtig, was Sie offenbar selbst meinen: daß man die
phänomenologische Reduktion als eine „transzendentale Eidetik“ betrachten
kann, die bei aller Differenz zur mundanen Eidetik eine gewisse formelle
Ähnlichkeit mit ihr hat. Aber genauer zu bestimmen die Differenz und die
formelle Ähnlichkeit, dürfte die Aufgabe einer kleinen Abhandlung sein. Ich
möchte Sie nur darauf hinweisen, daß das mundane Apriori die theoretische
Ausformung eines Wissens ist, in dem wir uns vor aller Theorie bewegen.
Das Seiende in der Welt ist uns in seinen typischen Strukturen (seinen
Washeiten, seinen kategorialen Formen) irgendwie vorgegeben. Index dieser
vortheoretichen „Vorgegebenheit“ ist die Sprache. In der transzendentalen
Sphäre gibt es keine „Vorbekanntheit“, keine sprachliche Vertrautheit. –
Ferner ist die Rolle der Ideation in der mundanen und der transzendentalen
Sphäre ganz verschieden. Mundane Ideation ist wissensmäßig-ausdrückliche
Bemächtigung einer vordem bestehenden Vertrautheit mit dem Wesen der
Dinge, des Seienden. Transzendentale Ideation ist Schaffung einer wesensall-
gemeinen Begrifflichkeit, die bezogen ist auf Seinsbildung (Konstitution).
Vielleicht hilft Ihnen dieser Hinweis etwas!

744 Brief an Gaston Berger

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.
M-III Grammata
(zu Husserls „Krisis“), 1933–38

Beschreibung:
In dieser Mappe mit der Aufschrift: „Eugen Fink. Grammata“ hat Fink mehrere
maschinenschriftliche Entwürfe gesammelt und zusammenbinden lassen. Die ange-
gebenen Daten stammen aus den Jahren von 1933 bis zum 29. April 1938. Sämtliche
Aufschriften sind von Finks Hand, mit Ausnahme derjenigen, die in spitzen Klam-
mern stehen. In der ursprünglichen Sammlung wurden die Entwürfe von 1 bis 14
durchnummeriert. Im Folgenden wird das ursprüngliche Inhaltsverzeichnis wieder-
gegeben, das sich am Anfang der „Grammata“ befindet:
1. Totenrede auf Edmund Husserl.
2. Bericht über E. Husserls unveröffentlichte Manuskripte.
3. Übersicht über den Hauptinhalt von E. Husserls Manuskripten.
4. Edmund Husserls Manuskripte.
5. Vorschläge für E. Husserl.
6. Vorschlag zu E. Husserls Ausarbeitung seines Prager Vortrags.
7. Vorschlag für E. Husserl (Geschichte als philosophisches Problem).
8. Vorschlag für E. Husserl (Das Problem der Humanität).
9. Vorschlag für E. Husserl (Schlußsätze des Wiener Vortrags).
10. „Edmund Husserl“, Artikel im Philosophenlexikon von Eisler.
‹handschriftlicher Zusatz: Ziegenfuß›
11. Mercedes Alonso-Stunde (Kants Prolegomena …).
12. Vorwort zu dem Buch von Z. Micic Fenomenologija E. Husserla.
13. Kritische Anmerkungen zum „Physikalismus“.
14. Karl Löwith und die Phänomenologie.
Für die vorliegende Edition wurden die einzelnen Entwürfe und Vorschläge geson-
dert betrachtet und mit neuen Nummern versehen.

M-III Grammata 745

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.
Nr. 1:
Totenrede auf Edmund Husserl bei der
Einäscherung am 29. April 1938, gesprochen
v o n E u g e n F i n k .1
Mitten in der Arbeit an der entscheidenden Schrift, in welcher Edmund
Husserl seine letzte Wahrheit zum Ausdruck bringen und so seinem Werke
die innere Vollendung geben wollte, ergriff ihn die tödliche Krankheit.
Weil das wesentliche Geschehen seines Lebens das Philosophieren war,
erscheint uns jetzt vielleicht sein Tod unzeitig und ohne Sinn. Die Frage
steht auf: Ist damit das Leben des Verstorbenen unvollendet und tragisches
Fragment geblieben?
Die Stille, die vom Toten ausgeht, bietet keinen Raum mehr für die rühmende
und preisende Rede, die dem Werke, der philosophischen Leistung Edmund
Husserls gilt. Aus der Welt menschlicher Maßstäbe und menschlicher Ehrung
ist er durch seinen Tod entrückt. Das Werk steht für sich und wird bestehen
und gewürdigt werden, solange der Mensch seinen Rang und seine Würde in
das Wissen der Wahrheit setzt.
Der Sinn des Todes, den Edmund Husserl starb, geht einem erst auf im Blick
auf das Leben dieses einzigartigen Mannes, der sein Philosophieren begriff
als Auftrag und Gnade Gottes und es so von vornherein entrückt hat aus
den begrenzten Sinnzusammenhängen eines im Endlichen verschlossenen,
sich ängstlich vom Tode freihaltenden Lebens. Der Tod war ihm nie die
fremde, sinnzerstörende Macht, die ein in sinnvollem Selbstaufbau begriffe-
nes Dasein jäh beendigen kann; der Tod war ihm immer das Mysterium des
Lebens, seine eigentliche Sinnerfüllung. Wie das Wesen der Gerechtigkeit
hinausweist über das Irdische und hinzeigt auf das Tor des Todes, so erschien
ihm immer das Wesen des Lebens tod-durchdrungen und tod-durchdringend.
Sein eigenes Leben hielt er unbändig und bis zum Rand erfüllt von jener
Leidenschaft, jenem wachen Enthusiasmus eines unbedingten Denkens, das
zutiefst dem Wesenhaften und Ewigen galt, jenem Ewigen, das auch außer-
halb des philosophischen Begriffs sich dem Menschen offenbart im Schönen
und im Heiligen. Gerade weil Edmund Husserl in absoluter Unbedingtheit
sein Leben über alle Verhaftung im Flüchtigen und nur Diesseitigen erhoben
hatte und mit seiner ganzen Lebensinbrunst im Ewigen und Wesenhaften
existierte, war er vollendet und als ein Vollendeter konnte er wahrhaft ster-
ben.

1 Der Text wurde in Perspektiven der Philosophie, 1 (1975), S. 285–286 veröffentlicht. Husserl

war am 27. April 1938 um 5:45 Uhr im Alter von 79 Jahren und 19 Tagen gestorben (HChr,
S. 489).

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Die Wahrheit seines Todes, der gültige Sinn seines Heimgangs ins Ewige ist
würdig allein ausgesprochen mit dem Worte Platons: „Τῷ ὄντι ἄρα οἱ ὀρθῶς
φιλοσοφοῦντες ἀποθνήσκειν μελετῶσι“; „In der Tat trachten die richtig
Philosophierenden danach zu sterben.„

Nr. 2:
Bericht über Edmund Husserls
unveröffentlichte Manuskripte
von Dr. Eugen Fink, Freiburg i./Br. 1933.
Die mehrere tausend Seiten Stenogramm umfassenden Manuskripte E. Hus-
serls enthalten eine konkret-analytisch durchgeführte phänomenologische
Weltinterpretation. Die Eigenart des dem natürlichen Denken und seinen
Traditionen fernab liegenden phänomenologischen Philosophierens hat es
mit sich gebracht, dass die publizierten Schriften zunächst nicht über all-
gemeine Vorzeichnungen – wenn auch konkret fundierte – hinausgehen
konnten. Deshalb liegen die Ergebnisse der jahrzehntelangen Forschungsar-
beit und damit die verwirklichte phänomenologische Philosophie E. Husserls
gerade in diesen unveröffentlichten Manuskripten. Diese lassen sich in
zwei Hauptgruppen einteilen: einmal in solche, welche die weitverzweigte
Problematik der sog. „Natürlichen Einstellung“ (d. i. des nie befragten
und nie eigens thematisch gemachten Problembodens der traditionellen
Philosophie und aller vorphilosophischen Erkenntnishaltungen) in Angriff
nehmen; und zweitens in solche, die der Auslegung des erst durch die
„phänomenologische Reduktion“ zugänglichen eigentlichen Problemfeldes
der Philosophie, nämlich der transzendentalen Subjektivität, gewidmet sind.
Die erste Hauptgruppe setzt ein mit universalen Besinnungen und Klä-
rungen, die den Kosmos der Wissenschaften und die Idee der Wissenschaft
zum Thema haben. Nicht um eine Wissenschaftstheorie im üblichen Sinne
geht es hier, sondern um die verstehende intentionale Interpretation der
in der Wissenschaft selbst vollzogenen und auch als verdeckte Vorausset-
zungen ihr zugrundeliegenden Sinnbildungen. Das von Dilthey intendierte
Problem einer philosophischen Auslegung des Unterschieds von Natur- und
Geisteswissenschaft kommt zur expliziten Durchführung in der Weise einer
Rückfrage auf die den wissenschaftlichen Einstellungen vorangehenden
personalistischen und naturalistischen Einstellungen des vorwissenschaftli-
chen Lebens. Überhaupt wird von allen Wissenschaften aus der Rückgang
angetreten in die vortheoretische Lebenshaltung, aus welcher alle Wissen-
schaften motiviert werden und auf die sie immer zurückbezogen bleiben. Die
Auslegung der vortheoretischen Lebenswelt, als Welt der Erfahrung in den
Mannigfaltigkeiten der subjektiven Gegebenheitsweisen, im Wechsel der

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.
relativen umweltlichen Gegebenheit als Heimwelt und Fremdwelt usw. stellt
ein umfassendes Grundthema von sehr vielen Manuskripten dar. Unter einem
weiteren zentralen Titel sind große Manuskriptbände zusammengefaßt: dem
der Ontologie. Methode und Methodologie der Ideation, die Ausgestaltung
der formalen Logik zu einer formalen Logik der Individuation, die Durch-
führung der material-eidetischen Disziplinen, sowie die Aufweisung der
der Möglichkeit einer Ontologie zugrundeliegenden, bisher unbefragten
Voraussetzungen: all dies sind darin in extenso behandelte Sonderthemen.
Eine weitere Gruppe von Manuskripten ist der phänomenologischen Reform
der Psychologie gewidmet, der Ausbildung einer reinen intentionalen Innen-
psychologie, die vor allem auch das Problem der Intersubjektivität als ein
Grundproblem der Psychologie ausgestaltet. Eine umfangreiche Manuskript-
folge behandelt das Problem einer phänomenologischen „Erkenntnistheorie“
als einer intentionalen Theorie der Evidenz. Diese Manuskripte stellen das
Kernstück einer Phänomenologie der Vernunft dar. Ein großer Kreis von
Manuskripten wiederum wird durch das gemeinsame Grundproblem der
Aufweisung der Welt als eines „Vorurteils“ bestimmt: sie dienen der Exposi-
tion des transzendentalen Problems, führen in die notwendigen Paradoxien,
die bei einer wirklich radikalen Thematisierung des weltlichen Subjektes, sei
diese ontologisch, psychologisch oder geisteswissenschaftlich, auftreten.
Die Manuskripte der zweiten Hauptgruppe sind in ihrer jeweiligen
Thematik durch die Systematik der phänomenologischen Transzendentalphi-
losophie bestimmt. Sie gliedern sich daher:
1. in die Manuskripte zur phänomenologischen Reduktion. (Die in den
„Ideen“ nur angedeutete Grundmethode der Phänomenologie wird hier zu
einem ungeheuer großen Thema analytischer Aufweisungen, kommt zu
einer sehr differenziert durchgeführten sachlichen und methodologischen
Klärung, und erhält damit ihre definitive, zwingende theoretische Darstel-
lung.)
2. in die Manuskripte, in denen die in den „Ideen“ programmatisch geforderte
konstitutive Weltinterpretation in einem gewaltigen Ausmaß zur wirklichen
Durchführung kommt. (Dabei scheiden sich die Manuskripte zur egologi-
schen (primordialen) Weltkonstitution mit ihren Sonderthemen: Konstitution
der Natur, Konstitution des Raumes, der Zeit, idealer Gebilde usw., von
den Manuskripten zur intersubjektiven (monadischen) Konstitution der
„objektiven“, für Jedermann seienden, Welt mit all ihren Regionen.)
3. in die Manuskripte über die Problematik der auf sich selbst bezogenen
phänomenologischen Philosophie. (Phänomenologie der Phänomenologie
oder das Problem der transzendentalen Selbstkritik.)
4. in die Manuskripte über die – durch die Reduktion transzendental-phäno-
menologisch verwandelten – Grundprobleme der Metaphysik: Teleologie,
Ethik, Theologie.

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.
Nr. 3:
Übersicht über den Hauptinhalt von Edmund
Husserls unveröffentlichten Manuskripten, von
Dr. Eugen Fink, Oktober 1933.
Die unveröffentlichten Manuskripte E. Husserls, die ein Vielfaches der
publizierten Werke ausmachen, stellen eine sehr weit geführte phänomeno-
logische Weltinterpretation dar. Sie gliedern sich gemäß der Systematik
der phänomenologischen Philosophie I) in solche, die den sich schon in
der „Natürlichen Einstellung“ (d. i. auf dem selbstverständlichen Boden
der immer vorausgesetzten Weltgeltung) darbietenden Problemen ‹gewidmet
sind›, und II) in solche, die die erst mit der „phänomenologischen Reduktion“
aufgetauchten „transzendentalen“ Probleme behandeln. Oder mit anderen
Worten, sie gliedern sich in die beiden Hauptgruppen der mundanen (vorphi-
losophischen) und der „transzendentalen“ (eigentlich philosophischen) Pro-
blemstellungen.
Die I. Hauptgruppe umfaßt:
1. eine große Reihe von Manuskripten zur Wissenschaftstheorie
(Auslegungen des Sinnes der Wissenschaft überhaupt; die formal-apriori-
sche Struktur der Wissenschaft; Zurückbezogenheit der Wissenschaft auf
die vor-wissenschaftliche Welterfahrung; Wissenschaft und die Idee des
„An-sich-Seins“; die Prozesse der Approximation und Idealisierung; die
Idee des „Unendlichen“ in der wissenschaftlichen Sinnbildung; Situations-
wahrheit und wissenschaftliche Wahrheit; die wissenschaftliche Idee der
Bestimmung; wissenschaftliche Welt und Umwelt; deskriptive und exakte
Wissenschaften; Theorie der Abstraktion; Theorie der Induktion als wis-
senschaftlicher und vorwissenschaftlicher; positive und apriorische Wissen-
schaften; Wissenschaft und Rationalität; der Ursprung der Wissenschaft aus
dem Leben: Ernst und Muße);
2. einen großen Manuskriptkomplex über Naturwissenschaft und Geistes-
wissenschaft, wobei diese Scheidung nicht nur wissenschaftstheoretisch
gemeint wird, sondern eine Scheidung universaler Einstellungen bedeutet.
(Natur als ontologische Grundschicht der Welt; Natur als All des zeiträum-
lich Seienden; der Substratbegriff in der naturalistischen Einstellung (und
auch in der Naturwissenschaft); Realitäten im extensiven Außereinander;
die „Objektivität“ der Natur und die „Anonymität“ des in der naturalisti-
schen Einstellung theoretisierend fungierenden Lebens; die Gegebenheit
von Natur in der vorwissenschaftlichen Erfahrung; die naturalistische Apper-
zeption des Psychischen und das relative Recht derselben; das Problem
der Psychophysik; die Identität der vorwissenschaftlich gegebenen und der
wissenschaftlich interpretierten Natur; – die personalistische Einstellung
und das Problem der Anthropologie; Ich und Person; Person und Leib; der

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personale Zusammenhang der Gemeinschaft; Gebildgeistigkeit als persona-
ler Charakter der Umwelt, Heimwelt und Fremdwelt; der personalistische
Begriff der Geschichte im Gegensatz zum Begriff der Naturgeschichte;
der Einheitszusammenhang des Geistes als Weltstruktur im Gegensatz zum
extensiven Einheitszusammenhang der homogenen Natur; der Vorzug der
personalistischen Einstellung, die „Natur“ selbst wieder als das Korrelat
personaler Verhaltungen in sich vorzufinden; das Problem der personalen
Kommunikation; raum-zeitliche Bestimmungen und ihr Sinn innerhalb der
personalistischen Einstellung; naturalistische und personalistische Einstel-
lung als im vorwissenschaftlichen Leben labil nebeneinander: der Sinn dieses
Nebeneinander; der Ansatz der Natur-Wissenschaft und der Geistes-Wissen-
schaft aus der vorwissenschaftlichen Lebenshaltung);
3. eine umfangreiche Folge von Manuskripten zum Problem der Ontologie.
a.) Manuskripte zur Idee der „formalen Ontologie“: „Logische Studien“,
das sind Manuskripte zu einer in extenso durchgeführten formalen Logik
der Individuation, z. B. zur Theorie des realen Substrates, zur Theorie
der Explikation, zur Lehre von den Modalitäten (im Ausgang von den
vorlogischen, in der Erfahrung und am Erfahrungssubstrat auftretenden
Modalitäten) usw.;
b.) Manuskripte zur Lehre von den „materialen Ontologien“, den apriori-
schen Wissenschaften von den Weltgebieten und ihrem Einheitszusammen-
hang, wobei die Problematik ausdrücklich zerfällt in die ontologischen
Fragen, die mit der durch Idealisierung „exakt“ interpretierten Natur zusam-
menhängen (z. B. geometrisch-physikalische Apriorität des Naturraumes
und die apriorischen Kategorien der Naturwissenschaft), und in die vor der
Idealisierung liegenden ontologischen Grundfragen, z. B. das große Problem
der Unmöglichkeit, das Apriori der geistigen Weltsphären „exakt“ zu machen
durch Idealisierung;
c.) Manuskripte über die Voraussetzungen der ontologischen Einstellungen
überhaupt: die verborgene, nie enthüllte Idealisierung, die im Begriff des
Ontologie-treibenden Subjektes liegt. (Wie ist überhaupt die Einheit einer
Welt-Anschauung möglich? Inwiefern ist Ontologie nicht nur umweltliche?
Die fundamentalen Fragen des Sinnes der Fernwelt, die doch nicht Gegen-
stand der ausweisenden Erfahrung werden kann; das Problem der „Apper-
zeptionsübertragung“; die „unendliche Welt der Wissenschaft“ als Resultat
intentional zu befragender Sinnbildungen.)
4. eine Reihe sehr großer Manuskripte zur phänomenologischen Reform
der Psychologie.
(Psychologie als die konsequente Einstellung auf die konkret gefaßte Inten-
tionalität; Kritik der sensualistischen Psychologie; Unmöglichkeit einer
bloß individual orientierten Psychologie, Psychologie der Intersubjektivität;

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Problem der Abschließbarkeit der Psychologie; das Fundamentalproblem
des „Psychologismus“);
5. Manuskripte zur Lehre von der Intentionalität. Diese bildet die weitaus
größte Gruppe. Die hier gegebenen Analysen sind die Elementaranalysen
der Phänomenologie und somit von entscheidender Bedeutung nicht nur
für die im Welthorizont und auf dem Boden der Weltgeltung verbleibende
Psychologie, sondern auch für die „transzendentale Phänomenologie“. In
ihnen liegt das eigentliche Schwergewicht der Husserlschen Manuskripte.
(Intentionale Analytik der Wahrnehmung; Analytik der Aisthesis; die inten-
tionale Theorie der Apperzeption; die Lehre von der Imagination; Phänome-
nologie der doxischen Akte, der Gemüts- und Willensakte, des Strebens, des
Interesses, des Begehrens, der Triebe, der Instinkte, des Seinsbewußtseins
und seiner Modalisierungen, des Wertbewußtseins und seiner Modalisierun-
gen, der Modalisierungen des Willens, der Stellungnahmen, der Vermögen,
des „Ich kann“, der Kinästhesen, der habituellen Erwerbe usw.; Phänomeno-
logie der Rezeptivität (Passivität) und der Spontaneität (Aktivität); Phäno-
menologie des Denkens, des Urteilens, der Vernunftaktivitäten überhaupt,
Phänomenologie des thematischen und athematischen Bewußtseins, des
Horizontbewußtseins, des „Unbewußten“, der Normalität und Anomalität
jeder Art; usw.);
6. einen Kreis von Manuskripten, die die Auslegung und systematische
Darstellung unserer Welthabe zum Ziele haben. Sie legen aus, wie und in
welchen Stufen direkter und vermittelter Geltungen uns die Welt, die wir
zunächst als ein homogenes Feld von Seiendem betrachten, eigentlich gilt
und zur Geltung kommt. Mit anderen Worten: sie bedeuten die Aufweisung
einer ständig verdeckten und übersehenen Geltungsfundierung, die die
„Natürliche Einstellung“ ausmacht.
(Die primordiale Gegebenheitssphäre und die in ihr liegenden Potenziali-
täten, die Innen- und Außenhorizonte; die jenseits des primordialen Erfah-
rungsbereiches liegenden Potentialitätshorizonte: Sinn „möglicher Erfah-
rung“; der Stufenbau der Geltungen; „Geltungsfundierung“; Gegebenheit
und Vor-Gegebenheit; alle Thematik aus einem vor-thematischen Feld her
gegeben; Modalisierbarkeit aller Gegenstände im Felde, Unmodalisierbar-
keit des Feldes selbst; Frage nach der Modalisierbarkeit der Welt im Gegen-
satz zur Modalisierbarkeit der Gegenstände in der Welt; Vorgegebenheit und
Vorbekanntheit; Urstiftung und Apperzeption);
7. sehr ausführliche Manuskripte zum Problem einer phänomenologischen
„Erkenntnistheorie“ als einer intentionalen Theorie der Evidenz.
(Evidenz und Erfahrung; Phänomenologie der Evidenzarten konform mit
einer Phänomenologie der Vernunft; Evidenz und Apperzeption; Evidenz der
nichtdoxischen Akte; Evidenz und Horizontbewußtsein; Evidenz und Antizi-

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pation; Evidenz des Weltbewußtseins im Gegensatz zur Evidenz gegenständ-
licher Gegebenheit; unmittelbare und mittelbare Evidenzformen; usw.);
8. Manuskripte, die zur Exposition des transzendentalen Problems in der
„Natürlichen Einstellung“ hinführen.
(Z. B. die Paradoxie einer wirklich universal durchgeführten Geisteswissen-
schaft; die Paradoxie einer radikalisierten Psychologie: das Subjekt in der
Welt als Subjekt für die Welt; die Paradoxie einer konsequent eingehaltenen
reflexiven Thematik; die Paradoxie eines ernstlichen Rückgangs von der
Weltgeltung auf das Subjekt, für welches sie gilt; usw.).
(Wenn eingangs die in dieser ersten Hauptgruppe zusammengefaßten Manu-
skripte als „vorphilosophische“ bezeichnet wurden, so geschah das im Hin-
blick auf die phänomenologische Idee der Philosophie. Gemäß dieser sind
alle Besinnungen vor der phänomenologischen Reduktion, d. h. alle auf dem
Boden der unbefragten Weltgeltung stehenden, vorphilosophisch. Gemessen
an der traditionellen Idee der Philosophie, die ja selbst weltliche Philosophie
ist, sind sie konkret-analytische philosophische Grundbesinnungen.)

Die II. Hauptgruppe umfaßt:


1. die sehr ausführlichen Manuskripte zur phänomenologischen Reduktion.
Unter diesem zentralen Titel ist eine Fülle differenziertester Manuskripte,
die in ihren dem natürlichen Denken so abliegenden Problemstellungen nicht
einfach genannt werden können, befaßt. Sie behandeln die Problematik des
Zugangs zu der – im phänomenologischen Sinne – eigentlichen Dimension
der Philosophie;
2. die Manuskripte, in denen die konstitutive Weltinterpretation auf ihrem
ersten Problemboden entfaltet wird:
Die primordialen konstitutiven Theorien und Disziplinen
(Konstitution des Naturdings, der primordialen Natur; Konstitution des „Sin-
nesfeldes“, der hyletischen Einheit; konstitutive Theorie der Assoziation;
Leib- und Dingkonstitution; Konstitution von Nahding und Fernding; die
primordialen Bedeutungsprädikate; – konstitutive Problematik der „Einfüh-
lung“, Konstitution des „Anderen“ als primordialer Gegebenheit; usw.);
3. die Manuskripte über die konstitutive Problematik der Intersubjektivität:
Konstitution der transzendental-monadischen Gemeinschaft, Konstitution
der „Objektivität“ der Natur, der geistigen Welt, der Kulturwelt, der weltli-
chen Sozialitäten usw.;
4. Manuskripte über die Problematik der auf sich selbst bezogenen phäno-
menologischen Philosophie: Phänomenologie der Phänomenologie (das
Problem der „transzendentalen Selbstkritik“);

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.
5. die Manuskripte über die – durch die Reduktion transzendental-phäno-
menologisch verwandelten – Grundprobleme der Metaphysik: Teleologie,
Ethik, Theologie.
***

Nr. 4:
Edmund Husserls Manuskripte, E. Fink
Januar 1935.
In den publizierten Schriften Husserls tritt die Phänomenologie mit dem
bestimmten Anspruch auf, die wirklich gelingende Grundlegung der wissen-
schaftlichen Philosophie zu sein. Dieser unerhörte Anspruch ist gegründet
auf eine intensive, mehr als vierzig Jahre währende Forschung. In dieser
Forschung allein: in dem überaus umfangreichen, die Fruchtbarkeit der
Methode bewährenden konkreten Material als dem Resultat zäher und diffe-
renzierter Arbeit, liegt nach Husserls Auffassung die wahre Legitimation des
erhobenen Anspruches. Dieses Material ist nur zu einem Bruchteil in die
Publikationen eingegangen.
Der Grund dafür ist folgender: Husserl mußte zuerst für die philosophi-
sche Öffentlichkeit den Zugang, den Weg zu jener radikalen Dimension
phänomenologischer Weltaufklärung sicherstellen, in welcher seine philoso-
phische Lebensarbeit allein verstanden werden kann. Denn nicht um ein
konkretes Material, das sich dem naiven und auch traditionell-philosophi-
schen Verstehen unmittelbar erschließt, handelt es sich, sondern um ein erst
in der phänomenologischen Einstellung verstehbares.
Das besagt: das philosophische Lebenswerk Edmund Husserls fällt nicht
mit seinen publizierten Schriften zusammen. Das Schwergewicht seines
Werkes liegt in den Manuskripten. Diese sind also keineswegs nur konkrete
Belege für die in den Publikationen ausgesprochenen prinzipiellen Einsich-
ten, sondern sind vielmehr erst die durchgeführte, in analytischer Arbeits-
konkretion vorgelegte systematische phänomenologische Philosophie. Das
Schicksal der Phänomenologie als Grundlegung der Wissenschaftlichkeit der
Philosophie hängt ab vom Schicksal der Husserlschen Manuskripte.
Die Manuskripte sind sehr umfangreich, betragen ein Vielfaches der
Summe der Husserlschen Schriften. Mehrere tausend eng in Stenographie
beschriebene Blätter enthalten ein Analysenmaterial, das durch und durch
systematisch alle Bezirke des Seienden in streng wissenschaftlicher Methode
verständlich macht. Die Verständlichkeit, die das Seiende in der naiven
Lebenswelt und in den positiven Wissenschaften erfährt, wird prinzipiell
überschritten durch den Rückgang in die universale Konstitution des Sei-
enden, so zwar, daß dadurch gerade das Recht und die relative Situation

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der naiven und positiv-wissenschaftlichen Verständlichkeit durchsichtig
gemacht und so die in der Philosophie gründende Einheit alles Wissens
hergestellt wird.
Die Thematik der Manuskripte ist universal. Angefangen von der
in der Methodik intentionaler Sinnbefragung verlaufenden Deskription
der ursprünglichen Lebenswelt, des Menschen in seiner Heimwelt, der
vorwissenschaftlichen Erfahrungswelt im intentionalen Sinnaufbau ihrer
Geltungszonen, des Menschen in Normalität und Anomalität, in allen seinen
elementaren und höchstdifferenzierten Verhaltungsweisen, also angefangen
von einer konkreten Anthropologie über die Sinngenesis der Wissenschaften,
die thematische Strukturlehre aller Wissenschaften bis zur universalen, alle
Regionen des Seienden einbeziehenden Ontologie durchforschen so die
Manuskripte in der am Urphänomen des Verstehens: der Intentionalität,
orientierten Methodik das ganze Universum des weltlichen Wissens vom
Seienden und des menschlichen Lebensverständnisses, um es dann auf seine
„transzendentale Konstitution“ zurückzubeziehen und so in die Dimension
einer radikaleren Verständlichkeit: der konstitutiven, einzustellen.
Husserls Manuskripte: das bedeutet eigentlich seine systematische,
in zäher wissenschaftlicher Arbeit analytisch ausgewiesene Philosophie,
sind in Gefahr. Es besteht die dringende Notwendigkeit, wenn sie gerettet
werden sollen, sie in eine andere Daseinsweise überzuführen. Sie sind in
einer veralteten Stenographie (z. T. mit persönlichen Sigeln) geschrieben,
aber eigentlich nicht intersubjektiv zugänglich, außerdem der Gefahr der
Verblassung ausgesetzt. Ferner sind sie nur in einem Exemplar da, können
also verlorengehen. Das Interesse, das die philosophische Öffentlichkeit
an diesem durch vierzig Arbeitsjahre bestätigten Versuch der Grundlegung
der Philosophie als Wissenschaft und damit eines autonomen, sich aus
dem Wesen des Geistes verantwortenden menschlichen Daseins haben muß,
fordert zum mindesten die maschinenschriftliche, in mehreren Exemplaren
anzufertigende Abschrift aller Manuskripte.
***

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.
Nr. 5:
Vorschlag einer Einfügung in ein Husserl-
Manuskript:
Vorschlag zum Problem des „Unbewußten“
( E i n l a g e z u S . 8 5 b )2
Das im Wesen der Intentionalität respektive der intentionalen Verweisungen
(z. B. der Verweisung der Erinnerungsanalyse auf eine vorgängige Analyse
der Wahrnehmung) liegende Ordnungsprinzip zeichnet wiederum die ganze
Gesamtsphäre der „Wachheit“ aus als das unumgängliche Einsatzfeld der
analytischen Auslegung der Subjektivität. Die unter dem Titel des „Unbe-
wußten“ sich meldenden Probleme sind in ihrem eigentlichen Problemcha-
rakter erst zu begreifen und methodisch zureichend zu exponieren nach der
vorgängigen Analytik der „Bewußtheit“. Da es hier zunächst darum geht,
das elementare Wesen der ständig übersehenen universal-subjektiven Welt-
gegebenheit thematisch zu machen, die starre Grundhaltung unserer naiv-
natürlichen lebensweltlichen Einstellung (das auf Dinge geradehin-Leben)
aufzulockern, Dinge und Welt selbst im Wandel der subjektiven Relativitäten
als Einheitsbildungen subjektiver Synthesen zu begreifen, – da es kurz gesagt
um das ABC der intentionalen Analyse geht, kann der lange methodische
Weg von den intentionalen Elementaranalysen zur intentionalen Theorie des
„Unbewußten“ hier nicht einmal in seinen Grundzügen entworfen werden.
Man wird schnell mit dem Einwand bei der Hand sein, daß die Anset-
zung der Problematik des „Unbewußten“ als einer intentionalen von vorn-
herein schon ein fragwürdiges methodisches Präjudiz sei, gleichsam den
Versuch darstelle, das „Un“-Bewußte mit den methodischen Mitteln des
Verstehens von Bewußtsein zu interpretieren. Hat man damit denn nicht eine
Vorentscheidung getroffen derart, daß das Unbewußte irgendwie verdunkel-
tes Bewußtsein, aufweckbares Bewußtsein, Vorstufe oder Nachgestalt des
Bewußtseins sei, also letzten Endes auf Bewußtsein zurückleitbar? Hat man
damit nicht hinsichtlich des Lebens der Subjektivität die vorgefaßte Mei-
nung, daß Leben und Bewußtsein dasselbe sei? Ist es aber nicht die immer
stärker werdende Tendenz in „Tiefenpsychologie“, moderner Biologie usw.

2 Dieser Text wurde in Hua VI als Beilage XXI (S. 473–475) veröffentlicht. Die Seitenzahl
in Finks Typoskript verweist auf die maschinengeschriebene Abschrift (HA M III 5 III 1), die
Fink von Husserls Manuskripten hergestellt hat, die jedoch anschließend mit zahlreichen
Einfügungen, Randbemerkungen und Beilagen von Husserls Hand versehen wurde. Aus die-
sem Grund wurden neue Paragraphen hinzugefügt, was die ursprüngliche Anzahl der Para-
graphen mehrmals verändert hat. Die Typoskriptseite HA M III 5 III 1/71, auf die die hier
vermerkte Seitenzahl („zu S. 85b“) verweist, gehört zu dem Paragraphen, dessen Nummer
Fink von 46 auf 47 korrigiert hat (vgl. HA M III 5 III 1/76). Das heißt, der Vorschlag betrifft
§ 47 und nicht, wie in Hua VI (Beil. XXI, S. 473) vermerkt, § 46.

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(auch der realistischen und irrationalistischen Philosophien der Gegenwart),
die Bewußtheit als eine Schicht am konkreten Menschen zu begreifen
und ihr andere, nicht auf die Bewußtheit zurückleitbare Dimensionen des
Lebens gegenüberzustellen? Ist es nicht eine typische Vormeinung alles
„Idealismus“, daß der „Geist“, die „Seele“, das „Bewußtsein“ das volle
Sein des Menschen ausmache, während man allmählich immer mehr durch
die in ihren therapeutischen Erfolgen bezeugte „Tiefenpsychologie“, die
Ergebnisse der modernen Biologie usw. zur Einsicht vordringe, daß die
Sphäre des Bewußtseins, die Domäne der idealistischen Philosophie, im
Grunde eine fundierte Dimension des „Lebens“ darstelle?
Dieser Einwand, der in mannigfachen Abwandlungen gegen den
sogenannten „Bewußtseinsidealismus der Phänomenologie“ erhoben wird,
basiert auf einer prinzipiellen philosophischen Naivität. Es ist hier nicht die
Stelle, die auf dem Untergrund einer undurchsichtigen Empirie entworfenen
„mythischen“ Theorien über das (in den Phänomenen des „Unbewußten“
sich anzeigende) eigentliche Wesen des Lebens, sei es den naturalistischen
Mechanismus der „libido“ oder sonst eine „Dynamik“ der Triebe und
Instinkte, zu kritisieren. Die Naivität, die wir meinen, besteht vor aller Theo-
riebildung über das Unbewußte in einem Unterlassen. Man glaubt immer
schon zu kennen, was das „Bewußte“, das Bewußtsein ist, und entschlägt sich
der Aufgabe, zuvor den Begriff, gegen den alle Wissenschaft vom Unbewuß-
ten ihr Thema immer abgrenzen muß, eben den des Bewußtseins zu einem
vorgängigen Thema zu machen. Weil man aber nicht weiß, was Bewußtsein
ist, verfehlt man prinzipiell den Ansatz einer Wissenschaft vom „Unbewuß-
ten“. Natürlich wissen und kennen wir immer, wenn wir wach sind, was man
gemeinhin unter „Bewußtsein“ meint. Es ist uns gewissermaßen das Nächste:
wir sehen Dinge, denken an etwas, begehren eine Sache, urteilen usw. Gerade
die typische Bekanntheit und Vorgegebenheit des „Bewußtseins“ in der
groben (dem alltäglichen Leben genügenden) Artikulation als Akte, Hand-
lungen, Erlebnisse usw. – gerade diese Bekanntheit erweckt den Schein, als
ob Bewußtsein etwas unmittelbar Gegebenes wäre. Die intentionale Analytik
der Phänomenologie aber zerstört den Schein „unmittelbarer Gegebenheit
des Bewußtseins“ und führt in eine neuartige und schwer durchzuhaltende
Wissenschaft hinein, in der man allmählich erst sehen und begreifen lernt,
was Bewußtsein ist. Und wenn man auf den langen Wegen intentionaler
Analytik sich zu einem Verständnis des „Bewußtseins“ durchgearbeitet hat,
kann man die Problematik des „Unbewußten“ nie mehr in der Naivität
exponieren wollen, die mit Bewußtsein und Unbewußtem umgeht wie mit
alltäglich bekannten Dingen. Auch für das „Unbewußte“ besteht wie für
das Bewußtsein der Schein alltäglich gegebener Unmittelbarkeit: wir kennen
doch alle die Phänomene des Schlafes, der Ohnmacht, das Ausgeliefertsein
an dunkle Triebgewalten, schöpferische Zustände und Ähnliches. Die Naivi-

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tät der landläufigen Theorien des „Unbewußten“ besteht darin, daß sie in
diese alltäglich vorgegebenen interessanten Phänomene sich vertieft, eine
induktive Empirie ins Werk setzt und konstruktive „Erklärungen“ entwirft
und dabei stillschweigend immer schon geleitet ist von einer naiv-dogma-
tischen impliziten Theorie über das Bewußtsein, von der immer bei allen
Abgrenzungen gegen die auch in der alltäglichen Bekanntheit genommenen
Bewußtseinsphänomene Gebrauch gemacht wird.
Solange die Exposition des Problems des Unbewußten durch eine solche
implizite Theorie über das Bewußtsein bestimmt ist, ist sie prinzipiell philo-
sophisch naiv. Erst nach einer expliziten Analytik des Bewußtseins kann das
Problem des Unbewußten überhaupt gestellt werden. In der arbeitsmäßigen
Bewältigung dieses Problems aber wird es sich allein zeigen, ob das „Unbe-
wußte“ mit den methodischen Mitteln der Intentionalanalyse auslegbar ist.
***

Nr. 6:
Dezember 1934
(Vorschlag für Husserls Motto zu einem Bild
v o n i h m )3
Die Heilung des furchtbaren chaotischen Lebenszerfalls, der als „Kultur-
krise“ alle Bezirke unseres heutigen wissenschaftlichen, religiösen, morali-
schen und politischen Daseins beherrscht und allein eine Krise der Philoso-
phie ist: nämlich das offenbar gewordene und eingestandene Unvermögen
der in weltlicher „Außenwendung“ objektivistisch als Ordnungsprinzip ver-
standenen Vernunft, dem Leben ein rationales Sinngepräge aufzuzwingen, –
die Heilung dieses verhängnisvollen Zwiespaltes von „Geist“ und „Leben“
ist nur möglich, wenn es gelingt, die Vernunft aus der jahrhundertealten
Idolatrie des Objektivismus zu befreien und in die Tiefe des Lebens selbst
heimzuholen. Die radikale Vergeistigung des Lebens im Rückgang auf
die intentional-lebendige Vernunft der phänomenologischen Subjektivität,
auf ihr Welt konstituierendes Vernunft-Leben, bewahrt das Leben vor dem
Absturz in die Sinnlosigkeit und den Geist vor der objektivistischen Erstar-
rung und wird so zur Grundlegung einer neuen, auf dem schöpferischen
Wesen des Geistes gegründeten Kultur.

***

3 Vgl. Hua XXVII, Beil. XX (dazu auch S. 326), wo zwei Fassungen von Husserl für ein

solches Motto unter seinem Porträt wiedergegeben sind.

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.
Nr. 7:
Ein Vorschlag zu Edmund Husserls
Ausarbeitung
s e i n e s P r a g e r V o r t r a g e s ( 1 9 3 6 ) .4
Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die Psychologie
I. Die Krisis der Wissenschaften als Ausdruck einer radikalen Lebens-
krise des europäischen Menschentums.
II. Das Ringen zwischen der objektivistischen Idee einer Universalphi-
losophie und der subjektivistischen Idee einer Transzendentalphiloso-
phie.
III. Die Klärung des transzendentalen Problems und die darauf bezogene
Funktion der Psychologie.
(A. Der Weg in die phänomenologische Transzendentalphilosophie in
der Rückfrage von der vorgegebenen Lebenswelt.
B. Der Weg in die phänomenologische Transzendentalphilosophie
von der Psychologie aus.)
IV. Die Idee der Zurücknahme aller Wissenschaften in die Einheit
der Transzendentalphilosophie.
V. Der unverlierbare Anspruch5 der Philosophie: die Selbstverantwortung
des Menschentums.
***

Nr. 8:
‹Vorschlag zum Krisis-Text:›
Vorschlag für den weiteren Gedankengang ab
§ 6 6 .6
1. Die echte Universalität der psychologischen Epoché: Das Mißverständnis
der Universalität ist bereits klargestellt. Also muß jetzt, vor der Überleitung
der Psychologie in die Transzendentalphilosophie, die echte universale Epo-
ché der Psychologie herausgestellt werden. Sie ist nichts anderes als Epoché
hinsichtlich der Weltgeltung. Also nochmalige Analyse des Weltbewußtseins
und seiner Weise, thematisches Einzelbewußtsein zu implizieren. Universale

4 Vgl. die Anmerkung am Ende des Textes in Nr. 8.


5 Im Original dieses Vorschlags (siehe die Anmerkung am Ende von Nr. 8) änderte Fink dieses
Wort und schrieb „Aufgabe“.
6 Die Nummer des Paragraphen bezieht sich auf den ursprünglich letzten Paragraphen des

Typoskripts, bevor neue Paragraphen eingefügt wurden. Nach diesen Erweiterungen wurde
er – wie in Hua VI – als § 71 wiedergegeben. Das vorliegende Textstück ist in Hua VI als Beil.
XXIX abgedruckt.

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.
Einklammerung der Horizontgeltung des Weltbewußtseins aber kann der
Psychologe nicht beliebig an ihn psychologisch interessierenden Personen
machen, sondern hier gibt es eine in der Konsequenz der Weltepoché liegende
Ordnung. Er kann nur von sich aus anfangen, von seinem Bewußtseinsleben
(unter Epoché von dessen Weltgeltung); erst von sich aus hat er die Anderen
in der echten psychologischen Einstellung. Also eine Psychologie, die zum
Selbstverständnis ihrer sie ermöglichenden Einstellung (der im echten Sinne
universalen Epoché) gekommen ist, kann gar nicht anders anfangen als
zunächst Psychologie des Psychologen zu sein. Der Schein verschwindet,
daß man beliebig irgendwo bei einer Person anfangen könne. Die echt-uni-
versale Epoché der Psychologie zerstört den Schein des Außereinander der
Seelen: das vom Psychologen aus auslaufende Ineinander bestimmt den
Gang der psychologischen Thematik.
2. Die Paradoxie der Psychologie: die echt-universale Epoché als Epoché
des Weltbewußtseins ist die geklärte Endgestalt der gesuchten psychologi-
schen „Abstraktion“ (als Ergänzung zur naturalen Abstraktion). Aber ist
das noch eine „Abstraktion“? Ist die Seele ein komplementäres (wenn
auch eigenständiges) Moment am konkreten Menschen? Welchen ontischen
Sinn hat die durch die echt-universale Epoché freigelegte „Seele“? Die
Psychologie beginnt als speziale Wissenschaft neben anderen auf dem Boden
der vorgegebenen Welt. In der Klärung der ihr eigentümlichen Methode aber,
also im ausdrücklichen Vollzug der echt-universalen Epoché, hebt sie die im
Selbstverständnis ihres Beginns gesetzte Voraussetzung des Weltbodens auf;
sie entzieht sich dem Boden, auf dem sie sich etabliert hat, sie wird durch
sich selbst bodenlos. Diese „Bodenlosigkeit“ aber stellt die Paradoxie der
Psychologie dar. Was ist ‹sie› für eine „Innerlichkeit“ des weltmeinenden
Lebens? Wohin gehört sie eigentlich? Wenn der Psychologe arbeitet, hat er
keinen Weltboden, wenn er aber reflektiert, fällt er in die Einsatzsituation
zurück: Psychologie gilt ihm als eine Wissenschaft von einer bestimmten
Region des Seienden. In dieser Spannung zwischen Arbeitssituation des
Psychologen und seiner rückfälligen Selbstinterpretation aus dem Verständ-
nishorizont seines „Ansatzes“ her, in Antinomie der auf dem Weltboden
sich etablierenden, sich dem Weltboden entziehenden Psychologie liegt
die „crux“.
3. Die Auflösung der Paradoxie: Wenn die Psychologie nicht nur das sie
selbst bei ihrem Einsatz tragende Weltbewußtsein durch die echt-universale
Epoché „einklammert“, sondern eigens zu einem analytischen Thema macht
und zwar in der Weise, daß sie alle vorgegebenen „groben“ Artikulationen
des meinenden Lebens, die Aktintentionalitäten und leicht aufweisbaren
Horizontintentionalitäten, auf tieferliegende konstituierende Funktionen
zurückführt, gerät sie auch in eine Analytik der konstitutiven Funktion
des Weltbewußtseins. M. a. W., sie übt nicht nur Epoché hinsichtlich

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.
des Weltbewußtseins, sondern in dieser Haltung der Epoché erforscht sie
seinen konstitutiven Ursprung. Weltbewußtsein kann dann niemals mehr
zum „undurchsichtigen Boden“ werden; die Psychologie durchschaut ihren
eigenen Einsatz „auf dem Weltboden“ in seinen sinngebenden Ursprüngen.
Damit hebt sie sich selbst auf: sie führt in die transzendentale Phänomeno-
logie.
4. Charakteristik des Verhältnisses von Psychologie und Phänomenologie
(Der Bezug der beiden „Einstellungen“ auf einander):
Im Grunde gibt es keine Psychologie, die Psychologie bleiben könnte.
Wenn einmal die Methode der Aufschließung der Intentionalität gefunden
ist, dann wird durch die „Konsequenz der Sache selbst“ der analytische
Weg von den vorgegebenen Einheiten zu den eigentlich-konstituierenden
Tiefen des intentionalen Lebens und damit in die transzendentale Dimension
weitergetrieben. Psychologie muß in Transzendentalphilosophie münden.
Trotzdem besteht aber immer ein Unterschied zwischen Psychologie
und Phänomenologie, auch nach dem Durchlaufen des Weges von der Psy-
chologie zur Transzendentalphilosophie. Psychologie ist nicht ein „bloßes
Vorstadium“ der Phänomenologie, durch eine Reflexion auf ihren Einsatz
befangen: das ist sie einmal als Stadium des Weges in die Phänomenologie.
Aber wenn sie diesen Weg durchlaufen ‹hat›, wenn sie „gemündet“ ist, auch
dann besteht noch ein Unterschied zwischen beiden.
Das Ineinanderspielen der beiden Einstellungen:
Der Problembezirk wird gekennzeichnet durch die Problematik der Selbstap-
perzeption. Alle transzendentale „Selbst“-Konstitution ist eine Hineinstel-
lung des konstituierenden Lebens in den thematischen Zusammenhang der
konstituierten Gebilde. Die Subjektivität hört auch nach der transzendentalen
Reduktion nicht auf, sich als Mensch inmitten der Mitmenschen und der
Dinge zu objektivieren, nur daß diese weiterwährende Selbstkonstitution ein
transzendental durchhellter Prozeß jetzt ist.
Der Horizont der konstituierten Selbstobjektivation (wenn auch der
transzendental „durchsichtigen“) bestimmt das legitime Problemreich der
Psychologie nach der Selbstauflösung in die Phänomenologie: sie wird jetzt
eine thematisch beschränkte phänomenologische Problemsphäre, aber eine
solche, in die wiederum doch alles „hineingehört“ (Problem des „Einströ-
mens“). Die Transzendentalphilosophie hat gegenüber dem begrenzten, an
die Weite der Selbstobjektivation gebundenen Horizont der Psychologie
(nach der Reduktion) den eigentlichen absoluten Horizont.

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.
***
IV. Abschnitt der Abhandlung:7
Die Idee der Zurücknahme aller Wissenschaften in die Einheit der Transzen-
dentalphilosophie.
(1. Psychologie und Psychophysik resp. Biologie als Illustration des Ver-
hältnisses von legitim-begrenzter mundaner Problematik und Phänome-
nologie.
2. Die deskriptiven Naturwissenschaften (ihr Apriori als „Ontologie der
Lebenswelt“) und die Phänomenologie der Idealisation.
3. Die „Einheit“ der Wissenschaft als Einheit eines universalen Korrelativ-
systems. Der phänomenologische Begriff der Metaphysik.)

V. Abschnitt: Die unverlierbare Aufgabe der Philosophie:


Die Selbstverantwortung des Menschentums.
***

Nr. 9:
‹Vorschlag zum Krisis-Text:›
Vorschlag zu S. 105
(Die Unterscheidung von objektiver und subjektiver Wahrheit respektive
Wissenschaft erinnert an eine ähnlichlautende im § 33,8 aber ist von ihr
grundverschieden. Hier besteht also die Möglichkeit eines Mißverständnis-
ses des Textes.)

(Einlage zu S. 105)9
Das hier aufgeworfene Problem einer aller objektiven Wissenschaft entge-
gengesetzten „subjektiven“ Wissenschaft erinnert uns vielleicht an die frü-
here Unterscheidung terminologisch gleichlautender Art. Bei der Exposition
des Problems der Lebenswelt kontrastierten wir die Idee „objektiver“ Wis-
senschaft mit einer problematischen Wissenschaft von der als bloß subjektive
Erscheinung interpretierten „Lebenswelt“. Der uns jetzt angehende Kontrast
ist wesentlich radikaler und vor allem ein anderer. Dort bedeutete „objektive
Wahrheit“ (Wissenschaft) die Wahrheit über das „an sich seiende“, die

7 Auf das Original dieser Skizze (HA M III 5 III 1/4), das mit dem hier abgedruckten Vorschlag
(M III 5 III 1/2–4) in Leuven liegt, notierte Fink: „Den Gedankengang von IV und V bringe
ich nach Ostern. Fink“. Auch das Original von Nr. 8 (M III 5 III 1/5) liegt mitsamt diesem
Vorschlag in Leuven.
8 Also der Paragraph vor der Erweiterung durch einen neuen Paragraphen, durch den § 33

zu § 34 wird (gemeint ist folglich Hua VI § 34).


9 Gemeint ist die Einlage zu dem Text in Hua VI (§ 52) von S. 179/24–180/15.

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lebensweltlich-relativen Gegebenheitsweisen transzendierende substruierte
„Naturding“, eben im Gegensatz zu Wahrheit über das lebensweltliche Ding
und die Lebenswelt selbst. Hier aber verstehen wir unter „subjektiver“
Wahrheit (Wissenschaft) nicht mehr ein Wissen über die im Ganzen als
etwas „Subjektives“ aufgefaßte „Lebenswelt“, sondern ein Wissen über
das fungierende subjektive Leben und Leisten im Gegensatz gegen die
„objektive“ Wahrheit über Dinge (Seiendes: konstituierte Einheitspole).

***

Nr. 10:
‹Vorschlag zum Krisis-Text:›
Vorschlag: zur Vorläufigkeit des
Konstitutionsbegriffs.
(Einlage zu S. 92)10
Die vorläufige Charakteristik des Begriffs der „Konstitution als Sinnbil-
dung“ muß ausdrücklich gegen ein naheliegendes Mißverständnis gesichert
werden. Es bedeutet schon sehr viel, wenn man sehen gelernt hat, daß
alle „Dinge“ (im gewöhnlichen Sinne der alltäglichen Rede) Einheitspole
in Systemen synthetisch verbundener subjektiver Erscheinungsweisen usw.
sind; wenn man also achten gelernt hat auf die Korrelation von Ding (als
Einheit) und den subjektiven Mannigfaltigkeiten. Die Vorläufigkeit dieses
Begriffs der „transzendentalen Konstitution“ besteht in seiner Auslegung
als Sinnbildung im Korrelationssystem. Im naiv-natürlichen Leben verfügen
wir über einen Begriff von „Sinn“ und „Sinnbildung“, den wir nicht in
das Verständnis der konstitutiven Problematik hineintragen dürfen. Wir
nennen ihn hier kurz den ontischen Sinnbegriff. In der Welt, vor allen
transzendentalen Problemstellungen, finden wir den Unterschied von bloßen
Dingen und Dingen mit subjektsbezogenen Charakteren (Kulturprädikaten,
Bekanntheitscharakteren: Werkzeuge, Denkmäler, Häuser usw.), also Dinge,
die einen subjektiven „Sinn“ haben. Alle solche Sinnhaftigkeit aber ver-
weist auf Sinnbildung, entweder eigene oder von anderen übernommene.
Sinnbildung in diesem Sinne ist also ein weltlich bekanntes Phänomen der
Zuweisung einer Bedeutsamkeit (als eines subjektrelativen Charakters) an
ein an sich sinnfreies Ding. Dieses wird zum Träger eines „Sinnes“. Der
ontische Begriff von Sinn und Sinnbildung ist also bestimmt durch den
Unterschied von „Träger“ und „Bedeutsamkeit“. Der ontische Sinnbegriff
dient zunächst zur analogischen Anzeige des transzendentalen Begriffs

10 Die Einlage also zu dem Text in Hua VI (§ 49), S. 171/8–37.

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von Sinn und Sinnbildung, der als solcher aus der intentionalen Analytik
herauswächst. Der Vorstoß vom vorläufigen Begriff der Konstitution zum
eigentlichen ist eine (aus der intentional-analytischen Arbeit motivierte)
Ablösung von dem Schema: Sinn und Sinnträger. Das Seiende selbst, nicht
ein „bloßer Bedeutsamkeitscharakter an ihm“ wird als ein subjektiver Sinn
und als Korrelat einer Sinnbildung verstanden.
***

Nr. 11:
‹Vorschlag zum Krisis-Text:›
Vorschlag zu Seite 76h.
(Einlage zu S. 76h)11
Die Kennzeichnung der „Lebenswelt“ als der Sphäre prinzipieller Anschau-
barkeit bedeutet jedoch nicht die traditionale Einengung des Begriffs der
Anschauung auf die sogenannte „sinnliche Anschauung“, also nicht die
Gleichsetzung der lebensweltlichen „Dinge“ mit den sinnlich anschaubaren
Dingen. Vielmehr muß gerade der Begriff der Anschauung im Sinne jedes
originär-gebenden Bewußtseins genommen werden, das seinen Gegenstand
als unmittelbar „selbst“ da im Einheitszusammenhang der schlichten Welt-
habe ausweist. In der Lebenswelt haben wir nicht nur einzelne reale Dinge,
lebensweltliche Körper, sondern auch „Sinnbestände“ als Korrelate des
lebensweltlichen Denkens, des Vergleichens, Zusammennehmens, Ausein-
anderhaltens, sprachlich‹en› Auslegens usw. Diese „Sinnbestände“ trans-
zendieren aber im Gegensatz zu den Denkleistungen der physikalischen
Weltinterpretation die Lebenswelt nicht, sondern verbleiben in ihr.
((Ein schwieriges, hier nicht zu erörterndes Problem betrifft die Aufklärung
der Sinnwandlung, die die lebensweltlichen Denkleistungen formaler Art
(wie Abzählen, Vergleichen, logische Operationen usw.) erfahren durch ihre
Verbindung mit den die Lebenswelt prinzipiell transzendierenden Denkleis-
tungen der Idealisationen. In der Lebenswelt gibt es schon oder ist, ohne
sie zu transzendieren, ausbildbar eine Arithmetik der ganzen natürlichen
Zahlen, eine apophantische (syllogistische) Logik und auch gewisse Formal-
kategorien einer „formalen Ontologie“. (Daß überdies ihre Typik in einer
„materialen“ Ontologie der Lebenswelt faßbar ist, werden wir später sehen.)
Dagegen überschreitet die durch Idealisation der Nah-Fernperspektivierung
entstandene Geometrie prinzipiell den Bereich der Lebenswelt; und ebenso
auch die auf Idealisierung des Verharrenden (Substanz) basierende „Formale
Ontologie“ mit ihren in unbedingter Allgemeinheit gültigen Gesetzen)).

11 Die Einlage also zu dem Text in Hua VI (§ 34e) von S. 132/20–133/18.

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Nr. 12:
Exposé eines Vorschlages eines
G e d a n k e n g a n g s f ü r d e n „ P r a g e r V o r t r a g “ . 12
Titel: „Die Geschichte als philosophisches Problem“ (1935)

Einleitung: Inwiefern ist die Geschichte ein philosophisches Problem?

Die Frage nach Wesen und Sinn der Geschichte ist heute zu einem bren-
nenden Lebensproblem geworden. Keine Zeit war einem solchen Druck
geschichtlichen Wissens ausgesetzt wie die unsere; keine Zeit erlebte in so
stürmischem Tempo unmittelbar geschichtlichen Wandel wie die unsere. Die
Frage nach der Geschichte ist die Form, wie wir heute um ein Verständnis
unserer selbst ringen. Immer wieder kreist das Philosophieren unserer Tage
um das Problem der Geschichte. Trotz des Lebensernstes der Situation,
aus welcher die Frage entspringt, trotz der vielen thematischen Anläufe
der zeitgenössischen Philosophie ist die Geschichte noch nicht einmal als
Problem begriffen.
Jedes Problem der Philosophie ist kein schon bestehender und als vor-
handener nur aufzugreifender Wissensausstand, sondern ist eine erst sich in
der thematischen Perspektive der Philosophie bildende Fragwürdigkeit. Das
Problem der Geschichte aber ist nicht allein die Aufgabe einer ursprünglich-
produktiven philosophischen Fragestellung. Nicht allein im Gegenzug gegen
die naive Auffassung der Geschichte kann sich das philosophische Problem
derselben etablieren, sondern vor allem im Gegenzug gegen eine historische
Entwicklung, die über die Philosophie hinweggegangen ist und die heute
gewissermaßen allmächtig über den Ansatz der philosophischen Frage
vorentschieden hat. M. a. W., die Gewinnung des eigenständig-philosophi-
schen Problems der Geschichte stellt selbst ein eigentümlich historisches
Problem dar: die Befreiung von den Vorurteilen, die aus dem Verhängnis der
Emanzipation der Wissenschaften von der Philosophie entspringen.
Konkreter: der prinzipielle methodologische Charakter der in der zeitge-
nössischen Philosophie üblichen Frage nach dem Wesen der Geschichte ist
ein „geisteswissenschaftlicher“. Wie ist diese methodologische Botmäßig-
keit der Philosophie den „Geisteswissenschaften“ gegenüber zu begreifen?
Eben als ein Resultat der verhängnisvollen historischen Entwicklung, die
man den Aufstand der Wissenschaften gegen die Philosophie nennen kann.
Die tiefgehende Krise, die das europäische Dasein erfaßt hat, wurzelt in
der immer allgemeiner gewordenen Erfahrung der Ohnmacht des Wissens
(ratio). Die Ohnmacht des Wissens aber gründet im Zerfall der ursprüng-

12 Vgl. Hua XXIX, Einl. d. Hrsg., S. XIX–XX.

764 M-III Grammata

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lichen Lebenseinheit des Wissens, in der aufständischen Absplitterung
der Wissenschaften von der Philosophie. Der ursprüngliche Begriff von
Wissenschaft meint dasselbe wie Philosophie: das Ganze des menschlichen
Wissens, das aus dem Ringen um Welt- und Selbstverständnis aufsteigt.
Die Problem- und Arbeitsteilung führt notwendig zu Sonderwissenschaf-
ten, die aber zurückgebunden bleiben in die universale Einheit der Philo-
sophie, nur ihre Auszweigungen darstellen. In der griechischen Idee der
Wissenschaft oder Philosophie hat das Wissen und die wissenschaftliche
Forschung immer ihren Sinn im Rückbezug auf den ganzen Menschen;
Mathematik steht ebensosehr in der Funktion seiner Selbsterkenntnis wie
die Erörterung der optimalen Form der Polis. Erst mit der Abkapselung
der Sonderwissenschaften geht der existenzielle Sinn der Wissenschaft, ihre
Lebensbedeutsamkeit im Ganzen eines sich philosophisch, d. i. aus Selbster-
kenntnis rechtfertigenden Daseins verloren. Die Wissenschaften entledigen
sich ihres metaphysischen Sinnes, entarten in Intellektualismus, d. h. in ein
sich allein in technischer Anwendbarkeit rechtfertigendes Spezialistentum.
Die Philosophie reagiert auf die Revolte der Wissenschaften dadurch, daß
sie entweder ihren ursprünglichen Führungsanspruch aufgibt und neben den
Wissenschaften ein eingeschränktes Dasein fristet, indem sie mystisch oder
konstruktiv, erbaulich oder phantastisch wird.
Der Aufruhr der Wissenschaften gegen die Philosophie vor allem in
der Renaissance: das Aufkommen der „scientia nuova“! Obwohl die bei-
spiellosen Fortschritte der Wissenschaften dem Neuansatz der Renaissance
zu danken sind, so ist dennoch diese Entwicklung kein eindeutiger Sieg
des Geistes, sofern er erkauft ist mit dem Zerbrechen der Lebenseinheit
des Wissens. Gewiß ist die Scholastik, als Zwitter von Theologie und
Philosophie, keine echte Wissenseinheit gewesen, aber sie war doch in
der Prätention auf die Totalität des Wissens ausgerichtet. Gerade weil die
revoltierenden Wissenschaften nicht den Widerstand einer wirklich großen
und ursprünglichen Philosophie erfuhren, kamen sie zu einem allzuschnellen
und allzuleichten Siege und verlegten sich sosehr in die anti-scholastische
(antiphilosophische) Haltung, daß sie ‹die› Forderung nach einer Reform der
Philosophie nach den Methoden der aufständisch-siegreichen Wissenschaf-
ten („ordine geometrico“) erhoben.
Die zweite Welle des „Aufstandes“, die entscheidend unsere heutige
Situation bestimmt, ist der sog. „Zusammenbruch des Hegelschen Sy-
stems“. Das Versagen der spekulativen Methode im Felde der Erfahrungs-
erkenntnis bewirkte die Befreiung der Erfahrungswissenschaft von aller
philosophischen Bevormundung, den glanzvollen Aufstieg der Naturwissen-
schaften, ihre technischen Triumphe.

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Die Philosophie reagierte durch versuchten Selbstmord: Flucht in den
Irrationalismus; Wendung zum „Leben“ (Kierkegaard, Nietzsche) – und
entdeckt neue Probleme.
Oder aber sie degradiert sich zur ancilla der Wissenschaften: Epoche
der „physiologisch“, positivistisch, naturwissenschaftlich orientierten „Phi-
losophie“ (Helmholtz, Fechner, Mach usw.). Oder sie wird Methodologie
des naturwissenschaftlichen Denkens (Marburger Schule z. B.). Die Phi-
losophie hat sich der von ihr siegreich emanzipierten Naturwissenschaft
selbst unterworfen und gerät jener gegenüber in methodische Hörigkeit:
die positivistische Idee einer Einheitswissenschaft, die heute im „Physikalis-
mus“ (Carnap u. a.) wiederauflebt, die widersinnige Idee einer „exakten“
Psychologie, Sinnespsychologie, Experimentalpsychologie usw. usw. Bis
in die Popularphilosophie hinein zeigt sich die Herrschaft der aufständi-
schen Naturwissenschaft („Monismus“). Die jedes philosophische Leben
hemmende Zwangsjacke der Vorbildlichkeit der Naturwissenschaft führte
zur Reaktion der „Lebensphilosophie“, die bewußt sich von der Idee der
Wissenschaftlichkeit der Philosophie loslöste, weil sie diese selbst genauso
mißverstand wie die der Naturwissenschaft hörige „wissenschaftliche“ Phi-
losophie.
Die Unfruchtbarkeit der methodologisch von der Naturwissenschaft her
überfremdeten Philosophie einerseits, sowie das Aufblühen der Geisteswis-
senschaften in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts lösten Tendenzen aus,
die zu einem Befreiungsversuch der den Naturwissenschaften versklavten
Philosophie und Psychologie führten. Aber dieser Befreiungsversuch bringt
die Philosophie nicht zu sich selbst, nicht zur Eigenmächtigkeit ihres Seins,
sondern führt nur zu einer neuen Hörigkeit und Versklavung, die gefährlicher
ist, weil die Inadäquatheit der neuen Methodenvorbildlichkeit dem Wesen
der Philosophie gegenüber nicht so auffällig ist wie die Vorbildlichkeit
der Naturwissenschaft und weil ferner echte, nur mißleitete Motive dieses
Hineingleiten in eine neue Versklavung mitbestimmen. Die neue Sklaverei ist
die Herrschaft des „geisteswissenschaftlichen“ Denkens in der Philosophie.
Das bedeutet: den Primat der historischen Methode.
Begriff der „historischen Methode“: das „Verstehen“ von Sinn, wie es in
der „personalistischen Einstellung“ fungiert. (Hier wird eine phänomenolo-
gische Analyse des personalistischen Verstehens als eines solchen, das sich
in den vorgegebenen Einheiten und Artikulationen des subjektiven Lebens
(Akten, Handlungen, Motivationen, Zielstellungen, Absichten usw.) bewegt,
notwendig sein!) Die historische Methode bedeutet also ein Zurückgehen
hinter die naturwissenschaftlich-idealisierte Welt auf die Lebenswelt und das
in ihr gängige Begreifen, Verstehen.
Die Usurpation der historischen Methode im Felde der Philosophie
ist geleitet von den echten, aber nicht radikal genug erfaßten Motiven:

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1) Frontstellung gegen den Naturalismus in der Bestimmung der Subjektivi-
tät, 2) Kampf gegen die Exaktheitsidee, 3) Absage an eine Bestimmung des
Lebens, die invariant für immer gelten soll (wobei diese Absage an eine szs.
geschichtslose Bestimmung des Lebens gleichgesetzt wird mit einer Absage
an jede „systematische“ Bestimmung.)
Repräsentativer Typ: Dilthey. Er bedeutet die Proklamation der histori-
schen Methode als Organon der Philosophie. So bedeutsam auch die Resul-
tate seines historischen Interpretationsverfahrens für das Selbstverständnis
unserer heutigen Existenz sind, so bedeutet dieses Verfahren gerade die
strikte Unterbindung jeglicher eigenständig philosophischen Frage: die aus-
schließliche Methode der Interpretation der Objektivationen des Geistes
ist philosophischer Agnostizismus, sofern damit das Recht einer direkten
systematischen Erfassung des Wesens des Geistes bestritten wird, obgleich
diese Bestreitung sich als „kritische“ antimetaphysische Haltung gebärdet.
Die Philosophie hat sich in Historismus (d. i. ihrer Grenzen nicht bewuß-
ten, die Universalität usurpierenden historischen Methode) aufgelöst. Die
eigenständige Philosophie der Vergangenheit sinkt zum bloßen historischen
Faktum, zum Philosophem herab.
Bei Windelband, Rickert usw. wandelt sich die Herrschaft der natur-
wissenschaftlichen Denkform im Bereich der Philosophie ab durch wis-
senschaftsmethodologische Besinnungen („Grenzen der naturwissenschaft-
lichen Begriffsbildung“) in Methodologie der Geisteswissenschaften, was
wiederum die Botmäßigkeit der Philosophie der aufständischen Wissen-
schaft gegenüber dokumentiert.
Das Problem der Geschichte in der zeitgenössischen Philoso-
phie ‹ist› von vornherein in seinem Ansatz schon durch den Primat der
Geisteswissenschaften über die Philosophie bestimmt, sei es in Form der
totalen Usurpation (Dilthey), der methodologischen (Rickert, Windelband,
Rothacker u. a.) oder der scheinbar auf philosophische Eigenständigkeit
(Ontologie) abzielenden, aber gerade in diesem Versuch durchaus das his-
torische Verstehen (Hermeneutik) gebrauchenden maskierten methodologi-
schen Usurpation (Heidegger).
Heute hat sich die seltsam-merkwürdige Entwicklung des Aufstandes
der Wissenschaften, diese verhängnisvolle Spaltung des Geistes (die europäi-
sche Schizo-phrenie) vollendet: statt daß die Philosophie allen aus ihr deri-
vierten Sonderwissenschaften durch die Überholung des naiven Ansatzes die
Methode vorschreibt, schreiben heute die dem Wurzelgrund ihres philoso-
phischen Ursprungssinnes abgestorbenen und so entarteten Wissenschaften
der „Philosophie“ die Methode vor und halten so wirkliches Philosophieren
erfolgreich nieder.
Dies eine ungeheure Gefahr: die Sinnentleerung alles Wissens, der
Zerfall der menschlichen Kultur.

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Aufgabe ist: die Wiedergewinnung der Selbständigkeit der Philosophie,
die Wiederaufrichtung ihrer legitimen Herrschaft gegenüber der Usurpation
der aufständischen Wissenschaften, die Wiederherstellung der ursprüngli-
chen Wissenseinheit in der Zurückbindung und Verwurzelung alles sonder-
wissenschaftlichen Wissens in der Philosophie.
In einem gewissen Verstande ist dies das Programm der Phänomenolo-
gie.
Das Problem der Geschichte als philosophisches (phänomenologisches)
Problem bedeutet die Frage nach einem direkten, systematischen Zugang
zum letztlich verstandenen Wesen der Geschichte, bedeutet die Aufstellung
eines philosophischen Begriffs der Geschichte, von welchem aus alle naiven,
unkritischen Begriffe des vorwissenschaftlichen Lebens ebensosehr wie die-
jenigen der geisteswissenschaftlichen Forschungen überholt und reformiert
werden müssen.
Was ist Geschichte?
Die Beantwortung dieser Leitfrage gliedert sich:
I. Problem der „Tatsächlichkeit“ der geistig-subjektiven Geschehnisse (deren
Wandel wir gemeinhin „Geschichte“ nennen) als kritische Destruktion des
Bodens, auf dem alle geisteswissenschaftlichen Begriffe entspringen.
II. Problem der Seinsart des subjektiven Geistes: Subjektiver Geist als
lebendige Intentionalität ist mundan-ontologisch „unerreichbar“. Das Schei-
tern einer Ontologie der Seele und seine Gründe. (Auseinandersetzung mit
dem „Naturalismus der Intentionalität“ (Brentano).) Phänomenologie des
„transzendentalen Subjekts“ erreicht erst das Subjekt des geschichtlichen
Lebens. Aufriß einer „transzendentalen“ teleologischen Innenbetrachtung
der Geschichte: Geschichte als Weg des Geistes!
III. Verhältnis der mundanen morphologischen Außenbetrachtung (ihr rela-
tives Recht!) zur phänomenologischen Innenbetrachtung.
***
(An Husserl geschickt am 13.VII.35)13

13 Handschriftliche Zusatzbemerkung von Fink.

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No. 12:
Vorschlag einer Disposition für den „Prager
V o r t r a g “ 14 ( 1 9 3 5 )
Titel des Zyklus:
„Das Problem der Humanität“

Einleitung (Skizze des Grundgedankens und des inneren Zusammenhangs


der drei Vorträge)

Ausgang von der „Zeitgemäßheit“ der Themastellung: keine Erörterung


im politischen Raum, weder für die „humanitären Ideale“ der Demokratie
noch gegen die Angriffe der faschistischen Doktrin auf die Idee der Huma-
nität. Die Problemstellung jenseits des politischen Kampfes führt hinein in
den philosophischen Kampf um den Sinn des Menschen. Die politischen
Kämpfe wiederholen nur auf der Ebene der machtmäßigen Verfestigungen
von Lebensordnungen die tiefe Unsicherheit, die den modernen Menschen
ergriffen hat bis hinauf zu den freiesten und individuellsten Geistern. Was
unsicher geworden ist, ist gerade die „Humanität“, das Wesen des Menschen.
Der moderne Mensch ist aus der Sicherheit eines jahrtausendalten Selbst-
verständnisses gefallen, die antik-christliche Konzeption des Menschen
(einschließlich ihrer säkularisierten Spätform: den Idealen der „Aufklärung“)
ist endgültig erschüttert. Wir erleben heute, daß sich der Mensch wirklich
im Ganzen durch und durch problematisch geworden ist. Die schicksalhafte
Erfahrung des 20. Jahrhunderts, die auflösend zersetzend auf alle gewach-
senen Formen von Kultur und Gesittung wirkt und die Menschen vor den
Abgrund der Sinnlosigkeit von Welt und Leben führt, ist das mehr und
mehr offenbar werdende und eingestandene Wissen des Nichtwissens um das,
was der Mensch sei. Diese Situation bei aller Gefährlichkeit eine unerhörte
philosophische Chance: der Mensch als radikales Problem! Dies ist keine
Chance für den Philosophen, weil er nicht den Einsturz eines Bodens der
Lebenssicherheit erlebt. Aber für viele, die die Lebensgeborgenheit in einem
unfraglichen Sinn verloren haben, ist heute die Chance gegeben, von der
nur faktischen Unsicherheit über den Menschen zur prinzipiellen, d. i.
philosophischen Frage nach dem Wesen des Menschen vorzudringen.
Im ersten Vortrag gilt es die Problematik in Bewegung zu bringen, die der
Versuch, einen Begriff des Menschen zu bestimmen, in sich schließt: Frage
nach dem gegebenen und vorgegebenen Selbstverständnis des Menschen,
Frage nach dem Wissen und der Wissenschaft, die zur Bestimmung des

14Vgl. Z-XVIII 3a und Reihe V, sowie OH V, Beschreibung. Siehe dazu auch die Ausführun-
gen von Reinhold N. Smid in: Hua XXIX, Einl. d. Hrsg., S. XX.

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Menschen führt; Kritik aller objektivistischen (materialistischen-naturalis-
tischen) Bestimmungsversuche des Menschen. Die prinzipielle Unzuläng-
lichkeit aller „ontologistischen“ Bestimmungsversuche. Forderung einer
rein-subjektiven Auslegung des subjektiv-fungierenden Lebens. Frage nach
dem Wer des Lebens: vom objektivistisch verstandenen Menschen (als der
relativ berechtigten Außenapperzeption) zum innersten Lebenssubjekt, zum
„transzendentalen Ego“. Der Begriff des Menschen ist prinzipiell nicht in
einer Einstellung zu gewinnen, die beim vorgegebenen (gleichsam statisch-
stagnierenden) „Selbstverständnis“ des Menschen einsetzt und dort stehen
bleibt, sondern allein in einer alle „statische“ Vorgegebenheit überwindenden
Selbstbesinnung. Das Problem des Begriffs des Menschen wird zur Auf-
gabe der phänomenologischen Reduktion als der radikalen Selbstvertiefung
des Lebens.
Im zweiten Vortrag soll die Humanität, d. i. die Menschlichkeit des
Menschen als phänomenologisch auslegbare Lebensinnerlichkeit charakteri-
siert werden: also Charakteristik der Methode der Intentionalanalyse als des
prinzipiell einzigen adäquaten Verfahrens, das reine Wesen der Subjektivität
frei von Naturalismen und „Ontologismen“ zur Aussprache zu bringen. Darin
kritische Auseinandersetzung mit dem „Naturalismus der Intentionalität“
(Brentano). Skizze einer universal-intentionalen Lehre von der reinen Sub-
jektivität.
Im dritten Vortrag soll die Idee der Humanität geklärt werden aus
dem Verständnis der Intentionalität als „Teleologie“: „Humanität“ als teleo-
logischer Sinn des durch Selbstbesinnung zur Selbstvertiefung gekomme-
nen menschlichen Lebens, dargestellt am Problem des individuellen und
kollektiven Sinnes. Teleologie als Sinnproblem des individuellen Lebens:
Phänomenologie der Person; Person nicht das fungierende Ich als Ausstrah-
lungspol aller Intentionen, sondern die Lebensganzheit, das, worauf es im
Einzelnen in der Tiefe seiner Innerlichkeit „hinauswill“. Teleologie als Sinn-
problem des kollektiven Lebens: Finalität der Geschichte; Phänomenologie
der Geschichtlichkeit
***
Titel des I. Vortrages: Der Begriff des Menschen.
Titel des II. Vortrages: Die Wissenschaft von der Subjektivität.
Titel des III. Vortrages: Der Sinn des menschlichen Lebens.
***
Zu Husserl nach Kappel gebracht am 14. August 1935.15

15 Handschriftliche Zusatzbemerkung von Fink.

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No. 13:
Vorschlag für die „Schlußsätze“ zum Wiener
Vortrag Husserls.
(Husserl hat diesen Schluß
a u c h v o r g e t r a g e n . ) 16
Drängen wir den Grundgedanken unserer Ausführungen zusammen: Die
heute so viel beredete, sich in unzähligen Symptomen des Lebenszerfalls
dokumentierende „Krise des europäischen Daseins“ ist kein dunkles Schick-
sal, kein undurchdringliches Verhängnis, sondern wird verständlich und
durchschaubar auf dem Hintergrund der philosophisch aufdeckbaren Teleo-
logie der europäischen Geschichte. Voraussetzung dieses Verständnisses
aber ist, daß zuvor das Phänomen „Europa“ in seinem zentralen Wesens-
kern erfaßt wird. Um das Unwesen der gegenwärtigen „Krise“ begreifen
zu können, mußte der Begriff Europas herausgearbeitet werden als die
historische Teleologie unendlicher Vernunftziele; es mußte gezeigt werden,
wie die europäische „Welt“ aus Vernunftideen, d. h. aus dem Geiste der
Philosophie geboren wurde. Die „Krise“ konnte dann deutlich werden als
das scheinbare Scheitern des Rationalismus. Der Grund des Versagens einer
rationalen Kultur liegt aber – wie gezeigt – nicht im Wesen des Rationalismus
selbst, sondern allein in seiner Veräußerlichung, in seiner Versponnenheit in
„Naturalismus“ und „Objektivismus“.
Die Krise des europäischen Daseins hat nur zwei Auswege: den Unter-
gang Europas in der Entfremdung gegen seinen eigenen rationalen Lebens-
sinn, den Verfall in Geistfeindschaft und Barbarei, oder die Wiedergeburt
Europas aus dem Geiste der Philosophie durch einen den Naturalismus
endgültig überwindenden Heroismus der Vernunft. Europas größte Gefahr
ist die Müdigkeit. Kämpfen wir gegen diese Gefahr der Gefahren als
„gute Europäer“ in jener Tapferkeit, die auch einen unendlichen Kampf
nicht scheut, dann wird aus dem Vernichtungsbrand des Unglaubens, dem
schwelenden Feuer der Verzweiflung an der menschheitlichen Sendung des
Abendlandes, aus der Asche der großen Müdigkeit der Phönix einer neuen
Lebensinnerlichkeit und Vergeistigung auferstehen, als Unterpfand einer
großen und fernen Menschenzukunft: Denn der Geist allein ist unsterblich.
***

16Handschriftliche Erklärung Finks. Dieser Vorschlag wurde in Hua VI (Abhandlung, S. 314–


348) dem Text des Wiener Vortrags „Die Krisis des europäischen Menschentums und die
Philosophie“ hinzugefügt (S. 347f.).

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Hochverehrter Herr Geheimrat!
Anbei den Entwurf eines Vorschlags für die Schlußsätze des Vortrages.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr sehr ergebener
‹Eugen Fink›
2. Mai 193517

Nr. 14:
Artikel für das Eisler’sche Philosophenlexikon
( G e m e i n s a m m i t H u s s e r l v e r f a ß t . ) 18
E D M U ND HUSSERL

Edmund Husserl, geb. 1859, in Proßnitz (Mähren), Professor emeritus in


Freiburg i. Br.

Die philosophische Lebensarbeit Husserls läßt sich nicht kennzeichnen,


wenn die einzelnen Werke isoliert und nach ihrer jeweiligen Thematik
betrachtet werden, sondern nur, wenn ihre historische Abfolge verstanden
wird als die konsequente Auswirkung einer zunächst dunklen, ständig aber
an Klarheit gewinnenden Tendenz auf eine radikale Neubegründung der
Philosophie. Sein philosophisches Erstlingswerk ist die „Philosophie der
Arithmetik“ I. Band (1891), eine breitere Ausarbeitung seiner Hallenser
Habilitationsschrift, von der nur ein Stück unter dem Titel „Über den

17 Die Kopie in Finks Nachlass trägt keine Unterschrift. Das Datum wurde von Fink
handschriftlich hinzugefügt.
18 Vgl. den letzten Satz in Anm. 36 unten am Ende des Textes. Ursprünglich von Rudolf Eisler

im Jahre 1912 als Lexikon der philosophischen Begriffe veröffentlicht, wurde das Sammelwerk
nach dessen Tod im Jahre 1926 zuerst von Dr. Eugen Hauer weitergeführt, dann von Werner
Ziegenfuß übernommen, bis es im Jahre 1937 aus politischen Gründen eingestellt wurde. Es
erschien nach dem Krieg im Berliner Verlag Walter de Gruyter; darin, im ersten Band, der
Artikel: „Edmund Husserl“, in: Philosophen-Lexikon, Handwörterbuch der Philosophie nach
Personen, hrsg. von Werner Ziegenfuß (Berlin 1949), Bd. 1, S. 569–576. Zu diesem Artikel
schrieb Husserl am 18. Juni 1937 an Marvin Farber: „Über den inneren Zusammenhang aller
meiner Schriften, somit über meine innere Entwicklung, wird wohl das Eister’sche Philoso-
phenlexicon der neuen Bearbeitung bei meinem Namen Richtiges bringen – falls die von Dr.
Fink seinerzeit entworfene Vorlage wirklich ohne Änderung aufgenommen worden ist.“
(Bw. IV, S. 84) Diesen Satz zitiert Farber in seinem Buch The Foundation of Phenomenology,
Edmund Husserl and the Quest for a Rigorous Science of Philosophy (Cambridge, Mass.
1943), S. 17. Der veröffentlichte Text des Berichts entspricht nahezu gänzlich dem hier vor-
liegend abgedruckten Text; wo er von diesem abweicht, wird dies in den Anmerkungen ver-
merkt. – Siehe ebenfalls Hua XXVII, S. 245–254: „Edmund Husserl“, in: Philosophen-Lexi-
kon, bearbeitet von Eugen Hauer, Werner Ziegenfuß, Gertrud Jung, Berlin 1937, S. 447–452.

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Begriff der Zahl“ 1887 im Druck erschienen ist. Husserl, ursprünglich als
Mathematiker und Naturwissenschaftler ausgebildet, hatte als letztes Ziel vor
Augen die Ermöglichung eines radikal strengen, auf logisch und psycholo-
gisch letztgeklärten Grundlagen beruhenden Aufbaus der Arithmetik. Als
Beitrag dazu liefert dieses Werk vor allem eine deskriptiv-psychologische
Ursprungsanalyse der Fundamentalbegriffe Vielheit, Einheit und Anzahl.
Der dem Ursprung nach frühere Vielheitsbegriff führt auf eine eingehende
Charakteristik der Aktivität der „kollektiven Einigung“, in der das „Zusam-
men“, der „Inbegriff“ ursprünglich bewußt wird. Im Weiteren aber wird das
Problem dringend, wie ursprüngliche Vielheitsprädikationen möglich wer-
den ohne ein wirklich ausgeführtes Kolligieren. Dies führt zur fundamentalen
Unterscheidung zwischen eigentlich gegebenen Vielheiten und sinnlichen
Mehrheiten, die bloß „symbolisch“, nämlich indirekt assoziativ als Vielhei-
ten aufgefaßt werden. Den Anhalt der Assoziation geben die eine sinnliche
Mehrheit konstituierenden „figuralen Momente“, im Wesen identisch mit
den von Ehrenfels von einer ganz anderen Fragestellung aus19 entdeckten
„Gestaltqualitäten“. In diesen Zusammenhängen erwächst erstmals die Lehre
von den „Akten“ und korrelativ den „Gegenständen höherer Ordnung“ sowie
der erste Anfang der Lehre von den „kategorialen Begriffen“ gegenüber
den bloß sinnlichen. Wichtige Einzelanalysen betreffen auch Unterscheiden
und Unterschied (im Kontrast mit Kollektion und Kollektivum) sowie den
Ursprung der Vorstellung der unendlichen Vielheit. Der charakteristische
Einsatz der „Philosophie der Arithmetik“ liegt aber in der eigentümlichen
Doppelung in psychologische und logische Analysen, die nicht einfach neben
einander herlaufen, sondern ständig in innerem Bezug aufeinander angelegt
und abgestimmt sind. Hier tritt erstmalig in seiner Spezialuntersuchung
das philosophische Grundmotiv auf, das in der Folge von entscheidender
Bedeutung wurde: die korrelative Betrachtungsart. Die Spannungseinheit
des in eins subjektiv und objektiv gerichteten Fragens ist der eigenste
und fruchtbare Ansatz Husserls, der in seiner wachsenden Vertiefung und
Wandlung die Etappen bestimmt, in welchen schließlich eine neue Idee der
Philosophie zum Durchbruch kommt.
In den „Logischen Untersuchungen“ hat sich dieser Ansatz durch die
Arbeit eines Jahrzehnts zu einer Fülle bahnbrechender philosophischer Fra-
gestellungen und konkreter analytischer Lösungen ausgeweitet. Das Werk,
welches Husserl seinem Lehrer C. Stumpf20 gewidmet hat, zerfällt in zwei
Bände: „Prolegomena zur reinen Logik“ (1900) und „Untersuchungen zur

19 Statt „von einer ganz anderen Fragestellung aus“ im veröffentlichten Text „unter Leitung

einer ganz anderen Fragestellung“.


20 Der ursprünglich niedergeschriebene Name „Franz Brentano“ wurde zu „C. Stumpf“

korrigiert; im veröffentlichten Text steht jedoch noch „Franz Brentano“.

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Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis“ (1901). Die innere Einheit der
beiden Teile, die der zeitgenössischen Kritik merkwürdigerweise verborgen
blieb, liegt in nichts Anderem als der Verwirklichung des methodischen
Prinzips der korrelativen Betrachtungsart. Um aber der subjektiv-objektiven
einheitlichen Forschung den rechten Ansatz zu verschaffen, bedurfte es
zunächst der Anstrengung, die Objektivität des Objekts, hier der logischen
Gebilde, gegen jede falsche Subjektivierung zu verteidigen. So geht denn
Husserls Hauptbemühen im I. Bande dahin, den Seinssinn der logischen
Gebilde zu klären als „idealer Einheiten“, der logischen Gesetze als „Ideal-
gesetze“ in der ausführlichen kritischen Auseinandersetzung mit dem damals
herrschenden „Psychologismus“. „Psychologismus“ bedeutet in der Rede-
weise dieser Kritik die Auffassung der logischen Gesetze als „Naturgesetze
des Denkens“, als Realgesetze des Psychischen, also als psychologischer
Tatsachengesetze.21 Ein besonders wirksames Moment dieser Kritik bestand
und besteht darin, daß Husserl den Psychologismus jeder Spielart als Relati-
vismus nachweist. Positiv dient die Kritik vor allem der Herausstellung der
Idealität resp. Apriorität der reinen Logik. Im Schlußkapitel wird alsdann
die Idee dieser reinen Logik selbst entfaltet und zwar in einer Doppelung
ihrer Aufgaben: 1) als apriorische Wissenschaftslehre, d. h. als die Lehre
von den „idealen Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft bzw.
Theorie“, 2) als apriorische Lehre von den „formalen“ Begriffen, die
für Gegenstände überhaupt konstitutiv sind und „von jeder Besonderheit
irgendwelcher Erkenntnismaterie unabhängig“ wie Gegenstand, Sachver-
halt, Einheit, Vielheit, Anzahl, Beziehung usw. Die reine Logik gabelt sich
also ihrer Idee nach hinsichtlich ihrer Thematik in die Logik der „Bedeu-
tungskategorien“22 und die Logik der „gegenständlichen Kategorien“, oder,
wie Husserl später formulierte, in apophantische Logik und formale Onto-
logie (formale Theorie der Gegenstände), deren übergreifende Einheit die
reine Mannigfaltigkeitslehre als Theorie der möglichen Theorieformen bzw.
„Mannigfaltigkeiten“ ausmacht. Der II. Band des Werkes gliedert sich in
6 Untersuchungen, die z. T. die für die Ausführung einer reinen Logik
unerläßlichen Vorarbeiten in Angriff nehmen, teils als Phänomenologie der
Erlebnisse die Rückgangsdimension eröffnen, in welcher allein die „logi-
schen Ideen, die Begriffe und Gesetze, zur erkenntnistheoretischen Klarheit
und Deutlichkeit zu bringen“ sind. In der I. Untersuchung über „Ausdruck
und Bedeutung“ unterwirft Husserl die Wesenszusammenhänge zwischen
Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung, zwischen dem noetischen

21 Der letzte Satzteil dieses Satzes lautet im veröffentlichten Text: „die Auffassung der

logischen Begriffe und Gesetze als psychischer Gebilde, der logischen Gesetzte als psycholo-
gischer Tatsachengesetze“.
22 Nach „Bedeutungskategorien“ im veröffentlichten Text: „(Begriff, Satz, Schluß usw.)“.

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und idealen Gehalt der Bedeutungserlebnisse einer analytischen Klärung und
sichert so für die Aufgabe einer reinen Logik die vorbedingende Einsicht
in die sprachlich-grammatikalische23 Seite der logischen Erlebnisse. (Diese
I. Untersuchung hat einen sehr starken Einfluß ausgeübt sowohl auf die
Sprachphilosophen als auch die Logiker).24 Die II. Untersuchung handelt
über „Die ideale Einheit der Spezies und die neueren Abstraktionstheorien“,
wendet sich in einer ersten Begründung der Lehre von der Ideation gegen
die psychologische Hypostasierung des Allgemeinen, gegen jede Form des
Nominalismus und vornehmlich gegen die nominalistischen Abstraktions-
theorien des englischen Sensualismus. Die III. Untersuchung „Zur Lehre
von den Ganzen und Teilen“ gibt sich ausdrücklich als Grundstück einer
„apriorischen Theorie der Gegenstände als solcher“. Die Durchführung der
Auslegung an konkret anschaulichen „Inhalten“ (Empfindungsdaten oder
Dinggegenständen) führt zur Aufweisung von Wesensgesetzen als die25
Ganzheiten konstituierenden. Diese werden dann radikal unterschieden in
„analytische“ und „synthetische“ Gesetze apriori, worin die prinzipielle
Scheidung der in der reinen Logik enthaltenen26 formalen und der mate-
rialen apriorischen Gegenstandslehre beschlossen ist, letztere das auf das
Sachhaltige von Gegenständlichkeiten gegründete Apriori betreffend. Nach
beiden Richtungen werden umfassende Analysen durchgeführt, denen in
den weiteren Partien des Werkes sich noch andere in gleichem Sinne „gegen-
standstheoretische“ Grundlegungen anreihen (einige Jahre vor den diesbe-
züglichen Versuchen von Meinong). Die IV. Untersuchung „Der Unterschied
der selbständigen und unselbständigen Bedeutungen und die Idee der reinen
Grammatik“ setzt die Forschungen der I. Untersuchung fort und entwirft die
Idee einer apriorischen Formenlehre aller kategorialen Bedeutungen als einer
reinlogischen Sonderdisziplin – die Idee einer „reinlogischen Grammatik“.
Für die Weiterentwicklung der Husserlschen Philosophie sind die beiden
letzten27 Untersuchungen des Werkes von zentraler Wichtigkeit: in ihnen
kommt zum ersten Male die phänomenologische Forschungsweise zum
vollen Durchbruch. Die V. Untersuchung „Über intentionale Erlebnisse und
ihre Inhalte“ bedeutet für den Zusammenhang des Werkes den Rückgang in
die subjektiven Quellen, aus denen die logischen Gebilde entspringen, und
hat ihre Abzweckung in der phänomenologischen Lehre vom Urteil. Die ana-
lytische Fragestellung ist aber von vornherein so weit und radikal gefaßt, daß
die allgemeinsten Strukturen des Bewußtseinslebens überhaupt und seiner

23 Im veröffentlichten Text einfach „in die grammatische Seite der logischen Erlebnisse“.
24 Der Satz ist im veröffentlichten Text nicht in Klammern gesetzt.
25 Der bestimmte Artikel „die“ nicht im veröffentlichten Text.
26 Der Satzteil „in der reinen Logik enthaltenen“ im veröffentlichten Text in Klammern.
27 Keine Betonung im veröffentlichten Text.

M-III Grammata 775

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Intentionalität thematisch werden. Das allgemeine Wesen: intentionaler Akt,
wird hier nach seinen deskriptiv abhebbaren Grundmomenten charakteri-
siert: „Materie“ und „Qualität“,28 ferner die wesensmöglichen Fundierungen
der Akte werden analytisch verfolgt. Eine Fülle von Bewußtseinsanalysen
der weittragendsten Bedeutung liegt hier bereits vor. Die sehr umfangreiche
VI. Untersuchung „Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der
Erkenntnis“ analysiert die phänomenologischen Elementarstrukturen der
Intentionalität als Synthesis von Intention und Erfüllung, gibt eine ausführli-
che Phänomenologie der Erkenntnisstufen, eine Klärung der logischen Ideen
Einigkeit und Widerstreit (Unverträglichkeit), einen wichtigen Anhieb zur
Klärung der Korrelation von Evidenz und Wahrheit (wahres Sein) usw. Der
ganze 2. Abschnitt gilt dem grundlegenden Unterschied von sinnlicher und
kategorialer Anschauung.
Betrachten wir die „Logischen Untersuchungen“ als Ganzes, so finden
wir in ihnen die korrelative Betrachtungsart auf einer Stufe, die gegenüber
der „Philosophie der Arithmetik“29 einen großen und entscheidenden Fort-
schritt darstellt. Allgemein ist als Grundcharakter dieser „Phänomenologie“
zu bemerken, daß sie alle Feststellungen ausschließlich aus der rein imma-
nenten Intuition schöpft und jedes Überschreiten dieser Sphäre anschaulicher
Selbstgegebenheit verwehrt. Diese intuitive Evidenz kann aber nicht eine
bloße empirisch-psychologische sein, alle ihre Einsichten sind apodiktische
Wesenseinsichten. Das gegen den Psychologismus erkämpfte Ideenreich,
das des Apriori,30 ist nicht ein Reich spekulativer Substruktionen, sondern
apodiktischer Intuition. Diese ist aber letztlich und überall zurückbezogen
auf das Urfeld alles „Apriori“, das der Bewußtseinssubjektivität. Zum ersten
Male wird hier das reine Bewußtseinsleben zum Thema einer universalen
Bewußtseinsforschung, getragen von der Einsicht, daß alles in der immanen-
ten Sphäre aufweisbare Sein und Geschehen von Wesensgesetzlichkeiten
geregelt ist. Ein weiterer Grundcharakter dieser Phänomenologie ist es, daß
in der ausschließlichen Forschungseinstellung auf das Bewußtsein rein als
solches und in seinen eigenwesentlichen synthetischen Zusammenhängen
allererst das eigentümliche Wesen der Intentionalität und der Methode, sie
vom intentionalen Gegenstand her zu befragen, zur Geltung gebracht und
damit die unfruchtbare klassifikatorisch-deskriptive Methode der Brentano-
schen Lehre von den „psychischen Phänomenen“ überwunden wurde. Die
konsequente Auswirkung der Anfänge der „Logischen Untersuchungen“ tritt
ausgereift freilich erst in den Ideen zu Tage als Konzeption der Aufgabe
einer universalen Bewußtseinsphänomenologie als „erster Philosophie“ und

28 „Materie“ und „Qualität“ im veröffentlichten Text nicht in Anführungszeichen.


29 Keine Anführungszeichen zu „Philosophie der Arithmetik“ in dem veröffentlichten Text.
30 Im veröffentlichten Text „Apriori“ in Anführungszeichen.

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zwar unter der Idee einer universalen konstitutiven Aufklärung alles für
uns „Seienden“. In den „Logischen Untersuchungen“ aber ist die Bewußts-
einsanalyse noch vorwiegend „noetisch“ d. h. in der reflektiven Blickrich-
tung ‹auf› das Erleben allein vollzogen,31 sie zieht noch nicht konsequent
die zu jedem Erlebnis als solchem gehörige noematische Sinnesschicht in
die Untersuchung: den thematischen Gehalt des Erlebnisses. Die Notwendig-
keit einer konsequent doppelseitigen Bewußtseinsanalyse bringen erst die
„Ideen“ zur vollen Einsicht. Aber gleichwohl fehlt es in den „Logischen
Untersuchungen“ nicht an Ansätzen zu Fixierungen noematischer Struktu-
ren: wir finden vor allem die Nachweisung des Sinnesmomentes in der außer-
logischen Sphäre, so bei den Anschauungen (Wahrnehmungssinn usw.), neue
Erkenntnisse, die der Denkpsychologie Impulse gegeben ‹haben›.
Nach den „Logischen Untersuchungen“ galten die Forschungen Hus-
serls der systematischen Erweiterung der Phänomenologie zu einer univer-
salen Bewußtseinsanalytik. Aus dem größeren Zusammenhang der Göttin-
ger Vorlesungen von 1905 über die Phänomenologie der Anschauungen
stammen die erst 1928 publizierten „Vorlesungen zur Phänomenologie des
inneren Zeitbewußtseins“ (hrsg. von Heidegger). Hatten die „Logischen
Untersuchungen“ vorwiegend den Blick vermöge ihrer Thematik auf die
intentionalen Leistungen der spontanen Aktivität gerichtet, so werden in
diesen „Vorlesungen“ die intentionalen Leistungen der rein passiven Genesis
enthüllt, in welchen nach einer strengen Wesensgesetzlichkeit das Bewußt-
seinsleben im Dahinströmen sich in einer verborgenen kontinuierlichen
Synthesis für sich selbst als Strom von zeitlich seienden Erlebnissen konsti-
tuiert. Hierbei eröffnen sich neue Einblicke in das Wesen der Intentionalität
und in ihre Weisen, intentionale Implikationen zu bilden. Es ist hier schon
die Methode konsequenter Ausschaltung aller transzendenten Geltungen
durchgeführt, aber es fehlt noch an einer prinzipiellen Kontrastierung der rein
phänomenologisch gefaßten Subjektivität.
Im Jahre 1911 erschien als vorläufige programmatische Umzeichnung
des universal philosophischen Sinnes der neuen Phänomenologie in „Logos
I“32 der vielbeachtete Aufsatz „Philosophie als strenge Wissenschaft“. Gegen
die überhandnehmende Verwirrung der Ziele einer Weltanschauungsphiloso-
phie (als richtunggebender für den in der Endlichkeit stehenden praktischen
Menschen) und einer wissenschaftlichen Philosophie tritt Husserl für das
ewige Recht der letzteren ein, ihren echten Sinn neu bestimmend. Im Kampfe
mit dem sensualistischen Naturalismus und anderseits dem Historismus –
gegen die Naturalisierung des Bewußtseins auf der einen Seite und den
historischen Anthropologismus auf der anderen – wird die Notwendigkeit

31 Im veröffentlichten Text Semikolon.


32 Anführungszeichen nicht hinzugefügt in dem veröffentlichten Text.

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einer universalen Phänomenologie der Intentionalität als Fundament für
eine wahre Psychologie und Geisteswissenschaft und für eine universale
Philosophie gezeichnet.
In der eigentlichen Grundschrift der konstitutiven Phänomenologie,
den „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie“ (1913) kommt die neue Wissenschaft zu einer systematisch-
begründeten Auslegung ihres eigentümlichen Sinnes als erster Philosophie,
als „Grundwissenschaft der Philosophie“ überhaupt. Nach einem ersten
Abschnitt über „Tatsache und Wesen“ beginnt im 2. Abschnitt („Die phä-
nomenologische Fundamentalbetrachtung“) die methodische Eröffnung der
eigentümlichen Domäne der „reinen“ oder „transzendentalen“ Phänomeno-
logie. Husserl setzt ein mit der Analyse der „natürlichen Einstellung“,
welche nichts Anderes ist als die ständige in allem praktischen wie theore-
tischen Leben unausdrücklich vollzogene Voraussetzung der Weltexistenz.
Mit der Aufhebung dieser Voraussetzung, also der radikalen Änderung der
natürlichen Einstellung, wird allererst die phänomenologische Einstellung
möglich. Diese Änderung beruht in der unverbrüchlich festzuhaltenden
„Einklammerung“ der Weltexistenz und all der in ihr implizierten schlecht-
hinnigen Setzungen von Gegenständen jeder Art. Was nach dieser Einklam-
merung verbleibt, ist das reine Bewußtsein mit seinem Weltmeinen. „Welt“
ist ein Titel geworden für das Korrelat bestimmter Zusammenhänge des
Bewußtseinslebens, in denen dieses gegenständliche Existenz als solche
vermeint: anschaulich erfahrend, dunkel vorstellend, denkend, wertend,
praktisch strebend usw. Welt wird zum „Weltphänomen“. Phänomen einzig
im Sinne der bewußtseinsmäßigen Vermeintheit ist das universale Thema
der „Phänomenologie“, welche die Wissenschaft ist von dem reinen oder
transzendentalen Bewußtsein nach seinen erlebnismäßigen und vermeinten
Beständen, oder anders gewendet, die Wissenschaft vom Aufbau der im phä-
nomenologischen Subjekt jeweils als seiend geltenden Welt (so wie auch des
ihm als „ideale“ Gegenständlichkeiten geltenden Seins) in den sinngebenden
reinen Bewußtseinserlebnissen mit ihren vermeinten Gehalten.
Der 2. Abschnitt gilt der methodischen Sicherung der transzendental-
phänomenologischen Erkenntnis überhaupt, er entfaltet die volle Systematik
der phänomenologischen Methode als die Einheit der transzendentalen
und eidetischen Reduktion, eben als der apriorischen Wesenserkenntnis
der nach der Einklammerung der Weltexistenz verbleibenden absoluten
Subjektivität. Der 3. Abschnitt „Zur Methodik und Problematik der reinen
Phänomenologie“ setzt mit prinzipiell methodischen Analysen ein, durch
Ausschluß der Probleme der inneren Zeitigung und der Ichprobleme die
weitere Untersuchungssphäre begrenzend. In den weiteren Kapiteln über
„Noesis und Noema“ und „Zur Problematik der noetisch-noematischen
Strukturen“ bringt jeder Paragraph neue Aufweisungen ganz fundamentaler

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Strukturen, mit denen sich jeweils ein neuer und immer wieder neuer
Problemhorizont konstitutiver Forschungen vorzeichnet.
Im 4. Abschnitt „Vernunft und Wirklichkeit“ wird das allgemeine
Grundproblem der intentionalen Konstitution behandelt als das konstitutive
Problem der Evidenz und des ihr jeweils zugehörigen Seinssinnes. So viele
Grundarten von Evidenz, so viele Grundarten von Gegenständlichkeiten:
und so viele Grundarten der vernunfttheoretischen Probleme als konstitutiver
Probleme. Mit dem Ausblick auf die Idee des vollextendierten transzen-
dentalen Problems als des universalen Konstitutionsproblems schließt das
„Erste Buch“ der „Ideen“. Die umfassenden Entwürfe zu den zwei weiteren
vorgesehenen Bänden aus der Zeit von 1913–1916 haben, in Abschriften
dem Schülerkreis Husserls’ zugänglich gemacht, Wirkungen geübt. Vor
allem die ausgeführten Grundstücke zur konstitutiven Phänomenologie der
materiellen Natur als Einheit rein aus naturaler Erfahrung, die Konstitution
des Leibes in seiner Eigenheit als Organ und als gegliedertes Organsystem
des wahrnehmenden, waltenden und in die physische Natur leiblich hinein-
waltenden Ich, anderseits des Leibes als ‹eines› Naturkörpers; ferner die
Konstitution der Seele und des Menschen (bzw. Tieres) als Naturrealität
im erweiterten Sinne; die Konstitution des „Anderen“ durch konstitutive
Aufklärung der Leistung der Einfühlung. In Gegenrichtung zur Konstitution
der physischen und psychophysischen Natur erfolgt in Anknüpfung an die
fundamentale Unterscheidung von naturwissenschaftlicher und geisteswis-
senschaftlicher Einstellung die Behandlung der konstitutiven Probleme der
Personalitäten verschiedener Ordnung, in ihrer Beziehung auf ihre persona-
len Umwelten, die Konstitution der kulturellen Umwelt und so überhaupt der
„geistigen“ Welt.
Nach den „Ideen“ waren die Forschungen Husserls bestimmt durch
die Fragen nach einer radikalen Erhellung der Phänomenologie in ihrem
Verhältnis zu den positiven Wissenschaften, nach der Abgrenzung der
phänomenologischen Analytik gegen die psychologische Bewußtseinsfor-
schung und nach dem inneren Bezug der beiden; überhaupt durch univer-
sal-methodische Fragen, in deren Verfolg die neue phänomenologische
Philosophie zu letzten methodischen Einsichten und den obersten Problem-
sphären vordringt. Anderseits waren diese Jahre erfüllt durch umfassende
konkrete Untersuchungen. Da Husserl ständig in seinen Vorlesungen die ihn
unmittelbar bewegenden Probleme vortrug, hat er in einem hohen Maße
durch die lebendige Mitteilung auf die philosophische Literatur einen kaum
abschätzbaren Einfluß ausgeübt.
Im Jahre 1929 erschien als ein erstes Werk, das den Erwerb der langen
Jahre literarischer Zurückhaltung zur Darstellung bringt, seine „Formale und
transzendentale Logik“ (Versuch einer Kritik der logischen Vernunft). Dieses

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Werk stellt gewissermaßen exemplarisch das Verhältnis der objektiv-munda-
nen Wissenschaften zur Phänomenologie dar: von der traditionellen und
alsdann in ihrem Sinn vertieften und geklärten Logik, als der thematischen
Wissenschaft des formalen Apriori, werden wir durch die Kritik ihrer Vor-
aussetzungen zurückgeleitet in ihre Verwurzelung in den konstituierenden
Zusammenhängen aktueller und implizierter Intentionalitäten des transzen-
dentalen Bewußtseins. So gliedert sich das Werk in zwei Abschnitte. Der 1.
„Die Strukturen und der Umfang der objektiven formalen Logik“ nimmt die
Problematik der in den „Logischen Untersuchungen“ entworfenen „reinen
Logik“ wieder in radikalisierter Weise auf und bringt als eine wesentlich
weiterführende Einsicht innerhalb einer strukturellen Dreigliederung dieser
Logik die Abgrenzung einer reinen Logik der Konsequenz (in der der
Wahrheitsbegriff noch nicht thematischer Grundbegriff ist) mit den zugehö-
rigen phänomenologischen Klärungen. Im Zusammenhang damit erfährt das
Verhältnis der formalen Logik zur formalen Mathematik und zu der sie beide
umspannenden formalen „mathesis universalis“ eine wesentliche Vertiefung.
Der 2. Abschnitt: „Von der formalen zur transzendentalen Logik“ hat die
Aufgabe der ausdrücklichen Rückleitung in die konstitutive Problematik.33
Er bringt u. a. eingehende Untersuchungen zur allgemeinen Problematik
der Evidenz in Beziehung auf Sein und Wahrheit, ferner zu einer radikalen
Urteilstheorie usw. Von besonderer Bedeutung ist die tiefere Aufklärung der
schon in den „Ideen“ sichtlich gewordenen Unterscheidung zwischen eide-
tischer Bewußtseinspsychologie und „transzendentaler“ Phänomenologie.
Damit geht in eins eine methodisch für die ganze phänomenologische Philo-
sophie grundlegende Klärung des „transzendentalen Psychologismus“. Erst
hier gewinnt das Verhältnis der transzendentalen Subjektivität zur psycholo-
gischen eine unbeirrbare Evidenz, welche die großen in ihrer Verwechslung
beschlossenen Mißverständnisse der reinen Phänomenologie fernhält.
Es bleibt noch hinzuweisen auf die im Druck befindlichen34 „Médi-
tations cartésiennes“, welche35 eine erweiterte Ausarbeitung zweier im
Frühjahr 1929 an der Sorbonne gehaltenen Doppelvorträge sind. In diesen
umreißt Husserl das Ganze der phänomenologischen Philosophie, gibt vor
allem in einer ausführenden Analyse der Einfühlung, als der Erfahrung
des Fremdseelischen, die notwendige Basis für die volle Erschließung der
transzendentalen Subjektivität als transzendentalen Intersubjektivität und
damit die volle Umzeichnung des Universums der konstitutiven Probleme.

33 Im veröffentlichten Text Semikolon statt Punkt.


34 Im veröffentlichten Text fehlen die Wörter „im Druck befindlichen“ weggelassen, was
darauf hindeutet, dass der Text vor 1931 verfasst wurde.
35 Im veröffentlichten Text „die“ anstatt „welche“.

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.
Eine breitere Ausführung dieses Ganges in deutscher Sprache ist dem-
nächst zu erwarten.36
***

Nr. 15:
Pädagogische Interpretation von Kants
„P r o l e g o m e n a . . .“
( A l o n s o - S t u n d e ) 37
(1935)

(Ziel der Interpretation der „Prolegomena ...“ ist die Darstellung der Intel-
ligibilität des Seins bei Kant, um so eine Überleitung zu gewinnen zum
phänomenologischen Problem der „Subjektsbezogenheit des Seins“.)

1. Stunde:
Ausgang vom Problem des Apriori. Gliederung des Problems in die zwei Fra-
gen: 1) Gibt es überhaupt eine Erkenntnis „a priori“? 2) Wie ist, wenn es eine
solche gibt, sie überhaupt möglich? Die erste Frage als das zentrale Problem
im Streit des Rationalismus und Empirismus. Rationalistische Metaphysik:
allgemeine Erkenntnis des Seienden überhaupt aus reiner (apriorischer) Ver-
nunft. Traditioneller Aufriß der rationalistischen Metaphysik: I) metaphysica
generalis, II) metaphysica specialis, (1) rationale Kosmologie, 2) rationale
Psychologie, 3) rationale Theologie). Dieser Aufriß umspannt so das Ganze
des Seienden: 1) Natur; 2) Seele; 3) Gott; antik: 1) Physis; 2) Psyché;
3) Theion; bei Descartes: 1) res extensa; 2) res cogitans; 3) deus.
Die vor-kantische Metaphysik für Kant „dogmatisch“. 1) Weil sie im
naiven (ungeprüften) Vollzug der metaphysischen Erkenntnisse, im unkriti-
schen Vertrauen in die Gültigkeit des Apriori verfuhr; 2) weil sie glaubte,
aus reiner Vernunft das Wesen der Dinge an sich erkennen zu können. Kant
fordert Neubegründung der Metaphysik durch Kritik der reinen, d. i. apriori
erkennenden Vernunft. Der „Dogmatismus“ der vorkantischen Metaphysik
ist – nach Kant – das Unterlassen der Frage nach der Möglichkeit der
metaphysischen (apriorischen) Erkenntnis. Folge dieser Unterlassung ist
unkritischer und unzulässiger Gebrauch apriorischer Erkenntnisse (z. B. in

36 Dieser Satz fehlt im veröffentlichten Text. Stattdessen wird dort am Ende in Klammern
hinzugefügt „Für das Lexikon dargestellt von E. Husserl.“, was nicht ganz mit Finks
Anmerkung am Anfang der maschinengeschriebenen Fassung – hier in M-III – übereinstimmt.
37 In Finks Bibliothek findet sich ein Exemplar von Miguel Unamunos Das tragische

Lebensgefühl, übersetzt von Robert Friese, München 1925, mit der Widmung: „Herrn Dr. Fink
In Dankbarkeit, Mercedes M. Alonso. Freiburg i. B., Juni 1935“.

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der rationalen Psychologie und Theologie), eine falsche Ausweitung ihrer
Anwendung über den Bereich ihres sinnvollen Gebrauchs hinaus, und dann
vor allem die Meinung einer metaphysischen Erkenntnis der Dinge an sich.
Die den „Dogmatismus“ überwindende Fragestellung nach der Möglichkeit
der metaphysischen Erkenntnis muß also einmal den rechten Gebrauch
apriorischer Erkenntnisse aufzeigen (d. h. den Bereich ihrer sinnvollen
Anwendung) und dann dasjenige, worauf die metaphysische Erkenntnis geht,
d. i. den Seinscharakter des in der Metaphysik in seinem Wesen aus reiner
Vernunft erkannten Seienden klarlegen.
(Vgl. die These: die „Kritik der reinen Vernunft“ ist die erstmalige
Herausstellung des kosmologischen Horizontes des Seins des Seienden.
„Erscheinung“ = das Seiende, zu dessen Wesen „Subjektsbezogenheit“
gehört, und das prinzipiell in der Welt, also binnenweltlich ist.)
Die Frage nach der „Möglichkeit der Metaphysik“ noch dunkel. Die
innere Struktur der Kantischen „Möglichkeits“-Frage schwer zu durch-
schauen. Die Antwort auf diese Frage soll sein einmal die Grundlegung
der Metaphysik und dann zugleich die methodische Selbstbegründung.
Die Metaphysik wird also als eine „Wissenschaft“ angesehen, die in ihrer
„Grundlegung“ zugleich „methodische Selbstbegründung“ und umgekehrt
erst in ihrer methodischen Selbstbegründung wirklich wird. Bei den ande-
ren Wissenschaften haben wir das bekannte Schema: 1) Phase als naiver,
methodisch unklarer Vollzug des einem Gebiet des Seienden zugewandten
Erkennens (z. B. Botanik), und 2) Phase als überholend nachkommende
Methodenbesinnung. Warum ist dies anders bei der Metaphysik? 1) Weil
sie keine Wissenschaft neben den anderen ist, 2) weil sie alle anderen
Wissenschaften begründet und ihre Methoden erhellt, sie selbst aber durch
keine andere Wissenschaft begründet und methodisch erhellt werden kann,
3) weil sie überhaupt kein vorgegebenes thematisches Gebiet vorfindet.
(Vgl. die These: die Philosophie greift keine vor ihr bestehende Frage
auf, ist nie ein Antworten auf bestehende Ausstände des Wissens, sondern
erzeugt allererst ihr eigenes Problem.)
[Vordeutend in der Interpretation sei gesagt: Kants Frage nach der
Möglichkeit der Metaphysik läßt sich verstehen als die Verklammerung der
beiden Fragen nach der reflexiv-kritisch zu analysierenden metaphysischen
Erkenntnis und nach dem Sein als solchem. Die scheinbare Zurückwendung
von den Gegenständen der Metaphysik in der „Möglichkeitsfrage“ als
Frage nach der metaphysischen Erkenntnis ist gerade die Frage nach dem
Sein. Damit ist das Problem der Möglichkeit der Metaphysik zunächst das
Problem der Intelligibilität des Seins des Seienden, d. h. des inneren Zusam-
menhangs von „existentia“ der Dinge mit dem Wesen der Subjektivität:
der Vernunft. (Sein und Vernunft; Vernunft = das Wesen des Menschen.
Vgl. Heideggers Gegenthese: Sein und Zeit; Zeitlichkeit das Wesen des

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Menschen. Kant und Heidegger aber fragen gemeinsam nach dem Sein in
der Frage nach dem Wesen des Subjekts; beiden gemeinsam ist der „onto-
logische Idealismus“, besser ontologischer Subjektivismus (nicht ontischer
Subjektivismus!!) genannt. Die Frage nach dem „Sein“ (des Seienden) vom
„Seinsverständnis“ aus!!)]
Die Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik nennt Kant die „trans-
zendentale Fragestellung“. Warum? Ist „Transzendentalphilosophie“ nicht
gleich Metaphysik? Für Kant ist die Beantwortung der Frage nach der
Möglichkeit der Metaphysik, also die Grundlegung der Metaphysik durch die
Kritik der reinen Vernunft, Aufgabe und Geschäft der „Transzendentalphilo-
sophie“.
Anknüpfung an den Begriff der Universalien oder Transzendentalien:
ens, unum, verum, bonum. Diese Bestimmungen kommen jeder Substanz,
jedem Ding ‹zu›; sie sind die höchsten Allgemeinheiten. Aber verschieden
von Allgemeinheiten des Wasseins, der Essenzen. Alle Washeiten der Dinge
in einem System regionaler Wesen. Das ens ist keine höchste Allgemeinheit
im Sinne eines Wesensbezirkes, einer Region. (Vgl. Aristoteles’ apagogi-
schen Beweis für die Nicht-Gattungsmäßigkeit des Begriffs „Seiendes“;
ferner Husserls Unterscheidung von Generalisierung und Formalisierung.)
Daß ens, unum „universale“ Bestimmungen der Dinge sind, ist leichter
faßlich als die Einsicht, daß auch bonum und verum Transzendentalien
sind. Die Problematik von ens und unum seit der Antike zentrales Thema
der Metaphysik (Vgl. Pythagoras, Plato („Parmenides“), Parmenides; dann
Leibniz („Monade“) usw.). Das bonum als Bestimmung, die jedem Seienden,
wie und was immer es ist (ob es gut oder schlecht im gewöhnlichen Sinne ist),
zukommt, wird verständlich durch die antike Lebenshaltung: das Sein, das
Existieren ist als solches ein Gut; vgl. die antike Metaphysik, die im Wesen
des Seins das Gute entdeckt; die Idee des Guten als Idee der Ideen! (Vgl.
Nietzsches Interpretation des antiken Daseins: die Erfahrung des Nichts, der
Flüchtigkeit des Seienden, die ganze orphische Erfahrung als Hintergrund
der Seinsbejahung.) In der christlichen Metaphysik ist jedes Seiende ein
bonum als ein creatum a deo. Vom bonum ist es schon schwer zu zeigen,
wie es eine universale Bestimmung des Seienden als Seienden ist; noch
schwieriger aber ist es beim verum. Denn wie soll das „Wahrsein“ eine
Bestimmung jedes Seienden, sofern es Seiendes ist, sein? Ist nicht Wahrsein
ein zufälliges, außerwesentliches Schicksal, das gelegentlich einem Seienden
widerfährt? Das verum als Universale meint gar nicht das mehr oder minder
zufällige Erkanntsein eines Seienden von einem Erkennenden, sondern eine
universale, d. h. jedes Seiende, ob es faktisch in einem Erkenntnisbezug
steht oder nicht, charakterisierende Bestimmung; vgl. den scholastischen
Satz „ens et verum convertuntur“. Im Begriff des verum als Universale
verbirgt sich das Problem einer im Wesen des Seienden liegenden Subjekts-

M-III Grammata 783

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bezogenheit, die vor aller faktischen (empirischen) Subjektsbezogenheit in
konkreten Erkenntnisakten liegt. Das Problem des Zusammenhangs von Sein
und Subjektsbezogenheit des Seienden überhaupt, m. a. W. das Problem des
verum als eines Universalen, läßt sich als Angelpunkt der ganzen Kantischen
Neubegründung der Metaphysik darstellen. (Es ist dies das Problem der
Intelligibilität des Seins. Das Seiende als verum ist das „Seiende im Umkreis
der Endlichkeit“ (Heidegger), ist das Seiende als Erscheinung, d. i. als
binnenweltlich-Seiendes. Ousía u. Psyché!)
Die „transzendentale“ Frage ist, als Frage nach der Möglichkeit der
Metaphysik, eine Forschung im Bereich der Transzendentalien, d. i. Frage
nach dem Sein, sofern es noch nicht in die Bezirke der Washeiten zerfällt;
ist Frage nach dem Sein nicht als essentia, sondern als existentia. D. h. die
transzendentale Frage ist die metaphysica generalis unter der Führung des
Problems des inneren Zusammenhangs von ens und verum.

2. Stunde:
Der Begriff der Metaphysik, den Kant vorfindet: Erkenntnis des Seienden
in seinem Wesen aus reiner Vernunft. Ihr „Dogmatismus“ besteht im naiven
Gebrauch der apriorischen Erkenntnis. Die Grundlegung der Metaphysik
fordert eine Erkenntnistheorie der metaphysischen Erkenntnis als Ermög-
lichung der Metaphysik. Ist darum Kant „Erkenntnistheoretiker?“ Nein,
denn die Frage nach den Quellen, der Art, dem Umfange, dem Inhalt
und den Grenzen der metaphysischen Erkenntnis ist nichts anderes als
die Untersuchung des Zusammenhanges von ens und verum. Vgl. die
Formel: die Frage nach dem Sein (ens) ist gerade notwendig eine solche
nach der metaphysischen Erkenntnis (verum). Hinsichtlich des Seins gilt
nicht das Schema, das wir beim Seienden vorfinden: einmal thematische
Geradehin-Einstellung auf die Gegenstände; dann reflexive Einstellung auf
die Erkenntnis der Gegenstände. M. a. W. Sein und Seinserkenntnis verhalten
sich nicht zueinander wie Seiendes (Gegenstand) und Erkenntnis des Seien-
den. (Dies das Problem der Intelligibilität des Seins; Kant „ontologischer,
aber nicht ontischer Idealist“!)
Die Kantinterpretationen bewegen sich um den Gegensatz „Kant als
Erkenntnistheoretiker“ und „Kant als Metaphysiker“. Damit überkreuzt sich
ein Gegensatz, der einmal das Schwergewicht der Kantischen Philosophie
in die Kritik (Zermalmung) der vor-kritischen Metaphysik, also in Kants
sog. „Theoretische Philosophie“, dann andererseits in seine „praktische
Philosophie“ (in seine Lehre von der „intelligiblen Welt“) verlegt.
Die Kantinterpretation des Neukantianismus stellt die Kantische „Tran-
szendentalphilosophie“ dar als eine „Theorie der Erfahrung“; d. h. als Lehre
von den subjektiv-apriorischen Funktionen der Vernunft, die Erfahrung erst
möglich machen. Diese neukantische Kantauslegung unterscheidet sich von

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der vor-„kritischen“ Metaphysik, die ja auch schon von der Ermöglichung
der Erkenntnis des Seienden durch die Erkenntnis apriori in der Ansetzung
des Verhältnisses von verités des faits zu den verités de raison ausging,
durch den betonten Funktionalismus des subjektiv verstandenen Apriori.
Die Subjektivität des Apriori kam in der neu-kantischen Auslegung nicht
über einen Modus des ontischen Subjektivismus hinaus. [Die ständig im
Wandel begriffene Vernunft (Index für diesen Wandel ist die Geschichte
der exakten Wissenschaften) vollzieht in den produktiven Funktionen des
reinen Denkens in einem apriorischen Vorgriff immer neue Typenbildungen
möglicher Gegenständlichkeit. Vgl. Cohen, Cassirer.]
Heideggers Kantinterpretation arbeitet Kants Fragestellung schärfer
aus: nicht um die Ermöglichung der Erfahrung ginge es Kant, sondern um die
Ermöglichung der Ermöglichung der Erfahrung, d. h. um die Ermöglichung
des Apriori. (Bei Heidegger kommt die eigentümliche Struktur der „Mög-
lichkeitsfrage“ als Einheit von Frage nach der metaphysischen Erkenntnis
und Frage nach dem Sein, also das Problem der Intelligibilität des Seins
deutlich zur Abhebung. Die Grenze der Heideggerischen Kant-auslegung
liegt darin, daß das Problem des „Seinsidealismus“ (Kants „transzendentaler
Idealismus“) nicht bis zur Grundlegung der Kosmologie weitergetrieben
wird. (Heideggers Interpretation bezieht sich thematisch nur auf die „Kritik
der reinen Vernunft“ und dort nur auf die „Transzendentale Ästhetik“ und
„Analytik“, nicht also auf die „Dialektik“.))
Der Begriff der Vernunft bei Kant einmal das Ganze der apriorischen
Erkenntnis (dreiteiliges Schema: 1) reine Anschauung, 2) reiner Verstand,
3) reine Vernunft), dann das Ganze der reinen noetischen Erkenntnisse
– im Gegensatz zur reinen Sinnlichkeit (zweiteiliges Schema: Verstand
– Vernunft). Dann noch der Begriff der Vernunft im engeren Sinne als
Vermögen der „Ideen“. Problem der anthropologischen Theorie, die dem
Ansatz Kants zugrunde liegt!
(Tieferes Problem: begreift die Vernunft in gewisser Weise reinen
Verstand und reine Sinnlichkeit in sich ein, so wie das in ihr, d. h. in den
Vernunftideen „Vorgestellte“: die Welt, die Wesenheiten als Kategorien und
als Raum- und Zeitwesenheiten, wie das in deren Horizonte begegnende
Seiende „einbegreift“. Vgl. die These: Das Wesen der reinen Vernunft
ist „Weltbewußtsein!“)

3. Stunde:
Thema der 3. Stunde ist die Auslegung des „Vorworts“. Das Vorwort läßt sich
in zwei Teile zerlegen: I. Teil, der den methodischen Charakter der Frage nach
der Möglichkeit der Metaphysik vorbereitend-vorläufig auslegt; der II. Teil,
der an Hand der im I. Teil gewonnenen Unterscheidung von zwei Weisen der

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Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik die historische und sachliche
Motivation Kants für die Kritik der reinen Vernunft auslegt.
Der I. Teil beginnt mit einer vorläufigen, nicht in die Tiefe dringenden,
bewußt zurückhaltenden Charakteristik der wissenschaftlichen Unzuläng-
lichkeit der bisherigen Metaphysik. Wichtig ist diese Charakteristik, weil
sie durch die so abgehobene Unwissenschaftlichkeit den Kant zunächst
leitenden Begriff von Wissenschaftlichkeit mit deutlich macht. Die bisherige
Metaphysik ist in ihrer Wissenschaftlichkeit fragwürdig, 1) weil sie zu keinen
dauernden Resultaten gekommen ist (kein „dauernder Beifall“); 2) weil sie
keine Fortschritte machte; 3) weil sie kein Kriterium wissenschaftlicher
Dignität habe.
– Motiv im vorläufigen Sinne für die Wiederholung der Gründung der
Metaphysik nennt Kant die „Baulust“ der Vernunft. Damit ist ein existenzi-
elles Problem des Philosophierens angerührt, das Kant hier zwar positiv faßt,
das aber ebenso wie eine Verwegenheit des Geistes auch eine große Gefahr
des Geistes bedeutet: die dem Philosophierenden verhängnisvoll werden
könnende Lust des Bauens von Gedankenwelten.
Die Frage nach der Möglichkeit von etwas kann einmal eine skeptische
sein. Hier: Gibt es Metaphysik? Auf eine skeptische Frage gibt es nur beja-
hende oder verneinende Antworten. Kant legt an die überlieferte Metaphysik
die skeptische Frage an, nicht um eine bejahende Antwort im Hinweis
auf die bestehende metaphysische Tradition zu erhalten, aber auch nicht,
um in einer bloßen Verneinung des Anspruches der tradierten Metaphysik
zu verharren; vielmehr wird ihm die skeptische Frage zum Durchgang zu
einer grundsätzlicheren Frage. In der skeptischen Fragestellung schafft
sich Kant erst einmal die Distanz zur überlieferten Idee der Metaphysik,
um das Problem der Metaphysik radikaler zu fassen, sozusagen jenseits
der Entscheidung, ob die historisch vorliegende, faktische „Metaphysik“
ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit genügt oder nicht. Die skeptische
Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik (Gibt es Metaphysik?) wird
zum Durchgang zur Frage, wie es Metaphysik überhaupt geben kann. Eine
Entscheidung der skeptischen Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik
wird notwendig naiv sein (sei sie nun bejahend oder verneinend), wenn
sie nicht als Maßstab der Entscheidung die Einsicht in die Bedingungen
der Möglichkeit der Metaphysik hat. Das skeptische Problem verwandelt
sich somit in das Problem der Aufhellung der Bedingungen der Existenz
der Metaphysik; die Frage nach der „Möglichkeit“ wird aus einer Frage
nach der möglichen Existenz eine solche nach der Ermöglichung. Die Frage
nach der Möglichkeit der Metaphysik als solche nach der Ermöglichung
ist das Problem der Grundlegung der Metaphysik; und sie ist, sofern sich
diese Grundlegung im Zusammenhang von ens und verum bewegt, die
„transzendentale“ Fragestellung.

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Der II. Teil des „Vorwortes“ charakterisiert die Stellung der „Prolego-
mena ...“ zur „Kritik der reinen Vernunft“. Zunächst wird das Problem der
„Kritik der reinen Vernunft“ bestimmt als das der „transzendentalen“ Frage
nach der Möglichkeit der Metaphysik. Die Selbstinterpretation der Motiva-
tion der Kantischen Frage durch Humes Angriff auf die Metaphysik ist jetzt
eine Illustration des im I. Teil gewonnenen Unterschieds einer skeptischen
und einer transzendentalen Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik:
Hume frägt skeptisch, Kant transzendental! Aber die Skepsis eine notwen-
dige Vorbereitung der transzendentalen Frage!! (Vgl. die „phänomenologi-
sche Epoché“ als Voraussetzung der konstitutiven Fragestellung!)
Der Unterschied von Humes und Kants Weise des Fragens ist nicht
sosehr ein solcher der partikulären Skepsis (eben an dem Vernunftursprung
der Kausalität) gegenüber der Vollständigkeit der Untersuchung aller Ver-
nunftbegriffe (wie es Kant hier zunächst darstellt), sondern ist hauptsächlich
ein Unterschied der Weise des Fragens. Weil Kant nach der Ermöglichung
der Metaphysik frägt, muß er konsequent die Vollständigkeit aller reinen
Vernunftbegriffe intendieren. Der Unterschied der allgemeinen und parti-
kulären Frage (Kant-Hume) deriviert aus der prinzipiellen Divergenz der
Fragemethoden. –
Kants Idee der Vollständigkeit der reinen Verstandesbegriffe als Idee
der Vollzähligkeit. Vollständigkeit als Vollzähligkeit ist die immanente Vor-
aussetzung für die Idee des Leitfadens (als durchzählbarer „Tafel“).
Die Frage nach der Ermöglichung der Metaphysik stellt die Aufgaben:
1) Thematisierung der ganzen reinen Vernunft, d. h. aller reinen Verstan-
desbegriffe; 2) die Erhellung der Möglichkeit ihrer Funktionen. Anders
gewendet: 1) Vollständige (vollzählige) Bemächtigung und Vergegenständ-
lichung des Apriori; 2) „Transzendentale“ Erörterung der Möglichkeit des
Apriori. Das Erste leistet in der „Kritik der reinen Vernunft“ die „Analytik der
Begriffe“; das Zweite die „Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“. (Vgl.
dasselbe Verhältnis in der „Transzendentalen Ästhetik“: 1) „Metaphysische
Erörterung“, 2) „Transzendentale Erörterung“). Die „Deduktion …“ als das
Zentrum der „Kritik der reinen Vernunft“ charakterisiert. (Die „Deduktion
…“ als kosmologische Fundamentalbesinnung!!!)
Da die „Deduktion …“ die Erörterung der Möglichkeit metaphysischer
Erkenntnisse ist, ist so für die Problemstellung der „Prolegomena ...“ das
Problem der „Kritik der reinen Vernunft“ gewissermaßen in einer konzen-
trierten Formel herausgehoben. –
Kants Polemik gegen den gemeinen Verstand, der der Schwierigkeit der
Transzendentalphilosophie nicht gewachsen ist, zeigt prinzipielle Ansätze
zu einer Philosophie der Philosophie. Das Wesen des gemeinen Verstan-
des ist „Benommenheit vom Seienden“, in Kants Sprache: Vollzug von
Erfahrungsurteilen. Die philosophische Erkenntniseinstellung, der „speku-

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.
lative Verstand“, ist einmal Erkenntnis des Apriori als der Voraussetzung
der Erfahrung (Metaphysik im vor-kantischen Sinne) und dann vor allem
Erkenntnis der Ermöglichung des Apriori. Wichtig ist, daß bei Kant die Dif-
ferenz von gemeinem und spekulativem Verstand innerhalb des Menschen
verbleibt, während ‹sie› dann im Deutschen Idealismus radikalisiert wird
zum Gegensatz des endlichen und unendlichen Erkennens (vgl. den Begriff
der „intellektuellen Anschauung“, des „absoluten Wissens“ usw.). –
Die „Prolegomena ...“ als Vorübungen zur „Kritik der reinen Vernunft“,
die selbst Vorbereitung der eigentlichen Metaphysik ist, also Vorübungen zur
Vorbereitung der Metaphysik. „Vorübungen“ = ausdrückliche Exposition des
Problems. Die „Prolegomena ...“ sind die „Problemtheorie“ der „Kritik der
reinen Vernunft“.
In der Philosophie ist die Exposition des Problems der eigentliche
schöpferische Akt des Denkens, sofern in der philosophischen Frage nicht
auf einen vorfindlichen Wissensausstand abgezielt wird, nicht die Schlie-
ßung einer Lücke im Wissensbesitz erstrebt wird, sondern die produktive
Überfragung alles vorgegebenen Wissens samt allen vorgegebenen Wissens-
ausständen. Der Problementwurf vollzieht sich zumeist inexplizit, als sich
im Fortgang eines Werkes immer mehr abklärende Grundidee, bleibt oft von
der Fülle der konkret aus ihm erwachsenen Fragestellungen verdeckt. Die
Problemtheorie als die ausdrückliche Exposition des Problems kann eine
vorgängige sein (allerdings in seltenen Fällen; vgl. z. B. Hegels „Vorrede“
zur „Phänomenologie des Geistes“); als systematische Problemtheorie wird
sie zumeist nachgängig sein, d. h. die dem Werk nachfolgende methodi-
sche Problemerzeugung. Die „Prolegomena ...“ also als die nachgängige
Problemtheorie der „Kritik der reinen Vernunft“. Kant nennt deswegen das
Verfahren der „Prolegomena ...“ analytisch.

4. Stunde:
Die skeptische Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik hat zu ihrer
Verwandlung in die transzendentale Frage als Motiv die Einsicht in den
synthetischen Charakter der mathematischen Erkenntnisse. Humes Skep-
sis beruht allein auf dem Vorurteil, daß die mathematischen Erkenntnisse
analytisch seien. Hätte er ihre prinzipielle Gleichartigkeit mit den präten-
dierten Erkenntnissen der Metaphysik eingesehen, so hätte ‹er› entweder
die Mathematik in seine Skepsis einbeziehen müssen oder aber nach dem
Rechtsgrunde aller Erkenntnisse aus reiner Vernunft suchen müssen. Die
transzendentale Frage ist für Kant also motiviert im faktischen Bestehen der
Wissenschaftlichkeit eines Teiles der reinen Vernunfterkenntnisse (Mathe-
matik). Die Grundlegung der Metaphysik – in der transzendentalen Frage
nach der Ermöglichung der reinen Vernunfterkenntnisse – schließt also ein
die transzendentale Frage nach der Möglichkeit der Mathematik und der

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reinen Naturlehre. So gliedert sich die „transzendentale Hauptfrage“, wie
ein Überblick über das Inhaltsverzeichnis zeigt, in die drei Fragen nach
der Möglichkeit (als Ermöglichung verstanden) der reinen Mathematik, der
reinen Naturwissenschaft, der Metaphysik. Welchen Begriff von Metaphysik
hat hier Kant? Besorgt die Beantwortung der transzendentalen Frage: die
Transzendentalphilosophie, neben der Grundlegung der Metaphysik noch die
Grundlegung der Naturwissenschaft und der Mathematik??
Der Begriff von „Metaphysik“, den Kant der reinen Mathematik und rei-
nen Naturwissenschaft gegenüberstellt, bedeutet die „metaphysica specialis“
(Rationale Psychologie, Rationale Kosmologie, Rationale Theologie). Die
„metaphysica generalis“ ist bei Kant nicht mehr die Frage nach dem Sein
schlechthin (ens), sondern die Frage nach dem Sein in seiner Intelligibilität
(ens qua verum; ὄν ὡς ἀληθές, Sein als „Erscheinung“; darin liegt die
„kosmologische Relevanz der Seinsidee“). Die „metaphysica generalis“ ist
die „Transzendental-philosophie“ selbst. Die Fragen nach der Möglichkeit
der reinen Mathematik und reinen Naturwissenschaft sind nicht Aufgaben
außerhalb der Grundlegung der Metaphysik, sind auch keine metaphysischen
Fundamentierungen faktischer Wissenschaften, sondern echte Gliederungen
der „transzendentalen Frage“ nach dem Zusammenhang von ens und
verum. Deutlich wird dies, wenn wir die Artikulation der „transzendentalen
Hauptfrage“ in den „Prolegomena ...“ übersetzen in die Artikulation der
„Kritik der reinen Vernunft“: 1) „Wie ist reine Mathematik möglich?“ =
„Transzendentale Ästhetik“; 2) Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? =
„Transzendentale Analytik“; 3) Wie ist Metaphysik überhaupt möglich? =
„Transzendentale Dialektik“.
*
Zu § 1.38
Kants Ansatz bei der traditionellen Idee der Metaphysik ‹wird› hier deutlich:
Metaphysik = Erkenntnis des Seienden aus reiner Vernunft! Also „Rationa-
lismus“, dessen zentrales Problem die apriorische Erkenntnis ist. Kant
springt von der rationalistischen Konzeption der Metaphysik ab, indem er
diese Idee verwandelt durch die „transzendentale“ Frage nach der Möglich-
keit des Apriori. (D. h. Kant verwandelt die rationalistische Metaphysik als
die Seinsinterpretation vom Apriori her (die in der Platonischen Entdeckung
des Wesens ihren Ursprung hat) in die kosmologische Metaphysik, sofern die
Frage nach der Ermöglichung des Apriori die Welthaftigkeit des Seins frei-
legt.)

38D. h. zum ersten Paragraphen in Kants „Prolegomena“; „zu § 2“ verweist folglich auf den
zweiten Paragraphen.

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Von größter Wichtigkeit ist aber, daß Kant bei aller Verwandlung der
Idee der Metaphysik festhält als „Quelle“ der metaphysischen Erkenntnis
allein die reine d. i. apriorische Vernunft.

Zu § 2.
Thema ist die „metaphysische Erkenntnisart“. Was bedeutet hier „Art“
der Erkenntnis? Nicht wie im heutigen Sprachgebrauch eine „Klasse“ von
Erkenntnissen, sondern die Weise des Erkenntnisganges, sofern er sich in der
urteilsmäßigen Fassung im Verhältnis des Satzsubjektes zum Satzprädikat
ausdrückt. „Arten“ der Erkenntnis resp. Urteile sind analytische oder erläu-
ternde und synthetische oder erweiternde Weisen des Erkenntnisganges. Kant
nennt den Unterschied des Analytischen und Synthetischen einen solchen des
„Inhaltes“ einer Erkenntnis. Der Begriff des Inhalts hier sehr unklar.

Nr. 16:
Vorwort
[Zu dem Buch von Zagorka Mičič:
Fenomenologija Edmunda Husserla,
B e o g r a d 1 9 3 7 ] 39
Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls hat in ihrem Verhält-
nis zur zeitgenössischen philosophischen Öffentlichkeit das Schicksal erfah-
ren, das aus wesentlichen Gründen für jede originale Philosophie typisch
ist: ein schnelles Wirksamwerden der Gedanken, die vorläufig-vorbereitend
den noch unentfalteten Ansatz des neuen Problems bestimmen, und ein
Verdecktbleiben der zentralen Intention.
Dieses Mißverständnis ist in einem gewissen Sinne unvermeidlich und
gründet in der eigentümlichen Geschichtlichkeit ursprünglich-aufbrechender
philosophischer Probleme. Solche Probleme sind nicht vorgegeben als die
zum Schulbegriff der Philosophie gehörenden traditionellen Fragestellun-
gen, sie erwachsen erst in der denkerischen Leidenschaft einer ursprünglich
staunenden Auseinandersetzung des Menschen mit dem Seienden. Solche
Probleme sind also auch nicht mit den zunächst verfügbaren Begriffen
formulierbare Wissensausstände, sondern steigen auf aus einer tiefen Ver-
wunderung über das Selbstverständlichste und scheinbar Gewisseste.
Für den originalen Denker selbst ist die Richtung, der Weg und das Ziel
seines fragenden Forschens keineswegs schon im voraus erhellt; er stößt

39 Als Studentin (u. a.) in Freiburg bei Husserl (vgl. HChr, S. 457) wurde Zagorka Mičič

(1903–1982) mit ihrer Dissertation Fenomenologija Edmunda Husserla (Die Phänomenologie


Edmund Husserls), Beograd 1937 promoviert.

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gleichsam ab vom Lande, wo Wege und Ziele im voraus bekannt sind; er
übergibt sich der Gewalt seiner fortdrängenden und dabei sich immer mehr
entfaltenden Problematik. Erst wenn diese Problematik in ihre Endgestalt
gekommen ist, verfügt er über einen Selbstbegriff und ein Selbstverständnis.
Das reproduktive Verständnis der Zeitgenossen verkehrt zumeist die
teleologische Sinnrichtung in der Entwicklung einer originalen Philosophie
in das Gegenteil: in eine motiv-kausale Bedingtheit der ganzen Entwicklung
durch die Ausgangspositionen.
So ist es möglich geworden, die phänomenologische Philosophie
Edmund Husserls – in krassem Mißverständnis ihrer eigentlichen Intention
– festzulegen auf eine Reihe traditioneller Begriffe wie „Lehre von der
idealen Objektivität der logischen Gebilde“, „Deskriptiver Intuitionismus“,
„Realistische Wende zum Objekt“, „Lehre von der Wesensschau und den
idealen Wesenheiten“ oder auch „intentionale Psychologie“, „kantianisieren-
der Transzendentalismus“ und dergleichen. Diese „Etiketten“ haben es zum
größten Teil verhindert, daß die innere Einheit der Phänomenologie als
die Einheit eines neuen Problems sichtbar wurde, daß die breite Wirkung
Husserls auf die Zeitgenossen auf ein tieferes und zureichendes Verständnis
seiner Lehre zurückging. Stattdessen wurde die geistige Kraft der Phänome-
nologie zunächst in Modis der Gebrochenheit und Entstelltheit wirksam,
auch darin noch für die ursprüngliche Lebenskraft zeugend. Die Festlegung
der Phänomenologie auf ein traditionell vertrautes Schema philosophischer
Fragen ineins mit der Aneignung ihres Stils analytischer Aufweisung wurde
zum Motiv der Absplitterung „phänomenologischer Richtungen“. Die Äqui-
vokation der sogenannten „phänomenologischen Bewegung“ ist allmählich
manifest geworden.
Die Phänomenologie Edmund Husserls befindet sich in der Gegenwart
in dem entscheidenden Stadium der „zweiten Wirksamkeit“, der Auswirkung
ihres integralen Sinngehalts. Die von den mißverständlich aufgefaßten
Ausgangpositionen des phänomenologischen Fragens bestimmten „Interpre-
tationen“ sind inzwischen durch die letzten Werke Husserls („Formale
und Transzendentale Logik“, „Méditations Cartésiennes“, „Die Krisis der
europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“)
endgültig beseitigt worden. Die Phänomenologie hat sich in den genannten
Werken zum reflexiven Selbstverständnis erhoben.
Das Fundamentalproblem der phänomenologischen Philosophie ist die
durch eine Radikalisierung der Selbstbesinnung eröffnete Thematik der
letztlich-fungierenden Subjektivität als des absoluten Seinsgrundes für alles
Seiende. Mit dieser Thematik überschreitet die Phänomenologie bewußt
und ausdrücklich den Universalhorizont alles bisherigen philosophischen
Fragens, übersteigt die traditionale Idee des Wissens und der „Wissenschaft“,
gibt aber dieser traditionalen Idee selbst eine Aufklärung und letzte Ver-

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ständlichkeit, wie sie gar nie im Bereich natürlich-reflexiver Verständigung
gelegen hätte. Das Seiende, die Welt, der natürliche Seinshorizont, das
weltliche Wissen, die weltlichen Wissenschaften – das alles wird überstiegen
auf einen absoluten Boden hin und von ihm aus letztlich aufgeklärt.
In diesem Überstieg bildet sich allererst das eigentliche Problem der
Phänomenologie. Die Exposition dieses Problems ist die „Phänomenolo-
gische Reduktion“, seine Durchführung die „Lehre von der transzendenta-
len Konstitution“.
Die phänomenologische „Methode“ ist nicht eine vom phänomenologi-
schen Fundamentalproblem ablösbare theoretische Attitude (etwa die der
„Deskription“), sondern die zur Lehre von Reduktion und Konstitution
radikalisierte Intentionalanalytik.
Jede Charakteristik der phänomenologischen Philosophie (in der Form
eines Berichts über sie) kann nur dann den Gegenstand, von dem sie handelt,
treffen, wenn sie mitfragend miteingeht in den Entwurf des Grundproblems.
Ohne Eigenvollzug der Reduktion kann über Reduktion nicht sinnvoll
gesprochen werden. Jede Darstellung der Phänomenologie wird so zu einem
Ringen des Autors, in die Bewegtheit des Grundproblems hineinzukommen.
Die Darstellung von Zagorka Mičič zeichnet sich aus durch den ent-
schiedenen Versuch, die Phänomenologie von ihrer zentralen Problematik
her zu charakterisieren. Durch ein langes und intensives Studium unter der
persönlichen Anleitung von Professor Husserl hat sie sich eine ungewöhn-
liche Vertrautheit mit den phänomenologischen Gedanken und dazu die
Fähigkeit selbständigen phänomenologischen Denkens erworben. Möge die
Schrift, die zu ihrem Gegenstande eine Philosophie der radikalen Selbstbe-
sinnung hat, im geistigen Raume der jugoslawischen Nation ein Interesse
finden, das zur Auseinandersetzung und geistigen Begegnung führt.
Freiburg, im Mai 1937
Eugen Fink.

No. 17:
Kritische Anmerkungen zur
„wissenschaftlichen Philosophie“ des
modernen „Physikalismus“.
(In der Abhandlung40 „Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die
Psychologie“ von E. Husserl, wird der wichtige Begriff des Objektivismus
zweifach exponiert: einmal als eine vorwissenschaftliches wie wissenschaft-

40 „Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die Psychologie“ von E. Husserl. Anm. von
Finks Hand.

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.
liches Leben durchherrschende Einstellung auf die identischen Gegenstände,
das Verschossensein auf die Einheitspole und Blindsein gegen die Mannig-
faltigkeiten des subjektiv-leistenden Lebens, und dann ein Grundhabitus der
traditionellen Philosophie und Wissenschaft: ein Abzielen auf das „Seiende
an sich“ als Korrelat der ἐπιστήμη. Dieser „Objektivismus“ der neuzeitlichen
Idee der Wissenschaft erwies sich als eine Verwandlung der antiken Tradi-
tion, wobei vor allem der neuzeitlichen Mathematik und mathematischen
Physik die methodologisch führende Rolle zukommt. So wurde denn auch in
der Abhandlung die objektivistische Wissenschaftsidee als „Physikalismus“
bezeichnet. Der „Physikalismus“ dieses Sinnes aber ist verschieden von dem
kontemporären „Physikalismus“. Eine Abgrenzung ist vielleicht nützlich.
Der fast die ganze Neuzeit durchherrschende „Physikalismus“ (der große
Widerpart der zum Selbstbewußtsein drängenden „Transzendentalphiloso-
phie“) ist nicht bloß eine wissenschaftstheoretische Idee, sondern vor allem
eine Metaphysik, d. h. eine ontologische Interpretation des Seienden. Die
wissenschaftliche Erkenntnis ist der Zugang zum Seienden an sich. Sein
an sich und Wissenschaft sind Korrelate. Die Welt als ‹das› Seiende im
Ganzen ist ein an sich objektiv und eindeutig bestimmtes Universum, dem
ein Universum von wahren Aussagen, von „Wahrheiten an sich“ entspricht.
Mathematik, Physik, Logik und dergleichen sind keine Instrumente für
die menschliche Bemächtigung der Wirklichkeit, sondern haben ontologi-
sche Bedeutung.
Der kontemporäre „Physikalismus“ („Wiener Kreis“ – Carnap-Gruppe –
der amerikanische „logisierende Empirismus“ usw.) ist von jenem metaphy-
sischen Physikalismus der objektivistischen Wissenschaftsidee verschieden:
er bekämpft gerade aufs schärfste die beanspruchte ontologische Bedeutung
der Wissenschaft und bekennt sich zu einer instrumentalen Auffassung
der Wissenschaft. Von seinem instrumentalistischen Ansatz her wird die
Vereinigung der scheinbar heterogenen Elemente dieser „wissenschaftlichen
Philosophie“: die Vereinigung von extremer Logistik und schroffstem Empi-
rismus, begreiflich.
Im folgenden sollen einige Ansatzpunkte einer phänomenologischen
Kritik des kontemporären „Physikalismus“ skizziert werden – allerdings
ohne jede Prätention auf Stichhaltigkeit.)

I. Begriff der „Wissenschaft“:


a. antimetaphysische Orientierung des „physikalistischen“ Wissenschaftsbe-
griffs:
Der kontemporäre „Physikalismus“ will „wissenschaftliche Philosophie“
sein. Diese Selbstcharakteristik ist kein Ausdruck für das Streben nach einer
dem Wesen der Philosophie angemessenen Wissenschaftlichkeit, sondern
die Proklamation der naturwissenschaftlichen Methode als der Universalme-

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thode alles wahren Wissens. Sie ist also eine Kampfparole der sich zur
„Philosophie“ erhebenden science gegen die Metaphysik. Der Kampf gegen
die Metaphysik ist so alt wie diese selbst. Und zu den ständigen Requisiten
dieser Polemik gehört vor allem der Popularbegriff der Metaphysik als
einer phantastisch-spekulativen Weltdeutung, als einer unkontrollierbaren
Gedankenmystik, als einer um das „System“ besorgten privaten, allzu priva-
ten Begriffsdichtung und dergleichen. Dieser Popularbegriff aber ist nichts
anderes als der Ausdruck des Unvermögens des „gemeinen Verstandes“,
das alle vertrauten (vorwissenschaftlich wie wissenschaftlich vorgegebenen)
Weisen der Fragwürdigkeit des Seienden überfragende Fragen der Philo-
sophie zu begreifen. Dieses Unvermögen verhindert von vornherein, daß
das Problem der Wissenschaftlichkeit der Philosophie auf das ihr eigene
und eigentümliche Fragen, Antworten und Wissen hin orientiert wird. Was
„Wissenschaft“ und „Wissenschaftlichkeit“ sei, gilt schon als ausgemacht.
Der kontemporäre „Physikalismus“ ist in seiner Polemik gegen die
Metaphysik auf populärem Niveau, weil er sich nicht mit der metaphy-
sischen Philosophie auseinandersetzt, sondern die Auseinandersetzung
umgeht durch eine Ablehnung, die gegenstandslos ist, weil sie ja nicht
ihren Gegenstand, sondern eine Karikatur desselben trifft. Bezeichnend ist,
daß überhaupt der Philosophie eine eigenständige Problematik (außerhalb
der wissenschaftstheoretischen Dimension) bestritten wird, daß sie in ihrer
traditionellen metaphysischen Problematik als „theoretische Superstition“,
als „denaturierte Theologie“ (vgl. Otto Neurath) abgelehnt wird. Eine Aus-
nahme bildet Carnaps Angriff auf die metaphysische Philosophie, indem er
die sachliche Unmöglichkeit der Metaphysik nachzuweisen versucht durch
eine sprachkritische Aufweisung der prinzipiellen „Sinnlosigkeit“ metaphy-
sischer Sätze. (Solche Sätze bedeuten überhaupt nichts.) Der antimetaphy-
sische Affekt des kontemporären „Physikalismus“ ist natürlich mitbedingt
durch zeitgenössische Entartungserscheinungen der Philosophie (Irrationa-
lismus, weltanschauliche Gebundenheit, „Existenzphilosophie“). Sofern der
„Physikalismus“ statt spekulativer Konstruktion kontrollierbare und inter-
subjektiv verifizierbare Forschungsarbeit fordert, an Stelle von erbaulichem
Gerede wissenschaftliche Nachweisung aller aufgestellten Sätze, scheint
er mit den programmatischen Forderungen der Phänomenologie überein-
zustimmen: auch die Phänomenologie postuliert eine „wissenschaftliche
Philosophie“. Aber gerade im Begriff der „wissenschaftlichen Philosophie“
selbst liegt die entscheidende Differenz. Hier ist der wichtigste Ansatzpunkt
einer phänomenologischen Kritik.
Die phänomenologische Problematik der Idee einer „wissenschaftlichen
Philosophie“ kann kurz so skizziert werden: 1) die Philosophie muß „wis-
senschaftlich“ sein nicht nur in dem selbstverständlich formalen Sinn einer
begründenden Ausweisung ihrer „Sätze“, sondern zuvor in der Grundlegung

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ihres Wissens: in der ständigen und unablässigen Selbstbesinnung auf
„Voraussetzungen“, „implizite Horizonte“ alles objektiven Wissens muß
sie zu letzten Erkenntnisgrundlagen, die selbst keine unbefragten Horizonte
mehr haben, zurückgehen; 2) die „Wissenschaftlichkeit“ ihres theoretischen
Vorgehens darf nicht vorher festgelegt sein, sondern muß sich gerade allererst
in diesem Rückgang bilden; 3) der Rückgang zur letzten Erkenntnisgrund-
lage muß ein Wissen und eine Wissenschaft hervorbringen, die alle auf
undurchsichtigen „Voraussetzungen“ naiv basierenden Weisen des Wissens
und der Wissenschaftlichkeit letztlich aufklärt und sie dann geklärt in die
Einheit des universalen Wissens der Philosophie hineinnimmt.
Das bedeutet: die Phänomenologie geht nicht von einer vorgegebenen
Weise des Wissens aus und fordert von der Philosophie, sich nach der
Wissenschaftlichkeit eines vorgegebenen Wissens zu richten, sondern umge-
kehrt, sie macht alle bekannten und vertrauten Weisen des Wissens zum
Problem, indem sie philosophierend nach den Voraussetzungen derselben
frägt. Die positive Wissenschaft ist zunächst kein methodologisches Vorbild,
sondern ein philosophisches Problem.
Der kontemporäre „Physikalismus“ ist dogmatisch, sofern er nicht
nur es unterläßt, die Wissenschaftlichkeit der positiven Naturwissenschaft
zum Problem zu machen, sondern überdies zum methodologischen Vorbild
für Philosophie proklamiert. Sein Begriff einer „wissenschaftlichen Philoso-
phie“ ist – sofern das Epitheton „wissenschaftlich“ gleichbedeutend ist mit
methodisch konform sein mit einer auf ihre „Voraussetzungen“ hin nicht
befragten und geklärten, also nie zum philosophischen Problem gewordenen
positiven Wissenschaft – eine contradictio in adjecto.
Der „Physikalismus“ heutiger Prägung stellt sich also dar als eine
dogmatische Verabsolutierung der Wissens- und Wissenschaftsweise der
Naturwissenschaft, wobei die Polemik gegen die (im Popularbegriff mißver-
standene) Metaphysik diese unkritische Verabsolutierung rechtfertigen und
mit dem Pathos eines Kampfes für die „intellektuelle Redlichkeit“ umge-
ben soll.
Eine phänomenologische Kritik des heutigen „Physikalismus“ müßte
im Ausgang von der prinzipiellen Differenz im beiderseitigen Begriff einer
„wissenschaftlichen Philosophie“ zunächst die Aufklärungsbedürftigkeit der
naturwissenschaftlich-mathematischen Erkenntnisweise positiv nachweisen
durch eine Sinngenealogie der Wissenschaft aus dem vorwissenschaftlichen
Leben, durch eine Phänomenologie der Idealisationen: Aufdeckung des
lebensweltlichen Ursprungs aller naturwissenschaftlichen Konzeptionen und
ihrer Rückbezogenheit; phänomenologische Analysen der Induktion, Beob-
achtung u. dgl.
Daß die Verabsolutierung des „Physikalismus“ falsch ist, kann allein
eine phänomenologische Auslegung der Naturwissenschaft zeigen, die nicht

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methodologische Reflexionen innerhalb des naturwissenschaftlichen Hori-
zontes, sondern die positive Wissenschaft überhaupt zu einem philosophi-
schen Problem macht.

b. die empiristische Interpretation der positiven Wissenschaft:


Der gegenwärtige „Physikalismus“ verabsolutiert die naturwissenschaftlich-
mathematische Methode jedoch nicht derart, daß diese als methodisches
Leitbild auf alle wissenschaftlichen Gebiete übertragen würde, sondern
läßt überhaupt nur als „Wissenschaft“ gelten, was sich auf raum-zeitliche
Tatsachen und „mathematisch“ faßbare Relationen von Tatsachen bezieht.
So wird die übliche Idee einer Zweiteilung der Wissenschaften in Natur- und
Geisteswissenschaften verworfen. (Alle sogenannten Geisteswissenschaften
lassen sich nach der „physikalistischen“ Ansicht „soziologisch“ formulieren,
wobei die „Soziologie“ verstanden wird als eine Wissenschaft, die aus
„durch Protokollsätze zu kontrollierenden Satzmassen über raumzeitliche
Tatsachen“ (vgl. Neurath) besteht.) Die Umformulierung der „Geisteswis-
senschaften“ resp. ihres von aller „Metaphysik und Theologie gereinigten“
Gehalts in die „physikalistisch“ verfahrende Soziologie hebt den Dualismus
der Wissenschaften auf und diese Soziologie wird eine Disziplin innerhalb
der „physikalistischen Einheitswissenschaft“.
Der antimetaphysische Affekt des „Physikalismus“ unterbindet also
nicht nur die philosophische Aufklärung der Idee der positiven Wissenschaft,
sondern führt zur Ausschaltung der ein Eigensein neben der Naturwissen-
schaft beanspruchenden Geisteswissenschaft. Aber selbst in der mathemati-
schen Naturwissenschaft werden „Rudimente“ metaphysischer Gedanken
entdeckt und ausgetrieben. Diese „Austreibung“ hat die Gestalt einer empi-
ristischen Erkenntnistheorie der Naturwissenschaft, welche „Erkenntnis-
theorie“ aber nicht für eine philosophische Fragestellung an die vorgegebene
Naturwissenschaft genommen werden darf. Vielmehr ist sie ein Komplex
von intern-naturwissenschaftlichen Methodenbesinnungen (vor allem derje-
nigen, die sich gegen die „klassische Physik“ richten) und empiristischen
Interpretationen derselben, die vor allem die „apriorischen“ Grundlagen der
klassischen Physik angreifen.
Ein wichtiger Ansatzpunk einer phänomenologischen Kritik wäre
gerade eine Kritik dieser empiristischen Erkenntnistheorie der Wissenschaft.
Sie müßte zunächst eine Entfaltung der apriorischen Strukturen des naturwis-
senschaftlich begegnenden Dinges, also eine Ontologie des unter exakten
Ideen gedachten Naturgegenstandes, bringen respektive eine ontologische
Entfaltung der möglichen Exaktheitsmannigfaltigkeiten (der möglichen
„Geometrien“, der möglichen „Kausalitäten“, unter denen die euklidsche
Geometrie, die Kausalität der klassischen Physik nur jeweils eine aus
bestimmten Gründen vorgängig ausgebildete ist). Fernerhin müßte alsdann

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.
diese ganze Ontologie des „exakten“ Seienden in der Aufklärung der zur
Exaktheitsidee führenden Idealisationen zurückgenommen werden in die
Ontologie des lebensweltlichen Dinges und seiner regionalen Abwandlun-
gen. In einer solchen phänomenologischen Kritik müßte es sich auch zeigen,
daß die ontologische Bedeutung des materialen und formalen Apriori, d. i. die
Auffassung desselben als Wesen der Dinge, als Eigenstrukturen im Seienden
selbst, kein Rudiment eines metaphysischen Wahnes ist, daß der Nachweis
akausaler Folgestrukturen im atomaren Geschehen und die gelingende
Konstruktion nicht-euklidscher Geometrien nicht eo ipso die ontologische
Irrelevanz der logisch-kategorialen Strukturen beweise, sondern selbst ein
ontologisches Problem darstelle.
Die empiristische Interpretation der Naturwissenschaft durch den kon-
temporären „Physikalismus“ zerlegt dieselbe in die zwei Elemente: 1) wis-
senschaftliche „Erfahrung“, ausschließlich bezogen auf „Tatsachen“, in
Form von Beobachtung, Experiment und dergleichen; 2) „logisierende“ Fak-
toren mathematischer und logischer Art, die vereinheitlicht im logistischen
Kalkül die „Tatsachen“, die jeweils nur dem einzelnen gegeben und daher
unaussprechbar sind, aussprechbar, faßbar machen in der Dimension der
„Wissenschaft“, d. h. in der Dimension der „Sätze“.
Hat der ältere Positivismus in seinem Kampf gegen das „Apriori“ vor
extrem empiristischen Konsequenzen nicht zurückschreckend das mathe-
matisch-logische Apriori bestritten, als Fiktion und dgl. abgelehnt, so
rechnet es sich der neupositivistische „Physikalismus“ als Verdienst an,
die „logisierenden“ Faktoren innerhalb der Idee einer „physikalistischen
Einheitswissenschaft“ ganz stark zu betonen. Aber das wird ihm nur dadurch
möglich, daß er die ontologische Relevanz des Mathematisch-Logischen (als
einen metaphysischen Rest des Apriori-Aberglaubens) prinzipiell ablehnt
und sich zu einer instrumentalen Auffassung des Logischen (im weitesten
Sinne) bekennt.

c. Die instrumentale Auffassung der „Logik“ als Ausdruck einer Verfallssi-


tuation der Wissenschaft:
Die instrumentale Auffassung der „Logik“ im „Physikalismus“ dokumentiert
sich darin, ‹daß› das Formale der Wissenschaft (vornehmlich der Naturwis-
senschaft und Mathematik) als ein System deduktiver Konsequenz (z. B.
Axiomatik und die deduktiblen Folgen) festgehalten wird, aber die Deu-
tung eines ontologisch irrelevanten logisierenden Instruments erfährt, das
verändert werden kann. Dies geht teilweise bis zur konventionalistischen
Auffassung der Axiome. Wir könnten in beliebig vielen logischen Systemen
(die der Beliebigkeit axiomatischer Entwürfe entsprechen) die „Tatsachen“
rationalisieren. „Logiken“ sind Rationalisierungsinstrumente. (Von hier ist

M-III Grammata 797

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es nur noch ein Schritt bis ‹zur› biologisch-utilitaristischen Begründung
unserer Logik als der zweckentsprechend einfachsten.)
Die instrumentale Auffassung der Rationalität ist ein Ausdruck einer
bestimmten Verfallssituation der Wissenschaft, die phänomenologisch (von
Husserl) als das Stadium der Technisierung bezeichnet wird. Die phäno-
menologische Kritik mußte also hier gegen den „Physikalismus“ die Ein-
wände erheben, die sie gegen die Sinnentleerung der Wissenschaft zu
virtuos gehandhabter, aber nicht mehr ursprünglich verstandener Technik
überhaupt erhebt.

II.
Die Entwicklung des „Physikalismus“ vom empiristischen Ansatz zur Verab-
solutierung der Satzsphäre:
Die „physikalistische“ Philosophie ist heute noch in lebendiger Bewegung.
Die Entwicklungsrichtung selbst kann bei ihrer Offenheit wohl noch nicht
festgelegt werden; als „logisierender Empirismus“ (Amerika) hat sie einer-
seits eine noch ganz unabgeschlossene offene Forschungsproblematik im
logistischen Kalkül, anderseits als Methodologie der Naturwissenschaften
ein unaufhörliches Substrat und eine Mitbeteiligung an den künftigen Ent-
wicklungen der Naturwissenschaft selbst. Wenn der „Physikalismus“ nur
Logistik und Methodologie der exakten Wissenschaften wäre, so könnte
gegen ihn von phänomenologischer Seite nichts eingewandt werden; er
würde einen Aufgabenkreis im Ganzen der positiven Wissenschaft und Wis-
senschaftstheorie bezeichnen. Nur wenn er sich zur Philosophie proklamiert,
wenn er der metaphysischen Philosophie die Legitimität abspricht und sich
als das Telos der bisherigen abendländischen Geistesentwicklung ausgibt,
(vgl. dazu die geistesgeschichtlichen Stufen O. Neuraths: I. magische-mys-
tische Weltauffassung; II. durchrationalisierte Theologie und ihre Denatu-
rierung und Säkularisationsform: die metaphysische Philosophie; III. der
durchrationalisierte Empirismus, der zur „physikalistischen Einheitswissen-
schaft“ hin tendiert.) – dann allerdings ist eine kritische Stellungnahme
der Phänomenologie notwendig. Aber eine solche Kritik ist schwer zu
entwerfen, weil die „philosophischen“ Positionen des „Physikalismus“ neu-
erdings wieder in Bewegung geraten sind. Beispiel dafür sei die Wandlung
der Position Carnaps. In der früheren Periode (etwa bestimmbar durch
„Der logische Aufbau der Welt“)41 ist die Idee der Wissenschaft, wie
oben angedeutet, in die beiden Elemente der auf „Tatsachen“ bezogenen
Empirie und der logisierenden Faktoren auseinandergelegt. Gegen diese
empiristische Position kann eine phänomenologische Kritik so vorgehen,
daß sie die dogmatische Verengung des Erfahrungsbegriffs deutlich macht

41 Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Berlin-Schlachtensee 1928.

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durch eine phänomenologische Analytik aller Weisen der Selbstgebung (der
sinnlichen, der einfühlenden, der kategorialen, der ideativen, der mittelbaren
in allen ihren Formen usw.). Dann müßte sich auch das Mißverständnis
auflockern, als ob die phänomenologische Rede vom „Apriori“, von Wesen
und Wesensschau im trivial-massiven Sinne eines „Ideenrealismus“ gemeint
sei. Eine Auslegung der Welt rein als Welt der Erfahrung stellt gerade ein gro-
ßes phänomenologische Arbeitsproblem dar; allerdings ist dann nicht naiv
und doktrinär vorentschieden, was Erfahrung ist, sondern alle Weisen der
Selbstgebung, die unmittelbaren, wie mittelbaren, die vorwissenschaftlichen
wie wissenschaftlichen, die vorprädikativ „stummen“ wie die prädikativ
explizierten, thematisches Bewußtsein wie die mannigfachen Formen unthe-
matischer Erfahrung – all das muß zum Gegenstand einer differenzierenden
Analytik werden. Die „Widerlegung“ des „physikalistischen“ Empirismus
ist nicht Sache einer überlegeneren Argumentation, sondern allein einer
ausweisenden Analyse.
In der gegenwärtigen Epoche tritt bei Carnap (Die logische Syntax der
Sprache)42 und Neurath die Tendenz auf, den letzten Rest von „Metaphysik“
selbst innerhalb des „Physikalismus“ auszutreiben: die „Metaphysik des
Gegebenen“. Damit wenden sie sich gegen eine vorprädikative Erfahrung
als Erkenntnisgrund der Wissenschaft. Wissenschaft sei allein als ein Satzzu-
sammenhang, in dem bestimmte Sätze auf andere zurückleitbar sind. Solche
am Anfang von Ableitungen stehende Sätze heißen „Protokollsätze“. Scharf
wird aber die Auffassung abgelehnt, als ob „Protokollsätze“ Sätze über
vorprädikativ schlicht gegebene Tatsachen wären. Wissenschaft rekurriert
nicht auf „Tatsachen“, sondern auf Protokollsätze, Wissenschaft bewegt sich
immer in der Atmosphäre von Sätzen. Damit wird die Satzsphäre in einem
eigentümlichen Sinn verabsolutiert. Hier wäre weiterhin eine Ansatzstelle
phänomenologischer Kritik, die nur dadurch positiv sein könnte, wenn sie
das Verhältnis von prädikativer und vorprädikativer Sphäre analytisch klärt.
Diese neueste Phase des „Physikalismus“ ist äußerst schwierig
nachzuverstehen, eine subtile und scharfsinnige Sprachtheorie steht als
begründende Instanz hinter der Verabsolutierung der Satzsphäre (mit der
merkwürdigerweise auch eine instrumentalistische Auffassung der Spra-
che zusammengeht).
Diese Entwicklungstendenz der „physikalistischen“ Philosophie läßt
sich vielleicht aus dem treibenden Motiv verstehen, das dieser philosophi-
schen Reformbewegung eignet. Dieses Motiv ist ein „theoretisches Ressen-
timent“. Daß der leidenschaftliche Wille zur theoretischen Arbeit und zur
Autonomie der Wissenschaft, zu ihrer Freihaltung von den dogmatischen
Gewalten des Aberglaubens, der Religion, der „Weltanschauungen“ zum

42 Rudolf Carnap, Die logische Syntax der Sprache, Wien 1934.

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„horror metaphysicae“ wird, ist ein tragischer Irrtum, der die in ihrem Pathos
der Phänomenologie verwandte philosophische Bewegung überschattet.
Der im Popularbegriff der Metaphysik wurzelnde „horror metaphysicae“
führt zunächst zur Abweisung einer philosophischen Fragestellung an die
„Wissenschaft“ und zu deren Proklamation als einzig echter Methode. War
der Anspruch der Metaphysik, allererst positive Wissenschaft zu begründen,
abgewehrt, so wurde die verborgene Metaphysik innerhalb der Wissenschaft
selbst angegriffen: die Zweiteilung der Wissenschaften, dann die ontologi-
sche Relevanz der „Logik im weitesten Sinne“ bestritten und diese selbst
instrumental interpretiert. Die letzte Stufe war die Eliminierung eines subli-
men Restes von Metaphysik innerhalb der empiristischen Theorie selbst, die
Polemik gegen die „Metaphysik des Gegebenen“.
Vielleicht könnte man nachweisen, daß der Popularbegriff der Metaphy-
sik (und der aus dieser Vorstellung kommende „horror“) eine verhängnis-
volle Rolle gespielt hat in der inneren Geschichte des „Physikalismus“.

No. 18:
Karl Löwith und die Phänomenologie:
[Vorschlag für E. Husserl am 23.1.37]
Die geistige Haltung, die Löwith in seiner Auseinandersetzung mit der
phänomenologischen Philosophie einnimmt, macht seine Wirkung in Japan
gefährlich für die Japaner, die sich eben erst in die Transzendentale Phänome-
nologie einarbeiten. Die Unterminierung des Vertrauens in die systematische
Kraft der Vernunft durch eine Methode, die den Anschein einer jeder
Systematik grundsätzlich überlegenen Superiorität mit sich führt, muß von
vornherein den Ansatz einer Philosophie verderben, die gerade in unablässi-
ger Ausweisung die Systematik des Wissens aus der inneren Systematik der
Sachen selbst gewinnen will.
Die Phänomenologie von Anfang an in die Charakteristik einer
bestimmten menschlichen Attitüde des „systematischen“ Fragens und Be-
stimmens hineinzudrängen, ohne sich mit dem sachlichen Recht des phäno-
menologischen Ausweisungsprinzips selbst sachlich auseinanderzusetzen,
ist nichts anderes als eine elegante Irreführungsmethode.
Löwiths Stellung zur Philosophie überhaupt (nach seinen Arbeiten
zu schließen) ist bestimmt durch ein tiefes und abgründiges Mißtrauen
gegen alle „Systematik“, vielleicht sogar bestimmt durch einen nihilistischen
Agnostizismus. Sein theoretisches Interesse kreist um die Aufgabe einer
„Anthropologie“, die nicht eine direkte systematische Wesenserfassung des

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Menschen, sondern eine mittelbare historische Selbstverständigung ist. Der
Mensch frägt nach sich selbst, indem er sich aus seiner Geschichte, aus
dem Wandel seiner „Selbstinterpretationen“ (antikes, mittelalterliches, neu-
zeitlich-humanistisches, durch Auflösung des „Humanismus“ bestimmtes
Selbstverständnis), aus all den Systemen über sein Sein zurücknimmt,
Epoché übt gegenüber allen idealen und idealistischen Selbstausdeutungen,
die immer über die Sphäre seines vital-natürlichen (animalischen) Daseins
hinausdeuten, ihm irgendeine „metaphysische“ Bedeutung geben wollen im
Ganzen der Dinge. Die von allen idealen und idealistischen Illusionen freie
Anthropologie ist nur zu gewinnen, wenn der Mensch aus der Geschichte
lernt, den systematischen Ansprüchen einer anthropologischen Theorie
zu mißtrauen, wenn er die illusionsfreie Anthropologie begreift als eine
Aufgabe der geschichtlichen Destruktion: der Entlarvung der hinter „sys-
tematischen“ Theorien liegenden menschlichen Selbstidealisierungen. Die
Methode der historischen Hintergrundforschung legt vielleicht dann das sich
wandelnde Leben frei, das sich immer seine „Fassaden“ zurechtlegt, hinter
die die übliche Historie nie zurückkommt. Das Wesen des Menschen ist kein
Thema einer direkten und systematischen Erkenntnis.
Diese Einstellung Löwiths (die der historischen Hintergrundsforschung,
die alle Vordergründe nur als Symptome nimmt) scheint jeder Systematik
dadurch überlegen zu sein, daß sie motivisch jeden systematischen Ansatz
zu erklären vermag, sich in jedes systematische Denken hineinzuversetzen
vermag, um darin die Evidenzen des Systematikers gleichsam von innen
mitzuvollziehen. Löwith referiert nicht äußerlich-historisch über vorhandene
Meinungen ohne eigene Stellungnahme, vielmehr vollzieht er das Denken
des Systematikers mit, um gerade dann, wenn er ganz auf dem Boden einer
Philosophie zu stehen scheint, sie von innen zu sprengen: gerade weil er zeigt,
daß er den Systematiker versteht und ihm doch nicht glaubt, entwertet er
dessen Wahrheitsanspruch viel radikaler als ein Historist, der sich gleich gar
nicht auf sachliche Meinungen einläßt.
Löwith hat eine unbestreitbare Gabe der Einfühlung, hat die Kunst,
in den Gegner einzudringen, die Technik des Trojanischen Pferdes. Er
überzeugt dadurch, daß er die Maske jedes Systematikers annehmen kann,
um diesen alsdann zu „entlarven“.
(Es ist ein eigenes phänomenologisches Problem, den Trug des Sichhin-
einversetzens in ein Philosophem, diese unechte Art der Einfühlung und des
Nachverständnisses, die scheinbar mitglaubt, scheinbar Evidenzen nachvoll-
zieht und trotzdem sich freihält, diese ganze Existenzform des nihilistischen
Schwebens über allen Entscheidungen als eine Unechtheitsmodifikation der
Gewißheit aufzuweisen.)

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Hinsichtlich der phänomenologischen Philosophie hat Löwith sicherlich
eine Menge von Vorurteilen, die auf eine ungenügende Vertiefung in die
Husserlschen Arbeiten zurückgehen. Bei seiner außerordentlichen Begabung
läßt dieser Mißstand sich beseitigen, und die neue Schrift43 wird wesentlich
dazu beitragen. Für Löwith aber wichtiger wäre die Umwendung seiner
Haltung zur Philosophie. Wenn er die phänomenologischen Probleme (wie
Reduktion und dergleichen) auch zuverlässiger und eingehender, ja schließ-
lich richtig kennenlernt, so besteht doch die Gefahr, daß sein Wirken für die
Phänomenologie in Japan gefährlich ist, ja gefährlicher wird, je genauer er
die Phänomenologie kennenlernt: er kann sie dann (scheinbar) von „innen“
entwerten. Es ist ein Existenzproblem: die Überwindung der Verlockung des
nihilistischen Über-allem-Stehens und ‹die› Entscheidung für nüchtern-ana-
lytische Ausweisung. Nachvollzug der phänomenologischen Gedanken ohne
den lauernden Hintergedanken, die Naivität der darin liegenden Systematik
„entlarven“ zu müssen.
Die Phänomenologie fordert niemals die Ausschaltung des kritischen
Gewissens, sie ruft den Menschen auf zur äußersten Skepsis. Wahre Skepsis
(das „Spähen“ ist Bereitschaft zu sehen) ist kein auf sich selbst versteiftes
Mißtrauen, keine tote Unfruchtbarkeit des Geistes, sondern ist das Schwert
des Geistes, mit dessen scharfer Schneide er sich Bahn bricht aus dem
Gestrüpp der Vormeinungen und Vorurteile. Skepsis ist die raumschaffende
Grundhandlung des philosophierenden Menschen für das Wissen.

43Gemeint ist wohl die im I. Band der von Arthur Liebert in Belgrad herausgegebenen
Zeitschrift Philosophia von Husserl veröffentlichte, Anfang Januar 1937 im Reindruck
vorliegende Krisis-Arbeit.

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Vorschlag zu Husserl:
Manuskript über „Historie als Ursprungsanalyse“
1936

Beschreibung:

Dieses Manuskript gehört angeblich zu der Arbeitsphase, in der Husserl nach § 8 des
bereits in Maschinenschrift vorliegenden Textes der „Krisis“-Arbeit (HA M III 5
III), der dem in Hua VI veröffentlichten Text zugrunde liegt, einen neuen Paragra-
phen über Galilei einfügen wollte. Der schon verfasste Text musste mit dem neuen
Paragraphen in Übereinstimmung gebracht werden. Zu diesem Ziel schlug Fink eine
Neugestaltung des § 8 vor. (Vgl. dazu: Reinhold N. Smid, „Einl. d. Hrsg.“ zu Hua
XXIX, insbes. S. LVI–LVII.) Obwohl das vorliegende Manuskript offenbar keinen
anderen Zweck erfüllte als die Texte Nr. 5 und Nr. 9–11, wurde es von Fink nicht mit
den anderen Textentwürfen in der Mappe M-III zusammengelegt und -gebunden.

Text:

(Im § 8 wird zunächst als tatsächliche Feststellung der Ursprung der neu-
zeitlichen Idee der Wissenschaft und Philosophie in der Umgestaltung der
Euklidschen Geometrie resp. Mathematik gesehen. Es bleibt jetzt zu fragen,
was eigentlich diese methodologische Führung einer Sonderwissenschaft
bedeutet: nämlich den Ursprung des neuzeitlichen „physikalistischen Objek-
tivismus“ im Herrschaftsanspruch eines Wissens, das in sich selbst undurch-
sichtig ist, sofern die ihm zugrundeliegenden ursprünglichen Evidenzen in
der Thematik dieser Wissenschaft selbst nicht mehr vorkommen. Dieses rät-
selhafte Phänomen des Verlustes der ursprünglichen, d. i. sinnschöpferischen
Evidenzendimension ist ein „historisches Problem“, ein Problem der Ver-
wandlung einer Tradition. Dies nach den prinzipiellsten Grundzügen sicht-
lich zu machen, ist die Absicht des folgenden §. Dort ist also zu erörtern:
Tradition und Tradierung überhaupt – Geometrie als Tradition an Sprache
gebunden (das „ideale Gebilde“ und die sprachlichen Bedingungen seines
weltlichen Daseins) – Tradition und Reaktivierung von Sinnbildungen von
Sinngebilden – die Bedingungen einer vollständigen Reaktivierung einer
Tradition (Verwandlungen von Tradition) – die methodische Klärung des
Wesens einer historischen Ursprungsfrage – die apriorischen Strukturen der
Historie.

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Damit ist schon prinzipiell der „Objektivismus physikalistischer Prä-
gung“ in Frage gestellt und das Problem der „Lebenswelt“ vorbereitet. –
In den § 8 ist noch der erste Absatz des alten § 91 hineinzunehmen und
dann eventuell folgendermaßen fortzufahren:)
Die Revolution der Idee der Wissenschaft durch die neuzeitliche Umge-
staltung der seit der Antike tradierten Geometrie und Mathematik über-
haupt bedeutet in der Geschichte des abendländischen Geistes ein Ereignis
von fast unabsehbarer Tragweite: eine Sonderwissenschaft übernimmt die
prinzipielle methodologische Führung, alle Wissenschaften, zuoberst die
Philosophie (die Metaphysik), geraten in ihren methodologischen Bann;
das „exakte“ Wissen der Mathematik wird das Leitbild alles Wissensstre-
bens überhaupt.
Bevor wir jedoch den ersten fundamentalen Schritt, der zur neuzeit-
lichen Idee einer universalen „objektiven Wissenschaft“ führt: die mathe-
matische Naturkonzeption Galileis, zur Auslegung bringen, wollen wir
versuchen, ein tieferes Verständnis für diese Auslegung vorzubereiten. Wir
fragen: ist der methodologische Herrschaftsanspruch der Geometrie bzw. der
Mathematik überhaupt gerechtfertigt? Ist geometrische Evidenz eine letzt-
lich durchsichtige, in sich fraglose, keine verschlossenen Sinneshorizonte in
sich bergende?
Oder ist am Ende gerade das Wissen, das zum Leitbild alles wissen-
schaftlichen Wissens proklamiert wird, in sich selbst undurchsichtig und
verschlossen gegen die es ursprünglich fundierenden und aufbauenden Evi-
denzen?
In der Tat ist die Fragwürdigkeit des Grundansatzes der neuzeitli-
chen Wissenschaftsidee damit schon angezeigt: es ist der fragwürdige
Herrschaftsanspruch eines Wissens, das in sich selbst undurchsichtig ist,
sofern die ihm zugrundeliegenden ursprünglichen Evidenzen in der The-
matik dieser Wissenschaft selbst nicht mehr vorkommen. Dieses „Nicht-
mehr-Vorkommen“ ist aber nichts anderes als ein Verlorenhaben der sinn-
schöpferischen Ursprungsevidenzen, ein Verschlossensein der ursprünglich
sinnbildenden Evidenzsphäre.
Die Frage nach der Legitimität des methodologischen Führungsan-
spruchs der in der überholenden Umgestaltung der antiken Tradition mächtig
emporblühenden neuzeitlichen Geometrie und Mathematik überhaupt ver-
weist uns auf ein historisches Problem ganz eigentümlicher Art: wie kann die
Geometrie, als eine historische Gemeinschaftsleistung seit Jahrhunderten,
in der Fortbildung und glückenden Umbildung eines durch Tradition vor-
gegebenen Gegenstandbezirkes „reiner Idealgebilde“ begriffen sein, wenn
der ursprüngliche, aus erster Sinn-Erzeugung ur-verständliche Sinn dieser

1 D. h. § 10 in Hua VI.

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Gebilde verlorengegangen ist? Wie kann sich eine Verständlichkeit tradieren,
ja sogar glückend weiterbilden, wenn sie nicht mehr auf die Ur-Verständlich-
keit zurückgeleitet werden kann? Diese Fragen gilt es jetzt ganz prinzipiell
zu stellen.

§ 9. Die Rückfrage nach dem Ursprungssinn der Geometrie als histori-


sches Problem
a. die Traditionalität der Geometrie. (Tradierung überhaupt.)
b. die Bedingungen des weltlichen Daseins eines Idealgebildes als
die Bedingungen seiner Tradierbarkeit. (Identität des Gebildes,
Sprache, Schrift.)
c. Tradition und Reaktivierung der Traditionsstiftung. (Bedingungen
einer vollständigen Reaktivierung.)
d. die Rückfrage in den Sinnesursprung als Freilegung einer verbor-
genen Geschichtlichkeit.
e. die apriorischen Voraussetzungen aller Historie.

Historie als Ursprungsanalyse 805

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Namenregister

Das Namenregister verzeichnet alle Namen, die in den im vorliegenden


dritten Teilband zum ersten Male veröffentlichten Texten und Notizen Eugen
Finks erwähnt worden sind.

Alonso, M. M. 781 Dionysos 348, 452, 555, 577, 586, 593, 597,
Alphéus, K. 489, 490, 491, 572 613, 647, 649, 717, 721, 722, 723
Apoll 576, 577, 647, 722 Don Quijote 716
Aristoteles 297, 301, 321, 322, 357, 358, 359, Dostojewski, F. 477, 607, 608
373, 379, 380, 382, 383, 384, 385, 386, Meister Eckhart 675
387, 388, 389, 391, 392, 393, 394, 395, Ehrenfels, Chr. von 773
396, 397, 439, 443, 444, 447, 459, 461, Eisler, R. 355, 473, 474, 772
472, 473, 475, 477, 478, 480, 491, 504, Empedokles 518
505, 513, 518, 547, 548, 549, 551, 552, Faust 606
553, 560, 561, 562, 565, 570, 571, 575, Fechner, G. 766
577, 579, 580, 582, 584, 590, 600, 602, Feuerbach, L. 471
605, 607, 609, 617, 619, 637, 638, 639, Fichte, J. G. 321, 343, 357, 479, 558, 582,
672, 673, 686, 702, 783 602, 608, 618, 649, 667, 695, 704
Augustin 619 Fink, E. 524, 544, 564, 565, 572, 604, 605,
Averroes 513 746, 747, 749, 753, 772, 792
Bachofen, J. J. 616 Galilei, G. 386, 417, 455, 804
Bakunin, M. A. 587 Goethe, J. W. von 606, 613, 615
Baumgarten, A. G. 625 Hartmann, N. 456, 533, 567, 584, 585,
Becker, O. 723 687, 702
Berger, G. 741 Hegel, G. F. W. 295, 316, 321, 322, 334, 335,
Bergson, H. 546, 587, 649, 723 342, 343, 372, 383, 386, 387, 424, 425,
Berkeley, G. 523 429, 442, 447, 448, 471, 472, 474, 478,
Brentano, F. 643, 687, 768, 770, 776 479, 480, 482, 484, 487, 489, 490, 491,
Bröcker, W. 702 492, 493, 495, 496, 497, 498, 499, 500,
Bühler, K. 557 501, 502, 506, 509, 511, 513, 514, 515, 516,
Burckhardt, J. 616 519, 520, 522, 523, 524, 525, 527, 528,
Cairns, D. 564 529, 530, 531, 532, 533, 534, 535, 536,
Carnap, R. 766, 793, 794, 798, 799 537, 538, 551, 555, 558, 566, 567, 568,
Cassirer, E. 648, 785 569, 570, 571, 572, 575, 582, 583, 585,
Cohen, H. 785 593, 597, 598, 600, 606, 607, 608, 612,
Cortez, D. 544, 587 615, 616, 618, 633, 638, 639, 648, 650,
Demeter 472 667, 677, 678, 689, 690, 691, 695, 698,
Descartes, R. 302, 308, 320, 321, 360, 373, 765, 788
472, 477, 479, 488, 523, 529, 530, 531,
532, 533, 539, 540, 541, 549, 555, 558,
566, 567, 577, 578, 582, 584, 609, 616,
617, 638, 639, 648, 688, 701, 708, 714, 715,
744, 781
Dilthey, W. 320, 338, 483, 634, 649, 667,
687, 726, 747, 767

Namenregister 807

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.
Heidegger, M. 294, 297, 312, 324, 333, 334, 616, 618, 622, 623, 624, 625, 626, 627,
356, 357, 445, 456, 471, 473, 476, 477, 630, 638, 639, 641, 644, 645, 646, 649,
478, 484, 495, 498, 505, 510, 524, 525, 667, 670, 671, 672, 673, 674, 676, 677,
532, 540, 543, 544, 560, 565, 568, 569, 678, 685, 686, 687, 694, 695, 696, 697,
570, 572, 575, 577, 583, 584, 587, 606, 698, 699, 700, 704, 705, 709, 710, 726,
608, 609, 610, 611, 615, 618, 621, 622, 623, 743, 744, 781, 782, 783, 784, 785, 786,
624, 632, 641, 646, 649, 655, 668, 672, 787, 788, 789, 790
674, 689, 725, 726, 728, 767, 777, 782, Kaufmann, Fr. 539, 555
783, 784, 785 Kierkegaard, S. 320, 372, 480, 549, 575,
Heisenberg, W. 579 605, 667, 722, 766
Helmholtz, H. 766 Klages, L. 719
Heraklit 333, 446, 484, 599, 619, 649, Kraft, V. 601
694, 699 Kretschmayr, H. 616
Hobbes, Th. 591 Landgrebe, L. 333, 334, 335, 337, 338, 339,
Hölderlin, F. 504, 518 351, 360, 361, 496, 561, 562, 563, 564,
Hume, D. 726, 744, 787, 788 583, 690, 722, 726, 727
Husserl, E. 303, 305, 306, 310, 318, 319, 321, Leibniz, G. W. 320, 379, 582, 617, 625, 783
322, 324, 327, 329, 333, 334, 338, 339, Lévy-Bruhl, L. 648
340, 342, 343, 350, 351, 352, 353, 354, Löwith, K. 715, 723, 800, 801, 802
355, 359, 360, 372, 373, 401, 413, 414, 415, Mach, E. 766
416, 417, 418, 419, 420, 421, 422, 423, 424, Marx, K. 335
427, 429, 430, 432, 439, 445, 454, 455, Meinong, A. 775
456, 458, 467, 468, 471, 476, 480, 485, Méry, <?> 558
496, 524, 533, 536, 539, 540, 541, 543, Mičič, Z. 790, 792
544, 546, 547, 548, 549, 550, 554, 555, Michelangelo Buonarroti 615
556, 558, 561, 562, 563, 564, 565, 566, Misch, G. 649
568, 576, 577, 578, 579, 584, 585, 587, Morris, Ch. 734
588, 589, 590, 591, 592, 594, 595, 606, Neurath, O. 794, 796, 798, 799
609, 613, 615, 616, 617, 618, 622, 623, 624, Nietzsche, F. 320, 323, 325, 335, 337, 342,
630, 633, 636, 637, 638, 639, 643, 648, 348, 357, 372, 470, 471, 478, 481, 490,
650, 653, 664, 666, 667, 672, 676, 677, 549, 550, 555, 564, 586, 587, 588, 593,
678, 682, 683, 685, 687, 695, 696, 699, 597, 604, 605, 613, 614, 617, 643, 644,
702, 703, 704, 705, 708, 709, 710, 711, 713, 645, 646, 647, 648, 649, 657, 666, 667,
714, 715, 717, 718, 719, 724, 725, 726, 727, 677, 684, 689, 690, 694, 708, 715, 717,
728, 733, 734, 737, 742, 744, 746, 747, 721, 722, 723, 724, 766, 783
749, 753, 754, 755, 757, 758, 768, 770, Novalis (G. F. P. Freiherr von Hardenberg,
771, 772, 773, 774, 775, 777, 778, 779, 780, F.) 728
783, 790, 791, 792, 798, 800, 802, 803 Orpheus 560
Ingarden, R. 309 Ortega y Gasset, J. 656
Iwan, 608 Ott, D. 382, 404, 413, 414, 429, 431, 439,
Jaspers, K. 555, 702 441, 443, 446, 449, 451, 452, 454, 455,
Jesus von Nazareth 510 456, 463, 467
Kant, I. 296, 297, 299, 300, 301, 302, 303, Pallas Athene 390
304, 320, 321, 322, 323, 324, 331, 332, Pan 720
333, 334, 345, 350, 351, 361, 362, 363, Parmenides 373, 439, 447, 461, 552, 582,
364, 367, 369, 371, 372, 393, 416, 421, 429, 611, 650, 783
443, 446, 447, 455, 461, 470, 473, 474, Patočka, J. 564
476, 479, 480, 482, 503, 506, 516, 523, Platon 301, 357, 358, 359, 363, 373, 381, 396,
527, 528, 530, 532, 533, 541, 544, 554, 399, 439, 447, 461, 477, 480, 488, 490,
558, 566, 567, 568, 575, 578, 582, 585, 570, 571, 575, 582, 605, 613, 615, 617, 619,
597, 601, 602, 603, 604, 605, 606, 615, 624, 625, 650, 672, 733, 747, 783

808 Namenregister

https://doi.org/10.5771/9783495995341

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Plotin 625 Schopenhauer, A. 559
Prometheus 589 Schulemann, G. 473
Protagoras 358 Seidemann, A. 572
Proudhon, P. J. 587 Sokrates 327, 646
Pythagoras 552, 560, 630, 783 Sorel, G. 587
Raffael 606, 607, 615 Spengler, O. 337
Raskolnikoff 608 Spinoza, B. de 387, 582, 584
Reicke, R. 474 Stumpf, C. 773
Rickert, H. 767 Suarez, F. 565, 617
Riemensperger, A. 382, 546 Thomas von Aquin 617
Rilke, R. M. 557, 596, 600, 615 Usui, J. 315
Rolfes, E. 391 Weltin, E. 469
Ropohl, H. 603 Windelband, W. 630, 767
Rosenberg, A. 718 Wolff, Chr. 625
Rothacker, E. 767 Yorck von Wartenburg, P. Graf 667
Rousseau, J. J. 591, 723 Zarathustra 348, 645, 721, 725
Scheler, M. 560 Zeus 699
Schelling, F. W. J. 569, 602, 618, 667 Ziegler, L. 469, 576
Schiller, F. 358, 615

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Namenregister 809

https://doi.org/10.5771/9783495995341

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