Alexander Schnell
Was ist
Phänomenologie?
RoteReihe
Klostermann
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Alexander Schnell · Was ist Phänomenologie?
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Alexander Schnell
Was ist
Phänomenologie?
KlostermannRoteReihe
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ISSN 1865-7095
ISBN 978-3-465-04377-5
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Für meine Tochter Adalgisa Annaé
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Inhalt
Analytisches Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Einleitung
Was heißt, phänomenologisch zu philosophieren? . . . . . . . . . . 27
Zur Methode der Phänomenologie
Kapitel I
Die phänomenologische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Kapitel II
Phänomenologische Ansätze einer Theorie des Verstehens . . . 65
Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
Kapitel III
Transzendentale Phänomenologie im Ausgang vom
nachkantischen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Kapitel IV
Transzendentale Phänomenologie im Ausgang von der
Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
Kapitel V
Die transzendentale Phänomenologie der Sinnbildung
und der »spekulative Realismus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Kapitel VI
Der Sinn der Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
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Analytisches Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Die Unabgeschlossenheit der Phänomenologie und die Aufgabe
einer Verwirklichung der »phänomenologischen Grundlegungsidee«
(Eugen Fink). Die beiden hierfür zu beantwortenden Grundfragen:
Wie lässt sich phänomenologische Erkenntnis radikal verständlich
machen? Wie kann die für die transzendentale Phänomenologie cha-
rakteristische Rückleitung auf »transzendentale Subjektivität« mit
der Grundlegung eines starken Seins- bzw. Realitätsbegriffs in Ein-
klang gebracht werden?
Drei mögliche Wege in die Phänomenologie: 1.) Darstellung
der phänomenologischen Methode; 2.) Historisch-systematischer
Rückbezug der Phänomenologie auf Grundmotive der abendländi-
schen philosophischen Tradition (hier: der Klassischen Deutschen
Philosophie und des angelsächsischen Empirismus); 3.) Einbettung
der Phänomenologie in einen zeitgenössischen Kontext (hier: die
Debatte mit dem »spekulativen Realismus«).
Die Behandlung der »Grundlegungsidee« und die Frage nach der
Einheit der als transzendentaler Idealismus verstandenen Phänome-
nologie.
Einleitung.
Was heißt, phänomenologisch zu philosophieren?
Phänomenologie und Philosophie. Phänomenologie und Kritik.
»Die Sachen selbst«. Der Phänomenbegriff in der Phänomenologie.
Abgrenzung des phänomenologischen Phänomenbegriffs vom Kan-
tischen »Phänomenismus«. Phänomen und Korrelativität. Kurzer
Hinweis auf den phänomenologischen Schreibstil.
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10 Analytisches Inhaltsverzeichnis
Das Grundanliegen des phänomenologischen transzendentalen
Idealismus: die Selbsterschaffung eines genuinen Seins- und Er-
kenntnisbodens.
Die Phänomenologie im Licht einer kritischen Stellungnahme
Ernst Tugendhats. Tugendhats These, wonach die Phänomenologie
zwei »semantischen Voraussetzungen« unterliege. Die Antwort der
Phänomenologie auf Tugendhats Kritik.
Vier Thesen des phänomenologischen Philosophierens: 1.) These
der zweifachen Voraussetzungslosigkeit; 2.) These der genetisierten
Gegebenheit; 3.) These der Korrelativität; 4.) These der Intelligibi-
lisierung.
I. Zur Methode der Phänomenologie
Kapitel I: Die phänomenologische Methode
Charakterisierung der Phänomenologie als eine durch die Probleme
geforderte philosophische Methode; zugleich Aufweisung der Un-
möglichkeit, der phänomenologischen Arbeit einen »Bericht über
die Methode« voranzustellen.
Der »Grundhorizont« der Phänomenologie: der – auf absoluter
»Voraussetzungslosigkeit« basierende – transzendentale und spe-
zifisch ontologische Rahmen. Vier Fluchtpunkte der Sinnbildung:
1.) Transzendentalität. Kants und Fichtes Auffassung des Tran
szendentalen. Husserls Begriff der »transzendentalen Erfahrung«.
2.) Sinnhaftigkeit. Sinn und Verstehen. 3.) Eidetik. Der Begriff
des »Wesens« bzw. »Eidos«. Husserls Kritik des Psychologismus.
4.) Korrelationalität. Drei Stufen der phänomenologischen Analyse
und ihre jeweilige spezifische Korrelativität.
Die Grundbegriffe der phänomenologischen Methode. Die phä-
nomenologische Epoché. Die transzendentale Reduktion. Richirs
Radikalisierung der Husserl’schen Epoché.
Die eidetische Variation. Die Rolle der Phantasie in der eideti-
schen Variation. Die »Ideation«. Eidos und Faktum. Abgrenzung
der Ideation von der Begriffsabstraktion. Die Rolle der »passiven
Vorkonstitution« für die Konstitution des Eidos. Die »Zwitter
einheit«. Die ontologische Relevanz der eidetischen Variation. Ab-
grenzung vom »Platonismus«.
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Analytisches Inhaltsverzeichnis 11
Die phänomenologische Deskription. Die »kritische Dimension«
der Phänomenologie. Die »transzendentale Naivität«. Der Status
der intentionalen Implikationen. Die Horizontintentionalität. Die
anschauliche Evidenz als »Prinzip aller Prinzipien« der Phänome-
nologie.
Die phänomenologische Konstruktion. Abbaureduktion und
phänomenologische Konstruktion. Die »konstruktive Anschau-
ung«. Die phänomenologische Konstruktion und das phänomeno-
logische »Zickzack«.
Kapitel II: Phänomenologische Ansätze einer Theorie
des Verstehens
Verstehen als weiterer Grundbegriff der phänomenologischen Me-
thode. Zwei eigentümliche Spannungsverhältnisse innerhalb des
Verstehensbegriffs; die Rolle des »Selbst« in diesen Spannungsver-
hältnissen. Rechtfertigung der Behandlung der Verstehensproblema-
tik gegenüber den Geistes- und Kulturwissenschaften und innerhalb
der Philosophie selbst. Zwei zu vermeidende Klippen in der Unter-
suchung über den Verstehensbegriff.
Heideggers Verstehensauffassung. Verstehen als Sich-Entwerfen
auf Sinn, in ein Verständnisfeld. Der »hermeneutische Zirkel«. Sinn
als Sich-Auslegen des Selbst (und die Rolle der »ontologischen Be-
schaffenheit des Daseins« in diesem Sich-Auslegen).
Fichtes Verstehensauffassung. Verstehen und Einsehen (Einsicht).
Die verschiedenen Züge des Einsichts-Begriffs. Fichtes Verstehens-
theorie und seine Bildlehre. Verstehen und Einleuchten. Die Über-
schneidungen in Heideggers und Fichtes Verstehensauffassungen.
Verstehen und Zum-Stehen-Bringen. Der positive Beitrag der
»Veranderung« zur Verstehensproblematik.
Der Bezug von »Verständlichem« (bzw. »Selbstverständlichem«)
und »Nicht-Selbst-Verständlichem«. Das »Unverständliche« als
Hintergrund des zu Verstehenden. Verstehen als Verständniserwei
terung, als »Horizonteröffnung von Synthetizität a priori«. Die
Rolle der phänomenologischen »Konstruktion«, bzw. »Genetisie-
rung« in dieser Verstehensauffassung. Losung einer so verstandenen
Phänomenologie: nicht »zurück« zu den Sachen, sondern »hinaus«.
»Nicht-Reduzierbarkeit« und »Gegebenheit«. Die »Positivität« des
Nicht-Reduzierbaren.
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12 Analytisches Inhaltsverzeichnis
II. Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
Kapitel III: Transzendentale Phänomenologie
im Ausgang vom nachkantischen Idealismus
Die erkenntnistheoretische und die ontologische Grundlage der
Phänomenologie. Kants Vorläuferschaft der transzendentalen Phä-
nomenologie. Die Neuorientierung der Phänomenologie bezgl. des
Begriffs des Transzendentalen.
Das Bezeugen der Einheit der als transzendentaler Idealismus
verstandenen Phänomenologie auf der Grundlage dreier bedeuten-
der Zitate Husserls, Heideggers und Levinas’. Notwendigkeit des
Rückgangs auf die Klassische Deutsche Philosophie für die Begrün-
dung dieser Einheit der transzendental-idealistischen Phänomeno-
logie.
Erkenntnistheoretische Ebene. Vertiefte Analyse von Husserls
»Prinzip aller Prinzipien«. Der Fichteanische Hintergrund dieses
höchsten Prinzips der Phänomenologie.
Die zwei Schritte der Legitimation der Erkenntnis durch die
anschauliche Evidenz. Erste Stufe: Aufweisung der »intentionalen
Implikationen«. Zweite Stufe: Vollzug von »phänomenologischen
Konstruktionen«. Bezug von phänomenologischer Konstruktion zu
Fichtes genetischer Konstruktion.
Heideggers Begriff der »Ermöglichung«. Bezug zu Fichtes Be-
griff der ermöglichenden »Verdoppelung«.
Ontologische Ebene. Die Frage nach dem »letzten Seinssinn« des
phänomenologischen Phänomens. Fichtes Auseinandersetzung mit
Schelling in Bezug auf den Status des transzendentalen Idealismus.
Levinas’ Anschluss an Schellings Position.
Vertiefte Analyse des Bezugs des Bewusstseins auf den Gegen-
stand und Eröffnung einer »neuen Ontologie«. Drei Hauptmo-
mente dieser Untersuchung: 1.) die Funktion des phänomenologi-
schen Wahrheitsbegriffs (Husserl); 2.) die »Seinsfundierung« inner
halb des wechselseitigen Bedingungsverhältnisses zwischen dem
Konstituierenden und dem Konstituierten (Levinas); 3.) die Gene-
tisierung dieses wechselseitigen Bedingungsverhältnisses (Levinas).
Die Folgen der auf jenen beiden Ebenen erworbenen Erkennt-
nisse für den Status der Subjekt-Objekt-Korrelation. Die Frage nach
der Einheit der immanenten und der präimmanenten Bewusstseins-
sphäre. Die Frage nach der möglichen Vereinbarung von erkennt-
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Analytisches Inhaltsverzeichnis 13
nistheoretischer und ontologischer Perspektive. Fichtes Antwort auf
diese Frage mit dem Begriff der »Ermöglichung«. Vertiefte Analyse
dieses Begriffs der »Ermöglichung« in Heideggers Grundbegriffen
der Metaphysik. Der Begriff des »Grundgeschehens« und dessen
drei Momente.
Zusammenfassung der Ergebnisse dieses Kapitels.
Kapitel IV: Transzendentale Phänomenologie
im Ausgang von der Lebenswelt
Das Grundmotiv der neuzeitlichen Philosophie: der Objektivismus.
Die Unterschiebung eines mathematischen Substrats als Haupt
charakteristikum desselben. Humes tiefgreifende »Erschütterung«
dieses Objektivismus: die Bildung »fiktionaler Erzeugnisse«. Weg-
weisende Aufgabe der transzendentalen Phänomenologie: Radikali-
sierung und Vollendung dieser Einsicht Humes, indem 1.) die Bild
haftigkeit des phänomenal Seienden, 2.) die reale Objektivität und
3.) die Erkenntnisverständlichmachung zusammengedacht werden
müssen.
Husserls Auslegung des Hume’schen Problems: Verständlichma-
chung der Weltgewissheit. Hierzu ist der Rückgang auf subjektiv
zu leistende »Sinngebilde« und deren »bildhaften« Charakter not-
wendig.
Husserls Definition des Begriffs des »Transzendentalen« und ihr
grundlegender Bezug zur Sinn-Bildung.
Die Rolle der »Lebenswelt« für jene Verständlichmachung der
Weltgewissheit. Erste Bestimmung der Lebenswelt und ihrer Rolle
für die Überwindung der Krise der neuzeitlichen Wissenschaft.
Der Zugang zur Lebenswelt dank der »lebensweltlichen Epoché«.
Absonderung des universalen lebensweltlichen Apriori vom objek-
tiv-logischen Apriori der Wissenschaften durch die Aufweisung der
Rückbezogenheit von diesem auf jenes. Freimachung des Blicks von
der Bindung an die Vorgegebenheit der Welt für die hierbei maßgeb-
liche universale Korrelation von Welt und Weltbewusstsein.
Präzisierung und Ausgestaltung der Sinn- und Geltungsimplika-
tionen des hierdurch aufgewiesenen neuen Korrelationsapriori: Er-
schließung des »Reich[s] des Subjektiven«, innerhalb dessen »Sinn-
gestalten« als »Gestaltbildungen« konstituiert werden. Das »geistige
Material« dieses Reichs des anonymen Subjektiven als »beseeltes
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14 Analytisches Inhaltsverzeichnis
Leben« der transzendentalen Subjektivität. Die weltkonstituierende
Leistung dieser anonymen Subjektivität.
Die Frage nach dem Zusammenhang von »Geltung« und »Sein«.
Die traditionelle Unterscheidung zwischen »Genese« und »Gel-
tung«. Die zweifache Überschreitung der dieser klassischen An-
sicht entsprechenden Grenze bei Fichte (bezgl. des spezifischen
Sinns des Seins des Transzendentalen) und bei Husserl (bezgl. der
Gleichursprünglichkeit von Sein und Geltung im Begriff der »Seins-
geltung«).
Aufweisung der grundlegenden spezifischen Thematisierungs-
art der Lebenswelt: Notwendiges Richten des Blicks – in einer ei-
genartigen Umkehr desselben – auf die fungierenden Leistungen
einer »synthetischen Totalität«, die das Zustandekommen der vor-
gegebenen Welt ermöglicht. Der Sinn dieser »Vorgegebenheit« der
Welt. Herausstellung der ursprünglichen Zusammengehörigkeit
von »Sein« und »Geltung«. Konkretisierung der Idee einer »Wis-
senschaft der Lebenswelt«.
Grundlegende Revision der phänomenologischen Methode durch
die von Hume angestoßene Erschütterung des Objektivismus, die
dem Ansatz der transzendentalen Phänomenologie zugrunde liegt.
Fünf Hauptkritikpunkte innerhalb dieser Revision:
1.) Das transzendentale Verständlichmachen. Skizzierung der
neuen Grundaufgabe der Phänomenologie: die Erkenntnisverständ
lichmachung an Stelle der Erkenntnislegitimation. Die entschei-
dende Rolle der Sinnbildung in diesem Neuentwurf. Die spezifi-
sche Funktion der »Intersubjektivität« (allerdings nicht im Sinne der
»Vergemeinschaftung«) im hierin ausgewiesenen »Zusammenfungie-
ren« der »Sinnbildung mit Sinnbildung«. Die notwendige (von Hus-
serl freilich nicht geleistete) Unterscheidung von »phänomenologi-
scher Reduktion« auf das Ego und »transzendentaler Induktion« auf
die anonymen Prozesse der Sinnbildung. Bestätigung der Analyse
durch Rückgang auf zeitliche Bestimmtheiten. Die Rolle der Sinn-
bildung für die teleologische Ausrichtung in Husserls Vernunftlehre.
2.) Hinterfragung der anschaulichen Evidenz als »Prinzip aller
Prinzipien«. Die Rolle der unanschaulichen Bewusstseinsweisen
für die Prozesse der Sinnbildung und die daraus resultierende In-
fragestellung der evidenten Anschauung als höchstem Prinzip der
Phänomenologie. Die Umkehr des Verhältnisses von Ego – cogi-
tatio – cogitatum im Weg von der Lebenswelt aus im Gegensatz
zur Vorgehensweise innerhalb des cartesianischen Wegs. Die Neu-
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Analytisches Inhaltsverzeichnis 15
Akzentuierung der Phänomenologie in der Krisis-Schrift gegenüber
früheren Ansätzen.
3.) Kritik an der vorherrschenden Rolle der gegenwärtigen
den Bewusstseinsmodi. Jedes Bewusstsein impliziert »Darstellun-
gen von«, die auf das »universale Korrelations-Apriori« verweisen.
Diese Darstellungen implizieren Modi der Vergegenwärtigung,
ohne die »Objekte und Welt nicht für uns da wären«. Das Beruhen
des objektiven Daseins auf den verschiedenen Modi der Vergegen
wärtigung.
4.) Kritik der phänomenologischen Deskription. Der Boden der
»objektiven« Erkenntnis und der Boden der »transzendentalen« Er-
kenntnis. Das hieraus resultierende Problem einer »doppelten Wahr-
heit«. Zurückweisung des Gedankens, die objektive Wissenschaft
stelle die universale Wissenschaft dar. Ablehnung der Auffassung,
es gebe eine deskriptive Wissenschaft der ursprünglich konstituie-
renden transzendentalen Sphäre. Hervorhebung des genuinen »Er-
forschens«, das hier an die Stelle der Deskription treten muss. Das
Ungenügen der Husserl’schen Ausführungen bezgl. der Alternative
zur deskriptiven Methode.
5.) Paradoxie der Bewusstseinsvernichtung. Herausstellung der
»Paradoxie« zwischen weltzugehöriger Subjektivität und Unmög-
lichkeit eines solchen Zugehörens innerhalb des radikalen Verständ-
nisses der Weltkonstitution. Husserls Aufweisung der Spannung
zwischen doxischer und transzendentaler Einstellung. Notwendig-
keit einer Erschaffung des Erkenntnisbodens »aus eigener Kraft«
und entsprechender Nichtigkeit des Subjekts. Unterscheidung zwi-
schen zwei Reflexionsstufen und zwei entsprechenden Arten der
Epoché. Die »einzigartige philosophische Einsamkeit« des weltlosen
Ich qua methodische Grunderfordernis einer radikalen Philoso-
phie. Die »innere Methode« der Phänomenologie. Die drei Schritte
der »Auflösung der Paradoxie«: 1.) Konstitution der primordialen
Sphäre, aus der alles auf andere Ichlichkeit Bezogene ausgeschlos-
sen wird; 2.) Fremdwahrnehmung durch Ent-fremdung (in Analo-
gie zur »Selbstzeitigung durch Ent-Gegenwärtigung«); 3.) Selbst-
objektivation des transzendentalen Ich im Menschen. Verlagerung
der Spannung von doxischer und nicht-doxischer (transzendenta-
ler) Einstellung, von weltzugehörigem und nicht-weltzugehörigem
transzendental-konstituierendem Ich, auf jene von absolut einzigem
(Ur-)Ich und Intersubjektivität, die dann ihrerseits für Weltlichkeit
und Objektivität konstitutiv ist.
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16 Analytisches Inhaltsverzeichnis
Zweifache Entgegensetzung zwischen Husserl und Heidegger
bezgl. des allgemeinen Denkansatzes und der Rolle der Intersub-
jektivität (wodurch Husserls Position sich gleichsam »avant la lettre«
jener von Levinas annähert).
Finale Grundbetrachtung über die phänomenologische Methode.
Methodische Grunddifferenz zwischen der Phänomenologie und
den Naturwissenschaften (transzendentales Verständlichmachen vs.
jede Form des Erklärens). Phänomenologie stellt keine Erkennt-
niserweiterung dar, sondern vollzieht ein Rückfragen hinsichtlich
des Sinns und der Seinsgeltung. Die Grenzen des Husserl’schen An-
satzes aufgrund dessen Beschränkung auf das transzendentale Ego.
III. Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
Kapitel V: Die transzendentale Phänomenologie der
Sinnbildung und der »spekulative Realismus«
Der Grund für die Konfrontation der Phänomenologie mit dem
»spekulativen Realismus« Quentin Meillassouxs: die Herausforde-
rung für die Phänomenologie, sich mit dem spekulativen Denken,
also mit der Frage nach dem »Absoluten« und dem »Prinzip« aus-
einanderzusetzen. Gliederung des Kapitels.
Nachzeichnung des »Arguments der Anzestralität«. Erläute-
rung der korrelationistischen These, derzufolge die Anzestralität
sich durch eine transzendentale »Retrojektion« erklären lässt. Zwei
Einwände Meillassouxs und ihre Zurückweisung von Seiten des
Korrelationismus.
Meillassouxs Grundargument gegen den Korrelationismus: die
Unfähigkeit des Korrelationismus, »die notwendige Grundlage frei-
zulegen«, um die »reziproke Relation von Subjekt und Welt jenseits
der Instanziierung in einer Gemeinschaft sterblicher Individuen zu
hypostasieren«. Seine Behauptung der Sinnlosigkeit einer Entkopp-
lung von transzendentalem Bewusstsein und seiner empirischen Ver-
körperung. Meillassouxs Argumente zur Erhärtung dieser These:
1.) Behauptung der Unmöglichkeit, »subjektivierte« Vergangen-
heit und »anzestrale« Vergangenheit auf dieselbe Stufe zu stellen;
2.) These der Unhaltbarkeit des transzendentalphänomenologischen
Standpunktes, da ein realistischer Standpunkt die Bedingung für
den Sinn aller phänomenologischen Aussagen sei; 3.) Unterschei-
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Analytisches Inhaltsverzeichnis 17
dung von der »lückenhaften Gegebenheit« und der »Lücke der Ge-
gebenheit«. Meillassouxs Möglichkeitsbegriff. Gegenargument des
Korrelationismus: die Unvereinbarkeit des Status des Subjekts in der
Phänomenologie mit dem bei Meillassoux (da die Phänomenologie
das Subjekt der phänomenologischen Epoché unterwirft, was von
Meillassoux aber nicht anerkannt wird).
Meillassouxs »Antinomie der Anzestralität«. Seine Unterschei-
dung von Korrelationismus, Subjektivismus (subjektivistischer Me-
taphysik) und spekulativem Realismus, und die darin implizierte
Unterscheidung von Kontingenz, Faktizität und Archi-Faktizität.
These des Korrelationismus: die Entabsolutierung der Korrelation.
These des Subjektivismus: die Verabsolutierung der Korrelation.
These des spekulativen Realismus: die Verabsolutierung der Archi-
Faktizität der Korrelation (= Faktualitätsprinzip) als Prinzip der
Loslösung vom Korrelationismus. Kritische Anmerkung zur Me-
thode: die Schöpfung der Sachproblematik aus dem phänomenalen
Gehalt (= phänomenologische Verfahrensweise) vs. kombinatori-
sche Verfahrensweise des spekulativen Realismus.
Meillassouxs Argument der Verabsolutierung: das notwendige,
»tatsächliche Gedacht-Werden« des Absoluten. Skizzierung der Ge-
genposition eines phänomenologischen »spekulativen Idealismus«,
der zufolge eine solche »Denkbarkeit« nur im Rahmen des Korrela
tionismus einen Sinn hat.
Grundlegung des »phänomenologischen spekulativen Idealis-
mus« bzw. »spekulativen Transzendentalismus«. Die »transzenden-
tale Matrix des Korrelationismus«. Drei Grundmotive der Heraus-
arbeitung dieser Matrix: der gegenseitige Verweis von Korrelativität
(Korrelation), Signifikativität (Sinn) (und damit zusammenhängend:
Erscheinungshaftigkeit) und Reflexivität (Reflexion). Diese Matrix
besteht – in einem selbstreflexiven Prozess – im jeweiligen Vollzug
dreier qualitativ unterschiedlicher Selbstreflexionen. Nähere Erläu-
terung der »transzendentalen Induktion«.
Erste Selbstreflexion: Sie geht auf das In-den-Vorgriff-Nehmen
a.) der Bewusstseinsstruktur; b.) des Entwurfs auf Sinn; c.) des Be-
griffs der Erkenntnisverständlichmachung. Hierbei bricht eine drei-
fache Dualität von Subjekt und Objekt, von entworfenem und sich
gebendem Sinn und von Urbild und Abbild des Prinzips der Er-
kenntnisverständlichmachung auf.
Zweite Selbstreflexion: sie reflektiert diese drei Dualitäten. Hier
aus ergeben sich: a.) das Selbstbewusstsein; b.) die hermeneutische
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18 Analytisches Inhaltsverzeichnis
Wahrheit; c.) die »Plastizität« als entwerfendes Vernichten bzw. ver-
nichtendes Entwerfen.
Dritte Selbstreflexion: Sie erschließt in einer verinnerlichenden
Selbstreflexion: a.) die Präimmanenz bzw. Präphänomenalität als
»choratische Sphäre der ›transzendentalen Induktion‹«; b.) Genera-
tivität; c.) transzendentale und transzendierende Reflexibilität. Ver-
stehensermöglichung und Seinsermöglichung. Das transzendentale
Reflexionsgesetz (»ermöglichende Verdoppelung«). Der »ontologi-
sche Überschuss« als »Träger der Realität«. Die Tafel der transzen-
dentalen Matrix des Korrelationismus.
»Reflexibilität« als »Prinzip« des Korrelationismus bzw. des phä-
nomenologischen spekulativen Idealismus. Die drei Grundbestim-
mungen des Seins als »Absolutem« des Korrelationismus bzw. des
phänomenologischen spekulativen Idealismus: 1.) »Vor-Sein« bzw.
»Vorgängigkeit«; 2.) Ontologischer »Überschuss«; 3.) »Seinsfundie-
rung«. Sein als »vorgängige, fundierende Überschüssigkeit«.
Kapitel VI: Der Sinn der Realität
Die zwei Grundvoraussetzungen von »Realität«: Perspektivität
und transsubjektive Überschüssigkeit. Die der Realität zugrunde-
liegende Frage nach der Möglichkeit von real Erscheinendem über-
haupt. Zwei neue, hieraus resultierende Fragestellungen: Worin
besteht jenes »Zwischen« zwischen der Perspektivität und der Über-
schüssigkeit? (Das ist die Frage nach dem ursprünglichen »Wohin«
jedes Bewusstseinsbezugs.) Andererseits liegt der Perspektivität die
»ontologische Beschaffenheit« des menschlichen Daseins (Heideg
ger) zugrunde. Wie hängen jenes »Zwischen« und diese Bestimmung,
die jeden Weltbezug gleichsam »färbt«, zusammen?
Erneute Betrachtung des Begriffs des »Korrelationismus« (aus
historiographischer Sicht). Der Korrelationismus und die Kanti-
sche »Kopernikanische Revolution«. Kants »Transzendentalismus«.
Kants »Phänomenismus«. Der Bruch der Korrelations-Problematik
im transzendentalen Ansatz Kants: die »ontologische Prekarität der
Realität«. Heideggers Auseinandersetzung mit Descartes hinsicht-
lich der »Realität der Außenwelt«. Descartes »Gnoseologismus«.
Heideggers dreifache Kritik an demselben. Vier Grundfiguren des
Korrelationismus: 1.) Kants Anbindung der transzendentalen Ap-
perzeption an seine Lehre des Urteilens; 2.) Fichtes nicht reduzier-
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Analytisches Inhaltsverzeichnis 19
bare Sein-Denken-Korrelation als Antwort auf die dogmatischen
Ontologien der vorkantischen philosophischen Tradition; 3.) Hus-
serls Intentionalanalytik; 4.) Heideggers Daseinsanalytik.
»Sinnbildung« als zentraler Begriff des phänomenologischen
Korrelationismus. »Konstitution« und »Genese« laut Husserl. »Sta-
tische« und »genetische« Phänomenologie. Auszeichnung der »ge-
netischen« Perspektive durch das Zusammendenken von »Bedin-
gung« und »Geschichte«.
Die drei Grundaspekte der Sinnbildung: 1.) bildend-erzeugende
Genese; 2.) Einbildung; 3.) Bildlichkeit qua bildend-schematisie-
rende Prozessualität. Richirs Beitrag zur Bestimmung der Genese.
Richirs Auffassung von Einbildung (qua Phantasie).
Der Status der »Bildlichkeit« und der »bildend-schematisieren-
den« Prozesse in der Sinnbildung. Zweck dieser Ausführungen: Be-
gründung der »Phänomenalität des Phänomens« und Vertiefung des
Status der Realität.
Das »Urphänomen der Sinnbildung«. Die These von der Gleich-
setzung von Realität und Bild. Die These von der Gleichsetzung
von Phänomen und Bild. Sinnbildung und phänomenologische Kon
struktion. Noch einmal zur »transzendentalen Induktion«. »Erstes
Bild« des Urphänomens: der Entwurf eines Abbildes der Erkennt-
nisverständlichmachung. »Zweites Bild« des Urphänomens: die aus-
bildende Plastizität qua »entwerfendes Vernichten« bzw. »vernich-
tendes Entwerfen«. »Drittes Bild« des Urphänomens: Reflexibilität
als verinnerlichendes Reflexionsgesetz. Verstehensermöglichung
(transzendentale Reflexibilität) und Seinsermöglichung (transzen-
dierende Reflexibilität). Das »dritte Bild« des Urphänomens als ein
bildende Prozessualität. Seinsüberschuss als »Träger der Realität«.
Die Genese der Phänomenalität als Phänomenalität. Phänomena-
lität als »ausstehende Inständigkeit« (Heidegger). Realität als not-
wendiges Binden des Seins an »ausstehende Inständigkeit«. Realität
als »Seins-inständig-Ausständigkeit«, »Onto-eis-ek-stasis« bzw. als
»Seinsendoexogeneität«.
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Vorwort
Die Beantwortung der Frage, »was Phänomenologie sei«, geht of-
fenbar davon aus, dass die Phänomenologie bereits abgeschlossen –
oder zumindest in ihrer durchaus noch immer voranschreitenden
Dynamik – vorliege. Dass eine solche Annahme nicht unplausibel
ist, lässt sich schon daran ablesen, dass Vertreter mehrerer Phänome-
nologen-Generationen seit über hundert Jahren umfangreiche Sach
themen bearbeitet und unzählige Werke verfasst haben, die dieser
philosophischen Schule (oder müsste man nicht gar von »Schulen«
in der Mehrzahl sprechen?) zugerechnet werden. Gerade diese Viel-
falt macht es aber auch umso schwieriger, die Phänomenologie auf
ihr Wesen einzugrenzen und den unterschiedlichen phänomenolo-
gischen Ansätzen im beschränkten Rahmen eines kurzen Bandes ge-
recht zu werden. Wenngleich diese Untersuchung es sich vornimmt,
zumindest teilweise diese Anforderung zu erfüllen, muss doch von
vornherein betont werden, dass es sich hierbei nicht um ein ein-
führendes Handbuch in die Phänomenologie handelt – zumin-
dest, wenn dabei der Erwartung entsprochen werden soll, Grund-
kenntnisse der Phänomenologie in historischer oder systematischer
Hinsicht zu vermitteln. Solche sehr nützlichen Lehrbücher gibt es
glücklicherweise, und sie sind leicht zugänglich. Der hier verfolgte
Ansatz geht vielmehr davon aus, dass die Phänomenologie gerade
nicht geschlossen vorliegt, sondern eine Aufgabe vorzeichnet, die
z. T. von den Phänomenologinnen und Phänomenologen selbst noch
erschlossen werden muss und auch für das zeitgenössische Den-
ken über den Rahmen der Phänomenologie hinaus nutzbar gemacht
werden kann.
Diese Aufgabe besteht in der erläuternden Ausführung dessen,
was Eugen Fink, der bedeutendste Schüler der beiden Gründerväter
der Phänomenologie (Edmund Husserl und Martin Heidegger), mit
gutem Recht die »phänomenologische Grundlegungsidee«1 genannt
1 E. Fink, »Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?« (1934),
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22 Vorwort
hat. Darin spricht sich eine »konsequente Selbstbesinnung« aus, die –
sofern sie, durch einen Gestus der Radikalisierung, auf die »tran
szendentale Subjektivität« zurückgeleitet wird – als »Geltungsträger
aller Weltgeltungen« aufgefasst werden muss. Die Idee der Grund-
legung der Phänomenologie lässt sich somit nur dann verwirklichen,
wenn auf zwei Grundfragen befriedigende Antworten geliefert wer-
den können, nämlich: Wie lässt sich phänomenologische Erkenntnis
radikal verständlich machen? Und: Wie kann die Rückleitung auf
»transzendentale Subjektivität« mit der Grundlegung eines starken
Seins- bzw. Realitätsbegriffs, welcher der »Transzendenz der Welt«
Rechnung zu tragen vermag, in Einklang gebracht werden? Dabei
können diese Antworten aber nicht getrennt und unabhängig von-
einander ausgearbeitet werden, sondern es muss immer im Blick
behalten werden, dass und wie der Ansatz einer – erkenntnistheo
retisch geprägten und als transzendentaler Idealismus verstande-
nen – Phänomenologie bei Husserl mit Heideggers Ansatz einer
phänomenologischen Ontologie zusammengedacht werden kann,
wenn denn die Phänomenologie tatsächlich einen systematisch ein-
heitlichen Entwurf darstellen soll. Die Befriedigung eines solchen
Anliegens – und die Herausstellung des notwendigen Zusammen-
hangs zwischen der Verwirklichung eines solchen Entwurfs und der
Realisierung jener angesprochenen Grundlegung der Phänomeno
logie – scheint in der bisherigen phänomenologischen Literatur noch
nicht erreicht bzw. bewerkstelligt worden zu sein.
Just diesem Anliegen verschreibt sich nun dieser Essay. Er ver-
steht sich näherhin als eine Wegbeschreibung, als anfängliches Be-
schreiten unterschiedlicher Wege in die Phänomenologie. Von den
verschiedenen möglichen Wegen sollen drei ausführlicher in den
Blick genommen werden. Der erste taucht in die phänomenologi-
sche Methode ein. Diese müsste eigentlich erst zum Abschluss der
in Studien zur Phänomenologie. 1930–1939, Den Haag, M. Nijhoff, 1966,
S. 157 ff. Daher gibt dieses Buch vielleicht nicht nur auf die Frage, was Phä-
nomenologie sei, sondern insbesondere auch auf jene, was Phänomenologie
sein könne (im Hinblick auf das, was sie selbst ermögliche), eine Antwort.
Auch wird dadurch klar – der Anschluss an Fink, der ja einen sehr bedeu-
tenden Teil seines Werkes mit einer Reflexion über die Phänomenologie ver-
bracht hat, bezeugt dies bereits –, dass diese ganze Reflexion in Wirklich-
keit ein gewisses Vertrautsein mit der Phänomenologie zur Voraussetzung
hat und sich somit vor allem (aber bei Weitem nicht nur) an Leser wendet,
die sich ihrerseits schon mit der Phänomenologie auseinandergesetzt haben.
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Vorwort 23
Abhandlung Thema einer solchen Untersuchung werden (und also
am Ende stehen), sofern in der Phänomenologie die Methode nie-
mals preskriptiv sein kann, sondern in der methodischen Reflexion
immer der »Sache« entnommen werden muss. Da aber die Phäno-
menologie gemeinhin nicht zu Unrecht eben als eine »Methode«
bestimmt wird und in den ersten beiden Kapiteln die vielleicht be-
kanntesten Lehrstücke der Phänomenologie vorgestellt bzw. die
für das Folgende maßgeblichen Grundlagen geliefert werden, ste-
hen hier also doch Methodenreflexionen im Mittelpunkt des ers-
ten Wegs in die Phänomenologie. Der zweite Weg besteht in einer
historisch-systematischen Auseinandersetzung mit zwei Meilenstei-
nen der Philosophiegeschichte – genauer: mit zwei entscheidenden
Grundmotiven der Ausarbeitung der Phänomenologie, die einer-
seits im Deutschen Idealismus und andererseits im angelsächsischen
Empirismus zum Tragen gekommen sind. Dies bietet die Gelegen-
heit, in die Grundgedanken einiger bedeutender programmatischer
phänomenologischer Schriften (wie etwa in Husserls Krisis-Schrift)
einzuführen. Der dritte Weg sucht die Auseinandersetzung der Phä-
nomenologie mit einer zeitgenössischen Position – nämlich dem
»spekulativen Realismus« –, wodurch der Anlass geliefert wird, ei-
nen »phänomenologischen spekulativen Idealismus« zu entwerfen
und den fundamentalen Begriff der Realität von einer transzenden-
talphänomenologischen Perspektive aus zu beleuchten.2 Ein vierter
Weg, welcher der naheliegendste und vielleicht sachlich auch an-
gemessenste wäre, muss (mit einer wichtigen Ausnahme)3 parado-
2 Man könnte die hier vorgelegten Analysen allerdings auch anders aus
legen und darin zwei Wege in die Phänomenologie erkennen. Der erste Weg
würde hierbei – Heideggers und Husserls Entwürfe zusammenführend – die
Betonung auf einen phänomenologisch-hermeneutischen Ansatz legen, der
in der Auffassung gipfelte, Phänomenologie leiste ein »transzendentales
Verständlichmachen« (was also durchaus eine transzendentale Dimension
innerhalb dieser phänomenologischen Verstehensweise stark machte). Der
zweite Weg würde dann eher den transzendental-idealistischen Ansatz der
Phänomenologie hervorheben, wobei allerdings nicht die Zurückführung
auf eine egologische Instanz, sondern die Einführung in die anonyme Sphäre
der Sinnbildung im Vordergrund stünde, was Husserls späte Arbeiten an die
neuere (insbesondere französischsprachige) Phänomenologie anzubinden
gestattete.
3 Diese Ausnahme besteht in der phänomenologischen Analyse der »tran-
szendentalen Matrix des Korrelationismus« (Kapitel V) sowie des darin ent-
haltenen »Urphänomens der Sinnbildung« (Kapitel V und VI).
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24 Vorwort
xerweise ausgespart bleiben – ein Weg, der danach verlangt hätte,
sich in präzise Sachfragen einzuarbeiten und die höchst umfang-
reiche konkrete Forschungsarbeit zur Sprache zu bringen. Dieser
Verzicht geschieht aus Gründen der inneren Gleichgewichtung der
Abhandlung und insbesondere auch wegen des Dilemmas, hier aus
Platzgründen eine Auswahl treffen zu müssen, die in jedem Fall von
der konkreten phänomenologischen »Arbeitsphilosophie« bloß ein
partielles Bild hätte vermitteln können. Ein solches Verfahren, das
sich dabei auch ausführlich um die Sekundärliteratur hätte bemühen
müssen, wäre aber für eine einleitende Besinnung ohnehin nur be-
dingt hilfreich gewesen, da Phänomenologie konkret zu verstehen
bedeutet, die betreffenden Analysen eigens zu vollziehen. Dies soll
somit am geeignetsten Beispiel der Phänomenologie selbst vorge-
zeichnet werden – nämlich an jener »Grundlegungsidee«, welche
eben die Grunderöffnung der Phänomenologie in erkenntnistheo-
retischer und ontologischer Hinsicht zu entfalten sucht.
Der Versuch einer Hinführung zur Phänomenologie hat, das
mag deutlich geworden sein, mit einer ernstlichen Schwierigkeit zu
kämpfen: nämlich damit, wie es möglich ist, von »der« Phänome-
nologie in einer einheitlichen Sichtweise zu sprechen, wenn von ei-
ner Darstellung der einzelnen Phänomenologen und ihrer häufig
stark voneinander abweichenden Beiträge zur phänomenologischen
Forschung abgesehen wird, zugleich aber doch der Anspruch er-
hoben werden soll, »die« Phänomenologie in ihrer systematischen
Grundposition vor- und in einigen ihrer »grundlegenden« Hin-
sichten darzustellen. Wie kann man so verschiedene Ansätze wie
die Husserls, Heideggers, Finks, Merleau-Pontys, Levinas’, Richirs
usw. so homogenisieren, dass ihre jeweilige Originalität nicht ver-
wischt wird, sondern angemessen zum Tragen kommt? Das lässt
sich nur so rechtfertigen, dass hier zwar mit möglichst viel Umsicht
und möglichst wenig Dogmatismus, aber doch auf eine deutlich be-
stimmte Weise der Standpunkt stark gemacht werden soll, dass die
Phänomenologie – aus Gründen, die der uranfänglichen Intention
der Gründerväter der Phänomenologie und auch der Anbindung
letzterer an die abendländische philosophische Tradition geschuldet
sind – ein Grundprojekt verfolgt, das den Phänomenologen trotz
ihrer jeweiligen individuellen Besonderheit einen von allen geteilten
philosophischen Horizont und eine gemeinsame Denkrichtung vor-
gibt. Der gemeinhin zu verzeichnenden Tendenz eines Rückgangs
transzendentalphilosophischer Positionen zugunsten historisierend-
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Vorwort 25
faktischer Ausrichtungen (für die etwa Foucaults Werk exempla-
risch ist), wird hier das transzendentalphilosophische4 Projekt der
Phänomenologie insofern entgegengesetzt, als gezeigt werden soll,
dass unter Bezugnahme auf gewisse philosophische Einsichten der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Phänomenologie ohne
jeden Zweifel das Potenzial zu einer zeitgemäßen, lebendigen Phi-
losophie hat und dazu an die großen Fragestellungen der abendlän-
dischen philosophischen Tradition anzuschließen vermag. Dies so
verständlich wie möglich zu machen und zu begründen, gehört zu
den Hauptabsichten der folgenden Überlegungen.5
A. S. (Schwelm / La Grande Vallée, Sommer 2018)
4 Hierbei muss freilich – und das ist eine der in dieser Untersuchung an-
zugehenden Aufgaben – der Begriff der »Transzendentalphilosophie« genau
erläutert und insbesondere herausgestellt werden, wie die Phänomenologie
sich diesbezüglich von den klassischen Auffassungen des »Transzendentalen«
abhebt.
5 Ich danke ganz herzlich Philip Flock, Till Grohmann, Fabian Erhardt und
István Fazakas für ihre präzise Lektüre des Manuskripts und für ihre äußerst
konstruktiven und fruchtbaren Anmerkungen, dank derer es an vielen Stellen
substanziell verbessert werden konnte.
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Einleitung
Was heißt, phänomenologisch
zu philosophieren?
[…] ohne die Eigenart transzendentaler Einstel-
lung erfasst und den rein phänomenologischen
Boden sich wirklich zugeeignet zu haben, mag
man zwar das Wort »Phänomenologie« gebrau-
chen, die Sache <aber> hat man nicht.1
Die Phänomenologie ist eine besondere Philosophie. Man kann sie
als eine der wirkungsmächtigsten philosophischen Strömungen seit
dem Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichnen, die zahlreiche nam-
hafte Denker hervorgebracht2 oder beeinflusst hat. Man kann ihre
eigentümliche Methode hervorheben, die Grundansätze der philo-
sophischen Überlieferung zu einer neuen Form des Philosophie-
rens, die den Anspruch auf Zukunftsgerichtetheit erhebt, umgebil-
det hat. Oder man kann ihre Offenheit für außerphilosophische In-
halte betonen, die ihr eine gewisse »Aktualität« zusichert und sie so
für einen heutigen akademischen Stil – der sich im Zauberwort der
»Interdisziplinarität« fassen lässt – geeignet erscheinen lässt.
Eines der Hauptwerke Edmund Husserls, des Begründers der
Phänomenologie, welches zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts
1 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi
schen Philosophie (1913), Husserliana III/1, S. 216.
2 Man kann mittlerweile selbstverständlich von mehreren Phänomeno-
logen-Generationen sprechen. Ihre bedeutendsten Vertreter sind m. E. Ed-
mund Husserl, Martin Heidegger, Max Scheler, Eugen Fink, Roman Ingar-
den, Jan Patočka, Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty, Emmanuel Le-
vinas, Jean-Toussaint Desanti, Jacques Derrida, Paul Ricœur, Hans Blumen-
berg, Michel Henry, Jean-Luc Marion, Marc Richir, Klaus Held, Bernhard
Waldenfels, László Tengelyi, Günter Figal.
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28 Einleitung
entscheidend zum Durchbruch dieser philosophischen Schule bei-
getragen hat, trägt den Titel: Ideen zu einer reinen Phänomenologie
und phänomenologischen Philosophie (1913). Mit dieser ungewöhn-
lichen, zweifachen Betitelung, die schwerfällig daherkommt und ir-
gendwie redundant klingt, wird offenbar zum Ausdruck gebracht,
dass mit dem Attribut »phänomenologisch« nicht ipso facto eine
»Philosophie« bestimmt wird. Und umgekehrt scheint daraus her-
vorzugehen, dass »die« Philosophie nicht von vornherein phäno-
menologisch ist, bzw. es (zumindest) bis zu jenem Zeitpunkt (noch
nicht) war.3 Nun ist es in der Tat so, dass Husserl auf eine Erneu-
erung des Philosophie-Begriffs aus ist, was also die Abgrenzung
der Phänomenologie vom herkömmlichen Philosophieverständnis
notwendig macht. »Neu« ist jener dabei insbesondere insofern, als
Husserl die philosophische Situation seiner Zeit brandmarkt und
die Philosophie auf ihre in seinen Augen wesentlichen Ursprünge
zurückführen will.
In der Einleitung zum zweiten Teil jenes Werkes, das als die
eigentliche Geburtsstunde der Phänomenologie angesehen wird,
nämlich der einige Jahre zuvor erschienenen Logischen Unter
suchungen (1900/1901), fordert Husserl, »auf die ›Sachen selbst‹
zurück[zu]gehen«.4 In diese bekannte Losung der Phänomenologie
fließen diese beiden Motive – die kritische Beurteilung der allgemei-
nen Lage der Philosophie und die Erinnerung an ihre Ursprungs-
ideen – ein. Sein Seitenblick auf die Philosophie und die Philosophen
um sich herum ist dabei aber kein historisch begrenzter. Husserl be-
zieht sich nicht bloß auf seine Zeit, sondern er hat es auf eine struk-
turelle Problematik abgesehen. Zumindest ist er, dass soll hierbei
betont werden, für seine Nachfolger und auch für uns noch höchst
aktuell, denn seine Analysen beschränken sich für seine heutigen
Leser nicht mehr auf eine bloß philosophieinterne Angelegenheit,
sondern betreffen gewissermaßen das wissenschaftliche und somit
auch geistige, kulturelle und politisch-soziale Gesamtbild des Sei-
enden. Das Wissen scheint darin nämlich offenbar nicht mehr an
3 In diesem Titel verweisen die pychologisch-empirische »Reinigung« der
Phänomenologie und die transzendental-phänomenologische Grundlegung
der Philosophie je aufeinander.
4 Logische Untersuchungen, Zweiter Teil, Untersuchungen zur Phänome
nologie und Theorie der Erkenntnis, 3, Max Niemeyer, Halle a. S., 1901, Ein-
leitung, § 2, S. 7.
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Was heißt, phänomenologisch zu philosophieren? 29
seine genuinen Ursprünge zurückgebunden zu sein. Das ruft aber
unweigerlich eine kritische Haltung hervor, denn was soll ein Wissen
sein, das sich in einen vorgegebenen, dem Wissenden aber gar nicht
mehr durchsichtigen Rahmen einschreiben soll? Aus diesem Grund
hat die von jeher eine Wissensbegründung und -rechtfertigung an-
strebende Phänomenologie eine fundamental kritische Dimension.
Worin besteht nun ihre Kritik der Philosophie, und inwiefern ist der
Rückgang auf deren Ursprünge dabei hilfreich und nützlich?
Für Husserl geht die Philosophie, um dies zunächst einmal ganz
allgemein darzulegen, seit den letzten Jahrzehnten des neunzehnten
Jahrhunderts auf eine zweifache Art und Weise in die Irre oder gar
ins Leere – nämlich in ihrem Bezug zur Welt als der Gesamtheit des
Seienden und Erscheinenden einerseits, und zu sich selbst als funda-
mentalem Diskurs, der dessen Seinssinn aufklären soll, andererseits.
Entweder hält sich die Philosophie lediglich an das positiv Gegebene,
empirisch Nachprüfbare, mathematisch Erklärbare – dann wird sie
zur Magd der Naturwissenschaften; oder sie igelt sich in ihrem uni-
versitären Betrieb ein, betreibt Philosophiegeschichte und verliert
jeden Bezug zur ständig und immer schneller sich wandelnden Rea
lität. Dabei ist die Grundtendenz jeweils dieselbe: Die Philosophie
wendet sich nicht mehr dem Seins- und Sinnursprung zu, sondern
seinen faktischen Absetzungen im objektiv Wahrnehmbaren und
Gegebenen (Empirismus, Positivismus, Funktionalismus) bzw. er-
schöpft sich im flachen Wiederholen der Lehren von Denkern ver-
gangener Zeiten, was – zusammengenommen – eine eigene, in ge-
wisser Weise allerdings weltabgewandte Disziplin (»Philosophie«
als lediglich akademische Philosophiehistorie) zeitigt. Beides hängt
dabei miteinander zusammen: Es besteht in der Tat ein gewisser Zu-
sammenhang zwischen einer Hinwendung zur starren Objektivität,
deren Konstitution und Genetizität dabei ignoriert oder übersehen
wird, und einem Nachkonstruieren ursprünglich lebendigen Den-
kens, das in diesen Nachkonstruktionen zu toten Buchstaben ge-
rinnt. Demgegenüber fordert Husserl nun also ein Zurück »zu den
Sachen selbst«. Wie sind diese zu verstehen?
Die »Sachen« der Phänomenologie sind, wie der Titel unschwer
erahnen lässt, die »Phänomene«. Das »Phänomen« in der Phänome-
nologie verweist dabei von vornherein auf einen schwierigen, subti-
len Aspekt, welcher ihr einen Interpretationshorizont eröffnet, der
sie von Anfang an zu einer (quasi unendlich) offenen »Arbeitsphi-
losophie« werden lässt. Die Phänomene sind die »Dinge« in ihrem
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30 Einleitung
(möglichen) Erscheinen. Philosophie kann sinnvoll von »etwas« nur
handeln, wenn dieses »Etwas« »sich gibt«. Gegenständlichkeit ist
von Denkbezüglichkeit nicht abzulösen. Das heißt nicht, dass wir
uns die Dinge so vorstellen müssen, als stehe ihnen je wirklich ein
Bewusstsein, ein(e) Denkende(r) usw. gegenüber. Das heißt auch
nicht, dass ein mentaler Denkakt dabei konkret vollzogen werden
muss. Damit wird vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass es ein
scheinbar natürliches, dabei aber in Wahrheit metaphysisches Vor-
urteil sei, zu meinen, die Dinge könnten als rein »an sich« seiend
angesehen werden. Der Ausgangspunkt der Phänomenologie – zu-
mindest jener Husserls – wird dann sein, diese Bezüglichkeit zum
fundamentalen philosophischen Thema zu machen. Dadurch wird
Phänomenalität von vornherein zur ursprünglichen, inneren Kor
relativität. Oder anders ausgedrückt: Das Ding, als Phänomen ver-
standen, hat immer zwei Aspekte. Einen »objektiven« Aspekt, wel-
cher der »transzendenten« Seite zuzuschreiben ist – es kommt näm-
lich dem möglichen Bewusstsein gewissermaßen »von außen« zu, ob
sich beispielsweise an jener Stelle eines geologischen Terrains eine
Mergelmine oder eine Lignit-Braunkohlemine befindet; und, was
spontan schwieriger einzusehen ist, einen »subjektiven« Aspekt, der
eben die Weise des Bewusst- und Gegebenseins bezeichnet – gleich-
sam die Seite der »Immanenz«, wobei das nicht so verstanden wer-
den darf, als gehe es hier darum, das »seelische Innere« zu untersu-
chen. Um die Bedeutung dieser »Immanenz« klarer herauszustellen,
mag ein Vergleich mit Kant hilfreich sein, der zugleich eine wichtige
Abgrenzung zu machen gestattet.
Bekanntlich wurde der Gedanke, dass wir es in der Erkenntnis
mit »Erscheinungen« und nicht mit den »Dingen an sich« zu tun
haben, als erstes von Kant in der Kritik der reinen Vernunft entwi-
ckelt. Ohne auf seine »kopernikanische Revolution« näher einzu-
gehen, soll hierbei nur ein wichtiger Aspekt hervorgehoben werden:
Kants »Phänomenismus« (von dem später ausführlicher die Rede
sein wird) liegt darin begründet, dass es ihm um die Aufweisung der
Möglichkeit notwendiger Erkenntnis gegangen ist. Kants Grund-
auffassung war, dass »Notwendigkeit«, also wohlgeordnete, apo
diktische Bestimmung und Strukturiertheit des Seienden, nicht aus
der chaotischen, sinnlichen Mannigfaltigkeit stammen könne, son-
dern durch das Subjekt in das objektiv Erfahrene gleichsam »hinein
gelegt« werden müsse. Dies galt für ihn allerdings lediglich für er
kenntnistheoretische Zwecke, gemäß dem Urteil: Soll Erkenntnis
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Was heißt, phänomenologisch zu philosophieren? 31
gerechtfertigt werden, so müssen hierzu subjektive (also auf das
»transzendentale Subjekt« zurückzuführende) apriorische Leistun-
gen angenommen werden. Dabei hat aber dieser »subjektive Aspekt«
weder eine ontologische Relevanz, noch geht dieser Ansatz über
einen hypothetisch-logischen Grundrahmen hinaus.
Ganz anders bei Husserl. Die dem Phänomen innewohnende
Korrelation von subjektiver Gegebenheitsweise und objektiver Ge-
gebenheit – bzw. das, was Husserl die Korrelation von »Noesis«
(konstituierendem Denkakt) und »Noema« (Denkinhalt der kon-
stituierten Gegenständlichkeit qua Sinneinheit), also die »noetisch-
noematische Korrelation« nennt – ist nicht etwas, was lediglich als
transzendentale Erkenntnisbedingung angenommen werden muss,
um zu erklären, wie eben Erkenntnis möglich sei. Vielmehr macht
sie in einer »transzendentalen Erfahrung«5 ein eigenes, völlig neues
zu erforschendes Gebiet aus. Hierdurch kommt dem phänomenolo-
gischen Transzendentalen ein genuiner Seinsstatus zu, der sich vom
objektiven Seienden deutlich abhebt. Die Klarstellung des phänome-
nologischen Seinsbegriffs macht ein eigenes Problemfeld innerhalb
der phänomenologischen Forschung aus.
Der phänomenologische Phänomenbegriff ist also durch eine
korrelative Struktur ausgezeichnet, die der Phänomenalität inne
wohnt. Dabei ist diese Korrelativität keine apodiktische Behaup-
tung, sondern ein aufgegebenes Forschungsfeld, ihre Analyse stellt
somit gleichsam ein immer wieder neu zu entwerfendes Projekt dar.
Hierbei muss dann auch der eigentümliche Stil der Phänomenolo-
gie Erwähnung finden: Diese versichert sich bei jedem ihrer Schritte,
dass das Aufgewiesene in seiner Aufgewiesenheit »ausweisbar« ist
und bleibt. Dadurch mutet ihr Schreibstil »didaktisch« an; vor al-
lem hat er aber die Funktion, jenes Projekt für jeden neuen Entwurf
zugänglich zu machen und es zugleich zu ermöglichen, stets auch
wieder darauf zurückzukommen. Nicht zuletzt zeugt er von der
selbstreflexiven Dimension der phänomenologischen Analysen, in
denen jeder Erkenntnisgewinn den geduldigen und transparenten
Blick auf sich selbst offenbart.
5 Siehe z. Bsp. Husserliana VIII, S. 76, S. 169 ff. oder den § 63 der Carte
sianischen Meditationen.
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32 Einleitung
Dieser Essay macht es sich zur Aufgabe, die Phänomenologie wie-
der an jene Seins- und Erkenntnisansprüche heranzuführen, die am
Höhepunkt ihres Auftretens (bei Husserl) zum ersten Mal präzise
gefasst wurden. Dies kommt in dem obigen einleitenden Zitat darin
zum Ausdruck, dass Husserl von seinen Lesern und Mitstreitern
verlangt, die Phänomenologie als »transzendentalen Idealismus«
aufzufassen und sich deren »transzendentalen Boden« zuzueignen.
Im weiteren Verlauf dieser Abhandlung wird darauf eingehend
zurückzukommen sein. Hierfür zunächst bloß ein einführender
Hinweis.
Es soll noch einmal betont werden: Der Gegenstand schlechthin
der Phänomenologie ist die Intentionalität bzw. die genuin phäno-
menologische Korrelation. Diese bezeichnet nicht vordergründig
das Verhältnis zwischen einem konkreten Objekt und einem ihm
gegenüberstehenden Bewusstseinssubjekt, sondern eine zu analy-
sierende Struktur, die jedem Phänomen (also einem bewusstseins-
mäßig Erscheinenden) »innewohnt«.6 Ganz entscheidend ist, dass
hierbei ein Richtungswechsel des Blicks statthat. Dieser Richtungs-
wechsel wurde von Husserl zumeist als die »Rückwendung« des
Blicks weg von seiner »Verschossenheit« in die Gegenstände und
hin zu den konstituierenden Bewusstseinsleistungen, die diese
Gegenstände eben zur Erscheinung bringen, aufgefasst und auch
dementsprechend zum Ausdruck gebracht. Eine solche Redeweise
könnte allerdings zu einem Missverständnis Anlass geben. Es könnte
so scheinen, als werde hierdurch wieder die Gegenüberstellung von
zwei unabhängigen Instanzen vollzogen, die allererst in Bezug zu-
einander gesetzt würden. Aber genau so darf die phänomenologi-
sche Korrelation eben nicht verstanden werden. Die Eigenart des
transzendental-phänomenologischen Ansatzes besteht genau darin,
einen Zugang zu den sinnkonstitutiven Leistungen zu suchen, der
nicht vom Vorausbestehen und Vorgegebensein eines empirisch-rea
6 Marc Richir kennzeichnet sie (in ihrem eigentümlichen phänomenolo-
gischen »Absolutheitscharakter«) völlig zu Recht als »jene instabile und
nicht eigens verortbare Grenze, jenseits welcher der Vollzug der Methode
der Epoché und der Reduktion sich als keine erfahrungsmäßig sinnvolle
Möglichkeit mehr zeigt«; Marc Richir: »Métaphysique et phénoménologie:
Prolégomènes pour une anthropologie phénoménologique«, in Phénomé
nologie française et phénoménologie allemande. Deutsche und französische
Phänomenologie, E. Escoubas & B. Waldenfels (Hg.), Paris, L’Harmattan,
2000, S. 106.
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Was heißt, phänomenologisch zu philosophieren? 33
len Subjektes ausgeht. Alle Anstrengungen gelten den zu vollbrin-
genden Analysen der sinnkonstituierenden Leistungen, die das Feld
der »transzendentalen Erfahrung« ausbilden und den Sinn von realer
Vorhandenheit, Vorgegebenheit, Beständigkeit allererst verständlich
werden lassen. Husserl bezeichnet das, wie wir sehen werden, als
die Herausforderung an die transzendentale Phänomenologie, »sich
aus eigener Kraft selbst einen [Erkenntnis- und Seins-]Boden zu
schaffen«.7 Und es wird dann darum gehen, die Voraussetzungen
und Implikationen dieser transzendental-»idealistischen« Grund-
haltung dergestalt in die Phänomenologie hineinzunehmen, dass
dieses innere Besinnen auf die ursprünglich transzendentale Sphäre
und dabei selbstverständlich auch diese selbst zum phänomenolo-
gischen Phänomen gemacht werden.
Die Position der Phänomenologie kann auch noch auf eine andere
Weise erläutert werden. Hierzu soll ein Beispiel dienen, welches ihre
Angebundenheit an eine wichtige Debatte innerhalb der zeitgenössi-
schen Philosophie anschaulich zu machen gestattet. In der Tat ver-
mag der Hinweis auf eine bekannte, von Ernst Tugendhat initiierte
Diskussion, die bedeutsamen erkenntnistheoretischen und ontolo-
gischen Implikationen der Phänomenologie zu beleuchten.
In seinen Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische
Philosophie8 hatte dieser ausgezeichnete Kenner des Werks von
Husserl und Heidegger eine bemerkenswerte Vergleichsstudie von
sprachanalytischer Philosophie und Phänomenologie vorgelegt,
deren Grundgedanke bei ihm in einer Kritik der Phänomenologie
mündete. Diese kritische Ausarbeitung besagt, dass die Phänomeno-
logie noch insofern der traditionellen Problematik der Philosophie
verhaftet sei, als sie zwei »semantische Voraussetzungen« mache, die
auf die Frage nach dem Seienden qua Seienden (ontologische Vor-
aussetzung) und dessen Bewusstseinsgegebenheit (transzendentale
Voraussetzung) ausgerichtet seien.
7 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzen
dentale Phänomenologie, Husserliana VI, S. 185.
8 E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Phi
losophie, Frankfurt am Main, Suhrkamp (stw), 1976.
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34 Einleitung
Diese Voraussetzungen beträfen sowohl die traditionelle Philoso-
phie im Allgemeinen (etwa den »Platonismus« oder den »Begriffs
realismus«) als auch die Phänomenologie im Besonderen. Sie bestün-
den in einem Extrapolieren der Auffassung, wonach das allgemeine
Verhältnis von Name und Ding als Modell dafür herhalte, jegliche
Bedeutung als Ausdruck für etwas – und das heißt: für einen Gegen
stand – aufzufassen. Dies gelte nicht nur für Eigennamen und ge-
genstandsbezogene Beschreibungen, sondern insbesondere auch für
Prädikate und logische Junktoren. Hierdurch werde eine Dreiheit
von »Ausdruck – Bedeutung – Vorstellung« aufgewiesen, bei der
die Bedeutung als eine Art Platzhalter für etwas aufgefasst werde.
Tugendhats grundlegende Kritik trifft dabei mithin die allgemeine
(vermeintlich phänomenologische) Annahme, Bedeutung (qua We-
sen, Wesenheit, Eidos) je als eine Art Gegenständlichkeit aufzufas-
sen – ein allgemeiner Rahmen, innerhalb dessen die Phänomenologie
also die erkenntnistheoretische (bzw. »transzendentale«) Frage nach
der Möglichkeit des (immer irgendwie gegenständlich) Seienden für
das Bewusstsein und die ontologische Frage nach dem seinsspezifi
schen Status dieses Seienden stelle.
Tugendhats Kritik geht aber noch weiter. Wenn dem nämlich so
wäre, dann müsste der Sprache eine Vermittlungsfunktion zwischen
dem Seienden und dem Bewusstsein zuerkannt werden. Demge-
genüber würde sich das von der Phänomenologie zum originären
Forschungsfeld erklärte Bewusstsein aber – als der Art, wie Seien-
des gegeben ist – auf Außerbewusstes, Außersprachliches beziehen –
wobei es gleichgültig ist, ob hier (wie Heidegger das für die traditio
nelle Metaphysik behauptet) dem »Sehen« ein Vorrang zukommt
oder nicht. Die beiden angesprochenen Grundvoraussetzungen – die
»ontologische« und die »transzendentale« – laufen also auf einen
metaphysischen »Chorismos« von Sprachlichem (Bewusstseinsmä-
ßigem) und Außersprachlichem (Nicht-Bewusstseinsmäßigem) hin
aus, was Tugendhat von Grund auf und im Namen einer sprach
analytischen, nicht-phänomenologischen Konzeption ablehnt.
Dieser Auffassung setzt Tugendhat selbst ein theoretisches Mo-
dell entgegen, das die Idee eines intentionalen Bezugs auf Außer-
bzw. Vorsprachliches – Husserl sprach ja explizit von »Vorprädi-
kativität« – abweisen zu können meint. Seine Ausarbeitung stellt in
gewisser Weise, dies wird zumindest von ihm selbst so beschrieben,
eine Synthese des »zweiten Wittgenstein« und Freges dar. Der Ver-
fasser der Philosophischen Untersuchungen hatte eine Bedeutungs-
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Was heißt, phänomenologisch zu philosophieren? 35
theorie entwickelt, in der die Bedeutung mit den Regeln des sprach
lichen Gebrauchs gleichgesetzt wurde. Diese Theorie verbindet Tu-
gendhat nun mit jener (früheren), die im berühmten Aufsatz »Sinn
und Bedeutung« von Frege entwickelt wurde und die Bedeutung mit
dem Wahrheitswert einer Aussage – also der möglichen Aufweisung
der Bedingungen der Wahrheit – identifiziert hatte.
In der Phänomenologie stellen die Dinge sich in Wirklichkeit
aber genau umgekehrt dar. Das lässt sich anhand der unausgespro-
chenen Voraussetzungen oder Grundannahmen erweisen, die den
beiden Teilen der Tugendhat’schen Argumentation zugrunde liegen.
Bezüglich des ersten Teils derselben – der Gleichsetzung von Bedeu-
tung und sprachlichen Gebrauchsregeln – ist zu fragen, wodurch die
Regeln genau die Regeln für diese Bedeutung sein können. Worauf
gründet dieser Gebrauch? Weshalb werden die Regeln gerade so und
nicht anders verwendet? Hier scheint also etwas vorzuliegen, was
diesen geregelten Gebrauch ermöglicht. Was den zweiten Teil an-
geht – die Rückführung der Bedeutung auf den Wahrheitswert, die
für Tugendhat eben gerade die Antwort auf dieses Problem dar-
stellt –, muss darauf hingewiesen werden, dass die hier einschlägige
Konzeption der Wahrheit selbst, nämlich die sogenannte »Korres-
pondenztheorie« der Wahrheit, eine Voraussetzung macht, welche
die Phänomenologie aus guten Gründen gerade vermeidet. Diese
Voraussetzung besteht in der notwendigen Vorgegebenheit eines un-
gefragt als objektiv vorausgesetzten Seienden, an das die Aussage
sich dann im Wahrheitsfall anzugleichen habe. Diese beiden Teile
von Tugendhats argumentativer Ausarbeitung verlangen somit zu-
gleich zu wenig und zu viel. Zu wenig – da der »gelungene«, wohl
fundierte Sprachgebrauch durch »etwas« ermöglicht wird, das hier
schlicht ignoriert oder gar unterschlagen wird. Zu viel – da die Be-
deutungsauffassung hier auf der metaphysischen Voraussetzung der
Vorgegebenheit der Welt und dem Seienden in derselben beruht, die
doch selbst überhaupt erst erwiesen und begründet werden muss.
Was kann nun von Seiten der Phänomenologie hierauf erwidert wer-
den? Worin soll jenes »Etwas« außerhalb jeglicher metaphysischer
Vorentscheidung bezüglich eines objektiven Seienden bestehen?
Die Antwort nimmt ihren Ausgangspunkt in der Klarstellung der
von der Phänomenologie angestrebten metaphysischen Vorausset
zungslosigkeit. Damit ist gemeint, dass bezüglich der ontologischen
Vorannahmen hier keinerlei Voraussetzungen getroffen werden. Die
phänomenologische Epoché vollzieht eine Außer-Geltung-Setzung
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36 Einleitung
der Seinsthesis, um für die gebotene ontologische Offenheit und
Neutralität zu sorgen.
Das ist aber noch nicht alles. Tugendhats Auffassung ist, dass eben
gerade weil die Gesamtheit der Regeln des sprachlichen Gebrauchs
nach einer epistemischen Fundierung verlangt, der Rückgang auf
die (auf die Bedingungen der Wahrheit gegründete) Frege’sche Be-
deutungstheorie nötig sei. Hieran sind nun aber aus phänomeno-
logischer Sicht zwei Punkte zu bemängeln. Erstens ist, wie gesagt,
die darin implizierte Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht me-
taphysisch voraussetzungslos; und zweitens blendet diese Bedeu-
tungslehre den wesenhaften Sinngehalt hierbei völlig aus. Anders
gesagt: Tugendhats Ansatz steht der Phänomenologie insbesondere
insofern entgegen, als er – in der Folge Wittgensteins – radikal anti-
essentialistisch ist. Dabei muss aber – wenn man die Phänomenolo-
gie als »Essentialismus« betrachtet – der hierbei in Anspruch genom-
mene »Wesens«begriff auch treffend und getreu wiedergegeben wer-
den. Husserls Wesensauffassung ist nämlich keine platon(ist)ische.
Auch werden in der Phänomenologie die beiden Argumentations-
teile umgekehrt und zudem grundlegend anders entwickelt. Zuerst
geht es um die Bedingungen der »Wahrheit« – aber eben nicht unter
der Inanspruchnahme der korrespondenztheoretischen Wahrheits-
lehre, sondern im transzendental-phänomenologischen Rahmen
(welcher, wie in Kapitel V ausführlich dargelegt werden wird, einen
»generativen« Wahrheitsbegriff zeitigt); und dann geht es um die
Regeln der angemessenen Erfassung (nämlich in der phänomenolo
gischen Reflexion) des Sinns und der Bedeutung – was (siehe Kapi-
tel V und VI) die grundlegende Analyse der sinnbildenden Prozes
sualität erfordert. Die ontologische Voraussetzung wird also gerade
auf der sprachanalytischen Seite vollzogen, während sie sich auf der
phänomenologischen Seite in den – in der Tat ganz bewusst auf sich
genommenen – transzendentalen, in »transzendentaler Erfahrung«
zu offenbarenden Möglichkeitsbindungen der Seins- und Erkennt-
nisgültigkeit auflösen muss. Genauso wie oben darauf hingewiesen
wurde, dass die transzendentale Phänomenologie von keiner Vor-
aussetzung eines empirisch-real existierenden Seienden (und sei dies
das Subjekt selbst!) ausgehen kann, gilt das Gleiche auch für den Sta-
tus von Sinn und Bedeutung. Die Phänomenologie ist insofern kein
»Realismus« (auf diese Frage kommt ebenfalls das Kapitel V zurück),
als eben jegliche Voraussetzung und Vorausgesetztheit nicht gänz-
lich abgewiesen, aber doch so hinterfragt wird, dass erst die dyna-
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Was heißt, phänomenologisch zu philosophieren? 37
mische Sinn-Bildung Antworten auf die Frage nach dem Status einer
solchen Voraussetzungshaftigkeit zu liefern vermag.
Zum Abschluss dieser einleitenden Überlegungen werden nun vier
Thesen aufgestellt, die für den hier zu entwickelnden Bestimmungs-
versuch der Phänomenologie als operative Leitfäden dienen können.
Jede dieser Thesen wird dabei eine Gegenthese mitformulieren, die
es jeweils abzuweisen gilt.
Erste These: These der zweifachen Voraussetzungslosigkeit. Die
Phänomenologie ist durch eine ontologische und eine gnoseologische
Voraussetzungslosigkeit gekennzeichnet. »Ontologische« Voraus-
setzungslosigkeit bedeutet – und hierin besteht gleichsam die mi-
nimale anti-realistische Position der Phänomenologie –, dass in ihr
niemals von vorgegebenem Seienden ausgegangen wird – und zwar
weder von einem vorausbestehenden, gegenständlichen »an sich«
Seienden, noch von einem wirklich bestehenden (konkreten, em-
pirischen) Subjekt. Die »gnoseologische« Voraussetzungslosigkeit
betrifft die Tatsache, dass in der Phänomenologie jederlei Stellung-
nahme – sei sie metaphysischer oder naturwissenschaftlicher Art –
zur Welt oder zum Seienden überhaupt außer Geltung gesetzt wird.
Zweite These: These der genetisierten Gegebenheit. Der eben
herausgestellten These der absoluten Unvorgegebenheit des (sowohl
subjektiven als auch objektiven) Seienden steht die These entgegen,
dass die Phänomenologie auf eine im weitesten Sinne erfahrbare, da-
bei aber in ihrem konstitutiven Sinn aufzuweisende Gegebenheit aus
ist und somit weder begrifflich-grammatische Analysen liefert noch
einen argumentationslogischen Standpunkt vertritt. Diese These ist
insofern mit der vorigen vereinbar, als die hier veranschlagte – näm-
lich die genetisierte – Gegebenheit radikal von jeder realistischen
Vorgegebenheit zu trennen ist. Das Gegebene ist also deswegen nicht
vorgegeben, weil sich dessen eigene Gegebenheit allererst im gene-
tisierenden Verfahren der Phänomenologie entfaltet und ausweist.
Dritte These: These der Korrelativität. Nur auf der Grundlage
der ersten beiden Thesen ist auch die dritte These – nämlich, dass die
Phänomenologie je die phänomenologische Korrelation zum Thema
hat – zu verstehen. Der Korrelationismus wird nicht metaphysisch
vorausgesetzt (so wie das etwa für das Ansich-Sein im metaphysi-
schen Realismus bzw. Dogmatismus der Fall ist), sondern er ist jene
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38 Einleitung
Grundstruktur des Gegebenen, die sich allererst in der phänomeno
logischen Genetisierung aufweisen und in seiner Vielgestaltigkeit
analysieren lässt. Es ist daher auch irreführend, die Phänomenologie
mit dem Standpunkt der sogenannten »Erste-Person-Perspektive«
gleichzusetzen. Wenn diese so verstanden wird, dass man auf das
Seiende nicht von einem (illusorischen) »objektiven« Standpunkt
aus hinblicken könne, sondern je die Perspektivität eines dabei al-
lerdings schon vorausgesetzten persönlichen Subjekts einnehmen
müsse, dann widerspricht dies der ersten These der phänomenologi-
schen Voraussetzungslosigkeit. Der Perspektivwechsel betrifft nicht
den vom Objekt zum Subjekt (oder zur Person), sondern, wie oben
schon kurz ausgeführt, den vom Objektivismus zum Korrelatio-
nismus, welcher die dem erscheinenden Seienden nicht reduzierbar
innewohnende Subjekt-Objekt-Struktur hervorkehrt.
Vierte These: These der Intelligibilisierung. Die Phänomenolo-
gie zielt auf Sinnaufklärung und -verständlichmachung, nicht auf
positiv(istisch)e Bestimmung des Seienden und rein logische Er-
kenntnislegitimation ab. Mit dem Begriff der »Intelligibilisierung«
soll hier deutlich gemacht werden, dass es der Phänomenologie
primär nicht um »Erklärungsmodelle« und »Erkenntnisrechtferti-
gungen«, sondern um »transzendentales Verständlichmachen« geht
(siehe Kapitel IV). Daher verfährt die Phänomenologie regressiv
(was die phänomenologische Konstruktion nicht ausschließt), d. h.
von der gegebenen Erfahrung ausgehend, um deren Sinn und Gel-
tung verständlich zu machen, und nicht progressiv – darin besteht
gerade (wie man in Anlehnung an Kants Verfahrensweise in den
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissen
schaft wird auftreten können sagen könnte) ihr Transzendentalis
mus. Es ist somit insbesondere widersinnig – und das muss in aller
Radikalität hervorgehoben werden –, die Phänomenologie irgend-
wie in Konkurrenz zu den Naturwissenschaften setzen zu wollen.
Die Naturwissenschaften sind Einzelwissenschaften, die im Rahmen
ihrer eigenen Voraussetzungen Erkenntnis zu vermehren versuchen;
die Phänomenologie bleibt dagegen der klassischen Auffassung der
Philosophie insofern treu, als sie die Welterfahrung auf ihren Sinn
und ihre Seinsgeltung hin befragt.
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Zur Methode der Phänomenologie
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Kapitel I
Die phänomenologische Methode
[…] erst vom Problem her bestimmt sich
der Sinn der Methoden.1
Bevor das angepeilte Ziel einer Verwirklichung der »Grundlegungs-
idee« der Phänomenologie konkret in Angriff genommen werden
kann (was erst ab dem Kapitel V möglich sein wird), ist es erforder-
lich, die Grundbegriffe der Phänomenologie – und das heißt dabei
immer auch ihrer Methode – ausführlich vorzustellen. Dass die Phä-
nomenologie in erster Linie als eine Methode aufgefasst wurde und
weiterhin auch als eine solche bestimmt werden muss, ist hinläng-
lich bekannt.2 Hierzu einige einschlägige Belege: »An der Jahrhun-
dertwende ist im Ringen der Philosophie […] um eine streng wis-
senschaftliche Methode eine neue Wissenschaft erwachsen, in eins
mit einer neuen Methode philosophischer […] Forschung. Die neue
Wissenschaft nannte sich Phänomenologie, da sie, bzw. da ihre neue
Methode durch eine gewisse Radikalisierung einer schon vordem
[…] geübten phänomenologischen Methode entsprungen ist. […]
Also die Radikalisierung dieser methodischen Tendenzen […] war
es […], die zu einer neuartigen Methodik […] und zugleich zu einer
neuartigen Behandlung spezifisch philosophischer Prinzipienfragen
<führte>.«3 »Phänomenologie ist, wenn sie sich recht versteht, der
Begriff einer Methode.«4 »<D>as ist der wesentliche Punkt: Nicht
um ein System von philosophischen Sätzen und Wahrheiten handelt
1 E. Fink, »Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls«, in Stu
dien zur Phänomenologie. 1930–1939, Den Haag, M. Nijhoff, 1966, S. 180.
2 Eine erste Fassung dieses Kapitels ist unter dem Titel »Die phänomeno
logische(n) Methode(n)« in der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und
Ethik (V. Albus (Hg.), Nr. 3/2018) erschienen.
3 E. Husserl, »Amsterdamer Vorträge« (April 1928), Husserliana IX, S. 302 f.
4 M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, Martin Hei-
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42 Zur Methode der Phänomenologie
es sich bei der Phänomenologie […], sondern es handelt sich um eine
Methode des Philosophierens, die gefordert ist durch die Probleme
der Philosophie.«5 »<D>ie Phänomenologie ist nichts Anderes als
die in eine Methode umgewandelte Philosophie, in eine Methode
[…] der Beschreibung dessen, was in der Erfahrung ›geschieht‹ (die
berühmten Sachen selbst), ohne dass es in alldem prinzipiell und in
Kohärenz mit der Methode eine ›Stellungnahme‹ bzw. einen meta-
physischen ›saltus mortalis‹ gäbe.«6 Um in diese Methode nun ein-
führen zu können, müssen zunächst zwei wegweisende Bemerkun-
gen vorangeschickt werden.
Zum einen ist zu betonen, dass diese Methode, wie bereits im
Vorwort angedeutet, nicht naiv von ihrer Materie bzw. ihrem Ge-
genstand losgelöst werden kann. Es wurde schon früh etwa von
Emmanuel Levinas bemerkt – hierbei Hegels Kritik der Kantischen
Verfahrensweise folgend (so wie dieser sie jedenfalls ausgelegt hatte),
nämlich »Methode« und »Wahrheit« zu unterscheiden –, dass der
Versuch, Erkenntnis grundlegend legitimieren zu wollen, auf der
phänomenologisch ursprünglichsten Ebene mit dem Vollzug dieser
Legitimation zusammenfällt. Das bedeutet, dass die Methode sich
nicht außerhalb ihres genuinen Sachbereichs ansiedeln darf. Jüngst
wurde das noch einmal in Bezug auf Heidegger betont7. Dieser hob
in den Grundproblemen der Phänomenologie hinsichtlich eines zu
eng gefassten Phänomenologiebegriffs unmissverständlich hervor:
Die Phänomenologie gibt es nicht, und wenn es sie geben könnte, dann
würde sie nie zu so etwas wie einer philosophischen Technik werden.
Denn im Wesen aller echten Methode als Weg zur Erschließung der Ge-
degger Gesamtausgabe (HGA) 24, F. W. v. Herrmann (Hg.), Frankfurt am
Main, Klostermann, 1975, S. 27.
5 A. Reinach, »Was ist Phänomenologie?« (Januar 1914), München, Kösel-
Verlag, 1951, S. 21.
6 M. Richir, »Métaphysique et phénoménologie: Prolégomènes pour une
anthropologie phénoménologique« (2000), S. 115.
7 Tobias Keiling schreibt hierzu ziemlich unverblümt, aber durchaus tref-
fend: »Phänomenologie ist demnach nicht nur eine Methode, die bestimmte
Schritte zu verfolgen vorgibt, sondern zugleich diejenige Philosophie, die
durch das Erreichen einer Einheit mit ihrem Gegenstand, einer Verschmel-
zung mit der Sache selbst, überflüssig wird«, Seinsgeschichte und phänome
nologischer Realismus, Tübingen, Mohr Siebeck, 2015, S. 149. Das Einzige
freilich, was hier »überflüssig« wird, ist eben ein methodologisch zu eng ge-
fasster Phänomenologiebegriff.
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Die phänomenologische Methode 43
genstände liegt es, sich nach dem selbst immer einzurichten, was durch sie
selbst erschlossen wird. Gerade wenn eine Methode echt ist, den Zugang
zu den Gegenständen verschafft, wird der auf ihrem Grund vollzogene
Fortgang und die wachsende Ursprünglichkeit der Erschließung die Me-
thode, die dazu verhalf, notwendig veralten lassen. Das einzig wahrhaft
Neue in der Wissenschaft und in der Philosophie ist nur das echte Fragen
und der dienende Kampf mit den Dingen.8
Aufgrund dieses wesenhaft fragenden Aufgehens in ihren Gegen-
ständen ist es somit sinnlos, der konkreten phänomenologischen
Arbeit einen vorgängigen »Bericht über die Methode« (Descartes)
vorausschicken zu wollen.
Zum anderen muss angemerkt werden, dass sich diese Bestim-
mung von dem, was man als den Grundhorizont der Phänome-
nologie bezeichnen könnte, ebenfalls nicht abtrennen lässt. Worin
besteht dieser »Grundhorizont«?
Die Phänomenologie versteht sich – wie bereits angedeutet – als
»absolute Voraussetzungslosigkeit«. Damit ist gemeint, dass in der
Phänomenologie keine Vorentscheidungen darüber getroffen wer-
den, was die »Sache« der philosophischen Analysen sei und wie
diese angemessen untersucht werden kann. Gleichwohl schreiben
sich diese Analysen in einen grundsätzlichen, transzendentalen wie
auch spezifisch ontologischen Rahmen oder eben »Grundhorizont«
ein. Konkreter stellt sich das so dar, dass sie je in eine Konfiguration
von vier Fluchtpunkten der Sinnbildung9 – nämlich der »Transzen-
dentalität«, der »Sinnhaftigkeit«, der »Eidetik« und der »Korrelatio
nalität« – eingespannt sind.10 Diese hängen mit den Grundbegriffen
der phänomenologischen Methode aufs Engste zusammen und müs-
sen daher in einem ersten Schritt ausführlicher entwickelt werden.
8 M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, S. 467.
9 Dieser Begriff der »Sinnbildung« und sein grundlegender Status in der
Phänomenologie wird im Kapitel IV explizit erläutert und auseinandergelegt
werden.
10 Zwar gibt es, wie von Heidegger im gerade zitierten Passus angesprochen,
»die« Phänomenologie eigentlich nicht, weshalb diese Grundkonfiguration
von vier Fluchtpunkten der Sinnbildung auch nur beschränkt auf alle beste-
henden phänomenologischen Projekte und Ausarbeitungen anwendbar ist;
bei Husserl ist sie jedenfalls maßgeblich und bietet eine Grundfolie, auf die
sich dann seine Nachfolger durchweg beziehen werden – sei es nun affirmativ
und vertiefend oder kritisch und abhebend.
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44 Zur Methode der Phänomenologie
Phänomenologie als Transzendentalphilosophie. »Wenn die […]
Phänomenologie sich zugleich als Anfangsstück und als universale
Methodenwissenschaft für eine phänomenologische Philosophie
einführte, so war damit auch schon gesagt, dass eine Philosophie
überhaupt, nach ihrem ganzen System, nur als eine universale Tran-
szendentalphilosophie, aber auch nur auf dem Boden der Phäno-
menologie und in der spezifisch phänomenologischen Methode die
Gestalt einer letztstrengen Wissenschaft annehmen könne.«11 Um zu
verstehen, in welchem Sinne die Phänomenologie als eine Transzen
dentalphilosophie aufgefasst werden muss, ist – nicht nur in Husserls
Augen – der Bezug zum neuzeitlichen Begriff des Transzendentalen,
wie er bei Kant ein- und bei Fichte fortgeführt wurde, unerläss-
lich. Bekanntlich hatte der Verfasser der Kritik der reinen Vernunft
»transzendental« als eine bestimmte Erkenntnis definiert – nämlich
so, dass diese sich »mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen,
insofern diese a priori möglich sein soll«,12 beschäftigt. Damit war
gemeint, dass es nur dann erkenntnistheoretisch möglich ist, die für
jede Erkenntnis unabdingbaren Notwendigkeitsbestimmungen auf-
zuweisen, wenn unsere Erfahrungen auf Bedingungen, welche diese
überhaupt möglich machen, zurückgeführt werden. »Transzenden-
tal« heißt bei Kant also: die Bedingungen der Möglichkeit unserer
Erfahrung und dadurch unserer Erkenntnis betreffend. Dass diese
Möglichkeitsbedingungen eben transzendental sind, heißt, dass sie
selbst keiner Erfahrung zugänglich sind – und zwar weil und sofern
sie diese eben allererst ermöglichen.
Eine zweite wesentliche Bestimmung des klassischen Transzen-
dentalbegriffs, sofern er für das Verständnis der phänomenologi-
schen Auffassung desselben wegweisend ist, wurde von Fichte her-
ausgestellt. Hierzu abermals ein wichtiges Zitat:
[W]enn <jed>er sich nur besinnen will, <kann er> innewerden, dass
schlechthin alles Sein ein Denken oder Bewusstsein desselben setzt: dass
daher das bloße Sein immer nur die eine Hälfte zu einer zweiten, dem
Denken desselben, sonach Glied einer ursprünglichen und höher liegen-
den Disjunktion ist, welche nur dem sich nicht Besinnenden, und flach
Denkenden verschwindet. Die absolute Einheit kann daher eben so wenig
11 E. Husserl, »Kant und die Idee der Transzendentalphilosophie« (1. Mai
1924), Husserliana VII, S. 230 f.
12 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 25.
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Die phänomenologische Methode 45
in das Sein, als in das ihm gegenüberstehende Bewusstsein, eben so wenig
in das Ding, als in die Vorstellung des Dinges […], sondern <muss> in
das […] Prinzip der absoluten Einheit und Untrennbarkeit beider <ge-
setzt werden>, das zugleich […] das Prinzip der Disjunktion beider ist
[…]. Dies entdeckte nun Kant und wurde dadurch der Stifter der Tran
szendental-Philosophie.13
Ohne hier auf den Kontext der für Fichtes eigene Absichten bedeut-
samen Begriffe der »Einheit« und »Disjunktion« des »reinen Wis-
sens« näher einzugehen, ist für den Begriff des »Transzendentalen«
festzuhalten, dass er laut Fichtes Lesart Kants durch die Korrelation
von Denken und Sein, bzw. von Bewusstsein und entsprechendem
Bewusstseinsobjekt gekennzeichnet ist. Dabei ist ganz wesentlich,
dass diese Korrelation nicht einfach den Bezug von vorstellendem
Bewusstsein und vorgestelltem Gegenstand meint, sondern, wie
Fichte das ja ausdrücklich betont, der Trennung von »Vorstellung«
und »Ding« zugrunde liegt und so deren Bezüglichkeit allererst
ermöglicht.
Diese, den Transzendentalismus eigens kennzeichnende Korrela
tion und die von Kant aufgestellte Eigenschaft des Ermöglichens
treten nun aber in eine eigentümliche Spannung zueinander: Wenn
erstere lediglich statisch aufgefasst wird, ist nicht klar, wie hierdurch
das Möglich-Machen erklärt werden kann; und wenn letzteres kei-
ner Erfahrung zugänglich sein soll, ist unverständlich, wie diese
transzendentalen Bedingungen ausweisbar »objektive Realität« ha-
ben können. Fichte hatte diese Spannung so aufgelöst, dass er einen
neuen Erfahrungs- bzw. Anschauungsbegriff einführte, den Kant
seinerseits aber entschieden ablehnte (allerdings ohne ihn offenbar
aus erster Hand studiert und reflektiert zu haben): nämlich den der
»intellektuellen Anschauung«, ein dem transzendentalen Reflektie-
ren »eingesetztes Auge«. Husserl setzt an dessen Stelle, auch und
insbesondere um der epistemischen Einengung bei Fichte zu entge-
hen, den Begriff einer »transzendentalen Erfahrung«. In ihr kommt
sein Begriff des Transzendentalen folgendermaßen zum Tragen:
Für Husserl ist »transzendental« der Ausdruck für ein Grundmo-
13 J. G. Fichte, Die Wissenschaftslehre 18042, J. G. Fichte – Gesamtausgabe,
Band II, 8, R. Lauth, H. Gliwitzky (Hg.) (unter Mitarbeit von E. Fuchs,
E. Ruff und P. K. Schneider), Stuttgart – Bad Cannstatt, G. Holzboog, 1985,
S. 13 f.
https://doi.org/10.5771/9783465143772
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46 Zur Methode der Phänomenologie
tiv, nämlich jenes »des Rückfragens nach der letzten Quelle aller
Erkenntnisbildungen«.14 Bei Kant ist »transzendental« eine Bestim-
mung der Erkenntnis, bei Husserl eine der philosophischen (tran-
szendental-phänomenologischen) Grundhaltung inhärierende Ten-
denz oder Motivation, den Sinn des Erscheinenden in einer genuinen
Erfahrungsart aufzuklären. Diese lässt sich von der Kennzeichnung
des »reinen Bewusstseins« (qua »Element« der phänomenologischen
Korrelation),15 sofern dieses sich je intentional auf es Transzendie
rendes bezieht, also vom Feld der »transzendentalen Subjektivität«
im weitesten Sinne, nicht ablösen.16
Husserl hält somit, um das für den phänomenologischen Tran-
szendentalbegriff rekapitulierend im Auge zu behalten, an Kants
Auffassung des Möglich-Machens, des Ermöglichens fest; im Ge-
gensatz zu ihm nimmt er dafür aber einen genuin transzendental-
phänomenologischen Erfahrungsbegriff in Anspruch, welcher ein
phänomenologisches Forschungsfeld unendlicher Analysen eröffnet.
Phänomenologie als Philosophie des Sinns. Das zweite ganz we-
sentliche Charakteristikum der Phänomenologie betrifft deren Sinn
dimension.17 In der Phänomenologie geht es ganz grundsätzlich –
und über die konkrete Klarstellung der Bedeutung von sprachlichen
Aussagen, Zeichen usw. im engeren Sinne hinaus – um »Sinnaufklä-
rung«, also um das Verständlichmachen von Sinn überhaupt. Sie geht
also davon aus, dass es »Sinn« »gibt« und dass es sinnvoll ist, diesen
zu fassen und auszulegen. Sinn aber wovon? Zwei Klippen müssen
hierbei umschifft werden: die Skylla einer zu engen Anlehnung an
positive Gegebenheit von Seiendem einerseits und die Charybdis
einer abstrakten und hohlen Auffassung eines »Sinns des Ganzen«,
eines vage gebrauchten »Seins« usw. andererseits. Ferner darf Sinn
14 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzen
dentale Phänomenologie, S. 100. Ich komme auf diese Definition im vierten
Kapitel ausführlicher zurück.
15 Es muss auf einer systematischen Ebene betont werden, dass – obwohl
Husserl selbst diesen historiographischen Bezug nicht vor Augen hatte und
ihn auch nirgends explizit herstellt – bei ihm das »reine Bewusstsein« dem,
was Fichte (s. o.) als »absolute Einheit« (oder mit einem früheren Ausdruck:
als »absolutes Ich«) diesseits der Trennung von Bewusstsein und korrelati-
vem Bewusstseinsgegenstand bezeichnet hatte, entspricht.
16 Bei Husserl hängt also »transzendental« mit »Transzendenz« aufs Engste
zusammen.
17 Das äußert sich bereits darin, dass Husserl »Phänomen« als »vermeinte[n]
und sich bewährende[n] Sinn« definiert, Husserliana I, S. 126.
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Die phänomenologische Methode 47
auch nicht als bloße Vorstellungsdimension, als Element oder Form
mentaler Abbildung gegenüber stofflich »realem« Seienden aufge-
fasst werden. Wie sind »Sinn« bzw. »Sinnhaftigkeit« dann also posi
tiv zu bestimmen?
Sinn steht allgemein im engsten Zusammenhang mit dem eigent-
lichen Verstehen. Sinn ist das, was unsere Gedanken in einen Bedeu-
tungshorizont (Heidegger würde sagen: in einen »Bewandniszusam-
menhang«) einschreibt – er weist also nicht je bloß in eine Richtung,
sondern liegt jeder Richtungsweisung überhaupt zugrunde – und
zwar insofern, als er das Woraufhin jedes Verständnisses entwirft und
umreißt. Der Sinn bezeichnet nicht den »Gegenstand« und auch nicht
die Art seines »Gegebenseins«, sondern den »Spielraum« oder das
»Element«, in welchem bzw. durch welches das Erscheinende sich
eben mit einer mehr oder weniger bestimmten Bedeutung bekun-
det. Er ist jene welteröffnende Dimension, in der das Reale in seinen
minimalen – aber notwendigen – Wahrheitsbedingungen e rscheint.
Darüber hinaus verleiht Sinn den Gedanken eine Form von Bo-
denhaftigkeit. In der Krisis-Schrift bezeichnet Husserl den »Sinn
boden« als ein »gewaltiges[s] stukturelle[s] Apriori«,18 das die
Grundvoraussetzung für Verstehen und Einsicht darstellt. Sinn
bindet Ausdrücke, Gedanken und Gedankeninhalte an Struktur-
und Verständnisgebilde, die sich dabei insbesondere nicht mit rein
formalistischen Erklärungsmodellen zufriedengeben können. Sinn-
bezüglichkeit reduziert sich somit nicht auf ein abstrakt-formales
Verweisen, das sich letztlich im Kreise drehen würde. Deshalb sorgt
Sinn schließlich für eine spezifische »Verständnisfülle«, die jedem
leeren Dahinsagen entgegensteht. Sinn trägt entscheidend zur Erfül-
lung des Verstehens bei, dank seiner kommt das Verstehen zu sich
selbst. Sinn ist somit das je sich erfüllende, horizonthafte Woraufhin
des Verstehens, das dieses nicht einfach in der Schwebe lässt, son-
dern ihm gleichsam Halt und Gehalt gibt. Die Schwierigkeit hierbei
besteht darin, dass Sinn eben keinen unmittelbaren Bewusstseins
gegenstand darstellt, sondern zu den transzendentalen Parametern
gezählt werden muss, die natürlich ebenfalls in einer »transzenden-
talen Erfahrung« zur Gegebenheit kommen.19
18 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä
nomenologie, Husserliana VI, S. 380.
19 Die bedeutsame Rolle des Verstehens wird im folgenden Kapitel noch
weiter vertieft werden.
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48 Zur Methode der Phänomenologie
Phänomenologie als Wesenswissenschaft. Den Schnittpunkt von
Transzendentalität und Sinnhaftigkeit bezeichnet Husserls Begriff
des »Wesens«.20 Diese Überschneidung von »Sinn« und »Wesen«
bzw. »Eidos« (im besagten transzendentalen Rahmen) wurde von
der Husserl-Schülerin Hedwig Conrad-Martius sehr treffend be-
schrieben:
Dem Phänomenologen […] ist die Welt voller apriorischer Sinnhaftigkeit.
»Sinn« ist hier nicht in teleologischer Bedeutung verwendet, in der die
wirkliche Welt oder der wirkliche Weltverlauf einen letzten historischen
oder auch überhistorischen Sinn und Zweck besitzt. »Sinn« ist hier gleich
»Wesen«; und Wesen ist eben diese letzte, qualitative, eigenste Artung, die
jedem kleinsten und größten Seinsbestand seine unauswechselbare und
auf nichts anderes zurückführbare Stelle, seine Sinnstelle gibt.21
Die »Gegenstände« der phänomenologischen Forschung, die »Phä-
nomene«, sind insofern solche einer philosophischen Wissenschaft,
als sie eben auf ihren universalen Wesensgehalt hin befragt werden.22
Hierbei muss dann aber deutlich gemacht werden, weshalb die Phä-
nomenologie nicht mit der Psychologie und noch weniger mit dem
Psychologismus (der alle Erkenntnis auf eine Einbettung in psychi-
sche Akte reduziert) zusammenfällt. Die Begründung hierfür hat
Husserl in seiner berühmten Kritik am Psychologismus im ersten
Band seiner Logischen Untersuchungen (1900/1901) geliefert.
Jene Kritik fußt auf zwei Hauptargumenten. Das erste prangert
die Verwechslung von Akt und Gegenstand der Erkenntnis an. Jede
Erkenntnis vollzieht sich in psychischen Akten. Diese sind je empi-
risch und laufen in der Zeit ab; der Gegenstand (idealer) Erkennt-
nis dagegen (etwa die logischen Gesetzmäßigkeiten, aber auch jede
Sinnhaftigkeit überhaupt) ist außerzeitlich. Letzterer ist – wie in der
20 Hierbei müsste, um genau zu sein, noch zwischen den »formal-logischen«
Wesen (bzw. Eidē) und den Wesen (oder Eidē) »materieller« Natur unter-
schieden werden (die Notwendigkeit der ersteren ist apodiktisch, während
jene der letzteren durch eine »Offenheit«, die je möglichen Korrekturen
ausgesetzt ist, gekennzeichnet werden kann).
21 H. Conrad-Martius, »Vorwort« zu A. Reinach, »Was ist Phänomeno
logie?«, München, Kösel, 1951, S. 10.
22 In diesem – einzigen – Punkt, nämlich eine »Wissenschaft der ›Wesen‹« zu
sein, hat die Phänomenologie (allerdings tatsächlich ausnahmsweise) einen
einzelwissenschaftlichen Charakter.
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Die phänomenologische Methode 49
Einleitung bereits erwähnt wurde – auf erstere nicht rückführbar,
beide sind qualitativ heterogen. Zwar stellt sich natürlich die Frage,
wie dann ihr Bezug überhaupt möglich ist. Wenn die Antwort aber
in einer Identifizierung beider bestehen sollte, dann ginge das Ur
eigene der Erkenntnis, nämlich die Tatsache, dass sie sich auf Allge-
meines bezieht – und somit die Eidetizität ihres Gegenstandes – ver-
loren. Das zweite Argument gegen den Psychologismus liegt in der
Aufweisung seiner eigenen Selbstwidersprüchlichkeit. Wenn jegliche
Idealität auf reale psychische Akte zurückführbar wäre, dann käme
dies dem Ende jeglicher allgemeinen Theoriebildung gleich – denn
reale Empirizität ist ja eben nicht Universalität. Und da der Psycho-
logismus selbst einen theoretischen Anspruch hat, untergräbt er sich
somit gleichsam selbst.
Die phänomenologische Korrelation. Oben war bereits von einer
den Transzendentalismus kennzeichnenden Korrelation – nämlich
von jener von Sein und Denken, von Bewusstsein und Gegenstand –
die Rede. Nun muss der Korrelationsbegriff auch in seiner genuin
transzendental-phänomenologischen Bedeutung bestimmt werden.
Durch die Herausstellung der Vorgängigkeit der Bezughaftig-
keit vor der Ansetzung einer gegenständlichen sowie einer bewusst-
seinsmäßigen oder sonstwie »ichlich« gearteten Instanz werden zwei
Ansätze von vornherein ausgeschlossen: dass nämlich die Gegen-
stände als an-sich seiende Objekte aufgefasst werden müssen und
dass das Bewusstsein in einer Art »Behälter« bestünde, der gegen-
ständliche Bestimmtheiten irgendwie in sich aufnähme. Bezüglich-
keit ist in der Tat immer vorgängig, sie ist das ureigenste phänome-
nologische Apriori (im wörtlichen Sinne) – Husserl spricht dabei
vom »universalen Korrelationsapriori von Erfahrungsgegenstand
und Gegebenheitsweisen«.23 Damit dies aber voll verständlich wird,
muss gezeigt werden, dass in der phänomenologischen Analyse vom
grundsätzlich systematischen Standpunkt aus betrachtet eine Drei
stufigkeit veranschlagt werden muss. Das »universale Korrelations
apriori« wird nur dann völlig einsichtig und für die Untersuchungen
auch fruchtbar gemacht, wenn deutlich wird, dass es sich auf die-
sen drei Ebenen um jeweils verschiedene Korrelationstypen handelt.
Kommen wir also zunächst zu diesen drei Stufen, Ebenen oder auch
phänomenologischen »Sphären«.
23Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä
nomenologie, Husserliana VI, S.169, Fußnote 1.
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50 Zur Methode der Phänomenologie
Die erste Stufe ist keine genuin phänomenologische. Sie ent-
spricht der »natürlichen Einstellung«, in der Erscheinendes als An-
sich-Seiendes aufgefasst wird. Dies trifft sowohl für das vorphilo-
sophische Bewusstsein als etwa auch für die naturwissenschaftliche
Haltung seit der (abendländischen) Neuzeit zu. Die »Mathematisie-
rung der Natur« ist hierin genauso eine theoretische Option wie my-
thologische Weltanschauungen, so wie diese in anderen Kulturberei-
chen als dem jüdisch-christlichen gelten mögen. Wenn hier von einer
(freilich völlig unaufgeklärten) »Korrelation« die Rede sein kann,
dann nur insofern, als hier im weitesten Sinne (und insbesondere
seit Descartes’ Einführung des »Cogito«) Erkenntnissubjekt und
Erkenntnisobjekt in Beziehung zueinander gesetzt werden. Dabei
kommt aber ersterem nicht überall auch eine spezifisch epistemische
Funktion zu. Der entscheidende Aspekt auf dieser ersten Stufe ist
der Hang zur Objektivierung, welcher der natürlichen Einstellung
wesentlich anhaftet.
Die zweite Stufe, gemeinhin als die genuin phänomenologische
betrachtet, ist das sich dank der Epoché und der Reduktion eröff-
nende unendliche Forschungsfeld der »transzendentalen Subjektivi-
tät«. Die hier maßgebliche Korrelation nennt Husserl die »noetisch-
noematische Korrelation«. Sie umfasst insbesondere die Sinngehalte
der intentionalen Gegenstände (Noemata) sowie ihre bewusstseins-
mäßigen Korrelate (Noesen). Husserls bekannteste Analysen – zum
Beispiel der Wahrnehmung transzendenter Gegenstände mitsamt
ihrer Abschattungskontinuen – werden innerhalb dieser Ebene, die
auch als »immanentes Bewusstsein« bezeichnet wird, vollzogen.
Die dritte Sphäre schließlich ist die »präimmanente« oder
»präphänomenale« Bewusstseinsebene. Sie wurde von Husserl ex-
plizit in seinen Zeitanalysen erschlossen – die deshalb systematisch
auch zu den entscheidenden innerhalb der ganzen Phänomenologie
gehören.24 Von »Bewusstsein« kann hierbei allerdings aus mehreren
Gründen nicht mehr eigentlich die Rede sein. Das Bewusstsein wird
hier deswegen untergraben, weil nichts Bewusstseinsimmanentes
mehr beschrieben werden kann. Zudem bedeutet »Präphänomena-
lität« bzw. »Präimmanenz« hier radikale »Anonymität« (manche
Phänomenologen wie zum Beispiel Jan Patočka führen hierzu den
Begriff einer »asubjektiven Phänomenologie« ein). In dieser dank
24 Siehe insbesondere die Texte Nr. 53 und 54 in Husserliana X und die ers-
ten Texte in Husserliana XXXIII.
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Die phänomenologische Methode 51
der phänomenologischen Konstruktion (s. u.) zugänglichen Sphäre
wird von jeder subjektorientierten Konstitutionsleistung Abschied
genommen; und auch »Gegenständlichkeit« ist hier kein vorausge-
setztes oder vorauszusetzendes Seiendes, sondern lediglich »Pola-
rität« der vorgängigen präintentionalen Bezüglichkeit. Präphäno-
menale oder präimmanente Korrelativität ist gleichwohl gegeben.
Dies macht eine neue Form der phänomenologischen Reduktion
(nämlich das, was man die »transzendentale Induktion«25 nennen
könnte) erforderlich, die von Husserl selbst aber nicht mehr aus-
gearbeitet wurde.
Von hier aus können nun in umgekehrter Reihenfolge die Grund-
achsen der phänomenologischen Methode vorgestellt und entwi-
ckelt werden. Diese bestehen in der Epoché und Reduktion, der
eidetischen Variation, der phänomenologischen Deskription und der
phänomenologischen Konstruktion.
Epoché und Reduktion. Ausgangspunkt der phänomenologi-
schen Forschung ist notwendiger Weise die phänomenologische
»Epoché«. »Notwendig« ist sie deshalb, da sie am radikalsten der
Losung absoluter »Voraussetzungslosigkeit« entspricht. Unter »ab-
soluter« oder »metaphysischer« Voraussetzungslosigkeit ist zu ver-
stehen – um das noch auf eine andere Weise als in der ersten phä-
nomenologischen These der Einleitung darzustellen –, dass in der
philosophischen Analyse keine Vorentscheidung darüber gefällt
werden darf, wie sich der Philosoph sowohl vom erkenntnistheore-
tischen als auch vom ontologischen Standpunkt aus betrachtet ge-
genüber dem Gegenstand seiner Analysen »verhält«. Es darf nicht
im Voraus entschieden werden, was als »seiend«, »wahr« usw. ange-
sehen werden kann, bevor es nicht jeglicher Kritik der auf radikale
Letztbegründung ausgerichteten Untersuchung widersteht. Unter
den verschiedenen metaphysischen Voraussetzungen oder Vorent-
scheidungen gibt es nun eine, die einen Vorrang hat, und zwar eben
in der zweifachen, ontologischen und gnoseologischen, Hinsicht –
nämlich diejenige, welche auf das Sein der Welt, qua Gesamtheit des
Seienden, geht. Laut dieser Voraussetzung ist das Seiende »an sich«
gegeben, es existiert unabhängig von und außerhalb jeglicher Be-
züglichkeit zum »Sein der Welt«. Husserl wendet nun auf dieses das
methodische Grundwerkzeug der »Epoché« an – was einer »Aus-
25 Siehe hierzu die letzten drei Kapitel dieses Essays.
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52 Zur Methode der Phänomenologie
schaltung«, »In-Klammern-Setzung« jeglicher »Seinssetzung« bzw.
»Seinsthesis« gleichkommt. In einem ersten Schritt gilt es somit, das
vermeintlich fest und an sich Seiende gleichsam in einen ontologi-
schen Schwebezustand zu versetzen, um auf diese Weise einen vor
aussetzungslosen Zugang zum Erscheinenden möglich zu machen.
Husserl bleibt hierbei aber nicht stehen. Für ihn ist die Eröff-
nung dieses »Schwebe«-Zustands nicht von einem zweiten Schritt
zu trennen – nämlich dem Gewahrwerden, dass diese radikale In-
Klammern-Setzung jeder Seinssetzung die Perspektive ursprüngli-
cher Bezüglichkeit eröffnet. Dieses Verfahren macht die phänome-
nologische Reduktion aus. Die »reductio« muss hierbei als »recon-
ductio«, also als eine »Zurückführung« (auf transzendentale,26 d. h.
Transzendenz erschließende Bezüglichkeit) verstanden werden. Da-
bei ist – in einem allgemeinen phänomenologischen Rahmen – nicht
maßgeblich, wie genau die »Gegenpole« einer solchen Bezüglich-
keit selbst auf ihr Sein hin zu fassen sind. Husserl privilegiert dabei
das »intentionale Bewusstsein«; andere, wie zum Beispiel Heideg
ger, verstehen diese ursprüngliche Bezüglichkeit weniger als eine
bewusstseinsmäßige denn vielmehr als eine ontologische. Wie ge-
sagt, die inhaltliche Bestimmung ist hier erst einmal zweitrangig, die
Rückführung auf Korrelativität steht im Vordergrund (was freilich
impliziert, dass dem objektiven Korrelat eine in irgendeiner Form
»subjektive« Instanz entgegensteht – deren genaue Bestimmung ist
dabei eine der Grundaufgaben der phänomenologischen Forschung
überhaupt). In der Phänomenologie wird also eine überaus bedeut-
same Einsicht Descartes’ auf eine reflexiv höhere (nicht rein ego-
logische) Stufe gehoben. Descartes hatte aus und innerhalb seines
radikalen hyperbolischen Zweifels das »Ego (cogito)« als »funda-
mentum inconcussum« (unerschütterlichen Grund) der gewissen
Erkenntnis hervorgehen sehen; in der Phänomenologie führt die
streng eingehaltene Ausschaltung der Seinsthesis – auf eine paral-
lele, aber wie gesagt radikalisierte Art – auf ursprüngliche Bezüg-
lichkeit zurück.
In Wirklichkeit ist diese Zweiteilung von Epoché qua Seinsaus-
schaltung und Reduktion qua Zurückführung auf die jeden Seins-
sinn allererst ursprünglich erschließende Bezüglichkeit bei Husserl
26 Die Reduktion kann durchaus auch als Zurückführung auf bzw. Eröff-
nung von Transzendentalität aufgefasst werden – sie erfüllt damit eine me-
thodologische Brückenfunktion, die dem Transzendentalismus Kants abging.
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Die phänomenologische Methode 53
aber nicht konsequent angelegt. Patočka hat diese Differenzierung
explizit herausgestellt, um so eine inhaltlich bedeutsame Unterschei-
dung auch terminologisch festzuhalten; bei Husserl dagegen fallen
beide Bedeutungen häufig zusammen.
In jüngerer Zeit wurde von Marc Richir eine interessante und be-
merkenswerte Erweiterung bzw. Vertiefung des Bezugs von Epoché
und Reduktion ausgearbeitet. Für ihn hängen auf der systematischen
Ebene beide Begriffe noch enger zusammen, als das bei Husserl und
Patočka der Fall ist. Die Reduktion fixiere, laut Richir, was die Epo-
ché allererst befreit habe. Die Epoché bestehe nämlich nicht rein
negativ in einer Ausschaltung, sondern in einer spezifischen Eröff-
nung. Sie erschließe die »fließende« Sinndimension im Gegensatz
zur scheinbaren Fixiertheit der »realen« Gegenständlichkeiten. Die
Reduktion vertiefe dann das eigentümliche »Diesseits« gegenüber
dem Jenseits, das durch jenes Eröffnen des Fließens konstituiert
werde.27 Die Reduktion lasse somit dort eine ganz spezifische Art
von »Positivität« sichtbar werden, wo sich sonst alles ins Unendliche
zerstreue und zersplittere. Diese Einführung des Begriffs der (tran
szendental-phänomenologischen) »Positivität« verdeutlicht den en-
gen Bezug von Epoché und Reduktion: Die Epoché »transzendiere«
die Positivität, um aufscheinen zu lassen, was sie »schwingen«, »vi-
brieren«, »blinken« lässt; die Reduktion nehme dann die Positivität
(keinesfalls des real Objektiven, sondern des genuin »Phänomenolo-
gischen«, das Heidegger das »Unscheinbare« genannt hatte) gewis-
sermaßen auf sich, um so die Sphäre des Diesseits, die eben genau
die des Phänomenologischen ist, zugänglich zu machen.
Die eidetische Variation. Wenn man es, wie aus Husserls Kritik
des Psychologismus ja bereits hervorging, in der Phänomenologie
nicht mit psychisch-realem Seienden zu tun hat, sondern für das
phänomenologisch zu Untersuchende je eine Form von »Wesens-
mäßigkeit« (oder »Eidetizität«) veranschlagen kann oder muss, dann
ist es notwendig, letztere auch in aller Klarheit aufzuweisen. Zu die-
sem Zweck entwickelt Husserl einen eigenen methodischen Ansatz.
27 Zu diesem »Diesseits« muss hier – wie auch für alles Folgende – betont
werden, dass es sich dabei nicht um eine Dimension seitens des Subjekts, son-
dern um jene, die der Subjekt-Objekt-Spaltung vorausliegt , handelt. Die
»Diesseitigkeit« redet somit nicht einem Subjektivismus das Wort, sondern
siedelt sich von vornherein im anonymen, präobjektiven und präsubjektiven
phänomenologischen Forschungsfeld an.
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54 Zur Methode der Phänomenologie
Dieser hat die Besonderheit, nicht jedes Mal ausdrücklich vollzogen
werden zu müssen, sondern in der phänomenologischen Analyse
lediglich implizit hineinzuspielen (obzwar er, wenn dies verlangt
würde, sich freilich immer auch ausweisen ließe).
In der Bestimmung des Eidos und der ihm nicht nur zugrunde-
liegenden, sondern es selbst schlechthin ausmachenden eidetischen
Variation sind zwei Gesichtspunkte entscheidend. Zunächst muss
der Rahmen dieser Methodik vorgestellt werden, um von da aus
in einem zweiten Schritt das eigentliche Wesen des Eidos erläutern
zu können.
Für die Bestimmung des wesenhaften Charakters des in der phä-
nomenologischen Analyse jeweils Erschlossenen ist es nicht mög-
lich, sich das entsprechende Phänomen einfach vorzunehmen und
seine Wesenhaftigkeit rein deskriptiv und direkt offenzulegen. Seine
Eidetizität lässt sich vielmehr nur dann aufweisen, wenn deutlich ge-
macht wird, dass sie sich je schon in einer dynamisch-funktionalen
Bewegung der Variation von »Vorbildern« und »Nachbildern« hält.
Husserl bezeichnet diese Dynamik als »die Gestaltung irgendeiner
erfahrenen oder phantasierten Gegenständlichkeit zu einer Vari-
ante«, »ihre Gestaltung in die Form […] des leitenden ›Vorbildes‹«,
»des Ausgangsgliedes für eine offen endlose28 Mannigfaltigkeit von
Varianten, kurzweg eine Variation«.29 Dieses Verfahren – von dem
bereits hier deutlich wird, dass es kein von außen angewandtes, son-
dern ein inniglich selbstgestaltendes ist – wird dadurch gerechtfertigt,
dass der Notwendigkeitscharakter des Eidos einsichtigerweise nicht
einfach nur assertorisch behauptet werden kann, weil ja schließlich
aus einer reinen Behauptung keine Notwendigkeit zu folgen vermag.
Diesen Ansatz, diese methodologische Grundprozedur der Phäno-
menologie nennt Husserl die »eidetische Variation«, deren Haupt
aspekte (mit der ihr zugehörigen »Ideation« bzw. »Ideenschau«) in
folgendem engen Zusammenhang stehen:30
28 Hierdurch wird begreiflich, warum das Eidos somit als »offenes« »end
loses« Wesen (vgl. L. Tengelyi, Welt und Unendlichkeit, Freiburg / München,
Alber, 2014, S. 545) verstanden werden muss – was natürlich einen wesent
lichen Unterschied etwa zur Eidos-Konzeption des klassischen Platonismus
ausmacht. Dies wird gleich ausführlicher entwickelt werden.
29 E. Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, S. 76.
30 Der einschlägigste, unzweifelhaft aus Husserls Feder stammende Textent-
wurf, der die vielleicht fruchtbarsten Hinweise auf die eidetische Variation
enthält, ist der § 9 der soeben zitierten Vorlesung vom Sommersemester 1925
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Die phänomenologische Methode 55
1. Durch Phantasieleistungen werden zunächst, ausgehend von
einem »Vorbild«, »Nachbilder« »gewonnen«. Dieses »Gewinnen«
hält sich in der bemerkenswerten Spannung zwischen aktivem Er-
zeugen und passivem Erschauen – genau hierin bestehen diese ge-
nuinen Phantasieleistungen (die an Fichtes »schwebende« Einbil-
dungskraft erinnern).
2. Hierbei wird nun deutlich, dass in der Variation durch die Va-
rianten in Notwendigkeit (dazu gleich noch mehr) eine Invariante
hindurchgeht. Das hierbei angewandte Verfahren nennt Husserl
auch »Ideation«. Ihr gehört die »Ideenschau« wesenhaft zu, wobei
diese, wie gesagt, nicht in einem unbeteiligten, lediglich passiven
Vernehmen besteht.
3. Dabei spielen nun zwei Korrelationsverhältnisse hinein. Zu-
nächst gründet sich das so gewonnene Eidos auf die Variation eines
beliebigen Faktums: Diese Beliebigkeit ist hierfür eine unabding-
bare Voraussetzung, da sich nur so die Wesenhaftigkeit des Eidos er-
schauen lässt – denn ohne diese Beliebigkeit31 wäre das Eidos ja sonst
an die Faktizität jenes Faktums gebunden. Somit gibt es hier zwar
eine (erste) fundamentale Korrelation32 von Variante und Invariante,
von Faktum und Eidos. Diese Korrelation bedeutet aber nicht, dass
das Eidos vom ontologischen Standpunkt aus betrachtet (s. u.) von
irgendeiner real-empirischen Faktizität abhinge. Das ist ein subtiler
Punkt in Husserls Lehre der eidetischen Variation, denn er deutet auf
eine Form von »Faktizität« hin, die insofern von jener der Vorgege-
benheit eines real Seienden unterschieden werden muss, als sie eben
dem genuin phänomenologischen Feld zugehörig ist. Sodann ergibt
sich hieraus noch eine andere Art der Korrelation, die eng mit der
vorherigen zusammenhängt, nämlich die von Einheit und (offener)
Mannigfaltigkeit. Diese Korrelation hat nun das Besondere, dass sie
durch eine »überschiebende Deckung« ausgezeichnet ist. Auch hier
stehen sich also Einheit und Mannigfaltigkeit nicht statisch gegen-
über. Vielmehr treten beide dynamisch in eine »synthetische Ein-
»Phänomenologische Psychologie« (Husserliana IX, S. 72–87). Ebenfalls
heranzuziehen sind die oft zitierten Paragraphen 86–89 aus dem Band Er
fahrung und Urteil (1939), den L. Landgrebe nach Husserls Tod heraus
gegeben hat.
31 Ferner bringt diese Beliebigkeit über diesen wesentlichen Aspekt hinaus
noch zum Ausdruck, dass das Fassen der Invariante in der Variation nicht
die tatsächliche Erzeugung aller unendlichen Varianten zur Voraussetzung hat.
32 Vgl. Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, S. 75, Z. 22.
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56 Zur Methode der Phänomenologie
heit«, in der die Variante als Variante (in offener Mannigfaltigkeit)
und das Kongruierende als Selbiges (qua Einheit) erscheint. Hierbei
ist das Bewusstsein und -halten der Mannigfaltigkeit genauso eine
Voraussetzung für das »Gewinnen« des Eidos, wie das etwa auch in
der Fremdwahrnehmung der Fall ist, wo ja die Wahrnehmung des
Anderen je nur auf der Grundlage des Bewusstseins der Eigenleib-
lichkeit möglich ist. In beiden Korrelationsverhältnissen stützt sich
also das mögliche Gewinnen des Eidos je auf dessen Korrelat – sei
es nun das Faktum oder eben die Mannigfaltigkeit.
4. Von hier aus kann nun der Status des Eidos in voller Klarheit
bestimmt werden. Dieses ist kein allgemeiner Begriff, sondern ein
»Gesetz der Notwendigkeit«.33 Hierdurch wird sowohl die innere
Gesetzlichkeit der Notwendigkeit als auch der Notwendigkeitscha-
rakter dieses Gesetzes selbst zum Ausdruck gebracht. Und damit ist
ebenso gemeint, dass die Ideation nicht auf eine Begriffsabstraktion
zurückgeführt werden kann. Der Unterschied besteht dabei darin,
dass die begriffliche Abstraktion statisch Allgemein-Begriffliches
von vorgegebenem Individuell-Realen gleichsam bloß ablöst (und
dieses nicht weiter berührt), während die eidetische Variation gewis-
sermaßen die Notwendigkeit in die Kontingenz des Vorbildes hin-
einbringt34 (was natürlich an Kants Erkenntnisbestimmung erinnert,
wonach »wir von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir
selbst in sie legen«,35 mit dem Unterschied allerdings, dass Husserl
das Eidos eben nicht auf eine bloß erkenntnistheoretische Funktion
beschränkt). Die eidetische Variation darf somit nicht mit dem Ver-
fahren verwechselt werden, das gemeinsame Eigenschaften aus etwas
Vorgegebenem herausklaubt und diese dem individuell-real Gege-
benen abstrakt gegenüberstellt. Sie hat vielmehr einen dynamischen
Charakter, der für das Verständnis des Status der phänomenologi-
schen Notwendigkeit ganz wesentlich ist.
Hieraus folgt, dass das Eidos nicht als eine (begriffliche) Einheit
gegenüber einer Vielfalt von Einzeldingen verstanden werden darf –
auch wenn es sich freilich »vereinzelt«. Eine solche Bestimmung ei-
ner abgetrennten idealen Einheit traf (und trifft) auf die klassische
33 Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, S. 76.
34 Siehe hierzu Thomas Arnold, Phänomenologie als Platonismus: Zu den
Platonischen Wesensmomenten der Philosophie Edmund Husserls, Berlin,
De Gruyter, 2017, Abschnitt E und insbesondere S. 260–264.
35 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XVIII.
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Die phänomenologische Methode 57
Auffassung des Wesens als Allgemeinem zu, nicht aber auf das phä-
nomenologisch verstandene Eidos. Dieses kann nur dann adäquat
gefasst werden, wenn eingesehen wird, dass hier eine unendliche
Variation »als Untergrund«36 fungiert. Die Variation ist somit, wie
oben bereits angedeutet, nicht in dem Sinne eine Methode, als sie
vom Phänomenologen gleichsam von außen auf das zu gewinnende
Eidos appliziert würde, sondern ein eidos-inhärentes methodisches
Verfahren, das eben die Voraussetzung dafür liefert, das Eidos von
einem Allgemeinbegriff zu unterscheiden. Allgemeines kann es je
nur auf der Grundlage des so verstandenen Eidos geben, genauer:
Das Eidos hält sich je in jedem Allgemeinen, sofern dieses ein Allge-
meines von vielfältigem Einzelnen ist. Oder einfacher ausgedrückt:
Das Eidos ist nicht das Allgemeine, sondern stellt einen dritten Be-
griff dar, der Allgemeines und mannigfaltiges Einzelnes miteinander
vermittelt. – Dies vervollständigt die Beschreibung der eben aus
einandergelegten zweifachen Korrelation.
5. Im Kapitel II des dritten Abschnitts von Erfahrung und Ur
teil wird dieser letzte Punkt noch ausführlicher behandelt.37 Hus-
serl erläutert hier auf eine etwas andere Art und Weise, weshalb
die nicht reduzierbare Beliebigkeit (d. h. Kontingenz) des Vorbilds
und die Tatsache, dass die Mannigfaltigkeit der »Nachgestaltungen«
durch eine notwendige Einheit – eine »Invarianz« als »notwendige
und allgemeine Form« jeglicher individuellen Objektität – durchzo-
gen wird, zusammengedacht werden müssen. Er macht hierbei auf
die besondere Rolle des »Blicks«, d. h. der Ideenschau aufmerksam,
durch welche(n) das universelle Wesen gegeben wird: Dieses »stellt
sich heraus als das, ohne was ein Gegenstand dieser Art nicht ge-
dacht werden kann, d. h. ohne was er nicht anschaulich als ein sol-
cher phantasiert werden kann. Dieses allgemeine Wesen ist das Eidos,
die idea im platonischen Sinne, aber rein gefasst und frei von allen
metaphysischen Interpretationen, also genau so genommen, wie es
in der auf solchem Wege entspringenden Ideenschau uns unmittelbar
intuitiv zur Gegebenheit kommt«.38 Die Beliebigkeit des Vorbildes39
36 Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, S. 79.
37 Es bedient sich sonst aber ähnlicher Formulierungen wie jener aus der
Vorlesung von 1925, was auch gleich in einigen Zitaten deutlich werden wird.
38 E. Husserl, Erfahrung und Urteil, Hamburg, Meiner, 1985, S. 411.
39 In den Unterparagraphen a) und b) des § 87 unterstreicht Husserl, dass
die Beliebigkeit der »Varianten« auch eine solche der »Variationen« ist.
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58 Zur Methode der Phänomenologie
ist für die Unterscheidung von Wesen und Faktualität (vgl. oben
das erste Korrelationsverhältnis) wie auch für die Gegebenheit einer
»›offen unendlichen‹ Mannigfaltigkeit«40 unabdingbar. Zugleich ist
aber eben auch diese ideale Einheit gegeben, deren Möglichkeits-
bedingungen jetzt nachgegangen werden muss.
Wie konstituiert sich nun also das Wesen, das Eidos? Das We-
sen, so behauptet Husserl erneut, gründet sich »auf das Fundament
des sich konstituierenden offenen Prozesses der Variation mit den
wirklich in die Anschauung tretenden Varianten«.41 Zwei Punkte
sind hierbei hervorzuheben. Erstens leitet uns in der Variation die
»reine Phantasie«.42 Und zweitens führt diese Fundierung nicht auf
die Zweiheit Tatsache / Eidos, Individuum / allgemeine Wesenheit,
sondern auf eine Dreiheit. Über diese beiden Begriffe hinaus stellt
Husserl nämlich noch einen dritten heraus, der eine »synthetische
Einheit« beider konstituiert:
Bei diesem Übergang von Nachbild zu Nachbild, von Ähnlichem zu
Ähnlichem kommen alle die beliebigen Einzelheiten in der Folge ihres
Auftretens zu überschiebender Deckung und treten rein passiv in eine
synthetische Einheit, in der sie alle als Abwandlungen voneinander er-
scheinen, und dann weiter als beliebige Folgen von Einzelheiten, in denen
sich dasselbe Allgemeine als Eidos vereinzelt. Erst in dieser fortlaufenden
Deckung kongruiert ein Selbiges, das nun rein für sich herausgeschaut
werden kann. Das heißt, es ist als solches passiv vorkonstituiert, und die
Erschauung des Eidos beruht in der aktiven schauenden Erfassung des
so Vorkonstituierten […].43
Dieser dritte Begriff, dieses »Selbige«, diese »synthetische Einheit«
ist also passiv vorkonstituiert. Die Klarstellung dieser passiven
Vorkonstitution stützt sich auf einen entscheidenden Begriff, dank
welchem die Ausarbeitungen in Erfahrung und Urteil jene aus der
Vorlesung von 1925 verdeutlichen und präzisieren:
Was […] als Einheit im Widerstreit erschaut wird, ist kein Individuum,
sondern eine konkrete Zwittereinheit sich wechselseitig aufhebender,
40 Erfahrung und Urteil, S. 413.
41 Ebd.
42 Ebd., S. 411.
43 Ebd., S. 414.
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Die phänomenologische Methode 59
sich koexistenzial ausschließender Individuen: ein eigenes Bewusstsein
mit einem eigenen konkreten Inhalt, dessen Korrelat konkrete Einheit
im Widerstreit, in der Unverträglichkeit heißt.44
Diese »Zwittereinheit« ist das Glied, welches das Eidos mit dem All-
gemeinen einerseits und dem mannigfaltigen Einzelnen andererseits
verbindet. Es kommen hier also in der Tat drei Begriffe ins Spiel, die
in einem gleichsam schwebenden Verhältnis zueinander stehen: das
Allgemeine, die mannigfaltigen Einzelnen und die »Zwittereinheit« –
die eine Einheit der »Kongruenz« und der »Differenz«45 ist und
inniglich das Eidos konstituiert.
6. Wenn das Eidos nun in der Tat keine allgemeine Bestimmung
des Realen im Gegensatz zu individuellen Trägern des Realen, son-
dern eine reine, beliebige Phantasiemöglichkeit ist, dann impliziert
das laut Husserl, dass hierbei die Bindung an die vorgegebene Wirk-
lichkeit unterbunden wird. Die eidetische Variation hat somit – und
das führt den obigen dritten Punkt fort – für das phänomenologische
Feld eine ontologische Relevanz: Sie gestattet es, das phänomenolo-
gische Feld, das ja durch die Epoché von jedem vorgegebenen Sein
entkoppelt wurde, ontologisch so auszulegen, dass der hier relevante
Seinsbegriff kein reales Sein voraussetzt.
7. Das Eidos ist schließlich keine »Idee« im Sinne des Plato-
nismus, sondern, wie gesehen, »frei von allen metaphysischen
Interpretationen«.46 »Platonismus« meint hierbei, dass die Idee eine
eigenständige Seinsform besäße, die sich vom empirisch-realen Sein
abhöbe. Genau diese Inanspruchnahme einer genuinen Seinsform
des Eidos bestreitet Husserl nun aber. Das ändert jedoch nichts da-
ran, dass er der Auffassung ist, Platon selbst (der also streng vom
»Platonismus« unterschieden werden muss) habe im Begriff der
»Idea« oder des »Eidos« bereits das gefasst, was er eben seinerseits
als »Eidos« bezeichnet.
Phänomenologische Deskription. In seinen Erläuterungen der
phänomenologischen Verfahrensweise betont Husserl zumeist, dass
die Phänomenologie deskriptiv verfahre. Was ist das Eigene der phä-
44 Erfahrung und Urteil, S. 417.
45 Ebd., S. 418.
46 Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, S. 73 und Erfahrung
und Urteil, S. 411.
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60 Zur Methode der Phänomenologie
nomenologischen Deskription, und worin unterscheidet sie sich von
herkömmlichen Beschreibungen?
Diese Unterscheidung betrifft in erster Linie die kritische Di-
mension der Phänomenologie. Die Phänomenologie ist die aufmerk-
samste Jägerin aller Form von Naivität – und sie stellt dabei auch in
der Tat mehrere Arten von Naivität heraus. Die niedrigste Form von
Naivität betrifft den Glauben an das An-sich-Sein des gegebenen
Seienden, der bereits durch die Epoché offengelegt und hierdurch
auch vermieden wird. Sie muss sich dann in ihren intentionalen
Analysen an das phänomenal Erscheinende halten, das in »Wesens
deskriptionen« erschlossen wird. Hier wird zunächst ebenfalls
»naiv« verfahren (Husserl spricht auf dieser ersten Stufe von einer
»naiv-gerade[n] Phänomenologie«47), bis dann in einem Folgeschritt
eine »Theorie und Kritik der phänomenologischen Vernunft«48 ge-
leistet wird, die sich ihrerseits durch »höhere Deskriptionen«49 ver-
vollständigen lässt, dank derer die Naivität dann vollkommen besei-
tigt wird. Jene »Naivität« auf der ersten Stufe phänomenologischer
Deskription wird von Husserl als eine »transzendentale Naivität«50
bezeichnet. Sie betrifft das unendliche Forschungsfeld der »tran
szendentalen Subjektivität« vor jeglicher apodiktischen Kritik, also
bevor diese von einer Erkenntnis aus »absoluter und allseitiger
Rechtfertigung geleitet«51 wird. Sie unterscheidet sich von der Nai
vität in der natürlichen, »geradehin« orientierten Einstellung da-
durch, dass letztere sich in ihrem Gegenstand, dessen An-sich-Sein
von ihr (wie gesagt) angenommen wird, verliert.
Wie lässt sich nun der Übergang von der einen zur anderen Stufe
bewerkstelligen, um jene Naivität bloßzustellen?
Der erste wichtige Punkt in der Kennzeichnung der phänome-
nologischen Deskription betrifft die Tatsache, dass sie die intentio
nalen Implikationen, die in jedem intentionalen Bezug implizit ent-
halten sind, hervorkehrt. Die intentionale Analyse geht von aktu-
ellen intentionalen Erlebnissen aus. Aber jede Aktualität impliziert
ihre Potentialitäten. Jede gegenwärtige Gegebenheit oder »Präsenz«
47 E. Husserl, Erste Philosophie (zweiter Teil), Husserliana VIII, Beilage
XXIX (1923), S. 478.
48 Ebd.
49 Ebd.
50 Erste Philosophie (zweiter Teil), Husserliana VIII, S. 170.
51 Ebd., S. 171.
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Die phänomenologische Methode 61
bedeutet zugleich eine Mitgegenwärtigkeit oder »Kopräsenz« von
Horizontalitäten, die ebenfalls gegeben sind, auch wenn sie nicht ex-
plizit gemeint sein können. Diese Horizontalitäten sind gegenüber
der aktuellen Präsenz »überschüssig«: Das Kopräsente geht je we-
senhaft über das aktuell Gegebene hinaus. Diese mitgegenwärtigen
Horizonte sind keine »leeren Möglichkeiten«, sondern sie schrei
ben bereits verwirklichte oder zu verwirklichende Möglichkeiten
vor. Diese werden von Husserl als »Potentialitäten« bezeichnet, die
je solche eines »Ich kann« oder »Ich tue« sind. Keine intentionale
Vermeinung kann somit von solchen Potentialitäten abgelöst werden,
jeder intentionale Bezug impliziert vielmehr stets einen Horizont
von Potentialitäten.
Hinzu kommt, dass die Bewusstseinsgegenstände nicht gleich-
sam von außen ins Bewusstsein gelangen, sondern darin »als Sinn«,
d. h. als »intentionale Leistung der Bewusstseinssynthesis«52 ent-
halten sind. Der intentionale Gegenstand wird niemals als etwas
endgültig Gegebenes vorgestellt. Er kann vielmehr nur dank einer
Explizit-Machung der aktuellen und potentiellen, dabei aber je of-
fenen Horizonte, die der transzendentalen Subjektivität angehören,
herausgestellt werden. Die Horizontintentionalität ist in der Tat ein
wesentlicher Faktor für die Sinnkonstitution des intentionalen Ge-
genstands, da dieser Sinn nie ganz, sondern immer nur »implizit«
vermeint wird, was dessen Entfaltung in anderen intentionalen Er-
fahrungen notwendig macht. Die phänomenologische Deskription
enthüllt somit die intentionalen Implikationen, die der Phänome-
nologe in der Sinnanalyse der intentionalen Leistungen herausstel-
len muss.
Hierbei ist die Anschauung (bzw. die anschauliche Evidenz) von
zentraler Bedeutung – und das ist über die Horizonthaftigkeit der
Potentialitäten und der darin enthaltenen Sinn- und Wesensbeschrei-
bung der dritte entscheidende Aspekt der phänomenologischen De-
skription.53 Diese ist in der Tat nur dann gültig, wenn das zu Be-
schreibende in evidenter Anschauung gegeben werden kann. Für
Husserl bedeutet das, dass die Analyse nicht nur auf ihren Gegen-
stand »schaut«, sondern dass die Anschauung ausweisenden Cha-
52 E. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, S. 80.
53 Fink geht sogar so weit zu behaupten, Evidenz sei »der Titel für das zen
trale Problem der Phänomenologie Husserls«, »Das Problem der Phänome-
nologie Edmund Husserls«, S. 202.
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62 Zur Methode der Phänomenologie
rakter hat und Evidenz verleiht. Hierauf fußt Husserls »Prinzip aller
Prinzipien«, das im § 24 von Ideen I zum Ausdruck kommt. Ihm
zufolge muss jede »Tatsache«, auf die sich unsere Erkenntnis bezieht,
begründet werden, und zwar so, dass »jede originär gebende An-
schauung« hierbei »eine Rechtsquelle der Erkenntnis«54 sei.
Phänomenologische Konstruktion. Dass die Phänomenologie
eine Transzendentalphilosophie ist, äußert sich auf die konsequen-
teste Art und Weise dadurch, dass ihre transzendentale Dimension
auch konstruktive Aspekte in der methodischen Verfahrensweise
offenbart. Dies allein ermöglicht es, die transzendentale Kritik zum
Abschluss zu bringen und den letzten Rest von »transzendentaler
Naivität« abzulegen. Dabei wird auch jenes »Prinzip aller Prinzi-
pien« erweitert, wenn nicht gar letztlich in Frage gestellt.55
Wenn also die phänomenologische Deskription und dabei ins-
besondere die phänomenologische Reduktion die »phänomenolo-
gische Fundamentalmethode«56 ausmacht, heißt das nicht, dass sie
sich hierbei auf die Freilegung des Erfahrungsfeldes der transzen-
dentalen Subjektivität und der entsprechenden intentionalen Im-
plikationen beschränkte. Es ist nämlich so, dass dieser Begriff einer
»Freilegung« implizit auf grundlegende Charakteristiken der phä-
nomenologischen Methode verweist, derer sich Husserl erst in den
(späten) 1920er Jahren voll bewusst geworden ist. Näher betrachtet
gilt, dass, wenn die deskriptive phänomenologische Analyse (in ih-
rem eidetischen Rahmen) für die Herausstellung der »reell-imma-
nenten« Gehalte des »immanenten Bewusstseins« zwar hilfreich und
notwendig ist, sie sich dennoch als ungenügend erweist, wenn es
darum geht, auf die Ebene der letztursprünglich konstituierenden
Phänomene hinabzusteigen. In der Tat ist das Feld der transzenden-
talen Subjektivität nicht bloß »gegeben«, »präsent«, »gegenwärtig«,
so dass eine Deskription hinreichte, deren strukturelle Momente
(seien diese auch nur implizit beschreibbar) herauszustellen, son-
dern es verlangt nach einer Beseitigung der sie verdeckenden Hin-
dernisse – eine »dekonstruktive« Arbeit, die auf das verweist, was
54 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi
schen Philosophie, Husserliana III/1, S. 51. Auf dieses »Prinzip aller Prinzi-
pien« komme ich in Kapitel III ausführlich zurück.
55 Hierzu mehr in Kapitel IV.
56 Cartesianische Meditationen, Husserliana I, S. 61.
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Die phänomenologische Methode 63
Husserl eine »Abbaureduktion«57 nennt, und dem hier ein positi-
ves Gegenstück entspricht, nämlich eine phänomenologische »Kon
struktion«. Diese ist weder eine metaphysische noch eine hypothe-
tisch-deduktive Konstruktion und weist auch nicht lediglich »Be-
dingungen der Möglichkeit« der Erfahrung auf, sondern sie stellt
den Gegenstand der Untersuchung jeweils in die Spannung von
phänomenal Gegebenem und phänomenologisch zu Konstruieren-
dem, was durch eine »konstruktive Anschauung«58 innerhalb der
angesprochenen »transzendentalen Erfahrung« gewährleistet wird.
Das heißt nicht (bloß), wie das bei den ersten Vertretern der Klassi-
schen Deutschen Philosophie der Fall war, dass es eine tatsächliche
Erfahrung des Transzendentalen gibt, sondern dass die Erfahrung,
von der in der Phänomenologie die Rede ist, selbst transzendentale
Strukturen aufweist.
Phänomenologisch konstruiert wird je dann, wenn die phänome-
nologische Deskription an ihre Grenzen stößt, wenn anschauliche
Evidenz nicht zwischen verschiedenen faktisch sich darstellenden
»Grenzfakten« eine Ent-scheidung zu treffen vermag. Zwei Bei-
spiele mögen das veranschaulichen: Ist die ursprüngliche Zeitlichkeit
»objektiv«? Ist sie »subjektiv«? Oder gehört sie einer »präobjekti-
ven« bzw. »präsubjektiven« Dimension an? Andere Frage: Ist das
phänomenologische Ich solipsistisch, also rein egologisch, oder ist
es intersubjektiv konstituiert? Nur die konstruktive Analyse der ur-
sprünglich konstituierenden Phänomene kann hier in der Tat Licht
ins Dunkel bringen. In der Phänomenologie konstruieren heißt so-
mit, in einer Zickzack-Bewegung von jenen Grenzfakten hinabzu-
steigen in die zu konstruierende Dimension dessen, was diese Fakten
erklären kann, wobei man sich immer an diese Fakten zu halten hat –
sie ist keine fiktive, sondern eine je an das zu Konstruierende sich
haltende Konstruktion. Somit wird also klar, was den Husserl’schen
transzendentalen Idealismus vom Kant’schen unterscheidet: Dank
der phänomenologischen Konstruktion unternimmt ersterer, die Er-
57 Die von Husserl im § 44 der fünften der Cartesianischen Meditationen
entwickelte »primordinale Reduktion« ist ein gutes Beispiel für eine sol-
che »Abbaureduktion«. Vgl. das Manuskript C 17, Späte Texte über Zeit
konstitution (1929–1934). Die C-Manuskripte, Husserliana Materialien,
Band VIII, D. Lohmar (Hg.), Springer, 2006, S. 394 f.
58 E. Fink, Phänomenologische Werkstatt (Band 1). Die Doktorarbeit und
erste Assistenzjahre bei Husserl, R. Bruzina (Hg.), Freiburg / München, Alber,
2006, S. 259.
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64 Zur Methode der Phänomenologie
kenntnis zu legitimieren – weswegen in einer konstruktiven Phäno-
menologie die Begriffe des Phänomens und der Erkenntnislegitima-
tion und -begründung zusammen gedacht werden müssen.59
Soviel also zu den klassischen Begriffen der phänomenologischen
Methode, wie Husserl sie in seinen programmatischen Schriften
an zahlreichen Stellen eingeführt und entwickelt hat. Es wird in
der Folge deutlich werden, dass diese Methodenkonzeption ihre
Grenzen hat. Einerseits wird das von Husserl selbst (an)erkannt
(siehe Kapitel IV), andererseits sind bei ihm auch bereits Vertie-
fungen angelegt, die z. T. über seine eigenen Ausführungen hinaus-
gehen (siehe hierzu wiederum Kapitel IV und insbesondere Kapi-
tel V und VI). Auf das Verhältnis der Husserl’schen Phänomenolo
gie zur Heidegger’schen Hermeneutik kann in diesem begrenzten
Rahmen nicht im Detail eingegangen werden – mit einer wichtigen
Ausnahme: nämlich dem Wesen und Status des Verstehensbegriffs.
Dieser soll im Mittelpunkt des nächsten Kapitels stehen, bevor dann
in Kapitel IV gezeigt werden kann, dass Husserls letzte program-
matische Schrift ihn auch für die transzendentale Phänomenologie
selbst nutzbar gemacht hat.
59 Zur näheren Bestimmung der »phänomenologischen Konstruktion« siehe
v. Vf. Wirklichkeitsbilder, Tübingen, Mohr Siebeck, 2015, S. 37 ff. Im dritten
Kapitel wird dieser Begriff noch weiter vertieft.
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Kapitel II
Phänomenologische Ansätze einer
Theorie des Verstehens
Wenn davon die Rede ist, dass Husserl und Heidegger die »Grün-
derväter« der Phänomenologie1 seien und entscheidende Impulse für
die Ausbildung der phänomenologischen Methode gegeben haben,2
dann muss dabei natürlich mit in Betracht gezogen werden, welche
Unterschiede und Divergenzen zwischen dem Intentionalanalyti-
ker Husserl, einerseits, und dem Daseinsanalytiker, bzw. Denker
des Seins und der Seinsgeschichte Heidegger, andererseits, bestehen.
Die Hauptfrage dabei ist, inwiefern Husserls transzendentalphäno-
menologischer Ansatz, der die Phänomenologie als »strenge Wis-
senschaft« versteht und auf radikale Erkenntnislegitimation aus ist,
mit Heideggers hermeneutischem Ansatz, der die Erkenntnisfrage
der Seinsfrage unterordnet, vereinbar ist. Es wird in Kapitel IV ge-
zeigt werden, dass Husserls Standpunkt bezüglich des Status von
»Erkenntnis« und »Verstehen« in seinem letzten Hauptwerk, der
Krisis-Schrift, Heidegger gleichwohl weit nähersteht, als das für
seine Frühwerke gilt, und dass dies dann auch, wie schon gesagt,
für die transzendentale Phänomenologie von enormer Tragweite ist.
Um das eingehender auseinanderlegen zu können, soll die phänome-
nologische Methode nun noch explizit um den Begriff des Verste
hens erweitert werden. Die Überlegungen des vorliegenden Kapitels
werden daher Ansätze zu einer phänomenologischen Theorie des
Verstehens zu liefern versuchen, deren Einsichten dann auch für die
1 Laut Gadamers Zeugnis pflegte Husserl Anfang der zwanziger Jahre zu
sagen: »Die Phänomenologie – das sind ich und Heidegger.«, H.-G. Gadamer,
»Martin Heidegger 75 Jahre (1964)«, in ders., Gesammelte Werke, Band 3,
Tübingen, Mohr Siebeck, 1987, S. 188.
2 Das ist zwar völlig gerechtfertigt, schmälert aber auch z. Bsp. die Rolle
eines Max Scheler innerhalb der Frühentwicklung der Phänomenologie.
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66 Zur Methode der Phänomenologie
daraufhin abzuhandelnden Probleme von Bedeutung sein werden.
Was heißt also »Verstehen«?
In der Bezugnahme von »verstehen« und »›sich‹ verständigen« kün-
digt sich von vornherein ein eigentümliches Spannungsverhältnis
an – ein solches von »mir«, von mir »selbst«, einerseits, und einem
»Anderen«, zugleich jemand und etwas mir gegenüber »Stehendem«,
andererseits –, in dem »Verstehen« nicht als ein Privatereignis ange-
sehen werden kann, welches sich in unseren Köpfen jeweils indivi-
duell abspielt, sondern das »Selbst« und »Anderes« betrifft. Von der
Wohlbegründetheit dieser Bezugnahme, die nicht auf eine Vertiefung
des Ich-Du-Verhältnisses aus ist, sondern eine originelle Figur der
»Andersheit« zeitigt und deren Rolle im Verstehensprozess offen-
bart, soll dabei Rechenschaft abgelegt werden.
Dieses Spannungsverhältnis ist aber nicht das einzige. Von einem
Zitat Husserls (aus der Krisis-Schrift) ausgehend, wonach »[a] lle
natürlichen Evidenzen, die aller objektiven Wissenschaften (die der
formalen Logik und Mathematik nicht ausgenommen), […] in das
Reich der ›Selbstverständlichkeiten‹ [gehören], [welche] in Wahrheit
ihren Hintergrund der Unverständlichkeit haben«,3 soll nämlich
auch noch ein zweites Spannungs- bzw. womöglich Bedingungs-
verhältnis in diesem Verstehens-Begriff angesprochen werden – das
zwischen dem »Selbst-Verständlichen« und dem eine Form der Ne-
gativität einführenden »Unverständlichen«. Auch hier ist, wie man
sieht, von einem »Selbst« (wenngleich in einem etwas anderen Sinn)
die Rede.
Dass eine solche Behandlung der Verstehens-Problematik nach
den jahrzehntelangen Diskussionen, welche die Hermeneutik dar
über geführt hat, immer noch Sinn macht, lässt sich auf zweierlei
Art rechtfertigen. Zum einen ist es nach wie vor so, dass insbeson-
dere in den Geistes- und Kulturwissenschaften nicht überall deut-
lich genug begründet wird, was einem Erkenntnisanspruch in den-
selben gerecht und in einem angemessenen Verständnis davon auch
durchsichtig gemacht wird. Beides ist aber absolut wesentlich – und
wir stoßen hierbei von Anfang an auf ein grundlegendes Problem:
Wenn in den Geistes- und Kulturwissenschaften etwas behauptet
wird, was sich nicht als ein bloßes Dahinsagen versteht, sondern
3 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzen
dentale Phänomenologie, Husserliana VI, S. 192.
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Phänomenologische Ansätze einer Theorie des Verstehens 67
nseren Erkenntnisrahmen auf irgendeine Art und Weise erweitern
u
soll, dann muss sich ja das solcherart Behauptete (und eine Form der
»Wahrheit« Beanspruchende) von etwas epistemisch nicht Ausweis-
barem, »Falschem« unterscheiden lassen. Und dabei kann man sich
nicht damit zufriedengeben, dass aufgrund berechtigter Einsichten
»post-strukturalistischer«, »post-moderner« usw. Paradigmen der
Totalitätsanspruch der Erkenntnis (und des dabei hineinspielenden
Verständnisses) nicht mehr eingelöst werden könne. Denn auch sol-
che Einsichten machen ja einen Erkenntnisanspruch – etwa gegen-
über den metaphysischen »großen Erzählungen« (den von Lyotard
kritisierten »grands récits«) – geltend. Es soll somit von der Phäno-
menologie aus an die Geistes- und Kulturwissenschaften allgemein
die Forderung erhoben werden, aufs Neue die Frage nach Sinn und
Möglichkeit des Erkennens und Verstehens überhaupt zu stellen –
und zwar schlicht und einfach deshalb, weil es nötig ist, im Wirrwarr
der Diskurse nicht die Orientierung zu verlieren und sich eines – sei
es auch nur filigranen – Horizonts zu versichern, der eine kritische,
denkerische Haltung überhaupt erst möglich macht.
Die angesprochene Rechtfertigung ist aber auch innerhalb der
Philosophie selbst zu leisten. Zu stark sind die Vorbehalte gegenüber
dem Begriff einer »transzendentalen« Perspektive, also e iner solchen,
die noch einmal nach den Möglichkeitsbedingungen des Erkennens
fragt – und zwar deshalb, weil gemeinhin angenommen wird, dass
eine solche Frage nur so beantwortet werden kann, wie das in den
klassischen Formen der Transzendentalphilosophie der Fall war:
nämlich durch ein transzendentales »Subjekt«, das Anspruch auf
Letztfundierung hat, somit gewissen Machtparadigmen unterliegt
und gegenüber all jenen Errungenschaften der neueren Psycholo-
gie, Soziologie, Anthropologie usw., die einen solchen Fundierungs
anspruch längst abgewiesen hatten, taub bzw. blind ist. Nun ist aber
»Verstehen« freilich (»noch«) kein Erkennen. Und deshalb soll hier
gerade umgekehrt danach gefragt werden, ob sich die Erkenntnis-
bedingungen, sofern sie nicht mit den Möglichkeitsbedingungen
der Naturwissenschaften (und insbesondere der mathematisierten
Naturwissenschaften) zusammenfallen, nicht in einen Verstehens-
horizont einschreiben, der den Status der genuin philosophischen
Erkenntnis zu erhellen vermag.
Was heißt also, noch einmal gefragt, »Verstehen«? Dieser Begriff
hat quintessenzielle Bedeutung für eine Disziplin, die zwar bereits
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68 Zur Methode der Phänomenologie
vor der Phänomenologie existiert, aber insbesondere durch dieselbe
entscheidende, neue Anregungen erhalten hatte – nämlich für die
»Hermeneutik«. Hans-Georg Gadamer, ihr bedeutendster Reprä-
sentant im 20. Jahrhundert, hatte bekanntermaßen suggeriert, dass
das Verstehen keiner spezifischen Methode unterzuordnen sei. Der
folgende Versuch soll dahin gehen, die genuin phänomenologische
Bedeutung des Verstehens-Begriffs zu betonen – und zwar deshalb,
um doch die methodologische Dimension dieses Begriffs hervorzu-
heben. Dafür muss vorausgeschickt werden, dass der tiefste Sinn des
Verstehens offenbar zwei Klippen umschiffen sollte (und dies auch
vermag): Verstehen ist einerseits nicht lediglich die subjektiv-psy-
chologische Seite der Medaille, gegenüber welcher die Erkenntnis
die objektiv-wissenschaftliche wäre; und Verstehen darf auch nicht
lediglich als eine Form des »Angleichens« an ein bereits vorausbe-
stehendes, vorausgesetztes Seiendes aufgefasst werden. Es wird jetzt
also eine Konzeption des Verstehens zu entwerfen versucht, die in
einem ersten Schritt von Errungenschaften früherer solcher Versu-
che zehrt, um dann auf zwei weitere Aspekte hinzuweisen, die zwar
auch nicht unbekannt sind, aber vielleicht in ihrer Zusammengehö-
rigkeit so noch nicht allzu häufig entwickelt wurden. Was jene frü-
heren Versuche angeht, sind in der neueren Philosophiegeschichte,
also seit ca. zwei Jahrhunderten, die interessantesten Theorien oder
Konzeptionen des Verstehens jene von Fichte und Heidegger. Aus
Gründen inhaltlicher Natur sollen jetzt diese beiden Konzeptionen
in umgekehrter zeitlicher Reihenfolge etwas ausführlicher vorge-
stellt werden.
Zunächst sei also an Heideggers Verstehens-Auffassung erinnert, die
sich, wie schon oft bemerkt wurde, am Verstehen eines Textes ori-
entiert, sich darauf aber nicht reduziert.
Wenn ich etwas verstehe, dann geht das selbstverständlich nicht
so zu, dass das zu Verstehende gleichsam von außen in mich ein-
flösse, was mich hierbei in eine rein passive Haltung versetzte; viel-
mehr bringt »Verstehen« eine bewusstseinsmäßige Tätigkeit ins
Spiel, die ein gewissermaßen aktives Sich-Halten zum zu Verstehen-
den notwendig macht. Dies kann sich insofern »unbewusst« voll-
ziehen, als ich in diesem zu Verstehenden zumeist aufgehe und also
meine Aufmerksamkeit nicht auf diese Tätigkeit richte. Welcher Art
die Bewusstseinsleistung ist, die hierbei vollzogen wird, wird gleich
näher erörtert.
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Phänomenologische Ansätze einer Theorie des Verstehens 69
Worin besteht nun genauer jenes – in gewisser Weise aktive –
Sich-Verhalten zum zu Verstehenden? Nehmen wir als ganz einfa-
ches Beispiel einen schriftlich oder mündlich ausgedrückten Gedan-
ken, der sich in mehreren Schritten entfaltet. Auf der Grundlage des
Entzifferten oder Vernommenen heißt »Verstehen« wesenhaft »Ent
werfen«. Laut Heidegger ist dieses Entwerfen ein »Sich-Entwerfen
auf Sinn«. Hierbei ist jedes Wort entscheidend und muss detailliert
erläutert werden.
Zunächst stellt sich bei einer Lektüre eines Textes oder dem Ver-
nehmen eines ausgesprochenen Gedankens die Frage, was genau
verstanden wird – und wie das abläuft. Die Schwierigkeit besteht
darin, dass hierfür kein sinnlicher Probierstein herzuhalten vermag.
Beim Verstehen wird ja nicht lediglich dieser Buchstabe oder je-
ner Laut »verstanden«, sondern das, worauf er jeweils bedeutend
hinweist. Und hier kommt nun der Sinn-Entwurf ins Spiel – ein
höchst bedeutungsvolles Vermögen, das den sinnlichen Signifikan-
ten eben mit »Sinn« erfüllt. Das ist aber zweifach bemerkenswert:
Denn einerseits ist schon erstaunlich, dass es überhaupt möglich
ist, einen solchen Signifikanten mit einem Signifikat zu verbinden;
darüber hinaus ist es aber noch auffälliger, dass er auch noch einen
bestimmten Sinn haben kann, der ihn von anderen Sinnen bzw. Be-
deutungen klar abgrenzt.
Wie gesagt: Die Frage ist nun, wie das genau abläuft. Laut Heid
egger vollzieht sich das so, dass der Verstehende durch das sinnli-
che Vernehmen dazu angeleitet bzw. motiviert wird, eine Verständ-
nishypothese zu entwerfen – und zwar in ein unsichtbares »Feld«
hinein, das man als »Verständnisfeld« bezeichnen könnte. Dieses
»Verständnisfeld« hat zwei grundlegende Eigenschaften: Zum einen
ist es ein hypothetisches Sinn- oder Bedeutungsfeld, das heißt: die
Richtigkeit oder Stimmigkeit der Verständnishypothese steht nicht
von vornherein fest, sondern muss sich offenbar allererst erweisen;
und zum anderen ist jeder Sinnentwurf je auch ein Selbst-Entwurf,
das Verständnisfeld besteht also nicht in der »rein« objektiv-sachli-
chen Bedeutung des zu Verstehenden, sondern es fließt in dasselbe
etwas vom Verstehenden selbst ein. Gehen wir nun auf diese beiden
Punkte etwas ausführlicher ein.
Man könnte meinen, »Verstehen« heiße, die »richtige« ein für alle
Male treffende und triftige Bedeutung zu erfassen. Heideggers These
ist, dass es eine solche gar nicht gibt. »Verstehen« kann zum Bei-
spiel nicht mit dem Lösen einer Mathematik-Aufgabe gleichgesetzt
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70 Zur Methode der Phänomenologie
werden, die zwar unter Umständen mehrere Lösungswege anbietet,
aber je nur eine einzige Lösung bereithält. Das zu Verstehende ist
je nur im Entwurf zugänglich und bleibt gewissermaßen auch da-
rin enthalten – wobei es zumeist verdeckt bleibt und daher nicht ins
Bewusstsein gelangt. Nehmen wir zur Verdeutlichung ein Beispiel.
Was heißt es, Aristoteles’ Metaphysik zu verstehen? Ohne zunächst
auf die Schwierigkeiten einzugehen, welche die Übersetzung des auf
Griechisch verfassten Werkes bereitet, kann das »Verstehen« dieses
Textes nur bedeuten, dass bei jedem Leseversuch besagte »Verste-
henshypothesen« entworfen werden (und entworfen werden müs
sen), die bei jeder erneuten Lektüre und den unaufhörlichen Ver-
suchen, eine Gesamtkohärenz der dort vorliegenden Gedanken zu
erfassen, neu angepasst und justiert werden müssen. Dabei bewegen
wir uns aber in einem Kreis von zu bewährenden und je neu zu
entwerfenden Verstehenshypothesen – ein Kreis, aus dem wir nicht
hinauszugelangen vermögen, weil einfach kein Zugang zur »Bedeu-
tung« an sich möglich ist, und zwar deshalb, weil diese schlicht und
einfach nicht existiert! Nun könnte man vielleicht einwenden, dass
es eine solche doch durchaus irgendwie geben muss, da Aristoteles
zweifellos etwas im Sinn gehabt hat, als er jene Vorlesungsnotizen,
aus denen dieses Werk besteht, verfasste. Aber »etwas im Sinn« ha-
ben und der Auffassung sein, es gebe eine objektive Bedeutung, die
von allen eins zu eins geteilt werden könne, ist keineswegs dasselbe!
Das Grundproblem, das sich hier stellt, ist also die Frage, welcher
Art das zu Verstehende ist, wenn es einerseits kein objektiv Festes,
sondern je Entworfenes ist, andererseits aber der Entwurf ja nicht
völlig frei und willkürlich sein kann, sondern der Sinnhaftigkeit des
je Vernommenen entsprechen oder zumindest gerecht werden muss.
Die Schwierigkeiten liegen allerdings noch tiefer. Denn wenn
man die Dinge so darstellt, wie das gerade geschehen ist, klingt das
so, als spiele sich hier alles auf der Ebene der Frage nach der Bedeu-
tung ab (deren Existenzmodus freilich allererst noch präzisiert wer-
den muss) und als wäre insbesondere der Zugang dazu bereits ge-
klärt. Aber nicht einmal das ist der Fall. Dies betrifft den bekannten,
von Heidegger eingeführten und dann von seinem Schüler Gadamer
weiter ausgeführten »hermeneutischen Zirkel«. Dieser bezeichnet
folgendes Problem. Die Metaphysik von Aristoteles liegt auf Alt-
Griechisch vor. So gut man diese tote Sprache auch beherrschen mag,
kaum jemand wird wohl behaupten, dass der Sinn des gesamten Tex-
tes unmittelbar einsichtig wäre. Dies lässt sich besonders gut an der
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Phänomenologische Ansätze einer Theorie des Verstehens 71
überwiegenden Mehrheit der Leser illustrieren, die den Original-
text – wenn überhaupt – nur mühsam zu entziffern vermögen. Wenn
man – als dem Alt-Griechischen also nur leidlich mächtig – einen
Satz aus dieser Sprache vor sich hat, kann man dessen Sinn nur dann
verstehen, wenn man ihn in eine Sprache übersetzt, in der einem
der Sinn unmittelbar (oder zumindest – ich komme d arauf gleich
zurück – unmittelbarer) zugänglich ist. Aber, und das ist der Clou,
um ihn richtig (d. h. nicht einfach mechanisch, wie zum Beispiel ein
Übersetzungsprogramm) übersetzen zu können, muss man ihn ja
bereits verstanden haben. Wie soll man ihn aber verstehen, bevor er
übersetzt wurde? Der »hermeneutische Zirkel« bringt genau dieses
Sich-im-Kreise-Drehen zum Ausdruck. Und die entscheidende Er-
kenntnis hierbei ist nun, dass genau dasselbe Problem nicht nur beim
Verständnis eines fremdsprachigen Satzes, sondern generell besteht –
es sei denn, man legt, wie etwa in der Mathematik, von vornherein
fest, was wie durch Axiome und Definitionen das »Verständnisfeld«
unzweideutig und ein für alle Male bestimmt wird. Aber genau eine
solche Axiomatisierung ist eben im Verstehen des Lebens des Geis-
tes und auch des Alltags nicht möglich. Und zwar grundsätzlich –
jeder Versuch in diese Richtung schafft einen künstlichen Rahmen,
der dieses Lebendige nicht zu fassen vermag.
Der Sinnentwurf ist aber, wie oben erwähnt, Heidegger zufolge
auch ein Sich-Entwerfen auf Sinn – und ich komme somit, wie an-
gekündigt, zum Status der bewusstseinsmäßigen Leistungen inner-
halb des Verstehensentwurfs. In jedem Verstehen, so seine These,
geschieht in gewisser Weise auch ein Sich-Auslegen des Selbst. Das
soll anhand zweier Bilder verdeutlicht werden. Ein Beispiel könnte
der Alterswahrnehmung meiner Mitmenschen entnommen werden.
Jeder kennt das: Wenn man sechzehn Jahre alt ist, kommt einem eine
fünfunddreißigjährige Person nicht gerade jung vor. Wenn man fünf-
zig ist, nimmt man jemanden in demselben Alter dagegen durchaus
als jung wahr. Ein anderes Beispiel wäre die Projizierung auf eine län-
gere zeitliche Dauer: Für einen jungen Menschen stellen fünf Jahre
eine ganz andere Dimension als für einen deutlich Älteren dar. Im
Sinnentwurf spielen nun ähnliche – freilich nicht rein psychologi-
sche – Momente hinein. Interessant sind dabei Erklärungsversuche
unserer erkenntnistheoretischen oder auch politischen Vorlieben.
Fichte hatte in einem oft zitierten Satz behauptet, die Philosophie,
die man wählt, hänge davon ab, was für ein Mensch man sei. Dabei
geht es nicht um den »Charakter« des Einzelnen, sondern um seine
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72 Zur Methode der Phänomenologie
Grundhaltung zur Welt. Ähnliches gilt auch für unsere politischen
Überzeugungen. Der französische Philosoph Gilles Deleuze hat
hierfür einmal den Verstehenshorizont und das Selbst in Zusammen-
hang gesetzt. Für ihn ist die Frage nach der politischen Überzeugung
die nach der »Sichtweise« (bzw. des »Standpunktes«) – also nach der
Art und Weise, wie das »Selbst« die »Welt« betrachtet und sich ihr
gegenüber hält. Der »Konservative«, »Rechte«, schaue zunächst auf
sich, um von dort konzentrisch zur Familie, zur Gemeinde, zur Na-
tion usw. zu kommen, während der »Progressive«, »Linke«, umge-
kehrt je von der Gemeinschaft ausgehe und erst ganz am Ende an sein
eigenes Empfinden denke. Das mag zwar ziemlich karikiert klingen,
und um die Berechtigung einer solchen Sichtweise soll jetzt auch
gar nicht gestritten werden – es geht lediglich darum, zu betonen,
dass in beiden Fällen das, was Heidegger nun nicht mehr bloß die
bewusstseinsmäßige, sondern die ontologische Beschaffenheit des
menschlichen Daseins und seiner Weltentwürfe genannt hat, unseren
Verstehensentwurf in entscheidendem Maße tangiert bzw. »färbt«.
Das entscheidend Neue dabei ist, dass Heidegger hier eine Dimen-
sion des menschlichen Verstehens aufgedeckt hat, die nicht einfach
auf der psychologischen Ebene angesiedelt ist und natürlich auch
nicht den Gegenstand betrifft, sondern gleichsam diesseits der er-
kenntnistheoretischen und der ontologischen Ebene verortet werden
muss. Die Frage aber, wie das zugänglich gemacht werden kann, ist
ein genuines Arbeitsgebiet der Phänomenologie – dazu gleich mehr.
Fichtes Verstehensauffassung ist anderer Natur, bezieht sich aber
gleichwohl in gewisser Weise auch auf das soeben Dargelegte. Für
ihn kommt Verstehen im Wesentlichen dem Einsehen, der Einsicht
gleich. Dieser Begriff hat mehrere Grundzüge. Einsehen ist stets ein
verinnerlichendes Verstehen (»ein-« verweist nämlich einerseits auf
»in-«); es ist aber auch ein auf Einheit ausgerichtetes Verstehen (das
»ein-« bringt nämlich andererseits in der Tat auch eine Einheit, die
einen anderen Wesenszug von Fichtes Verstehensauffassung kenn-
zeichnet, ins Spiel). Das Wichtigste ist aber das Sehen im Einsehen,
das in einem eigentümlichen Bezug zum Denken steht. Hier kommt
Fichtes Bildlehre ins Spiel.
Fichtes Verstehenstheorie ist in der Tat in seiner berühmten Bild-
theorie enthalten.4 Laut dieser spielen im Erkenntnisprozess ver-
4 Die unterschwellige Bedeutung dieser Bildlehre für die Phänomenolo-
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Phänomenologische Ansätze einer Theorie des Verstehens 73
schiedene Bildarten oder Typen von Schemata eine entscheidende
Rolle. Für unser Problem ist dabei der Gedanke maßgeblich, dass
wir uns beim Verstehen stets zuerst ein Bild vom zu Verstehenden
machen müssen. Und dieser Bild-Typus hat in Fichtes Augen die
Eigenschaft, dass er es ermöglicht, uns einen Begriff von etwas zu
machen; einen Begriff also oder ein Bild von dem, was es zu ver-
stehen gilt. Und Begreifen heißt wiederum: etwas durch etwas zu
begreifen. Ich begreife nicht direkt, unmittelbar etwas; unmittel-
barer Natur sind allein sinnliche Anschauungen. Im Begriff ist eine
Vermittlung enthalten, ein »Eins-durchs-Andere« (und umgekehrt).
Und das Entscheidende ist nun, dass ab einem gewissen Punkt dieses
Bild, das für das Verstehen unabdingbar ist, erkannt wird als mit dem
Verstehenden nicht zusammenfallend, gerade und insofern als es ja
»nur« ein Bild ist. Damit wir aber eigens »verstehen«, also mit dem
zu Verstehenden gleichsam zusammenfallen können, muss das Bild
in seinem Bildheitscharakter oder der Begriff in seinem Begriffs
charakter vernichtet werden. Für Fichte heißt »Verstehen« je die
Vernichtung des Begriffs von etwas als eines Begriffs – wobei man
sich das nicht so vorstellen darf, dass dann einfach zurückgenom-
men würde, was zunächst aufgestellt wurde (wodurch man ja keinen
Schritt vorangekommen wäre), sondern in dieser Vernichtung geht
einem buchstäblich ein Licht auf – es geschieht oder vollzieht sich
also die besagte Einsicht. Noch einmal: Die Vernichtung des Begriffs
bedeutet nicht, dass ich mir etwas vorstelle und diese Vorstellung
dann einfach fallenlasse, sondern dass ich zur Einsicht der Nicht-
Übereinstimmung von Begriff und zu Begreifendem gelange. Betont
werden muss hierbei der genuin negative Charakter des Verstehens
(über den vielleicht nicht häufig genug nachgedacht wird): Fichte
lässt erahnen (allzu explizit äußert er sich hierüber nicht), dass das
Verstehen keine positive Bestimmung hat. Das erscheint zunächst
durchaus plausibel, denn jedes Mal, wenn ich etwas verstehe, ist das
Verstehen selbst, der Verstehensvollzug selbst, ja in gewisser Weise
immer gleich, allein der Inhalt (also das Verstandene) ist je ein an-
derer. Auf einer tieferen Ebene ist das dann aber etwas verzwickter
und umso bemerkenswerter: Fichte stellt nämlich heraus, dass dem
Verstehen in der Tat eine genuine Negativität eigen ist, dass also da-
rin immer auch die Idee enthalten ist, dass etwas, das als X einsichtig
gie – und zwar sowohl in erkenntnistheoretischer als auch in ontologischer
Hinsicht – wird in den letzten beiden Kapiteln deutlich werden.
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74 Zur Methode der Phänomenologie
wird, durch die zugrundeliegende Einsicht, dass es nicht Y ist, er-
möglicht wird. Im verstehenden Einsehen geht also etwas auf – und
zwar immer so, dass dabei auch etwas zugrunde geht.
Während Heidegger also den unhintergehbaren Entwurfscharak
ter des Verstehens betont, geht es Fichte darum, das Moment des
auf ein Zugrundegehen gegründeten Einleuchtens hervorzuheben.
Trotz dieses Unterschieds überschneiden sich die Verstehensauffas-
sungen der beiden dennoch mindestens in zweierlei Hinsicht. Beide
bestehen darauf, dass das Verstehen einen Vermittlungsprozess zur
Voraussetzung hat: nämlich für Heidegger den Entwurf auf Sinn, für
Fichte die Ausbildung eines Begriffs des zu Verstehenden. Und ob-
wohl es bei Heidegger nie zu einer festen Einsicht kommt, sondern
die Verstehensentwürfe gleichsam ad infinitum fortgesetzt werden
können (bzw. müssen), wohingegen laut Fichte das Verstehen durch
eine Begriffsvernichtung gekennzeichnet ist, in der und durch die es
sehr wohl zu einer solchen Einsicht kommt, treffen sich auch hier
beide Ansätze insofern, als sie durch eine eigentümliche Negativi
tät ausgezeichnet sind, auf die gleich noch näher eingegangen wird.
Soviel zum ersten Punkt, der den Zweifachaspekt des Entwerfens
und des Vernichtens in den Mittelpunkt gerückt hat. »Verstehen« hat
aber auch eine zweite grundlegende Bedeutung, die zuerst von den
Protagonisten der Klassischen Deutschen Philosophie – namentlich
wiederum von Fichte, aber auch von Hegel – betont wurde. Da-
nach spricht sich im »Verstehen« ein »Zum-Stehen-Bringen« aus.
Die Grundidee dabei ist, dass das zu Verstehende – der Sinn – be-
weglich, flüchtig, gleichsam ungreifbar ist und somit nach einer ei-
gentümlichen Fixierung verlangt, die eben durch den »Ver-stand«
geleistet werde.5 Allerdings ergibt sich hierbei das Problem, dass
in jenem verständigen Zum-Stehen-Bringen die besagte Fixierung
den Sinn seiner wesenhaften Mobilität beraubt und ihn dadurch
dergestalt modifiziert (Marc Richir spricht diesbezüglich von einer
»Transposition«), dass er durch den Verstand eben gerade nicht so
erfasst wird, wie er »eigentlich« ist. Ist das für die Möglichkeit des
Sinnverständnisses fatal? Oder kann jene modifizierende Transfor-
mation auch anders als lediglich negativ aufgefasst werden?
5 »Der Verstand ist Verstand, bloß insofern etwas in ihm fixiert ist; und al-
les, was fixiert ist, ist bloß im Verstande fixiert«, J. G. Fichte, Grundlage der
gesamten Wissenschaftslehre, GA I, 2, S. 374.
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Phänomenologische Ansätze einer Theorie des Verstehens 75
Zwar hatte Hegel etwa stets die Notwendigkeit und die Tugen-
den des Verstandes betont, allerdings auch nur, um dafür umso mehr
die Überwindung der Verstandeslogik in und durch die Vernunft
erkenntnis zu fordern (und zu vollziehen). In der hier angestreb-
ten Verstehensauffassung soll ein anderer Weg eingeschlagen wer-
den. Dieser besteht darin, in der durch den Verstand vollzogenen
Modifizierung des Sinnes nicht eine Schwäche, sondern vielmehr
eine Stärke zu sehen. Es findet hier nämlich eine Transformation
statt, die qua »Alteration« bzw. »Veranderung« eine Dimension der
»Alterität« aufscheinen lässt, welche eine ganz neue Form des »Ab-
stands« zeitigt, der von der üblicherweise betonten Spaltung des
ichlichen Bewusstseins fundamental unterschieden werden muss. In
den klassischen – reflexiven – Bewusstseins- bzw. Selbstbewusst-
seinstheorien steht in der Tat der Abstand vom Ich zu sich selbst
im Vordergrund. Hierbei scheint aus der egologischen Perspektive
nicht hinausgelangt werden zu können, was insbesondere Denkern
wie Fichte oder Husserl den – übrigens unberechtigten – Vorwurf
des Subjektivismus, Produktionsidealismus, Solipsismus usw. einge-
bracht hat. Hier dagegen wird die Betonung auf den Abstand gelegt,
der dadurch entsteht, dass das verstehende Ich sich zum zu Ver-
stehenden »ver-stehend« (also zum-Stehen-bringend) in Beziehung
setzt (analog der Quantenmechanik, wo die Messung sich ja auch
gleichsam störend auf das zu Messende auswirkt – mit dem Unter-
schied allerdings, dass in ihr nichts zum Stehen kommt, während ge-
rade das hier eben der Fall ist). Dadurch findet eine sinn-produktive
»Veranderung« statt, die weder ganz dem zu Verstehenden eigen ist
(denn sie wird ja durch den Verstehenden hervorgerufen), noch al-
lein dem Verstehenden zuzuordnen ist (denn es geht dabei ja immer
um das zu Verstehende). Ohne diesen Punkt weiter zu vertiefen, soll
hier also nur betont werden, dass das Verstehen eine »Veranderung«,
das heißt: ein verständnis-eröffnendes, sinn-erzeugendes Aufgehen
von Anderem, zwar nicht zur Bedingung hat, aber durchaus her-
vorbringt – und zwar so, dass dadurch paradoxerweise das Zum-
Stehen-Gebrachte eben immer neue Verstehensentwürfe hervorruft.
Von hier aus kann schließlich zum dritten Hauptaspekt dieses Ent-
wurfs einer phänomenologischen Verstehenstheorie übergegangen
werden. Dieser betrifft den Bezug von Verständlichem (bzw. Selbst-
verständlichem) zum Nicht-Selbst-Verständlichen. Husserl hatte
in dem eingangs angeführten Zitat bereits auf jenen von Selbstver-
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76 Zur Methode der Phänomenologie
ständlichem und Unverständlichem hingewiesen, und ich gehe auch
sofort näher darauf ein. Zunächst aber soll das Nicht-Selbst-Ver-
ständliche ganz wörtlich genommen werden: Im Kontext des gerade
Auseinandergelegten bezeichnet es das, was sich nicht selbst zum
Stehen bringt – also eben jene Sinndimension, die in gewisser Weise
nach einer fixierenden Festlegung verlangt und dadurch, wie bereits
gesagt, eine »Veranderung« mit sich bringt. Laut Husserl muss das
»Verstehen« – zumindest in der phänomenologischen Sichtweise –
nun aber mit dem »Unverständlichen« in Beziehung gesetzt wer-
den, entsprechend seiner Behauptung, das Selbstverständliche habe
seinen »Hintergrund« des Unverständlichen. Damit will er nicht
sagen, dass die Phänomenologie sich dem Unverständlichen völlig
preisgäbe, sondern vielmehr, dass es in ihr um das »Nicht-Selbstver-
ständliche im Selbstverständlichen« geht. Und wir können nun viel-
leicht ein wenig besser nachvollziehen, wie dieses »Unverständliche«
genauer aufzufassen ist: nicht als ein dem Verständnis sich völlig
Entziehendes, sondern als jener Hintergrund des zu Verstehenden,
der es – eben dank des nötigen Zum-Stehen-Bringens – möglich
macht, dass dasselbe einsichtig gemacht werden kann. Und hier-
bei geht Husserl insofern über die reine Darstellung der »Verande-
rung« hinaus, als er eine Dimension der Nicht-Offenbarkeit eröff-
net, die den Verstehensprozess dahingehend erweitert, dass er eben
Selbst-Verständliches und (Noch-Nicht-) (Selbst-)Verständliches
miteinander in Beziehung setzt. Was dem aber noch hinzuzufügen
wäre – und hierin besteht die Notwendigkeit, Husserls Ansatz noch
weiter zu denken – ist, dass das dergestalt »Unverständliche« sei-
nerseits irgendwie zur Erscheinung kommen, »phänomenalisiert«
werden muss. Und diese Art der Phänomenalisierung kann nicht
einfach beschreibend sein, denn sonst hätte dieser gesamte Verweis
auf Unverständliches, Nicht-Selbstverständliches usw. gar keinen
Sinn. Es handelt sich dabei um kein äußerliches Entwerfen, das ver-
nichtet werden muss, sondern um ein innerliches Entwerfen bzw.
ein selbstentwerfendes Verstehen. Dabei geht es um die Eröffnung
einer Verständniserweiterung, die das Selbst in und durch die nicht
rein erfahrungsmäßig angestoßene »Veranderung« entwirft. Husser-
lianisch-kantisch ausgedrückt heißt »Verstehen« somit: Horizont
eröffnung von Synthetizität a priori. Die als transzendentaler Idea
lismus verstandene Phänomenologie geht über die Beschreibung von
»Assoziationen« insofern hinaus, als sie »a priori« eine Erweiter
barkeit der Erkenntnis ermöglich, die nicht hypothetisch-deduk
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Phänomenologische Ansätze einer Theorie des Verstehens 77
tiv erschließbar ist. Hierfür sind die Ansätze heranzuziehen, die
den Begriff der »phänomenologischen Konstruktion« stark ma-
chen, da dieser insbesondere einer eigenen Form der »Positivität«
Rechnung zu tragen sucht, was sich auf jene »Unverständlichkeit«,
»Unscheinbarkeit« innerhalb des Nicht-Offenbaren, das Erschei-
nende aber Bestimmenden, bezieht. Phänomenologisch zu konst-
ruieren heißt »genetisieren«, d. h. auf einen Sinn hin entwerfen, in
dessen Entwurf (bzw. in dessen Konstruktion) sich zwar, und das
ist ganz wesentlich, reflexiv Gesetzmäßigkeiten offenbaren (hierin
besteht der Unterschied zum hermeneutischen Verstehensentwurf),
dieser Entwurf (bzw. diese Konstruktion) aber auch je der »Ver
anderung« ausgesetzt ist, was ihm bzw. ihr unvermeidlich neue und
unerschöpfliche Denkperspektiven eröffnet. Genau das gibt nun in
einem letzten Schritt die Gelegenheit, anhand dieser Überlegungen
zum »Verstehen« kurz noch einmal auf die Methode der Phänome-
nologie einzugehen.
Wenn die Phänomenologie, wie im vorigen Kapitel ausführlich be-
handelt, als eine »Methode« definiert wird, die der Art und Weise
Rechnung trägt, wie in anschaulicher Gegebenheit Phänomene und
die ihnen entsprechenden konstitutiven Leistungen des »intentiona-
len Bewusstseins« beschrieben werden, bleibt man in der Tat auf hal-
ber Strecke stehen. In der Phänomenologie geht es grundlegend (wie
oben bereits dargelegt) darum, jede Form der Sinnhaftigkeit dessen,
was erscheint, verständlich zu machen. Es geht also primär um Ver-
ständlich-Machung. Und zwar so, dass hierfür in erster Linie das ei-
gene Vollziehen des Verstehens, der Selbst-Vollzug, im Vordergrund
steht und je geleistet werden muss. Was dabei nicht vorausgesetzt,
sondern buchstäblich entdeckt wird, ist, dass dieses eigens zu voll-
ziehende Verständlich-Machen »Sinnschichten« offenbart, die nicht
unbedingt unmittelbar zugänglich sind. Die grundlegende Frage ist
dann, wie damit umzugehen ist. Die Antwort der Gründerväter der
Phänomenologie bestand darin, auf verschiedene Weisen des »Rück-
gangs«, »Reduzierens«, »Zurückführens« (also auf die »phänome-
nologische Reduktion«) zu verweisen – so als seien wir trotz aller
wacher, performativer Vollzugsleistungen Zu-spät-Kommende, die
nachzuvollziehen hätten, was sich je schon »vor« uns abgespielt
habe. Daher auch die bekannte Rede vom »Zurück zu den Sachen
selbst«, die nicht bloß danach trachtet, sich von anderen Formen des
Philosophierens abzusetzen, sondern die Genese der Sachlichkeit
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78 Zur Methode der Phänomenologie
und Sachhaftigkeit überhaupt zu leisten beansprucht. Man könnte
dagegen aber auch eine andere Losung ausgeben – nicht »zurück« zu
den Sachen, sondern hinaus! Hinaus zum Offenen. Hinaus zum Ho-
rizont dessen, was uns Sachlichkeit allererst zur Erscheinung bringt.
Hinaus, nicht zum sinnlich Wahrnehmbaren, immer schon Voraus-
gesetzten, sondern zum Er-Öffnenden, was Einbildungskraft und
Phantasie beansprucht. Hinaus – in einer »endo-exo-genetisieren-
den« Bewegung (also einer solchen, die der innerlichen und äußer-
lichen Sinnbildung zugleich Rechnung trägt) – zum Transzendenten,
die Innerlichkeit je Übersteigenden (wobei diese »Transzendenz«
keine Gottheit meint, sondern schlicht das Unvorgreifliche, Un-
vordenkliche, was das Verstehen in höchstem Maße herausfordert).
Hinaus schließlich nicht zu positiv Gegebenem, sondern zum durch
Negativität gekennzeichneten zu Verstehenden. Und was sich da-
bei offenbart, ist, dass man – trotz aller Betonung dieser Negativi-
tät – in diesem Hinaus-Schwingen auf Nicht-Reduzierbares stößt –
in einer gewissen zeitgenössischen französischen Phänomenologie
(nicht in allen ihren Ausbuchstabierungen!) ist deshalb auch viel
vom »irréductible«, also von dem, was sich eben nicht reduzieren
lässt, die Rede.6
Fassen wir also den Gedankengang dieses Kapitels noch einmal kurz
zusammen. Das Verstehen ist nicht die Sache der Hermeneutik allein,
sondern es soll eben auch, wie gesagt, als ein spezifischer Grund-
begriff der Phänomenologie aufgefasst werden. Es wurde in diesem
Zusammenhang versucht, einen Verstehensbegriff zu entwerfen, der
im Mittelpunkt einer Betrachtung der spekulativen Grundlagen der
Phänomenologie steht, die auch in den folgenden Kapiteln weiter
entfaltet werden. Dabei fielen drei Gesichtspunkte ins Auge. Ver-
stehen verlangt sowohl nach einem Sinnentwurf, als auch nach der
unablässigen Vernichtung jeder Verstehenshypothese. Denn Verste-
hen ist nicht minder Ein-sehen als rein verstandesmäßiges Entwer-
fen. Zudem ist Verstehen kein bloßes Bei-sich-Sein des verstehenden
Einsehenden bzw. des einsichtigen Verstehenden, sondern es ist einer
permanenten »Veranderung« ausgesetzt, welche das zu Verstehende
»Transpositionen« unterwirft, die es einerseits unbeherrschbar ma-
6 Siehe hierzu exemplarisch Patrice Loraux, »Pour n’en pas finir«, Annales
de Phénoménologie, Nr. 15/2016, S. 13 f. und L’irréductible, ÉPOKHÈ , Nr. 3,
Robert Legros (Hg.), Grenoble, J. Millon, 1993.
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Phänomenologische Ansätze einer Theorie des Verstehens 79
chen, andererseits aber wiederum sinnstiftend sind, je neuen Sinn
hervorbringend. Damit nun diese offensichtliche Spannung nicht
in einem unüberwindbaren Widerspruch mündet (und daran zer-
bricht), erweist sich das Verstehen schließlich auch als ein innerliches
Entwerfen, bzw. als ein selbstentwerfendes Verstehen, das – durch
die Aufklärung des Nicht-Selbstverständlichen im Selbstverständli-
chen und die Horizonteröffnung von Synthetizität a priori – beiden
Aspekten gerecht werden soll.
Das Gleiche kann auch noch einmal anders formuliert und auf
eine abstraktere Ebene gehoben werden. Der erste Gesichtspunkt
besteht in einem Eröffnen und einem Vernichten – in einem in-Be-
wegung-setzenden Entwerfen und einem innehaltenden Einsehen.
Der zweite Gesichtspunkt verfährt umgekehrt: Die »Veranderung«
ermöglicht ein eröffnendes Hinsicht-Nehmen dort, wo das Zum-
Stehen-Bringen des Verstehens eine Bewegung unterbricht. Dabei
handelt es sich aber nicht bloß um eine vermeintlich rhetorische
Symmetrie, sondern um den Unterschied zwischen einem auf Ein-
heit ausgerichteten Entwerfen und Einsehen und einem die Anders-
heit in den Mittelpunkt stellenden verrückenden (Ver-)Stehen. Das
phänomenologische Konstruieren, das innerliche Selbstentwerfen,
hält sich schließlich qua horizonthafter apriorischer Verständniser-
weiterung in der Spannung von erzeugend-entwerfender Genesis
und gegebenem Nicht-Reduzierbarem. Was macht hierin aber ge-
nau – und das soll nun die letzte Frage sein – die »Gegebenheit« aus?
Diese Frage verweist – keinesfalls bloß implizit – auf jenes we-
sentliche Merkmal der Phänomenologie, das bereits in der zweiten
phänomenologischen These der Einleitung zur Sprache gekommen
ist – nämlich die eigentümliche (zwischen Negativität und Offen-
barkeit hin- und herschwingende) »Positivität« des Nicht-Reduzier-
baren. Es geht dabei in der Tat um die Frage nach dem Status dessen,
was es heißt, überhaupt phänomenologisch »gegeben« zu sein. Was
heißt also »Gegebenheit«?
Der Begriff der »Gegebenheit« bzw. des »Gegebenen« sieht sich
– durchaus zu Recht – zahlreichen Kritiken ausgesetzt. Wenn das
Gegebene als das aufgefasst wird, was einfach vorliegt und von
außen auf uns einwirkt, dann kann es nicht in seiner Allgemein-
gültigkeit in Anspruch genommen werden. Das heißt, dass das so
verstandene Gegebene in unzählige Formen des möglichen Wider-
spruchs verstrickt ist – sei es in denen seiner inneren, inhaltlichen
Widersprüchlichkeit (etwa in der rein empiristischen Philosophie),
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80 Zur Methode der Phänomenologie
sei es in denen seiner (eher äußerlichen) Widersprüchlichkeit, die
sich aus den (unvermeidlichen) verschiedenen Grundannahmen der
Erkenntnissubjekte ergibt (und hiermit ist diese Liste keineswegs
erschöpft). Das soll aber nicht heißen, dass der Begriff der Gege-
benheit gänzlich zu verwerfen sei – hier widersteht der phänome-
nologische Ansatz ganz entschieden allen Versuchen, die Philoso-
phie auf Argumentationsstrategien oder Begriffsanalysen zu redu-
zieren. Die »Gegebenheit« ist der unterschwellige Begriff, der den
drei Aspekten des Verstehens zugrundeliegt. Durch die Vernichtung
des Verstehensentwurfs sehen wir uns nicht einem »Nichts« gegen-
über, sondern dem, was sich dadurch gibt. Wenn die »Veranderung«
einen wohlbegründeten Sinn hat, dann deswegen, weil die Fixie-
rung des mobilen, volatilen Sinns seinerseits etwas »gibt«. Und im
innerlichen verständniseröffnenden und -erweiternden Entwerfen
des Verstehens hat man es wiederum mit einer Gegebenheit zu tun –
aber eben einer genetisierten (phänomenologisch »konstruierten«),
nicht mit etwas Vorausbestehendem oder Vorausgesetztem. End-
punkt dieser Überlegungen ist also in der Tat die Inanspruchnahme
eines »Nicht-Reduzierbaren« – nämlich dessen, was die Konstruk-
tion des Verstehensentwurfs genetisiert, also zugleich erzeugt und
leitet. »Erzeugt« – hierin besteht in gewisser Weise ein anti-realis-
tisches Moment (Vorausgesetztheit wird ja radikal abgelehnt); »lei
tet« – hierin besteht ein anti-idealistisches Moment, denn wenn es
keinen solchen Leitfaden gäbe, wäre die Konstruktion rein willkür-
lich. Das zutiefst Bemerkenswerte bei alldem ist, dass das Gesetz
der Konstruktion sich erst in der Konstruktion selbst offenbart. Mit
anderen Worten, das Verstehen hat seine »Wahrheit« an ihm selbst,
ist »Zeichen seiner selbst«. Das unterscheidet das – phänomenolo-
gische – Verstehen vom – naturwissenschaftlichen – Erkennen, das
seine Wahrheitsbeglaubigung je in einem vorausgesetzten, voraus-
bestehenden Seienden hat.
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Phänomenologie
als transzendentaler Idealismus
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Kapitel III
Transzendentale Phänomenologie im Ausgang
vom nachkantischen Idealismus
In diesem zweiten Teil sollen im Rückgang auf zwei bedeutende
philosophische Traditionen – nämlich auf den Deutschen Idealismus
einerseits und auf den angelsächsischen Empirismus des 18. Jahr-
hunderts andererseits – originelle Perspektiven aufgezeigt werden,
die – über die fundamentalen Betrachtungen der beiden vorigen Ka-
pitel hinaus – einen zweiten möglichen Weg in die Phänomenolo-
gie eröffnen. In diesem Abschnitt werden bedeutsame Motive in
den Mittelpunkt gestellt, die diesen philosophischen Traditionen, an
welche die Phänomenologie wesenhaft anschließt, entnommen sind.
Hierdurch wird also die »Grundlegungsidee« der Phänomenologie
nicht mehr nur (wenngleich immer noch auch, allerdings auf eine
andere Art) methodologisch ausgeleuchtet, sondern auch auf philo-
sophiegeschichtliche Errungenschaften und Einsichten hin befragt
und vorbereitet.1
Es ist höchst bemerkenswert und dabei dennoch nicht immer aus-
reichend gewürdigt worden,2 dass das Gebilde einer phänomeno-
1 Dass hier ein anderer Weg in die Phänomenologie beschritten wird,
ä ußert sich auch stilistisch: In den nächsten beiden Kapiteln wird konse-
quenter Weise (da es sich dabei ja insbesondere auch um historiographische
Betrachtungen handelt) weit mehr explizit auf die Texte Bezug genommen
werden, als das in den ersten beiden Kapiteln der Fall gewesen ist.
2 Bezüglich der Verbindungslinien zwischen der Phänomenologie und der
Klassischen Deutschen Philosophie siehe neuerdings Husserl und die Klas
sische Deutsche Philosophie, F. Fabbianelli, S. Luft (Hg.), »Phaenomenolo-
gica«, Dordrecht, Springer, 2014 und Phenomenology and Classical German
Philosophy. Die Phänomenologie und die Klassische Deutsche Philosophie,
Horizon, Studies in Phenomenology, Band 4/2, 2015 (Special Issue), N. Ar-
temenko, G. Chernavin, A. Schnell (Hg.), St. Petersburg, 2015.
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84 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
logischen Transzendentalphilosophie sich auf das Gedankengut ei-
ner zwar naheliegenden, in diesem Zusammenhang jedoch zumeist
vernachlässigten philosophischen Tradition – nämlich auf jenes des
nachkantischen, in der Klassischen Deutschen Philosophie ausge-
bildeten Transzendentalismus – stützt. Ziel dieses Kapitels wird es
sein, aufzuzeigen, wie die Grundlegungsidee der Phänomenologie
in einem weiter gefassten Rahmen Motive aus verschiedenen Denk-
ansätzen des Deutschen Idealismus geschöpft und dementsprechend
auch unterschiedliche Ansätze innerhalb der Phänomenologie – da-
bei aber je die Ausarbeitung eines übergreifenden einheitlichen Pro-
jekts beabsichtigend – angestoßen hat.
Die Phänomenologie – zumindest die ihrer Gründerväter – beruht
auf zwei Grundlagen, einer erkenntnistheoretischen und einer onto-
logischen. Sie stellt dort einen Korrelationismus in den Vordergrund,
wo die metaphysische Tradition je ein An-sich-Sein veranschlagt
hatte;3 und sie bindet die Frage nach der radikalen Erkenntnislegi-
timation, die durch diese korrelationistische Perspektive zum Aus-
druck kommt, an die Aufweisung einer ontologischen Grundlage
des Erkannten. Hierdurch gibt sie die Spaltung von »Erscheinung«
und »Ding an sich« auf, die ja noch den Kantischen Transzendenta-
lismus kennzeichnete; und sie verleiht der »Ontologie« aufs Neue ei-
nen ehrenvollen Titel (ggf. um den Preis einer Neugründung dersel-
ben), den Kant ihr im Gebiet der Erkenntnistheorie aberkannt hatte.
Dieser Bezug auf den Verfasser der Kritik der reinen Vernunft
ist aber nicht nur negativ begründet. Kant ist insofern der berühmte
Vorläufer sowohl der Klassischen Deutschen Philosophie als auch
der Phänomenologie, als er beiden die ihnen gemeinsame transzen-
dentale Richtung vorgeschrieben hat. Daher besteht die Absicht des
Rückgangs auf die Klassische Deutsche Philosophie darin, auf der
genuin phänomenologischen Ebene eine gewisse Neuorientierung
in Hinblick auf den Begriff des »Transzendentalen« vorzuschlagen,
die es gestattet, die erkenntnistheoretische Perspektive (sofern sie
3 Die erste Bezugnahme auf diesen Korrelationismus – der ja auch von der
dritten phänomenologischen These der Einleitung (auf die in Kapitel V aus-
führlich eingegangen wird) ins Zentrum der phänomenologischen Untersu-
chungen gerückt wird – ist, wie bereits erwähnt wurde, Fichte zu verdanken.
Siehe dazu noch einmal den oben schon zitierten Auszug aus J. G. Fichte,
Die Wissenschaftslehre 18042, GA II, 8, S. 13 f. Hierzu mehr in Kapitel VI.
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Phänomenologie im Ausgang vom nachkantischen Idealismus 85
eben eine transzendentale ist) und die ontologische Perspektive zu-
sammenzudenken oder (in Kantischen Begriffen) den Gehalt des
höchsten Prinzips aller synthetischen Urteile einzusehen, demge-
mäß »die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis [erkennt-
nistheoretischer Aspekt] zugleich die Bedingungen der Möglichkeit
der Gegenstände der Erfahrung [ontologischer Aspekt]4 sind« – ein
Gehalt, der letzte Konsequenzen in sich birgt, welche die Kritik der
reinen Vernunft freilich nicht gezogen hat.
Zunächst soll der Sinn jener Einheit der Phänomenologie anhand
der folgenden Zitate belegt werden: 1.) »Nur wer den tiefsten Sinn
der intentionalen Methode oder den der transzendentalen Reduk-
tion oder gar beider missversteht, kann Phänomenologie und tran
szendentalen Idealismus trennen wollen«.5 2.) »Besagt der Titel Idea
lismus soviel wie Verständnis dessen, dass Sein nie durch Seiendes
erklärbar, sondern für jedes Seiende je schon das ›Transzendentale‹
ist, dann liegt im Idealismus die einzige und rechte Möglichkeit phi-
losophischer Problematik«.6 3.) »Die Erneuerung des Begriffs des
Transzendentalen selbst […] erscheint uns als ein wesentlicher Bei-
trag der Phänomenologie«.7 Durch diese drei Behauptungen wird
der Auffassung Ausdruck verliehen, dass die Phänomenologie – im
Rahmen der Gleichsetzung der Philosophie und der Phänomenolo-
gie und unter Beachtung der methodischen Zwänge letzterer – not-
wendig als ein Idealismus verstanden werden muss; dass der Idea-
lismus sowohl eine transzendentale als auch eine ontologische Di-
mension hat; und dass diese zweifache Dimension, sofern sie die
phänomenologische Herangehensweise kennzeichnet, eben einen
neuen Begriff des »Transzendentalen« hervorbringt.
4 Dieser Aspekt wurde schon auf eine interessante Art (freilich in einer
nicht direkt phänomenologischen Sichtweise) von N. Hartmann behandelt,
siehe »Diesseits von Idealismus und Realismus« (1924), Studien zur Neuen
Ontologie und Anthropologie, G. Hartung, M. Wunsch (Hg.), Berlin / Bos-
ton, de Gruyter, 2014, S. 19–66 (insbesondere S. 39–46).
5 E. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, § 41, S. 119. Hus-
serl schreibt an anderer Stelle und in demselben Sinn, dass alle »philosophi
schen Ontologien« »transzendental-idealistische Ontologien« seien, Husser
liana VIII, Beilage XXX (1924), S. 482.
6 M. Heidegger, Sein und Zeit (HGA 2), F. W. v. Herrmann (Hg.), Frank-
furt am Main, Klostermann, 1977, § 43, S. 275.
7 E. Levinas, En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris,
Vrin 1988 (1. Auflage 1949), S. 127; dt. Übersetzung in Die Spur des Anderen,
Freiburg, München, Alber, 1983, S. 125.
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86 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
Diese drei Zitate stammen aus drei verschiedenen Ansätzen in-
nerhalb der phänomenologischen Tradition: aus Husserls Phäno-
menologie nach der »transzendentalen Wende«; aus Heideggers
»Fundamentalontologie«;8 und aus Levinas’ erstem Hauptwerk
(Totalität und Unendlichkeit), welches in einem gewissen Maß
Husserl verpflichtet bleibt. Zwar scheint die Annahme jener Ein-
heit durchaus geboten – und der Rückgang auf systematische Ein-
sichten der Klassischen Deutschen Philosophie ist dabei auch zwei-
fellos erforderlich. Gleichwohl heißt das nicht, dass die Phänome-
nologie ausschließlich in dieser Hinsicht ausgelegt werden müsse.
Die jetzt zu entwickelnde und zu begründende Perspektive besteht
vielmehr darin zu zeigen, dass, wenn die Phänomenologie in der Tat
als eine Transzendentalphilosophie bzw. als ein »transzendentaler
Idealismus« verstanden wird und deren Sinn und Gehalt verdeut-
licht werden soll, der Rückgang auf die Klassische Deutsche Phi-
losophie unvermeidlich ist. Hierfür sollen nun also jeweils die bei-
den oben erwähnten »Grundlagen« auseinandergelegt werden, die
sich, wie gesagt, in eine erkenntnistheoretische (erster Schritt) und
in eine ontologische Perspektive (zweiter Schritt) untergliedern und
auf verschiedenen architektonischen Registern durch die Begriffe
der »Anschauung«, der »Konstruktion« und der »Ermöglichung«
(in einer ersten Bedeutung) bestimmt werden. In einem dritten und
letzten Schritt soll dann entwickelt werden, wie in einer Anschau-
ungsweise, welche die »metaphysischen« Konsequenzen aus jenen
phänomenologischen Ausarbeitungen zieht, jene beiden Perspekti-
ven in einem einheitlichen Entwurf zusammengefasst werden kön-
nen, in dem die »Ermöglichung« anders – nämlich als eine »Refle-
xion der Reflexion« – verstanden werden soll. Die Grundabsicht
dieses Kapitels wird demnach darin bestehen, die unterschiedlichen
Dimensionen, die den Begriff des »Transzendentalen« in der Phäno-
menologie kennzeichnen, zu umreißen und aufzuzeigen, dass dieser
8 Für Heidegger hat »fundamentalontologisch« laut eigenem Bekunden
die gleiche Bedeutung wie »transzendental«. Mit diesem stark von der tra-
ditionellen Verwendung des Begriffs des Transzendentalen abweichenden
Ansatz setzt er sein mit der »Welt«-Problematik zusammenhängendes Ver-
ständnis dieses Begriffs jenem, das er von Kants Gebrauch desselben hat und
in eine »Ontologie der ›Natur‹« einschreibt, entgegen. Siehe Metaphysische
Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (HGA 26), K. Held (Hg.),
Klostermann, Frankfurt am Main, 1978, S. 218 f.
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Phänomenologie im Ausgang vom nachkantischen Idealismus 87
Begriff auf eine grundlegende Weise auf die klassischen Ausführun-
gen des transzendentalen Idealismus zurückgreift.
Der gemeinsame Ausgangspunkt der verschiedenen phänomenolo-
gischen Herangehensweisen an den Begriff des »Transzendentalen«
beruht darin, dass diesem nicht der Status einer bloßen »Bedingung
der Möglichkeit« zuerkannt, sondern auf eine Form der Gegeben-
heit (und der Erfahrung) bestanden wird, die diesen Begriff auszu-
weisen und zu rechtfertigen gestattet. Was seine Ausweisung angeht,
steht hierbei die anschauliche Dimension im Vordergrund (Husserls
Ansatz überschneidet sich hier mit jenem Fichtes); was seine Recht-
fertigung betrifft, stützt sich der Begriff des »Transzendentalen« (bei
Husserl und Fink) auf »phänomenologische Konstruktionen« sowie
auf eine (von Heidegger konzipierte) »Ermöglichung«, die beide
ebenfalls mit einer expliziten Ausarbeitung bei Fichte verbunden
werden können.
Husserls Phänomenologie wird, darauf wurde bereits im ersten
Kapitel kurz eingegangen, durch das »Prinzip aller Prinzipien« be-
stimmt, welches er im berühmten § 24 von Ideen I formuliert hat.
Ihm zufolge muss jede »Tatsache«, auf die sich unsere Erkenntnis
bezieht, begründet werden, und zwar so, dass »jede originär gebende
Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis«9 sei. Der Gebrauch
dieses aus Kants praktischer Philosophie stammenden Ausdrucks
lässt vermuten, dass die »begründende« Funktion des »Prinzips al-
ler Prinzipien« eo ipso erkenntnislegitimierend ist. Hierbei wird
nun gemeinhin nicht zureichend an den Fichteanischen Hintergrund
der Charakterisierung des höchsten Prinzips der Phänomenologie
erinnert. Wenn Husserl zwar selbst nicht weiter auf die praktische
Dimension innerhalb dieser Überlegungen bezgl. des Legitimati-
onsprinzips der Erkenntnis eingeht (die ja selbst bereits auf Fichtes
Wissenschaftslehre verweist), dann muss dagegen die Nähe zwischen
den beiden transzendentalen Idealisten in Bezug auf die entschei-
dende Rolle der »Anschauung« und der »Evidenz« betont werden.
Bevor Husserl in seiner Phänomenologie die anschauliche Evidenz
an die Spitze der Erkenntnisbegründung setzte, hatte Fichte bereits
genau das mit den Begriffen der »Anschauung«, des »Lichts«, des
»Sehens« vollzogen, und zwar von den ersten Fassungen der Wissen-
schaftslehre an (die durch die »intellektuelle Anschauung« bestimmt
9 Husserliana III/1, S. 51.
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88 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
waren) bis hin zu ihren spätesten Ausarbeitungen.10 Die Idee, dass
die Anschauung oder das Sehen eine legitimierende Funktion habe,
ist zuerst von Fichte ausgesprochen worden.
Wie wird nun die besagte Legitimation durch die anschauliche
Evidenz geleistet? Die transzendentale Phänomenologie Husserls
vollzieht diese Legitimation in zwei Schritten, indem sie sich auf
zwei verschiedenen Stufen ansiedelt.11 Zunächst liefert sie sich da-
bei der Erfahrung aus, die das Ego in einer stetigen Einstimmigkeit
mit sich selbst macht. Zu dieser ersten Stufe gehören alle deskripti-
ven Analysen – die zunächst auf eine »unkritische« Weise vollzogen
werden – der »immanenten« Bewusstseinssphäre. Die transzenden-
tale Kritik im Husserl’schen Sinne ist die Aufgabe, die sich auf der
zweiten Stufe der phänomenologischen Untersuchung stellt. Diese
zweite Stufe entspricht der »präphänomenalen« oder »präimmanen-
ten« Bewusstseinssphäre.12
Der Husserl’sche Transzendentalismus ist auf der ersten Stufe der
intentionalen Analyse dadurch charakterisiert, dass er »intentionale
Implikationen« aufzuweisen sucht, die in jedem intentionalen Bezug
zwar nur implizit enthalten sind, aber doch in einer Anschauung
gegeben werden können. Wenn sich die Analyse zwar zunächst auf
die Bestimmungen der aktuell vollzogenen, intentionalen Erlebnisse,
die auf den konkret gegebenen Gegenstand abzielen, konzentriert,
so muss doch betont werden, dass jede Aktualität umfangreiche
Potentialitäten impliziert: Jede Gegenwärtigkeit bedeutet in der Tat
eine Mitgegenwärtigkeit von Horizontalitäten, die ebenfalls gegeben
sind, auch wenn sie nicht explizit gemeint sind, und jede Wahrneh-
mung verweist auf andere Wahrnehmungen, die nicht aktualisiert,
sondern in der Vergangenheit impliziert und in der Zukunft anti-
zipiert werden. Diese Horizontalitäten stellen einen »Überschuss«
gegenüber der aktuellen Gegenwärtigkeit dar: Das Mitgegenwärtige
10 Im Mittelpunkt der letzten Fassungen der Wissenschaftslehre stehen an
unzählbaren Stellen das »Sehen«, die »Einsicht«, die »Anschauung« (hierbei
sei insbesondere auf die Fassungen von 1812 und 1813 verwiesen).
11 Siehe hierzu die zweite der Cartesianischen Meditationen.
12 Bereits in seiner Vorlesung über »Ding und Raum« hatte Husserl 1907
eine präphänomenale Dimension (bezüglich der Räumlichkeit der wahrge-
nommenen Gegenstände) ins Spiel gebracht, bevor er dann in den letzten
Texten (aus dem Jahre 1913) von Husserliana X (unter B) die Zeitlichkeit
diesseits der »immanenten« oder »phänomenalen« Zeitlichkeit in den Vor-
dergrund gestellt hat.
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Phänomenologie im Ausgang vom nachkantischen Idealismus 89
geht je wesenhaft über das aktuell bewusstseinsmäßig Gegebene hin-
aus. Diese mitgegenwärtigen Horizonte sind keine »leeren Möglich-
keiten«, sie sind keine reinen Hypothesen oder Fiktionen, sondern
sie zeichnen bereits verwirklichte oder zu verwirklichende Mög-
lichkeiten vor, die das wirkliche Ego wesenhaft bestimmen. Husserl
bezeichnet diese anschaulichen Möglichkeiten als »Potentialitäten«,
die je solche des »Ich kann« oder des »Ich mache« des Ego sind. Je-
der intentionale Bezug impliziert immer einen anschaulichen Hori-
zont solcher Potentialitäten. Soviel also zur Anschaulichkeit in der
immanenten Sphäre des transzendentalen Bewusstseins (also auf der
ersten Stufe). Reicht das aber hin, um tatsächlich die Legitimation
des solcherart Analysierten zu liefern?
Kommen wir noch einmal auf die Formulierung des »Prinzips aller
Prinzipien« zurück, um zeigen zu können, dass in der Husserl’schen
Phänomenologie der Erkenntnislegitimation das Fichte’sche Erbe
sich noch auf einer tieferen Ebene nachweisen lässt. Husserl be-
hauptet nicht, dass jede Rechtsquelle der Erkenntnis auf die originär
gebende Anschauung zurückzuführen wäre, sondern er sagt wört-
lich in diesem § 24 der Ideen I, dass jede originär gebende Anschau-
ung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei. Das heißt natürlich, dass
es Rechtsquellen geben könne, die nicht anschaulich seien – oder
zumindest einem anderen Anschauungstypus zugehören würden
als jenem, der in diese deskriptive Herangehensweise hineinspielt.
Wenn die phänomenologische Reduktion, die uns zur transzenden-
talen Subjektivität und zu ihrem intentionalen Leben zurückführt,
zwar die »phänomenologische Fundamentalmethode«13 ausmacht,
so reduzieren sich diese methodischen Betrachtungen doch nicht
auf die anschauliche Freilegung der Erfahrungen des Ego und der
entsprechenden intentionalen Implikationen. Die Freilegung ver-
weist nämlich auf einige Grundaspekte der phänomenologischen
Methode, derer sich Husserl erst im Laufe und insbesondere am
Ende der zwanziger Jahre bewusst geworden ist. Genauer gesagt be-
deutet sie, dass, wenn die deskriptive Analyse der Phänomenologie
(im Sinne einer eidetischen Deskription) zwar für die Charakterisie-
rung der »reellen« Ingredienzien des »immanenten« Bewusstseins
nützlich und notwendig bleibt, sie sich doch als ungenügend erweist,
wenn – wie es sich in einer transzendentalen, letztursprünglich
legitimierenden Herangehensweise als notwendig zeigt – es d arum
13 Husserliana I, S. 61.
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90 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
geht, in die letztkonstitutive Stufe dieser immanenten Phänomene
hinabzusteigen. Diese Erfahrungen des Ego sind nämlich nicht bloß
gegeben bzw. gegenwärtig, so dass eine Beschreibung genügte, um
deren strukturelle Momente hervorzukehren (seien diese auch in
intentionalen Implikationen gegeben), sondern sie verlangen dazu
noch nach einer Überwindung der Hindernisse, die das Verständnis
ihrer konstitutiven Rolle erschweren bzw. unmöglich machen – also
nach einer Form der »Dekonstruktion« (Husserl spricht in diesem
Zusammenhang, wie schon gesagt, von einer »Abbaureduktion«),
der auf derselben letztkonstitutiven Stufe (welche die oben ange-
kündigte zweite Stufe ausmacht) ein positives Gegenstück ent-
spricht: nämlich eine Konstruktion14, die – entsprechend dem im
ersten Kapitel hierzu Ausgeführten – weder eine spekulative noch
eine metaphysische, sondern eine genuin phänomenologische Kon-
struktion darstellt.15 Warum ist es nun aber notwendig, auf dieser
zweiten Stufe (diesseits der deskriptiven Erfahrung der immanenten
Sphäre des transzendentalen Bewusstseins) jene »phänomenologi-
schen Konstruktionen« zu vollziehen? Phänomenologische Kon
struktionen werden immer dann notwendig, wenn die intentionale
Analyse auf Grenzen stößt, welche durch die blinden Flecke der
deskriptiven Analyse gezogen werden.
Die phänomenologische Konstruktion konstruiert sowohl das
Faktum als auch die Bedingungen der Möglichkeit desselben – näm-
14 Husserl spricht in diesem Zusammenhang von einem »konstruktiven Er-
gänzungsstück« der phänomenologischen Methode, Erste Philosophie (zwei-
ter Teil), Husserliana VIII, S. 139.
15 Vgl. die Paragraphen 59 und 64 der fünften der Cartesianischen Medita
tionen. Der Begriff einer »phänomenologischen Konstruktion« ist vor allem
in Texten aus den dreißiger Jahren, als Husserl und Fink in einem regen und
regelmäßigen Austausch standen, anzutreffen, wenn auch die erste Erwägung
(meiner Kenntnis nach) bereits aus dem § 39 der Einleitung in die Philosophie
(1922/23) stammt (Husserliana XXXV, S. 203). Heidegger gebraucht diesen
Begriff explizit in den Paragraphen 63 und 72 von Sein und Zeit; eine ver-
tiefte Anwendung wird dann in der Vorlesung aus dem Sommersemester von
1929 ausgearbeitet, wo Heidegger seinen Begriff der »Konstruktion« auf die
Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95) Fichtes stützt (siehe
Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische
Problemlage der Gegenwart (HGA 28), Claudius Strube (Hg.), Frankfurt
am Main, Klostermann, 1997). Im § 7 der Sechsten Cartesianischen Medita
tion erkennt schließlich auch Fink der phänomenologischen Konstruktion
innerhalb seiner Überlegungen über die phänomenologische Methode eine
entscheidende Rolle zu.
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Phänomenologie im Ausgang vom nachkantischen Idealismus 91
lich das, was es möglich macht, was es »ermöglicht«. Konstruierend
folgt die phänomenologische Konstruktion der Notwendigkeit des
zu Konstruierenden. Damit das aber wiederum möglich ist, muss die
phänomenologische Konstruktion über eine spezifische Anschau
lichkeit16 verfügen und kann sich daher nicht auf eine rein begriff-
liche, intellektuelle Konstruktion beschränken. Diese Anschaulich-
keit17 ist anonym gestiftet und gründet in der »Geschichte« (der Ge-
nese, den Habitualitäten und den Sedimentationen) der Erfahrungen
des Phänomenologen. Daher kann die Anschaulichkeit, welche die
phänomenologische Konstruktion spezifisch kennzeichnet, selbst
hinsichtlich ihrer tiefsten »Schichten« oder »Stratifikationen« ge-
netisch rekonstituiert werden.
Diese Art, das Problem darzustellen, entspricht nun genau dem
Fichte’schen Verfahren einer »genetischen Konstruktion«. Wie
Fichte zum Beispiel in der Wissenschaftslehre von 1804 (zweite
Fassung) unterstreicht, geht das genetische Konstruieren nicht etwa
von »Fakten«, sondern von einer »Tathandlung« aus (die ein Syn-
onym für die »Genesis« ist18) und lässt deren Legitimierung weder
aus einem Vorurteil noch aus einem spekulativen Prinzip, sondern
aus dem, was seine Notwendigkeit allererst durch die Konstruk
tion selbst bezeugt, hervorgehen. Und die hier erforderliche An-
schaulichkeit ist nun eben eine eigene Form des Sichtbarwerden-
lassens der genetisierenden Prozessualität, das bereits von Fichte
als »Einsicht« bezeichnet wurde. Allerdings besteht ein wichtiger
Unterschied zwischen der »genetischen« und der »phänomenolo-
gischen« Konstruktion. Fichte führt den Gedanken einer »Genese«
des »reinen Wissens« (welches das Wissen als Wissen, also das, was
ein Wissen zu einem Wissen macht, kennzeichnet) im Anschluss
an seine Kritik an Kant ein, der ja seiner Ansicht nach »Synthesen
post factum« aufgestellt habe (die eine Einheit zweier entgegenge-
setzter Begriffe setzt, ohne diese selbst »abzuleiten«, d. h. ohne sie
genetisch zu konstruieren), während Husserls phänomenologische
Konstruktionen keine solchen eines »reinen« oder »absoluten« Wis-
16 In den dreißiger Jahren schrieb Fink explizit: »Die Phänomenologie ist
die konstruktive Anschauung«, Phänomenologische Werkstatt, Band 3/1,
Freiburg / München, Alber, 2006, S. 259.
17 In der 33. Vorlesung des zweiten Teils der Ersten Philosophie (Husser
liana VIII, S. 48) hatte Husserl diesbezüglich bereits von einem »Heraus
schauen« gesprochen.
18 Wissenschaftslehre 18042, GA II, 8, S. 203.
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92 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
sens sind, sondern je auf ein spezifisches »Faktum« aus sind, das der
Konstruktion als Leitfaden dient. Daher handelt es sich nicht um
eine universale Methode, sondern um eine Verfahrensweise, die sich
streng innerhalb bestimmter Abgrenzungen hält, die durch beson-
dere »Fakten« gezogen werden.
Wenn nun Husserl zwar in der Tat – zumindest implizit – phä-
nomenologische Konstruktionen solcher »Fakten« vollzieht (etwa
in seinen phänomenologischen Untersuchungen über die Zeit oder
die Intersubjektivität), so gibt es doch bei ihm keine Spur von ei-
ner Konstruktion der Bedingungen der Möglichkeit derselben. Für
Fichte werden die – transzendentalen – Bedingungen der Möglich-
keit der Erkenntnis durch eine reflexive »Verdoppelung«19 legiti-
miert, d. h. durch eine Bewegung, die sicherstellt, dass das, was (die
Erkenntnis) ermöglicht, seinerseits möglich gemacht wird – also
eben durch eine »ermöglichende« Verdoppelung. Heidegger wird
dann in seiner grundlegenden Infragestellung des Intentionalitäts-
begriffs das phänomenologische Potential der »Ermöglichung« aus-
schöpfen – wobei er den Begriff der verdoppelnden Ermöglichung
bemerkenswerterweise genau auf dieselbe Weise wie Fichte auffas-
sen wird. Auch hier wird die Verbindungslinie zum Wissenschafts-
lehrer auf einer weniger historiographischen als vielmehr systema-
tischen Ebene deutlich.
In Sein und Zeit schlägt Heidegger eine ontologische Interpreta-
tion der intentionalen Struktur vor, die diese aus dem beschränkten
Rahmen einer Bewusstseinsanalyse herauslöst. Diese Auslegung er-
setzt den Begriff der »transzendentalen Subjektivität« durch den des
»Daseins«, das nicht anthropologisch, sondern ontologisch analy-
siert wird und kein bloß »vorhanden« oder »zuhanden« Seiendes
ausmacht, sondern wesenhaft Sein-Können ist. Das Dasein ist ein
Möglich-Sei(e)n(des), es versteht sich selbst je nur aus seinen Mög
lichkeiten. Heidegger erschließt somit den Begriff der »Möglichkeit«
in einer Weite, die nicht nur über den Rahmen der intentionalen Be-
wusstseinsanalyse bei Husserl hinausgeht, sondern auch die Frage
nach dem Bezug zwischen diesem Begriff und der ontologischen
Dimension der Subjektivität aufwirft.
Dass nun die Daseinsanalyse – qua »Fundamentalontologie« –
sich auf einer ontologischen Ebene vollzieht, heißt aber nicht bloß,
19 Wissenschaftslehre 18042, GA II, 8, S. 269.
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Phänomenologie im Ausgang vom nachkantischen Idealismus 93
dass Heidegger sich der Perspektive der Einzelwissenschaften (Psy-
chologie, Anthropologie usw.) entgegenstellt. Für ihn geht es vor
allem darum, das Dasein in den Bezug zum Seienden »im Ganzen«
zu setzen. Dann stellt sich eine zweifache Frage: Gibt es zwischen
all den Möglichkeiten, die sich dem Dasein bieten, eine, die einen
ursprünglichen und ausgezeichneten Status hat? Und lässt sich das
Dasein dann in seiner Ganzheit fassen?
Um auf diese beiden Fragen zu antworten, macht sich Heidegger
im § 53 von Sein und Zeit daran, eine phänomenologische Analyse
des Bezugs zu den Möglichkeiten auszuarbeiten, der den weitesten
Horizont dafür liefert, um all die faktischen Möglichkeiten an eine
ursprüngliche Möglichkeit zu binden. Diese ist die Möglichkeit der
Unmöglichkeit zu existieren, die den un-möglichen Bezug zum Tod
umschreibt.20
Es geht dabei genau darum, diesen Bezug als eine Möglichkeit zu
begreifen, d. h. ihn nicht als eine bloße Abstraktion (die darin be-
steht, den Tod lediglich zu denken) aufzufassen und ihn auch nicht
im Sinne einer tatsächlichen Verwirklichung (etwa in der Erwartung
des Todes) zu denken. Heidegger bezeichnet einen solchen Bezug,
der es gestattet, diese Möglichkeit als Möglichkeit »auszuhalten«,
und sie eben als solche entdeckt, als das »Vorlaufen in den Tod« (d. h.
hier: in die äußerste Möglichkeit der Unmöglichkeit zu existieren).
Er stellt klar, dass dieses Vorlaufen sowohl eine »Seinsart« des Da-
seins ist, als auch ein spezifisches »Verstehen« ausmacht. Anders
ausgedrückt, mit dem Vorlaufen siedelt sich Heidegger sowohl auf
einer »ontologischen« als auch auf einer »erkenntnistheoretischen«
Ebene an. Worin besteht sein phänomenaler Gehalt? Zwei Grund-
züge müssen hier hervorgehoben werden. Einerseits vereinzelt das
Vorlaufen das Dasein; und andererseits, was entscheidend ist, wer-
den die faktischen Möglichkeiten durch einen Akt des Transzen-
dierens, in dem diese äußerste Möglichkeit maßlos wird, freigege-
ben und eröffnet:21 »Das vorlaufende Freiwerden für den eigenen
20 Das heißt nicht, dass Heidegger seiner Fundamentalontologie anthro-
pologische Elemente einverleibt, sondern umgekehrt, dass eine vorgängige
ontologische Analyse der Subjektivität in einem anthropologischen Phäno-
men ausgewiesen wird. Bezüglich des Verhältnisses von Anthropologie und
Metaphysik, siehe Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und
die philosophische Problemlage der Gegenwart, HGA 28, §§ 2–4.
21 Diesen Gedanken auf den Bezug zur Tradition anwendend, schreibt Hei-
degger im gleichen Sinne in den Grundbegriffen der Metaphysik: »Die Be
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94 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
Tod befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden
Möglichkeiten, so zwar, dass es die faktischen Möglichkeiten, die
der unüberholbaren vorgelagert sind, allererst eigentlich verstehen
und wählen lässt«.22
Der letzte Punkt dieser Charakterisierung zeigt die Nähe zu
Fichte. Heidegger fragt sich in der Tat, wie diese letzte Möglichkeit
für das Dasein gewiss werden kann, also wie es sich diese aneignen
kann. Die Antwort besteht darin, dass auf der Ebene, die ausschließ-
lich das »verstehende Aneignen« betrifft, jenes letzte Möglich-Sein
sich in eine Ermöglichung verdoppelt, die das (erkenntnismäßige)
Möglich-Machen des Möglichen (des Möglich-Seins) ausmacht.
Das Vorlaufen erweist sich somit als die Ermöglichung der äußers-
ten Möglichkeit: »Die Erschlossenheit der [äußersten] Möglichkeit
gründet in der vorlaufenden Ermöglichung«.23 Genauso wie für
Fichte die Ermöglichung die Selbstsetzung und Selbstbegründung
des Wissens als Wissen möglich macht,24 macht sie für Heidegger das
Gewiss-Werden für das Dasein der äußersten Möglichkeit möglich,
welche alle endlichen Möglichkeiten freilegt.
Bezüglich der letzten Rechtsquelle aller Erkenntnis ist also ein
gewisser Bezug der Phänomenologie zu Fichte nicht von der Hand
zu weisen: Auf allen Stufen der Legitimation – sei es in Bezug auf die
vorrangige Rolle der anschaulichen Evidenz in der deskriptiven Phä-
nomenologie oder auf die phänomenologische Konstruktion und die
Ermöglichung auf einer grundlegenderen Ebene – stoßen wesent
liche Ausarbeitungen der Wissenschaftslehre bei den Gründervätern
der Phänomenologie auf Widerhall. Nun wird es darum gehen, auf-
zuzeigen, dass ein solcher Bezug zwischen Phänomenologie und
Klassischer Deutscher Philosophie sich auch auf der ontologischen
Ebene herausstellen lässt.
Wenn die Epoché und die phänomenologische Reduktion die »Welt-
thesis« und alles, was die Welt bevölkert, in Klammern setzen – an-
ders gesagt, wenn der Gewinn der Phänomenologie auf Kosten einer
freiung von der Tradition ist Immerneuaneignung ihrer wiedererkannten
Kräfte«, Die Grundbegriffe de Metaphysik, HGA 29/30, F. W. v. Herrmann
(Hg.), Frankfurt a. Main, Klostermann, 1983, § 74, S. 511.
22 Sein und Zeit, § 53, S. 264.
23 Ebd.
24 Siehe den oben bereits zitierten XVII. Vortrag der Wissenschaftslehre von
1804/II.
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Phänomenologie im Ausgang vom nachkantischen Idealismus 95
ontologischen Präkarisierung des Phänomens geht –, dann stellt sich
die Frage, welcher Seinssinn letzterem überhaupt zukommt. Diese
Frage kann als Leitfaden dienen, um den Status dieses Seinssinns in
der Phänomenologie zu klären. Dabei ist es nun durchaus bemer-
kenswert, dass genau dieselbe Frage bereits Schellings Fichtekritik
leitete – weshalb es sich lohnt, diese Auseinandersetzung näher zu
betrachten. Hierzu ist es hilfreich, zunächst daran zu erinnern, wo-
rin die grundlegende Bedeutung des transzendentalen Idealismus
bei Fichte und Schelling bestand.
Für beide ging es in erster Linie darum, die transzendentale Er-
kenntnis, d. h. das Wissen als Wissen zu fundieren und zu legitimie-
ren. Für Fichte war das nur so denkbar (und möglich), dass gezeigt
werden muss, wie sich das Wissen gleichsam »von innen« selbstlegi-
timiert – und das heißt insbesondere ohne jeglichen Rückgriff auf ein
»objektives« Seiendes, auf einen »Inhalt« oder sonst eine »äußere«
Affizierung. Allein eine solche Genetisierung des »reinen Wissens«
ist in seinen Augen dazu in der Lage, Kants transzendentalen Idea
lismus zu vollenden.
Für Schelling hingegen kam, wie das vor allem aus seinem Brief-
wechsel mit Fichte25 der Jahre 1800 und 1801 hervorgeht, der
Fichte’sche Standpunkt einem abstrakten »Formalismus« gleich. Er
schlug in seinem System des transzendentalen Idealismus (1800)26 –
der dann im Übrigen auch auf Hegels Phänomenologie des Geistes
einen entscheidenden Einfluss ausübte – eine Lösung vor, die diese
Klippe zu umschiffen gestattet. Sie brachte insbesondere eine völlig
andere Auffassung bezüglich der Rolle des objektiven Inhalts in der
Begründung des Wissens ins Spiel. Gemäß dieser Auffassung muss
der Inhalt des Wissens einen integrativen Bestandteil der Selbst-
erfassung des Ich ausmachen. Der Begriff des »Transzendentalen«
interveniert hier auf zwei Ebenen: in der Reihe der Versuche der
Natur, sich selbst zu reflektieren, also innerhalb der Naturphilo-
sophie, und auch in der Reihe der Selbstobjektivierungen des Ich,
d. h. innerhalb der eigentlichen Transzendentalphilosophie. Jedes
Moment der ersten Reihe hat seine Entsprechung in der zweiten
und umgekehrt. Der Grundgedanke dabei ist also, dass die Legiti-
mierung des Wissens – und vor allem desjenigen Wissens, welches
25 Schelling – Fichte Briefwechsel, H. Traub (Hg.), Neuried, ars una, 2001.
26 F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, H. D. Brandt
& P. Müller (Hg.), Hamburg, Meiner, 2000.
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96 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
eben dazu in der Lage ist, alles Wissen zu legitimieren – voraussetzt,
dass die verschiedenen logischen und realen (!) Bestimmungen des
Gewussten diese Legitimation selbst kategorial strukturieren. Dieser
Auffassung nach ist das transzendental Konstituierende sozusagen
durch das transzendental Konstituierte ontologisch »kontaminiert«.
Der Gegensatz zwischen Fichte und Schelling lässt sich dann fol-
gendermaßen zusammenfassen: Für Fichte kann das Wissen nur so
radikal legitimiert werden, dass diese Legitimation jeder Bestim-
mung des objektiven Inhalts des Wissens vorausgeht – denn ein
Rückgriff auf diesen Inhalt würde uns sonst aus der transzenden-
talen Perspektive heraustreten lassen und zu einem Empirismus
führen. Schelling setzt dieser »formalistischen« Ansichtsweise ei-
nen Entwurf entgegen, in dem die reale Bestimmbarkeit des Tran
szendentalen auf die logische Kategorialität des Inhalts des Wissens
selbst verweist – ein »Rückbezug« auf den Inhalt, dank welchem
das Transzendentale durch diesen konstituiert wird und dadurch im
wörtlichen Sinne seine »objektive Realität« erlangt.
Schellings Position eröffnet nun eine neue Perspektive inner-
halb der transzendentalphilosophischen Position, die Levinas phä-
nomenologisch erkannt und zu erschließen versucht hat. Schelling
entdeckt in der Tat eine Form des Transzendentalismus, die durch
ein »wechselseitiges Bedingungsverhältnis« zwischen dem transzen-
dental Konstituierenden und dem Konstituierten gekennzeichnet
ist (dieser Gedanke ist eben das erste Mal explizit von Levinas aus-
gedrückt worden27). Zwar hat Schelling dieses nicht eigens hervor-
gehoben, dafür ist sich Husserl aber dieser neuen Bedeutung des
Transzendentalen bewusst geworden (wie der Verfasser von En dé
couvrant l’existence avec Husserl et Heidegger überzeugend gezeigt
hat).28 Was stellt nun also genau dieses »wechselseitige Bedingungs-
verhältnis« dar?
Die Kritik am »Idealismus«, am »Subjektivismus« oder am »For-
malismus« bemängelt die jeweilige Tendenz, die Sinnkonstitution
des Realen stets dem »subjektiven« Pol der Korrelation zuzuschrei-
27 Siehe zum Beispiel Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, Paris, Le l ivre
de poche, « biblio essais », 1990, S. 135. Implizit findet man ihn freilich bereits
am Ende des § 44 von Husserls fünfter der Cartesianischen Meditationen,
Husserliana I, S. 129.
28 E. Levinas, En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, S. 134
et passim.
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Phänomenologie im Ausgang vom nachkantischen Idealismus 97
ben. Um eine solche einseitige Sichtweise vermeiden zu können,
muss die Bedeutung der Art, wie das »Bewusstsein« oder das »Den-
ken« sich auf seinen objektiven Gehalt bezieht, genau verstanden
werden. Es handelt sich dabei nicht um eine persönliche Aneignung
und auch nicht um ein bloß empirisches Bewusstwerden, sondern
eben um die Bezughaftigkeit – als transzendentaler Struktur – zu
diesem objektiven Inhalt sowie zu der Art, wie dieser rückbeziehend
die korrelativen Strukturen kontaminiert.
Drei Hauptmomente machen die Antwort auf diese Frage aus:
erstens die Funktion des phänomenologischen Wahrheitsbegriffs;
zweitens das wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen dem
Konstituierenden und dem Konstituierten in der immanenten und
der präimmanenten Bewusstseinssphäre; und drittens die Geneti-
sierung dieses wechselseitigen Bedingungsverhältnisses. Die ersten
beiden Momente wurden von Husserl entwickelt, das letzte findet
sich in Levinas’ Werk Autrement qu’être ou au-delà de l’essence.29
Um zunächst die Rolle der Wahrheit in der Klärung der onto-
logischen Grundlegung der intentionalen Korrelation ermessen zu
können, ist es hilfreich, die sechste der Logischen Untersuchungen
zu Rate zu ziehen. Husserls These besteht eben genau darin, die
Legitimation der Notwendigkeit der erscheinenden Objektivität an
den phänomenologischen Wahrheitsbegriff – diesseits der konkre-
ten Adäquation von »Intellekt« und »Sache« – zu koppeln. Wahr-
heit wird dann verwirklicht, wenn der intentionale Bezug »richtig«
ist. Und umgekehrt setzt der adäquate intentionale Bezug den (die
Aussage) »wahrmachenden« Gegenstand voraus – wobei keinerlei
konkrete, individuelle Subjektivität hier hineinspielt, sondern die
»transzendentalen« Bestimmungen einen »anonymen« Status haben.
Wahrheit ist die Form a priori jeden Weltbezugs. Dieser Gedanke
ist für das Verständnis der »Erneuerung des Transzendentalen« ent-
scheidend, die auf den beiden oben herausgearbeiteten Stufen statt-
hat. Denn hierdurch wird erwiesen, dass die Wahrheit nicht die Stif-
tung einer Norm auf der Grundlage etwa eines vorgegebenen rea-
len Inhalts bedeutet, sondern das reale Sein und die Legitimation
seiner Notwendigkeit miteinander vermittelt sind. Wenn in dieser
Hinsicht Husserls Ansatz zwar jenem Schellings folgt, so ist doch
zugleich insofern ein Unterschied festzustellen, als in der Phänome-
29 E. Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Paris, Le livre de
poche, « biblio essais », 2006 (Den Haag, M. Nijhoff, 1974).
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98 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
nologie keineswegs von »Deduktionen« realer und idealer Reihen
die Rede ist, sondern eben von Analysen, in denen der objektive
Gehalt der Phänomene sich phänomenologisch in der (intuitiven
oder konstruktiven) Anschauung ausweist. Inwiefern ist nun diese
Perspektive eine ontologische?
Der Begriff des »Transzendentalen« bezeichnet bei Husserl nicht
nur die Tatsache, dass das zu Erkennende auf ein transzendentales
Ich zurückgeführt wird (was die konstitutiven und transzendenta-
len Leistungen auf die Stufe eines klaren und deutlichen Bewusst-
seins erhebt), sondern, wie oben bereits entwickelt wurde, dass jede
Bewusstseinsaktualität »Potentialitäten« »impliziert«, die sich dem
Bewusstsein nicht in voller Klarheit darstellen (und dies auch gar
nicht unbedingt zu tun vermögen). Die Bedeutung jener »Erneu-
erung« des Begriffs des Transzendentalen eröffnet – laut Levinas –
eine »neue Ontologie«:30 »Das Sein setzt sich nicht mehr nur als
ein dem Denken korrelatives, sondern als ein das Denken selbst je
schon fundierendes, durch welches das Sein gleichwohl konstituiert
wird«.31 Das Denken und das Sein, das bewusste Subjekt und das
Bewusstseinsobjekt stehen eben in einem »wechselseitigen Bedin-
gungsverhältnis«. Wie kann nun aber dieser Begriff einer »neuen
Ontologie« genauer bestimmt werden?
Im § 20 der Cartesianischen Meditationen hatte Husserl zunächst
herausgestellt, dass auf der Ebene der immanenten Bewusstseins-
sphäre in jedem intentionalen Bezug zwar ein Gemeintes intentio-
nal vermeint wird, dass aber die Meinung zugleich auch durch einen
»Überschuss« gegenüber jenem explizit Vermeinten charakterisiert
ist. Das heißt, dass sich in dieser Verfahrensweise der transzenden-
talen Phänomenologie ein »Horizont« eröffnet, der die intentionale
Konstitution vorzeichnet und diese dadurch »motiviert«, sich an je-
nem »Überschuss« zu orientieren – was jede einseitig ausgerichtete
Konstitution relativiert und auf ein wechselseitiges Abhängigkeits-
verhältnis verweist, welches das immanente intentionale Bewusst-
sein sowie das Sein des ebenfalls immanent Erscheinenden betrifft.
30 Im fünften Kapitel wird ersichtlich werden, wie sich diese »neue Onto-
logie« im phänomenologischen spekulativen Idealismus in der Form dreier
Grundbestimmungen des Seinsbegriffs ausbildet.
31 En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, S. 130 f; dt. Überset-
zung: »Der Untergang der Vorstellung«, in E. Levinas: Die Spur des Anderen,
Freiburg / München, Alber, 2012 (6. Auflage), S. 130 (v. Vf. modifiziert).
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Phänomenologie im Ausgang vom nachkantischen Idealismus 99
Innerhalb der Sphäre des durch die Epoché und die Reduktion Er-
öffneten, in welcher der dogmatische Seinsbegriff neutralisiert ist,
bricht nun ein »transzendental Konstituiertes« auf, das eben jede
Bewusstseinsleistung ontologisch fundiert. Für Levinas besteht »die
Phänomenologie selbst« in jenem wechselseitigen Bedingungsver-
hältnis, das er folgendermaßen beschreibt: »Intentionalität bedeutet,
dass jedes Bewusstsein Bewusstsein von etwas ist, vor allem aber,
dass jeglicher Gegenstand das Bewusstsein, welches sein Sein er-
strahlen lässt und durch welches es eben erscheint, ruft und gleich-
sam erweckt«.32 Und das Entscheidende dabei ist also, dass innerhalb
dieses Wechselverhältnisses eine »Seinsfundierung« statthat, die der
transzendentalen Konstitution die ontologische Grundlage liefert.
Das ist aber nicht alles. Jene wechselseitige Vermittlung hat noch
einen tieferen Sinn, wodurch ersichtlich wird, dass diese »neue
Ontologie« in der Phänomenologie auch auf der genuin transzen-
dentalen Konstitutionsstufe, d. h. in der besagten »präimmanenten
Sphäre« gültig ist: Durch die Epoché und die Reduktion eröffnet
sich nämlich ein »subjektiver Bereich« in einem anderen Sinn, den
man mit Husserl eben die »präimmanente« Bewusstseinssphäre nen-
nen kann und der zugleich, noch einmal in Levinas’ Worten, »ob-
jektiver als alle Objektivität«33 ist. Dies besagt insbesondere, dass
das Objekt nicht bloß das Korrelat des Subjekts ist, sondern dass
hier ein Vermittlungsbezug besteht, durch den das Subjekt nicht
»bloßes« Subjekt, das Objekt nicht »bloßes« Objekt ist.34 Das Sein,
von dem hier die Rede ist, kann nicht mehr eigentlich als ein »Sein«
angesehen werden. Es verlangt nach einer radikaleren Reduktion.
Deswegen nennt Husserl es auch an verschiedenen Stellen seiner
späten Manuskripte – und offensichtlich unter Finks Einfluss – ein
»Vor-Sein«.35 Dieses »Vor-Sein« geht, vom konstitutiven Standpunkt
aus betrachtet, dem Sein der Welt gewissermaßen voraus und un-
32 En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, S. 134; dt. Überset-
zung, S. 133 f. (v. Vf. modifiziert).
33 Ebd., S. 134; dt. Übersetzung, S. 134.
34 En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, S. 133; dt. Überset-
zung, S. 134.
35 Siehe insbesondere den Text Nr. 62 der C-Manuskripte (Späte Texte über
Zeitkonstitution (1929–1934), Husserliana Materialien, Band VIII, D. Loh-
mar (Hg.), Dordrecht, Springer, 2006, S. 269) und eine Fußnote im Text
Nr. 35 von Husserliana XV (S. 613). Zur Rolle des »Vor-Seins« im phäno-
menologischen spekulativen Idealismus, siehe das Ende des fünften Kapitels.
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100 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
terminiert den Gegensatz einer erkenntnistheoretischen und einer
ontologischen Perspektive, da es sowohl die anonyme transzenden-
tale »Subjektivität« als auch das von ihr konstituierte und sie fun-
dierende Korrelat betrifft.
Die Bestimmung des objektiven Inhalts des Realen verlangt dem-
nach sowohl nach einer subjektiven Konstitutionsleistung als auch
nach einer ontologischen Fundierung, die dem so Konstituierten
eine objektive Realität verleiht – und zwar gleichursprünglich! Die
transzendentale Konstitution ist eine ontologische Fundierung. Ich
betone: Nur sofern das (transzendental konstituierte) Sein das Be-
wusstsein »fundiert« (genau hierin besteht die »objektivere Objek-
tivität« als alle einseitig durch die transzendentale Subjektivität
konstituierte Objektivität), kann das Bewusstsein das Erscheinende
»konstituieren«. Der Konstitutionsbegriff verweist darauf, dass der
Gegenstand nicht als bloß abstrakter Leitfaden fungiert, sondern die
transzendentalen Leistungen kontaminiert. Dieser Gedanke steht
übrigens systematisch jenem einer »Epigenesis«, wie er jüngst36 im
Ausgang von Kant von Catherine Malabou entwickelt wurde, nahe,
d. h. einer Genese, die durch den objektiven Gehalt jenseits (»epi- «)
des transzendentalen Ursprungs vermittelt wird und damit sozusa-
gen die Kehrseite der Auffassung, der zufolge die Objektivität kate
gorial strukturiert ist, ausmacht.
Schließlich kann das »wechselseitige Bedingungsverhältnis« in
die transzendentale Genese selbst (so wie sie von Fichte entwor-
fen wurde) hineingenommen werden. Dieses Bedingungsverhältnis
wird nämlich, laut des Levinas’schen Entwurfs der »Dia-chronie«
in Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, seinerseits (und zwar,
hätte Fichte hinzugefügt: durch eine (Selbst-)Reflexion) genetisiert.
Jedes Bedingungsverhältnis impliziert in der Tat eine Differenz der
Ebene oder des Registers, bei der jeweils eine Präsenz und ein Ent
zug festzustellen ist (nämlich, je nach dem eingenommenen Stand-
punkt, entweder des Bedingenden oder des Bedingten). Allerdings
geht es dabei nicht lediglich darum (wie das bei Fichtes Reflexion
der Kantischen Transzendentalphilosophie der Fall war), dass der
Begriff des Transzendentalen insofern eine Vernichtung und eine
Erzeugung impliziert, als keinerlei mögliche Erfahrung sich auf ihn
beziehen kann (und wo darüber hinaus diese Vernichtung und diese
Erzeugung sich je nur auf diese oder jene transzendentale Bedingung
36 C. Malabou, Avant demain. Épigenèse et rationalité, Paris, puf, 2014.
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Phänomenologie im Ausgang vom nachkantischen Idealismus 101
beziehen), sondern es findet hier ein Sprung von einem Register zu
einem anderen statt, der sich auf die gesamte Sphäre diesseits des im-
manenten Bewusstseins erstreckt und – eben dank einer reflexiven
Vertiefung des »Bedingungsverhältnisses« – ein Wechselspiel von
»Präsenz« und »Nicht-Präsenz« (Entzug) zeitigt. Deshalb erkennt
Levinas in dieser zweifachen Figur nicht nur das Wesen jedes Be-
dingungsverhältnisses, sondern, indem er mehrmals auf die »Nicht-
Bedingung oder Bedingung (incondition ou condition)«37 verweist,
verortet er sie »diachronisch« in ihrem Ursprung, der dort gewis-
sermaßen die Form eines »Prinzips oder Nicht-Prinzips« annimmt
oder eben dessen, was Levinas »Anarchie« nennt. Dieser »Sprung« –
und darin besteht also der fundamentale Sinn der Genesis – wird
nicht von außen von irgend einem »Beobachter« vollzogen (und sei
dieser auch »uninteressiert«), sondern er verwirklicht in einer »Re-
flexion der Reflexion« (dieser Ausdruck ist wiederum von Fichte)
die Grundbestimmung des Transzendentalen, welche in der charak-
teristischen Verdoppelung der Ermöglichung besteht,38 d. h. in der
Einsicht, dass das richtige Verständnis der Bedingungen der Mög-
lichkeit von etwas je auch zugleich das, was diese Bedingungen der
Möglichkeit selbst möglich macht, entdeckt39.
Am Ende dieser zweifachen Analyse, die sich auf die Legitimation
der Erkenntnis und auf deren ontologische Grundlage bezog, stellt
sich nun die Frage, was hieraus für den Status der Subjekt-Objekt-
Korrelation folgt, von der ja bereits eingangs behauptet wurde,
dass sie einen entscheidenden Grundaspekt der Phänomenologie
ausmacht. Angesichts der Eröffnung der präimmanenten Bewusst-
seinssphäre, die sich ja als ein »Vor-Sein« ergeben hatte, kann man
sich insbesondere fragen, wie oben bereits anklang, ob es sich dabei
um eine »asubjektive« Sphäre handelt oder ob ihr doch noch irgend-
wie der Status einer »transzendentalen Subjektivität« zugeschrieben
werden kann. Auf genau diese Frage hatte Fichte bereits (im An-
37 Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, S. 17, 186, 196, 203, 281, 282.
Dieser Ausdruck verweist darüber hinaus auf die Art und Weise, wie Levi-
nas die Subjektivität als »Ort oder Nicht-Ort« (bzw. »Ort und Nicht-Ort«)
kennzeichnet (insbesondere a. a. O., S. 77).
38 Eine andere Dimension der »Ermöglichung« wird im letzten Teil dieses
Kapitels aufgewiesen.
39 Die systematischen Konsequenzen dieser Einsichten werden in den Ka-
piteln V und VI gezogen werden.
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102 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
schluss an die oben zitierte Passage) eine Antwort geliefert – indem
er nämlich in Bezug auf das »absolute Ich« behauptet hatte, die Wis-
senschaftslehre habe stets versichert, dass sie je nur das »erzeugte«
Ich als rein aufgefasst habe und dieses an die Spitze ihrer Dedukti-
onen gesetzt habe, nicht jedoch ihrer selbst, »indem […] die Erzeu-
gung höher <liegt> als das [E]rzeugte40.« Das bedeutet, dass Fichte
ganz klar zwischen den durch die Wissenschaftslehre vollzogenen
»Deduktionen« und dem Herzen, dem Kern der Wissenschaftslehre
selbst unterscheidet – welche Unterscheidung der von Erzeugtem
und Erzeugung gleichkommt. Man kann dementsprechend drei Stu-
fen erkennen: die empirische Stufe, die Stufe des »Erzeugten« und
jene der »Erzeugung«. Die Wissenschaftslehre erzeugt ihre eigenen
Vollzüge; als solche aber fällt sie nicht mit ihren Deduktionen oder
Ableitungen zusammen. An sich und für sich selbst betrachtet ist sie
in der Tat reine Erzeugung, Genesis, reine Tätigkeit, Tathandlung.
Die Deduktion macht insofern nicht den letztgültigen Standpunkt
der Wissenschaftslehre aus, als dieser Standpunkt eine Genesis eröff-
net, die diesseits jeder Deduktion unter dem Zeichen des Feldes einer
»asubjektiven Subjektivität« steht, die durch eine nicht reduzierbare
Unbestimmtheit bzw. Kontingenz charakterisiert ist, innerhalb de-
rer sich eine Notwendigkeit eröffnet. Auch diese Perspektive lässt
sich innerhalb der Phänomenologie wiederfinden.41
Die Eröffnung – dank der Epoché und der phänomenologischen
Reduktion – der transzendentalen Bewusstseinssphäre wirft ein
grundlegendes Problem auf: Wenn diese Sphäre einerseits durch
die Korrelation von Bewusstsein und Gegenstand gekennzeichnet
ist (was die Frage nach der »Realität« des Gegenstands im transzen
dentalen Register stellt42) und wenn sich andererseits diesseits der
immanenten Sphäre die präimmanente Bewusstsseinssphäre eröff-
net (was wiederum die Frage nach der »Realität« dieser Sphäre auf-
wirft), dann muss man sich fragen, was die Einheit dieser zweifa-
40 Wissenschaftslehre 18042, GA II, 8, S. 205.
41 Zunächst bei Husserl, da sich die drei erwähnten Stufen (die empirische
Ebene, die Ebene des Erzeugten und die Ebene der Erzeugung) jeweils auf
die Sphäre des empirischen Bewusstseins (außerhalb der Epoché), auf die
immanente Sphäre und auf die präimmanente Sphäre des transzendentalen
Bewusstseins beziehen; und dann auch bei Heidegger aus Gründen, die wei-
ter unten erhellt werden.
42 Auf diese Frage komme ich im Kapitel VI ausführlich zurück.
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Phänomenologie im Ausgang vom nachkantischen Idealismus 103
chen transzendentalen (immanenten und präimmanenten) Sphäre
ausmacht – wobei die Antwort auf diese Frage freilich den »mini-
malen« phänomenologischen Zwängen (wie Jean-Toussaint Desanti
sich ausgedrückt hat) Rechnung tragen muss, die darin bestehen,
die Zurückführung auf die Subjektivität und die korrelative Struk-
tur derselben zusammenzudenken. Oder noch einmal anders aus-
gedrückt (angesichts der Gegenüberstellung der oben analysierten
Perspektiven): Wie lassen sich die erkenntnistheoretische Forderung
einer Erkenntnislegitimierung und die ontologische Forderung, das
Sein all dessen aufzudecken, was die zweifache phänomenologische
Sphäre zusammensetzt, miteinander vereinbaren?
Unter den verschiedenen Ansätzen einer Antwort auf diese Frage,
die von den Klassischen Deutschen Philosophen vorgeschlagen wur-
den, möchte ich einmal mehr die von Fichte hervorheben, da sie
alle Parameter, die hier hineinspielen, in Betracht zieht. In der Wis
senschaftslehre von 1804 (zweite Fassung) erhebt sich Fichte, ohne
sich um die Frage nach dem Zugang zur transzendentalen Sphäre zu
kümmern, auf die höchste Stufe der Transzendentalphilosophie (die
er ein Jahrzehnt nach der Grundlage zur gesammten Wissenschafts
lehre von 1794/95 zwar nicht mehr als »absolutes Ich« bezeichnet,
deren subjektive Dimension, die er nun »Licht« nennt, aber dennoch
gewahrt bleibt), nämlich zum »Punkt der Einheit und der Disjunk-
tion« der Korrelation von Sein (Objekt) und Bewusstsein (Subjekt).
Es geht dabei insbesondere darum, das Aneignungsprinzip des Er-
kenntnisgegenstands, die ontologische Grundlage aller Realität und
die transzendentale Legitimation des höchsten Grundsatzes der Er-
kenntnis zu erläutern. Dies bringt das Band zwischen der Selbstver-
nichtung des Bewusstseins und dem »Absatz« des Seins ins Spiel,
wie auch eine Verdoppelung der »Ermöglichung«, in deren Mittel-
punkt Fichte das sogenannte »Als« verortet, das die Selbstlegitima-
tion der Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis liefert.
In den Grundbegriffen der Metaphysik kommt Heidegger nun
auf den Begriff der »Ermöglichung« zurück, was auf eine bemer-
kenswerte Weise an Fichtes Gebrauch desselben Begriffs erinnert.
Im Briefwechsel Fichtes und Schellings bestand, wie oben ange-
merkt wurde, der Streit darin, dass sich eine radikal transzendenta-
listische (auf die Ermöglichung fokussierte) Position und eine onto-
logisierende Herangehensweise gegenüberstanden; seine Auflösung
schien dabei ohne das Aufgeben einer dieser beiden Standpunkte
nicht möglich. Ganz offenbar bricht dieser Streit in der Phänome-
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104 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
nologie dann genauso auch zwischen einer konstruktiven Phäno-
menologie bei Husserl und einer phänomenologischen Ontologie
bei Heidegger wieder auf. Es erweist sich nun aber, dass Heideg
ger im eminent wichtigen § 76 jener Vorlesung von 1929/30 beide
Perspektiven zu vereinbaren sucht. Hierfür wird nicht bloß eine
besondere reflexive Anstrengung unternommen, sondern eine Ver-
wandlung des Menschen »in ein ursprünglicheres Da-sein«43 nötig.
Für Heidegger kann eine »subjektive« Dimension (die den dogma-
tischen Realismus zu vermeiden vermag) nur so mit der Notwen-
digkeit, auf eine Analytik des Bewusstseins zu verzichten, verein-
bart werden, dass diese zweifache Perspektive sich im Sinne eines
»Grundgeschehens«44 vollzieht. Worin besteht genau dieses letztere?
Dieses »Grundgeschehen« nähert sich sehr dem »Begriff-Licht-
Sein-Schema« an, das Fichtes späte (»Berliner«) Wissenschaftslehren
wesenhaft kennzeichnet. Es handelt sich dabei um das Prinzip je-
den Bezugs von »Denken« und »Sein«, das durch ein präsubjektives
Prinzip der Erkenntnis, welches »Licht« genannt wird, vermittelt
ist. Dabei ist allerdings dieses »Prinzip« kein erster Grundsatz, aus
dem sich alle anderen ableiten ließen, sondern eine gleichsam tran-
szendentale und metaphysische Konstellation, der jeder Subjekt-
Objekt- bzw. Bewusstsein-Welt-Bezug untersteht. Mit dem Begriff
des »Grundgeschehens« bringt Heidegger nun genau die gleiche
Idee zum Ausdruck, selbst wenn dessen »ursprüngliche Struk-
tur« von jener des »Begriff-Licht-Sein-Schemas« Fichtes abweicht.
Heidegger begreift seinen »einheitlichen Charakter« als einen »Ent-
wurf«, genauer: als die Ermöglichung jedes Sinnentwurfs. Dieser
»Entwurf« ist durch eine Doppelbewegung45 einer »Abkehr« und
43 Die Grundbegriffe der Metaphysik, HGA 29/30, S. 508.
44 In der Vorlesung vom Sommersemester 1929 (die jener über die Grund
begriffe der Metaphysik unmittelbar vorausging) behauptete Heidegger aus-
drücklich, dass »der Gegenstand der Auseinandersetzung mit Fichte und
dem deutschen Idealismus«, nämlich »das Problem der Metaphysik und der
Frage des Menschen«, sich vom »Grundgeschehen der Metaphysik« selbst
aus entfaltet, Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die phi
losophische Problemlage der Gegenwart, HGA 28, S. 131 f. Heidegger sieht
hierin nicht weniger als den Kern der Problemlage der Gegenwart überhaupt,
sofern diese hinsichtlich des deutschen Idealismus betrachtet wird (vgl. den
Titel der Vorlesung und ebenda, S. 47).
45 Diese Doppelbewegung erinnert stark an jene des aus sich herausgehen-
den und wieder in sich zurückgehenden Ich, von dem in Fichtes Zweiter
Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797) die Rede ist.
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Phänomenologie im Ausgang vom nachkantischen Idealismus 105
einer »Zukehr« charakterisiert, welche nicht reflexiv, sondern eben
ermöglichend ist: »[D]as im Entwurf Entworfene zwingt vor das
mögliche Wirkliche, d. h. der Entwurf bindet – nicht an das Mög-
liche und nicht an das Wirkliche, sondern an die Ermöglichung.« 46
Der zwingende und bindende Charakter des Realen – d. h. dessen
Notwendigkeit – setzt dabei die Ermöglichung voraus. »Gegenstand
des Entwurfs […] ist das Sichöffnen für die Ermöglichung.«47
Zugleich, und dieses zweite Moment hängt sehr eng mit dem
ersten zusammen, lässt jener Entwurf das Sein48 des Seienden her-
vorscheinen: Das Sich-Entgegenhalten der Notwendigkeit ist vom
Aufgehen des Seins nicht zu trennen. Heidegger bezieht sich hier ex-
plizit auf Schellings Freiheitsschrift: Der Entwurf ist »der Lichtblick
ins Mögliche-Ermöglichende überhaupt«.49 Heidegger geht hier in-
sofern über das hinaus, was er im § 53 von Sein und Zeit über die
Ermöglichung herausgestellt hatte, als es hier nicht mehr nur um
die »Gewissheit« dieses Phänomens geht. Dagegen nähert er sich
umso mehr50 wiederum der Fichte’schen Auffassung der »Ermög-
lichung« an, da dieser Begriff genau jene »ermöglichende Verdop-
pelung« bezeichnet, die auch schon in der Wissenschaftslehre von
1804/II aufgetreten war. Das Offen-Sein für das Seiende hat nämlich
eine »vorlogische« Dimension, die Heidegger ausdrücklich mit der
»Ermöglichung« in Verbindung setzt.51
Schließlich stellt Heidegger noch ein drittes Moment des »Grund-
geschehens« heraus. Diesem Offen-Sein ist nämlich eine »Offenbar-
keit« eigen, die in einem »Ganzen« gründet, das Heidegger »die
Welt« nennt. Der Entwurf ist also auch ein ein Ganzes entwerfendes
»Bilden« – Heidegger geht sogar so weit zu sagen, dass das Ganze,
die Welt, allererst die Offenbarkeit möglich macht.52 Im Mittelpunkt
dieser gesamten Bewegung steht das »Als«, das Heidegger zwar in
erster Linie an der Aristotelischen Analyse des »logos apophanti-
46 Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 528.
47 Ebd., S. 529.
48 Im Sinne des »Transzendentalen« »für jedes Seiende« wie Heidegger es
im (oben zitierten) § 43 von Sein und Zeit angeführt hatte.
49 Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 529 f.
50 »Noch mehr«, da Heidegger hier ganz besonders den Gedanken einer er-
möglichenden Verdoppelung hervorkehrt, während er im § 53 von Sein und
Zeit gerade die Art betont hatte, wie die Ermöglichung gewiss werden kann.
51 Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 510 f.
52 Ebd., S. 513 f.
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106 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
kos« orientiert, das zugleich aber auch (und sogar vorrangig) Fichtes
»Als« (qua Prinzip der Ermöglichung) widerspiegelt – wodurch die
Behauptung, »die Aufhellung des Wesens des ›Als‹ geh[e] zusammen
mit der Frage nach dem Wesen des ›Ist‹, des Seins«,53 ihren klaren
Sinn erhält. Die »gemeinsame Wurzel« des »Als« und des Seins muss
insofern in der Ermöglichung gesucht werden, als diese ein Prinzip
der Aneignung, das Sein und ein Prinzip der Legitimation (Fichte),
bzw. die Notwendigkeit, das Sein und die vorlogische Konstellation
eines Ganzen (Heidegger) zusammenhält. Durch diese ergreifende
Vertiefung des Bezugs von Notwendigkeit, Sein und Wissenslegiti-
mation, macht diese Analyse des »Grundgeschehens« einen Höhe
punkt der Herausstellung des Erbes der Klassischen Deutschen Phi-
losophie in der Phänomenologie aus.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es in diesem Kapitel
darum ging, Argumente für die These zu liefern, dass der Rückgriff
auf wirkungsmächtige Ausarbeitungen innerhalb der Klassischen
Deutschen Philosophie Licht auf ein »Ungedachtes« in der phäno-
menologischen Methode zu werfen vermag. Dieses Ungedachte be-
trifft sowohl das genaue Verständnis des Begriffs des Transzenden-
talen als auch den Bezug zwischen dem (weitgefächerten) Begriff
der »Möglichkeit« und dem der transzendentalen »Subjektivität«.
Drei Probleme waren hierbei für diese Überlegungen maßgeblich:
Wie kann die anschauliche Evidenz ein legitimierendes Vermögen
aufweisen? Was ist der Seinssinn des Phänomens in der Haltung der
Epoché? Wie lassen sich die (erkenntnistheoretische) Frage nach den
»Rechtsquellen« der Erkenntnis mit der (ontologischen) Frage nach
der seinsspezifischen Grundlage des transzendental Konstituierten
verbinden? Diese Fragen liefen schließlich auf das Problem hinaus,
welcher Status dem Feld der transzendentalen »Subjektivität« im
Gegensatz zum konkreten »Ich« zukommt. Eines der Ergebnisse
dieser Untersuchung legt nahe, dass erstere in der Tat ein »Feld«
darstellt, während letzteres eher einen »Pol« der intentionalen Kor-
relation innerhalb dieses Feldes ausmacht. Die Antworten auf diese
Fragen wurden nicht von einem einzigen Autor gegeben (und konn-
ten dies auch gar nicht) – und zwar weder in der Klassischen Deut-
schen Philosophie noch in der Phänomenologie. Sie brachten je-
weils die Begriffe einer (»genetischen« bzw. »phänomenologischen«)
53 Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 484.
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Phänomenologie im Ausgang vom nachkantischen Idealismus 107
»Konstruktion«, eines »wechselseitigen Bedingungsverhältnisses«
im Mittelpunkt einer »neuen Ontologie« und einer »Ermöglichung«,
d. h. der als »ermöglichende Verdoppelung« verstandenen »Refle-
xion der Reflexion« ins Spiel. Schelling und vor allem Fichte haben
hierdurch Wege zu Analysen diesseits der Spaltung von »Erkennt-
nistheorie« und »Ontologie« eröffnet. Als es darum ging, die Einheit
der transzendentalen Phänomenologie hinsichtlich ihrer spekulati-
ven Grundlagen zu reflektieren, haben sich die Phänomenologen
(d. h. hier Husserl, Heidegger und Levinas) gleichsam »hinter ihrem
Rücken« bzw. unbewusst davon inspirieren lassen.
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Kapitel IV
Transzendentale Phänomenologie im
Ausgang von der Lebenswelt
Der »transzendentale Idealismus« hat aber auch noch ein anderes
Gesicht. Um das deutlich zu machen, ist noch einmal der Rückgang
zu Husserl nötig – allerdings zum späten Husserl, der mit seinen
engen Verbindungen erst zu Heidegger und dann zu Fink ja selbst
bereits »phänomenologieimmanente« Einflüsse und Reaktionen er-
fahren hatte.
Ausgangspunkt dieses Kapitels ist es – näher betrachtet –, dar-
zulegen, wie Husserl in seiner bedeutenden Spätschrift Die Krisis
der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phäno
menologie (1936) ein Grundmotiv der neuzeitlichen Philosophie
entlarvt, an dem sich die Entzündung des jahrtausendealten Streits
zwischen Idealismus und Materialismus noch einmal sehr anschau-
lich nachvollziehen lässt. Dieses Grundmotiv wird Husserl dann
anhand seiner – freilich bloß skizzenhaften – Lesart Humes wider-
legen, um in diesem letzten Werk noch einmal – nach der »deskrip-
tiven Psychologie« der Logischen Untersuchungen und der auf das
»transzendentale Ego« zentrierten Phänomenologie der Ideen I und
der Cartesianischen Meditationen – einen möglichen Neuansatz der
transzendentalen Phänomenologie zu eröffnen. Diesen Neuansatz
verankert er in einer Reihe von Infragestellungen und Paradoxien,
die es ausführlich vorzustellen gilt. Es wird hier nicht um eine ver-
tiefte Auseinandersetzung der Phänomenologie Husserls mit dem
Empirismus gehen, sondern es soll lediglich aufgezeigt werden, wel-
chen entscheidenden Impuls Husserls (späte) Auffassung der tran
szendentalen Phänomenologie diesem zu verdanken hat. Am Ende
des Kapitels soll schließlich kurz vorgezeichnet werden, wie Hus-
serls kritischer Ansatz positiv weiterentwickelt werden kann. Dies
gestattet es dann auch zugleich, den Übergang zum systematischen
dritten Teil dieses Essays herzustellen.
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110 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
Worin besteht laut Husserl das »Grundmotiv« der neuzeitlichen
Philosophie und Wissenschaft (seit Descartes, Galilei und New-
ton)? In der grundlegenden Tendenz dessen, was er den »Objekti-
vismus« nennt. Das Charakteristikum desselben ist, »dass er sich auf
dem Boden der durch Erfahrung selbstverständlich vorgegebenen
Welt bewegt und nach ihrer ›objektiven Wahrheit‹ fragt, nach dem
für sie unbedingt, für jeden Vernünftigen Gültigen, nach dem, was
sie an sich ist«.1 Husserls These lautet, dass hierbei beständig eine
Unterschiebung bzw. das, was er als eine »Subreption« bezeichnet,
vollzogen wird. Die neuzeitliche Wissenschaft unterschiebt der na-
türlichen Lebenswelt ein mathematisches Substrat, das allein den
Maßstab für Sein und Geltung des zu Erkennenden liefere. Oder an-
ders gesagt, der Lebenswelt werde ein passendes »Ideenkleid« ange-
messen, wodurch die tiefe Zusammengehörigkeit von vermeintlich
gerechtfertigter Mathematisierung und universaler Vernünftigkeit
zum Ausdruck komme. Husserl kritisiert dabei an diesem »Objek-
tivismus« sowohl die unzulässige Inanspruchnahme eines lediglich
konstruierten Erkenntnissubstrats als auch – auf der ontologischen
Seite – die Ansetzung eines objektiven »Seins an sich«.
Husserl zufolge ist nun bei Hume ein verborgenes Motiv ange-
legt, das es vermag, den Subreptionsobjektivismus zu vermeiden,
ohne darum das Ideal von Wissenschaftlichkeit aufzugeben. Dieses
Motiv stellt eine tiefgreifende »Erschütterung« des Objektivismus
dar. Es besteht in der verborgenen Einsicht, dass das Bewusstsein in
die Weltkonstitution eingeht. Allerdings wird diese Bewusstseins-
konstitution nicht in ihrer positiven Funktion, d. h. in dem Sinne,
dass das Bewusstseinsleben als »Seinssinn leistendes« aufgewiesen
wird, erfasst, sondern bloß negativ vorgezeichnet: »bei Hume er-
zeugte die ganze Seele mit ihren ›Impressionen‹ und ›Ideen‹ […]
die ganze Welt, die Welt selbst, und nicht etwa nur ein Bild [dies ist
eine Anspielung auf Descartes’ Auffassung einer Erzeugung von
»Weltbildern«, A. S.] – aber freilich, dieses Erzeugnis war eine bloße
Fiktion«.2 Husserls Gegenthese lautet dagegen gerade umgekehrt,
dass die Erzeugung von »Weltbildern« (Descartes), von »fiktionalen
Erzeugnissen« (Hume) mit dem phänomenologischen Anspruch auf
Begründung von Objektivität und Erkenntnis zusammengedacht
werden muss. Die Erschütterung des Objektivismus liegt also darin,
1 Husserliana VI, S. 70.
2 Ebd., S. 92.
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Phänomenologie im Ausgang von der Lebenswelt 111
in gewissem Sinne bildhafte, demnach keine fiktiven, sondern »fik-
tionale«, phantasiemäßige Leistungen in der Konstitution des Be-
wusstseins von Welt und Objektivität zu berücksichtigen.3 Hieraus
folgen wiederum auch höchst bedeutsame Konsequenzen für die
Methode der Phänomenologie, die in diesem Kapitel eingehender
erläutert werden sollen. Dass das Bewusstseinsleben je leistendes
Leben ist, bedeutet also fundamental, dass folgende drei Grund-
aspekte, nämlich: 1.) die Bildhaftigkeit des phänomenal Seienden,
2.) die reale Objektivität und 3.) die Erkenntnislegitimation in ih-
rer grundlegenden Zusammengehörigkeit erkannt werden müssen.
Hiermit wird alldem, was in der Folge die »transzendentale Phä-
nomenologie« ausmachen wird, die Grundrichtung angezeigt. Wie
stellt sich das genauer dar?
Zunächst ist hierzu Husserls bemerkenswerte Auslegung des
»Humeschen Problems« festzuhalten. Kants bekannte Lesart des-
selben betraf das »Induktionsproblem«, also die Zulässigkeit des
Schlusses von Einzelfällen auf ein allgemeingültiges Gesetz. Für
Husserl aber ist nicht dies das eigentliche »Humesche Problem«,
sondern vielmehr das folgende: »Wie ist die naive Selbstverständ
lichkeit der Weltgewissheit, in der wir leben, und zwar sowohl die
Gewissheit der alltäglichen Welt als die der gelehrten theoretischen
Konstruktionen aufgrund dieser alltäglichen Welt, zu einer Ver
ständlichkeit zu bringen?«4 Es geht hierbei um das Verständlich-
machen eines vermeintlich Selbstverständlichen, was sich aber für
den Philosophen als nicht selbstverständlich erweist – nämlich die
Weltgewissheit. Für Husserl besteht das bedeutende Verdienst des
Verfassers des Treatise of Human Nature darin, als erster erkannt
zu haben, dass die objektiven Wahrheiten des Wissenschaftlers und
die objektive Welt selbst »sein eigenes, in ihm selbst gewordenes
Lebensgebilde«5 sind – »Lebensgebilde«, die mit der soeben ange-
sprochenen »Bildhaftigkeit des phänomenal Seienden« in Zusam-
menhang gebracht und in der Tat auch zusammengedacht werden
müssen. Wenn Husserl betont, dass das »Welträtsel im tiefsten und
letzten Sinne, das Rätsel einer Welt, deren Sein Sein aus subjektiver
3 Diese These, die der Orthodoxie der Husserl’schen Phänomenologie ent-
gegenzustehen scheint, lässt sich über die hier darzulegenden Analysen hin-
aus auch mit bedeutenden Passagen aus Husserliana XXIII erhärten.
4 Husserliana VI, S. 99.
5 Ebd.
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112 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
Leistung ist, und das in der Evidenz, dass eine andere überhaupt
nicht denkbar sein kann«, ganz genau »Humes Problem«6 ist, dann
wird damit zum Ausdruck gebracht, dass die Frage nach dem »Welt-
problem« grundsätzlich nur im Rückgang auf subjektiv zu leistende
»Sinngebilde« und deren »bildhaften« Charakter zu beantworten ist.
Diese fundamentale Bedeutung des Zusammenhangs von »Sinn-
gebilden« und positiv zu verstehender »Bildhaftigkeit« des phäno-
menal Seienden kommt noch stärker zum Vorschein, wenn man
hierbei Husserls grundlegende Bestimmung des Begriffs des »Tran-
szendentalen« mit in Betracht zieht. Diese wird im § 26 der Kri
sis-Schrift geliefert. Um voll erfassen zu können, worum es dabei
geht, muss dieser Paragraph mit dem vorigen (§ 25) zusammenge-
lesen werden – und auch mit dem § 11 von Erfahrung und Urteil,
in dem es exakt um die gleiche Problematik geht. Der Begriff des
»Transzendentalen« hat die fundamentale Bedeutung, der zufolge
er den Status der »verhüllten Subjektivität«7 ausmacht, sofern sie,
wie gesagt, Urquelle für die Beantwortung des »Welträtsels« (also
der Weltgewissheit) ist. Husserls Definition dieses Begriffs lautet
folgendermaßen: Das »Wort ›transzendental‹« wird für ein »Motiv«
gebraucht, welches »das Motiv des Rückfragens nach der letzten
Quelle aller Erkenntnisbildungen, des Sichbesinnens des Erkennen-
den auf sich selbst und sein erkennendes Leben« ist, »in welchem
alle ihm geltenden wissenschaftlichen Gebilde zwecktätig gesche-
hen, als Erwerbe aufbewahrt und frei verfügbar geworden sind und
werden«.8 »Transzendental« verweist also auf jene Motivierung, die
das phänomenologisch (bezüglich des »immanent« Gegebenen) und
dann auch wissenschaftlich Beschreibbare als »Gebilde« verständ-
lich macht, die auf eine letzte Quelle zurückweisen, nämlich die
»fungierenden Leistungen« der transzendentalen Subjektivität, die
ihrerseits phänomenologisch (aber in einem anderen Sinne als der
rein immanenten Beschreibung) als »aufbewahrte« und somit »frei
verfügbare Erwerbe« aufweisbar und analysierbar sind. »Transzen-
dental« heißt nicht: sich auf bloße Bedingungen der Möglichkeit der
Erkenntnis beziehend, sondern ein phänomenologisches Feld eröff-
nend, das als »erkennendes Leben« einen so aktiven wie verhüllten
6 Husserliana VI, S. 100.
7 Erfahrung und Urteil, § 11, S. 47.
8 Husserliana VI, S. 100 f.
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Phänomenologie im Ausgang von der Lebenswelt 113
Beitrag zur Sinn-Bildung (in der Bedeutung von »Sinngebilden und
Geltungsgebilden«) überhaupt liefert.
Um jenes Welträtsel nun lösen, um die Frage nach der Weltge-
wissheit beantworten zu können, führt Husserl in der Krisis-Schrift
den berühmten Begriff der »Lebenswelt« ein. Was bedeutet er und
wie kommen wir zu ihm?
Unter »Lebenswelt« versteht Husserl grob gesagt den vermeint-
lich selbstverständlichen, nicht eigens zum Thema gemachten Boden
unseres Weltbezugs – und zwar sowohl im alltäglichen Denken und
Handeln als auch in der wissenschaftlichen oder philosophischen
Behandlungsart der Gegenstände. Das Überspringen bzw. achtlose
Ignorieren dieses lebensweltlichen Bodens jeder erkenntnishaften
Theoretisierung ist der Grund für die Krise der neuzeitlichen ob-
jektivistischen Naturwissenschaft. Wie ist nun jener Boden zu ge-
winnen und was zeichnet ihn grundlegend aus? Und welche Form
von Wissenschaftlichkeit kommt der Thematisierung der Lebens-
welt zu?
Die Antwort hierauf wird durch ein schon bekanntes methodi-
sches Prinzip geliefert, das Husserl nun die »lebensweltliche Epo-
ché« nennt, die ganz offenbar die »Epoché« und die »Reduktion«
zugleich mitumschließt. Aus ihr geht hervor, dass die Lebenswelt,
ganz gleich von welcher Perspektive sie betrachtet wird, ihre »all-
gemeine Struktur« hat. Allerdings ist das »Apriori«, das hier durch-
scheint, nicht das objektive Apriori der Wissenschaft. Das Apriori
der Lebenswelt ist nicht das objektiv-logische Apriori. Letzte-
res ist auf ersteres »rückbezogen«. »Diese Rückbezogenheit ist
die einer Geltungsfundierung« und zwar dank einer »gewisse<n>
idealisierende<n> Leistung«. Die Grundaufgabe einer »Wissenschaft
der Lebenswelt« besteht dann darin aufzuweisen, »wie das ›objek-
tive‹ in dem ›subjektiv-relativen‹ Apriori der Lebenswelt gründet«
und in der lebensweltlichen Evidenz seine »Sinn- und Rechtsquelle«
hat. Diese beiden Grundarten des Apriori müssen also prinzipiell
voneinander geschieden und die Unterschiebung eines objektiven
Apriori unter das lebensweltliche muss in aller Deutlichkeit heraus-
gestellt (und dadurch dann auch unterbunden) werden. Genau diese
Scheidung soll die lebensweltliche Epoché ebenso leisten wie auch
die Aufweisung des soeben schon angeschnittenen Gründungsver-
hältnisses. Husserl schreibt: »Nur durch Rekurs auf dieses, in einer
eigenen apriorischen Wissenschaft zu entfaltende Apriori können
unsere apriorischen Wissenschaften, die objektiv-logischen, eine
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114 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
wirklich radikale, eine ernstlich wissenschaftliche Begründung ge-
winnen […].«9
Dieses originelle Apriori betrifft ein ganz neues Forschungsfeld.
Es geht dabei darum, dass der »Blick frei« werde. Frei wovon? Von
der »stärksten Bindung« an die starren Verhältnisse der objektivis-
tischen Auffassung. Und frei wofür? Eben für das lebensweltliche
Apriori. Die »totale Umstellung«, die eine radikale Einstellungsän-
derung bedeutet, setzt eine Art des Bezuges an die Stelle eines an
deren. Die »verborgenste innere Bindung« soll der »in sich absolut
geschlossenen und absolut eigenständigen Korrelation«10 Platz ma-
chen. Der Blick wird frei von der Bindung an die Vorgegebenheit der
Welt für die universale Korrelation von Welt und Weltbewusstsein.
Wenn man nun in die Sinn- und Geltungsimplikationen dieses
neuen Korrelationsapriori eindringt, dann stellt sich heraus, dass
hier eine Unendlichkeit von »immer neuen Phänomenen einer neuen
Dimension« ans Licht kommt, die Husserl als »rein subjektive Phä-
nomene« kennzeichnet, als »geistige Verläufe«, welche die Funk-
tion üben, »Sinngestalten [als »Gestaltbildungen «, wie Husserl
im selben Zusammenhang sagt, A. S.] zu konstituieren«.11 Es han-
delt sich in der Tat um eine neue Dimension, ein eigenes »Reich«,
das »Reich des Subjektiven«. Husserl charakterisiert es so: »Es ist
ein Reich eines ganz und gar in sich abgeschlossenen Subjektiven,
in seiner Weise seiend, in allem Erfahren, allem Denken, in allem
Leben fungierend, also überall unablösbar dabei, und doch nie ins
Auge gefasst, nie ergriffen und begriffen.«12 Dieses Ergreifen und
Begreifen ist die Aufgabe der Phänomenologie. Das »Material«, das
hierbei zugrunde liegt, sind keine Zeichen, nichts irgendwie Festes
oder Unbewegliches. Es ist ein »geistiges Material«, »das sich immer
wieder in Wesensnotwendigkeit als geistige Gestalt, als konstituiert
erweist [es handelt sich dabei um eine gleichsam unendliche Ver-
schachtelung von Konstitutionen, in denen diese »geistigen Gestal-
ten« in einem unaufhörlichen Werden und Wandel begriffen sind,
A. S.], so wie alle neu gewordene Gestalt zum Material zu werden,
also für Gestaltbildung zu fungieren berufen ist«.13 Husserl betont in
9 Husserliana VI, S. 144.
10 Ebd., S. 154.
11 Ebd., S. 114.
12 Ebd.
13 Ebd.
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Phänomenologie im Ausgang von der Lebenswelt 115
diesem Zusammenhang die Abgrenzung der phänomenologischen
Perspektive vom Kantischen Ansatz.
Das ist so zu verstehen, dass bei Kant der Rückgriff auf transzen
dentale (»subjektive«) Bedingungen immer nur Antworten auf »Ad-
hoc-Probleme« liefern sollte (wie zum Beispiel: was ist die apriori-
sche Bedingung von Affiziert-Sein?), die transzendentale Subjektivi-
tät aber keinesfalls als ein »Reich« oder »Forschungsfeld« angesehen
wurde, das eine eigene Erfahrung notwendig macht und von dort
aus gleichsam beschritten und erforscht werden kann. Ganz anders
in der Phänomenologie. Wenn Husserl hierbei von »geistigem Ma-
terial« spricht, dann in dem Sinne, dass es sich hier nicht um rein
logische (also gewissermaßen »tote«) Bedingungen handelt, sondern
die Sinnbildung ihr eigenes »Leben« hat, »beseelt« von der transzen
dentalen Subjektivität.
Welt – verstanden als Lebenswelt, als »ständig für uns im Wandel
der Gegebenheitsweisen seiende Welt« – ist hierbei Einheit (= »Ein-
heit des Sinn- und Geltungszusammenhangs«) einer »geistigen Ge-
stalt«, als ein »Sinngebilde« – als »Gebilde einer universalen letztfun-
gierenden Subjektivität«.14 Diese Einheit entspricht dem, was Hus-
serl an anderer Stelle die »anonyme Subjektivität« nennt. Husserl
denkt hier zwei Aspekte zusammen. Einerseits einen Einheitssinn,
der »durch alle Systemversuche der gesamten Geschichte der Philo-
sophie hindurchgeht«15 und dabei auch die Idee der Wissenschaft als
»Universalphilosophie« bestimmt; andererseits einen Einheitssinn,
der in jeder konkreten phänomenologischen Analyse dem phäno-
menologisch zu Analysierenden Sinn und Geltung verleiht. Jeder
Sinn eines Phänomens weist hierbei auf die anonyme, letztfungie-
rende transzendentale Subjektivität zurück. Wichtig ist dabei, dass
hier eine weltkonstituierende Leistung vollzogen wird (dass also
ohne die Zurückverweisung auf die Lebenswelt jener Einheitssinn
niemals gestiftet werden kann) – und dass die anonyme Subjektivi-
tät »sich selbst als menschliche, als Bestand der Welt, objektiviert«
(näheres dazu siehe unten). Weltkonstitution und Selbstobjektivie
rung der Subjektivität – das sind die beiden Grundparameter für die
Sicherstellung der Einheit des Seins- und Geltungssinnes, auf den
es der Phänomenologe der Lebenswelt grundsätzlich abgesehen hat.
14 Husserliana VI, S. 115.
15 Ebd.
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116 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
Bevor endgültig erklärt werden kann, wie der Zugang zur Le-
benswelt sichergestellt wird, ist noch eine weitere wichtige Bemer-
kung hinzuzufügen. Es geht Husserl einerseits um die Aufklärung
der Geltungsgründe der objektiven Wissenschaft (und dabei spezi-
fisch um die erkenntnistheoretische Frage nach den Bedingungen
der Möglichkeit der Gültigkeit von Wissen und Erkenntnis über-
haupt); und andererseits um die Herausstellung des Seinssinnes der
Lebenswelt. Wie hängen diese beiden Problemstränge zusammen?
Husserl äußert sich diesbezüglich völlig unzweideutig: »eine expli-
zite Aufklärung der objektiven Geltung und der ganzen Aufgabe
der Wissenschaft« »fordert offenbar«, »dass zunächst zurückgefragt
wird auf die vorgegebene Welt«. Was versteht er dabei unter »vor-
gegebener Welt«? Es handelt sich um die »als seiend allgemeinsam
vorgegebene, [die] anschauliche Lebensumwelt«.16 Mit anderen (ver-
einfachten) Worten, und das ist hier zentral (und vielleicht auf den
ersten Blick befremdlich): Geltung, so lautet die ausgesprochene
»Forderung«, soll auf Sein zurückgeführt werden.
– An dieser Stelle sollte kurz innegehalten werden. Es handelt
sich um eine klassische Frage, die seit Leibniz, Hume und Kant bis
hin zum Neukantianismus (Rickerts zum Beispiel) im Mittelpunkt
jeder Erkenntnislehre steht. Es ist die Frage nach »Genese« und
»Geltung«, bzw. »Entstehung« und »Rechtfertigung« der Erkennt-
nis. Traditionell17 wird zwischen zwei Perspektiven, wodurch eine
nicht zu überwindende Grenze festgelegt wird, unterschieden: eines
ist es, die psychologische Entstehungsgeschichte der Erkenntnis zu
erzählen (Kant sprach hier von einer »physiologischen Ableitung«),
ein anderes ist es, ihre Gültigkeit zu rechtfertigen. Nun sind aber
in der Philosophiegeschichte mindestens zwei maßgebliche Über-
schreitungen dieser Grenze vollzogen worden: nämlich bei Fichte
und eben bei Husserl.
Erste Überschreitung (bei Fichte): Das, was die Gültigkeit recht-
fertigt, schwebt nicht ohne Sein im logischen Raum, sondern muss
sich in seinem spezifisch gleichsam proto-ontologischen Seinsge-
halt »intellektuell anschauen« lassen. Hierbei muss zwischen dem
abgesetzten »toten« Sein, das in der Bewusstseinsspaltung das Kor-
relat zu Denken und Bewusstsein ist, und dem »lebendigen Sein«
16 Husserliana VI, S. 123.
17 Siehe zum Beispiel I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 86–87.
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Phänomenologie im Ausgang von der Lebenswelt 117
der höchsten Erkenntnisquelle selbst unterschieden werden. Das
»lebendige Sein« ist das des Transzendentalen selbst.
Husserls Ansatz (= zweite Überschreitung) ist ein anderer. Er
fragt sich nicht, welches »Sein« (hierbei natürlich ganz im Gegen-
satz zum Standpunkts Kants) dem Transzendentalen zugeschrieben
werden muss, damit die Erkenntnisdeduktion zu einem überzeu-
genden Abschluss gebracht und endgültig gerechtfertigt werden
kann – denn in diesem Sinne geht für ihn Sein sehr wohl ins Tran
szendentale ein (in Schellings System des transzendentalen Idealis
mus wird eine noch extremere Position vertreten, da für Schelling
in dieses Sein dann auch noch der konkrete Inhalt des jeweils zu
Erkennenden selbst einfließen muss) –, vielmehr knüpft Husserl die
transzendentale Erkenntnislegitimation von vornherein an ein zu-
grundeliegendes, vorgegebenes Sein. Dabei darf dieses »Anknüpfen
an« aber nicht missverstanden werden: Wir haben hier nicht zu
erst ein Sein und dann eine erkenntnislegitimierende Funktion, die
diesem zugesprochen wird, sondern beides ist gleichursprünglich.
Und zwar vereint in der Lebenswelt, die folgerichtig als »Boden«,
»Quelle« und »Ursprung« der Erkenntnis aufgefasst wird.18 – Fas-
sen wir also Husserls Einsicht zusammen: »Genese« in der Phäno-
menologie bezieht sich auf keine faktische (psychologische) Entste-
hung, sondern Husserl nimmt für sich in Anspruch, die von der von
Windelband und R ickert begründeten Badischen Schule des Neu-
kantianismus aufgeworfene Geltungsdebatte in die Seinsproblema-
tik hineinzunehmen. Husserl schließt demzufolge sowohl an seine
eigene Wahrheitsauffassung in der 6. Logischen Untersuchung als
auch an Heideggers These, Wahrheit sei ein welterschließendes Exis-
tenzial des Daseins, an. In der Krisis-Schrift kommt ein Grundmotiv
der Phänomenologie Husserls und Heideggers sozusagen zu einem
krönenden Abschluss. Dass das problematisch ist, dass hier eine He-
rausforderung an die Logik und Argumentationstheorie vorliegt, ist
nicht von der Hand zu weisen, macht aber gerade den originellen,
denkwürdigen Ansatz Husserls aus. –
Auf welche zwei Arten kann nun die Lebenswelt grundlegend
zum Thema gemacht werden – nicht im beschränkten Rahmen ei-
18 Ob angesichts ihres unterschiedlichen Ausgangspunktes beide Verfah-
rensweisen tatsächlich auseinanderliegen oder ob in Anbetracht ihres sehr
ähnlichen Resultats hier nicht doch – radikal zu Ende gedacht – dieselbe
Form eines transzendentalen Idealismus vorliegt, bleibt dabei offen.
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118 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
ner Ontologie, sondern in einem weiteren Rahmen, der letztlich
auf die Herausstellung des universalen Korrelationsapriori aus ist?
Hierbei sind zwei »Vollzugsweisen des Lebens« möglich, die unser
»Wachsein für« (die Welt oder die Dinge in der Welt) kennzeichnen:
Entweder die Vollzugsweise des »Geradehin auf gegebene Objekte«
oder jene, die sich auf das »Wie der Gegebenheitsweisen« richtet.
Letztere stellt eine »Wandlung des thematischen Bewusstseins von
der Welt« dar. Im ersten Fall sind uns die Welt und die Objekte
»überhaupt vorgegeben«, »geradehin« bewusst; im zweiten werden
sie uns dagegen in subjektiven Erscheinungs- und Gegebenheits-
weisen bewusst.
Entscheidend ist dabei, dass der Blick in dieser Umwandlung
der Ausrichtung auf Synthesen gerichtet wird, die in ihrer Gesamt-
heit eine »synthetische Totalität« ausmachen. In dieser wird uns
das »universale leistende Leben« »zu eigen«, in dem die »ständig
vorgegebene Welt« zustande kommt. Und in ihr wird ursprüng-
lich entdeckbar, »dass und wie Welt als Korrelat einer erforschba-
ren Universalität synthetisch verbundener Leistungen ihren Seins
sinn und ihre Seinsgeltung in der Totalität ihrer ontischen Struk-
turen gewinnt«.19 Die Geltung wird in den ontischen Strukturen
gewonnen – das weist natürlich zurück auf das soeben in den Blick
Genommene: nämlich auf das Hineintauchen in jene ursprünglich
konstituierende Stufe, wo »Geltung« und »Sein« (noch) nicht aus-
einandergetreten sind.
In einem nächsten Schritt muss dann zur Befragung des Sinns die-
ser »›Vorgegebenheit‹ der Welt« übergegangen werden. Diese hat in
der natürlichen Einstellung keinerlei Bewandtnis, sie wird nie eigens
zum Thema. Die »ständige Wirklichkeit« der Welt ist so selbstver-
ständlich, dass keinerlei Notwendigkeit eines Aufmerkens darauf
besteht. Anders in der transzendentalen Einstellung, die durch die
besagte »Interessenwendung« gekennzeichnet ist. In der genuin phä-
nomenologischen Einstellung bricht das Problem der »Vorgegeben-
heit der Welt« allererst auf. Das erinnert an Descartes’ gnoseologis-
tischen Gestus: Erst durch den (ebenfalls einen erkenntnismäßigen
Richtungswechsel ausmachenden) Rückbezug auf das selbstgewisse
Ego stellte sich bei ihm überhaupt erst das Problem der »Realität
der Außenwelt« in deren »Prekarität«. Nur mit dem Unterschied,
dass bei Husserl hier kein Problem vorliegt, für das mit Artefakten
19 Husserliana VI, S. 148.
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Phänomenologie im Ausgang von der Lebenswelt 119
wie der »veracitas Dei« mühsam eine Lösung herbeigeführt wer-
den soll, sondern es in dieser Interessenwendung selbst liegt, den
Sinn jener Vorgegebenheit zu erfassen. Bei Descartes wird die Welt
problematisch trotz bzw. aufgrund der Aufweisung eines Archime-
dischen Punkts jeglicher Erkenntnisbegründung im selbstgewissen
Ego cogito; bei Husserl dagegen muss umgekehrt die Frage nach der
Vorgegebenheit der Welt aufbrechen, damit die Erkenntnisfrage be-
antwortet werden kann. Und diese Antwort fällt so aus, dass nicht
– wie bei Descartes – das Sein auf das Cogitans gegründet (auf diesen
Sachverhalt hatte bereits Fichte am Ende des § 1 der Grundlage der
gesammten Wissenschaftslehre von 1794/95 aufmerksam gemacht),
sondern das Bewusstsein des Seins der Welt in der synthetischen
Verbindung der Geltungsmodi zustande gebracht wird. Das Sein
liegt nicht der Geltung gegenüber, sondern reduziert sich auf die-
selbe, geht in ihr auf, bzw. unmittelbar daraus hervor.
Peu à peu konkretisiert sich daher die Idee einer »Wissenschaft
der Lebenswelt«. Sie (als völlig »neue Wissenschaft« »von den letz-
ten Gründen«, aus seiend auf »letzte Sinngebung«) wird von dem
»universalen Wie der Vorgegebenheit der Welt« handeln müssen.
Dies macht laut Husserl »ein in sich geschlossenes Universum einer
eigenen theoretisch und konsequent innegehaltenen Forschung« aus,
welche die »Alleinheit der letztlich fungierend-leistenden Subjekti-
vität« (die ihrerseits eben dem Sein der Welt Rechnung tragen soll)
zum Thema hat.
Nachdem die – für die Widerlegung des die neuzeitliche Wis-
senschaft und Philosophie kennzeichnenden Grundmotivs des Ob-
jektivismus – maßgeblichen Charakteristiken der transzendentalen
Sinnbildung – nämlich der Korrelationismus, das lebensweltliche
Apriori und die Seinsgeltung – näher bestimmt wurden, sollen nun
fünf in der Krisis-Schrift entwickelte, grundlegende Infrage-Stellun-
gen bzw. Schwierigkeiten der Phänomenologie vorgestellt werden,
die neue Perspektiven eröffnen. Kritisiert werden sollen dabei je-
weils: der grundlegende Horizont der Erkenntnislegitimation, die
Anschaulichkeit als Prinzip aller Prinzipien, die primordiale Rolle
der gegenwärtigenden Wahrnehmung, die Deskription als phäno-
menologische Grundmethode und die Vormachtstellung des kon-
stituierenden Ego.
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120 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
1.) Das transzendentale Verständlichmachen
Im § 49 der Krisis nimmt Husserl sich vor, den Begriff der »ur-
sprünglichen Sinnbildung« zu erläutern. Dabei werden systema-
tisch sehr bedeutsame Erkenntnisse gewonnen. Zunächst ist nämlich
höchst bemerkenswert, dass Husserl der Phänomenologie praktisch
eine völlig neue Grundaufgabe zuschreibt. Während es ihm in den
Texten aus den zwanziger Jahren noch explizit um »radikale Er-
kenntnislegitimation« ging (die Phänomenologie, als »strenge Wis-
senschaft« verstanden, macht sich ja eben die radikale Erkenntnis-
begründung zur vordergründigen Aufgabe), wird diesbezüglich nun
ein neuer Begriff eingeführt, nämlich der Begriff der »Verständlich
machung«. Phänomenologie begründet nicht Erkenntnis, im Sinne
einer Letztfundierung, sondern Phänomenologie produziert Ver
ständlichkeit – und das war ja schon im Begriff der »Intelligibili-
sierung« in der vierten phänomenologischen These der Einleitung
angeklungen und im zweiten Kapitel fortgesetzt worden. Hierfür
ist eben der Begriff der »Sinnbildung« zentral, der nun im Herzen
der Intentionalität angesiedelt wird: Wenn die – die Grundeigen-
schaft des Bewusstseins ausdrückende – Intentionalität (sich näm-
lich auf einen Gegenstand zu beziehen) die ganze Phänomenologie
umspannt, wie es ja in den Ideen I hieß,20 so vertritt Husserl in der
Krisis-Schrift nun in der Tat die nähere Auffassung, dass sie »der
Titel für das allein wirkliche und echte Erklären« sei, nämlich für
das »Verständlichmachen«.21 Und dieses heißt, »transzendental ver-
ständlich [zu] machen« (darauf wird noch einmal zurückzukommen
sein), was wiederum bedeutet, auf »die intentionalen Ursprünge und
Einheiten der Sinnbildung zurück[zu]führen«.22 Der phänomenolo-
gische »Ursprungsbegriff« verweist laut Husserl in der Krisis darauf,
um das noch einmal zu betonen und ganz genau festzuhalten, dass
die Sinnbildung im Zentrum der Auffassung eines transzendentalen
Verständlichmachens steht.23
20 Husserliana III/1, S. 337.
21 Husserliana VI, S. 171.
22 Ebd.
23 Dabei bleibt es freilich dabei, wie Husserl bereits in einer Vorlesung von
1919 festgestellt hat, dass eine Verständlichmachung je auch eine »Sichtlich-
machung« ist, Natur und Geist, Husserliana Materialienbände, Band IV,
Dordrecht, Kluwer, 2002, S. 68. Und damit wird umgekehrt auch zum Aus-
druck gebracht, dass das »transzendentale Verständlichmachen« keine späte
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Phänomenologie im Ausgang von der Lebenswelt 121
Dabei wird eine Dimension der »Vergemeinschaftung« und der
»Intersubjektivität« betont, die eine mögliche Erklärung impliziert,
welche von Husserl zwar nicht ausdrücklich geliefert wird, aber dem
Ganzen eine gewisse Kohärenz zu verleihen vermag. Es scheint auf
den ersten Blick problematisch zu sein, wenn Husserl behauptet,
dass es sich in alledem um eine »vielstufige intentionale Gesamtleis-
tung der jeweiligen Subjektivität« – allerdings »nicht der vereinzel
ten«, sondern um »das Ganze der im Leisten vergemeinschafteten
Intersubjektivität« – handelt:24 Denn wie ist dabei die »jeweilige«
Subjektivität als eine »nicht vereinzelte« zu verstehen? Damit kann
offenbar nur gemeint sein, dass »Subjektivität« ipso facto Intersub-
jektivität bedeutet. Aber weshalb dann überhaupt noch die Rede von
»Subjektivität«? Dies lässt sich vielleicht folgendermaßen erläutern.
In die Verstehensproblematik, die die Sinnbildung wesenhaft
kennzeichnet, spielt die Idee hinein, dass »wir« [!] dabei »in einen
dunklen Horizont zurückgeleitet werden«.25 Das verlangt nach einer
zweifachen Erklärung – nämlich bezgl. des »Uns« (oder »Wir«) und
der »Dunkelheit« des Horizontes.
Es findet in der Aufklärung der Sinnbildung eine Zurückleitung
statt. Husserl betont, wie gesagt, ausdrücklich, dass »wir« es sind,
die hier zurückgeleitet werden. Wer ist nun aber dieses »Wir«? Ist
das einfach der phänomenologische »Betrachter«, der, die Epoché
vollziehend, immer weiter in die Tiefen der Konstitutionsproble-
matik eintaucht bzw. dort hineingezogen wird? Es scheint eindeu-
tig, dass, wenn Husserl genau einen solchen Standpunkt verträte
(was auch nicht völlig unmöglich ist), dies in eine Unverständlichkeit
mündete. Denn das, was sich hier vollzieht, ist nicht einfach eine
vertiefte Beschreibung seitens eines »unbeteiligt« Betrachtenden und
eben Beschreibenden. Was hier vielmehr abläuft, ist, wie Husserl
es selbst sagt, als ein »Zusammenfungieren« der »Sinnbildung mit
Sinnbildung«26 zu verstehen. Und dieses vollzieht sich (das ist der
zweite Punkt) in einem »dunklen Horizont«, also gerade nicht in
der Helle der Betrachtung, sondern gleichsam in der selbstreflexiven
Dimension der Sinnbildung und als dieselbe! Wir haben es hier in
Einsicht Husserls ist, sondern in gewisser Weise sein ganzes Werk durch-
herrscht. Ich danke Marco Cavallaro für den Hinweis auf diese Textstelle.
24 Husserliana VI, S. 170.
25 Ebd.
26 Ebd., S. 171.
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122 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
der Tat mit einer Zurück-leitung zu tun, aber gerade nicht mit ei-
ner Reduktion auf eine transzendentale Subjektivität im Sinne eines
vereinzelten Subjektes, sondern – und so lässt sich hier jene »Inter-
subjektivität« verstehen – auf eine der Beschreibung nicht zugäng-
liche Horizonthaftigkeit (im Sinne einer Dimension) der Sinnbil
dung, die sich diesseits des phänomenologisch betrachtenden Sub-
jekts vollzieht. Man müsste hier terminologisch trennen, um der
gesonderten Sachlage präzise Rechnung zu tragen. Phänomenolo-
gische Reduktion heißt: Re-kon-duktion (also Zurück-führung) auf
transzendentale Subjektivität. Dabei haben wir es vertieft mit einer
Zurückleitung auf der Sinnbildung selbst innewohnende Prozesse
(»Fungierungen«) zu tun, die als »intersubjektiv« angesehen werden
können (und von Husserl auch als solche bezeichnet werden), wobei
das »inter« aber eine »Zwischenhaftigkeit« ausmacht, die sich als ein
»Unter« bzw. »In« im Sinne eines »Diesseits« darstellt. »Intersubjek-
tivität« bezeichnet nicht eine irgendwie transsubjektive Dimension,
die ein Subjekt mit einem anderen »vergemeinschaftete«, sondern
eine sozusagen »untersubjektive« Dimension (»inter« bedeutet im
Lateinischen nicht nur »zwischen«, sondern auch »unter«), die »uns«
in die genuine Dimension (in den »dunklen Horizont«) der Sinn-
bildung hineinführt – wobei »wir« uns hierin gleichsam »auflösen«,
weil die Sinnbildungsfungierungen »anonym« verlaufen. Und für
diese spezifische Hineinführung, die den Subjektivitätsbegriff wenn
nicht unterminiert, so zumindest radikal ändert, wäre dann eben
auch eine terminologische Spezifizierung angebracht, um das Zu-
rückführen zur transzendentalen Subjektivität dank der und durch
die Reduktion von der Hineinführung in die präsubjektive (dabei
aber eben auch im angeführten Sinne intersubjektive) Sinnbildung
deutlich zu trennen. Man könnte hierfür den Begriff einer »trans-
zendentalen Induktion« vorschlagen, der mehrere Vorteile böte –
aber das führte über den Husserl’schen Rahmen hinaus, wenngleich
all das hierin auch ganz deutlich angelegt ist. Die transzendentale In-
duktion vervollständigt die phänomenologische Methode in diesem
höchstwichtigen Punkt; ein solcher Begriff ist aber, um hier jedes
Missverständnis auszuschließen, bei Husserl selbst nicht zu finden.
Soviel also jedenfalls zur neuen Grundaufgabe der Phänomenologie
als »Sinnbildung«, die sich als ein transzendentales Verständlichma-
chen darstellt und auch den Subjektivitätsbegriff, wie angezeigt, in
Richtung einer zugrundeliegenden Anonymität und Präsubjektivi-
tät neu präzisiert.
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Phänomenologie im Ausgang von der Lebenswelt 123
Dieser Gegensatz von anfänglicher Aufklärung und tieferer
Analyse tritt dann auch wieder auf, wenn Husserl auf den Welt-
begriff und dessen Aufklärung zurückkommt. Er merkt dazu an,
dass sich die Wahrnehmungswelt bloß als »Schicht« erweist, die
insbesondere nur durch den Zeitmodus »Gegenwart« gekennzeich-
net ist. Eine »tiefere Analyse« lässt dann hervorscheinen, dass das
Jetzt über einen retentionalen und protentionalen Horizont ver-
fügt. Und in Entsprechung zum gerade erwähnten »dunklen Ho-
rizont« schreibt Husserl: »Diese ersten Vorgestalten von Zeitigung
und Zeit [er könnte hier auch wie auf der folgenden Seite von »Ge-
bilden der Sinnbildung« sprechen, A. S.] halten sich aber ganz im
Verborgenen.«27 Bemerkenswert ist, dass Husserl auch hier andeutet,
aber nicht vollends explizit klarstellt, dass es einen architektonischen
Unterschied zwischen dem »rein Subjektive<n> in seinem eigenen
in sich geschlossenen und reinen Zusammenhang als Intentionali-
tät« einerseits und der anonymen genuinen »Fungierung«, bzw. der
»Seinssinn-bildene<n> Funktion« andererseits gibt28. Telos all des-
sen ist die »Einheit eines Sinnes«, auf die »das unendliche Ganze in
seiner Unendlichkeit strömender Bewegung« gerichtet ist, wodurch
sich – und hierin äußert sich die teleologische Ausrichtung Hus-
serls – »die Probleme der Totalität als die einer universalen Vernunft«
eröffnen. Das alles ist aber nur verständlich im Horizont dieser »uni-
versalen Form der Sinnbildung«.29
2.) Hinterfragung der anschaulichen Evidenz als
»Prinzip aller Prinzipien«
Eine zweite Kritik betrifft das »Prinzip aller Prinzipien« aus dem
§ 24 der Ideen I, wonach »jede originär gebende Anschauung eine
Rechtsquelle der Erkenntnis sei« und »alles, was sich uns in der ›In-
tuition‹ originär […] darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es
sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt«.30
Husserl stellt hier nämlich eindeutig den Unterschied zwischen der
Sphäre der Anschaulichkeit (für welche allein jenes »Prinzip aller
Prinzipien« gültig sein kann) und der Sphäre der »unanschaulichen
Bewusstseinsweisen und ihre<r> Zurückbezogenheit auf Vermög
27 Husserliana VI, S. 171.
28 Ebd., S. 172.
29 Ebd., S. 173.
30 Husserliana III/1, S. 51.
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124 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
lichkeiten der Anschauung«31 heraus, die selbstverständlich eine an
dere Aufweisungsart als die deskriptiv-anschauliche zur Vorausset-
zung haben muss – nämlich keine deskriptive, sondern eine »kon-
struktive«, was Husserl aber nicht explizit herausstellt. Jedenfalls
ist es höchst bemerkenswert, dass er in diesem Zusammenhang das
»Prinzip aller Prinzipien« auf Gegebenheitsweisen ausdehnt, die
ganz offenbar nicht mehr die evidente Anschauung zur unbeding-
ten Voraussetzung haben.
Darüber hinaus liefert Husserl auch noch wertvolle Hinweise zur
Deutung der Dreiheit Ego – cogitatio – cogitatum. Diese müssen als
drei Intentionalitätsweisen verstanden werden, nämlich als Richtung
auf Etwas, Erscheinung von Etwas und Etwas als das, was Einheit
im gegenständlich Erscheinenden ist und woraufhin durch die Er-
scheinungen hindurch die Intention des Ichpols geht. Der Cartesia-
nische Ansatz geht vom Ego aus und zum cogitatum über. Der An-
satz über die Lebenswelt hingegen verläuft in umgekehrter Richtung
und weist drei unterschiedliche Bezugsformen auf. Ausgegangen
wird (in einer reflexionslosen »Verschossenheit«) von der »schlicht
gegebenen Lebenswelt«, »bruchlos in purer Seinsgewissheit (also
zweifellos)«. Diese Lebenswelt wird dann in einer ersten Reflexions-
stufe »Index, Leitfaden für die Rückfrage nach den Mannigfaltigkei-
ten der Erscheinungsweisen und ihren intentionalen Strukturen«.32
In einer zweiten Reflexionsstufe führt die Blickrichtung dann auf
den Ichpol und das, was dessen Identität ausmacht. Dies impli-
ziert insofern eine andere Akzentuierung der Phänomenologie in
diesem Neuansatz der Krisis-Schrift gegenüber früheren Ansätzen
(etwa in den Cartesianischen Meditationen), als hierdurch der ent-
scheidende Aspekt des »Rückfragens« erneut betont wird. Aus einer
daran anschließenden Anmerkung zur Intersubjektivität geht aller-
dings hervor, dass damit (im Gegensatz zum obigen Ansatz) eine
vergemeinschaftete »Sozialität« gemeint ist – auch wenn die spezifi-
sche Räumlichkeit (die durch die Redeweise vom »›Raum‹ aller Ich
subjekte« zum Ausdruck kommt) wiederum ein Hinweis dafür ist,
dass hiermit auch jene Dimension der Intersubjektivität (im Sinne
der »Untersubjektivität«) mitklingt, von der oben die Rede war und
der eben nicht-anschauliche Gegebenheitsweisen innewohnen.
31 Husserliana VI, S. 173.
32 Husserliana VI, S. 175.
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Phänomenologie im Ausgang von der Lebenswelt 125
3.) Die grundlegende Rolle nicht-gegenwärtigender
Bewusstseinsmodi
Diese Kritik an der anschaulichen Evidenz strahlt dann auch auf die
(vermeintlich vorherrschende) Rolle der gegenwärtigenden Wahr-
nehmung in der Sinnbildung aus. Husserl spricht es rundheraus aus:
Jede erfahrbare Gegebenheit baut sich nicht ausschließlich (wie in
verschiedenen früheren Texten behauptet) auf setzende Wahrneh-
mung auf, sondern wird genauso durch »Implikation[en] von nicht
aktuellen Erscheinungsmannigfaltigkeiten«33 bewegt. Hiermit sind
nicht nur horizonthafte Wahrnehmungspotentialitäten gemeint (so
wie sie im vorigen Kapitel eingehend behandelt wurden), sondern
insbesondere eine Form von »Darstellungen«, die noch eine tiefere
Bedeutung haben.
Husserl betont, dass das Bewusstsein eines daseienden Etwas
in der Tat Erlebnisse von »Darstellungen von« mit sich führt. Das
»Von« bezeichnet dabei das universale Korrelations-Apriori. Die
Korrelation betrifft die Untrennbarkeit von »Sein« und »Darstel-
lung«, ohne die »wir überhaupt keine Dinge, keine Welt der Erfah-
rung gegeben hätten«.34 Dabei macht Husserl nun auf einen wichti-
gen Punkt aufmerksam. Einerseits ist der Ausgangspunkt der phä-
nomenologischen Beschreibung das (ruhende, »qualitativ unverän-
dert gegebene«) Ding, der Körper, die entsprechende Wahrnehmung,
und zwar in der Gegenwart. Zugleich aber treten alle »verschiede-
nen Modi der Vergegenwärtigung in die universale Thematik ein,
die uns hier beschäftigt: nämlich konsequent und ausschließlich die
Welt nach dem Wie ihrer Gegebenheitsweisen, ihrer offenen oder
implizierten ›Intentionalitäten‹ zu befragen, von denen wir uns im
Aufweisen doch immer wieder sagen müssen, dass [und das ist hier
entscheidend, A. S.] ohne sie Objekte und Welt nicht für uns da
wären; dass jene vielmehr für uns nur mit dem Sinn und dem Seins-
modus sind, in welchem sie ständig aus diesen subjektiven Leis
tungen entspringen bzw. entsprungen sind.«35 Das objektive Da-
sein – das muss ausdrücklich hervorgehoben werden – beruht also
auf den verschiedenen Modi der Vergegenwärtigung! Auch wenn
Husserl den Modus der »Wiedererinnerung« in den Vordergrund
stellt, ist offensichtlich, dass hier auch die Modi der »Einbildung«
33 Husserliana VI, S. 162.
34 Ebd.
35 Ebd., S. 163.
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126 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
bzw. »Phantasie« miteinzubeziehen sind – wodurch also bereits bei
Husserl zumindest eine Infragestellung des Vorrangs der objektivie
renden, doxischen Thematisierung angelegt ist. Es ist absolut essen-
ziell, diesen Zusammenhang der Grundlage des universalen Korre-
lationsapriori mit dem »Wie der Gegebenheitsweisen«, der Rolle
der Vergegenwärtigungsmodi überhaupt, im Auge zu haben und
zu behalten.36
4.) Das Ungenügen der phänomenologischen Deskription
Wie kann nun die »methodische Sicherung« der Korrelationsproble-
matik geleistet werden? Dieses Problem hängt mit der in der Krisis-
Schrift in den Vordergrund gerückten »Besinnung hinsichtlich des
Bodens letzter Voraussetzungen«37 zusammen. Husserl weist dar-
auf hin, dass in Wirklichkeit zwischen zwei »Böden« unterschieden
werden muss, nämlich zwischen dem Boden der objektiven und dem
der transzendentalen Erkenntnis. Dabei ergibt sich dann folgende
methodologische Schwierigkeit.
Diese betrifft das, was Husserl als Problem einer »doppelten
Wahrheit« bezeichnet – nämlich die der objektiven Wissenschaft und
die (zugrundeliegende) der transzendentalphilosophischen Perspek-
tive. Trotz der »Befremdlichkeit« redet Husserl dieser Idee einer dif-
ferenzierten Wahrheit eindeutig das Wort. Siehe hierzu den berühm-
ten Satz: »Die Philosophie als universale objektive Wissenschaft […]
ist gar nicht universale Wissenschaft.«38 Zu glauben, dem universa-
len Charakter des Wissens liege die Objektivität zugrunde, ist der
Grundirrtum. Jene Universalität kann ihm nur dann zukommen,
36 In diesem Zusammenhang steht auch ein berühmtes Selbstzeugnis Hus-
serls, das die Entdeckung und Bedeutung des Korrelationsapriori folgender-
maßen beschreibt: »Der erste Durchbruch dieses universalen Korrelations
apriori von Erfahrungsgegenstand und Gegebenheitsweisen (während der
Ausarbeitung meiner ›Logischen Untersuchungen‹ ungefähr im Jahre 1898)
erschütterte mich so tief, dass seitdem meine gesamte Lebensarbeit von die-
ser Aufgabe einer systematischen Ausarbeitung dieses Korrelationsapriori
beherrscht war. Der weitere Gang der Besinnungen des Textes wird es ver-
ständlich machen, wie die Einbeziehung der menschlichen Subjektivität in
die Korrelationsproblematik notwendig eine radikale Sinnverwandlung die-
ser ganzen Problematik erzwingen und schließlich zur phänomenologischen
Reduktion auf die absolute transzendentale Subjektivität führen musste.«
(Husserliana VI, S. 169 f.)
37 Ebd., S. 178.
38 Ebd., S. 179.
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Phänomenologie im Ausgang von der Lebenswelt 127
wenn es die »Blindheit« gegen das »transzendental konstituierende
volle konkrete Sein und Leben«39 aufgibt. Dementsprechend wird
dann aber nicht nur die Anschauung als Grundprinzip in Frage ge-
stellt, sondern es wird auch ganz deutlich, dass gleiches – wenn man
sich nun der ursprünglichen, archaischen Sphäre der Sinnbildung
zuwendet – für die deskriptive Methode gelten muss. Man kann
diesbezüglich die Wichtigkeit folgenden Satzes aus Husserls viel-
leicht bedeutendstem programmatischen Werk nicht genug betonen:
Es kann »eine ›deskriptive‹ Wissenschaft vom transzendentalen Sein
und Leben […] nicht geben«.40 Husserl spricht der Phänomenolo-
gie das Vermögen ab, auf der konstitutiv tiefsten Ebene deskrip-
tiv verfahren zu können – weshalb eben gewissermaßen ein anderer
Wahrheitsbegriff in Anspruch genommen werden muss als jener der
objektiven Naturwissenschaft. Daher spricht er in diesem Zusam-
menhang von einer genuinen Form des »Erforschens«41 – allerdings
geht er nicht weiter, als dieses mit der »eidetischen Methode« in Ver-
bindung zu setzen. Da das aber schon von der statisch-deskriptiven
Phänomenologie galt, ist das alles Andere als zufriedenstellend. Wie
eine fundierte, wirklich überzeugende Alternative zur phänomeno-
logischen Deskription aussehen muss, wird an dieser Stelle nicht
gesagt. In diesem Punkt kann und muss über Husserl hinausgegan-
gen werden. Wie das geschehen könnte, wird in den Kapiteln V und
VI dargelegt.
5.) Paradoxie der Bewusstseinsvernichtung
Husserl kommt schließlich noch zu einer weiteren Schwierigkeit,
die er selbst als die vielleicht ernsteste ansieht. Sie betrifft den Status
der weltkonstituierenden Subjektivität und lässt sich folgenderma-
ßen umreißen.
Die ursprünglich weltkonstituierende Subjektivität ist selbst ein
Teil der Welt. Wenn diese Weltkonstitution nun aber eine radikale
ist, verschlingt dann nicht der Subjektbestand die Welt und dadurch
das Subjekt sich selbst? Wir haben also folgendes Dilemma: Ent-
weder hält man an der Weltteilhabe des Subjekts fest, dann ist die
Konstitution keine radikale. Oder diese Konstitution wird tatsäch-
lich in ihrer ganzen Radikalität gefasst, dann kommt es zu einer
39 Ebd.
40 Ebd., S. 181.
41 Ebd., S. 182.
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128 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
Vernichtung der – auf vermeintlich unvermeidliche und nicht redu-
zierbare Weise – weltzugehörigen Subjektivität. Es gäbe hier eine
interessante Lösung – die einer Selbstvernichtung des Ich, die dann
zu einer anonymen Sinnbildung hinführte. (Man muss betonen, wie
leicht hier wiederum an einen von Husserl herausgestellten Punkt
anzuschließen wäre, ohne dass Husserl das selbst freilich vollzie-
hen würde.) Das hat Husserl hier aber nicht im Sinn. Sein Ansatz
geht vielmehr dahin, dass er die positiv auszubildende Spannung
zwischen »der Macht der Selbstverständlichkeit der natürlichen
objektiven Einstellung« und der »Einstellung des ›uninteressierten
Betrachters‹« betont. Wie lässt sich diese Spannung zwischen der
doxischen Einstellung und der die Doxa auflösenden transzenden-
talen Einstellung konstruktiv nutzen? Wie ist es möglich, dass das
Subjekt zugleich Subjekt in der Welt und Subjekt für die Welt ist?
Wie kann Licht in das Dunkel dieser »Nicht-Selbstverständlichkeit
der Selbstverständlichkeit«42 kommen? Die Naivität der Logik, je-
des Apriori und jeder philosophischen Beweisführung43 hilft uns
laut Husserl jedenfalls nicht weiter.
Er sieht den zu begehenden Lösungsweg darin, dass die anfäng-
lich bodenlose transzendentale Phänomenologie sich ihren Boden –
wie in der Einleitung bereits angekündigt – aus eigener Kraft selbst
schaffen müsse.44 Damit ist offenbar gemeint, dass die Phänomeno-
logie sich doch auf eine welthaft »nichtige« Subjektivität stützt. Und
der hierzu entwickelte Vorschlag der »Auflösung der Paradoxie«
scheint das auch zu bestätigen.
Wie wird also das Problem jener »Selbstverschlingung des Sub-
jekts« gelöst? Zwei Stufen müssen unterschieden werden (denen
zwei Arten der Epoché bzw. der Reduktion entsprechen – eine
erste Reduktion auf die »subjektiven Gegebenheitsweisen« und eine
zweite »Reduktion auf das transzendentale Ego«45): zwei »Reflexi-
onsstufen«, auf denen jeweils eine besondere Art der Korrelation
wirksam ist. Auf der ersten Reflexionsstufe ist das die Korrelation
von »Gegenstandspol« und »Gegebenheitsweisen«. Auf der zweiten
jene von fungierendem Ich und dem in dessen jeweiligen Sinn- und
Geltungsleistungen Konstituierten. Das fungierende Ich ist dabei
42 Husserliana VI, S. 184.
43 Ebd., S. 185.
44 Ebd.
45 Ebd., S. 190.
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Phänomenologie im Ausgang von der Lebenswelt 129
aber kein natürlich-weltliches, sondern ein vorweltlich-intersubjek-
tives (und damit auch nur »äquivok«46 ein Ich). Da ausdrücklich von
der »Vergemeinschaftung« die Rede ist, kann es sich nicht um die
Idee einer »Intersubjektivität« als diesseitiger »Untersubjektivität«
handeln, von der oben die Rede war.
Die Auflösung wird dann so bewerkstelligt, dass Husserl auf der
tieferen der beiden Stufen (d. h. auf der konstitutiv tiefsten) von ei-
nem dezidiert weltlosen, also je in seiner genetisierenden Funktion
sich gebenden Ich ausgeht, das durch eine »einzigartige philoso-
phische Einsamkeit«47 ausgezeichnet ist, die von ihm als »metho-
dische Grunderfordernis« »für eine wirklich radikale Philosophie«
angesehen wird und das Ich eben in seiner nicht verlierbaren »Ein-
zigkeit und persönliche<n> Undeklinierbarkeit«48 bestimmt. Dies
macht die sogenannte »›innere‹ Methode«49 der Phänomenologie
aus. Von hier aus zeichnet Husserl den Weg nach, der bereits in
der fünften der Cartesianischen Meditationen ausführlich darge-
stellt wurde:50 1.) Konstitution der primordialen Sphäre, aus der al-
les auf andere Ichlichkeit Bezogene ausgeschlossen wird (dank ei-
ner entsprechenden auf die Eigenheitssphäre ausgerichteten Epo-
ché51); 2.) Fremdwahrnehmung durch Ent-fremdung (in Analogie
zur »Selbstzeitigung durch Ent-Gegenwärtigung«); 3.) Selbstobjek-
tivation des transzendentalen Ich im Menschen. Die Spannung von
doxischer und nicht-doxischer (transzendentaler) Einstellung, von
weltzugehörigem und nicht-weltzugehörigem transzendental-kons-
tituierenden Ich, wird also augenscheinlich auf jene von absolut ein-
zigem (Ur-)Ich und Intersubjektivität, die dann ihrerseits für Welt-
lichkeit und Objektivität konstitutiv ist, verlagert. Husserl scheint
sich hier im wörtlichen Sinne auf einem sichereren Boden zu fühlen,
als das in der Auseinandersetzung zwischen anonymer Sinnbildung
und verweltlichter Subjektivität der Fall wäre.
Halten wir also fest: Das Grundproblem dieser gesamten Ana-
lyse – nämlich zu erweisen, wie es möglich ist, sich des lebenswelt-
lichen Bodens ursprünglich zu versichern, um dadurch die empiris-
46 Husserliana VI, S. 188.
47 Ebd., S. 187 f.
48 Ebd., S. 188.
49 Ebd., S. 193.
50 Ebd., S. 189, Z. 2 – S. 190, Z. 7. Die entsprechenden Paragraphen in der
fünften der Cartesianischen Meditationen sind: §§ 44–47; §§ 49–54; §§ 45, 57.
51 Siehe den § 44 der fünften der Cartesianischen Meditationen.
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130 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
tische »Erschütterung« des Objektivismus radikal zu fassen – wird
in Eins mit der Frage, wie das Ich zugleich weltzugehörig und welt-
konstitutiv sein kann, gelöst. Die Lösung besteht in dem Aufweis
der konstitutiven Funktion des zweifachen Bezugs von primordial
reduziertem Ich zu Fremd-Ich und transzendentalem Ich zu welt-
lich objektiviertem Ich. Transzendental aufgewiesene Fremderfah-
rung und Selbstobjektivation des transzendentalen Ich machen für
Husserl also jene zwei Schritte der zu leistenden »Auflösung der
Paradoxie« aus.
Es soll hier jetzt ein kurzer Kommentar eingeschoben werden, der
zwar über Husserls Text hinausgeht, zugleich aber zur Erläuterung
der an ihn anschließenden Diskussion dienen kann. Die Grundfrage
war: Wie muss das transzendentale Ich verstanden werden, damit die
Paradoxie, dass es irgendwie an der Welt teilhat und als konstituie-
rendes auch diesseits der Einschreibung in die Welt aufzufassen ist,
gelöst werden kann? Bei Heidegger verwandelt sich die Problematik
um in die Frage: Was ist das »Wohin« der ursprünglichen Extatizität
des Daseins? Seine Antwort wird lauten: die Welt. Während Heideg
ger von einem Daseinsbegriff ausgeht, ist Husserls Verfahrensweise
vielmehr die, dass auf den Sinn des transzendentalen Ich zurückge
fragt wird. Phänomenologie zu betreiben heißt für Husserl, etwas
transzendental verständlich zu machen im Sinne von: auf Sinn und
Geltung hin zurückzufragen. Wir sehen hier also einen Gegensatz
zwischen Husserl und Heidegger: nämlich bezüglich des Denkan
satzes überhaupt. Es gibt aber noch einen zweiten Gegensatz, denn
Levinas’ Antwort auf Heidegger lautet: Das »Wohin« des ursprüng-
lichen Hinausgehens des Daseins aus sich selbst ist nicht die Welt,
sondern der Andere (die Alterität). Wenn bei Husserl nun die Frage
des Bezugs von transzendentalem Ich und Welt auf die Intersubjek
tivität hinausläuft, wirft diese Lösung noch ein anderes Licht auf Le-
vinas’ Position (und nähert sich dieser an). Anders als bei Heidegger,
der den Bezug zur Welt jenem zum Anderen vorschaltet, hat näm-
lich auch bei Husserl die Intersubjektivität eine ursprünglich kon-
stituierende Funktion (was eben Levinas’ Standpunkt auch auf der
theoretischen Seite in einem neuen Licht zu erscheinen gestattet).52
52 Das Verhältnis Husserls zu Heidegger entbehrt, wenn man die verschie-
denen Aspekte alle in Betracht zieht, nicht einer gewissen Zweideutigkeit:
Auf der einen Seite nähert sich der späte Husserl Heidegger insofern an, als
er, wie gezeigt, die Erkenntnislegitimation hinter die Verständlichmachung
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Phänomenologie im Ausgang von der Lebenswelt 131
Dieser fundamentale Unterschied zwischen Husserl und Heid
egger hinsichtlich der methodischen Verfahrensweise steht auch im
letzten Punkt dieses Kapitels thematisch im Zentrum – allerdings
wird er deutlich ausgeweitet und verallgemeinert.
Es wurde gerade gesagt, dass Phänomenologie zu betreiben heißt:
transzendental verständlich zu machen, inwiefern auf Sinn und Gel-
tung hin zurückgefragt wird. Das wird auch in Husserls vielleicht
berühmtestem Zitat aus der Krisis-Schrift deutlich: »Es gilt nicht,
Objektivität zu sichern, sondern sie zu verstehen«.53 Damit bringt
Husserl zum Ausdruck, dass es nicht die Aufgabe der Phänomeno-
logie ist, zu erklären, wie die Welt inhaltlich bestimmt ist. Die Phä-
nomenologie tritt somit nicht mit den Naturwissenschaften in Kon-
kurrenz, wenn es etwa darum geht zu verstehen, woraus die materi-
ellen Elemente der Welt bestehen oder sonst irgendwie Bestimmthei-
ten für die Erkenntnis gewonnen werden können. »Deduzieren ist
nicht erklären«54 – das bedeutet: In ihrer eigenen Herangehensweise
können (und wollen) die Naturwissenschaften gar nicht Sinnaufklä-
rung betreiben, da sie auf die inhaltliche Bestimmung des Seienden
und seiner Grundstrukturen aus sind. Umgekehrt, müsste man hin-
zufügen, ist erklären aber auch kein Deduzieren. Das heißt: Gerade
weil die Wissenschaften auf Erkenntnisbestimmung und -erweite-
rung aus sind, können sie nicht das leisten, was sich die Phänome-
nologie vornimmt: nämlich Sinn und Geltung des zu Erkennenden
zu liefern. Und zwar in und durch das Ego: »Das ego ist im Einsatz
der Epoché apodiktisch gegeben, aber als ›stumme Konkretion‹ ge-
geben. Sie muss zur Auslegung, zur Aussprache gebracht werden,
und zwar in systematischer, vom Weltphänomen aus zurückfragen-
der intentionaler ›Analyse‹«.55 Dies hat dann auch erkenntnistheo
retische Konsequenzen. Phänomenologische Erkenntnislehre hat
nichts mit »Epistemologie« zu tun: Die transzendentale Erkennt-
nislehre geht nicht auf objektive Erkenntnis, sondern auf Erkenntnis
der Erkenntnis, das heißt auf ein Verständlichmachen von Erkennt-
des Erkennens zurückstellt; auf der anderen Seite besteht aber auch ein ein-
deutiger Gegensatz zwischen Heideggers vorgängigem Ansetzen einer onto
logischen Daseinsstruktur und Husserls Zurückfragen auf Sinn und Seins-
geltung der genetisierenden transzendentalen Subjektivität.
53 Husserliana VI, S. 193.
54 Ebd.
55 Husserliana VI, S. 191.
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132 Phänomenologie als transzendentaler Idealismus
nis überhaupt. Husserl bewahrt in dieser Hinsicht ganz eindeutig
das Kantische Erbe.
Aber gerade dieses Zurückgreifen auf das Ego ist auch das Frag-
liche und Problematische am Ende des Wegs in die phänomenolo-
gische Transzendentalphilosophie von der Lebenswelt aus. Die Er-
öffnung der Problematik der Sinnbildung geht durch die neuerliche
Zentrierung auf das Ego und seine Aufklärung durch die Aufwei-
sung seiner intersubjektiven Vermittlung auch schon wieder verlo-
ren. Genau das, was Husserl Descartes vorgeworfen hatte, nämlich
an der Schwelle der Transzendentalphilosophie zu stehen, vor dem
entscheidenden Schritt aber zurückzuweichen, trifft im Grunde
auch auf Husserl zu – wenn man das vom Gesichtspunkt der Ent-
wicklung der nachhusserlschen Phänomenologie aus betrachtet und
die Bedeutung der Sinnbildung konsequenter, als Husserl das getan
hat, in den Vordergrund stellt.
Fassen wir jetzt noch einmal zusammen, welche neuen methodolo-
gischen und systematischen Einsichten sich für die Phänomenologie
aus dem radikalisierten Verständnis der Art und Weise ergeben, wie,
laut Husserl, der Empirismus des 18. Jahrhunderts das Grundmotiv
der neueren Wissenschaft und Erkenntnisphilosophie – nämlich den
»Objektivismus« – zur Erschütterung gebracht hat.
Jene Erschütterung eröffnete (insbesondere bei Hume) eine Span-
nung zwischen der Bildung »fiktionaler Erzeugnisse« einerseits, um
dem Sein des Erscheinenden gerecht werden zu können, und der
Notwendigkeit, der Weltgewissheit zu entsprechen, andererseits.
Daraus ergab sich, dass die Konstitution von Sinngebilden mit der
notwendigen Ansetzung der Lebenswelt in Zusammenhang zu set-
zen war. Aus einer Reihe von kritischen Ansätzen – an der Rolle der
Erkenntnislegitimation, der Anschaulichkeit, der Gegenwärtigung,
der Deskription, der Paradoxie der Bewusstseinsvernichtung – er-
gab sich für Husserl eine tiefer liegende Spannung: nämlich die zwi-
schen doxischer und transzendentaler Einstellung. Anstatt nun aber
die durch Hume eröffnete neue Perspektive – jene der transzen-
dentalen Sinnbildung, die in einem nicht deskriptiven, transzenden-
talen Verständlichmachen besteht, in dem die nicht anschaulichen
und nicht gegenwärtigenden Bewusstseinsleistungen stark gemacht
werden müssen – zu verfolgen und zu vertiefen, welche die ano-
nymen Sinnbildungsprozesse diesseits jeden Ichpols in den Mittel-
punkt der Analysen rücken würde, hat Husserl es vorgezogen, sich
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Phänomenologie im Ausgang von der Lebenswelt 133
auf die Rolle einer »vergemeinschaftenden Intersubjektivität« zu-
rückzuverlegen. Diese vertane Gelegenheit ist für den Vorwurf des
Subjektivismus und des Solipsismus, der ihm immer wieder gemacht
wurde und auch weiterhin gemacht wird, hauptverantwortlich. Se-
hen wir nun zu, wie das in den letzten beiden Kapiteln gleichwohl
vorscheinende Projekt eines neuen »transzendentalen Idealismus« –
der jedoch stärker gemacht und genauer begründet werden muss
und nicht in der Gegenüberstellung von transzendentalem Idealis-
mus der Erkenntnislegitimation und transzendentalem Idealismus
der Sinnbildung verharren darf – sich in der gegenwärtigen philo-
sophischen Diskussion behaupten kann und muss.
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Die Phänomenologie
und die Frage nach der Realität
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Kapitel V
Die transzendentale Phänomenologie der
Sinnbildung und der »spekulative Realismus«
Es mag der Causa der Phänomenologie nicht abträglich sein, dass
sie dank des »neuen Realismus« heute wieder etwas mehr in den
Vordergrund der Debatte gerückt wird. Was gegenüber diesem eher
irrelevanten Umstand ungleich bedeutsamer ist – sofern dieser »neue
Realismus«, zumindest in einer seiner wirkungsmächtigsten Aus-
prägungen als »spekulativem Realismus«1 bei Quentin Meillassoux,
sowohl ein Denken des »Prinzips« als auch des »Absoluten« zu sein
beansprucht2 – ist, dass seine bevorzugte Auseinandersetzung mit
der Phänomenologie diese ebenfalls dazu nötigt, auf jene systema-
tisch zentralen Fragen vertieft einzugehen. Die vom »spekulativen
Realismus« behauptete und verteidigte philosophische Relevanz des
spekulativen Denkens ist ein weiterer Grund dafür – neben anderen
Gründen, wie bereits in Kapitel III dargelegt –, dass auch die Phä-
nomenologie sich vor die Aufgabe gestellt sieht, sich der Legitimi-
tät der philosophischen Spekulation bewusst zu werden und dazu
Stellung zu beziehen.
1 Siehe insbesondere Q. Meillassoux, Nach der Endlichkeit, Berlin, Dia
phanes, 2008 und »Metaphysik, Spekulation, Korrelation«, in Realismus
Jetzt, A. Avanessian (Hg.), Berlin, Merve, 2013. Auch Markus Gabriel hat in
seiner Ausarbeitung eines »Neuen Realismus« in M. Gabriel, Sinn und Exis
tenz. Eine realistische Ontologie, Berlin, Suhrkamp, stw, 2016, eine sehr be-
achtenswerte Diskussion mit der Phänomenologie angestoßen. Siehe hierzu
Eine Diskussion mit Markus Gabriel. Phänomenologische Positionen zum
Neuen Realismus, P. Gaitsch, S. Lehmann, P. Schmidt (Hg.), Wien / Berlin,
Turia + Kant, 2017.
2 Meillassoux, »Metaphysik, Spekulation, Korrelation«, S. 23. Ich werde
mich zunächst dieser Studie zuwenden, die nach dem Erscheinen von Nach
der Endlichkeit Meillassouxs Position noch einmal präzise darstellt und prä-
gnant zusammenfasst.
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138 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
Meillassouxs eigenes spekulatives Projekt besteht in der Reha-
bilitierung eines Denkens des Absoluten, das er aus dem Rahmen
des zeitgenössischen »Korrelationismus«, für den in seinen Augen
die Phänomenologie3 exemplarisch sein soll, herauslösen will. Unter
»Korrelationismus« versteht er die Idee, dass der Zugang zu jegli-
chem Sein durch das Denken vermittelt ist und Sein außerhalb der
Zugänglichkeit durch das Denken nicht sinnvoll behandelt werden
kann. Dabei bindet er dieses Denken – einer naturalistischen Auf-
fassungsart gemäß – an real existierende Denksubjekte. Dreh- und
Angelpunkt ist für ihn dabei das Problem der sogenannten »Anzes-
tralität«, d. h. der Möglichkeit, wohlfundierte naturwissenschaftli-
che Aussagen über den Zustand des Universums und der Erde vor
dem erstmaligen Auftreten des Lebens auf ihr zu formulieren. Diese
Rolle der Anzestralität ist für ihn deswegen so bedeutsam, weil an-
zestrale Aussagen das Modell dafür liefern sollen, Aussagen über ein
»Ansich« treffen zu können, das eben über den korrelationistischen
Rahmen hinausweist.
Meillassouxs Hauptthese bezüglich der Phänomenologie geht
über dieses spezifische Problem aber noch deutlich hinaus. Sie be-
sagt, dass die phänomenologische Variante des Korrelationismus
»ein Modell der wichtigsten zeitgenössischen Entabsolutierungen
(désabsolutions) des Denkens«4 ausmache. Damit wird behauptet,
dass die Phänomenologie nicht nur jegliches Denken des Absolu-
ten ablehne, sondern – Meillassoux nimmt sich vor, dies im Detail
auseinanderzulegen – auch die theoretischen Mittel bereithalte, mit
denen dies zu begründen sei. Der Korrelationismus stelle demnach
eine Absage an das spekulative Denken dar, sofern er keinen ernst-
zunehmenden Begriff von »Absolutem« und »Prinzip« mehr ver-
trete. Der Grund für die Kritik am Korrelationismus besteht somit
in einem philosophisch-systematischen Anspruch, den Meillassoux
in der Phänomenologie nicht mehr befriedigt sieht. Es wird von
diesem Standpunkt aus verständlich, weshalb er letztere dazu auf-
ruft, »zum Beispiel in Form eines spekulativen Idealismus«,5 auf die
hier angeprangerten Defizite – in Bezug auf das »Prinzip« und das
3 In diesem Kapitel wird somit eingehend (und über die Debatte mit Meil-
lassoux hinaus) auf die dritte phänomenologische These der Einleitung ein-
gegangen.
4 Ebd., S. 24.
5 Ebd., S. 28.
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Die transzendentale Phänomenologie der Sinnbildung 139
»Absolute« – zu antworten und sich in die spekulativen Höhen zu
erheben, die bei Descartes, Kant, Fichte und Hegel erreicht wurden
und allein in der Lage seien, den philosophischen Sachproblemen
Genüge zu tun.
Dieses Kapitel ist in vier Abschnitte unterteilt. Zunächst wird
gezeigt, weshalb das »Argument der Anzestralität« den phänome-
nologischen Standpunkt verfehlt und damit in seinem systemati-
schen Anspruch, den phänomenologischen Korrelationismus zu
widerlegen, scheitert. Nichtsdestoweniger enthält die darauf auf-
bauende und von Meillassoux hervorgehobene »Antinomie der An-
zestralität« ein weiteres Argument, das für den Phänomenologen
deutlich fruchtbarer ist. Dieses soll in einem zweiten Schritt näher
untersucht werden. Drittens wird noch ein zusätzliches Argument
herangezogen, das Meillassouxs Standpunkt in ein neues Licht rückt
und die Auseinandersetzung mit dem phänomenologischen Korrela
tionismus weit weniger epigonal erscheinen lässt, als er das selbst
behauptet. In einem letzten Abschnitt soll dann auf Meillassouxs
Herausforderung der Phänomenologie mit dem Entwurf eines phä-
nomenologischen spekulativen Idealismus geantwortet werden.
Zunächst geht es also darum, nachzuzeichnen, weshalb es das »Ar-
gument der Anzestralität« – vom phänomenologischen Standpunkt
aus betrachtet – nicht vermag, den phänomenologischen Korrela
tionismus zu erschüttern. Dies lässt sich anhand verschiedener Ar-
gumentationsstrategien Meillassouxs nachweisen, die alle auf den
gleichen Grundfehler hinauslaufen.
Meillassoux verfährt zunächst so, dass er an den Korrelationis-
mus die Frage richtet, wie seiner Auffassung nach anzestrale Aus-
sagen überhaupt zustandekommen. Aus seiner Sicht lautet dessen
Antwort, dass die anzestrale Vergangenheit von der Gegenwart aus
im Rückgang auf ihre Möglichkeit »retrojiziert« werde.6 Wenn auch
die Idee einer solchen »Retrojektion« nicht unzutreffend ist, stellt
Meillassoux die Lage dennoch unzutreffend dar. Erstens behaup-
6 Siehe hierzu insbesondere L. Tengelyis Ausführungen – im Rahmen sei-
ner Überlegungen zu einem »methodologischen Transzendentalismus der
Phänomenologie« in Welt und Unendlichkeit, Freiburg / München, Alber,
2014 – bezüglich Husserls Idee einer »rückwärts« gerichteten Konstitution,
die insbesondere im Band XXXVI der Husserliana, welcher den Titel Tran
szendentaler Idealismus trägt, entwickelt wurde.
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140 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
tet der phänomenologische Korrelationist nicht, »dass die anzest-
rale Vergangenheit nicht an sich, unabhängig von uns existiert haben
kann«.7 Denn sie kann durchaus existiert haben – unabhängig von
uns empirischen Menschen. Der folgende von Meillassoux übrigens
selbst zitierte Auszug aus Kants Kritik der reinen Vernunft, der auch
für den Phänomenologen maßgeblich ist, behauptet ausdrücklich:
So kann man sagen: die wirklichen Dinge der vergangenen Zeit sind in
dem transzendentalen Gegenstande der Erfahrung gegeben; sie sind aber
für mich nur Gegenstände und in der vergangenen Zeit wirklich, so fern
als ich mir vorstelle, daß eine regressive Reihe möglicher Wahrnehmun-
gen (es sei am Leitfaden der Geschichte, oder an den Fußstapfen der Ur-
sachen und Wirkungen), nach empirischen Gesetzen, mit einem Worte,
der Weltlauf auf eine verflossene Zeitreihe als Bedingung der gegenwär-
tigen Zeit führet, welche alsdenn doch nur in dem Zusammenhange einer
möglichen Erfahrung und nicht an sich selbst als wirklich vorgestellt
wird, so, daß alle von undenklicher Zeit her vor meinem Dasein ver-
flossene Begebenheiten doch nichts andres bedeuten, als die Möglich-
keit der Verlängerung der Kette der Erfahrung, von der gegenwärtigen
Wahrnehmung an, aufwärts zu den Bedingungen, welche diese der Zeit
nach bestimmen.8
Entscheidend hierbei ist, dass die Vergangenheit sich lediglich in
eine »mögliche Erfahrung«, und zwar mithilfe der sie bestimmen-
den und ihrer Möglichkeit nicht widersprechenden »Bedingungen«,
einschreiben muss. Genauso wie niemand das Rauschen der Blätter
eines Wäldchens auf einer einsamen Insel aktuell wahrzunehmen
vermag, dies aber nicht dem tatsächlichen Vorkommen dieses Rau-
schens widerspricht und sich auch transzendental-idealistisch bzw.
phänomenologisch begreiflich machen lässt, ist auch die Berechti-
gung anzestraler Aussagen bezüglich einer anzestralen Vergangen-
heit nicht an einen »aktuellen« oder »real existierenden« Zeugen
gebunden, sondern muss lediglich den Bedingungen der Möglichkeit
einer möglichen Erfahrung entsprechen.
7 Meillassoux, »Metaphysik, Spekulation, Korrelation«, S. 29.
8 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Hauptstück. Die Antinomie der
reinen Vernunft, 6. Abschnitt. Der transzendentale Idealismus, als Schlüs-
sel zur Auflösung der kosmologischen Dialektik, A 495 / B 523. Zitiert von
Meillassoux, a. a. O., S. 30.
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Die transzendentale Phänomenologie der Sinnbildung 141
Genauso unzutreffend ist auch Meillassouxs zweite Behauptung,
der Phänomenologe »konstruiere« »eine Anzestralität vor unse-
rer Existenz«.9 Wenn unter »Konstruktion« verstanden wird, dass
aus einer Abfolge von Gedanken reales Sein herausgeklaubt würde,
dann entspricht eine solche Kennzeichnung einfach nicht der inhalt-
lichen und argumentativen Sachlage. Der phänomenologische Be-
griff der »Intentionalität« beschreibt und analysiert je, wie irgendein
intentionales Objekt »vermeint«, also intentional – und das heißt als
Objekt und nicht als mentales Gedankending – anvisiert wird. Da-
bei wird kein Sein »konstruiert«, sondern es wird jeweils Sein(ssinn)
transzendental verständlich gemacht. Das gilt nun genauso für einen
gegenwärtigen Gegenstand wie für einen nicht gegenwärtigen. Und
auch hierbei unterscheidet sich das Rauschen der Blätter auf einer
einsamen Insel nicht von der anzestralen Vergangenheit.
Nun ist es nicht so, dass Meillassoux diese Argumente nicht be-
kannt wären. Dennoch antwortet er nicht überzeugend auf den oben
dargelegten Einwand. Sehen wir also zu, wie sich sein Standpunkt im
Sinne eben dieses grundsätzlichen Einwandes dekonstruieren lässt.
Dem gesamten Gedankengang Meillassouxs liegt die Auffassung
zugrunde, wonach der Korrelationismus außerstande sei, »die not-
wendige Grundlage freizulegen«, um die »reziproke Relation von
Subjekt und Welt jenseits ihrer Instanziierung in einer Gemeinschaft
sterblicher Individuen zu hypostasieren«.10 Dies impliziert aber, dass
laut Meillassouxs Auffassung die noetisch-noematische Korrelation
in der Phänomenologie stets an den als lebendig, empirisch vorkom-
mend gedachten Menschen gekoppelt sei. An anderer Stelle betont
er im gleichen Sinne, dass eine Entkopplung beider auch gar »keinen
Sinn« habe, da transzendentales Bewusstsein »außerhalb [seiner] In-
karnation in Körpern nicht existieren«11 könne. Um diese These zu
erhärten, setzt er in seiner kritischen Argumentation noch einmal
neu an – und zwar insbesondere auch deshalb, weil sich die Dinge
laut eigener Aussage als »komplizierter« darstellen als das, was sich
in seiner oben kurz nachgezeichneten Schilderung des Standpunkts
des phänomenologischen Korrelationismus herauskristallisierte.
Drei Aspekte werden dabei betont:
9 Meillassoux, »Metaphysik, Spekulation, Korrelation«, S. 29.
10 Ebd., S. 28.
11 Ebd., S. 35.
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142 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
1.) Zunächst könne man – in Meillassouxs Augen – nicht einfach
die »subjektivierte« Vergangenheit, wie er sie nennt (also die Ver-
gangenheit, die von konkreten Individuen bezeugt wurde), mit der
»anzestralen« Vergangenheit auf die gleiche Stufe stellen. Haupt-
grund hierfür sei, dass die anzestrale Vergangenheit niemals (für ein
Subjekt) gegenwärtig gewesen sei, während gerade das für die de jure
bezeugbare Vergangenheit gelte. Die subjektiv bezeugbare Vergan-
genheit habe existiert, während die anzestrale Vergangenheit nicht
existiert habe – zumindest bis zu ihrer »nachträglichen« Rekonstitu-
tion durch ein Subjekt. Ein solcherart Konstituiertes könne aber laut
Meillassoux gar nicht als eine »Vergangenheit« bezeichnet werden.
Die »Absurditäten« bzw. »Paradoxe«, die Meillassoux hier sieht,12
sind allerdings lediglich der Ignoranz gegenüber dem Sachverhalt
geschuldet, dass die phänomenologischen Analysen sich nicht auf
die gleiche Weise auf das »Reale« beziehen, wie die Naturwissen-
schaften dies tun. Und dabei kann insbesondere nicht argumentativ
in Anspruch genommen werden, dass das phänomenologische Sub-
jekt nicht in der anzestralen Vergangenheit anwesend gewesen sei –
denn dies wird ja prinzipiell von den Phänomenologen ausgeschlos-
sen und kann deshalb innerhalb dieses spezifischen Arguments Meil-
lassouxs nicht als ein Mangel oder Ungenügen gebrandmarkt wer-
den. Dies wirft dann zwar die berechtigte (von Meillassoux aber gar
nicht als Problem herausgestellte) Frage auf, in welchem Verhältnis
das phänomenologisch Analysierte (nämlich der »Sinn« der Phä-
nomene) zur Wirklichkeit, auf die sich ja die Naturwissenschaften
beziehen, steht – und genau hier stellt sich die Frage nach dem Ver-
hältnis der Phänomenologie zum »Absoluten« (s. u.). Das kann aber
keinesfalls dafür herhalten, die Art, wie die Phänomenologie den Be-
zug zur Anzestralität versteht, als ungültig zu erklären, da hier ein
Vorurteil hineinspielt, das gleich explizit herausgestellt werden soll.
2.) Meillassoux behauptet, dass er sich von jeder trivialen Form
des »naiven Realismus« unterscheide. Worin besteht genau seine
Position? Er meint, unter Berufung darauf, dass ein realistischer
Standpunkt die unverzichtbare Bedingung für den Sinn aller phäno-
menologischen Aussagen sei, erweisen zu können, dass die transzen-
dentalphänomenologische Sichtweise per se nicht haltbar sei. Das
fußt aber lediglich auf dem Gedanken, dass die empirische Instan
ziierung des transzendentalen Subjekts Voraussetzung des Tran
12 Ebd., S. 34.
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Die transzendentale Phänomenologie der Sinnbildung 143
szendentalen sei. Allerdings – und das ist eben Meillassouxs gerade
angesprochenes Vorurteil – ignoriert diese Position die Grundimpli
kation der phänomenologischen Epoché, der zufolge ja das tran
szendentale Subjekt gerade nicht in seinem realen An-sich-Sein in
Anspruch genommen wird.13 Sobald dieser methodologisch und sys-
tematisch entscheidende Aspekt mitberücksichtigt wird, fällt Meil-
lassouxs Auslegung des phänomenologischen Korrelationismus in
sich zusammen.
3.) Schließlich vertieft Meillassoux auch noch jene Problema-
tik, die oben schon einmal anhand des Rauschens der Blätter auf
einer einsamen Insel veranschaulicht wurde (und für die er selbst
das Beispiel eines herabfallenden Kronleuchters in einer verlasse-
nen Wohnung heranzieht), deren Lösungsansatz aber aus denselben
Gründen scheitert. Wie wir gesehen haben, enthält dieses Beispiel
insofern keine Probleme für den transzendentalen (oder phänome-
nologischen) Korrelationismus, als das ohne Zeugen ablaufende Ge-
schehnis genauso in eine mögliche Erfahrung integriert werden kann
wie die Anzestralität. Dem entgegnet Meillassoux aber, dass eine
»lückenhafte Gegebenheit« nicht mit der »Lücke der Gegebenheit«
verwechselt werden dürfe.14 Damit will er sagen, dass der Begriff
der »Möglichkeit« in dem auf diese Weise aufgefassten Ausdruck
einer »möglichen Erfahrung« problematisch sei. Laut Meillassoux
gäbe es »kein anderes Mögliches als das, welches in einer wirkli
chen Erfahrung der Welt ›ein Loch bildet‹«.15 Für Meillassoux ist
13 Die »Epoché« und »Reduktion« bestehen in der Tat gerade nicht im Er-
öffnen einer Sphäre, die eine gleiche Art der Realität hätte wie das objektiv
Reale, nur eben unter »subjektiven« Vorzeichen (und beides somit auf der
gleichen Zeitreihe zu verorten gestattete). Sie lassen vielmehr eine Seinsneu-
tralität hervorbrechen, die sodann transzendental – und das heißt immer
auch: in ihrem genuinen Seinssinn, der sich aber nicht auf objektive Realität
reduzieren lässt – zu hinterfragen ist. Deshalb ist übrigens auch Markus Ga-
briel Recht zu geben, wenn er schreibt: »Als ob wir jemals aus dem Flackern
des mentalen Bildschirms die Wirklichkeit gewinnen könnten! Wenn das die
Epoché wäre, sähe ich keinen Hoffnungsschimmer für die Phänomenologie«,
Eine Diskussion mit Markus Gabriel, S. 220. Es dürfte aus dem Vorigen
klargeworden sein, dass die durch die Epoché eröffnete phänomenologische
Sphäre eben kein »realer« – »mentaler« – Bereich ist. Genau darum geht es,
wenn Husserl das korrekte Erfassen der »Eigenart transzendentaler Einstel-
lung« anmahnt.
14 Meillassoux, »Metaphysik, Spekulation, Korrelation«, S. 37.
15 Ebd.
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144 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
das Mögliche ein nicht realisiertes potenzielles Wirkliches. Dass das
Mögliche auch als ein nicht Wirkliches, das lediglich als ein Möglich-
keitsbedingungen Entsprechendes aufgefasst werden könnte, ist ihm
fremd. Der fundamentale Gedanke der Ermöglichung hat im spe-
kulativen Realismus kein jus civitatis. Ein solches Mögliches kann
zwar durchaus eine »Lücke der [historisch nachprüfbaren] Gege-
benheit« ausmachen, ist dadurch aber weder un- noch widersinnig –
und auch nicht unvermeidlich irreal. Der Sinn der transzendentalen
Konstitution besteht eben gerade darin, die Möglichkeitsbedingun-
gen berücksichtigend, mögliche Gegenstandserkenntnis darzulegen
und zu erläutern. Hierdurch kann ein »historisch« nicht Wirkliches
trotzdem in seiner sinngebenden und wirklichkeitsrelevanten Di-
mension erfasst werden. Dies setzt aber ein »irrealisierendes« – in
Husserls Worten: ein hinsichtlich seines Seinssinnes »eingeklam-
mertes« oder »ausgeschaltetes« – Subjekt voraus, was wiederum
impliziert, dass es unerheblich ist, ob das so Konstituierte einen
möglichen wirklichen Zeugen gehabt hat (oder haben kann) oder
auch nicht. Die vermeintlich grundlegende Trennung von »lücken-
hafter Gegebenheit« und »Lücke der Gegebenheit« ist nur unter
der Voraussetzung der realistischen Setzungsart legitim. Der aus-
schlaggebende Unterschied ist dagegen der, ob etwas lediglich ins
Blaue gedacht wird oder den Möglichkeitsbedingungen objektiver
Erkenntnis entspricht. Wir haben es hierbei einmal mehr mit einer
Auffassung zu tun, die davon zeugt, dass die genuin transzenden-
tale Verfahrensweise in ihrer Eigentümlichkeit nicht ernstgenom-
men oder schlicht ignoriert wird. Wenn man empirisch Gegebenes
bzw. auf der Grundlage einer solchen Gegebenheit und dazu unter
Berücksichtigung von mathematischen Modellisierungsversuchen
Konstruiertes letztlich als den a lleinigen Maßstab dafür ansieht, ob
etwas (sinnvoll) »ist« oder nicht, dann ist der vermeintlich spekula-
tive Realismus tatsächlich nicht mehr als eine – freilich etwas höher
angelegte – Variante des »naiven Realismus«.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass hier offenbar von
Seiten Meillassouxs, was die Kennzeichnung der ursprünglichen
Position der Phänomenologie betrifft, zwei Denkfehler begangen
werden. Zum einen tritt, wie bereits oben näher erklärt, die Phäno-
menologie, was die positiven Einzelbestimmungen der Welt angeht,
mit den Naturwissenschaften gar nicht in Konkurrenz. In ihr geht
es niemals um positive Stellungnahmen bezüglich der Anzestralität.
Allenfalls könnte die Frage aufgeworfen werden, welchen Seinssinn
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Die transzendentale Phänomenologie der Sinnbildung 145
die Phänomenologie anzestralen Aussagen zuerkennen könnte. Da-
rauf antwortet sie mit der Konzeption einer »retrojizierenden Kon
stitution«, die einen völlig anderen Sinn von Subjektivität voraus-
setzt als jenen, den Meillassoux von ihr hat. In der Tat ist nämlich
zum anderen das »Subjekt«, von dem in der Phänomenologie die
Rede ist, gar nicht empirisch vorhanden oder daseiend, und somit
nicht in eine objektive Zeitreihe eingeschrieben, welche die Anzes-
tralität von dem naturwissenschaftlich zu belegenden Auftreten des
»Lebens auf der Erde« trennt. Das »Subjekt« der Phänomenolo-
gie – das sei noch einmal betont – unterliegt in Bezug auf seinen
Seinssinn wie jedes zu analysierende Phänomen der Methode der
»Epoché«, d. h. der Ausschaltung von jeglicher Seinssetzung und
-stellungnahme. Es ist daher absurd, das Auftreten dieses Subjekts
in der objektiven Zeitreihe verorten zu wollen, da die Annahme der
letzteren ja voraussetzt, dass wir es jeweils mit real Existierendem
zu tun haben (dies ist eine unausgesprochene Voraussetzung des
»spekulativen Realismus«, aber gerade nicht der Phänomenologie;
Meillassouxs Position endet somit in diesem Punkt in einer speku-
lativen Sackgasse).
Soweit also zur Argumentation bezüglich der »Anzestralität«. Sie
ist – aus phänomenologischer Perspektive – irrelevant und kann ge-
trost ad acta gelegt werden. Kann dennoch die Kritik Meillassouxs
am Korrelationismus für die Phänomenologie fruchtbar gemacht
werden? Um darauf antworten zu können, muss die Aufmerksam-
keit darauf gelegt werden, wie Meillassoux sein zweites Argument
aufbaut.
Laut Meillassoux ergibt sich aus seinen gerade nachvollzogenen
Überlegungen folgende »Antinomie der Anzestralität«:16 Der Rea-
lismus enthält einen Selbstwiderspruch (denn sobald er etwas über X
aussagt, setzt er sich ja zu diesem X in ein Verhältnis); andererseits
aber zerstört der Korrelationismus auch den Sinn der Wissenschaft,
da er einen Zeitbegriff ins Spiel bringt, der die objektive Zeitreihe
unterminiert und damit die wissenschaftliche Erkenntnis unmöglich
macht. Lassen wir die Unhaltbarkeit der letzteren »Aporie« einmal
dahingestellt und sehen zu, wie sich Meillassoux nun dank seines
spekulativen Ansatzes vom Korrelationismus zu »lösen« versucht.
Seine Strategie besteht dabei nicht darin, den anzestralen Sinn
16 Ebd., S. 38.
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146 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
stark zu machen, um den Korrelationismus zu destruieren, sondern
vielmehr darin, den pragmatischen Selbstwiderspruch des Realismus
so zu vertiefen, dass er dadurch überwunden wird. Ziel ist es zu er-
weisen, dass es möglich ist, »eine bestimmte Form von Absolutem«
zu denken, »das nicht von unseren mentalen Kategorien abhängt, da
es an sich besteht, ob wir nun existieren, um es zu begreifen, oder
nicht«.17 Somit wäre, das ist die erklärte Absicht des Vorhabens, das
Denken von jeder Form des Korrelationismus befreit.
Meillassoux umreißt zu diesem Zweck drei philosophische
Grundpositionen – den »Korrelationismus«, den »Subjektivismus«
bzw. die »subjektivistische Metaphysik« und den »spekulativen
Realismus« (der seine eigene Position darstellt). Um die Spezifizität
dieser drei Positionen einsichtig machen zu können, ist es wichtig,
zwischen der »Kontingenz«, der »Faktizität« und der »Archi-Fak-
tizität« zu unterscheiden. »Kontingent« ist, der üblichen Definition
gemäß, all das, was als andersartig gedacht werden kann und in die-
ser Andersartigkeit auch problemlos möglich ist (an der Stelle dieser
Erle könnte auch eine Eiche stehen). Die »Faktizität« bezeichnet all
jene Tatsachen, die man sich zwar als anders(artig) vorstellen kann,
ohne allerdings dabei zu wissen, ob dies auch möglich wäre (wir
können uns vorstellen, dass die physikalischen Gesetze anders sein
könnten, ob das allerdings auch möglich ist, entzieht sich unserer
Kenntnis). Die »Archi-Faktizität« schließlich betrifft etwas, was wir
uns unter keinen Umständen als anders(artig) vorstellen können
(und auch der Beweis der Notwendigkeit einer hierunter fallenden
Urtatsache ist unmöglich).
Von hier aus kann nun der Sinn der obigen Grundpositionen
verständlich gemacht werden. Diese unterscheiden sich durch die
Art und Weise, wie sie die Korrelation mit dem Absoluten in Ver-
bindung setzen. Der Korrelationismus, der, wie sein Name schon
sagt, die Korrelation als unvermeidlich und nicht reduzierbar an-
sieht, verabsolutiert diese nicht, sondern verficht vielmehr die »Ent
absolutierung« der Korrelation. Damit ist gemeint, dass das Jen-
seits der Korrelation so oder so oder aber auch ganz anders sein
kann. Hauptvertreter einer solchen Position sei die Phänomenolo-
gie. Der Subjektivismus – und hier hat Meillassoux ganz offenbar
Hegel im Sinn – vollzieht dagegen eine Verabsolutierung der Kor-
relation. Die Korrelation selbst wird dabei – etwa im Prozess des zu
17 Ebd.
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Die transzendentale Phänomenologie der Sinnbildung 147
sich selbst findenden Geistes – als ein Absolutes aufgefasst. Diese
beiden Positionen stehen in schroffem Gegensatz zueinander. Um
der Verabsolutierungstendenz des Subjektivismus entgehen zu kön-
nen, müsse der Korrelationismus nun auf ein zusätzliches Argument
zurückgreifen – das der »Archi-Faktizität der Korrelation«. Hier-
durch vermag er zu bewerkstelligen, dass das »Notwendig-Werden
[des Korrelats] als Struktur alles Seienden« unterbunden wird.18 Der
spekulative Realismus schließlich verneint sowohl die Korrelation
als auch die darauf aufbauende Verabsolutierung derselben. Seine
Verfahrensweise besteht in der Verabsolutierung eben jener Ar-
chi-Faktizität der Korrelation. Dadurch wird die »Grundlosigkeit
(irraison)« ontologisiert und das Prinzip des spekulativen Realismus
– das »Faktualitätsprinzip« – aufgestellt, das die »Notwendigkeit
der Kontingenz« zum Ausdruck bringt. Der spekulative Realismus
verabsolutiert die Kontingenz der Korrelation und behauptet, dass
allein die Kontingenz das Absolute sei. Der den Korrelationismus
ausmachenden Entabsolutierung der Korrelation entgehe man dabei
insofern, als gezeigt werde, »dass in demselben Maße, wie das Argu-
ment des korrelationalen Zirkels implizit die Korrelation verabso-
lutieren musste [= subjektivistische Metaphysik], um den Realisten
zurückzuweisen, das Argument der Faktizität der Korrelation im-
plizit die Faktizität verabsolutieren muss [= spekulativer Realismus],
um den Subjektivisten zurückzuweisen«.19
Das mutet alles ziemlich kombinatorisch an. Eine Kombinato-
rik bezeichnet eine Kombination verschiedener Möglichkeiten, die
formal und mechanisch betrachtet werden,20 um dann zum Beispiel
dank des Ausschließens aller unhaltbaren Positionen die übrig blei-
bende Lösung festzuhalten. Die phänomenologische Herangehens-
weise besteht dagegen darin, die Sachproblematik je aus dem phäno
menalen Gehalt zu schöpfen. Allein hieran ist anzuknüpfen, damit
dem spekulativen Realismus ein spekulativer Idealismus bzw. Tran-
szendentalismus entgegengesetzt werden kann.
18 Ebd., S. 44.
19 Ebd., S. 52.
20 Ein anderes Beispiel hierfür stellt die Vorgehensweise von P. Descola in
seinem Buch Jenseits von Natur und Kultur dar, wo die verschiedenen mögli-
chen »Ontologien« der Menschheit auf der Kombinatorik der verschiedenen
möglichen Verhältnisse von »Intentionalität« und »Körperlichkeit« beruhen
sollen.
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148 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
Bevor diese Aufgabe in Angriff genommen wird, muss aber noch auf
einen weiteren wichtigen Punkt hingewiesen werden. Meillassoux
hatte nämlich bereits an einer entscheidenden Stelle von Nach der
Endlichkeit eine Denkposition entwickelt, die offensichtlich in eine
andere Richtung weist. Mit ihr versucht er die (vermeintliche) Ge-
genposition gegen den endgültigen Standpunkt des Korrelationisten
festzulegen, sofern dieser ja die Entabsolutierung jedes Anders-Sein-
Könnens dadurch verteidigt, dass aus seiner Sichtweise alle Möglich-
keiten jeweils gleich denkbar bleiben. Meillassouxs Antwort hierauf
besteht in dem Argument (das man das »Argument der Verabsolu-
tierung« nennen könnte), dass jede Entabsolutierung wiederum eine
Verabsolutierung mit sich bringe. Er führt das in der bedeutsamsten
Passage seines Buches, nämlich am Schlusspunkt seiner gesamten
Argumentation, in folgenden Worten aus:
Wenn Sie [Meillassoux wendet sich hier persönlich an den Korrelatio-
nisten, A. S.] behaupten, dass Ihr Skeptizismus gegenüber jeglicher Er-
kenntnis auf einem Argument und nicht einem bloßen Glauben oder
einer bloßen Meinung beruht – dann müssen Sie zugeben, dass der Nerv
eines solchen Argumentes denkbar ist. Nun ist aber der Nerv Ihrer Ar-
gumentation, dass wir zum Nicht-Sein-Können / Anders-Sein-Können
aller Dinge, uns selbst und die Welt mit inbegriffen, gelangen können. Zu
sagen, dass man dies denken kann, heißt aber, noch einmal, zu sagen, dass
man die Absolutheit des Möglichen eines jeden Dings denken kann. Sie
können das An-sich und Für-uns nur um diesen Preis unterscheiden, weil
dieser Unterschied auf der Denkbarkeit des möglichen Anders-Seins des
Absoluten im Verhältnis zum Gegebenen beruht. Ihr allgemeines Instru-
ment der Entabsolutierung funktioniert nur dann, wenn eingeräumt wird,
dass das, was der spekulative Philosoph als absolut in Betracht zieht, als
ein Absolutes tatsächlich denkbar ist. Besser: als Absolutes tatsächlich
g e dac h t wird – von Ihnen gedacht –, da es Ihnen im entgegengesetz-
ten Fall niemals in den Sinn gekommen wäre, kein subjektiver Idealist
zu sein oder kein spekulativer Idealist. […] Ihr Gedankenexperiment
zieht daher seine gefährliche Kraft aus der tiefen Wahrheit, die hier im-
pliziert ist: Sie haben nichts weniger als ein Absolutes, das einzig wahre,
»berührt«, und mit seiner Hilfe haben Sie alle falschen Absolutheiten
der Metaphysik – sowohl jene des Realismus als auch jene des Idealis-
mus – zerstört. […]
Anders gesagt, ich kann das Grundlose [irraison] – welches die immer
gleiche und indifferente Möglichkeit aller Dinge ist – nicht als allein auf
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Die transzendentale Phänomenologie der Sinnbildung 149
das Denken bezogen denken: Nur wenn ich das Grundlose als absolut
denke, kann ich alle dogmatischen Optionen entabsolutieren.21
Worauf stützt sich dieses Argument? Auf das als absolut gedachte
Grundlose – allerdings sofern es auf einem »tatsächlichen Denken«
beruht! Sehr bemerkenswert dabei ist, dass Meillassoux dies als eine
Absage an das »ontologische Argument« ansieht, während man gu-
ten Grund hat, sich zu fragen, ob hier nicht vielmehr genau das
Gegenteil, nämlich ein Wiedererstarken dieses Arguments – freilich
unter neuen Vorzeichen, nämlich unter Berücksichtigung der Kan-
tischen (bzw. vielmehr Fichte’schen) Revolution der Denkungsart –
statthat. Meillassouxs Kritik am ontologischen Argument besteht
darin, dass er die Erweisbarkeit eines absoluten An-sichs verwirft –
dies allerdings im Namen, wie nun ersichtlich wird, eines »tatsäch-
lichen« Denkens, das nicht abstrakt als »pures Gedachtes«, sondern
in seiner konkreten Instanziierung erfasst wird. In Wirklichkeit er-
geben sich hier zwei Optionen. Meillassoux schreibt: Die (korrela
tionistische) Entabsolutierung funktioniere nur dann, wenn das vom
spekulativen Philosophen als absolut in Betracht Gezogene »als ein
Absolutes tatsächlich denkbar ist«, »[b]esser: als Absolutes tatsäch
lich gedacht wird«. Dies ist aber nicht das Gleiche! Ist das tatsäch-
liche Gedacht-Werden des Absoluten wirklich »besser« als dessen
tatsächliche (Fichte würde sagen »energische«, »energisch vollzo-
gene«) Denkbarkeit? Hier scheiden sich die Geister von »spekula-
tivem Realismus« und »spekulativem Idealismus«. Die Anbindung
an ein »tatsächliches« Denken würde von einem phänomenologi-
schen spekulativen Idealismus keineswegs vollzogen – wohl aber an
seine notwendige Denkbarkeit,22 welche nicht nur die Korrelativi
tät zu einer transzendentalen Subjektivität zum Ausdruck bringt,
sondern sogar einen Seinsbezug herstellt. Das Wiedererstarken des
21 Meillassoux, Nach der Endlichkeit, Berlin, Diaphanes, 2008, S. 84 f.; Après
la finitude, Paris, Seuil, 2006, S. 80 f. (v. Vf. leicht modifizierte Übersetzung).
22 Damit soll aber nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass es Wirk-
liches nur insofern geben kann, als es den vorgängigen Bedingungen der
Denkbarkeit entspricht. Denn es gibt natürlich Wirkliches, das vor dessen
Verwirklichung weder denkbar noch möglich war – Traumatisches beispiels-
weise, der ganze Bereich des »Transpossiblen« (Maldiney) usw. Gemeint ist
vielmehr, dass ein Seinsgrund gelegt wird, der aller transzendentalen »Kon-
stitution« und ontologischen »Fundierung« vorausliegt. Ich komme hierauf
weiter unten ausführlicher zurück.
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150 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
»ontologischen Arguments« im transzendentalen Gewande besteht
dabei genau darin, dass hier nicht ein absolutes Sein erwiesen wird,
sondern das notwendige Sein des »tatsächlichen Denkens«, das dem
als absolut gedachten Grundlosen zugrundeliegt. Man könnte das
als den unabdingbaren subjektiven Rückbezug, der sich in seiner
Notwendigkeit offenbart, bezeichnen (wobei jene »Subjektivität«
freilich in ihrer Anonymität begriffen werden muss).23 Wie dem
auch sei, ganz gleich, welche ontologische Gewichtung man dem
»tatsächlichen Gedacht-Werden« zuerkennt: Es ist doch ganz of-
fensichtlich, dass wir es im Herzen des spekulativen Realismus mit
einem anti-realistischen Moment zu tun haben, denn wie kann von
»Denkbarkeit« und »tatsächlichem Gedacht-Werden« gesprochen
werden, wenn nicht im Gesichtskreis der Korrelation von Gedach-
tem und Denken? Es wäre den verschiedenen Kritikern des »spe-
kulativen Realismus« darin Recht zu geben, dass diese Position in
ihrem tiefsten Innern offenbar selbst auch einen korrelationistischen
Standpunkt impliziert.
Meillassouxs Ansatz, der sich freilich als ein nicht-korrelationisti-
scher versteht, stellt, wie bereits betont, eine Herausforderung an
die Phänomenologie dar, nämlich einen »spekulativen Idealismus«
vom Gesichtspunkt der Phänomenologie aus – also gleichsam ei-
nen »phänomenologischen spekulativen Idealismus« bzw. »speku-
lativen Transzendentalismus« – dar- und auseinanderzulegen. Dies
muss so geschehen, dass dieser, wie gesagt, nicht von außen, auf
der Grundlage von metaphysischen Voraussetzungen und Grund
entscheidungen entworfen wird (etwa mit dem Zweck, das Projekt
einer mathematischen Beschreibung des anzestralen Universums zu
verfolgen), sondern sich ganz am phänomenologischen Gehalt ori-
entiert, sozusagen von »innen« her entwickelt wird. Es muss darum
gehen, den Status der Wohlbegründetheit der Korrelation zu be-
fragen – und zwar so, dass nicht äußere Entscheidungen den Weg
bestimmen, sondern dass das »Diesseits« der Korrelation, d. h. die
23 In seiner fundamentalen Denkfigur der »kategorischen Hypothetizität«
hatte Fichte bereits 1804 diese Einsicht zum Ausdruck gebracht, als er in dem
energischen Denken des Absoluten eine Seinssetzung ausgemacht hatte, die
er gerade als Rehabilitierung des ontologischen Arguments (nun aber eben
im Kontext der Transzendentalphilosophie) aufgefasst hatte, welche ihrer-
seits jene Ontologisierung vom absoluten An-sich auf den anonymen Denk-
vollzug – und somit in die (Seins-Denken-)Korrelation – verlagert hatte.
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Die transzendentale Phänomenologie der Sinnbildung 151
Präphänomenalität, die Präimmanenz, vertieft wird. Das umschreibt
eine Form von (phänomenologischer) »Metaphysik«, allerdings
nicht in Richtung des »Meta-«, sondern des »Hypo-«, weshalb der
Ausdruck »korrelationistische Hypophysik« zutreffend wäre. Das
Hauptanliegen derselben besteht nun gerade in der Aufstellung eines
phänomenologischen spekulativen Idealismus (bzw. Korrelationis-
mus), wodurch die oben skizzierte Aufgabe einer Verwirklichung
der »Grundlegungsidee der Phänomenologie« positiv angegangen
werden kann. Hierfür ist die Aufstellung eines transzendentalen
Strukturmodells erforderlich, das man als »transzendentale Ma
trix des Korrelationismus« bezeichnen könnte. Worin bestehen die
Grundmotive, die dieses der phänomenologischen Sachhaltigkeit
entnommene Theoriemodell grundlegend bestimmen?
Das erste Grundmotiv für die Herausarbeitung einer solchen
»transzendentalen Matrix des Korrelationismus« besteht einsichti-
gerweise darin, die phänomenologische Korrelation selbst reflexiv
zum Thema zu machen. Was ist die phänomenologische Korrelation
von ihrem Grundansatz her? Wie ist dabei insbesondere das Wesen
des Korrelationsverhältnisses beschaffen? Hieraus folgt auch das
zweite Motiv, welches das Prinzip des Verständlich-Machens phä
nomenologischer Erkenntnis und damit das Wesen der Sinnbildung
überhaupt ein für alle Mal zum phänomenologischen Phänomen
machen soll. Schließlich (und das wird das dritte Motiv sein) gilt es,
sich Klarheit über das Wesen der phänomenologischen Reflexion
zu verschaffen.
Korrelativität (Korrelation), Signifikativität (Sinn) und Reflexi-
vität (Reflexion) – das sind also die drei Hauptbegriffe, die in ihrer
Zusammengehörigkeit und in ihrem gegenseitigen Verweisen aufei-
nander die transzendentale Matrix des Korrelationismus durchwal-
ten. Der folgende Entwurf entwickelt sich demnach entlang des
spezifischen Gehalts bzw. der genuinen Sachhaltigkeit eines Phä
nomenbestands, der eben die sinnhafte und reflexive Strukturiert
heit der phänomenologischen Korrelativität umfasst und diese als
ein eigenes phänomenologisches Phänomen sichtbar werden lässt.
Dass das bislang nicht unternommen wurde, lässt sich womöglich
auf Merleau-Pontys Diktum, dass es je eine »Vorbereitung der Phä-
nomenologie in der natürlichen Einstellung«24 gebe, zurückführen.
24M. Merleau-Ponty, Signes, »Le philosophe et son ombre«, Paris, Galli-
mard, 1960, S. 267.
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152 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
Das trifft in der Tat auf jedes Phänomen zu – nur eben nicht auf die
durch Korrelation, Sinn und Reflexion gekennzeichnete transzen-
dentale Matrix des Korrelationismus, die der reflexiven (»kehrigen«,
d. h. den gegenseitigen Verweis von »natürlicher« und »transzenden-
taler Einstellung« dennoch stets mitmeinenden) Blickumwendung
innerhalb der transzendentalphänomenologischen »Einstellung«
strukturell zugrundeliegt.
Zunächst gilt es, den Grundrahmen der phänomenologischen
Korrelation eigens zum Thema zu machen. Der Name für die phä-
nomenologische Korrelation lautet, wie schon mehrmals betont:
»Intentionalität«. Damit ist gemeint, dass Bewusstsein je Bewusst-
sein von etwas ist und umgekehrt, aber damit aufs Engste verbun-
den, jedes Etwas sich in einen intentionalen Bezug einschreibt. Wenn
damit nun aber nicht lediglich eine Verdoppelung des Gegebenen
in einer Bewusstseinsmodalität und auch nicht das (im Grunde
völlig kontingente) aktuelle Bewussthaben einer Gegebenheit ge-
meint sein soll und verständlich gemacht werden kann, wie insbe-
sondere die Sinnbildung und die erkenntnismäßige Konstitution
möglich ist, dann muss die Grundeigenschaft dessen, wodurch je-
weils der Gegenstandsbezug hergestellt wird, aufgewiesen werden.
Eine solche Grundeigenschaft kann – in einer Annäherung an die
Heidegger’sche Vertiefung des Husserl’schen Intentionalitätsbe-
griffs – das »horizonteröffnende In-den-Vorgriff-Nehmen« genannt
werden. Die phänomenologische Korrelation bezeichnet nie eine
lediglich statische oder mechanische Bezughaftigkeit, und sie redu-
ziert sich auch nicht auf »aktintentionale« Bewusstseinsbezüge. Sie
bringt vielmehr zum Ausdruck, dass jede Gegebenheit von »Etwas«
in einen horizontmäßigen Rahmen von Verstehenshaftigkeit einge-
schrieben ist.25 Diese ist bei weitem nicht notwendigerweise »trans-
parent«. Sie kann unbewusst sein oder sonst irgendeine Modalität
von aktueller Nichtbewussthaftigkeit ausmachen. Entscheidend ist
lediglich, dass dem An-sich-Sein eine Perspektive entgegengesetzt
wird, die das Sein als offen für Bewusst-Sein erweist (wofür auch
Husserls »signitive Intentionen« stehen, auch wenn dabei der be-
25 Mittels der Begriffe des »Aufnehmens« und des »Zulassens« hat Günter
Figal den Vorschlag unterbreitet, die spezifisch räumliche Dimension jeder
phänomenologischen Bezughaftigkeit ins Visier zu nehmen, G. Figal, Un
scheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie, Tübingen, Mohr Siebeck,
2015, S. 50 ff.
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Die transzendentale Phänomenologie der Sinnbildung 153
schränkte Rahmen der »Aktintentionalität« gemäß dem gerade Skiz-
zierten überschritten werden muss).
Was wird nun in der Korrelation horizonteröffnend in den »Vor-
griff« genommen? Der Vorgriff ist je ein solcher auf Sinnerscheinung
und Sinnordnung.26 Sinn bezeichnet dabei je Sinnhaftigkeit als »Sinn
von« etwas,27 nämlich etwas Erscheinendem. Das ist sozusagen die
Kehrseite davon, dass das Etwas sich stets in die Korrelation ein-
schreibt: Der Gegenstand wird nicht in seiner »Materialität« ver-
standen, sondern als Sinn, wobei der Sinn aber keine gesonderte
»Schicht« ist, die dem Ansich des Objekts gegenüberstünde, sondern
eben Sinn(erscheinung) desselben. Sinnbezüglichkeit und Erschei-
nungshaftigkeit verweisen folglich je aufeinander.
Dieser gegenseitige Bezug setzt aber eine eigentümliche (Selbst-)
Reflexivität voraus. Entscheidend ist dabei, und das muss ausdrück-
lich betont werden, diese nicht – vom Subjekt aus – als reflexiven
Rückgang auf … aufzufassen. Um hier hinein gelangen zu können,
muss sich die in Kapitel IV eingeführte »transzendentale Induk-
tion« vollziehen.28 Diese bezeichnet im wörtlichen Sinne die »Ein
führung« in die selbstreflexive Prozessualität der Sinnbildung.29 Sie
26 »Die intentionale Analyse stellt nicht nur vorkommende Gegebenheiten
des Bewusstseins fest, sondern greift zuerst vor in die innere Sinnordnung
des Bewusstseins. Dieser Vorgriff ist das konstruktive Moment der phäno-
menologischen Intentionalanalyse. Er ermöglicht erst […] die vom philo-
sophischen Problem des Bezugs von Sein und Wissen bewegte Intentional-
analytik«, E. Fink, »Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls«,
S. 205.
27 »Es ist die Grundeinsicht einer intentionalen Auslegung des Bewusstseins,
dass alles Bewusstseinsleben […] eine Sinneinheit in sich trägt, die jede theo
retische Erfassung des Bewusstseins leiten muss«, ebd., S. 203.
28 Der Begriff der »Induktion« hat in den mathematischen Wissenschaften
und in den Naturwissenschaften eine große Bedeutungsvielfalt. In der hier
zur Anwendung kommenden Auffassungsweise werden – freilich sehr aus
der Ferne – Anleihen aus dem physikalischen bzw. biologisch-genetischen
Gebrauch (nämlich das erzeugende bzw. auslösende Moment) und aus dem
mathematischen Gebrauch gemacht (der im Fall der »strukturellen Induk-
tion« ein eigenes konstruktives Beweisverfahren bezeichnet, das mittels eines
»Erzeugungssystems« zu einer Lösung kommt, ohne dem philosophischen
Induktionsproblem zu verfallen).
29 Hierbei handelt es sich um eine »Bewegung«, auf die M. Richir zum ers-
ten Mal in seiner wegweisenden Studie »Le Rien enroulé – Esquisse d’une
pensée de la phénoménalisation« (Textures 70/7.8, Brüssel, 1970, S. 3–24)
hingewiesen hat. Man könnte in diesem Zusammenhang auch, wie Richir es
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154 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
ermöglicht es, die Schwelle der deskriptiven Verfahrensweise dahin-
gehend zu überschreiten, dass nicht mehr der Phänomenologe die
phänomenologische Analyse vollzieht, sondern die reflexive Grenz-
struktur der Phänomenalität und das, was sie ermöglicht, sich gleich-
sam »selbst« reflektiert.30 Es handelt sich hierbei um eine spezifische
Performanz der phänomenologisch relevanten Reflexionsform,31 die
bereits in je eigenen Ausgestaltungen in früheren, vor-phänomeno-
logischen Ansätzen zum Ausdruck kam (in Platons Selbstgespräch
der »Seele«, in Spinozas Selbst-Denken des »Gedankens«, in Hegels
Selbstbewegung des »Begriffes« usw.) und die, wie schon betont,
in ihrer spezifischen Phänomenalisierung und »Phänomenalität«
eigens zum Thema der phänomenologischen Analyse gemacht wer
den muss. Drei Stufen der transzendentalen Induktion sind näher zu
unterscheiden. Auf der ersten Stufe wird lediglich der Übergang zur
Selbstreflexivität vollzogen, sie stellt sozusagen die Eingangspforte
in dieselbe dar. Auf der zweiten Stufe findet die Selbstreflexion des
eingangs zugänglich Gewordenen statt. Und auf der dritten Stufe
kommt es dann zur verinnerlichenden Selbstreflexion dessen, was
sich auf der zweiten Stufe ergeben hat. Jeder dieser drei Stufen ent-
spricht dabei also jeweils eine eigene Reflexionsform.
selbst tut, den Bezug zu Heideggers Gedanken einer »transitiven« (im Sinne
einer »transzendierenden«) »entbergende[n] Überkommnis« herstellen, in
bzw. dank derer »Sein« »sich zeigt«, »Die onto-theo-logische Verfassung der
Metaphysik« (1956/57), Identität und Differenz, HGA 11, F. W. v. Herrmann
(Hg.), Frankfurt a. M., Klostermann, 2006, S. 71. (Richir geht im Übrigen so
weit zu sagen, dass Heideggers »Kehre« genau darin bestehe, dass »man nie-
mals Herr des Verhältnisses vom Denken zum Denken der Phänomenalisie-
rung« sei, sondern »vielmehr das Umgekehrte« statthabe: »Die Phänomena-
lisierung regelt ihr Verhältnis zum Denken«, »Le rien enroulé«, a. a. O., S. 23.)
30 In seinem Text von 1786, »Was heißt: Sich im Denken orientieren?«, wun-
dert Kant sich darüber, dass der Spinozismus davon sprechen könne, es gäbe
»Gedanken, die doch selbst denken« – was er als die Auffassung von ei-
nem »Akzidens« versteht, »das doch zugleich für sich als Subjekt« existiere
(Theorie-Werkausgabe, Band V, W. Weischedel (Hg.), Frankfurt am Main,
Suhrkamp, 1968, S. 279). Einem solchen realistischen Fehlschluss (dem ja
auch Meillassoux unterliegt) – und dem hier die Annahme entspräche, der
selbstreflexiven Struktur der Sinnbildung werde ein subjektiver Träger unter-
geschoben – setzt der phänomenologische spekulative Idealismus eine phä
nomenologische Reflexionsform entgegen, die jener selbstreflexiven Struktur
der Sinnbildung gerade ihren phänomenalen Boden bereitet.
31 Diese äußert sich auch darin, dass sie in der Gleichsetzung der präimma
nenten Sphäre mit der selbstreflexiven Struktur der Sinnbildung besteht.
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Die transzendentale Phänomenologie der Sinnbildung 155
Es wurde gerade dargelegt, dass die erste Grundeigenschaft der
Korrelation ihr horizonteröffnendes In-den-Vorgriff-Nehmen aus-
macht. Eine erste (Selbst-)Reflexion auf dieses wird dabei gemäß der
vorigen Unterscheidung a.) auf die Bewusstseinsstruktur, b.) auf die
horizonteröffnende Vor(be)grifflichkeit, d. h. den Entwurf auf Sinn
und c.) auf den – zunächst allerdings inhaltslosen – Begriff der Er
kenntnisverständlichmachung gehen. Da dies, wie gesagt, eine erste
Reflexion darstellt, gelangen wir hier zur ersten Ebene der transzen-
dentalen Verständlichmachung dessen, was Korrelation, Sinn und
Reflexion und ihre gegenseitige Verflechtung möglich macht. a.) Der
Subjekt-Objekt-Korrelation liegt eine eigentümliche Struktur zu-
grunde; b.) der Vorgriff auf Sinn vollzieht sich auf der Grundlage
eines Sinnentwurfs; und c.) die Verständlichmachung der Erkennt
nis entwirft zunächst einen Begriff derselben, der dem zu suchenden
Erkenntnisprinzip selbst entgegengesetzt ist. Hierbei bricht dann
eine dreifache Dualität auf: a.) die von Subjekt und Objekt (welche
die originäre Bewusstseinsspaltung ausmacht), b.) von entworfenem
Sinn und sich gebendem Sinn (denn auf den Sinnentwurf »antwor-
tet« je ein »Sich-Geben« von Sinn, an dem sich die »Richtigkeit«
des Entwurfs progressiv und anhand unaufhörlicher »Korrekturen«
verifizieren lässt) und c.) von Urbild und Abbild des Prinzips jener
Verständlichmachung der Erkenntnis.32
Eine zweite (Selbst-)Reflexion eröffnet sodann dementspre-
chend die zweite Ebene der transzendentalen Matrix der Korrela-
tion. Diese zweite (Selbst-)Reflexion nimmt sich nicht mehr all jene
Implikationen des horizonteröffnenden In-den-Vorgriff-Nehmens
vor, sondern reflektiert nun jeweils die drei sich darin bekundenden
Dualitäten.
a.) Wenn dabei zunächst der Bewusstseinsbezug selbstreflexiv be-
trachtet wird, d. h. wenn Bewusstsein zu Bewusstsein von Bewusst-
sein wird, dann ergibt sich dadurch Selbstbewusstsein. Das bedeutet
nicht, dass – wie etwa bei Hegel – Selbstbewusstsein die »Wahrheit«
des Bewusstseins sei (und dieses jenes voraussetzte), sondern dass
das Selbstbewusstsein sich allererst im Reflexionsprozess und in sei-
ner Genese aufhellen lässt.
32 Das, worauf der Entwurf der Fassung des Erkenntnisprinzips abzielt, ist
dessen »Urbild«; das worin es zuerst – in seinem bloßen Entwurfscharakter –
gefasst wird, sein »Abbild«.
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156 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
b.) Aus der Selbstreflexion der Dualität von entworfenem und
sich gebendem Sinn erfolgt dann die Einsicht, dass der Wahrheits
maßstab immer weiter hinausverlagert wird und sich nicht endgültig
anlegen lässt. (Dem entspricht auch Husserls späte Einsicht, dass
die sogenannten »erfüllenden Intentionen« keinen Anspruch auf
Endgültigkeit haben und sich ebenfalls revidieren lassen.) Mit an-
deren Worten, wir stoßen auf eine »hermeneutische Wahrheit«, die
nicht in »letzten Wahrheiten« mündet, sondern die Konsequenzen
aus der hermeneutischen Einsicht ziehen, dass Wahrheit je nur im
immer neu zu realisierenden Wahrheitsvollzug angesetzt werden
kann.
c.) Schließlich wird auch das Verhältnis von »Abbild« und »Ur-
bild« des Erkenntnisprinzips reflektiert, der zunächst entworfene
leere Begriff desselben wird also mit dem zu Konstruierenden in
Beziehung gesetzt. Was ergibt sich aus dieser Reflexion? Das ent-
worfene bloße Abbild ist nicht die Urquelle der Erkenntnisaufklä-
rung selbst, sondern nur ein ihr gegenüberstehender Begriff davon.
Letzterer »begreift sich« in dieser Reflexion als ein bloßer Begriff.
Um zur tiefsten Quelle selbst zu gelangen, muss daher das soeben
Entworfene, lediglich Vorgestellte, sofern es eben nur ein solches
abstraktes Abbild ist, gleichsam vernichtet werden. Hierdurch wird
ein neues Moment ausgebildet: keine – im ersten Schritt unver-
meidlich – hin projizierte bloße Erscheinung, sondern ein gene-
tisch durch Vernichtung des zunächst projizierten Abbildes und
Aufscheinen der urbildlichen Erkenntnisquelle selbst erzeugtes re-
flexives Verfahren. Worin besteht dieses Moment – wenn es kein
rein formales sein soll? Eben gerade im gleichzeitigen Entwerfen
und Vernichten. Letzteres kann als »Plastizität« bezeichnet werden,
da hiermit genau diese zweifache Bedeutung eines entwerfenden
Vernichtens bzw. eines vernichtenden Entwerfens zum Ausdruck
gebracht wird.
Die Verfahrensweise der »transzendentalen Induktion« kommt
schließlich insofern in ausgezeichneter Weise in der dritten (Selbst-)
Reflexion zum Tragen, als die hier sich vollziehende Selbstreflexion
keine Reflexion mehr über ein Gegebenes, sondern verinnerli
chende Selbstreflexion ist, die das letztursprüngliche Register der
generativen Matrix der Sinnbildung eröffnet.
a.) Die verinnerlichende Selbstreflexion des Selbstbewusstseins
eröffnet eine Sphäre diesseits der Subjekt-Objekt-Spaltung wie
auch diesseits des reflexiven Selbstbezugs im und durch das Selbst-
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Die transzendentale Phänomenologie der Sinnbildung 157
bewusstsein. Auf der Grundlage von Husserls Ansätzen etwa in
den Bernauer Manuskripten (1917/18) ließe sie sich als »präphä-
nomenale« bzw. »präimmanente« Sphäre der phänomenologischen
Konstitution bezeichnen. Sie macht gewissermaßen die »choratische
Sphäre« der transzendentalen Induktion aus, d. h. innerhalb ihrer
wird jenes urtranszendentale Feld der Sinnbildung zugänglich, das
sich dann in zwei weiteren Hinsichten noch genauer ausgestaltet.
b.) Es ergab sich aus der vorigen (Selbst-)Reflexion über die
zweite Dualität (jener von entworfenem und sich gebendem Sinn),
dass wir auf eine Art »hermeneutische Wahrheit« stießen, die eine
Absage an jegliche Form von »letzten Wahrheiten« zu implizieren
schien. Dies trifft auch zu, sofern man ein vorausgesetztes Gegebe-
nes als Maßstab der Erkenntnis ansetzte. Das Fehlen eines solchen
Maßstabes heißt aber nicht, dass nicht doch ein eigener phänome-
nologischer Wahrheitsbegriff nutzbar zu machen wäre, der sowohl
die Klippe des »naiven Realismus« als auch die des Relativismus
zu umschiffen gestattet. Eben einen solchen eröffnet die verinner-
lichende Selbstreflexion der oben skizzierten »hermeneutischen
Wahrheit«. Diese Selbstreflexion stellt nicht einen erneuten »Bedeu-
tungsentwurf« bzw. eine erneute »Interpretation« dar, der (die) in
mannigfachen weiteren Entwürfen oder Interpretationen überstie-
gen werden könnte, sondern sie macht den ureigenen Begriff einer
phänomenologischen, genetisierenden »Konstruktion« aus. Es ist
dies ein Konstruieren in das Offene der präphänomenalen Sphäre,
das nur in der Konstruktion selbst deren Triftigkeit wie auch deren
eigene Gesetzmäßigkeit offenbart. Diese Sphäre der phänomenolo-
gisch-genetisierenden Konstruktivität macht den ureigenen Begriff
der »Generativität« bzw. »generativen Wahrheit« aus. Als Beispiele
hierfür seien genannt: Platons »exaiphnes« als Umschlagspunkt von
Ruhe und Bewegtsein im Parmenides; Fichtes Idee einer »geneti-
schen Konstruktion« in der Wissenschaftslehre von 1804/II; He-
gels »absolutes Wissen« am Ende der Phänomenologie des Geistes;
Heideggers Analyse des Vorlaufens in die »Möglichkeit als die der
Unmöglichkeit der Existenz überhaupt«, die allererst jede existen-
zielle Möglichkeit für das menschliche Dasein eröffnet (im § 53 von
Sein und Zeit); Husserls phänomenologische Konstruktion des »Ur-
prozesses« der ursprünglichen phänomenologischen Zeitlichkeit in
den Bernauer Manuskripten.
c.) Auch der selbstreflexive Nachvollzug der Urquelle der Er-
kenntnisaufklärung macht schließlich diese dritte verinnerlichende
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158 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
Selbstreflexion notwendig. Das sich aus der bisher vollzogenen
Selbstreflexion Ergebende verweist, wie gezeigt, auf eine zweifache
entgegengesetzte vorsubjektive und »plastische« »Tätigkeit« eines
Setzens und Vernichtens. Diese ist aber selbstverständlich keine rein
mechanische »Tätigkeit«, sondern lässt sich in jener verinnerlichen-
den Selbstreflexion erfassen. Jedes Aufheben ist ein Aufheben eines
zunächst Gesetzten – und daher ein von ihm Abhängiges. Die zweite
(aus)bildende Vollzugsweise hatte sich daraus ergeben, dass das
bloße Abbild sich als ein solches begriff und infolgedessen vernich-
tete. Die jetzt vollzogene verinnerlichende Reflexion geht nun noch
einen Schritt weiter. Sie begreift sich nicht bloß als reflektierende,
sondern als das Reflektieren in seiner Reflexionsgesetzmäßigkeit
erschließende. Letztere besteht im »Ermöglichen«, in einer eigen-
artigen Verdoppelung, die das Transzendentale originär bestimmt
und das Möglich-Machen reflexiv als Möglich-Machen des Möglich-
Machens selbst durchsichtig macht – im vorliegenden Fall: die Plas-
tizität, deren Selbstreflexion nichts Anderes als die Ermöglichung
ergibt. Diese Reflexionsgesetzlichkeit drückt zudem – zusammen
mit der Verstehensermöglichung – eine auf diese selbst bezogene
Seinsermöglichung aus. Woher stammt diese »Seinsermöglichung«?
Und vor allem: Weshalb tritt diese »durch« die Verstehensermög-
lichung hervor? Zu ersterem ist zu sagen, dass, wenn die Verste-
hensermöglichung rein reflexiv wäre und auf einer rein erkenntnis-
mäßigen Basis beruhte, ihr Ermöglichungscharakter abstrakt bliebe
und auf einer bloßen Behauptung beruhte. Letzteres erklärt sich
dadurch, dass die Ermöglichung diesseits der Spaltung von Erkennt-
nistheorie und Ontologie angelegt ist und diese allererst ermöglicht.
Die ermöglichende Verdoppelung ist somit ebenfalls eine produktiv-
erzeugende Vernichtung – Vernichtung jeder erfahrbaren Positivität
eines Bedingenden und Erzeugung einerseits dieses Bedingenden
selbst und andererseits eines hieraus hervorgehenden ontologischen
»Überschusses«, der dem hierdurch Erzeugten (nämlich der gesuch-
ten Grundlage der Verständnisaufklärung) seine Seinsgrundlage bie-
tet. Und genau das wurde gewissermaßen schon von Meillassoux
aufgedeckt;33 nur hatte er nicht die offenbaren »korrelationistischen«
33 Gleiches gilt auch für Hegel im ersten Unterabschnitt des ersten Kapitels
des ersten Abschnittes des ersten Buchs der Großen Logik (»Sein«), sofern
jener im Zusammenhang mit dem Ende des Vorbegriffs des ersten Teils der
Kleinen Logik (§ 78) betrachtet wird – nur mit dem Unterschied, dass Hegel
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Die transzendentale Phänomenologie der Sinnbildung 159
Konsequenzen daraus gezogen, wie das oben in der Diskussion mit
ihm bereits dargelegt wurde.34
Die transzendentale Matrix des Korrelationismus beschränkt
sich nicht auf lediglich postulierte Erkenntnisformen, wie das etwa
im Kantischen Transzendentalismus der Fall ist, sondern bringt das
reflexible »Grundprinzip« der Ermöglichung des Verstehens zum
Ausdruck; und in eins damit offenbart sich jene Seinsgrundlage, die
das Seinsfundament jeder Sinnerscheinung ausmacht. Denn »sich
reflektierendes Reflektieren« oder »Sich-Erfassen als Sich-Erfassen«
heißt nicht, dass hier einfach ein wiederholter (Reflexions-)Akt vor-
liegt, sondern dass im energischen (reflexiblen) Sich-Erfassen der
Reflexion Sein hervorspringt.35 Sein ist Reflexion der Reflexion –
aber nicht im Sinne einer verstandesmäßigen Rückbindung oder
Zurückwendung auf Reflexion, sondern als »reflexible« (Fichte),
d. h. die Reflexionsgesetzlichkeit zum Vorschein bringende und das
Sein selbst allererst herausspringen lassende Reflexion. Dieses Sein
ist »Grund« aller Realität; es ist nicht vorgängig gegeben oder vor-
ausgesetzt, sondern genetisch konstruierter, reflexibel genetisierter
»Träger der Realität«. Diese transzendentale Matrix des Korrelatio-
nismus lässt sich in folgender Tafel veranschaulichen und festhalten:
diese Inanspruchnahme eines »reinen Seins« durch den freien Entschluss,
»rein denken zu wollen«, lediglich aufstellt. Selbstverständlich wird diese
faktische Aufstellung in der weiteren Folge der Logik genetisiert – aber diese
Genetisierung ist eben anderer Art als im phänomenologischen spekulativen
Idealismus, da es sich in letzterem um ein »offenes System« (Fink) handelt,
das von keiner dialektischen Methode durchherrscht wird.
34 An anderer Stelle habe ich diese beiden Erzeugungsverfahren jeweils als
die »transzendentale Reflexibilität« und als die »transzendierende Reflexi-
bilität« bezeichnet, siehe Wirklichkeitsbilder, a. a. O., S. 103 ff. Bezüglich des
zweiten Punktes, auf den ich im folgenden Kapitel noch einmal vertiefend
zurückkommen werde, wäre zu überlegen, ob hierdurch – aber auf eine an-
dere, nicht-metaphysische Weise – das »ontologische Argument« der philo-
sophischen Tradition (bei Anselm und insbesondere bei Descartes) auch an
dieser Grenze der Phänomenologie nicht doch wieder Einzug hält und ob
es sich hierbei nicht – Kantisch ausgedrückt – um den höchsten phänome
nologisch-spekulativen Grundsatz der synthetischen Urteile a priori handeln
könnte.
35 Richir spricht in diesem Zusammenhang vom »Hervorquellen« des je
Seienden aus der »Doppelbewegung der Phänomenalisierung«, »Le rien en-
roulé«, a. a. O., S. 9 f.
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160 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
Korrelation Sinn Reflexion (= Urphäno-
men der Sinnbildung)
1. Reflexions- Horizonteröffnen- Entworfener Sinn Abbild-Urbild des in
stufe des In-den-Vorgriff- – sich gebender der Erkenntnis-ver-
Nehmen des Sub- Sinn ständlichmachung auf-
jekt-Objekt-Verhält- zuweisenden Erkennt-
nisses nis- und Seinsprinzips
2. Reflexions- Selbstbewusstsein Hermeneutische Plastizität (vernich-
stufe Wahrheit tend-erzeugender
Prozess)
3. Reflexions- Präimmanenz Generativität Transzendentale
stufe und transzendierende
Reflexibilität
Meillassouxs an die Phänomenologie gerichtete Aufforderung, sich
ihres eigenen spekulativen Idealismus nicht nur bewusst zu werden,
sondern diesen auch zu begründen, mündet in der Herausarbeitung
der »Reflexibilität« als »Prinzips« des phänomenologischen speku-
lativen Idealismus. Wird hierin auch ein »Absolutes« gedacht? In
der Tat. Meillassouxs »Absolutes« ist das über den Korrelationis-
mus hinausliegende »Hyper-Chaos«, das mathematisch bestimmbar
sei. Grundresultat des phänomenologischen spekulativen Idealismus
ist es, dass der hierin gültige Seinsbegriff allenfalls für das objektiv
messbare Wirkliche zutrifft. Sein eigenes »Absolutes« ist das Sein –
allerdings mit der Einschränkung, dass Sein gerade nicht objektive
Wirklichkeit ist. Welcher Seinsbegriff geht also im phänomenologi-
schen spekulativen Idealismus auf?
Dazu ist zunächst eine kurze Vorbemerkung zum Seinsbegriff in
der Phänomenologie überhaupt und bei Heidegger im Besonderen
nötig. Heideggers berühmte Stellungnahme zum Sein in Sein und
Zeit lautet: »Sein des Seienden« ist das, was »Sinn und Grund« des-
sen, »was sich zunächst und zumeist zeigt«, »ausmacht«.36 »Sinn und
Grund« von etwas »ausmachen« scheint aber eine Bestimmung von
etwas zu sein. Wie kann diese Bestimmung vom Sein gelten, sofern
doch jedes »Denken«, »Bestimmen« usw. des Seins dieses ipso facto
ontifiziert, also zu einem bloßen Seienden macht? Dem offenbaren
36 M. Heidegger, Sein und Zeit (HGA 2), F. W. v. Herrmann (Hg.), Frank-
furt am Main, Klostermann, 1977, S. 35.
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Die transzendentale Phänomenologie der Sinnbildung 161
Widerspruch kann man nur so entgehen, dass verständlich gemacht
werden muss, inwiefern »Sinn und Grund von etwas ausmachen«
zu jenen sehr spezifischen – genuin transzendentalen37 – »Bestim-
mungen« gehört, die sich vom Sein aussagen lassen, ohne dieses da
rum zu ontifizieren. Solche »Bestimmungen« gibt es, in Heideggers
späterer Philosophie treten derer noch andere auf. Entscheidend ist
hier, dass sich in den letzten drei Kapiteln solche »Bestimmungen«
des Seins herauskristallisiert haben, die es nun gestatten, den Seins-
begriff der transzendentalen Phänomenologie, soweit sie ihre speku-
lativen Grundlagen durchsichtig zu machen sucht (und also diesseits
der Unterscheidung von sachhaltigem Sein [= das Sein in Husserls
»regionalen Ontologien«] und verschiedentlich auslegbarem Dass-
Sein angesiedelt ist), als ihr »Absolutes« zu fassen und darzustellen.
Diese drei Grundbestimmungen des Seins sind: 1.) Das »vorgän
gige Sein« oder »Vor-Sein«. Um den Seinsbegriff fassen zu können,
und insbesondere um es hier nicht bei einer lediglich gegenüberstel-
lenden Aufzählung belassen zu müssen, muss dem Sein inniglich
(und diesseits der Spaltung von »Ontologie« und »Erkenntnistheo-
rie«) eine Offenheitsdimension zukommen, die den verschiedenen
Seinsauffassungen ihre »zeitliche« und »verortende« Einschreibung
gestattet. Das »vorgängige Sein« oder »Vor-Sein« bezeichnet diese
präimmanente Offenheitsdimension, die es ermöglicht, jene tran
szendentalen Seinsaspekte in den Seinsbegriff hineinzunehmen, die
über das »objektive« Sein hinausgehen. Anders ausgedrückt: Das
»Vor-Sein« bezeichnet den ontologischen Status der transzenden-
talen Apriorizität, sofern diese die Ermöglichungsdimension des je
Erfahrbaren umfasst. Das »Vor-Sein« ist der Name für die Seinsdi-
mension der transzendentalen Fungierungsleistungen diesseits je-
des Erscheinens und Sich-Zeigens. 2.) Die zweite Seinsbestimmung
ist der ontologische »Überschuss« der transzendierenden Reflexi-
bilität.38 Dieser »Überschuss« – der sich freilich je im Rahmen der
transzendental-phänomenologischen Sinnbildung dartut, und also
nicht materiell bzw. empiristisch aufgefasst werden darf – hat zwei
Bedeutungen. Auf der einen Seite macht er die Gleichsetzung von
37 Zu Heideggers Beitrag zur Transzendentalphilosophie siehe v. Vf. Hin
aus. Entwürfe einer phänomenologischen Metaphysik und Anthropologie,
Würzburg, Königshausen & Neumann, 2011, S. 77 ff.
38 Dieser hier an der zweiten Stelle angeführten Grundbestimmung des
Seins kommt eine zentrale Rolle innerhalb der Fassung des Seinsbegriffs im
phänomenologischen spekulativen Idealismus zu.
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162 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
»Sein« und »Reflexion der Reflexion« verständlich und stellt inso-
fern den »Träger der Realität« dar, als eine absolute transzendentale
Seinsbestimmung in die Erkenntnislegitimation eingehen muss, um
zu verhindern, dass die transzendentale Leistung abstrakt-formal
bleibt; eine »absolute« und keine »empirisch-konkrete« (wodurch
sich übrigens der Streit zwischen Fichte und Schelling, so wie er
in ihrem Briefwechsel ausgefochten wurde, schlichten lässt39), da
es sich hier ja um die Seinsgrundlage und nicht um inhaltliche Be-
stimmungen von Seiendem handelt. Auf der anderen Seite aber ver-
zweigt sich, spaltet sich ab bzw. zersplittert sich diese Funktion eines
»Tragens der Realität« im Sein jedes einzelnen (und vereinzelten)
Seienden – Richir spricht in diesem Zusammenhang von »Schaum«,
»Seinsfunken«, »-spänen« und »-schlacken«,40 die ontologisch-ge-
netisch und in Form von »Absätzen« (wie Fichte sagen würde) aus
der »Doppelbewegung der Phänomenalisierung« bzw. dem »refle-
xiblen Transzendieren« gleichsam ausgestoßen werden. In dieser
zweifachen Bedeutung des »Seinsüberschusses« besteht der Kern
einer phänomenologischen Ontologie. 3.) Die dritte Seinsbestim-
mung schließlich wurde von Levinas (siehe Kapitel III) als »Seins-
fundierung« innerhalb des »wechselseitigen Bedingungsverhältnis-
ses von Konstituierendem und Konstituiertem« gefasst. Sie schreibt
jede Konstitution in das besagte »Sinn-und-Grund-Ausmachen« ein
und macht es möglich, dass dank der transzendierenden Reflexibili-
tät nun auch die konkreten ontologischen Bestimmungen (komple-
mentär zur transzendentalen Konstitution und sich auf den »Rea
litätsträger« stützend) verständlich gemacht werden können. Das
»Absolute« des phänomenologischen spekulativen Idealismus ist
somit »Sein« als »vorgängige, fundierende Überschüssigkeit«.
39 Die (transzendental-phänomenologische) Auflösung dieses berühmten
Streites könnte so verstanden werden, dass einerseits Schelling darin Recht
zu geben ist, dass allein das Herausstellen der operativen Funktion des Seins
in der transzendentalen Konstitution diese ihres transzendentalen Vermö-
gens überhaupt zu versichern vermag; dass andererseits aber auch Fichte
darin Recht gegeben werden muss, dass dieses Sein nicht ein solches äußerer
empirischer Bestimmungen sein darf, um hier nicht in eine realistische petitio
principii zu verfallen. Wenn Sein hier also nicht als bestimmtes Sein, sondern
rein als »Träger der Realität« aufgefasst wird, lassen sich beide Standpunkte
miteinander vereinbaren (auch wenn Schellings gegen Fichtes »Formalismus«
gerichtete Kritik dadurch in ihrem Grundansatz nicht aufgehoben wird).
40 M. Richir, »Le rien enroulé«, S. 9–11.
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Kapitel VI
Der Sinn der Realität
Problem im philosophischen Sinne ist kein Wis-
sensausstand in einer Erkenntnisbahn, sondern die
Bildung eines Wissensausstandes, […] Problem ist
hier die Fragwürdigkeit des Selbstverständlichen.1
In diesem letzten Kapitel soll die Frage nach Sinn und Status der
»Realität« in phänomenologischer Hinsicht noch einmal explizit
aufgeworfen und behandelt werden. Dabei wird dieses Problem
zunächst von einer anderen Perspektive als dem vorigen Ansatz aus
skizziert, um dann – auch wieder in Anknüpfung an die Ausführun-
gen des vorhergehenden Kapitels (insbesondere in der Bezugnahme
zum »Urphänomen der Sinnbildung«) – den Realitätsbegriff noch
stärker zu konturieren, als das in der Auseinandersetzung mit dem
»spekulativen Realismus« geleistet werden konnte.
Wenn von »Realität« die Rede ist, dann sind je zwei Grundvoraus-
setzungen mitgegeben, die scheinbar in einem paradoxen Verhältnis
zueinander stehen: Auf der einen Seite ist »Realität« immer für je-
manden. Bevor über die Möglichkeit von Realität »überhaupt« oder
»an sich« entschieden werden kann, ist zunächst offensichtlich, dass
Realität sich in eine wie auch immer geartete Hinsichtnahme ein-
schreibt. Auf der anderen Seite reduziert sich »Realität« aber auch
gerade nicht auf einen individuellen Standpunkt,2 sondern verweist
1 E. Fink, »Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls«, S. 181 f.
2 Günter Figal fasst das in den folgenden Worten treffend zusammen: »[…]
nicht durch die Bezugnahme auf etwas ist etwas real, sondern es zeigt sich
als real in der Bezugnahme. Zwar weiß man ohne die Möglichkeit, auf Reales
Bezug zu nehmen, nicht, was Reales ist. Aber die Realität des Realen kommt
nicht aus dem Bezug und nicht aus diesem Wissen«, Unscheinbarkeit, S. 1.
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164 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
je auf ein »Mehr« gegenüber dem jeweiligen »Sein-für …«, welches
»Mehr« die verschiedenen möglichen Zugangsweisen zum Realen
gleichsam versammelt und erst möglich macht, dass es Sein-für …
überhaupt gibt. Dabei soll freilich nicht eine mehr oder weniger
willkürliche Standpunktnahme (nach der zumeist nur das sei, was
sein solle) mit der hier gemeinten Perspektivität verwechselt wer-
den. Wir haben es in alledem vielmehr mit der Rätselhaftigkeit zu
tun, dass überhaupt etwas »erscheint«. Wie ist es möglich, dass Äu-
ßeres, zunächst Unbekanntes, mir gegeben, vertraut und ggf. auch
erkannt werden kann? Diesseits der Frage nach der inhaltlichen
»Sachhaltigkeit« von Realität – »Realität« stammt ja von »res« (lat.
»Sache«) her – stellt sich also die gewissermaßen vorgängige Frage,
wie überhaupt etwas erscheinend sich bekunden und zugänglich
werden kann, oder (um mit Fichte zu sprechen) was jedes »Ich« mit
jeglichem »Nicht-Ich« vermittelt.
Zwei Punkte sind hierbei ganz wesentlich. Einerseits soll die
Frage aufgeworfen werden, wie dieses »Zwischen« zwischen per-
spektivhaftem »Für-mich-Sein« und jenem »Mehr«, das Realität
nicht auf meine Wahrnehmungen, Gedanken, Einbildungen oder
Vorstellungen reduziert, genau aufgefasst werden kann. Es geht hier
also, das sei noch einmal betont, nicht um konkrete Bestimmungen,
die »Realität« mit Gehalt oder Inhalt versähen, sondern um das ur-
sprüngliche Wohin jedes meiner Bewusstseinsbezüge, noch bevor
etwas Bestimmtes anvisiert wurde und sogar noch bevor wir von
»Welt« (Heidegger), »Anderem« (Levinas) oder Ähnlichem sprechen
können. Andererseits bleibt dabei, wie gesagt, eine grundlegende
Hinsichtnahme maßgeblich. Aber auch diese findet zunächst auf
einer ganz ursprünglichen Ebene statt, noch vor jeder transparent
und bewusst vorliegenden Bezüglichkeit und auch vor jeder un-
bewussten Welthabe. Diese anonyme (präsubjektive) Dimension
wurde von Heidegger, wie das ja schon in Kapitel II ausführlich be-
handelt wurde, als »ontologische Beschaffenheit« unseres Daseins
bezeichnet. Damit ist gemeint, dass es in der Konstitution des Seins
des D aseins liegt, Welt je so oder so zu entwerfen und auszulegen.
Wie sind nun diese beiden Grundvoraussetzungen von »Realität«
und unserem »Verständnis« von ihr genau beschaffen, d. h. wie hän-
gen jenes »Zwischen« und diese Bestimmung, die jeden Weltentwurf
gleichsam »färbt«, zusammen? Um das näher zu beleuchten, soll in
einem ersten Schritt der phänomenologische Korrelationismus noch
einmal von einer anderen Perspektive aus beleuchtet werden.
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Der Sinn der Realität 165
Anstatt – wie zuvor – von einer Begriffsdefinition des »Korrelatio-
nismus« auszugehen, soll nun erst einmal ein Blick auf die historio-
graphische Entwicklung dieses Begriffs geworfen werden.
Philosophie- und in einem gewissen Sinn auch kulturgeschicht-
lich reicht die Idee des Korrelationismus bis ins späte 18. Jahrhun-
dert zurück. Prominent zum Ausdruck gebracht wurde sie bei Kant,
genauer: in seinem philosophischen Grundgestus, den er als »koper-
nikanische Revolution« bezeichnet hatte. Damit ist gemeint, dass
jede Erkenntnis – sei sie naturwissenschaftlich oder philosophisch –
sich nicht unbeteiligt und von außen auf eine für sich selbst be-
stehende Realität beziehen und somit das Erkenntnissubjekt dieser
gegenüber auch nicht als »durchsichtig« oder »äußerlich« ansehen
kann, sondern dass in der erkenntnismäßigen Bestimmung der ob-
jektiven Gegebenheit das erkennende Subjekt fundamental in Bezug
zu derselben steht und in diese sogar konstitutiv mit eingeht. Wenn-
gleich die Phänomenologie philosophiegeschichtlich den Anschluss
an den transzendentalphilosophischen Ansatz Kants herstellt, so
deutet sich bereits bei letzterem gerade in Bezug auf die Korrelatio-
nismus-Problematik ein Bruch an. Dieser lässt sich folgendermaßen
charakterisieren:
Kant hält jedem – wie er es nennt – »dogmatischen« Versuch, das
An-sich-Sein einer bewusstseins- und subjekttranszendenten Wirk-
lichkeit in seiner rationalen Gesetzmäßigkeit darzustellen, seinen
eigenen »transzendentalen« und »phänomenistischen« Ansatz ent-
gegen. Was ist hierunter zu verstehen? Dieser Ansatz geht auf Hu-
mes Induktionsproblem zurück, d. h. (um nach Husserls Auslegung
[siehe Kapitel IV] wieder auf die allgemein übliche Lesart zurückzu-
kommen) auf dessen Feststellung, dass es unmöglich ist, von empiri-
schen Einzelfällen ausgehend die Allgemeingültigkeit der sie bestim-
menden Gesetzmäßigkeit darzulegen. Konsequent gedacht, läuft das
auf ein Bestreiten jeglicher allgemeinen Erkenntnis(haftigkeit) und
damit Wissenschaft(lichkeit), d. h. auf einen radikalen Skeptizismus
hinaus. Der »transzendentale« und »phänomenistische« »Korrela-
tionismus« ist Kants Antwort auf den epistemischen Skeptizismus.
Wie fällt diese Antwort genau aus?
Wenn die Möglichkeit der Erkenntnis voraussetzt, dass das Er-
kennen (und das Erkannte) eine notwendige und allgemeingültige
Dimension haben muss, wenn zugleich aber Hume mit der Proble
matik der induktiven Schlüsse doch einen wunden Punkt der Er-
kenntnistheorie getroffen hat, da eben diese Notwendigkeit und
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166 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
Allgemeingültigkeit dem zu Erfahrenden nicht empirisch zu ent-
nehmen ist, dann kann die Erkenntnis laut Kant nur so »gerettet«
werden, dass diese Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit irgend-
wie dem Erkenntnissubjekt entnommen sein muss. Der Korrelatio-
nismus Kants ist insofern »transzendental«, als das Erkenntnissub-
jekt die Bedingungen der Möglichkeit dafür bereithält, dass in das
zu Erkennende Notwendigkeit und Allgemeinheit »hineingelegt«
wird. Und er ist insofern »phänomenistisch«, als das dergestalt Er-
kannte kein an sich Seiendes, sondern eine durch die unhintergeh-
bare Subjekt-Objekt-Korrelation gekennzeichnete »Erscheinung«
bzw. »Phänomen« (d. h. kein Schein!) ist.
Wie gesagt, kann nun aber im transzendentalen Ansatz Kants
durchaus ein Bruch mit der Korrelationismus-Problematik erkannt
werden. Dieser Bruch betrifft das, was man als die hieraus resul-
tierende »ontologische Prekarität der Realität« bezeichnen könnte.
Wenn der Erkenntnis nur so Rechnung getragen werden kann, dass
das Erkannte an subjektive Erkenntnisbedingungen gebunden ist
und wenn dadurch dem Sein an sich eine Absage erteilt werden muss,
dann bedeutet das, dass die »Objektivität« nur durch das Prisma
der Erkenntnis gesichert ist. Ob den Phänomenen aber auch außer
halb dieses erkenntnistheoretischen Rahmens ihr Sein so zukommt,
wie es erscheint, bleibt unausgemacht. Mit anderen Worten, Realität
wird in ihrem Sein prekär.3
Um die Problematik der »Realität« und den ursprünglichen Be-
zug zu jeglichem »Realen« noch genauer fassen zu können, ist es
darüber hinaus nicht weniger hilfreich, auch die Diskussion von
Heidegger und Descartes vor Augen zu haben. Von einer etwas an-
deren Perspektive ausgehend, gelangt man dann nämlich zu einem
ganz ähnlichen Ergebnis.
Auch in Descartes’ metaphysischen Besinnungen wurde die Rea-
litätsproblematik bereits ganz eng an dessen Auffassung der grund-
legenden Rolle der Erkenntnis für das Verständnis des Bezugs zum
»Realen« angebunden. Das Realitätsproblem stellte sich dabei für
ihn so dar, dass zunächst geklärt werden musste, wie sich absolute
Zweifellosigkeit bezüglich des welthaft Gegebenen begründen ließ.
Descartes’ – aus der phänomenologischen Perspektive – erstaunli-
cher Standpunkt besteht dabei darin, dass wahrnehmungsrelevante
3 Dies macht den Meillassoux’schen Ausdruck eines »schwachen Korrela-
tionismus« verständlich.
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Der Sinn der Realität 167
Aspekte ganz und gar der Bedingung unerschütterlicher Gewiss
heit untergeordnet werden: Wenn etwa eine einzige Sinnestäuschung
vorliegt (siehe das berühmte pyrrhonische Beispiel eines in das Meer
getauchten Ruders, das als gebrochen erscheint, obgleich es völlig
gerade ist), dann erweisen sich für Descartes die Sinne als ungeeig-
net für die Begründung einer möglichen universellen Bezugnahme
zur Welt. Um dann aber eine absolut stabile Gewissheit zu gewähr-
leisten, bindet Descartes den Realitätsbezug an die gnoseologische
Bedingung unzweifelhafter Erkenntnis an – nämlich an jenes Para-
digma der Selbstgewissheit des »Ich bin« in dem »Ich denke«, wel-
ches dann die Grundfolie für alle Erkenntnis überhaupt liefern soll.
So eröffnet sich das, was man den cartesianischen »Gnoseologis-
mus« nennen könnte. Ein wohlbegründeter, nicht bezweifelbarer
Weltbezug macht erkenntnismäßige (bzw. verstandesmäßige, also
»intellektuelle«) Gewissheit nötig. Zugleich wird »Realität« selbst
problematisch: In der Zurückwendung auf das Ego cogito stellt sich
dann nämlich umgekehrt die berühmte Frage nach der »Realität der
Außenwelt«. Anders ausgedrückt: Wenn ich mich erst einmal im
selbstgewissen »Ich denke« eingenistet habe, dann stellt sich die
Frage, wie es möglich ist, diesen gleichen Grad unerschütterlicher
Gewissheit auch für das »außerhalb« dieser selbstgewissen Bewusst-
seinssphäre Befindliche annehmen zu können. Descartes’ berühmte
Antwort besteht in der Anbindung dieser Gewissheit an die Wahr-
haftigkeit Gottes (veracitas Dei).
Dieser Bezug der Eröffnung der Welt zu jener Dimension un
erschütterlicher Gewissheit und die korrelative vermeintliche onto
logische Zweifelhaftigkeit der realen Außenwelt ist für Heidegger
nun aus mindestens drei Gründen zurückzuweisen. Zum einen ist
es äußerst fragwürdig, die Gegebenheit der Welt anzuzweifeln. Statt
den Standpunkt zu vertreten, dass auch nur die geringste Täuschung
(etwa durch die Sinne) die Gegebenheit der Welt in Frage stellt, ist es
vielmehr umgekehrt so, dass eine einzelne Täuschung überhaupt nur
auf der Grundlage der Weltgegebenheit möglich ist. Zum anderen
ist nicht von vornherein davon auszugehen, dass jeder Weltbezug
erkenntnismäßig ausgerichtet ist oder sein muss. Das liegt drittens
(eng zusammenhängend mit dem Vorigen) darin begründet, dass der
Gnoseologismus unter einer Voraussetzung steht, die ihrerseits den
Realitätsbegriff viel zu eng fasst. Diese Voraussetzung besteht darin,
dass die angemahnte gnoseologische Perspektive die traditionelle
Korrespondenz-Wahrheit impliziert. Wahr ist demnach ein Satz, ein
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168 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
Gedanke o. ä., wenn er sich an dem bemisst und bemessen lässt, was
tatsächlich »ist«. Diese Wahrheitsauffassung geht davon aus, dass
Realität bereits gegeben und vorausgesetzt wird – während es doch
der eingangs gestellten Frage gemäß gerade darum geht, sie zu er-
hellen und aufzuklären!
Man muss sich nun klarmachen, was daraus folgt. Einerseits soll
das Bewusstsein für die Notwendigkeit geschärft werden, unseren
unzweifelhaften, unmittelbaren Weltbezug aufzuklären; anderer-
seits wird jedem gnoseologisch-intellektualistischen Ansatz eine
Absage erteilt. Sehen wir nun zu, wie der phänomenologische Kor-
relationismus dem gerecht zu werden versucht.
Man kann vier Grundfiguren des Korrelationismus ausmachen, die
für alles Weitere maßgeblich geworden und geblieben sind:
Die erste Grundfigur kommt – laut der bekannten These Konrad
Cramers4 – in Kants Lehre des Urteils bzw. des Urteilens zum Aus-
druck. Sie besagt, dass wir es im Urteilen jeweils mit verschiedenen
Bestimmungen des »Setzens« zu tun haben: Setzen, Satz, Grundsatz,
Gesetz, die unterschiedliche, dabei aber inniglich zusammenhän-
gende Ausdrucksweisen der Tätigkeit des »Urteilens« ausmachen.
Der Zusammenhang wird dadurch hergestellt, dass – sofern Urtei-
len, wie Fichte in genau demselben Zusammenhang betont hat, »ein
Handeln des menschlichen Geistes«5 ist – kein Setzen überhaupt,
kein Zurückführen eines Satzes auf einen Grundsatz, kein Urtei-
len nach einem Gesetz, möglich ist ohne das Selbstbewusstsein, das,
als »höchster Punkt der Transzendentalphilosophie«, die Erfahrung
und Erkenntnis überhaupt letztursprünglich möglich macht. Wenn
der »Korrelationismus« also unumgehbar ist, dann liegt das – dieser
ersten Grundfigur zufolge – eben im transzendentalen Verständnis
des Wesens des Urteilens und in seiner Anbindung an die transzen-
dentale Apperzeption begründet.
Die zweite Grundfigur des Korrelationismus wurde von Fichte
herausgearbeitet und betrifft seine Kritik am Verständnis des Seins
qua »An-sich-Sein« und die hieraus folgende (in seinen Augen schon
bei Kant angelegte) Nichtreduzierbarkeit der Sein-Denken-Korrela-
4 Konrad Cramer: »Kants ›Ich denke‹ und Fichtes ›Ich bin‹«, Internatio
nales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Berlin, 2003, S. 57–92.
5 J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I/2,
S. 258.
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Der Sinn der Realität 169
tion. In einem am Anfang des ersten Kapitels bereits zitierten Aus-
zug aus der Wissenschaftslehre von 1804/II6 kündigt Fichte (zu-
mindest implizit) an, dass das Wesen der Transzendentalphiloso-
phie in der zu erweisenden Wohlbegründetheit liegt, Seiendes sei
als korrelativ zu Denken und Bewusstsein aufzufassen; die hierfür
anzuführenden Gründe fundieren diese Korrelation sowohl aus der
Perspektive der Erkenntnis als auch des Seins – das ist jedenfalls das
Programm, dem sich Fichte in jener Fassung der Wissenschaftslehre
verschrieben hat und auf das hier nicht näher eingegangen werden
kann.
Der genuin phänomenologische Ansatz besteht dann darin, den
»Korrelationismus« aus jeglichem »logischen« Rahmen (sei dieser
nun wie bei Kant transzendental deduzierend oder wie bei Fichte
synthetisch genetisierend) herauszuführen. Bei Husserl geschieht
das in der Form einer bewusstseinstheoretischen intentionalen Ana-
lyse, die sich insbesondere (nämlich in der Krisis-Schrift) als gene-
tische Aufklärung der Vorgegebenheit der Welt, wodurch sich der
originäre intentionale Bezug darstellt, auffassen lässt (dritte Grund-
figur), und bei Heidegger durch eine phänomenologisch-ontologi-
sche Analytik des Daseins (vierte Grundfigur des Korrelationismus).
Dabei läuft Husserls transzendental-phänomenologischer Ansatz
darauf hinaus – wie wiederum in der Krisis-Schrift, der wir uns also
noch einmal zuwenden müssen, deutlich wird –, dem Begriff der
Sinnbildung höchste Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Hierfür führt Husserl zwei wesentliche Begriffe ein – den der
»Konstitution« und den der »Genese« –, die er eigens definiert. Der
Konstitutionsbegriff soll der Art und Weise Rechnung tragen, wie
sich (gegenständliche) Einheit in und durch die vielfältige Mannig-
faltigkeit von (bewusstseinsmäßigen) Erscheinungsweisen bildet.
Hierbei haben wir es mit einer strikten Korrelation von Noesis und
Noema, von intentionalen Akten und einheitlichem Gegenstands-
sinn zu tun. Das kann nun wiederum auf zweierlei Art aufgefasst
werden. Man kann einerseits den Gegenstand als »Leitfaden« neh-
men und zusehen, wie er sich in den entsprechenden Bewusstseins-
akten konstituiert. Dieses Verfahren kennzeichnet die sogenannte
»statische Phänomenologie«. Man kann andererseits aber auch der
transzendentalphänomenologischen Genese dieser Konstitution
nachgehen – und damit ist dann sowohl die Genese seitens des Ob-
6 Die Wissenschaftslehre 18042, GA II, 8, S. 13 f.
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170 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
jekts (in den entsprechenden »Sedimentationen«) als auch jene des
egologischen Bewusstseins-Pols (mit dessen ihm eigenen »Habitu-
alitäten«) selbst gemeint. Wie ist hier aber der (eben die »genetische
Phänomenologie« charakterisierende) Begriff der »Genese« genau
zu verstehen?
Das führt uns zu einer der großen systematischen Schwierigkei-
ten – aber auch Originalitäten – der Husserl’schen Phänomenologie.
Der Genese-Begriff hält sich nämlich in der konstruktiven Spannung
zwischen Kants Auffassung des Transzendentalen und jener Stra-
tegie von »Aufweisung« und »Bezeugung«, die noch die statische
Phänomenologie ausmachte. Mit dem Begriff der »Genese« wird
daher wiederum die transzendentalphilosophische Perspektive der
Phänomenologie (die Husserl ja selbst als »transzendentalen Idea-
lismus« bezeichnet) deutlich. Schauen wir uns zunächst die beiden
Pole dieser »Spannung« näher an.
Bei Kant bestand die revolutionäre Neuerung seines Ansatzes
darin, dass er für die Erkenntnislegitimation ein argumentatives Ver-
fahren ins Spiel bringt, das dann später (allerdings nicht von ihm
selbst) »transzendentale Argumentation« genannt wurde. Erkennt-
nis wird dabei so legitimiert, dass aufgewiesen wird, worin ihre Be
dingungen der Möglichkeit bestehen. Das setzt sich insofern voll
und ganz von einem »psychologisch-genetischen« Verfahren ab, als
hier keine auf real erfahrbaren Bausteinen (Empfindungen, Wahr-
nehmungen usw.) beruhende Entwicklungen nachgezeichnet wer-
den, sondern Erkenntnis auf der Grundlage dessen, was notwendig
gedacht werden muss, gerechtfertigt wird. Husserls Ansatz in seiner
»statischen Phänomenologie« besteht darin, die psychologisch ge-
reinigten, also rein eidetischen subjektiven Bewusstseinsleistungen
zu beschreiben, dank derer sich objektive Erkenntnisse (aber ge-
nauso auch nicht erkenntnismäßige Bewusstseinsphänomene) auf-
weisen lassen und von sich selbst her bezeugen. Durch diese eideti-
sche »Reinigung« der genetischen Leistungen setzt sich Husserl von
vornherein ganz klar vom Empirismus ab. Dieses sogenannte »kon-
stitutive« Verfahren besteht dabei – nachdem sich der Verfasser der
Philosophie der Arithmetik7 in den 1890er Jahren von Frege noch
den Vorwurf des Psychologismus anhören musste – in einer Zwitter
lösung zwischen seinem eigenen ersten genetischen Ansatz (wobei
7 E. Husserl, Philosophie der Arithmetik. Psychologische und logische
Untersuchungen, Halle, Pfeffer, 1891.
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Der Sinn der Realität 171
»Genese« freilich noch die traditionelle Bedeutung hatte) und jenem
Freges (der in den berühmten Artikeln von 1891–1892 niedergelegt
ist). Erst ab ca. 1917 kommt ein neuer Begriff der »Genese« und der
»genetischen Phänomenologie« ins Spiel, der in Husserls Augen im
Nachhinein seinen Untersuchungen in seinem ersten Werk von 1891
ein gewisses Recht zuschreiben soll, in Wirklichkeit aber eine gänz-
lich neue Ausarbeitung darstellt.
Der die »genetische Phänomenologie« eigens kennzeichnende
»Genese«-Begriff liefert nämlich zugleich (auf Husserl selbst bezo-
gen) eine Genese der »Konstitution«8 (was also den statischen An-
satz überschreitet) und (auf Kant bezogen) eine Genese des »Tran-
szendentalen«. Im Gegensatz zu Fichte und Schelling besteht aber
letztere nicht in einer transzendental-logischen Deduktion des Tran-
szendentalen, sondern in dem Versuch, Bedingung (in ihrer erkennt-
nislegitimierenden Leistung) und Geschichte (in ihrer ursprünglich
zeitlichen Dimension) zusammenzudenken: »Indem die Phänome-
nologie der Genesis dem ursprünglichen Werden im Zeitstrom, das
selbst ein ursprünglich konstituierendes Werden ist, und den gene-
tisch fungierenden sogenannten ›Motivationen‹ nachgeht, zeigt sie,
wie Bewusstsein aus Bewusstsein wird, wie dabei im Werden sich
immerfort auch konstitutive Leistung vollzieht.«9 Was dabei gene-
tisiert wird, ist sowohl die Geschichte des Objektes als Objektes
einer möglichen Erkenntnis als auch jene des subjektiv-ichlichen
Korrelats desselben.
Dieses Verfahren ist dem orthodoxen Kantianer genauso fremd
wie womöglich dem heutigen Argumentations-Theoretiker. Das
liegt daran, dass ein tatsächliches Einlassen in die Phänomenologie
zur Voraussetzung hat, die Weise einer ursprünglichen Erfahrbarkeit
des Transzendentalen (Husserl spricht in diesem Zusammenhang,
wie bereits erwähnt, von einer »transzendentalen Erfahrung«) als
notwendig anzusehen und zu begreifen. Das ist deshalb kein »Oxy-
moron« – und diesbezüglich ist bereits den nachkantischen Ansät-
zen bei Maimon, Fichte usw. Recht zu geben –, weil der erkennt-
nistheoretische Anspruch, der sich in der inhaltlichen konkreten
Festschreibung der transzendentalen Erkenntnisbedingungen (seien
sie ästhetisch oder logisch) ausdrückt, eine Form der Erfahrung nö-
8 Husserliana XIV, S. 41 (Juni 1921).
9 Ebd.
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172 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
tig macht, welche die Phänomenologie in ihrer ganzen Komplexität
und Breite zu untersuchen sich vornimmt.
Um nun zu Husserls entscheidendem Verständnis von Natur und
Wesen unseres ursprünglichen Weltbezugs zu gelangen, ist es nötig,
auf eine bedeutsame Stelle in seinem Spätwerk hinzuweisen: In den
Cartesianischen Meditationen wird betont, dass Phänomenologie
als »echte Erkenntnistheorie« ausschließlich mit »der systemati-
schen Aufklärung der Erkenntnisleistung« zu tun hat, »in der [die
Dinge] durch und durch verständlich werden müssen als intenti
onale Leistung. Eben damit aber«, führt Husserl dann weiter aus,
»wird jede Art Seiendes, reales und ideales, verständlich als eben
in dieser Leistung konstituiertes G ebilde der transzendentalen
Subjektivität.«10 Von den Cartesianischen Meditationen bis hin zu
seinen letzten Schriften und Manuskripten wird Husserl immer öf-
ter und vertiefter erweisen, dass und inwiefern transzendentale Ge-
nese eine bildende (nämlich sinnbildende) Leistung darstellt. Damit
kommen wir noch einmal zum zentralen Begriff der »Sinnbildung«.
Diese im phänomenologischen »Leisten« und »Fungieren« sich
grundsätzlich bekundende »Sinnbildung« verweist zunächst auf
zwei semantisch zusammenhängende Grundaspekte: nämlich auf
das »bildend-erzeugende« Moment (im Sinne der gerade ausein-
andergelegten »Genese«) und auf die »Einbildung« (bzw. »Einbil-
dungskraft«) – dem wird sich dann, wie gleich ausführlicher gezeigt
wird, noch ein dritter Grundaspekt hinzugesellen (nämlich der ei-
ner genuinen phänomenologischen »Bildlichkeit« qua bildend-sche-
matisierender Prozessualität). Bei Husserl sind diese ersten beiden
Grundaspekte schon angelegt – man kann hierzu einerseits auf den
Band XXIII der Husserliana und andererseits auf seine Ausarbei-
tungen eben einer »genetischen Phänomenologie« etwa ab dem Jahre
1917 verweisen. Weiterentwickelt und vertieft wurde dies dann bei
dem bedeutendsten französischsprachigen Phänomenologen seiner
Generation – nämlich Marc Richir. Hierzu nun einige ausführlichere
und weiterführende Anmerkungen.
Richirs Grundabsicht in seinem umfangreichen Werk besteht in
der Verwirklichung einer »Neugründung« der Phänomenologie.
Diese Neugründung sieht Richir deshalb als notwendig an, weil die
Phänomenologie sich einerseits wichtige Einsichten (etwa Derridas)
zu eigen gemacht hat – nämlich jene in die Unmöglichkeit einer Fun
10 Husserliana I, S. 118 (hervorgehoben v. Vf.).
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Der Sinn der Realität 173
dierung, in die Absage an das System und in die Ablehnung jeglicher
Zurückführung auf ein konstituierendes Subjekt; und weil sie ande-
rerseits aber auch ein Ungenügen darin sieht, die unumgänglich tran-
szendentale Ausrichtung einer neuen »ersten Philosophie« zuguns-
ten der radikalen »Dekonstruktion« völlig aufzugeben. Eine solche
Neufundierung muss der Spannung von Verständnislegitimation
und Fundierungsunmöglichkeit Rechnung tragen. Ich gebrauche
diesen unrichir’schen Begriff einer »Verständnislegitimation« (im
Gegensatz zur »Erkenntnislegitimation« – Richir spricht in diesem
Zusammenhang an einer Stelle von der die heutige phänomenolo-
gische Forschung kennzeichnenden »Befreiung der Aufgaben der
Erkenntnis«11), um darauf zu verweisen, dass es Richir um das »Ver-
nehmen«, das »Spüren«, das Rechnung-Tragen, kurz: um das Ver-
ständlich-Machen der Art, wie der Sinn sich macht und bildet, geht.12
Anders ausgedrückt, diese Neugründung der Phänomenologie muss
sich in der Spannung zwischen Absage an die Priorität der Objekti-
vation und Aufrechterhaltung der Aufklärung von Sinnbildung hal-
ten. Richir hat ziemlich lange den »Ort« oder die »Stätte« gesucht,
wo genau dies geleistet werden kann. Ganz am Ende des letzten
Jahrhunderts stieß er dabei auf Husserls Analysen der »Phantasie«
und »Einbildungskraft«. Dies verlieh seinen vorhergehenden Ver-
suchen jenen phänomenologischen »Boden« bzw. jenes »Element«
oder »Milieu« des »Schwebens« – um es in den Worten Fichtes zu
sagen –, welches seiner von ihm selbst so bezeichneten »instabilen«
»Mathesis der Instabilitäten« (hierauf zielt seine Neugründung der
Phänomenologie ab) den angemessenen phänomenologischen Rah-
men bietet. Was versteht Richir nun aber genau unter »Phantasie«?
Eine der Hauptthesen, die sich in Richirs Werk herauskristal-
lisieren, besagt, dass der ursprüngliche Bezug zum Seienden und
Erscheinenden nicht durch die Wahrnehmung, sondern durch die
Phantasie – als freie Modalität des Einbildens – geleistet wird. Zwei
11 M. Richir, Phénoménologie et institution symbolique, Grenoble, J. Millon,
1987, S. 11 f.
12 In einem bedeutsamen Passus seines Kommentars zu Husserls berühmter
Beilage III in Husserliana VI (»Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie
als intentionalhistorisches Problem« (1936)) denkt Richir in genau demsel-
ben Zusammenhang die Bedeutungen von »Erfindung« und »Entdeckung«
zusammen und erläutert so die Art, wie er selbst den Begriff der »Genese«
transzendentalphänomenologisch auffasst (siehe La crise du sens et la phé
noménologie, Grenoble, J. Millon, 1990, S. 276).
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174 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
Punkte stehen dabei wesentlich im Vordergrund: Zum einen wird
die Phantasie nicht als ein psychisches Vermögen des Erkenntnis-
subjekts aufgefasst (was aufs Neue einer Zurückführung auf das
Erkenntnissubjekt das Wort reden würde), sondern eben als eine
Dimension der Sinnbildung, von der dann erst im Nachhinein gesagt
werden kann, dass dieser Prozess »mir«, dem »Selbst«, widerfährt;
zum anderen betrifft diese These unmittelbar den Status der Reali-
tät des Gegebenen bzw. Erscheinenden: »Objektiv« Reales, in der
Wahrnehmung sich Gebendes, ist das Ergebnis dessen, was Richir
als eine »architektonische Transposition« des phantasiemäßig »Per-
zipierten« bezeichnet; d. h. »bevor« es überhaupt zur Fixierung in
einer objektivierenden Wahrnehmung kommen kann, muss laut
Richirs Auffassung das Augenmerk zunächst auf das »Schweben«,
»Blinken« und »Schwingen« der proteusartigen (also der sich ver-
flüchtigenden, multiformen, silhouettenhaften) Phantasie-»Vorstel
lungen« gerichtet werden, in denen die affektiven und sich schema-
tisierenden Abläufe der Sinnbildung ursprünglich gleichsam aufblit-
zen. Für Richir muss es in der Phänomenologie zwar weiterhin um
»Genese« gehen – diese darf aber nicht in die tautologische Struktur
einer konstituierenden Subjektivität zurückverlegt, sondern muss
eben phantasiemäßig aufgefasst werden, weil seiner Ansicht nach
nur so dem überraschenden, nicht antizipierbaren Moment der Sinn-
bildung Rechnung getragen werden kann.
Nach diesem Versuch einer Klarstellung der Gründe, warum der
»Einbildungskraft« und »Phantasie« in der zeitgenössischen phäno-
menologischen Forschung aufs Neue13 besondere Aufmerksamkeit
zuteilwurde, soll nun noch ein Schritt weiter gegangen werden und
auch die genuin »bildende« – im Sinne von: transzendental-phäno
menologische »Bildlichkeit« stiftende und »bildenden Vollzug« aus-
13 Bereits 1936 (L’imagination) sowie 1940 (L’imaginaire) hatte sich Sartre
hierfür in einer phänomenologischen Perspektive interessiert. In der Folge
hatte dann Merleau-Ponty (in Das Sichtbare und das Unsichtbare und ins-
besondere in Das Auge und der Geist) die »imaginäre Textur des Realen«
hervorgehoben. Jüngst bestätigt sich das dann auch bei Nicolas Grimaldi,
wenn er etwa schreibt: »Die Wahrnehmung ist bloß ein Absatz des Imaginä-
ren«, N. Grimaldi, Traité de la banalité, Paris, puf, 2005, S. 177. Zur Rolle
der Imagination in der Phänomenologie siehe darüber hinaus Rudolf Bernet,
Conscience et existence: perspectives phénoménologiques, Paris, puf, 2004.
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Der Sinn der Realität 175
machende14 – Dimension in ihrer Bedeutung hervorgehoben werden.
So kommen wir zum dritten oben angesprochenen Grundaspekt
der Sinnbildung, der Husserls Bestimmungen des transzendentalen
»Gebildes« noch tiefer fassen und radikalisieren soll. Damit soll ei-
nerseits die »Phänomenalität des Phänomens« (also das, was ein Phä-
nomen überhaupt zu einem Phänomen macht) begründet und an-
dererseits der Status der Realität in der phänomenologischen Sicht-
weise weiter erhellt werden – wobei es insbesondere darum geht zu
erläutern, was die Phänomenologie zur Aufklärung der »reflexiven«
Struktur der Realität (wie sie schon bei Fichte und Hegel aufschien)
beizutragen vermag, da genau dies den transzendental-phänomeno-
logischen Bildbegriff bzw. seine korrelative bildende Prozessualität
verständlich zu machen gestattet.
Zwei Gesichtspunkte waren bis hierher betont worden. Der Rea
lität sollte Rechnung getragen werden, ohne in das Cartesianische
Paradigma des Gnoseologismus zu verfallen. Und die Erkenntnis-
begründung sollte einer anderen Verständnisform Platz machen,
um auch auf diesem Wege einer einseitigen erkenntnistheoretischen
Herangehensweise zu entgehen. Nun wird deutlich, wie beides zu-
sammenläuft. Es fällt bei Richir auf (aber Ähnliches gilt zum Beispiel
auch für Levinas), dass die Absage an einen erkenntnislegitimieren-
den Ansatz nicht bedeutet, nicht doch nach letzten Gründen und
Ursprüngen zu suchen – aber, wie gesagt, jenseits einer fundierenden
und lediglich erkenntnisbegründenden Perspektive. Im Folgenden
soll nun versucht werden, genau diese gewissermaßen paradoxe Si-
tuation für die Phänomenologie fruchtbar zu machen. Meine Ab-
sicht zielt auf das ab, was ich das »Urphänomen der Sinnbildung15«
nennen möchte – sofern dieses jene transzendentale Verständlich-
machung der Erkenntnis liefern soll, die von Husserl in der Krisis-
Schrift ausgerufen und gefordert wurde.
Der Sinn des »Urphänomens der Sinnbildung« besteht somit ge-
nau darin, die transzendental verständlich zu machende Erkennt-
nis zu einem genuinen Phänomen der Phänomenologie zu machen.
Dieses bringt – das wird durch die besagte »transzendentale Induk-
14 »Bild« kann hier also nicht von einem jeweiligen bestimmten »bildenden
Prozess« abgelöst werden.
15 Ich nehme hier das, was im vorigen Kapitel in der dritten Spalte der tran-
szendentalen Matrix des Korrelationismus enthalten war, noch einmal neu
auf.
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176 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
tion« deutlich – einen dreifachen »Bild«-Begriff ins Spiel.16 Wes-
halb ist hier die Rede von »Bild«? Aufgrund der zweifachen – hier
vorzustellenden und zu verteidigenden – These, dass erstens Rea-
lität = Bild ist und zweitens das auf seine spekulativen Grundlagen
(und das heißt: auf seine intrinsisch reflexive Struktur) hin befragte
Phänomen ebenfalls = Bild ist. Das gilt nicht gleich für jedes mög-
liche Phänomen, sondern für jene Dimension desselben, die allem
Verständnis von »Phänomen« und »Phänomenalität« zugrundeliegt.
Dieses urtümliche Phänomen macht genau jenes »Urphänomen der
Sinnbildung« aus. Letzteres bringt nicht nur »deskriptive«, sondern
auch »konstruktive« Momente mit ins Spiel. »Konstruktion« – und
das ist in diesem Zusammenhang ein weiterer zentraler Aspekt – be-
deutet in der Phänomenologie, sofern sie (wie schon mehrfach be-
tont) einen Teil der phänomenologischen Methode ausmacht, nicht
eine »metaphysische« oder »hypothetisch-deduktive« Konstruktion,
sondern eine Art der Genetisierung, die das zu Konstruierende so
entwirft, dass sich hierdurch die Sinnbildung selbst allererst voll-
zieht und in ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit (welche ganz allein von
den jeweiligen Phänomenen abhängt) offenbart. Die phänomenolo-
gische Konstruktion setzt also das zu Konstruierende nicht voraus
und verfolgt auch keinen teleologischen Ansatz, der seinen Zweck-
oder Zielbegriff schon von vornherein festgesetzt hätte, sondern sie
nimmt dieses horizonthaft in einen »Vorgriff«, der es dann enthüllt
und entbirgt. Sehen wir nun also noch einmal zu, was eine »kon
struktive Phänomenologie« bezüglich der verschiedenartigen bild-
haften Dimension des »Urphänomens der Sinnbildung« aufzuwei-
sen vermag. Hierfür sind drei Schritte vonnöten, die jeweils einen
spezifischen Bildaspekt, bzw. eine bildende Prozessualität innerhalb
desselben hervortreten lassen.
Das »Urphänomen der Sinnbildung« stellt die verschiedenen in-
haltlichen Aspekte der phänomenologischen Reflexion auf die Re-
flexion dar. Wie vollzieht sich diese Reflexion? Nicht durch ein vom
Phänomenologen statuiertes, frei anwendbares Verfahren. Während
die transzendentale Reduktion von der vom Phänomenologen zu-
mindest implizit vollzogenen Epoché abhängt und einer Re-kon-
16 Im Folgenden entwickle ich eine vertiefte Überarbeitung von Überlegun-
gen, die ich bereits in anderer Form in Wirklichkeitsbilder, Tübingen, Mohr
Siebeck, 2015, S. 43 ff., im Rahmen der Analyse des (dort noch so bezeich-
neten) »Urphänomens« der Erkenntnislegitimation ausgeführt habe.
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Der Sinn der Realität 177
duktion auf die transzendentale Subjektivität entspricht, macht die
notwendige Reflexion auf die phänomenologische Methode selbst
die verinnerlichende Hervorkehrung der reflexionsimmanenten Ge-
setzlichkeiten aus. Dem ist, wie bereits mehrfach erwähnt, der Be-
griff einer »transzendentalen Induktion« angemessen, die natürlich
nicht mit dem induktiven Verfahren, das von empirisch Gegebe-
nem auf Allgemeines zu schließen meint, verwechselt werden darf.
Es handelt sich dabei weder um eine irgendwie radikalisierte Epo-
ché, noch um eine Reduktion zweiten Grades oder zweiter P otenz,
sondern um jene Ein-führung in die Sphäre präimmanenter, gene-
rativer, konstruktiver Anschaulichkeiten, welche die selbstreflexive
Verfahrensweise der sowohl gnoseologischen als auch ontologi-
schen Dimension innerhalb des »Urphänomens der Sinnbildung«
verständlich macht.
Die hierzu erforderte phänomenologische Konstruktion des
»Urphänomens der Sinnbildung« entwirft in einem ersten Schritt
einen zu Anfang noch völlig leeren Begriff der angestrebten Er-
kenntnisaufklärung. Das heißt insbesondere, dass von dieser zu-
nächst nur ein reines Abbild (= »erstes Bild« des Urphänomens)
des zu Entwerfenden vorliegt.
In einem zweiten Moment dieser phänomenologischen Konstruk
tion des Urphänomens der phänomenologischen Erkenntnisart voll-
zieht sich dann eine Selbstreflexion des Entworfenen – welche die
noch völlig leere »bloße Erscheinung« (jenes »Abbild«) »inhaltlich«,
und dabei notwendigerweise phänomenologisch ausweisbar, »erfül-
len« wird. Durch diese Selbstreflexion wird deutlich, wie im vori
gen Kapitel bereits erläutert, dass das Prinzip der Erkenntnisaufklä-
rung zunächst nur begrifflich und abbildmäßig dargestellt wurde.
Das Aufscheinen des Prinzips macht daher eine Selbstvernichtung
des Abbildes nötig. Und dadurch ergibt sich in diesem selbstreflexi-
ven Verfahren ein neuer bildender Prozess (bzw. das »zweite Bild«
des Urphänomens): ein entwerfendes Vernichten bzw. vernichten-
des Entwerfen – eben die »Plastizität«. Diese phänomenologische
»Konstruktion« ist insbesondere dadurch ausgezeichnet, dass das
in ihr Konstruierte nicht in einem ihm Zugrundeliegenden fundiert
ist, sondern letzteres selbst erst durch die Konstruktion zugänglich
wird (und »Realität« wird sich dann als nichts Anderes erweisen als
die auf diesem Wege zu leistende Bewusstwerdung eines entspre-
chenden neuen Seinsbegriffs).
Der phänomenologisch konstruierende Nachvollzug der Ur-
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178 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
quelle der Erkenntnisaufklärung ist aber noch keineswegs abge-
schlossen. Der genuine »Gehalt« des Konstruierten ließ sich bis hier-
her, so könnte man sagen, nur negativ als ein »Ausbilden« auffassen.
Die nun zu vollziehende verinnerlichende Selbstreflexion offenbart
das originäre Reflexionsgesetz. Sie impliziert zugleich – und das ist
für die gesamte Seins- bzw. Realitätsproblematik entscheidend – zu-
sammen mit der Verstehensermöglichung eine auf diese selbst bezo-
gene Seinsermöglichung, die sich dadurch als Realitätsträger erweist.
Gehen wir zunächst auf jenen Begriff der »Verstehensermögli-
chung« (innerhalb der »transzendentalen Reflexibilität«) näher ein,
wodurch sich die Bedeutung dieses Reflexionsgesetzes bestimmen
lässt. Durch das »dritte Bild« des Urphänomens wird ein ganz neues
Feld eröffnet: ein Feld des nicht je schon objektiv Gegebenen, son-
dern des reinen Ermöglichens selbst – also des phänomenologischen
Wissens als solchem. Damit nämlich die Konstruktion nicht beim
»zweiten Bild«, also bei der bloßen Vernichtung des »ersten Bildes«
der phänomenologischen Konstruktion des »Urphänomens«, stehen
bleibt oder gar abbricht, macht dieses »dritte Bild« deutlich, dass
jedes transzendentale Bedingungsverhältnis seine eigene ermögli
chende Verdoppelung impliziert – und genau darin besteht eben
das transzendentale Reflexionsgesetz. In der Ermöglichung wird
die Doppelbewegung von Selbstvernichtung und Erzeugung ihrer-
seits reflektiert (allerdings auf eine neuartige Weise, weil es sich eben
um eine verinnerlichende »Reflexion« und nicht um einen reflexi-
ven Rückgang handelt). So tritt das Urphänomen der Sinnbildung
nicht in eine bloße, formale Zirkelhaftigkeit ein, sondern erhält in
einer »generativen Zirkelhaftigkeit« sozusagen seine eigene (frei
lich »präphänomenale«) »Dichte« und weist sich dadurch »phäno
menologisch« aus.
Und damit können wir jetzt auch (noch einmal) zum Begriff der
»Seinsermöglichung« (innerhalb der »transzendierenden Reflexibi-
lität«) kommen. Wie kann sich aus dem transzendentalen Reflexi-
onsgesetz – also der »Reflexibilität« als ermöglichendem Möglich-
Machen – ein Seinsbegriff ergeben? Und wie kann dieser dazu noch
als »Träger der Realität« fungieren? Das Ermöglichen kann seiner
transzendentalen Funktion nur dann gerecht werden, wenn die Er-
kenntnisermöglichung auch eine Seinsermöglichung ist.17 Das be-
deutet aber nicht, dass das hier veranschlagte »Sein« nur jenes der
17 Diese Perspektive steht offensichtlich im Gegensatz zu den Ansätzen ei-
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Der Sinn der Realität 179
Erkenntnis selbst wäre. Es kommt vielmehr im Ermöglichen, das,
wie gesagt, diesen Ermöglichungscharakter nur haben kann, wenn
es sich auch seinsmäßig ausweist, zu einem ontologischen Über
schuss, der die Erkenntnis- und Seinsgrundlage für die Realität lie-
fert. Oder, anders ausgedrückt, die Reflexibilität ist eben – erkennt-
nisbezogen – transzendental, und – seinsbezogen – transzendierend.
Das macht also verständlich, wie Sein als »Reflexion der Reflexion«
aufzufassen ist.
Die diese phänomenologische Konstruktion vollendende, ver-
innerlichende Reflexion, die, wie gesagt, auf eine neuartige »Refle-
xion« verweist, da sie nicht – wie sonst üblich – im Reflexionsakt auf
ein dem Reflektierenden unvermeidlich Äußerliches zurückkommt,
macht also den letzten Gesichtspunkt des »Urphänomens der Sinn-
bildung« aus. Deswegen wäre hier wohl der Begriff des »Einbil
dens« der geeignetste – was zugleich darauf verweist, dass hier – in
Entsprechung des oben Erarbeiteten – die (transzendentale) Einbil-
dungskraft vorrangig ist. Das »ein-« in »ein-bilden« drückt nämlich
implizit eine Innerlichkeit aus. Und dieses Einbilden ist nun nichts
Anderes als ein sich als sich reflektierendes Reflektieren.
Fassen wir noch einmal diese phänomenologische Konstruktion
des Urphänomens der Sinnbildung prägnant zusammen. Gefordert
wird ein Aufklärungsprinzip des phänomenologischen Wissens
anspruchs, das nicht faktisch hingestellt werden darf (wie das etwa
mit der anschaulichen Evidenz der Fall ist), sondern sich selbst phä-
nomenologisch ausweisen muss – und zwar in einer fortwährenden,
nach und nach verinnerlichenden Reflexion. Dieses Prinzip stellt
sich zunächst in einem lediglich abbildenden »Begriff« dar – ohne
dass man dabei gleich wüsste, was er eigens enthielte. Auf diesen
reflektieren wir nun nicht äußerlich, sondern lassen ihn sich vor
unseren Augen gleichsam selbst reflektieren. In dieser ersten Selbst
reflexion begreift sich das begriffliche Abbild als bloßes Abbild –
was dessen Vernichten als Abbild nötig macht. Was bleibt übrig?
Nicht nichts, sondern die eben beschriebene plastische Doppeltätig-
keit eines Entwerfens und Vernichtens. In einer letzten Selbstrefle
xion, die nun auf keine auf einen Gegenstand gerichtete Tätigkeit
(sei diese auch – negativ – eine vernichtende, die ja doch noch, wie
schon gesagt, auf das zu Vernichtende bezogen bleibt), sondern auf
nes Jacques Lacan oder Jacques Derrida, die beide auf unterschiedliche Weise
Reales als »Unmögliches« auffassen.
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180 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
das bloße rein innere Reflektieren selbst geht, begreift sich dieses Re-
flektieren als Reflektieren. Die Ermöglichung – in der die Doppel-
bewegung reflektiert wird – lässt hierdurch das transzendentale Re-
flexionsgesetz hervortreten. Zugleich, und in dieser scheinbar para
doxen Situation besteht die größte zu bewältigende Schwierigkeit,
bricht durch das präzise und energische Begreifen Sein auf – nicht
Sein in seiner differenzierten Bestimmtheit, sondern jenes, das die-
sem »energischen Begreifen« seine ontologische Grundlage, seinen
Trägerboden, liefert.
Worin bekundet sich schließlich die Begründung der Phänomena-
lität als Phänomenalität (also die anfangs angesprochene Möglichkeit
von Erscheinung)? Die Phänomenalisierung wird missverstanden,
wenn sie als phänomenale Äußerung eines zunächst nicht phäno-
menal Gegebenen aufgefasst wird. Sie ist insofern keine Äußerung,
als sie vielmehr – um Heideggers Terminologie aus den Beiträgen
zur Philosophie und dem Kunstwerksaufsatz zu gebrauchen – ein
»ausstehendes Innestehen« bzw. eine »ausstehende Inständigkeit«
ausdrückt. Das heißt, dass die Frage nicht die ist, wie sich ein Sein
(an sich) phänomenal äußert; und genauso wenig, wie ein auf eine
andere Weise irgendwie geartetes »Innen« (Bewusstsein, Vorstellung
o. ä.) zu einem »Außen« (Außenwelt, äußere Realität usw.) gelan-
gen könnte. Mit dem Aufbrechen der präimmanenten Sphäre und
der transzendental induktiv vollzogenen Einführung in die selbst-
reflexiven bildenden Prozesse der Sinnbildung wird die Paradoxie
von dualistischem »Außen« und »Innen«, das auf eine andere Weise
dem Dualismus von gnoseologischer und ontologischer Fragestel-
lung entspricht, sozusagen »überwunden«. Das geschieht nicht im
Zeichen der Hegel’schen dialektischen Überwindung, sondern der
Heidegger’schen Verwindung, sofern diese die Perspektive einer
Neugründung der Phänomenologie ankündigt.
Grundsätzlich lässt sich Folgendes für den phänomenologischen
Realitätsbegriff festhalten: Der – den eingangs und vorläufig charak-
terisierten Realitätsbegriff ausmachenden – Gegenüberstellung von
»Für-mich-Sein« und »Überschüssigkeit« des Für-mich-Seins liegt
ein transzendental-phänomenologisches, anonymes Forschungs-
feld (qua operatives Feld der Sinnbildung und aller Sinngebilde)
zugrunde. Die Sinnbildung ist ihrerseits durch »Genese«, »Ein-
bildung« und »Bildlichkeit« (bzw. bildende Prozessualität) ausge-
zeichnet, als ein Strukturganzes, welches das generative, die »tran-
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Der Sinn der Realität 181
szendentale Induktion« erforderlich machende »Urphänomen der
Sinnbildung« aufscheinen lässt. Und dieses bildet eben »Phänome-
nalität« und »Realität« »aus« bzw., wie gesehen, gleichsam »ein«,
was die Überwindung der »Prekarität der Realität« gewährleistet.
Phänomenalität muss dabei (in der »vor-subjektiven« Dimension
des phänomenologischen Feldes) als »ausstehendes Innestehen«, als
»ausstehende Inständigkeit« gefasst werden.
Was ist nun aber Realität? Diese Frage findet offenkundig nur
dann eine befriedigende Antwort, wenn gezeigt werden kann, wie
sich die augenscheinlich widersprüchlichen Aussagen – »jedes Sein
(im Sinne der Seinssetzung18) setzt Bezüglichkeit voraus« und »wirk-
liches Sein geht über Bezüglichkeit hinaus« – miteinander vereinba-
ren lassen. Jene Antwort macht es nötig, hier noch einmal den Be-
zug zum Seinsbegriff herzustellen. Sein ist – wie am Ende des vori
gen Kapitels herausgestellt wurde – vorgängige, fundierende Über
schüssigkeit. Als transzendierende Irrealität ist es also kein »reales
Prädikat«, aber auch kein reales »Unterstehen« (keine reale Sub-
stanzialität), da es gegenüber dem ausstehenden Innestehen eben
je »überschüssig« ist. Demgegenüber ist Realität (hier in der »vor-
objektiven« Dimension des phänomenologischen Feldes) das, was
Sein, ohne dieses selbst anzutasten, an das ausstehende Innestehen
notwendig bindet – weshalb sie als »Seins-Inständig-Ausständig-
keit«, »Onto-eis-ek-stasis« oder auch als »Seinsendoexogeneität«
gefasst werden kann. Hierdurch wird in den Realitätsbegriff – über
seine rein epistemische (an Fallibilität und ontologischen Pluralis-
mus angebundene) Auffassung hinaus – die »Spur« des zweiseitigen
Verhältnisses zu Immanenz (Endogeneität) und Transzendenz (Exo-
geneität) hineingenommen. Real-sein ist kein reines An-sich-sein,
auch kein bloßes Für-mich-sein, sondern inständig entdecktes und
genetisiertes Außer-sein.
Für diese Deutung der Realität (im phänomenologischen Ver-
stande) gilt, was auch zum »Prinzip« – der »Reflexibilität« – und
dem »Absoluten« – den »Grundbestimmungen des Seins« – des phä-
nomenologischen spekulativen Idealismus zu sagen wäre: Es handelt
18 Sein »ist« – hierin ist es unantastbar. Sein ist aber auch notwendig »ge-
setzt« – was grundsätzlich den Sinn von »Realität« (und deren innere Bezug-
haftigkeit) ausmacht. Um das transzendental verständlich zu machen, bedarf
es der transzendentalen Phänomenologie (bzw. des phänomenologischen
spekulativen Idealismus).
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182 Die Phänomenologie und die Frage nach der Realität
sich dabei um Denkansätze, um hinweisende Überlegungen, die ge-
wissermaßen noch am Anfang stehen und selbstverständlich weite-
rer Analyse und Vertiefung bedürfen.
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