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M. Wehrle - Phänomenologie (Eine Einführung)

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PH I LOSOPH ISCH E M ETHODE N

Maren Wehrle

Phänomenologie
Eine Einführung
Philosophische Methoden

Reihenherausgeber
Joachim Horvath, Institut für Philosophie II, Ruhr-Universität
Bochum, Bochum, Deutschland
In dieser Lehrbuch-Reihe erscheinen kompakte Einführungsbände zu philosophischen Methoden.
Die Debatte über philosophische Methoden hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr dynamisch ent-
wickelt und immer weiter ausdifferenziert. Die philosophische Methodologie ist daher inzwischen
zu einem etablierten Teilbereich der systematischen Philosophie geworden – mit einer Vielzahl von
Tagungen, Sammelbänden und spezialisierten Handbüchern. Vor diesem Hintergrund ist auch bei
Studierenden die Nachfrage nach anwendungsorientierten Einführungen in die wichtigsten Metho-
den und methodischen Strömungen der Philosophie stark angestiegen. In der Reihe sollen daher un-
ter anderem Bände zur Argumentationsanalyse, zur Begriffsanalyse, zur Experimentellen Philoso-
phie, zu Gedankenexperimenten und Intuitionen, zu mathematischen Methoden und zur Phänome-
nologie ­erscheinen.
In 2-farbiger Gestaltung, mit Definitionen, Beispielen und Aufgaben.
Maren Wehrle

Phänomenologie
Eine Einführung
Maren Wehrle
Erasmus School of Philosophy
Erasmus University
Rotterdam, Niederlande

ISSN 2946-0689 ISSN 2946-0697 (electronic)


Philosophische Methoden
ISBN 978-3-476-05777-8 ISBN 978-3-476-05778-5 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-476-05778-5

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;


detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 7 http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022


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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und
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die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des
Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen.

Umschlagabbildung: © Anita Ponne / shutterstock.com

Planung/Lektorat: Franziska Remeika


J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil
von Springer Nature.
Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
V

Vorwort: Zu den Sachen und zurück

Dieses Buch macht es sich zur Aufgabe zu klären, was der berühmte phänomeno-
logische Imperativ ‚Zu den Sachen selbst‘ in Theorie und Praxis bedeutet und be-
deuten kann. Im Zentrum steht dabei weniger die Frage, was Phänomenologie ist,
sondern vielmehr, was wir eigentlich tun, wenn wir Phänomenologie betreiben.
Dies ist denn auch keine Einleitung in die Inhalte oder Personen der Phänome-
nologie, sondern der Versuch, ihre Methode(n), trotz aller Diversität, einheitlich
darzustellen. Alle Phänomenologie, ob klassisch oder kritisch, theoretisch oder
angewandt, so lautet die Leitthese dieser Einleitung, versucht demnach vorurteils-
los zu beschreiben (7 Abschn. 2.1), das Allgemeine zu bestimmen (7 Abschn. 2.2),
oder fragt zurück nach den Bedingungen (7 Abschn. 2.3). Dem Motto der Phäno-
menologie treu bleibend, wird dies nicht einfach schematisch oder abstrakt defi-
niert, sondern anhand konkreter Beispiele illustriert und diskutiert.
Zunächst wird im einleitenden Kapitel Zu den Sachen selbst? der Frage nach-
gegangen, was Sachen oder Dinge für die Phänomenologie eigentlich sind, und
was es heißt, zu diesen ‚selbst‘ kommen zu wollen (7 Kap. 1). Im Anschluss er-
folgt ein erster Überblick über die oben genannten Methoden im Ausgang von
Husserl (7 Abschn. 1.3).
Im zweiten Kapitel Methoden der Phänomenologie wird nun anhand von Bei-
spielen der Beschreibung, eidetischen Variation oder transzendentaler Fragestel-
lungen gezeigt, inwiefern diese Methoden aufeinander angewiesen sind oder un-
abhängig voneinander angewendet werden können (7 Kap. 2). Abschließend soll
die Kritik, Weiterentwicklung und Verschiebung dieser Methoden nach Husserl
zum Thema werden (7 Abschn. 2.4).
Das dritte und letzte Kapitel Phänomenologie in Aktion steht ganz im Zeichen
gegenwärtiger Fragestellungen („Phänomenologie konkret“, 7 Abschn. 3.1) und
interdisziplinärer Anwendungen der Phänomenologie, entweder innerhalb der
Philosophie (7 Abschn. 3.2) oder in anderen Disziplinen (7 Abschn. 3.3). Phä-
nomenologie, so möchte diese Einleitung abschließend festhalten, war und ist
von Beginn an vor allem eine Methode, oder besser, eine Methode als Projekt
(7 Abschn. 3.4). Dies ist es, was sie so anschlussfähig für aktuelle Fragestellun-
gen und andere Disziplinen macht. Intention und Praxis der Phänomenologie
besteht darin, die Welt und ihre vielfältigen ‚Sachen‘ so gut als möglich zu be-
schreiben und zu verstehen. Dabei muss sie beständig neu überprüfen, ob ihre
Methoden diesen ‚Sachen‘ auch gerecht werden.
Einmal bei diesen Sachen angelangt, darf die Phänomenologie hierbei nicht
stehen bleiben, sondern muss ihre Herangehensweise weiterhin kritisch im Blick
behalten. Selbstgenügsamkeit und Selbstverständlichkeit ist denn auch der Fall-
strick, den jede phänomenologische Methode vermeiden muss. Daher müs-
sen wir nicht nur zu den Sachen hin, sondern auch wieder zurück gelangen, wie
Hans Blumenberg es in seinem Buch Zu den Sachen und zurück fordert (Blumen-
berg 2002). Blumenbergs wohlmeinende jedoch ironisch kritische Antwort auf
Husserls Plädoyer ‚Zurück zu den Sachen selbst‘, weist darauf hin, dass eine
VI Vorwort: Zu den Sachen und zurück

­ hilosophie der Erfahrung nie unvermittelt und pur sein kann. Wir erfassen die
P
Erfahrung immer im Umweg über Begriffe, Metaphern und Symbole. Die Direkt-
heit, die das Credo ‚Zu den Sachen‘ fordert, kann so nach Blumenberg nur in und
durch Indirektheit erreicht werden.
Husserl selbst hat dieses Problem der sprachlichen Vermittlung der Erfahrung,
die das Erlebte ordnet, modifiziert oder erst unsere Aufmerksamkeit auf etwas
lenkt, durchaus gesehen, aber dieses versucht pragmatisch zu umgehen. Da wir
nicht anders denn sprachlich philosophieren und reflektieren können, bleibt uns
nichts anderes übrig, als mit dem zu arbeiten, was wir haben. Dies ist für die Phä-
nomenologie kein Grund, die Aufgabe der Beschreibung und Aufklärung der er-
fahrenen Wirklichkeit einfach sein zu lassen bzw. lediglich schon bestehende Kon-
zepte und Begriffe zu analysieren. Jedoch muss die Sprache vorsichtig eingesetzt
werden und beständig an der aktuellen Beschreibung geprüft und geschult wer-
den. Dies erklärt Husserls suchenden, umständlichen und kreativ-technischen
Gebrauch von Begriffen, die immer vorläufig bleiben und im Dienste der Be-
schreibung stehen, wie z.B. ‚Noch-im-Griff-haben‘, ‚Mitmeinen‘ oder ‚Empfind-
nisse‘, oder der Gebrauch von mathematischen Begriffen wie ‚Paarung‘, ‚Index‘,
‚Kontinuum‘ und ‚Variation‘.
Es ist denn auch die Aufgabe aller heutigen und zukünftigen Phänomenologie,
die Sprache als historisch kulturelles Mittel der Beschreibung immer wieder aufs
Neue der kritischen Reflektion zu unterziehen und sich ihres Einflusses und der
notwendigen Indirektheit jeder Beschreibung bewusst zu bleiben. Dies kann, wie
die Phänomenologie selbst, nur in der intersubjektiven Zusammenarbeit gelingen,
in der sich verschiedene Perspektiven zu einer geteilten Objektivität zusammenfü-
gen und sich dabei gegenseitig korrigieren oder bestätigen. In Husserls wie aller
Phänomenologie zeigt sich dabei, dass der Weg zu den Sachen selbst (der Objek-
tivität) uns zurückführt zur erfahrenden Subjektivität und von hier aus letztlich
zu der Einsicht, dass am Beginn weder die fertige Welt noch das absolute Sub-
jekt steht, sondern eine praktische, historische und diskursive Intersubjektivität,
die beständig und meist unbemerkt denjenigen Sinn stiftet, aktualisiert oder ver-
schiebt, in dem jeder Einzelne zugleich selbstverständlich lebt.
Zugleich deutet der Ausspruch aber auch auf die Unhintergehbarkeit und
Transzendenz der ‚Sachen‘ und ihrer Wirklichkeit hin, auf die wir immer wieder
zurückgeworfen werden. Einer Welt, deren Sinn wir nicht beliebig konstruieren
können, sondern immer nur vorfinden und auslegen. Die hoffentlich vorurteils-
lose Beschreibung, die Bestimmung des Allgemeinen oder die Rückfrage nach den
Bedingungen bleibt dabei immer an eine reale, sachhaltige und damit widerstän-
dige Welt gebunden. Diese Welt mit all ihren Dingen ist es, die am Beginn und
am Ende jeder Phänomenologie stehen, als ihr Leitfaden sowie als ihr Ziel. Eine
Welt, die wir weder erschaffen, als Sache besitzen noch vollständig erfassen kön-
nen, sondern die unseren Beschreibungen, Bestimmungen und Erklärungen im-
mer schon einen Schritt voraus ist, genauso wie wir selbst, wenn wir als Teil dieser
Welt, diese zugleich beschreiben wollen.
Vorwort: Zu den Sachen und zurück
VII 
Einleitende Literatur (Auswahl)
Alloa, Emmanuel, Breyer, Thiemo, und Emanuele Caminada (im Erscheinen). Handbuch Phänomeno-
logie. Tübingen: Mohr Siebeck.
Bermes, Christian. 2020. Merleau-Ponty: Eine Einführung. 4. Aufl. Hamburg: Junius Verlag.
Blumenberg, Hans. 2002. Zu den Sachen und zurück. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Depraz, Natalie. 2012. Phänomenologie in der Praxis. Eine Einführung. Freiburg: Karl Alber V ­ erlag.
Figal, Günter. 2020. Martin Heidegger: Eine Einführung. 8., ergänzte Aufl. Hamburg: Junius ­Verlag.
Held, Klaus. 2000. Einführung in Husserls Phänomenologie. In Edmund Husserl: Phänomenologie der
Lebenswelt, Hg. K. Held, 3. Aufl. Stuttgart: Reclam.
Jacobs, Hanne, Hg. 2021. The Husserlian Mind. New York Routledge.
Kern, Iso, Bernet, Rudolf, und Eduard Marbach. 1996. Edmund Husserl: Darstellung seines Denkens.
2., veränderte Aufl. Hamburg: Meiner.
Lembeck, Karl-Heinz. 1994. Einführung in die phänomenologische Philosophie. Darmstadt: WBG.
Luft, Sebastian, Wehrle, Maren, Hg. 2017. Edmund Husserl. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B.
Metzler (Springer Nature).
Moran, Dermot. 1999. Introduction to Phenomenology. New York: Routledge.
Prechtl, Peter. 2012. Edmund Husserl. Zur Einführung. 5. Aufl. Hamburg: Junius Verlag.
Santis, Daniele De, Hopkins, Burt C., und Claudio Majolino. 2020. The Routledge Handbook of Phen-
omenology and Phenomenological Philosophy. New York: Routledge.
Schnell, Alexander. 2019. Was ist Phänomenologie? Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann.
Stegmaier, Werner. 2019. Emmanuel Levinas. Eine Einführung. 3., ergänzte Aufl. Hamburg: Junius Ver-
lag.
Suhr, Martin. Jean-Paul Sartre: Eine Einführung. 5., vollst. überarb. Aufl. Hamburg: Junius ­Verlag.
Waldenfels, Bernhard. 1986. Phänomenologie in Frankreich. Frankfurt a.M: Suhrkamp.
Waldenfels, Bernhard. 1992. Einführung in die Phänomenologie. München: Wilhelm Fink (UTB).
Zahavi, Dan. 2007. Phänomenologie für Einsteiger. München: Wilhelm Fink (UTB)
Zahavi, Dan. 2009. Husserls Phänomenologie. Übers. B. Obsieger. Tübingen: Mohr Siebeck (UTB).
Zahavi, Dan, Hg. 2012. The Oxford Handbook of Contemporary Phenomenology. Oxford: Oxford Uni-
versity Press.
Zahavi, Dan, Hg. 2018. The Oxford Handbook for the History of Phenomenology. Oxford: Oxford
University Press.
IX

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung: Zu den Sachen selbst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1


1.1 Zurück zur Sache der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.2 Die ‚Sachen‘ als intentionale Gegenstände: Weder Ding an sich
noch Sinnesdatum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.3 Methoden der Phänomenologie im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

2 Methoden der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25


2.1 Vorurteilsloses Beschreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.1.1 Beispiele: Dingbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.1.2 Beispiele: Zeitlichkeit und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
2.2 Das Allgemeine bestimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
2.2.1 Beispiele eidetischer Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
2.2.2 Kritik am Essentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
2.3 Zurückfragen nach den Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
2.3.1 Die drei Wege zur transzendentalen Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
2.3.2 Beispiele: Selbsterfahrung und Fremderfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
2.4 Phänomenologische Methode nach Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

3 Phänomenologie in Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
3.1 Phänomenologie konkret . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
3.1.1 Kritische Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
3.1.2 Postphänomenologie (Technikphilosophie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
3.2 Phänomenologie interdisziplinär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
3.3 Phänomenologie in anderen Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
3.3.1 Phänomenologie und qualitative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
3.3.2 Phänomenologie und quantitative Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
3.4 Zurück zur Erfahrung: Methode als Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Serviceteil
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
1 1

Einleitung: Zu den
Sachen selbst?
Inhaltsverzeichnis

1.1 Zurück zur Sache der Philosophie – 3

1.2 Die ‚Sachen‘ als intentionale Gegenstände:


Weder Ding an sich noch Sinnesdatum – 8

1.3 Methoden der Phänomenologie im


Überblick – 13

Literatur – 22

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022


M. Wehrle, Phänomenologie,
Philosophische Methoden, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05778-5_1
2 Kapitel 1 · Einleitung: Zu den Sachen selbst?

Der Leitspruch der Phänomenologie, die im 20. Jahrhundert von Edmund


1 Husserl begründet wurde, lautete ‚zurück zu den Sachen selbst‘ (Husserl, Hua
XIX/1, S. 10). Dies wurde nach dem Zeitalter des deutschen Idealismus (Kant,
Fichte, Schelling, Hegel), in welchem das erkennende Subjekt, die Vernunft oder
der absolute Geist im Zentrum standen, als regelrechte Befreiung innerhalb der
Philosophie empfunden. Endlich sollten wieder die Welt und die Dinge sowie
die Erfahrung anstatt der Erkenntniskritik, Dialektik oder Spekulation in den
Mittelpunkt rücken. Wie Husserl in den Logischen Untersuchungen (1900a, b),
die als Begründungswerk der Phänomenologie gelten, betont, darf man sich nicht
auf bereits etablierte Begriffe, Theorien oder Methoden verlassen, sondern muss
auf die „unmittelbar erschauten und ergriffenen Sachen“ zurückgehen, diesen
„Sachen selbst und der Arbeit an ihnen das letzte Wort belassen“ (Husserl, Hua
XVIII, S. 9). Gegen jegliche metaphysische Spekulation, aber auch gegen die Auf-
fassung von Philosophie als bloßer Analyse von Konzepten wird also hier ein
Plädoyer für die Rückkehr und Aufwertung der Anschauung gehalten: „Weg mit
den hohlen Wortanalysen. Die Sachen selbst müssen wir befragen. Zurück zur Er-
fahrung, zur Anschauung, die unseren Worten allein Sinn und vernünftiges Recht
geben kann.“ (Hua XXV, S. 21)
Doch was sind diese ‚Sachen‘ von denen Husserl da spricht, und warum sind
sie philosophisch relevant? Dies ist die Grundfrage der Phänomenologie und
jeder Wissenschaft, die zugleich die notwendig zirkelhafte Praxis von Erfahrung
und Erkenntnis zutage treten lässt. Sowohl die Wissenschaft als auch die alltäg-
liche Erfahrung geht immer schon von gewissen ‚Sachen‘ aus, z. B. die Natur-
wissenschaft von der Natur oder die Wahrnehmung von dem dort drüben wahr-
genommenen Haus. Diese Sachen werden dabei wie selbstverständlich voraus-
gesetzt, obwohl zu Beginn jeder Untersuchung oder Erfahrung noch gar nicht
deutlich ist, was diese ‚Sachen‘ im Einzelnen ausmacht, wie diese (näher) zu be-
stimmen sind. Die Phänomenologie macht uns darauf aufmerksam, dass wir es
immer schon mit Sachen (Dingen, Welt) zu tun haben, die bereits irgendwie be-
stimmt sind, d. h. als etwas Bestimmtes wahrgenommen werden. Sie will heraus-
finden, wie es möglich ist, dass wir einzelne Sachen sowie die Welt als Ganzes als
sinnvoll erfahren.
Wie der Name ‚Phänomenologie‘ schon besagt, werden die Sachen dabei als
Phänomene behandelt.

Definition
‚Phänomene‘ (gr. phainomenon) sind die Dinge in ihrem aktuellen und möglichen
Erscheinen für-uns, d. h., gerade nicht die ‚Dinge‘, wie sie in oder an sich selbst sind
(das noumenon oder ‚Ding an-sich‘ im Sinne Kants). Die Losung ‚zu den Sachen
selbst‘ scheint also ein wenig irreführend zu sein, handelt es sich doch nicht um eine
Bestimmung der Dinge unabhängig von unserer subjektiven Erfahrung, sondern
um die Sachen, wie sie uns jeweils in der Erfahrung erscheinen. Phänomenologie ist
denn auch die Beschreibung dessen, wie uns etwas erscheint sowie der Versuch der
Klärung dessen, warum etwas uns so und nicht anders erscheinen kann.
1.1 · Zurück zur Sache der Philosophie
3 1
Akribische Beschreibung Hiermit ist denn auch die Methode dieser neuen
‚Wissenschaft von den Phänomenen‘ vorgegeben: „Die wahre Methode folgt
der Natur der zu erforschenden Sachen, nicht aber unseren Vorurteilen und Vor-
bildern“ (Husserl, Hua XXV, S. 26). Die Arbeit an den Phänomenen darf also
weder vorherige Annahmen noch etablierte philosophische Methoden wie die der
Deduktion, Argumentation, Dialektik oder kausalen Erklärung gelten lassen,
sondern ist zuallererst akribische Beschreibung dessen, was uns erscheint, und
zwar nur in den Grenzen des jeweiligen Erscheinens. Zum Beispiel erscheint uns
ein Haus innerhalb der Wahrnehmung immer in einer bestimmten Perspektive,
etwa in der Ansicht der Vorderseite, d. h., die ‚Sache‘ Haus ist uns in den ver-
schiedenen Erscheinungen von ihr jeweils nur partiell und unabgeschlossen ge-
geben. Dieses ‚Wie‘ der Erscheinungsweise sagt dabei nicht nur etwas darüber
aus, wie leibliche Subjekte wahrnehmen (nämlich perspektivisch), sondern auch
etwas über die Sache ‚Haus‘ als physisch ausgedehntes Ding. Im Gegenteil etwa
zur Psyche oder zu psychischen Erlebnissen, die weder eine feste Position noch
Ausdehnung besitzen, können wir das Haus sehen und anfassen, wir können
um es herumgehen und es näher betrachten, auch können wir niemals all seine
Aspekte zugleich wahrnehmen, weshalb die Wahrnehmung unvollständig bleibt.
Die geforderte Wendung zu dem, was uns erscheint und dessen Beschreibung
soll uns also der ‚Natur‘ oder dem ‚Wesen‘ der Sachen näherbringen. Die er-
scheinenden ‚Sachen‘ sind damit Ausganspunkt der Phänomenologie, ihr Leit-
faden, aber auch das Ziel jeder phänomenologischen Beschreibung und Ana-
lyse. Aber wie kommen wir denn nun zu den Sachen selbst, wenn diese uns in der
subjektiven Erfahrung doch lediglich unvollständig und relativ gegeben sind?
Warum beginnt Husserl seine Suche nach dem Wesen der Dinge und der Welt
beim erfahrenden Subjekt? Und was sind eigentlich die ‚Sachen‘ der Philosophie?

1.1  Zurück zur Sache der Philosophie

Fundamentale Fragen und Probleme Zurück zu den Sachen selbst ist zunächst
eine Aufforderung an die Philosophie, sich wieder mehr um die ‚Sachen‘ an-
statt um sich selbst zu kümmern. Anstatt sich in Exegese alter Philosophien und
fachinterner Debatten zu verlieren, sich selbst als (eine unter vielen) Weltan-
schauungen zu begreifen oder sich lediglich als Gehilfin der exakten Naturwissen-
schaften auszugeben, soll die Philosophie laut Husserl wieder den Mut haben, zu
den fundamentalen Fragen und Problemen zurückzukehren, mit denen sie be-
gonnen hatte: Wie etwa die Frage nach dem Status von Sein oder der Objektivi-
tät der Welt. In dieser Hinsicht ist ‚zu den Sachen selbst‘ die Formulierung
eines Programms bzw. eine Aufforderung an die Philosophie, sich erneut über
die eigene Rolle gegenüber den anderen Wissenschaften bewusst zu werden und
ihren genuinen Gegenstandsbereich, ihre Methoden sowie ihre Rolle in Bezug auf
die anderen Wissenschaften neu zu bestimmen. Ganz in der Tradition von René
Descartes ruft Husserl dazu auf, noch einmal von vorne zu beginnen: Ein sicheres
4 Kapitel 1 · Einleitung: Zu den Sachen selbst?

Fundament und Methoden finden, um wahre und abgesicherte Aussagen über die
1 Welt treffen zu können.
Ein erster notwendiger Schritt hierfür ist, sich zunächst dem zu widmen, was
uns gegeben ist, und zu fragen, wie und warum es uns gerade auf diese Weise
(und nicht anders) gegeben ist oder sein kann. Hierbei müssen wir Abstand
nehmen von allen Vorannahmen, Interessen und Überzeugungen gegenüber dem,
was wir erfahren. Dies soll dazu dienen, uns ganz auf das Wie, d. h. darauf, wie
die Dinge erscheinen, konzentrieren zu können.

Korrelation von Subjekt und Welt Philosophisch können wir noch einen Schritt
weitergehen: Wir klammern den selbstverständlichen Glauben, dass die Dinge,
mit denen wir täglich hantieren und dass die Welt, in der wir leben, tatsächlich
existieren, sozusagen ein, d. h., wir setzen ihn erst einmal in Klammern. Damit
erreichen wir zweierlei: Erstens wird dieser Glaube somit überhaupt zum Thema
gemacht, und zweitens wird seine Geltung vorübergehend außer Kraft gesetzt
(7 Abschn. 2.3, Epoché). Diese Ausschaltung der normalen oder natürlichen Ein-
stellung (in der wir einfach so in die Welt hineinleben) soll ermöglichen, dass wir
(anstatt lediglich bei den Dingen oder der Welt zu sein) unsere Aufmerksamkeit
auf die Relation zwischen uns, als erfahrendem Subjekt, und den erscheinenden
Dingen richten, um diese notwendige Korrelation von Subjekt und Welt aufzu-
klären.
Was können wir von der uns umgebenden Welt wirklich mit Sicherheit wissen
und aussagen, ohne auf irgendwelche Vorannahmen oder methodische Ver-
fahren wie Deduktion (Ableitung von einer Grundannahme) zurückgreifen zu
müssen? Warum sind wir uns den Dingen und der Welt normalerweise so sicher,
dass wir überhaupt nicht auf die Idee kommen, an ihrer Existenz zu zweifeln?
Phänomenologie versucht genau diesem „naiven Weltbezug nachzugehen, um
ihm endlich eine philosophische Satzung zu geben“ (Merleau-Ponty 1966, S. 3).
Dabei setzt sie die „Thesen der natürlichen Einstellung“ nur außer Kraft, um
diese sichtbar zu machen und zu verstehen (ebd.). Mit Thesen der natürlichen
Welt ist sowohl unser impliziter Glaube gemeint, dass alles, was wir erfahren auch
wirklich da ist, also auch all die impliziten Erwartungen, die wir immer schon an
die von uns erfahrene Welt herantragen: z. B., dass die Sonne auch morgen wieder
aufgehen wird, dass ein Haus über eine Rückseite und nicht nur eine Vorderseite
verfügt oder sich Menschen auf eine gewisse Art und Weise verhalten.
So wie Michel Foucault in den 1960er Jahren betonen wird, dass es immer
schon ‚Ordnung gibt‘, nur diese jeweils historisch kontingent ist, würde Husserl
erwidern (wenn er noch lebte), dass dies zunächst voraussetzt, dass es für uns
Menschen überhaupt so etwas wie eine Welt gibt, d. h. Objektivität und All-
gemeinheit. Damit ist eine Welt gemeint, die für jeden gleichermaßen gegeben
und zugänglich ist; oder aber der Umstand, dass wir auf einmal wahrgenommene
Dinge oder Vorstellungen, immer wieder zurückkommen können. Weiterhin gibt
es allgemeine Aussagen oder Wahrheiten, die alle zu jeder Zeit nachprüfen oder
aktualisieren können, wie. z. B. die Aussage 2 + 2 = 4. Wie kann dies sein, wenn
doch jedes einzelne Subjekt diese Welt nur in seiner ‚subjektiven’ Perspektive,
1.1 · Zurück zur Sache der Philosophie
5 1
seinen psychologischen Akten oder innerhalb seiner sozialen und historischen
Situation erfährt?

Subjektiver Zugang zur Objektivität Anstatt nun aber Subjektivität und Objektivi-
tät, Relativität und Allgemeinheit zu trennen, und das eine den Geistes- und
Sozialwissenschaften und das andere den empirisch verfahrenden Naturwissen-
schaften zu überlassen, betont Husserl, dass Subjektivität und Objektivität genuin
philosophische Themen sind und sie inhaltlich notwendig zusammenhängen. Als
Philosoph:innen dürfen wir daher weder die objektive Welt oder Natur einfach
so voraussetzen, noch dürfen wir uns auf das lediglich subjektiv relative Erleb-
nis zurückziehen, nur noch Introspektion betreiben oder lediglich verschiedene
historisch relative Weltanschauungen vergleichen, ohne jeden Anspruch auf All-
gemeinheit oder Kritik. Stattdessen müssen wir versuchen zu verstehen, wie wir
trotz unseres subjektiven Zugangs zu Objektivität, Allgemeinheit und Evidenz ge-
langen können.
Dies können wir nach Husserl nur aus einer genuin philosophischen
Perspektive, d. h., wir müssen nicht nur von einer naiven Annahme der Welt Ab-
stand nehmen, sondern auch von uns als konkret handelnden Subjekten absehen,
um dann aus einem reflektiven Abstand die Relation von Subjekt und Welt über-
haupt zu überschauen.
Ausgehend von der Beschreibung des ‚Wie‘ des Erscheinenden sucht die
Phänomenologie also nach dem Allgemeinen im Konkreten, der Objektivität im
subjektiv Erscheinenden. Darum nennt Husserl die Phänomenologie auch eine
‚Wesensschau‘ oder ‚Eidetik‘ (gr. eidos: ‚Wesen‘; 7 Abschn. 2.2). Nur dass diese
Wesen nicht in einem ‚Ideenhimmel‘ zu suchen sind, sondern anhand des konkret
Erscheinenden irgendwie erfahrbar sein müssen, und zwar für jeden in gleicher
Weise, wollen wir vom Wesen eines Dinges oder des Bewusstseins selbst sprechen.
Das ‚Wesen‘ bestimmt dabei, warum etwas so und nicht anders sein kann.

Intentionalität Zum Wesen eines Dinges gehört dabei nur das, ohne welches es
nicht als dieses Ding bestimmt werden kann. So kann ein Tisch verschiedene
Größen, Formen oder Farben haben, muss jedoch immer etwas sein, an dem
man sitzen, auf den man etwas stellen kann etc.; genauso gibt es unzählige ver-
schiedene Formen von Bewusstsein, jedoch muss jedes Bewusstsein qua all-
gemeinem Wesen immer Bewusstsein von etwas sein. Ein Bewusstsein ganz ohne
Inhalt oder Gegenstand ist – zumindest für Husserl – nicht denkbar. Dabei kann
dieser Inhalt des Bewusstseins auch sehr vage und unbestimmt sein oder sich
selbst zum Inhalt haben – die Gerichtetheit des Bewusstseinsaktes auf einen wie
auch immer gearteten Inhalt bleibt dabei bestehen. Eine solche Intentionalität ge-
hört dabei zum Wesen jedes denkbaren Bewusstseins.

Definition
Intentionalität ist ein Konzept, das Husserl von seinem Lehrer Franz Brentano
übernimmt und das ursprünglich auf eine mittelalterlich-scholastische Begriffs-
verwendung zurückgeht. Allgemein bezeichnet Intentionalität die Fähigkeit, sich
6 Kapitel 1 · Einleitung: Zu den Sachen selbst?

auf etwas zu beziehen, etwa reale oder vorgestellte Gegenstände, Sachverhalte etc.
1 Husserl übernimmt diese Begrifflichkeit, versteht unter Intentionalität aber nicht
nur die Grundstruktur jedes (real-existierenden) psychischen Phänomens, sondern
das notwendige Wesen jedes denkmöglichen Bewusstseins oder jeder Erfahrung.
Bewusstsein ist demnach immer Bewusstsein von etwas, d. h. intentional auf etwas
gerichtet. Wir unterscheiden dabei den intentionalen Akt, also die Art und Weise,
wie wir auf etwas gerichtet sind, und den intentionalen Inhalt oder Gegenstand des
Bewusstseins, z. B. als Vorstellung, Erinnerung, Wahrnehmung etc. (vgl. Ströker
1984; Zahavi 2008; Merz et al. 2010).

Als Philosoph:innen interessiert uns daher nicht, wie wir persönlich etwas er-
fahren, so wenig wie es die Leser dieses Buches interessiert, wie ich als Maren
Wehrle gerade die Hitze in Freiburg erfahre, während ich diese Einleitung
schreibe. Vielmehr geht es darum, generell zu beschreiben, wie mögliche Subjekte
ein objektives Bewusstsein der Welt und der Dinge haben können. Welche Eigen-
schaften und Strukturen muss ein Bewusstsein oder ein Organismus haben, um
eine solche Erfahrung zu ermöglichen?

Die Gegebenheit der Psyche Eine solche philosophische Klärung sollte nach
Husserl jeder konkreten und sachlich fokussierten Fragestellung der wissenschaft-
lichen Einzeldisziplinen notwendig vorangehen. Bevor wir mit entsprechenden
Methoden einen Teilbereich der Realität, wie die Botanik oder aber die mensch-
liche Psyche untersuchen, muss geklärt sein, wie uns die entsprechenden Sachen,
also Pflanzen oder die Psyche, gegeben sind. Es sollte bestimmt werden, was den
jeweiligen Untersuchungsgegenstand ausmacht, wie er uns erscheinen kann,
d. h., wie wir als erfahrende Subjekte zu diesem Untersuchungsgegenstand in
Bezug stehen. Und so betont Husserl in seinem Aufsatz „Philosophie als strenge
Wissenschaft“ (Husserl 1910–11), dass etwa die Psyche als Gegenstandsbereich
der Psychologie nicht in der gleichen Weise zu untersuchen sei, wie andere natur-
wissenschaftliche oder physikalische ‚Sachen‘. Das Wesen von psychischen
‚Sachen‘ ist demnach grundsätzlich von physischen ‚Sachen‘ verschieden, ebenso
wie sich ideale von materialen Gegenständen, Naturgegenstände von Kultur-
gegenständen unterscheiden. Eine logische Wahrheit oder ein psychologischer
Zustand haben z. B. keine Ausdehnung, Farbe oder Größe.
Husserl, der habilitierte Mathematiker und Schüler des Psychologen Franz
Brentano (1838–1917), hat sich dabei kritisch mit der sich gerade entwickelnden
empirischen Psychologie seiner Zeit und ihrer Methode der Introspektion aus-
einandergesetzt. Damals wurde in den psychologischen Laboren versucht, an-
hand von Messverfahren, kombiniert mit gleichzeitiger ‚Innenschau‘, psychische
Phänomene nach dem Vorbild empirischer Wissenschaften genau zu messen.
Jedoch übersah man dabei, wie Husserl kritisiert, das psychische Sachen
ihrem Wesen nach ganz anders sind als physische und daher nicht mit den-
selben Verfahren bestimmt werden können. Wie lassen sich also psychische Zu-
stände oder Störungen einerseits in allgemeiner Form (also nicht nur für die
jeweilig konkreten Patient:innen gültig), aber auch in ihrer Spezifizität und
1.1 · Zurück zur Sache der Philosophie
7 1
­ ontextabhängigkeit beschreiben? Und wie verhält es sich hier mit der Relation
K
von Untersuchungsgegenstand und denjenigen, die untersuchen? Ist die Psyche
des oder der Untersuchenden nicht die Voraussetzung dafür, dass die Psyche
überhaupt als Untersuchungsgegenstand fungieren kann?

Zur Vertiefung
Intentionalität im Unterschied zu Brentano

Im Gegensatz zu Brentano ver- das gar nicht existiert oder absurd ist.
steht Husserl Intentionalität nicht als Jedoch hieße dies auch, dass diese ab-
interne Beziehung zwischen Bewusst- surden Gegenstände als reale Bestand-
seinsakt und vorgestelltem oder teile in der Vorstellung selbst ent-
immanentem Gegenstand. Wenn Akte halten sein müssen. Für Husserl ist
sich nur auf immanente Vorstellungen es darum widersinnig zwischen vor-
von Dingen und nicht auf die Dinge gestelltem Gegenstand einerseits, und
selbst beziehen würden, dann könnten wirklichem Gegenstand andererseits zu
wir z. B. nur über unsere Vorstellungen unterscheiden: der intentionale Gegen-
urteilen, nie jedoch über die darin vor- stand der Vorstellung ist derselbe, wie
gestellten Sachen (Husserl, Hua XXII, ihr „wirklicher und gegebenenfalls ihr
S. 134). Zwar hat eine solche Unter- äußerer Gegenstand“, d. h. im Falle
scheidung zwischen dem immanenten der Vorstellung eines Einhorns, ist es
Gegenstand als Repräsentanten von die Vorstellung selbst auf den sich die
einem äußeren realen Ding seine Vor- Intentionalität bezieht, im Fall der
teile, man kann z. B. erklären, warum Wahrnehmung, der äußere Gegenstand
man sich etwas vorstellen kann (z. B. (Husserl, Hua XIX/1, S. 439; vgl. Merz
ein Einhorn oder ein rundes Dreieck), et al. 2010).

Transzendentale Phänomenologie Philosophisch betrachtet, setzt dasjenige Subjekt,


das untersucht wird, bereits ein untersuchendes Subjekt und damit auch eine
Psyche voraus. Wir haben es also in der philosophischen Reflektion eigentlich mit
zwei Subjekten zu tun, einmal dem Subjekt als Subjekt (reflektierendes) und einmal
das Subjekt als Objekt (der Reflektion). Das philosophierende Subjekt bezeichnet
Husserl mit Immanuel Kant als transzendentales Subjekt, das zweite als empirisches
Subjekt. Es ist dabei Sache der transzendental ausgerichteten Phänomenologie, die
allgemein notwendigen Strukturen und Leistungen des Bewusstseins bzw. bewusst-
seinsfähiger Subjekte zu bestimmen, die die Bedingung der Möglichkeit von Er-
fahrung (der Welt) überhaupt ausmachen. Dies bezeichnet Husserl als das genuin
Philosophische der Phänomenologie.
Eine solche erkenntnistheoretische Abhängigkeit der Wissenschaft, nicht nur
von einzelnen konkreten Wissenschaftler:innen und deren subjektiven Interessen,
sondern von einem möglichen Bewusstsein überhaupt, das in der Lage ist, Dinge
sowie sich selbst wahrzunehmen und zu untersuchen, kommt in den empirischen
8 Kapitel 1 · Einleitung: Zu den Sachen selbst?

Wissenschaften nicht recht in den Blick, und würde deren spezifische Zielrichtung
1 und Gegenstandsbereich auch nur unnötig ausbreiten und verkomplizieren.
Die Fragen danach, was Subjektivität und Objektivität bedeutet, welche Rolle
ihr Verhältnis für die Wissenschaft spielt, sind daher genuine Fragen der Philo-
sophie. Zu den ‚Sachen selbst‘ gelangt man also nur über den Umweg der Philo-
sophie. Alle Sachen sind uns insofern nur durch unser Bewusstsein und unsere Er-
fahrung davon zugänglich, sei diese individuell direkt oder erweitert und gefiltert
durch wissenschaftliche Messungen oder Methoden. Eine solche Relativität zu
jemandem oder etwas, das sieht, erfährt, misst, registriert und interpretiert, bleibt
immer bestehen. Darum ist es Aufgabe der Philosophie, diese Erfahrung, d. h.
die notwendige Korrelation von Sein und Bewusstsein, genau zu beschreiben und
kritisch zu hinterfragen. Damit wir nicht voreilig von unserer bloß subjektiven
Perspektive auf etwas vermeintlich Objektives oder Allgemeines schließen.

1.2  Die ‚Sachen‘ als intentionale Gegenstände: Weder Ding


an sich noch Sinnesdatum
Korrelation von Sein und Bewusstsein Sachlichkeit oder Gegenständlichkeit sind
nach phänomenologischer Überzeugung daher nicht von ihrer Erfahrbarkeit
zu trennen. Anders gesagt: Sein und Bewusstsein lassen sich nicht voneinander
trennen, sondern bilden eine notwendige Korrelation. Um wahre, oder wie Husserl
es nennt, evidente, d. h. ausgewiesene, nachvollziehbare oder rechtmäßige Aussagen
über die Welt machen zu können, muss diese uns in irgendeiner Weise zugänglich,
d. h. erfahrbar sein. Jegliche Philosophie, sei es Erkenntniskritik, Ontologie oder
Metaphysik, muss demnach mit der Anschauung oder Erfahrung beginnen.
Phänomenologisch besteht insofern keine Trennung von einer Welt-an-sich
auf der einen Seite und subjektiven Erscheinungen oder Abbildungen davon auf
der anderen Seite: Die Welt, die wir erfahren, ist die einzige, d. h. ein und dieselbe
Welt. Wäre dem nicht so, würde dies zu einer Verdopplung der Welt als externe Welt
einerseits und innere Abbildung andererseits führen. Dies würde weiterhin sogar
eine Verdreifachung des Subjekts mit sich bringen: Einmal wäre es samt seinem
Körper ein realer Teil der Welt, es wäre zweitens als interne Abbildung desselben ge-
geben und drittens müsste man das Subjekt noch als transzendentalen Ausgangs-
punkt der jeweiligen Erfahrung voraussetzen. In einem solchen Szenario hätte man
weder die Möglichkeit zu verifizieren, ob die interne Repräsentation der Welt tat-
sächlich mit der externen Welt übereinstimmt (da man nur zu ersterer eigent-
lichen Zugang hat), noch ob alle Subjekte (die jeweils über eine individuelle interne
Repräsentation der Welt verfügen) die eine und selbe, d. h. geteilte Welt erfahren.
Die Sachen der Phänomenologie können daher weder Dinge-an-sich, noch
bloße interne Abbilder, Simulationen oder Repräsentationen einer selbst nicht
direkt zugänglichen, d. h. hinter unseren Erscheinungen liegenden Welt sein. Im
Gegenteil, Husserl vertritt die Auffassung, dass sich die Sachen in unserer Er-
fahrung als sie selbst geben.
Nun könnte man dies fälschlicherweise als einen naiven Realismus, Empiris-
mus oder Naturalismus verstehen, in welchem die Dinge entweder direkt in
1.2 · Die ‚Sachen‘ als intentionale Gegenstände
9 1
unserem Bewusstsein vorfindlich sind oder ihre kausal physiologischen Abdrücke
hinterlassen. Doch obwohl Husserl die Phänomenologie als den einzig wahren
Empirismus bezeichnet, läge nichts ferner als dies in obigem Sinne zu verstehen.
Wären nämlich die Sachen tatsächlich (in Husserls Worten reell) im Bewusst-
sein vorhanden, könnte von einer Transzendenz – und damit von einer Objektivi-
tät – der Dinge, z. B. in der äußeren Wahrnehmung, keine Rede sein. Das wahr-
genommene Ding würde vollständig auf seine kausalen Auswirkungen, d. h.
sensuellen Wirkungen beschränkt. Es ist dabei nicht nur so, dass es unsinnig wäre,
zu denken, ein wahrgenommener Baum befände sich tatsächlich im Bewusst-
sein, vielmehr ist dies prinzipiell widersprüchlich, da ein real bestehendes, d. h.
dem Bewusstsein äußeres (oder in Husserls Verständnis: transzendentes) Ding,
niemals vollständig im Bewusstsein gegeben sein kann.
Wie Husserl sagt, „in schlechthin unbedingter Allgemeinheit, bzw. Not-
wendigkeit kann ein Ding in keiner möglichen Wahrnehmung, in keinem mög-
lichen Bewußtsein überhaupt, als reell immanentes gegeben sein“ (Husserl, Hua
III/1, S. 87). Damit möchte er ausdrücken, dass die Wahrnehmung einer externen
Sache, wie eines Hauses, nie so gegeben sein kann wie z. B. ein Schmerz, der un-
mittelbar ‚von Innen‘ gegeben ist. Die Hauswahrnehmung kann nie auf die-
selbe Weise immanent sein wie ein Schmerz: Während der Akt der Wahrnehmung
sehr wohl reell (wirklich) zum Bewusstsein gehört, gilt dies nicht für das wahr-
genommene Objekt, dieses befindet sich lediglich intentional im Bewusstsein.
Weiterhin haben wir bei der Wahrnehmung eines Dinges nie alle Aspekte, Seiten
etc. auf einen Schlag oder zugleich gegeben, wie dies beim Schmerz der Fall ist.
Das Haus erscheint notwendigerweise in Perspektiven. Dies gilt dabei nicht nur
für meine aktuelle Wahrnehmung, sondern für jede denkbare Wahrnehmung
überhaupt. Dies ist, wie Husserl es nennt, keine faktische, sondern eine eidetische
Aussage, d. h., es beschreibt ein wesentliches und notwendiges Charakteristikum
jeden denkbaren Bewusstseins: Hier offenbart sich ein wesentlicher ontologischer
Unterschied (also Unterschied betreffend wie etwas ist) zwischen dem „Sein als
Erlebnis“ und dem „Sein als Ding“.

Definition
‚Real‘ bezieht sich auf die Seinsweise des (Natur-)Dinges oder der Dingwelt, ‚real‘
ist etwas, das zur Realität gehört. Die Vorstellung eines Hauses ist in diesem Sinne
kein realer Bestandteil des Bewusstseins, sondern lediglich ‚intentional‘ im Bewusst-
sein gegeben, d. h. als Gegenstand, auf den sich das Bewusstsein richtet bzw. den
es als etwas (als Haus) intendiert oder auffasst. Husserl macht dabei einen Unter-
schied zwischen dem, auf was sich das Bewusstsein intentional richtet, (Haus,
Zahl, Gegenstand), und dem, was ‚reell‘, d. h. tatsächlich, zum Bewusstsein gehört,
wie z. B. die zur Wahrnehmung gehörige sinnliche Empfindungsgrundlage oder
Empfindungen allgemein. Der intentionale Gegenstand, den Husserl später Noema
nennt (vgl. Hua III/1; Staiti 2015), ist dabei weder gleichzusetzen mit dem realen
Gegenstand, noch mit einer mentalen Repräsentation: Er bezeichnet die Synthese
aus subjektiven wie objektiven Momenten der Wahrnehmung, die es ermöglicht,
dass uns Gegenstände und die Welt als solche erscheinen können.
10 Kapitel 1 · Einleitung: Zu den Sachen selbst?

Dasjenige, was wir jeweils erfahren, d. h. wahrnehmen, erinnern, vorstellen oder


1 denken, lässt sich weiterhin nicht auf sensuelle Daten oder psychologische Zu-
stände reduzieren. Stattdessen ist jede Form von Bewusstsein gegenständlich, d. h.,
wir erfahren keine sensuellen Reize, sondern ‚Sachen‘, wie eine schöne Blume, ein
Haus oder abstrakter: einen Sachverhalt oder einen Gedanken. Obwohl z. B. die
Wahrnehmung eines Hauses sehr wohl eine sensuelle Grundlage haben muss, die
sich darin vom Denken oder Vorstellen desselben Hauses unterscheidet, kann die
Hauswahrnehmung nicht auf diese Empfindung oder den Empfindungsinhalt
reduziert werden. Das ‚Haus‘ selbst als diejenige Sache, auf die eine Hauswahr-
nehmung abzielt, oder mit Husserls Worten, die in der Wahrnehmung ‚gemeint‘
ist, befindet sich nicht wirklich im Bewusstsein. Jedoch muss es im Bewusstsein er-
fahrbar sein, und zwar erfahrbar als etwas, das dem Bewusstsein transzendent (also
außerhalb von diesem vorfindlich) ist. Man muss also irgendwie erfahren können,
dass der Baum da ‚draußen‘ ist und nicht vollständig in unserem Bewusstsein von
ihm aufgeht. Anstatt spekulierend wie Immanuel Kant ein ‚Ding an sich‘ anzu-
nehmen, das sich jedoch von uns nicht wahrnehmen lässt, wird bei Husserl das
‚reale‘ innerhalb der Wahrnehmung erfahren, gerade indem es sich uns entzieht: Es
geht über die aktuelle Perspektive und Gegebenheit hinaus. Wir intendieren immer
mehr (Haus), als das, was eigentlich (sinnlich, real) gegeben ist (die Vorderseite).
Das Haus ist daher nicht reell, sondern nur intentional im Bewusstsein vorfindlich.
Jedes Bewusstsein – nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch Vorstellung,
Erinnerung, Denken, Urteilen etc. – ist somit gekennzeichnet durch seinen
Gegenstandsbezug, seine Intentionalität. Genauso wie also das Sein in der
Phänomenologie an das Bewusstsein gekoppelt ist – Dinge in irgendeiner Form
für uns zugänglich, d. h. bewusst oder erfahrbar sein müssen – ist das Bewusst-
sein ebenfalls nicht ohne einen irgendwie gearteten Gegenstandsbezug zu haben,
d. h. erfassbar oder gar beschreibbar.

Intentionale Sinnstiftung Im Gegensatz zu psychischen Inhalten liegen die Gegen-


stände oder Sachen, die uns ‚bewusst‘ werden, jedoch nicht einfach so ‚wie in
einer Schachtel‘ im Bewusstsein, „so daß man sie darin bloß vorfinden und
nach ihnen greifen könnte“, sondern sie konstituieren sich zu allererst „in ver-
schiedenen Formen gegenständlicher Intention als das, was sie uns sind und
gelten“ (Hua XIX/1, S. 169). Die intentionale Gegebenheit der ‚Sachen‘ be-
inhaltet dabei eine gewisse Leistung des Bewusstseins, die eine bestimmte
Empfindung ‚gegenständlich interpretiert‘ bzw. ‚deutet‘. Diese Leistung nennt
Husserl Auffassung bzw. Apperzeption. Erst in der gegenständlichen Auffassung
durch ein Bewusstsein kann man von Intentionalität, d. h. von dem Bewusstsein
einer ‚Sache‘ sprechen, da Empfindungen bzw. Sinnesdaten noch keine Gegen-
stände sind. Eine Empfindung kann stark oder schwach, schmerzhaft oder an-
genehm sein, weist aber selbst noch keine ‚objektiven‘ Merkmale auf, wie Härte,
Rauigkeit oder Farbe, die z. B. ein wahrgenommenes Stück Holz charakterisieren.
Außerdem kann dasselbe Empfindungsmaterial völlig verschieden aufgefasst
werden: So hält einer das Gesehene für einen Menschen, während ein anderer eine
Puppe zu sehen glaubt. Weiterhin können verschiedene Sinnesdaten, z. B. im ein-
heitlichen Verlauf der Wahrnehmung und ihrer wechselnden Perspektiven, zu
1.2 · Die ‚Sachen‘ als intentionale Gegenstände
11 1
­ emselben wahrgenommenen Objekt gehören. Die Identität eines Wahrnehmungs-
d
gegenstandes über den zeitlichen Verlauf und den Wechsel seiner Erscheinungen
hinaus kann nicht durch einen bloßen Verweis auf sinnliche Reize und eine ent-
sprechende Reaktion beantwortet werden. Der Sinn und die Einheitlichkeit, die eine
Wahrnehmung nach Husserl ausmachen, sind das Ergebnis der intentionalen Be-
ziehung oder Sinnstiftung, die Husserl später Konstitution nennt (vgl. Wehrle 2010).

Wahrnehmungsintentionalität Obwohl wir also normalerweise auf einen Schlag in


der Wahrnehmung ‚ein Haus‘ gegeben haben, entpuppt sich eine solche konstante
und einheitliche Wahrnehmung eines Hauses bei genauerer Intentionalanalyse
als eine Art der ‚Präsentation‘, ein schrittweises Konstituieren, das durch die Er-
fahrung und das Bewusstsein automatisch ‚geleistet‘ wird, wie Husserl dies nennt:
Verschiedene Perspektiven müssen sich zeitlich und inhaltlich auf einheitliche
Weise verbinden, vormalige ‚leere‘ Intentionen, wie die Rückseite des Hauses, die
lediglich mitgemeint ist, müssen sich anschaulich erfüllen. Dabei zeichnet sich
die äußere Wahrnehmung von Sachen (im Gegensatz zu ihrer Vorstellung oder
Imagination) gerade dadurch aus, dass diese Sachen nie vollständig, d. h. nach
allen ihren möglichen Seiten und Aspekten zugleich gegeben sein können, sondern
jeweils nur in einer Perspektive und in ‚Abschattungen‘. Ein transzendenter
Gegenstand, sei es ein Haus oder eine Melodie, gibt sich daher im Verlauf der
Wahrnehmung zwar immer nur partiell, aber in jedem Moment der Wahrnehmung
leibhaftig, als er selbst. Diese Leibhaftigkeit muss notwendigerweise mit einer Be-
schränkung des jeweils vom ihm Erscheinenden einhergehen, dies macht ja gerade
den transzendenten Charakter des wahrgenommen Dinges aus.
Dies ist kein Mangel der menschlichen Wahrnehmung, sondern ein wesentliches
Merkmal jeder möglichen Wahrnehmung, wie Husserl bemerkt. Selbst Gott persön-
lich, wenn es ihn gäbe, würde das jeweilige nie „nach der Allheit seiner sinnlich an-
schaulichen Merkmale“ (Hua XI, S. 3), also allseitig sehen können, zumindest
nicht, wenn wir dies noch als ‚sehen‘ oder Wahrnehmung bezeichnen wollen. Wahr-
nehmung oder wahrnehmungsmäßige Gegebenheit ist ihrem Wesen nach immer
perspektivisch und unabgeschlossen. Sie verlangt dabei nach einem subjektiven oder
körperlichen Ausgangspunkt sowie der potentiellen Veränderung dieses Blickfeldes
(durch die Bewegung der Augen oder körperliche Positionsveränderung).
Wahrnehmungsintentionalität ist daher kein statischer mentaler Zustand,
sondern ein Prozess, in dem sich eine ‚Sache‘ nach und nach präsentiert oder
gibt: Ein Prozess „beständiger Kenntnisnahme“ (Hua XI, S. 12), bei dem das
erfahrende Subjekt aktiv mitbeteiligt ist, indem es das Objekt nach und nach
kennenlernt, indem es um es herumgeht, Perspektiven wechselt und das einmal
Gesehene und Kennengelernte festhält. Visuelle Erscheinungen und Bewegungen
werden dabei koordiniert und bilden so eine Einheit der Sinne und des sinn-
lichen Gegenstandes, z. B. des erscheinenden Hauses. Jede aktuelle Erscheinung
einer Seite des Hauses steht dabei in einem Horizont weiterer möglicher
Wahrnehmungen vonseiten des Gegenstandes, die jetzt noch unbekannt sind,
­
jedoch durch einen Wechsel der Perspektive zur Bekanntheit gebracht werden
können. Wahrnehmung ist insofern immer eine Horizontintentionalität: Sie anti-
zipiert immer mehr als sie aktuell gibt, hat einen inneren (Vertiefung, andere
12 Kapitel 1 · Einleitung: Zu den Sachen selbst?

Aspekte der schon gesehenen Hausseite) und einen äußeren Horizont (räumliche
1 Umgebung des Hauses, die noch nicht gesehen oder nur vage als Hintergrund
bewusst ist). Darum verweist Wahrnehmung immer auf ein leiblich verfasstes
Wahrnehmungssubjekt mit kinästhetischen (gr. kinere: ‚bewegen‘ und aisthesis:
‚empfinden‘) Möglichkeiten, das diese Horizonte jeweils konkret realisieren kann.

Paradox der Gegebenheit Hier zeigt sich ein scheinbares Paradox: Wir sind zwar
direkt mit den Dingen verbunden, sie sind leibhaft da und gegeben, wir können
sie aber nie ganz erfassen, sie erscheinen immer nur partiell und unabgeschlossen.
Husserl betont dabei sowohl die Objektivität und Positivität der Dinge also auch
deren subjektive Gegebenheit. Einerseits geben sich die Sachen in der Wahr-
nehmung als sie selbst, d. h., sie verweisen nicht auf anderes wie ein Symbol,
Zeichen oder Abbild. Andererseits braucht es aber vielfältige synthetische Vor-
gänge im Bewusstsein (zeitliche und inhaltliche Synthesen oder Bewusstseins-
leistungen) sowie leibliche Aktivitäten, um diese transzendenten Gegenstände
zeitlich und inhaltlich einheitlich erscheinen zu lassen. Wir ‚haben‘ also den
Gegenstand nicht einfach: Sein und Erscheinung des Gegenstandes decken sich
nicht unmittelbar. Was wir jeweils unmittelbar ‚haben‘ ist eine Apperzeption,
d. h. ein Bestand von Empfindungsdaten und eine apperzeptive Auffassung dieser
Daten. Durch diese darstellende Erscheinung wird der transzendente Gegen-
stand konstituiert und bewusst als ein sich abschattender, d. h. in verschiedenen
Perspektiven und von verschiedenen Seiten sich zeigender, transzendenter Gegen-
stand (Hua XI, S. 18). Wir haben den äußeren Gegenstand also zwar „immer-
fort leibhaft (wir sehen, fassen, umgreifen ihn)“, jedoch scheint er auch unendlich
fern: „Was wir von ihm fassen, prätendiert sein Wesen zu sein: es ist es auch, aber
immer nur unvollkommene Approximation, die etwas von ihm faßt und immer-
fort auch mit in eine Leere faßt, die nach Erfüllung schreit.“ (Hua XI, S. 21)

? Aufgaben
1. Was verbinden/verbanden Sie mit dem Aufruf ‚Zu den Sachen selbst‘, bevor und
nachdem Sie dieses Kapitel gelesen hatten? Schreiben Sie ihre Assoziationen,
Stichwörter, Fragen und Erwartungen auf; vergleichen Sie beide Versionen, und
diskutieren Sie Ihre Eindrücke und Erkenntnisse mit Mitstudierenden.
2. Warum gelangt man nach Husserl nur über die Subjektivität zur Objektivität?
Versuchen Sie relevante Argumente hierfür im Text zu finden und diskutieren
Sie diese. Was wird in der Phänomenologie unter Subjektivität und Objektivität
verstanden?
3. Die Phänomenologie geht von einem Korrelationsapriori von Bewusstsein
und Sein (Welt) aus. Was bedeutet dies und wie hängt es mit dem Konzept der
Intentionalität zusammen? Zeigen Sie die Gemeinsamkeiten (bzw. die Unter-
schiede) beider Konzepte auf.
4. Glossar: Notieren und definieren Sie alle neuen Begrifflichkeiten. Achten Sie dabei
auf die jeweilige Wortherkunft und -bedeutung. Nutzen Sie hierfür auch andere
bibliographische Mittel sowie eine Internetrecherche. Beginnen Sie mit dem Er-
stellen eines Glossars und fügen Sie ihre Definitionen (Lemma) hinzu. (Tipp:
Dieses Glossar kann gemeinsam mit anderen Kommiliton:innen erstellt werden.)
1.3 · Methoden der Phänomenologie im Überblick
13 1
1.3  Methoden der Phänomenologie im Überblick

» Alle wissenschaftlichen Studien waren bisher objektiv gerichtet, hatten überall


Objektivität in naivem Erfahren und Erkennen im voraus gehabt, vorausgesetzt.
Aber nie war prinzipiell dieses zum Thema […] gemacht worden, wie die erkennende
Subjektivität in ihrem reinen Bewußtseinsleben diese Sinnesleistung, Urteils- und
Einsichtsleistung „Objektivität“ zustandebringt […]. Denn sie hat nur, was sie in sich
leistet; schon das schlichteste Ein-Ding-sich-gegenüber-haben des Wahrnehmens
ist Bewußtsein und vollzieht in überreichen Strukturen der Sinngebung und
Wirklichkeitssetzung: nur, daß Reflexion und reflektives Studium dazu gehört, davon
etwas, und gar etwas wissenschaftlich Brauchbares, zu wissen. (Husserl, Hua VII,
S. 67–68)

Der Ausgangspunkt und das Ziel der Phänomenologie ist somit, aufzuklären,
warum es möglich ist, den objektiven, allgemeinen Gehalt einer Sache – also
die ‚Sache selbst‘ in ihrem Wesen, Sinn oder ihrer Bedeutung, die sie jeweils für
uns, aber auch für alle anderen hat – trotz oder gerade aufgrund ihrer subjektiv-
relativen Gegebenheit festzustellen.

Die phänomenologische Beschreibung Von neuem philosophisch beginnend,


dürfen wir dabei nichts voraussetzen und lediglich von demjenigen ausgehen, was
sich uns in der Erfahrung unmittelbar selbst und „originär (sozusagen in seiner
leibhaften Wirklichkeit) darbietet“. Dabei müssen wir es zunächst einfach hin-
nehmen als „was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich
da gibt“ (Hua III/1, S. 51). Das heißt, wir dürfen die objektive Welt nicht einfach
voraussetzen, um diese dann zu messen und zu formalisieren, wie dies die Natur-
wissenschaften tun: „Es gilt zu beschreiben, nicht zu analysieren und zu erklären“
(Merleau-Ponty 1966, S. 4).
Die phänomenologische Beschreibung soll uns beibringen, wieder richtig
sehen zu lernen, uns den Dingen und der Welt zu öffnen, bevor wir ihnen
unsere Interessen und etablierten Konzepte einfach überstülpen. Der oder
die Phänomenologisierende versucht die Welt neu zu sehen und dabei die Ge-
wohnheiten, Vorurteile und Einstellungen, die unsere Erfahrung immer
schon konstitutiv mitbestimmen, aufzuklären. Dies ist es, was die Losung der
Phänomenologie ‚Zu den Sachen selbst‘ im Kern ausmacht. Aufklären bedeutet
dabei nicht, dass Konzepte, Strukturen oder Ordnungen, die unsere Erfahrung
und Denken immer schon mitbestimmen, einfach ignoriert oder negiert werden
können. Stattdessen sollen diese Vorannahmen allererst sichtbar und thematisier-
bar werden, um so eine neue Aufmerksamkeit zu erzeugen, für das, was sich uns
zeigt und wie es sich uns zeigt.
In einem ersten Schritt müssen wir dabei zunächst unsere Vorannahmen und
unser konzeptuelles Wissen in Bezug auf die betrachteten Dinge einklammern (ein
und nicht ausklammern, da sie durch die Einklammerung noch als Annahmen
sichtbar sind, aber ihre Geltung damit zugleich außer Kraft gesetzt wird), um
damit unsere Aufmerksamkeit zu schärfen und uns den Dingen so zuwenden zu
können, wie diese uns tatsächlich erscheinen (Methode: Deskription und Epoché,
7 Abschn. 2.1).
14 Kapitel 1 · Einleitung: Zu den Sachen selbst?

Erst danach lässt sich die Allgemeinheit und das Notwendige (Eidos/Wesen)
1 innerhalb dieser Erscheinung mit Hilfe einer imaginierten ‚eidetischen Variation‘
der konkret wahrgenommenen oder vorgestellten Dinge ermitteln (Methode:
Wesensbestimmung als Eidetische Variation, 7 Abschn. 2.2). Wenn es ge-
lingt, dieses Wesen zu bestimmen, muss dieses aufgrund seiner Allgemeinheit
potentiell von jedem Subjekt auf die gleiche Weise festgestellt werden können:
Habe ich etwa nun die Einsicht, dass 2 + 2 = 4 ist oder dass eine Schere ein Ge-
rät ist, mit dem man schneiden kann, ist diese Einsicht dabei nicht abhängig von
meinem konkreten psychologischen Erlebnis, sondern kann zu allen Zeiten auch
von anderen Subjekten erkannt werden. Phänomenologie als eidetische Wesens-
bestimmung ist daher objektiv, d. h. in Bezug auf seine allgemeine Gültigkeit. In
diesem Sinne können alle denkbaren ‚Sachgebiete‘, wie physische Natur, logische
Wahrheiten oder Kultur einer Wesensbestimmung unterzogen werden, wes-
halb Husserl hier auch von eidetischer Ontologie (Lehre vom Sein) spricht. Eine
solche Ontologie muss dabei immer bei der konkreten Erfahrung von Sachen
und ihrer Beschreibung beginnen, um von da durch imaginiertes ‚Umfingieren‘
(wie Husserl es nennt) und Variieren zum Wesen der entsprechenden Sache zu
gelangen. Also zu denjenigen Kerneigenschaften, die sich nicht länger variieren
lassen, sondern bei allen möglichen und wirklichen (ontischen) Dingen dieser
Art (z. B. ein Tisch) gegeben sein müssen, sollen sie als Dinge dieser Art (Tisch)
gelten.

Epoché und Reduktion Will man jedoch philosophisch nach den transzendentalen
Ermöglichungsbedingungen dieser Erscheinung im Bewusstsein selbst zurück-
fragen, muss man eine transzendental-phänomenologische Epoché oder Reduktion
(7 Abschn. 2.3) durchführen.
Hierbei werden in einem ersten Schritt nicht nur bestimmte Vorannahmen
über die Welt oder die Dinge eingeklammert, sondern der diese Vorannahmen
umfassende unmittelbare Glaube an die Existenz und Vorgegebenheit der Welt
selbst. Eine solche allumfassende Epoché setzt damit unsere natürliche Einstel-
lung oder Generalthesis außer Kraft. Hiermit wird alles, was wir erfahren, zu-
nächst mit dem Index ‚reines Phänomen‘ versehen. Dies heißt jedoch nicht, dass
die Existenz der Welt nun bezweifelt oder gar eliminiert wird. Der Welt wird
lediglich ihre Selbstverständlichkeit genommen, wir können sie nicht mehr ein-
fach so als gegeben und objektiv existierend voraussetzen. Stattdessen setzen wir
unseren Weltglauben vorübergehend außer Kraft, um diesen zu thematisieren und
dann Stück für Stück ausweisen, aufklären und rechtfertigen zu können. Dies er-
laubt uns, herauszufinden, warum wir uns dieser Welt so sicher sind und wie wir
zu Objektivität als allgemein geteiltem Sinn und als erfahrene Transzendenz ge-
langen.
1.3 · Methoden der Phänomenologie im Überblick
15 1
Definition
Epoché ist ein altgriechischer Ausdruck aus der phyrronischen Skepsis und be-
deutet Urteilsenthaltung. Bei Husserl bezeichnet er den methodischen Schritt der
Einklammerung, der eine reflexive Distanznahme gegenüber dem Gegenstand der
Untersuchung ermöglicht. Dabei bleibt der Inhalt des Urteils derselbe, lediglich
die Geltung des Urteils wird vorerst dahingestellt, solange bis das Urteil bzw. seine
Geltung überprüft ist. Indem das Urteil mit dem Index der Klammer ausgestattet
wird, kann es als (Vor-)Urteil erst sichtbar und damit zum Thema der Forschung
werden. Was sich ändert, ist also nicht dasjenige, das eingeklammert wird, sondern
unsere Einstellung hierzu. Durch die deskriptive Epoché werden spezifische Vor-
annahmen oder Überzeugungen gegenüber dem Untersuchungsgegenstand ein-
geklammert. Die allumfassende transzendentale Epoché klammert das basalste Vor-
urteil überhaupt ein, den Glauben an die Existenz der Welt, der jede Erfahrung
implizit begleitet.

Die transzendental-phänomenologische Epoché, auch transzendentale Reduktion


genannt, als eine Methode der Neutralisierung unseres ‚Seinsglaubens‘ be-
einträchtigt dabei in keiner Weise den Inhalt unserer Erfahrung von der Welt,
sondern modifiziert lediglich unsere Einstellung zu dieser. Die Aufklärung dieses
Weltglaubens und der Objektivität widmet sich dabei den Bedingungen der Mög-
lichkeit von der Erfahrung einer solchen Welt (mitsamt allen Dingen, anderen
Subjekten und uns selbst), und diese Bedingungen sucht Husserl – wie auch
Immanuel Kant – im erfahrenden Subjekt. Die Neutralisierung öffnet damit
die Tür zu einer transzendentalen Aufklärung oder Rückfrage, die Husserl als
Prozess der Reduktion oder des Reduzierens beschreibt. Reduktion nicht etwa im
Sinne einer Verminderung oder gar eines Wegstreichens des Erlebten, sondern
eher als eine Reduktion auf das transzendental Notwendige und Wesentliche.
Vergleichbar mit dem langwierigen Prozess des Einreduzierens beim Kochen einer
Soße, die dadurch ihren intensiven Geschmack erhält.
So lässt sich etwa die menschliche Psyche auf die transzendental notwendigen
und allgemeinen Strukturen und Leistungen jeder denkbaren Subjektivität
reduzieren; oder die alltägliche, praktische Lebenswelt darauf befragen, warum
wir diese als normal, selbstverständlich und bedeutungsvoll erfahren können und
wie ihre Praktiken und kulturellen Bedeutungen zustande kommen konnten. Dies
deutet wiederum auf allgemeine sowie spezifisch historisch subjektive und vor
allem intersubjektive Leistungen und Intentionalitäten hin.
Die Suche nach ‚den Sachen selbst‘ geht hierbei einen Umweg bzw. ganz
zurück bis auf die Bedingungen ihrer Erfahrbarkeit, darauf, wie uns sinnvolle
und kohärente Sachen und letztlich die Welt als Ganze überhaupt gegeben sein
können. Es geht um die Frage danach, wie diese Dinge und die Welt von uns
einen Sinn erhalten, wie wir intersubjektiv kontinuierlich und miteinander Sinn
oder Bedeutung innerhalb der Erfahrung konstituieren. Dabei erschaffen wir die
Welt nicht, Phänomenologie ist kein absoluter Idealismus: Sie will lediglich den
Sinn verstehen, den diese Welt vor jeder Auslegung oder Analyse für uns je schon
hat. In diesem Sinne ist sie eine statische oder genetische Konstitutionsanalyse.
16 Kapitel 1 · Einleitung: Zu den Sachen selbst?

Statische Analyse Bei einer statischen Analyse gehen wir jeweils schon von
1 einem erfahrenen oder gegebenen Gegenstand aus, etwa der Wahrnehmung
eines Hauses, und beschreiben und identifizieren dann diejenigen Komponenten,
die für diese Hauswahrnehmung oder jede Dingwahrnehmung konstitutiv sind.
Dabei unterscheidet Husserl zwischen zwei Aufmerksamkeitsrichtungen der Be-
schreibung:
5 die noetische Richtung konzentriert sich jeweils auf die subjektive Seite des
Wahrnehmens, d. h. die Bewusstseinsweisen (wahrnehmen, vorstellen, für-ge-
wiss-halten, bewerten etc.) sowie die zugrunde liegenden sinnlichen Erlebnisse
(Empfindungen),
5 die noematische Richtung richtet sich auf den gegebenen Gegenstand im Wie
seiner Gegebenheit.

Beim Gegenstand als Noema der Beschreibung oder bei der statischen Intentional-
analyse unterscheidet Husserl dabei verschiedene Schichten:
5 den noematischen Kern (formal-ontologische Bestimmungen: das Haus ist
ein Ding, kein Sachverhalt oder keine Ursache; Bestimmungen seiner Eigen-
schaften: es ist aus Holz, hat mehrere Türen etc.),
5 die noematischen Charaktere (wie der Gegenstand gegeben ist: als erinnertes,
gewolltes, vorgestelltes oder wahrgenommenes Haus) und
5 die gegenständliche Einheit (die Gesamtbedeutung ‚Haus‘).

Die gegenständliche Einheit, die alle Teilbestimmungen in sich vereint, steht dabei
sowohl am Anfang jeder Intention (wir ‚meinen‘, ‚intendieren‘ ein Haus zu sehen,
ohne dass wir bereits nähere Details kennen), bleibt aber in seiner Bestimmung
als das intendierte Ganze oder vollbestimmte Haus lediglich ein ideales Ziel mög-
licher Bewährung im weiteren Erfahrungsverlauf (Husserl Ms. BIII 12IV/84a).
Die statische phänomenologische Methode beschäftigt sich also mit dem
Wie des Gegebenseins von Gegenständen. Weiterhin versucht sie allgemeine
Strukturen zu bestimmen, entweder in Bezug auf die Erscheinungsweisen
(Noesis) oder der Gegenstände (Noema). Ersteres ist eine konstitutive Be-
stimmung, also fragt danach, was für die Erscheinung bzw. den Sinn eines be-
stimmten Gegenstandes konstitutiv ist. Letzteres bezieht sich auf die ontologische
Bestimmung des Gegenstandes, also was diesen Gegenstand seinem Wesen nach
ausmacht (7 Abschn. 2.2).

Genetische Analyse Hier wird bereits die Notwendigkeit einer genetischen


Konstitutionsanalyse deutlich, da der gegebene Gegenstand scheinbar nie
auf einen Schlag in seiner Gänze und Identität gegeben ist. Die genetische
Konstitutionsanalyse fragt also nach den notwendigen zeitlichen Synthesen,
passiven und aktiven Bewusstseinsleistungen, die für die Erfahrung eines ge-
gebenen Objektes bzw. einer gegenständlichen und sinnvollen Erfahrung von
Welt überhaupt notwendig sind. Hierbei lassen sich drei verschiedene Stufen der
Genesis unterscheiden:
1.3 · Methoden der Phänomenologie im Überblick
17 1
1. Die sogenannte aktive Genesis der Denk- und Urteilsakte. Hier werden etwa
verschiedene Gegenstände zusammengedacht oder urteilsmäßig miteinander
verknüpft, sodass ein ‚neuer‘ Gegenstand bzw. Überzeugungen oder Erkennt-
nisse entstehen.
2. Die rezeptiv-leibliche Genesis der Wahrnehmung, die sowohl passive als auch
aktive Erfahrungsdimensionen verbindet. So ist Wahrnehmung zwar kein
Denkakt und enthält keine explizite Stellungnahme, trotzdem ist die Wahr-
nehmung nicht gänzlich passiv, sondern ‚aktiv‘ durch Interessen, Wille, Ge-
fühle, Präferenzen, Aufmerksamkeit strukturiert und enthält damit schon
implizit bewertende Elemente, wie bereits der frühe Husserl betont (Hua
XXXVIII; Hua XLIII/2) und im späten Husserl explizit wird (Husserl 1939).
3. Die passive Genesis oder primordiale (erste) Konstitution. Hierbei handelt es
sich um gänzlich passive Abläufe im Bewusstsein, die Eindrücke zeitlich und
inhaltlich in den Erfahrungsstrom integrieren (Hua X; XI), ohne Beteiligung
eines ‚Ich‘, d. h. ohne dass das Subjekt sich dessen ‚bewusst‘ ist.

Wie hier bereits deutlich wird, geht die genetische Analyse über eine statische
Beschreibung der Phänomene hinaus, indem sie deren Entstehung oder Werden
aufklären will. Sie beschreibt Konstitutionsprozesse, die der Gegenstandswahr-
nehmung und der Intentionalität allgemein zugrunde liegen. Die genetische
Analyse ist daher bei Husserl Teil der transzendental-phänomenologischen
Untersuchung, die nach den notwendigen Strukturen der Erfahrung zurück-
fragt. Jedoch tut sie dies nicht nur formal, indem sie allgemeine ‚notwendige Be-
dingungen‘ identifiziert, sondern konkret, indem sie Elemente, die als (implizite
oder operative) Momente der Gesamterfahrung innewohnen, versucht (explizit)
aufzuweisen. Dabei geht es nicht mehr nur darum, wie eine kohärente Objekt-
und Weltwahrnehmung möglich ist, sondern auch um die zeitliche Genese
und Entwicklung der Subjektivität selbst. Für Husserl ist das transzendentale
Ego keine statische oder formale Anschauungskategorie wie etwa bei Kant,
sondern muss selbst eine Genesis aufweisen; d. h. die Subjektivität bleibt durch
ihre Konstitutionsleistungen nicht unverändert. Hinter den ‚Bedingungen der
Möglichkeit von Erfahrung‘ (vgl. Kant 1970 [1781]) steckt bei Husserl ein leib-
liches und zeitliches Subjekt.
In Husserls genetischer Phänomenologie werden daher Themen wie
Affektion, Motivation, Gewohnheit, Charakter, aber auch Grenzprobleme der
Phänomenologie wie Tod, Schlaf, Unbewusstes etc. zum Thema. Zugleich wird
die Intersubjektivität zum Zentrum einer transzendentalen Phänomenologie,
da die Kohärenz unserer Weltwahrnehmung (Objektivität, Realität) sowie der
Sinn der Gegenstände nicht von einem einzelnen Subjekt konstituiert werden
kann. Was und wie uns die Welt gegeben ist, hängt dabei auch maßgeblich von
unseren Vorfahren, Mitmenschen und möglichen Nachfahren ab. Eine genetische
Phänomenologie muss demnach eingebettet sein in eine generative Phänomenolo-
gie (vgl. Steinbock 1995).
Die genetische Analyse muss dabei nicht notwendig transzendental sein,
sondern kann konkret individualhistorisch oder psychologisch praktiziert
18 Kapitel 1 · Einleitung: Zu den Sachen selbst?

werden: Hier wird nicht unbedingt danach gefragt, was für jede Erfahrung über-
1 haupt notwendig ist, sondern nach den Entstehungsbedingungen (individuell,
historisch, biologisch, kulturell) eines bestimmten, d. h. leiblichen und in der
Welt situierten Subjekts und seinen spezifischen Erfahrungen (vgl. Merleau-Ponty
1966).

Zur Vertiefung
Genetische Stufen der Intentionalität

In seiner Spätphase, der genetischen herabsinkender und damit sich modi-


transzendentalen Phänomenologie, fizierender Form (Hua X, S. 31). Hier
unterscheidet Husserl zwischen ver- wird eine „intentionale Beziehung
schiedenen graduellen Stufen der von Bewusstseinsphase auf Bewusst-
Intentionalität. Intentionalität ist nun seinsphase“, ein passiver zeitlicher Zu-
nicht mehr beschränkt auf die höher- sammenhang der Erfahrung im und vom
stufigen oder aktiven Bewusstseinsakte Bewusstsein hergestellt.
wie Denken, Vorstellen, Urteilen oder Neben der formalen zeitlichen Synthese,
Wahrnehmen. Um Bewusstsein von beginnt die inhaltliche Gerichtet-
Etwas im vollen Sinn, also von einem heit auf einen Gegenstand ebenfalls in
konstanten, identischen Gegenstand der Passivität: In passiven Synthesen
zu ermöglichen, müssen verschiedene der Assoziation nach Ähnlichkeit und
passive Konstitutionsstufen oder passive Kontrast entstehen erste sinnlich-inhalt-
Intentionalität vorangehen. liche Verbindungen, Antizipationen und
Diese vorbewusste Schicht des Bewusst- entsprechende Erfüllungen/Negationen
seins zeichnet sich allererst durch die (Hua XI S. 272, S. 398–416). Auf der
formale Gesetzmäßigkeit des Zeit- Ebene der Passivität findet sich dabei
bewusstseins aus, die alle Sinnes- kein unstrukturiertes Datenchaos,
erlebnisse zu ‚einem Bewusstsein‘ sondern liegt eine passive Gerichtetheit
zusammenschließt. In der passiven auf die Welt vor, die sich durch passives
Synthese der inneren Zeitlichkeit werden Synthetisieren auf der einen und vor-
kontinuierlich und geregelt einkommende objektiven Einheiten auf der anderen
Sinnesdaten (Impressionen), mit voraus- Seite auszeichnet (Hua XI, S. 76; vgl.
weisenden Tendenzen und Intentionen Merz et al. 2010).
(Protentionen) und bereits zurück- Neben der passiven Intentionalität
liegenden Impressionen (Retentionen) spricht Husserl weiter von einer fun-
synthetisiert. Dies bezeichnet Husserl als gierenden Intentionalität, in der sich
Längsintentionalität im Gegensatz zur der Leib auf die Welt hin ausrichtet,
Querintentionalität, die die inhaltliche ohne dass ein Ego oder Ich dabei be-
Gerichtetheit des Bewusstseins auf den- teiligt sein muss (Husserl 1939). Dies
selben Gegenstand bezeichnet: Jede Im- betrifft alle leiblichen Handlungen,
pression, wie etwa der Ton einer Melodie, die nicht als solche direkt thematisch
geht dabei über in eine Retention, d. h. sind, z. B. gewohnheitsmäßige Hand-
verbleibt im Bewusstsein, jedoch in stets lungen. Dieses Konzept wird später
1.3 · Methoden der Phänomenologie im Überblick
19 1

von Maurice Merleau-Ponty über- 1998). Die Triebintentionalität ist eine


nommen und als „Bewegungs- allgemeine Offenheit oder Tendenz zur
intentionalität“ bezeichnet (Merleau- Welt hin, eine noch unbestimmte aber
Ponty 1966, S. 135). Die zeitliche Ver- unmittelbare Gerichtetheit, die jedes
bindung früherer, gegenwärtiger und Bewusstsein oder Lebewesen kenn-
zukünftiger Erfahrungen wird hier zeichnet (vgl. Wehrle 2015). Husserl be-
nicht mehr durch das Bewusstsein, nutzt das Beispiel des Säuglings, das
sondern durch den handelnden Leib in über eine instinktive Richtung oder ur-
einem „intentionalen Bogen“ hergestellt sprüngliche Kinästhese des Trinkens
(Merleau-Ponty 1966, S. 159). verfügt, die durch entsprechende Um-
Weiterhin findet sich bei Husserl noch stände geweckt wird, aber noch kein
die sogenannte Triebintentionalität ‚bewusstes‘ Ziel hat (Ms. C 16 IV, Bl.
(Nam-In Lee/Yamaguchi 1982; Mensch 36b; vgl. Brudzinska 2013).

Selbstaufklärung Wir selbst sind dabei am schwierigsten zu beschreiben, da


wir sowohl konstituierendes, sinnstiftendes Subjekt sind, d. h. Subjekt der Er-
fahrung und Reflektion, das wir bei allen Tätigkeiten jeweils schon voraus-
setzen müssen; als auch konstituiertes Objekt, also das Objekt unserer eigenen
Erfahrung und Reflektion, das immer schon mit einem bestimmen Sinn ge-
geben (d. h. konstituiert) ist. Das Subjekt ist somit notwendiger Ausganspunkt
jeder Phänomenologie, da jede Erfahrungsanalyse zunächst beim jeweiligen
Subjekt dieser Erfahrung beginnen muss, also aus der Erste-Person-Perspek-
tive. Nur so kann eine gewisse Sicherheit oder Evidenz gewährleistet werden,
da jeder/m jeweils nur seine eigene Erfahrung original zugänglich ist, während
die Erfahrung und das innere Erleben anderer Subjekte für mich nur indirekt,
über ihren leiblichen Ausdruck, zugänglich ist. Daher muss jede methodisch
strenge Phänomenologie mit einer ‚Selbstaufklärung‘ beginnen. Sie darf hier-
bei aber nicht stehen bleiben, denn in einer solchen Selbstaufklärung zeigt sich
phänomenologisch die Transzendenz anderer Subjekte und Dinge. Gerade
dadurch, dass wir diese eben nicht auf einen Schlag, allumfassend oder original
wahrnehmen und bestimmen können, sondern diese immer in einen offenen
Horizont weiterer Wahrnehmungen eingebettet sind, entziehen sie sich beständig
unserem Zugriff.

Intersubjektivität Insbesondere für die Gewissheit, dass dasjenige, was ich er-
fahre, keine Illusion ist, dass es also eine Welt gibt, sind die Abgleiche mit den
Erfahrungen anderer unerlässlich. Keinen einzigen Sinn, wie z. B. Subjektivi-
tät, Objektivität, Welt oder gar Ich, kann ein einzelnes konkretes Subjekt alleine
konstituieren. All dies ergibt nur dann einen Sinn, wenn es auch andere er-
fahrende und sinnstiftende Subjekte gibt, die dieselbe Welt erfahren, wenn auch
nicht immer auf die gleiche Weise. Im Subjektiven erkennen Phänomenolog:innen
dabei nicht nur die Objektivität und Transzendenz der Welt, sondern auch, dass
die Intersubjektivität dem einzelnen Subjekt immer schon vorausgehen muss: Alle
20 Kapitel 1 · Einleitung: Zu den Sachen selbst?

Inhalte, die wir in unserem Bewusstsein vorfinden, verweisen bereits auf andere
1 Subjekte, Welt, Natur oder Kultur. Zwar ist jede Erfahrung, jedes Erkennen not-
wendig subjektiv, dasjenige, was wir erkennen jedoch nicht: Der Inhalt der Er-
fahrung weist in seinem Sinn immer schon über das einzelne Subjekt hinaus auf
eine Intersubjektivität. Jedes Subjekt ist, was es ist, nur als „Kind seiner Zeit“
und „Erbe“ einer Kultur (Husserl, Hua XV, S. 223), und damit genuin historisch.
Um also ‚zu den Sachen selbst‘ gelangen zu können, muss phänomenologische
Beschreibung, Wesensbestimmung und transzendentale Aufklärung im stetigen
korrigierenden Austausch mit anderen stattfinden.

Zur Vertiefung
Intersubjektivität und kollektive Intentionalität

Intentionalität ist immer schon inter- gemeinsamen leiblich fungierenden


subjektiv und sozial geprägt. Dies Intentionalität und Zwischenleiblich-
herauszustellen war und ist eines der keit (vgl. Merleau-Ponty 2007 [1960],
zentralen Themen der Phänomenologie. S. 242, 252; Waldenfels 2000, S. 287 ff.;
So ist etwa das Bewusstsein, das wir Fuchs 2003; Eberlein 2016; Fuchs/De
von uns selbst als etwas (Objekt, Selbst) Jaegher 2009) sprechen sowie von einer
haben, bestimmt durch den Blick, d. h. ‚Wir-Intentionalität‘ oder ‚kollektiven
die Intentionalität der Anderen (Sartre Intentionalität‘ oder einem ‚Mit-
1943) sowie dem sozialen, kulturellen einanderfühlen‘ (Husserl, Hua XIII-XV;
und historischen Kontext (Beauvoir Walther 1923; Stein 2008 [1916]; Scheler
1949; Fanon 1952). Wir können sogar 1923; Bermes/Henckmann/Leonardy
von uns als Mensch, Person oder Subjekt 2003). Themen, die die gegenwärtige
überhaupt erst sprechen, wenn es auch Phänomenologie wieder ins Zentrum
andere Subjekte mit entsprechendem rückt, weiterentwickelt und auf aktuelle
Bewusstsein und Intentionalität gibt akademische Debatten, z. B. über soziale
(Husserl, Hua I), für die wir wiederum Kognition oder Sozialontologie, oder
Objekte ihrer Erfahrung sind. Weiterhin politische und soziale Phänomene, z. B.
ist Intentionalität nicht nur eingebettet Massenhysterie oder Populismus, bezieht
in soziale, kulturelle und historische (Moran/Szanto 2016; Zahavi 1996, 2018;
Kontexte, sondern vollzieht sich auch Magri/Moran 2018; Zahavi/Salice 2017;
aktiv mit anderen, auf implizite oder Tranas/Caminada 2020; Thonhauser
explizite Weise. So lässt sich von einer 2020; Szanto 2020).

Die Devise ‚Zu den Sachen selbst‘ erweist sich somit als unabschließbare Auf-
gabe der Phänomenologie, als ihre regulative Idee. Husserl beschreibt sein
wissenschaftliches Programm als Arbeitsphilosophie, die von Generation zu
Generation fortzuführen ist, da ein Einzelner hier keine endgültigen Ergebnisse
erlangen kann. Wir beginnen dabei bei einer vorurteilslosen Beschreibung und
1.3 · Methoden der Phänomenologie im Überblick
21 1
Annäherung an die ‚Sachen‘, um von diesen als Leitfäden zurückzufragen, wie
es überhaupt möglich ist, dass wir Sachen und eine einheitlich und kohärent er-
scheinende Welt gegeben haben. So kommen wir von den erfahrenen Sachen
zu den korrelativ notwendigen allgemeinen Strukturen und Leistungen im
subjektiven Bewusstsein bzw. in der intersubjektiven Konstitution. Erst durch
diesen Umweg über das erfahrende und konstituierende Subjekt, und wichtiger,
durch die Evidenz anderer ebenfalls erfahrender und Sinn konstituierender
Subjekte, gelangen wir philosophisch wieder zu den ‚Sachen selbst‘ und sind
in der Lage, die vorher nur angenommene Objektivität nun auch aus eigener
Evidenz zu begründen und zu bestätigen.

Bescheidenheit Alle Untersuchungen der Sachen und der Welt sind dabei immer
auch eine Form der Selbsterkenntnis (vgl. Hua I, S. 182 ff.), da uns die Dinge
sowie andere Subjekte immer nur perspektivisch und in subjektiver Erfahrung
gegeben sind. Dies soll nicht heißen, dass die Sachen und die Welt damit auf
unsere Erfahrung davon reduziert werden sollen oder aber lediglich als Schöpfung
der Subjektivität gelten und wir den Status einer von uns unabhängigen Welt
negieren. Mit dem Insistieren darauf, dass Bewusstsein und Sein, Subjekt
und Objekt, Bewusstseinsweise und Bewusstseinsinhalte für uns erkennende
Menschen immer nur zusammen zu haben sind, will Husserl nicht den Status des
Subjekts überhöhen oder uns zum Größenwahn verleiten.
Im Gegenteil, ein solches Korrelationsapriori (d. h. eine Verbindung, die vor
jeder konkreten Erfahrung diese Erfahrung ihrem Wesen nach bestimmt) weist
uns in die Schranken und fordert auf zur Bescheidenheit. Bevor wir etwas,
was vermeintlich nur subjektiv oder relativ ist, als universell oder objektiv ver-
künden, müssen wir es genauestens prüfen: Welche Evidenzen haben wir hier-
für, stimmen weitere Erfahrungen und Erfahrungen von anderen Subjekten hier-
mit überein? Wie können wir unsere subjektiven Annahmen, Vorurteile, Ge-
wohnheiten und Interessen, die diese Wahrnehmung mitbestimmen, ins Licht
rücken, thematisieren oder einklammern? Nur über den Umweg über eine solche
strenge Selbsterkenntnis kommen wir laut Husserl mit kleinen und bescheidenen
Schritten, zusammen mit anderen Phänomenologietreibenden in kleinteiliger Be-
schreibung dessen, was uns in der Erfahrung gegeben ist, zu den ‚Sachen selbst‘.

? Aufgaben
1. ‚Eine-Minute-Essay‘: Was bleibt Ihnen nach dem Lesen von 7 Abschn. 1.3
im Gedächtnis? Notieren Sie Fragen, Stichworte, Kernaussagen und erwähnte
methodische Schritte in einer bis drei Minute(n). Lesen Sie sich Ihre Ein-
Minuten-Essays gegenseitig vor (zwei Studierende, Sitznachbar:innen) und dis-
kutieren Sie darüber (vor oder im Seminar).
2. Welche methodischen Schritte werden unterschieden und warum? Versuchen
Sie, alle methodischen Schritte zu identifizieren; versehen Sie jeden Schritt mit
Stichworten und Kernaussagen. Versuchen Sie, Gründe anzugeben, warum
dieser Schritt nützlich, hilfreich oder notwendig ist, um ‚zu den Sachen selbst‘
zu gelangen.
22 Kapitel 1 · Einleitung: Zu den Sachen selbst?

3. Glossar: Notieren und definieren Sie alle neuen Begrifflichkeiten. Achten Sie
1 dabei auf die jeweilige Wortherkunft und -bedeutung. Nutzen Sie hierfür auch
andere bibliographische Mittel sowie eine Internetrecherche. Beginnen Sie mit
dem Erstellen eines Glossars und fügen Sie ihre Definitionen (Lemma) hinzu.
(Tipp: Dieses Glossar kann gemeinsam mit anderen Kommiliton:innen erstellt
werden.)
4. Geben Sie ein Beispiel für eine statische und eine genetische phänomeno-
logische Analyse. Machen Sie dabei deutlich, wie diese sich in Bezug auf
Gegenstand, Ziel und Vorgang der Analyse unterscheiden. Definieren Sie dabei
Begriffe wie noetisch, noematisch, statisch, genetisch oder transzendental.

Literatur
Im Text werden die verwendeten Bände der Gesammelten Werke von Husserl (Husserliana) nur
mit der Sigle Hua und der Bandnummer angegeben. Die einzelnen Bände werden immer in der
Literatur aufgelistet.

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Phaenomenologica 135. Den Haag: Kluwer.
Zahavi, Dan. 2008. Intentionalität und Bewusstsein. In Edmund Husserl: Logische Untersuchungen,
Hg. Verena Mayer. Berlin: Akademie Verlag.
Zahavi, Dan. 2018. Collective Intentionality and Plural Pre-reflective Self-Awareness. Journal of So-
cial Philosophy 49(1): 61–75.
Zahavi, Dan, Salice, Allessandro. 2017. Phenomenology of the We: Stein, Walther, Gurwitsch. In The
Routledge Handbook of Philosophy of the Social Mind, Hg. J. Kiverstein. London: Routledge,
chapt. 30.
25 2

Methoden der
Phänomenologie
Inhaltsverzeichnis

2.1 Vorurteilsloses Beschreiben – 26


2.1.1 Beispiele: Dingbeschreibung – 31
2.1.2 Beispiele: Zeitlichkeit und Erfahrung – 38

2.2 Das Allgemeine bestimmen – 41


2.2.1 Beispiele eidetischer Variation – 48
2.2.2 Kritik am Essentialismus – 53

2.3 Zurückfragen nach den Bedingungen – 55


2.3.1 Die drei Wege zur transzendentalen Reduktion – 61
2.3.2 Beispiele: Selbsterfahrung und Fremderfahrung – 71

2.4 Phänomenologische Methode nach Husserl – 82

Literatur – 93

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022


M. Wehrle, Phänomenologie,
Philosophische Methoden, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05778-5_2
26 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Jede Phänomenologie beginnt methodisch sowie inhaltlich bei der Beschreibung


der konkreten Erfahrung, sei es Wahrnehmung, Vorstellung oder Erinnerung.
Hierbei kann sich das Beschreiben jeweils auf den Inhalt des Erlebens oder den
2 Akt des Erlebens konzentrieren. Beide zusammen machen dasjenige möglich, was
wir Erfahrung (von Etwas) nennen. Ausgehend von der Beschreibung des (z. B. in
der Wahrnehmung) gegebenen Gegenstandes (z. B. ein Haus oder ein Ton) kann
man nun methodisch zwei verschiedene Analyserichtungen unterscheiden.
Zwei methodische Richtungen Einmal lässt sich von hier aus nach dem All-
gemeinen oder Spezifischen dieses Hauses oder Tones fragen, ein anderes Mal
nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser Haus- und Tonerfahrung oder eben
von Erfahrung überhaupt. Im ersteren Fall handelt es sich um die Methode der
Eidetik oder Wesensbestimmung, im zweiten Fall, um eine transzendentale Be-
gründung oder genetische Konstitutionsanalyse. Während die Eidetik objektiv ge-
richtet ist und die Sachen ihrem allgemeinen und notwendigen Wesen nach be-
stimmen möchte, geht es der transzendentalen Konstitutionsanalyse darum, zu
klären, wie und warum wir überhaupt in der Lage sind, konstante und einheit-
liche Sachen zu erfahren. Sie geht also einen Schritt zurück und untersucht die Be-
dingungen der Erfahrung von Sachen (Objektivität) im Subjekt oder Bewusstsein.
Beide Methoden sind dabei selbständig und können unabhängig voneinander
angewendet werden. Ich kann etwa das Allgemeine einer Sache, sei es ein Haus
oder die menschliche Psyche, bestimmen, ohne dabei philosophisch auf die
konstitutiven Leistungen in (jedem) Bewusstsein zurückzufragen, die eine solche
Erfahrung von einem Haus oder einer menschlichen Psyche erst möglich machen.
Während das erstere den Ausganspunkt einer formalen Begriffsbestimmung oder
einer regionalen Ontologie (also der Bestimmung allgemeiner Regionen und
Gattungen von Sein) darstellt, ist das letztere eher einer Erkenntnisphilosophie
oder Erkenntniskritik (also der Frage danach, was die Bedingungen und Grenzen
unseres Erkennens von Welt und Sein sind) zuzuordnen (vgl. Schnell 2019, 44–
48).

2.1  Vorurteilsloses Beschreiben

» Es gilt zu beschreiben, nicht zu analysieren und zu erklären. (Merleau-Ponty 1966,


S. 4)

» Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle
der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der „Intuition“ originär, (sozusagen
in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es
sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine
erdenkliche Theorie irre machen. (Husserl, Hua III/1, S. 51)

Was ist phänomenologische Beschreibung und warum ist Beschreibung eine


philosophisch relevante Methode? Das folgende Kapitel versucht, diese Frage zu-
nächst im Ausgang von Husserl theoretisch und anhand von Beispielen zu be-
antworten.
2.1 · Vorurteilsloses Beschreiben
27 2
Nach dem „Prinzip aller Prinzipien“ soll die Beschreibung zunächst mit dem
beginnen, was uns ‚originär‘, d. h. unmittelbar selbst gegeben ist, statt sich auf
bestehende Theorien, Wissen und Meinungen aus zweiter Hand zu berufen. Nur
wenn ich selbst aus eigener Erfahrung etwas gegeben habe, kann ich mich von
dessen Evidenz (Tatsächlichkeit, Existenz, Vollständigkeit) oder Wahrheit auch
überzeugen oder diese gegebenenfalls erneut überprüfen.

Primat der Erfahrung Mit originärer Erfahrung ist nicht gemeint, dass wir Ein-
sicht in eine irgendwie reine, vollständige oder originale Natur oder Welt vor
jeder historischen oder kulturellen Prägung hätten. Originär bezeichnet nicht
den Inhalt der Erfahrung, sondern vielmehr den Modus der Erfahrung. So hat
jeder in der Erste-Person-Perspektive einen direkten (‚leibhaftigen‘), jedoch nur
perspektivischen, d. h. partiellen Zugang zur Welt und anderen Subjekten. Einen
‚nicht-originären‘ Zugang habe ich dagegen zu den Erlebnissen und Erfahrungen
von anderen Subjekten, und einen nur indirekt originären Zugang habe ich zu
allem, was ich in der Vergangenheit erfahren habe. Jedes weitere Denken oder
Urteilen setzt daher zunächst voraus, dass uns irgendetwas in der Erfahrung
(Wahrnehmung) gegeben ist, über das wir dann nachdenken oder urteilen
können. Zugleich bedeutet dies, dass alle anderen Methoden der Philosophie, wie
die Erklärung, Analyse oder Formalisierung von etwas, in der Erfahrung fundiert
sein müssen: Wie Husserl und Merleau-Ponty in obigen Zitaten betonen, muss all
dies von dem Gegebenen, also der Erfahrung, ausgehen, jede Analyse, Erklärung,
Formalisierung ist zunächst eine Explikation oder Reduktion des Erfahrenen
bzw. der Beschreibung von Erfahrung.

Lebenswelt Diese Fundierung aller höherer kognitiver Akte in der Lebens-


welt, als umfassender Horizont des alltäglichen praktischen Lebens (vgl. Husserl
1986; Hua VI), wird jedoch von den Wissenschaften und Philosophien oft ver-
gessen oder übergangen. An die gegebene Welt und die alltäglichen Dinge und
Handlungen sind wir so gewöhnt, sie sind so normal und selbstverständlich, dass
sie nicht mehr eigens zum Thema werden. Deshalb muss man zunächst einmal
wieder die Aufmerksamkeit auf unsere Erfahrung der Welt lenken und wieder
lernen, diese neu zu sehen und zu beschreiben.
Was ist uns eigentlich jetzt und im weiteren Verlauf der Erfahrung wirklich
gegeben und auf welche Weise (klar, differenziert, vage, im Hintergrund)? Was
fällt wirklich ins Blickfeld und was antizipieren wir lediglich aufgrund früherer
Wahrnehmung? Was wird unmittelbar gesehen und erfahren, und was ist lediglich
das Ergebnis einer nachträglichen Abstraktion oder Ausdruck unseres Wissens
darüber oder der historischen Gewöhnung? Wenn wir meinen, ein Haus oder
einen Würfel zu sehen, welche ‚Intentionen‘ sind dann erfüllt (die jetzt zu sehende
Vorderseite des Hauses), und welche lediglich leer oder mitgemeint (die jetzt nicht
eigentlich gesehene Rückseite des Hauses)? Warum sehen wir kontinuierlich ein
und dasselbe ‚ganze‘ Haus, obwohl wir jeweils nur Abschattungen davon, d. h.
zeitlich aufeinanderfolgende verschiedene Perspektiven haben?
28 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Aufmerksamkeitswechsel und Epoché Die als selbstverständlich erfahrene Welt


und ihre Dinge – selbstverständlich mit Bezug auf ihre Existenz, Einheit und
ihren Sinn – werden so wieder zu ‚Phänomenen‘, etwas das unser Interesse weckt,
2 dessen Rätsel und Erscheinung der Untersuchung wert sind. Hierfür muss zu-
nächst ein Aufmerksamkeitswechsel stattfinden, weg vom alltäglichen Umgang
mit den Dingen hin zur Beschreibung ihrer Gegebenheit in unserer Erfahrung.
Bei der Beschreibung eines Gegenstandes, ob in der Wahrnehmung, Er-
innerung oder Vorstellung, versuchen wir dabei unsere Urteile und Über-
zeugungen sowie unser konzeptuelles Wissen über den jeweiligen Gegenstand
vorerst ‚einzuklammern‘. Das nennt Husserl im Anschluss an die pyrrhonische
Skepsis auch Epoché (Urteilsenthaltung). Dies meint nicht, dass jenes Wissen,
jene Annahmen oder Urteile zum Verschwinden gebracht werden können oder
mein Bewusstsein zur tabula rasa wird, in der mir die Objekte wie zum allerersten
Mal erscheinen. Die Annahmen werden lediglich ‚in Klammern‘ gesetzt, also vor-
erst nicht berücksichtigt. Sie bleiben ‚außer Spiel‘, wie Husserl dies nennt, um
unsere Aufmerksamkeit auf die anschauliche Gegebenheit zu lenken und nicht
darauf, was wir jeweils schon darüber (glauben) zu wissen oder davon halten.
Inhaltlich verändert sich dabei nichts, das Haus, das wir vorher beiläufig
sahen, während wir am Laptop sitzend aus dem Fenster schauten, ist dasselbe,
es verliert auch nicht seinen bekannten Sinn oder das konzeptuelle Wissen,
dass es sich um ein Haus handelt. In der phänomenologischen Beschreibung
beginnen wir nicht mit vagen Umrissen oder Proto-Objekten, sondern mit dem,
was wir hier und jetzt erfahren: Also keine einzelnen Sinnesdaten, Atome oder
lediglich Umrisse, sondern Häuser, Bäume, Blumen. Wir können unsere Unter-
suchung aber auch mit einer Idee oder einem Konzept beginnen, das wir in
unserer Kultur vorfinden, z. B. Wissenschaft. Diese für uns bekannten Sachen
mitsamt ihrer Bedeutung nehmen wir nun als Leitfaden der Beschreibung. Der
bekannte Gegenstand leitet damit einerseits die Beschreibung, zugleich wird er
jedoch eingeklammert, d. h., er erhält den Status ‚vorläufig‘ bzw. ‚unter Vorbe-
halt‘: Die Gültigkeit dieser bekannten Bedeutung muss sich dabei im Verlauf der
phänomenologischen Beschreibung erst ausweisen und muss gegebenenfalls an-
gepasst oder differenziert werden.

Vom Was zum Wie der Gegebenheit Als Phänomenologietreibende kümmern wir
uns dabei zunächst nicht darum, ob das jeweilige Ding nun wirklich existiert oder
nicht (dies ist genaugenommen ja auch ein Wissen oder eine Vorannahme), auch
konzentrieren wir uns nicht näher darauf, was das jeweilige Ding denn sei (kon-
zeptuelle Kategorisierung) und warum (Erklärung), sondern widmen uns zu-
nächst der Beschreibung, wie dieses Etwas, das mir jetzt in der Erfahrung er-
scheint, gegeben ist, achten z. B. auf das Haus, das nun vor uns steht und be-
schreiben es als ‚wahrgenommenes Haus‘ im Wie seiner Gegebenheit, d. h. als
mir (oder anderen) erscheinendes Phänomen.
Es ist dabei nicht so, dass das Phänomen ‚Haus‘ in irgendeiner Weise nun zu-
sätzlich zum realen Ding ‚Haus‘ auftaucht. Wie bereits erläutert, ist jeder Zugang
zur Welt und den Dingen immer ein erfahrender, und damit ist das intentionale
Objekt oder Phänomen der Wahrnehmung genau dasjenige, was wir jeweils von
2.1 · Vorurteilsloses Beschreiben
29 2
dieser Welt erfahren. Das reale Ding Haus ist dasselbe wie das wahrgenommene
Haus, es wird leibhaftig erfahren, steht vor uns, nur eben niemals vollständig.
Jedoch wird es uns als ‚Phänomen‘, d. h. als der Umstand, dass es uns in einer
bestimmten Art und Weise erscheint, erst durch den Aufmerksamkeitswechsel
thematisch und dadurch als solches beschreibbar. Ziel der phänomenologischen
Beschreibung ist es, dabei zwischen verschiedenen Aspekten, Weisen, Qualitäten
oder Intensitäten in der jeweiligen Erscheinung zu unterscheiden. Beschreiben ist
also Differenzieren, d. h.:
5 Wir entdecken Unterschiede: z. B. zwischen denjenigen Aspekten des Hauses,
die ‚leibhaftig‘ ins Blickfeld fallen, wie die Vorderseite des Hauses, und den-
jenigen, die wir eigentlich momentan nicht sehen, wie die Rückseite des
Hauses; oder zwischen dem, was im Fokus der Wahrnehmung steht und dem,
was im Hintergrund bewusst ist.
5 Wir finden Zusammenhänge: z. B. zwischen eigentlich und nicht eigentlich ge-
sehenen Seiten oder den visuellen Erscheinungen und Bewegungen des Wahr-
nehmenden etc.
5 Wir erkennen allgemeine Strukturen: z. B. jede Wahrnehmung richtet sich auf
etwas, jedes Ding steht in einem räumlichen Horizont, jede äußere Wahr-
nehmung setzt potentielle Bewegung voraus.

Phänomenologisches Beschreiben will insofern keine willkürlichen oder einmaligen


Unterschiede finden, die lediglich diese faktische Erfahrung ausmachen (also meine
momentane Hauswahrnehmung), sondern anhand dieses Faktischen das All-
gemeine und Notwendige identifizieren, ohne die ein solcher Typ von Erfahrung
nicht beschrieben werden kann (hier: Dingwahrnehmung). Die Phänomeno-
logie versucht, durch Beschreibung Strukturen und Unterschiede zu identifizieren,
die nicht nur auf die Wahrnehmung dieses Hauses oder jenes Würfels zutreffen,
sondern für jede mögliche und denkbare Haus- oder Würfelwahrnehmung (er-
fahren von wem auch immer) gelten.
Es geht also beim Phänomenologisieren stets um ein reflektiertes und be-
schreibendes Sehen (oder Vorstellen) mit dem Ziel, eine allgemeine Einsicht –
nicht umsonst heißt es ja (Ein-)Sicht – in die jeweilige Erfahrung oder das Er-
fahren überhaupt zu erhalten. Wir fragen daher nicht: wie fühle ich mich gerade,
was erlebe ich innerlich, während ich dies oder jenes tue, wie dies etwa in der
psychologischen Introspektion der Fall ist (vgl. z. B. William James, Edward B.
Titchener, Wilhelm Wundt). Phänomenologie beschreibt zwar nicht nur Dinge,
sondern auch die dazugehörigen Bewusstseinsweisen und Empfindungen, versteht
sich jedoch nicht als psychologische Selbstbeobachtung, die nach einem unmittel-
baren Zugang zum individuellen inneren Erleben sucht. Stattdessen fragt sie, was
diese oder jene Erfahrung jeweils ausmacht, was typisch ist für eine Hauswahr-
nehmung, Dingwahrnehmung oder Wahrnehmung überhaupt, und dazu gehören
eben auch subjektive Bewusstseinsfunktionen.

Vom Individuellen zum Allgemeinen Phänomenologie beginnt bei der Erste-Per-


son-Perspektive, da wir nur von hier aus Zugang zur Welt und den Dingen
haben; bleibt aber bei dieser nicht stehen, sondern will allgemeine Aussagen
30 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

über diese Erfahrung treffen, d. h. Aussagen, die nicht lediglich für meine Er-
fahrung im Hier und Jetzt gültig sind, sondern für die Erfahrung allgemein bzw.
aller bewusstseinsfähiger Individuen. Eine gelungene phänomenologische Be-
2 schreibung muss sich daher intersubjektiv ausweisen lassen: Wenn meine Be-
schreibung stimmig ist, heißt dies, dass nicht nur mir von diesem Haus zunächst
diejenige Seite erscheint, der ich zugewandt bin (Vorderseite), sondern prinzipiell
jedem, der dieselbe Perspektive einnimmt. Natürlich kann es individuelle und
kulturelle Qualitätsunterschiede der Wahrnehmung dieses Hauses geben, auf-
grund unterschiedlicher Aufmerksamkeit und Interessen sowie körperlicher
Unterschiede der Sinnesorgane, der Körpergröße etc. Auch kann es sein, dass
jemand anstatt eines Hauses eine Theaterkulisse oder eine Wand sieht. Bezüglich
der Grundstrukturen dieser Erfahrung (es gibt Seiten, die jetzt eigentlich gesehen
werden und andere eigentlich nicht; mir erscheint etwas und nicht nichts) müssen
die Beschreibungen jedoch übereinstimmen.
Es gilt also: Nicht nur mir erscheinen Dinge immer in einem räumlichen
Horizont, sondern dies ist kennzeichnend für jede stattfindende oder denkbare Ding-
wahrnehmung (von wem auch immer erfahren). Nicht nur meine Wahrnehmung
richtet sich auf Etwas, sondern jede Wahrnehmung, soll sie denn Wahrnehmung
heißen, muss sich notwendigerweise auf Etwas richten. Zu solchen allgemeinen Aus-
sagen gelangt man ausgehend von der Beschreibung durch eine spezifische Methode,
die Husserl eidetische Variation nennt – oder manchmal auch eidetische Reduktion,
im Sinne des Reduzierens auf grundlegende, allgemeine Strukturen.
Allgemeine Aussagen über die Erfahrung lassen sich praktisch überprüfen oder
theoretisch absichern:
5 Praktisch absichern im intersubjektiven Vergleich mit den Beschreibungen
anderer Phänomenolog:innen oder durch Abgleich mit besonderen, ab-
weichenden oder pathologischen Erfahrungen und Fällen sowie empirischer
Forschung (7 Abschn. 3.2).
5 Theoretisch absichern durch eidetische Bestimmung, d. h., durch die
imaginative Variation der konkreten Erfahrung, die entweder positiv durch
Übereinstimmung und Überlappung von Merkmalen der imaginierten Fälle
oder negativ durch Ausschluss aller nicht wesentlichen Momente einer Er-
fahrung, das allgemeine (nicht anders denkbare) Wesen der erfahrenen Dinge
oder Erfahrungsweisen feststellt (7 Abschn. 2.2).
5 Transzendental begründen, durch eine Rückfrage im Hinblick darauf, welche
Funktionen oder Erfahrungsstufen der jeweiligen Erfahrung genetisch voran-
gehen oder logisch zugrunde liegen müssen, wodurch kenntlich gemacht wird,
dass dieser Aspekt konstitutiv (logisch oder genetisch) notwendig ist, um eine
solche Erfahrung zu ermöglichen (7 Abschn. 2.3)

Letztlich dient die phänomenologische Beschreibung also nicht dazu, das Be-
sondere, Einmalige oder Individuelle eines Dinges, einer Person oder Erfahrung
herauszuheben – wie etwa die Beschreibung eines Kunstwerkes, einer geliebten
Person oder eines besonders außergewöhnlichen Erlebnisses –, sondern sie ist
der Versuch, das Allgemeine oder Typische im Individuellen und Singulären ‚er-
schauend‘ festzuhalten.
2.1 · Vorurteilsloses Beschreiben
31 2
Insbesondere Phänomenologie im Ausgang von Husserl will das Gesehene auf
den Kern oder das Wesentliche reduzieren, das Wesen oder eidos dieser Erfahrung
identifizieren, beginnend mit der Bestimmung und Differenzierung bestimmter
Typen von Erfahrung oder Typen von erfahrenen Sachen (Hunde, Häuser, Würfel
etc.), bis hin zur Bestimmung von Erfahrung und Bewusstsein allgemein. Auch
die Beschreibung von Grenzfällen wie Schlaf, Traum, Drogenrausch, Pathologien
oder Tod dienen dazu, diese Grenzfälle in ihrer Typik zu beschreiben (was macht
eine bestimmte Pathologie aus?, was ist charakteristisch beim Schlaf ?, wie unter-
scheiden sich Schlaf, Drogenrausch und Wachzustand? etc.). Dies hilft dabei, die
Grenzen der Erfahrung und des Bewusstseins (Schlaf/Tod) festzustellen sowie
herauszufinden, was die sogenannte ‚normale‘ Erfahrung eigentlich ausmacht.

2.1.1  Beispiele: Dingbeschreibung

Um zu illustrieren, wie eine phänomenologische Dingbeschreibung aussehen


kann, wenden wir uns nun Husserls bekannter Beschreibung eines Würfels zu.

► Beispiel – Der Würfel: Mehr als seine sichtbare Vorderseite

» Wir gehen heute an die Erörterung eines wichtigen phänomenologischen


Unterschiedes, der sich in bekannten populären Reden bekundet. Wir sagen
allgemein verständlich, dass wir die uns umgebenden Dinge sehen, und
gleichzeitig sagen wir, dass wir von ihnen eigentlich nur die Vorderseite sehen
[…] Wir sehen einen Würfel. Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass das
Phänomen unverändert bleibt, der Würfel bewegt sich nicht, und auch wir
bleiben in gleicher Stellung zu ihm. Dann wendet uns der Würfel nur eine
bestimmte Seite zu, wir sehen ihn so, wie er „von dieser Seite aussieht“. Wir
sehen dann „eigentlich“ nur ein Stück seiner Oberfläche, nur die und die
begrenzenden Quadrate mit ihren Färbungen und Zeichnungen. Das sind
Bestimmtheiten des Würfels, die wir in einem gewissen ausgezeichneten Sinn
selbst „sehen“. Die übrigen Bestimmtheiten sehen wir nicht: die unsichtigen
Oberflächenteile, Färbungen, das Innere usw. Andererseits sehen wir doch
den Würfel, und dieser wahrgenommene, gesehene Gegenstand ist mehr
als der Inbegriff jener Bestimmtheiten, von denen es eben hieß, dass nur sie
eigentlich gesehen seien. Zum Sinn der gegenständlichen Auffassung, zum
Inhalt des Würfels, wie er in der Wahrnehmung gemeint ist, gehört sicher auch
das Innere, die Rückseite u.dgl. […] Der Würfel ist mehr als seine sichtbare
Vorderseite und das an der Vorderseite „wirklich“ Sichtbare. Sofern nun der
Würfel, der ganze Würfel, in der Wahrnehmung gemeint ist, ist er der voll und
ganz gesehene, fällt er ganz mit all den ihm zugemeinten Bestimmungen in die
Wahrnehmung. Andererseits zeigen doch wieder die Beispiele, dass nur ein Teil
der Bestimmtheiten in einem gewissen prägnanteren Sinn Anspruch darauf hat
[…] als gesehen, als wahrhaft in die Wahrnehmung fallend zu gelten. Was ist das
für ein Unterschied, und wie ist er phänomenologisch aufzuklären? (Husserl,
Hua XXXVIII, S. 26–27) ◄
32 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

In obigem Beispiel beschreibt Husserl nach eigener Angabe dabei nur das
Phänomen selbst, also wie es uns erscheint. Dabei bleibt die Frage der wirklichen
Existenz des Würfels ‚außer Spiel‘, d. h. wir enthalten uns vorläufig eines Urteils
2 oder einer Aussage hierüber und nehmen nur das Wahrnehmungserlebnis in den
Blick. Anstatt sofort darüber zu urteilen, ob dieser Würfel tatsächlich existiert
und warum, wird zunächst versucht zu beschreiben, wie und warum, d. h. durch
welche Aspekte oder Elemente, uns der Würfel überhaupt als ‚real‘ erscheint.

Aktuelle und potentielle Aspekte der Wahrnehmung Anhand der Beschreibung des
Würfels macht Husserl hier den Unterschied deutlich zwischen dem, was wir
‚eigentlich‘ oder in ‚einem gewissen ausgezeichneten Sinn selbst sehen‘ (die jetzt
präsente Seite, die Oberfläche des Würfels) und dem, was in der Wahrnehmung
‚gemeint‘ ist, d. h. der ‚gegenständlichen Auffassung‘ ‚Würfel‘ (mitsamt den nicht
eigentlich gesehenen Aspekten). Der Würfel, so heißt es, ist mehr als seine jetzt
sichtbare Vorderseite bzw. das an der Vorderseite ‚wirklich‘ sichtbare, und doch
fällt nur ein Teil der ‚Bestimmtheiten‘ in unsere aktuelle Wahrnehmung. Die
Meinung oder Intention ‚ich sehe einen Würfel‘ enthält also nicht nur aktuell
eigentlich Wahrgenommenes, sondern auch Aspekte, die noch nicht im ‚aus-
gezeichneten Sinn‘ selbst gesehen wurden, jedoch potentiell (im weiteren Verlauf
der Wahrnehmung) wahrgenommen werden können. Wahrnehmung besteht also
aus der Verbindung von aktuellen oder erfüllten und möglichen (virtuellen), d. h.
leeren ‚vermeinten‘ Aspekten, die zum Sinn ‚Würfel‘ gehören und potentiell (zu-
mindest teilweise) wahrnehmbar sind, jedoch nicht in die aktuelle Wahrnehmung
fallen.
In einem späteren Text führt Husserl dies weiter aus und nennt das eigentliche
‚Bewussthaben‘ ein Originalbewusstsein. Wahrnehmung ist dabei immer schon
eine Mischung aus aktuellen (d. h. originalen) und möglichen (bzw. zukünftigen)
Wahrnehmungen. Obwohl sich jede äußere Wahrnehmung auf den vollen Gegen-
stand (Haus) richtet, ist dieser wiederum nur in Abschattungen gegeben, besteht
also aus original Gegebenem und lediglich ‚Indiziertem‘.

► Beispiel – Der Tisch (1): Original gegeben oder indiziert?

» Das ist eine merkwürdige Wesenslage. Denn zu dem eigenen Sinn jeder
Wahrnehmung gehört ihr wahrgenommener Gegenstand als ihr gegenständlicher
Sinn, also dieses Ding: der Tisch, der gesehen ist. Aber dieses Ding ist nicht
die jetzt eigentlich gesehene Seite, sondern ist […] eben das Vollding, das
noch andere Seiten hat […]. Wahrnehmung, ganz allgemein gesprochen, ist
Originalbewusstsein. Jedoch in der äußeren Wahrnehmung haben wir den
merkwürdigen Zwiespalt, dass das Originalbewusstsein nur möglich ist in
der Form eines wirklich und eigentlich als original Bewussthabens von Seiten
und eines Mitbewussthabens von anderen Seiten, die eben nicht original da
sind. Ich sage mitbewusst, denn auch die unsichtigen Seiten sind doch für das
Bewusstsein irgendwie da, ‚mitgemeint‘ als mitgegenwärtig. Aber sie erscheinen
eigentlich nicht. […] Das Wahrnehmen ist, noetisch gesprochen, ein Gemisch
von wirklicher Darstellung […] und leerem Indizieren, das auf mögliche neue
2.1 · Vorurteilsloses Beschreiben
33 2
Wahrnehmungen verweist. In noematischer Hinsicht ist das Wahrgenommene
derart abschattungsmäßig Gegebenes, dass die jeweilige gegebene Seite auf
anderes Nichtgegebenes verweist, als nicht gegeben von demselben Gegenstand.
Das gilt es zu verstehen. (Husserl, Hua XI, S. 4–5) ◄

Ein solches Indizieren oder Mitmeinen ist dabei keineswegs ein Hinzudichten,
Vorstellen, oder Imaginieren, sondern gehört zur gegenwärtigen Wahrnehmung.
Erst nachdem eine solche Wahrnehmung oder Präsentation stattgefunden hat,
kann man den einheitlichen Gegenstand als Ganzen imaginieren, erinnern, vor-
stellen, d. h. re-präsentieren. Zwar können wir uns während einer Wahrnehmung
die momentan nicht gesehenen Seiten des Tisches explizit vorstellen, ins Gedächt-
nis rufen oder imaginieren. Dies ist jedoch, so argumentiert Husserl, immer eine
Vergegenwärtigung oder Imitation einer (einmal stattgefundenen) Wahrnehmung
und nicht der Normalfall. Beim normalen Wahrnehmen, findet eine unmittel-
bare Deckung zwischen dem Gegebenen und dem Indizierten statt, die uns nicht
eigens thematisch wird.

Horizontintentionalität In einer ähnlichen Passage, die aus einem späteren Text


stammt, rückt Husserl die notwendige Korrelation von Bewusstseinsweisen (Er-
scheinen) und Bewusstseinsgegenstand (Erscheinendes) ins Zentrum. Husserl
differenziert seine Beschreibung der Dingwahrnehmung weiter, indem er den Be-
griff des inneren und äußeren Horizonts aufseiten des Gegenstandes, und den
der Horizontintentionalität aufseiten des wahrnehmenden Subjekts einführt.
Jeder Gegenstand erscheint in einem Horizont (von nicht aufgemerkten, im
Hintergrund verbleibenden oder noch gar nicht wahrgenommenen Aspekten);
jede Intentionalität ist damit zugleich eine Horizontintentionalität, und erfüllte
Intentionen (die wahrgenommene Vorderseite des Hauses) sind verflochten mit
(noch) unerfüllten Intentionen, die über das gegenwärtig Gegebene hinausweisen.
Auf der Gegenstandsseite finden wir ‚Hinweistendenzen‘ oder ganze ‚Hinweis-
systeme‘, die wiederum auf entsprechende potentielle Erscheinungen und Er-
scheinungssysteme hindeuten.

► Beispiel – Der Tisch (2): Tritt näher und sieh mich neu!

» Mit anderen Worten, alles eigentlich Erscheinende ist nur dadurch Dinger­
scheinendes, dass es umflochten und durchsetzt ist von einem intentionalen
Leerhorizont, dass es umgeben ist durch einen Hof erscheinungsmäßiger Leere.
Es ist eine Leere, die nicht ein Nichts ist, sondern eine auszufüllende Leere, es ist
eine bestimmbare Unbestimmtheit. […] Seinen Sinn hat dieser Bewusstseinshof,
trotz seiner Leere, in Form einer Vorzeichnung, die dem Übergang in neue
aktualisierende Erscheinungen eine Regel vorschreibt. Die Vorderseite des
Tisches sehend, ist die Rückseite, ist alles von ihm Unsichtige in Form von
Leervorweisen bewusst, wenn auch recht unbestimmt; aber wie unbestimmt, so
ist es doch Vorweis auf eine körperliche Gestalt, auf eine körperliche Färbung
usw. […] Die Aspekte […] sind nichts für sich, sie sind Erscheinungen-von nur
durch die von ihnen nicht abtrennbaren intentionalen Horizonte.
34 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Wir unterscheiden dabei zwischen Innenhorizont und Außenhorizont der


jeweiligen Aspekterscheinung. […] Auch hinsichtlich der schon wirklich
gesehenen Seite ertönt ja der Ruf: Tritt näher und immer näher, sieh mich dann
2 unter Änderung deiner Stellung, deiner Augenhaltung usw. fixierend an, du wirst
an mir selbst noch vieles neu zu sehen bekommen, immer neue Partialfärbungen
usw. vorhin unsichtige Strukturen des nur vordem unbestimmt allgemein
gesehenen Holzes. Also auch das schon Gesehene ist mit vorgreifender Intention
behaftet. Es ist, was schon gesehen ist, immerfort ein vorzeichnender Rahmen
für immer Neues, ein x für nähere Bestimmung. Immerfort ist antizipiert,
vorgegriffen. Neben diesem Innenhorizont dann aber die Außenhorizonte, die
Vorzeichnungen für solches, das noch jedes anschaulichen Rahmens entbehrt,
der nur differenziertere Einzeichnungen erforderte. (Husserl, Hua XI, S. 6–7, vgl.
IX, S. 433 ff.; Herv. M.W.) ◄

In dieser Beschreibung der Dingerscheinung wird deutlich, inwiefern der er-


scheinende Gegenstand gekoppelt ist an den Modus des Erscheinens bzw. das
subjektive Erscheinungssystem. Zwar können wir nicht einfach etwas in das ge-
sehene Objekt hineinlegen, was es nicht selbst aufweist, jedoch muss eine subjektive
Aktivität hinzukommen, ein Realisieren oder Bestimmen des noch unbestimmten
Horizontes, ein Antizipieren und Vorgreifen auf dasjenige, was sich noch nicht
selbst gibt. Der Tisch fordert uns (oder zumindest Husserl) regelrecht auf, ihn näher
zu betrachten, deutlicher zu sehen und zu bestimmen; mit entsprechender Mühe,
Konzentration und Änderung der Augenhaltung oder räumlichen Position be-
kommen wir mehr und anderes von ihm zu sehen, wie Husserl es ausdrückt. Dabei
greifen wir zwar immer schon vor, dieses Vorgreifen ist jedoch nicht willkürlich,
sondern folgt bestimmten Regelmäßigkeiten oder einem ‚Stil‘. Es ist vorgezeichnet
durch Form und Inhalt dessen, was wir vom Objekt schon zu sehen bekamen, und
von den Regeln der Dingwahrnehmung allgemein (Intentionalität, Abschattung
etc.). Wahrnehmen ist insofern kein kreatives Imaginieren oder Phantasieren
weiterer Seiten eines Objektes: Ich antizipiere lediglich im Rahmen des Möglichen
und Wahrscheinlichen, z. B. weitere Stuhlbeine derselben Form und Qualität, der-
jenigen ähnlich, die ich bereits eigentlich wahrgenommen habe.

Dingwahrnehmung und Bewegung In anderen Texten und Zusammenhängen


macht Husserl deutlich, dass die Realisierung der inneren und äußeren Horizonte
mit den sogenannten kinästhetischen Möglichkeiten unseres Körpers bzw. Leibes
zu tun haben. ‚Leib‘ ist Husserls Begriff für den lebenden Körper, der nicht nur
ausgedehnt ist wie andere Körper oder materielle Dinge, sondern primär ein von
innen, d. h. subjektiv empfundener sowie wahrnehmender, frei beweglicher und
agierender Leib ist (vgl. Hua IV, S. 143–162).
Erst die freie leibliche Fortbewegung macht es möglich, dass wir ein Objekt von
verschiedenen Seiten sehen können: Die Wahrnehmende kann um ein Ding herum-
gehen und sich versichern, dass das entsprechende Haus auch tatsächlich eine
Rückseite hat, zugleich kann sie das ganze Ding in all seinen Seiten (wenn auch
niemals zugleich) erfahren, indem sie jederzeit zur Ausgangserscheinung zurück-
gehen kann. Dreidimensionale Räumlichkeit, so argumentiert Husserl anhand seiner
2.1 · Vorurteilsloses Beschreiben
35 2
Beschreibung von Dingerscheinungen in den Vorlesungen über Ding und Raum
von 1907 (Hua XVI), hängt damit zusammen, dass wir normalerweise zwei Augen
haben und damit bereits zwei integrierte Ansichten eines Dinges. Diese Augen
können wir bewegen, um damit verschiedene Aspekte an einem Ding zu fixieren.
Weiterhin ist es uns möglich, uns im Raum frei zu bewegen, um Dinge aus anderen
Perspektiven betrachten zu können. Schon die Wahrnehmung eines unbewegten
zweidimensionalen Dinges zeichnet sich durch ein Hin und Her der Augen-
bewegung aus, dessen Ansichten zu einer Wahrnehmung des Objektes im Bewusst-
sein verbunden werden (Husserl, Hua XVI, S. 166 f., 196 f., vgl. Mertens 2017).
Ein Wahrnehmender, der von Geburt an nur ein Auge besitzt und zu keinerlei Be-
wegung fähig ist (auch nicht der Augen), würde demnach keine dingliche Tiefe oder
dreidimensionale Räumlichkeit erfahren können (vgl. Husserl, Hua XVI, 228, 170,
171 ff., 206, 250, 252 f.; IV, 150; VI, 121; Claesges 1964, S. 79 ff.).
Durch die Fortbewegung im Raum findet eine Kenntnisnahme von Gegen-
ständen und die konkrete Realisierung des äußeren Horizontes statt. Jeder
visuellen Erscheinung korrelieren dabei Bewegungen; ändert sich die Be-
wegung, ändern sich damit in geregelter Weise auch die Erscheinungen. Aber
unsere Leiblichkeit (der fühlende und sich bewegende Körper) ist auf eine noch
viel fundamentalere Weise Voraussetzung der Wahrnehmung eines kontinuier-
lichen Gegenstandes. Jede Erfahrung eines Dinges, also seiner Merkmale (d. h.
Sinnesdaten, die Merkmale des Gegenstandes oder der Umgebung darstellen),
ist zugleich verbunden mit Bewegungsempfindungen bzw. kinästhetischen
Empfindungen. Dabei handelt es sich um unmittelbare subjektive Empfindungen
oder ‚Propriozeption‘, die mit unseren Bewegungen einhergehen. Wären meine
Wahrnehmungsaktivitäten und die Wahrnehmung des jeweiligen Dinges nicht un-
mittelbar verbunden (durch sinnliche Rückkoppelung), wie könnte ich sonst die
sich verändernden Erscheinungen als meine Erscheinungen ein- und desselben
Gegenstandes erfahren? In der Sinnesempfindung verbinden sich also Selbst- und
Dingerfahrung, d. h. sowohl Sinnesinformation über die Dinge und die Welt als
auch über unsere eigene Position und Bewegung.

Leiblichkeit und Dingerfahrung Einheitliche und kohärente räumliche Dingwahr-


nehmung geht daher einher mit
5 einem impliziten Körperwissen oder -feedback, das jede Erfahrung an mich,
d. h. meinen Körper und meine leibliche Erfahrung zurückkoppelt. Eine Ein-
heit und Kontinuität von verschiedenen Wahrnehmungen kann nämlich nur
dann gewährleistet werden, wenn diese als zum selben Erfahrungs- oder
Bewusstseinszusammenhang gehörend empfunden werden;
5 einem erworbenen praktischen Wissen darüber, dass, wenn ich mich so und so
bewege und positioniere, ich wahrscheinlich dies und jenes zu sehen bekomme.
Das Gesehene motiviert dabei weitere kinästhetische Bewegungsverläufe und
damit weitere Wahrnehmungen.

„Dabei finden wir beständig die Zweigliederung kinästhetischer Empfindungen


auf der einen Seite, der motivierenden, die Merkmalsempfindungen auf der
anderen Seite, der motivierten“ (Hua IV, S. 58). Zu jeder Wahrnehmung ge-
36 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

hören somit Bewegungsmöglichkeiten: „Die Verläufe der kinästhetischen


Empfindungen sind hier freie Verläufe, und diese Freiheit im Ablaufsbewusstsein
ist ein wesentliches Stück der Konstitution von Räumlichkeit“ (Hua IV, S. 58;
2 zur Bedeutung der Leiblichkeit in der Phänomenologie z. B. Bernet 2009; Zahavi
1994; Taipale 2014; Alloa, Bedorf & Grüny 2019; Doyon/Wehrle 2020).

Vom Einzelobjekt zur Welt Wie hier deutlich wird, sind wir in der alltäglichen Er-
fahrung nicht nur mit separaten oder einzelnen Dingen beschäftigt. Dies ist viel-
mehr schon eine besondere Form der Wahrnehmung, nämlich eine fokussierte
Wahrnehmung oder Aufmerksamkeit, in welcher wir ein spezielles Ding meinen
oder aus einem dinglichen Zusammenhang heraus-meinen bzw. hervorheben (vgl.
Hua XXXVIII). Und selbst hier weist das aufmerksam fixierte Ding notwendig
über sich hinaus auf andere Dinge und seine Umgebung. Wie aber kommen wir
von einer so auf das jeweilige Ding reduzierten Beschreibung zur Erfahrung von
größeren Objektkomplexen oder gar der Welt? Wie ist es zu beschreiben, wenn
wir nicht nur ein Haus, sondern eine Wohnsiedlung wahrnehmen? Im strengen
Sinne wahrgenommen, sind doch nur einige Objekte und Aspekte, die in unser
Blickfeld fallen, aber was passiert mit den anderen Häusern in der Umgebung, die
doch zur Wahrnehmung einer Wohnsiedlung dazugehören?

► Beispiel – Vom wahrgenommenen Ding zur Welt

» Wir sehen einen Saal voll Menschen, einen Wald mit Bäumen, eine Wiese oder
ein Getreidefeld, das in einem Blick nicht zu fassen ist. Das jeweils eigentlich
Gesehene ist für unser ‚Sehen‘ doch nicht allein da; so gut wie die Rückseite des
Objektes eigentlich nicht gesehen und doch mit aufgefaßt und mitgesetzt ist, so
auch die nicht gesehene Umgebung des Objektes. Das dargestellte Objektfeld ist
Objektfeld in einer ‚Welt‘ […]. Die Auffassung, und eventuell die Meinung, reicht
über die eigentliche Wahrnehmung hinaus. Ändern sich die kinästhetischen
Umstände, so bringt jede Phase ein neu erfülltes visuelles Feld, und in ihr stellt
sich ein neues, wenn auch partiell identisches Objektfeld dar.
In dem sukzessiven Ablauf eigentlicher Erscheinungen vollzieht sich eine
sukzessive Wahrnehmung einer umfassenden Objektität, und zwar einer solchen,
die in einer ruhenden Wahrnehmung (also bei kinästhetischer Konstanz) nie
wahrgenommen sein könnte. Jede Phase bietet eigentliche Wahrnehmung eines
beschränkten Teiles dieser Objektität; die Auffassung reicht aber weiter. […]
die Welt hat nicht ihr Ende, wo die jeweilige motorische Wahrnehmung endet.
Phänomenologisch haben wir offenbar zu sagen: Die im kinästhetischen Verlauf
kontinuierlich ineinander übergehenden Bildfelder erfahren stetig solche
Auffassung, daß die stetige Folge von Erscheinungen Einheit einer Erscheinung
begründet. (Husserl, Hua XVI, S. 209–210; Hervorh. M.W.) ◄

Von der Beschreibung zur Philosophie Was anhand der ausgewählten Beispiele
von phänomenologischer Dingbeschreibung deutlich wird, ist, dass es Husserl
bei dieser Beschreibung weniger darum ging, das jeweilige Ding (Würfel, Tisch)
in seiner Eigenheit zu beschreiben. Wir erfahren wenig bis gar nichts darüber,
2.1 · Vorurteilsloses Beschreiben
37 2
wie der Würfel oder Tisch jeweils genau aussieht – es könnte sich um jeden be-
liebigen Würfel oder Tisch handeln. In anderen Texten spricht Husserl sogar
gänzlich abstrakt von den Dingen oder ‚Objektitäten‘ (im Sinne von Objektheit/
en) allgemein (s. Beispiel „Vom wahrgenommenen Ding zur Welt“). Das jeweilige
erfahrene Ding wird hier lediglich exemplarisch verwendet, um etwas über die
Art und das Wesen des Erscheinens von physischen Dingen, Objekten, Objekt-
komplexen und der Welt zu erfassen oder ‚einzusehen‘.
Bereits in der Beschreibung wie uns etwas erscheint, steckt die philosophische
Frage, wie uns etwas (überhaupt) als Objekt oder Objektität erscheinen kann,
also wie wir in der subjektiven Erfahrung Objektivität erfahren und warum diese
für uns so selbstverständlich ist. Dabei wird dieser Zusammenhang bei näherem
Hinsehen und Beschreiben stets mysteriöser und komplexer; selbst eine isolierte
Dingwahrnehmung erfordert mehrere zeitlich und inhaltlich verknüpfte Er-
scheinungen, impliziert eigentlich (noch) nicht oder (nicht) mehr Gesehenes.
Das jeweils gesehene Ding verweist wiederum auf andere Aspekte an ihm selbst
sowie auf andere Dinge und die räumliche Umgebung. Wahrnehmung im vollen
Sinn richtet sich insofern eigentlich niemals nur auf ein physisches Ding, sondern
dieses ist lediglich ein Ausschnitt in einem weiteren Objektfeld und letztlich ein
kleiner Ausschnitt der Welt.

Die Rolle des Bewusstseins Die Beschreibung des Dinges oder der Welt, stößt also
quasi automatisch auf die ‚subjektiven‘ Anteile in den Leistungen bzw. Synthesen
des Bewusstseins oder des kinästhetischen Leibes, die den zeitlichen und inhalt-
lichen Zusammenhang der jeweiligen Wahrnehmung verbürgen: die Korrelation
von Dingerscheinung und jeweiliger Position und Augenbewegung, von Fort-
bewegung und wechselnden visuellen Erscheinungen, von den Empfindungen des
Dinges und den Empfindungen des Leibes (und seiner Bewegung). Um ein Ding
einheitlich als Ding sehen zu können oder die Erfahrung einer objektiven Welt
zu haben, braucht es also Bewegung (Augen und Körperbewegung), ansonsten
würden wir nur einen minimalen Ausschnitt der Welt sehen und diesen weder als
dreidimensional noch als bloßen Ausschnitt einer darüberhinausgehenden Welt
erfahren können. Objektivität hängt, so wird in obigen Beschreibungen deut-
lich, direkt mit den Bewegungsmöglichkeiten und dem sich potentiell ständig er-
weiternden Wahrnehmungshorizont des jeweiligen erfahrenden Subjekts zu-
sammen.
Und trotz all dieser Möglichkeiten bekommen wir die Dinge und die Welt nie
ganz zu fassen, einige Aspekte entwischen uns immer, es gibt immer noch mehr
und anderes zu entdecken. Die Welt hat nicht ihr Ende, wo unsere Möglichkeiten
aufhören, wie Husserl dies so schön formuliert. Gerade diese negative Erfahrung
des Entzugs, macht ihren objektiven und transzendenten Charakter aus. Ein
weiteres Moment, das unerlässlich ist für die Erfahrung der Objektivität, ist das,
was Husserl die ‚Einheit der Erscheinung‘ nennt. Ohne, dass die verschiedenen
Empfindungen, Erscheinungen und Perspektiven eine Einheit oder einen Zu-
sammenhang bilden, also als aufeinanderfolgende, gleichzeitige, inhaltlich zu-
sammengehörige sowie als mir gegebene und von mir motivierte Wahrnehmungen
erlebt werden, wäre die Erfahrung von Objektivität ebenso wenig möglich.
38 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

2.1.2  Beispiele: Zeitlichkeit und Erfahrung

Was in all diesen und anderen Dingbeschreibungen hervorsticht, ist, dass etwas
2 nie plötzlich und auf einmal gegeben ist, dass Wahrnehmung nicht statisch zu
fassen ist, sondern immer auf einen zeitlichen Verlauf verweist (vgl. Rinofner-
Kreidl 2000; Rodemeyer 2006; James 2010). Wie Zeitlichkeit erfahren und im
Bewusstsein konstituiert wird, ist denn auch ein zentrales Thema bei Husserl
und anderen Phänomenolog:innen, wie Maurice Merleau-Ponty und Martin
Heidegger. Auch hier beginnt Husserl zunächst mit der Beschreibung eines zeit-
lichen Objektes, einer Melodie, um von da das allgemeine Wesen des (inneren)
Zeitbewusstseins zu bestimmen (eidetische Bestimmung); oder zurückzu-
fragen nach den Bedingungen für das einheitliche Erscheinen von zeitlichen
Objekten allgemein (transzendentale Begründung), z. B. wie die Erlebnisse zeit-
lich und motivational in der Erfahrung eines Subjekts verknüpft sind (genetische
Intentionalanalyse).
Wie erscheint uns nun ein zeitliches Objekt? Warum hören wir eine Melodie
und keine unzusammenhängenden Töne?

► Beispiel – Die Melodie: Erste Annäherung

» Nehmen wir das Beispiel einer Melodie oder eines zusammenhängenden Stückes
einer Melodie. Die Sache scheint zunächst sehr einfach: wir hören die Melodie,
d.h. wir nehmen sie wahr, denn Hören ist ja Wahrnehmen. Indessen, der erste
Ton erklingt, dann kommt der zweite, dann der dritte usw. Müssen wir nicht
sagen: wenn der zweite Ton erklingt, so höre ich ihn, aber ich höre den ersten
nicht mehr usw.? Ich höre also in Wahrheit nicht die Melodie, sondern nur
den einzelnen gegenwärtigen Ton. Daß das abgelaufene Stück der Melodie
für mich gegenständlich ist, verdanke ich – so wird man geneigt sein zu sagen
– der Erinnerung; und daß ich, bei dem jeweiligen Ton angekommen, nicht
voraussetze, daß das alles sei, verdanke ich der vorblickenden Erwartung.
Bei dieser Erklärung können wir uns aber nicht beruhigen, denn alles Gesagte
überträgt sich auch auf den einzelnen Ton. Jeder Ton hat selbst eine zeitliche
Extension, beim Anschlagen höre ich ihn als jetzt, beim Forttönen hat er aber ein
immer neues Jetzt, und das jeweilig vorangehende wandelt sich in ein Vergangen.
Also höre ich jeweils nur die aktuelle Phase des Tones, und die Objektivität
des ganzen dauernden Tones konstituiert sich in einem Aktkontinuum, das zu
einem Teil Erinnerung, zu einem kleinsten, punktuellen Teil Wahrnehmung und
zu einem weiteren Teil Erwartung ist. […] Hier muß nun eine tiefere Analyse
einsetzen. (Husserl, Hua X, S. 23) ◄

Husserl beginnt hier wie bei allen Beschreibungen mit einer alltäglichen Be-
obachtung, und nimmt diese als Leitfaden. Die erste Intuition scheint jedoch
nicht auszureichen, nun nehmen wir unsere methodische Distanznahme hinzu
und versuchen die obigen Vorannahmen zu überprüfen, und lediglich das zu be-
schreiben, was sich uns tatsächlich in der Erfahrung gibt.
2.1 · Vorurteilsloses Beschreiben
39 2
► Beispiel – Die Melodie als inneres Zeitbewusstsein

» Wir schalten jetzt alle transzendente Auffassung und Setzung aus und nehmen
den Ton rein als hyletisches Datum [so wie er empfunden wird, M.W.]. Er
fängt an und hört auf, und seine ganze Dauereinheit, die Einheit des ganzen
Vorgangs, in dem er anfängt und endet, „rückt“ nach dem Enden in die immer
fernere Vergangenheit. In diesem Zurücksinken „halte“ ich ihn noch fest, habe
ihn in einer „Retention“, und solange sie anhält, hat er seine eigene Zeitlichkeit,
ist er derselbe, seine Dauer ist dieselbe. Ich kann die Aufmerksamkeit richten
auf die Weise seines Gegebenseins. Er und die Dauer, die er erfüllt, ist in
einer Kontinuität von „Weisen“ bewußt, in einem „beständigen Flusse“ […].
„Während“ dieses ganzen Bewußtseinsflusses ist der eine und selbe Ton als
dauernder bewußt, als jetzt dauernder. „Vorher“ (falls er nicht etwa erwarteter
war) ist er nicht bewußt. „Nachher“ ist er „eine Zeitlang“ in der „Retention“
als gewesener „noch“ bewußt, er kann festgehalten und im fixierenden Blick
stehend bzw. bleibend sein. Die ganze Dauerstrecke des Tones oder ‚der‘ Ton in
seiner Erstreckung steht dann als ein sozusagen Totes, sich nicht mehr lebendig
Erzeugendes da, […] das aber stetig sich modifiziert und ins „Leere“ zurücksinkt.
Was wir hier beschrieben haben, ist die Weise, wie das immanent-zeitliche
Objekt in einem beständigen Fluß „erscheint“, wie es „gegeben“ ist. Diese Weise
beschreiben, heißt nicht, die erscheinende Zeitdauer selbst beschreiben. Denn es
ist derselbe Ton mit der ihm zugehörigen Dauer, der zwar nicht beschrieben, aber
in der Beschreibung vorausgesetzt wurde. Dieselbe Dauer ist jetzige, aktuell sich
aufbauende Dauer, und ist dann vergangene, „abgelaufene“ Dauer, noch bewußte
oder in der Wiedererinnerung „gleichsam“ neu erzeugte Dauer. Derselbe Ton,
der jetzt erklingt, ist es, von dem es im „späteren“ Bewußtseinsfluß heißt, er sei
gewesen, seine Dauer sei abgelaufen. Die Punkte der Zeitdauer entfernen sich für
mein Bewußtsein analog, wie sich die Punkte des ruhenden Gegenstandes im Raum
für mein Bewußtsein entfernen, wenn ich „mich“ vom Gegenstand entferne. Der
Gegenstand behält seinen Ort, ebenso behält der Ton seine Zeit, jeder Zeitpunkt ist
unverrückt, aber er entflieht in Bewußtseinsfernen, der Abstand vom erzeugenden
Jetzt wird immer größer. Der Ton selbst ist derselbe, aber der Ton, „in der Weise
wie“ er erscheint, ein immer anderer. (Husserl, Hua X, S. 24–25; Hervorh. M.W.) ◄

In dieser Beschreibung der Erfahrung einer Melodie wird besonders deutlich,


dass das Zeitobjekt das Resultat von synthetisierenden Prozessen des Bewusst-
seins ist. Der Unterschied zwischen dem erscheinenden Tisch und der Melodie
ist dabei, dass sich letzteres erst nach und nach zeigt oder zeitlich aufbaut. Die
Melodie ist im Gegensatz zu einem Tisch objektiv besehen – und nicht auf das
Wie seiner Erscheinung bezogen – nicht einfach da, und kann aus verschiedenen
Perspektiven erfahren werden. Der real ertönende Ton und seine Dauer scheint
zunächst identisch mit der erscheinenden Dauer des Tones, und doch ist ihre Zeit-
lichkeit unterschiedlich. Der gehörte Ton hat ebenfalls seinen zeitlichen Horizont,
er wird eingeordnet in den Bewusstseinsfluss, in eine quasi zeitliche Struktur, in
der jede eintreffende Impression sich modifiziert und herabsinkt. War es bei der
visuellen Dingwahrnehmung die immer partielle Gegebenheit des Gegenstandes,
40 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

die über sich hinausweist und weitere Intentionen motivierte, ist es nun das
Bewusstsein, das über den jetzt erklingenden Ton hinausgeht.
Der vorangegangene Ton oder das Tondatum ist nämlich als Retention ‚noch
2 im‘ Bewusstsein irgendwie gegeben, und kann dadurch unmittelbar mit dem jetzt er-
klingenden Ton in Verbindung treten. Retention ist dabei nicht zu verwechseln mit
dem realen Nachhall eines Tones, es ist das Noch-im-Griff-Halten des verklungenen
Tones im Bewusstsein. Weiterhin findet eine sogenannte Protention statt, d. h., es
kommt zu einer automatischen Antizipation des (noch) folgenden Tones (oder Ton-
datums). Die eingehenden Impressionen werden also im Bewusstsein verbunden
mit vergangenen Erscheinungen und Antizipationen von noch kommenden Tönen.
Dieses innere Zeitbewusstsein ermöglicht es, dass wir erklingende Töne als einheit-
lich aufeinanderfolgend und zusammenhörig erfahren. Alle einmal gehörten Ton-
daten verbleiben dabei im Bewusstsein, jedoch in modifizierter Form, sie verlieren
etwa an Intensität und Deutlichkeit, sie geraten in die Bewusstseinsferne, so wie die
visuelle Erscheinung eines Dinges, wenn ich mich von ihm wegbewege.
Das Zeitobjekt wird hier also erst Stück für Stück aufgebaut. Erst wenn der
letzte Ton verklungen ist, kann man auf die Melodie als Ganzes, als immanentes
Zeitobjekt, zurückgreifen. Von da an, kann ich mich jederzeit an diese Melodie
als Ganze erinnern sowie den Zeitpunkt angeben, an dem ich sie gehört habe. Erst
nach dem Erscheinungsablauf haben wir insofern ein Zeitobjekt, nicht jedoch
schon während wir der Melodie lauschen. Der Ton wie und während er uns er-
scheint, ist wie Husserl dies so schön sagt, jedes Mal anders erfahren, als Im-
pression, Retention oder antizipiert in der Protention, oder hernach als er-
innerter, d. h. ‚gleichsam neu erzeugter‘ Ton. Hier wird deutlich, dass der ‚Gegen-
stand‘ unserer Wahrnehmung, sei es ein Haus oder eine Melodie, zwar statisch
gesehen immer der Ausganspunkt oder Leitfaden jeder Beschreibung ist: Ich sehe
ja nicht nur Teile eines Hauses oder isolierte Töne, sondern ich erfahre den Wahr-
nehmungsgegenstand normalerweise als einheitlich, vollständig und kontinuierlich.
Zugleich ist dieser einheitliche Gegenstand aber auch das Ziel jeder Beschreibung
bzw. das Rätsel, dass es aufzuklären gilt: Wie kommt es überhaupt zu einer solchen
stabilen und kontinuierlichen Dingwahrnehmung? Welche konstitutiven Leistungen
des Bewusstseins gehen dieser zeitlichen und inhaltlichen ‚Einheit‘ voran?
Reduziert man die Beschreibung also nicht nur auf einen bestimmten ‚statischen‘
Ausschnitt, sondern achtet auf die wechselnden Erscheinungsweisen, den Zu-
sammenhang von Eigenbewegung, Zeitlichkeit und der Erscheinung des Dinges, so
wird deutlich, dass jede Dingwahrnehmung eine genetische Dimension hat. Dieses
Zurückfragen nach den genetischen Bedingungen jeder Erfahrung gehört zur
transzendentalen Phänomenologie (7 Abschn. 2.3).

? Aufgaben
1. Machen Sie einen kleinen Spaziergang. Suchen Sie sich ein beliebiges statisch-
räumliches Objekt ihn ihrer unmittelbaren Umgebung aus (Gebäude, Pflanze)
sowie ein zeitliches Objekt (eine Melodie, Geräusch, Leuchtreklame, sich be-
wegendes Tier etc.) und beschreiben Sie dieses. Unterscheiden Sie dabei
zwischen Erfahrungsgegenstand und Erfahrungsweise. Verwenden Sie die
Differenzierungen und Begriffe in den obigen Beispielen als Orientierung.
2.2 · Das Allgemeine bestimmen
41 2
2. Warum spricht die Phänomenologie von einer vorurteilslosen Beschreibung?
Was ist hiermit gemeint und warum ist dies wichtig? Diskutieren Sie dies mit
Mitstudierenden.
3. Glossar: Notieren Sie alle Fachbegriffe und Wörter, die zur Differenzierung
innerhalb der Beschreibung beitragen sollen (z. B. eigentlich/uneigentlich
wahrgenommen, meinen, Horizontintentionalität, Impression – Retention –
Protention, Kinästhese etc.). Definieren Sie diese anhand des Textes und
anderer Quellen und fügen Sie diese dem Glossar hinzu. (Tipp: Dieses Glossar
kann gemeinsam mit anderen Kommiliton:innen erstellt werden.)
4. Versuchen Sie, eigene Unterscheidungen und Differenzierungen zu formulieren,
die für die phänomenologische Beschreibung nützlich sein können, etwa in
Bezug auf die Beschreibung neuer Technologien, Medien oder anderer ‚Sachen‘.

2.2  Das Allgemeine bestimmen

» Das ist eine Eigenart der phänomenologischen Methode: Daß sie weder aus einem
obersten Prinzip heraus ihre Gesetzmäßigkeiten gewinnt, noch auch durch die
induktive Häufung einzelner Beispiele, sondern dadurch, dass sie am einzelnen
Beispiel das allgemeine Wesen, die allgemeine Gesetzmäßigkeit erschaut. (Geiger
2009 [1925], S. 34)

Schon in seinen frühen Vorlesungen, z. B. in der Vorlesung Die Idee der Phänome-
nologie von 1907, beschreibt Husserl die Phänomenologie als Wesensanalyse oder
Wesensbetrachtung (Hua II, S. 51; vgl. Jansen 2017). Die Losung ‚zu den Sachen
selbst‘ zielt hier zunächst auf das Wesen der entsprechenden Sachen, d. h. das,
was eine Sache oder einen Gegenstand in Allgemeinheit und Notwendigkeit als
solche/n bestimmt. Eine solche eidetische Phänomenologie, die sich auf die Be-
stimmung von sachlicher Allgemeinheit der wahrgenommenen Dinge oder Be-
deutungen richtet, prägt denn auch Husserls Philosophie bis zur sogenannten
transzendentalen Wende um 1913 (Publikation der Ideen I).

Definition
Das Wesen ist dasjenige, was alle Gegenstände derselben Art gemeinsam haben
(Allgemeinheit) sowie dasjenige, was für diese ‚Art von Sache‘ notwendig spezi-
fisch ist, d. h., was sie zu dieser Art von Gegenstand macht (Spezifizität) und von
anderen ‚Sachen‘ unterscheidet.
Das Wesen als Eidos ist eine Idee im platonischen Sinne, aber ohne metaphysische
Interpretation: Sie existiert nicht in einem ‚Ideenhimmel‘, sondern ist das All-
gemeine, das uns in und an der Erfahrung oder Phantasie von Etwas intuitiv zur
Gegebenheit kommt. Auch wenn das Wesen keine neben dem Realen separate
Existenz hat, gilt seine Bestimmung zugleich notwendig und a priori (vor/un-
abhängig von der jeweils konkreten Erfahrung), da es den Umfang und die Grenze
tatsächlich existierender oder aber nur möglicher oder denkbarer Gegenstände not-
wendig bestimmt.
42 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Wesenswissenschaft vs. Tatsachenwissenschaft Obwohl sie bei der Erfahrung


beginnt, diese beschreiben, bestimmen und aufklären will, ist die Phänomeno-
logie nach Husserl keine Tatsachenwissenschaft, sondern eine Wesenswissenschaft
2 (Eidetik). Das zu bestimmende Wesen ist denn auch nicht die Allgemeinheit
oder Verallgemeinerung von empirischen Einzelheiten (etwa eine induktive Ver-
allgemeinerung von beobachteten oder gemessenen Eigenschaften von tatsäch-
lich existierenden Löwen). Eine solche empirische Allgemeinheit ist nach Husserl
immer zufällig, d. h. zufällig so und so beschaffen (aufgrund von Umwelt-
bedingungen oder Naturgesetzen dieser Welt), nicht jedoch a priori (vor und un-
abhängig von jeglicher tatsächlicher Erfahrung) notwendig. Notwendig in diesem
Sinne sind lediglich reine Begriffe, deren Bildung nicht von der Zufälligkeit eines
faktisch gegebenen Löwen abhängt, von dem aus dann erst im Nachhinein das
Allgemeine bestimmt wird. Das reine Wesen muss nach Husserl das jeweilige
Einzelding nicht erst im Nachhinein, sondern schon vorweg, also vor und un-
abhängig von jeder tatsächlichen Erfahrung, bestimmen (Husserl 1939, S. 409).
Hierbei geht es also um dasjenige, ohne was sich eine Sache nicht denken lässt,
also um den Bereich des Möglichen und nicht des Tatsächlichen.

Eidetik in Wissenschaft und Phänomenologie Eidetik wird jedoch auch außerhalb


der Philosophie betrieben, z. B. auf rein formale Weise in der Logik: Die formale
Logik gibt dabei die allgemeinen formalen Richtlinien für jede mögliche wahre
Aussage vor. Eine typisch eidetische Wissenschaft, die sich auf die inhaltlich all-
gemeinste Form anschaulicher Dinge beschränkt, ist die Geometrie. Hier gilt das
individuelle und zufällig hier stehende Haus meiner konkreten Wahrnehmung
lediglich als Exemplar für allgemeine geometrische Formen, wie z. B. ein Drei-
eck, eine Gerade oder einen rechten Winkel. Die Sachen, auf welche sich die
Phänomenologie bezieht (Wesen der Wahrnehmung, Psyche, äußere Dinge), sind
jedoch keiner exakten Wesensbestimmungen zugänglich, lassen sich also nicht,
wie z. B. in der Mathematik, als Axiome für eine Deduktion verwenden oder
einwandfrei beweisen. Wie die Biologie auch, ist die Phänomenologie eine be-
schreibende Wissenschaft. Ihr entsprechen daher nur ‚vage‘ oder morphologische
Wesen, wie Husserl dies nennt. Dies meint sachhaltige Wesen, die auf die Be-
schreibung von allgemeinen Formen oder Gestalten, z. B. verschiedene Lebens-
formen in der Biologie, angewiesen sind. Bewusstseinserlebnisse wesensmäßig
zu beschreiben, ist daher etwas ganz anderes als einen mathematischen Be-
weis führen. Im Bewusstsein und der erfahrenen Welt lässt sich nichts endgültig
fixieren, hier ist alles vage und im Fluss. Und doch, daran glaubte Husserl zu-
tiefst, kann man auch hier notwendige Allgemeinheiten erkennen oder sogar un-
mittelbar oder methodisch erschauen.

Erfahrung von Typischem und Bestimmung des Wesens Wir können dabei unter-
scheiden zwischen der Möglichkeit der Erfahrung des Allgemeinen und dem ex-
pliziten Bestimmen und Überprüfen dieser Allgemeinheit als Wesen von Etwas.
Die bloße Erfahrung des Allgemeinen versteht Husserl später genetisch als
Bildung oder Konstitution eines Typus in der Erfahrung, z. B. wenn ein Kind
etwas aufgrund vorheriger Erfahrungen von Ähnlichem nicht nur als singuläres
2.2 · Das Allgemeine bestimmen
43 2
Etwas, sondern automatisch als Typ, d. h. als dem Typus ‚Hund‘ zugehörig er-
fährt. Eine solche Allgemeinheit bildet sich durch passive Assoziation, also ohne
bewusstes Zutun in der konkreten Erfahrung heraus und basiert auf wieder-
holten individuellen Erfahrungen. Jedes ähnliche Etwas wird nun sofort als Dies
oder Das, also mit einem bestimmten Sinn versehen, aufgefasst. Eine typische Er-
fahrung oder ein erfahrener Typus ist dabei noch kein Wesen im strengen und
reinen Sinn, da diese Typen sich mit wechselnden Erfahrungen anpassen können
und müssen und lediglich vage sachliche Allgemeinheiten umfassen.
Das reine Wesen soll hingegen die Sache selbst bestimmen und nicht bloß
unseren Begriff davon oder unsere Gewohnheit (was wir häufig sehen und daher
miteinander assoziieren), sondern eben das Wesen, das ein bestimmtes Ding un-
abhängig von seiner Bestimmung und Erkenntnis ausmacht. Bei der Bestimmung
des Wesens muss dabei
a) die lediglich (implizit) erfahrene Allgemeinheit explizit (gemacht) werden, und
b) das vermeintlich Allgemeine oder Invariante als solches methodisch bestimmt
und überprüft werden.

In der Wesensbestimmung wollen wir also herausfinden, was jedem Gegenstand


dieser Art gemein ist (Allgemeinheit), was diesen Gegenstand ausmacht (Notwen-
digkeit) und dabei von anderen Arten von Gegenständen unterscheidet (Spezifi-
zität).
Auch bei einer Wesensbestimmung gibt es graduelle Unterschiede der All-
gemeinheit und Notwendigkeit. So unterscheidet Husserl etwa zwischen materi-
alen, also sachhaltigen Wesen (wie Haus, Baum, Farbe, Ton, Raum, Empfindung,
Gefühl etc.) und formalen Wesen (wie Etwas oder Eines, Gegenstand, Beschaffen-
heit, Beziehung, Verknüpfung, Mehrzahl, Ganzes, Teil, Größe usw.; vgl. Hua
XIX/1, S. 256). Sachhaltige Wesen sind dabei, wie der Name schon angibt, nicht
nur formal, sondern konkret inhaltlich bestimmt, daher sind sie weniger all-
gemein als formale Wesen. Innerhalb einer sachhaltigen Unterscheidung kann
man dabei auch zwischen mehr oder weniger Allgemeinem unterscheiden. Zu-
nächst haben wir etwa das singuläre Eidos ‚Hund‘, dann Gattungen und Spezies-
begriffe, wie ‚Säugetiere‘, ‚Tiere‘, ‚Lebewesen‘, und zuletzt den Bereich ‚Gegen-
stand‘ (im allgemeinen Sinne: möglicher Gegenstand für ein Bewusstsein, wobei
die allgemeinsten Kategorien die jeweils anderen beinhalten).

Generalisierung und Formalisierung Von einem Hund zu einem Ding überhaupt


kommt man durch eine Generalisierung. Will man jedoch ausgehend von einer
konkreten Hundewahrnehmung das formale Wesen ‚Gegenstand überhaupt‘ be-
stimmen, stellt dies keine sachliche Generalisierung, sondern eine Formalisierung
dar. ‚Gegenstand überhaupt‘ ist keine inhaltliche, sondern eine formal-onto-
logische Bestimmung: Zum Beispiel lässt sich ein Dreieck zunächst zu einer
Raumgestalt und dann zu einem Gegenstand überhaupt formalisieren oder
ein gesehenes ‚Rot‘ zu einer ‚sinnlichen Qualität‘. Eine Generalisierung ist hin-
gegen eine sachliche Verallgemeinerung, hier gehen wir vom Spezifischen oder Be-
sonderen zum Allgemeinen. Materiale Wesen haben daher immer einen gewissen
Umfang, den es einzugrenzen gilt (was gehört noch zur Gattung ‚Säugetiere‘?,
44 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

was fällt unter die Kategorie ‚Baum‘ oder ‚Farbe‘?). Auf diese Weise kann man
eine deskriptive ‚regionale‘ Ontologie betreiben, die versucht, die allgemein(st)en
Regionen des Seins, wie etwa Natur, Bewusstsein oder Geist (Husserls und auch
2 Hegels Bezeichnung für Kultur und Soziales), und ihre Unterregionen deskriptiv
zu bestimmen.
Je konkreter bzw. sachhaltiger die Beschreibung des Allgemeinen wird, desto
schwieriger lässt sich dabei das bei allen Dingen einer Art Invariante bestimmen.
Sich auf die formale Bestimmung zu einigen, dass es zum Wesen der Farbe ge-
hört, sinnliche Qualität zu sein, ist also einfacher, als diejenigen Merkmale zu be-
stimmen, die jedem denkbaren Hund zukommen müssen bzw. die einen Hund
(gegenüber anderen Tieren) als Hund ausmacht.

Phänomenologisch Wesen erschauen Das Allgemeine (‚Haus‘) eines wahr-


genommen singulären Gegenstandes oder Individuums (‚dieses Haus dort‘)
lässt sich nach Husserl nicht nur im Nachhinein begrifflich oder konzeptuell be-
stimmen, d. h. denken, sondern zeigt sich in der Erfahrung – es lässt sich regel-
recht erschauen. Husserl spricht hierbei auch von einer Wesensschau. Hiermit ist
keine direkte sinnliche Anschauung von Wesen gemeint, als würde man in der all-
täglichen Dingwahrnehmung mit entsprechender ‚Erleuchtung‘ zusätzlich noch
ein irgendwie darüber schwebendes Wesen erkennen. Und doch hält Husserl
daran fest, dass man das Ideale oder Kategoriale nicht nur denken, sondern er-
schauen kann, nicht direkt mit einem Mal, aber durch wiederholte Anschauung
entsprechender Beispiele. Er nennt dies auch kategoriale Anschauung. In diesem
Sinne kann man allgemeine Kategorien in ähnlicher Weise geistig erschauen wie
man konkrete weltliche Dinge sinnlich wahrnimmt (Hua XIX/2, S. 674). Eine
solche Wesensschau ist dabei kein unmittelbarer oder schlichter Akt der Wahr-
nehmung, sondern muss sich erst stufenweise konstituieren. Eine solche Schau
des Allgemeinen ist dabei immer fundiert in einer schlichten Wahrnehmung:
Die höherstufige Kategorie (Eidos) ‚Farbe‘ kann demnach nur auf der Basis der
schlichten Wahrnehmung farbiger Dinge erschaut werden.
Das Wesen ‚rot‘ lässt sich etwa aus exemplarischen Erfahrungen roter Gegen-
stände oder das Wesen der Wahrnehmung aus exemplarischen Wahrnehmungs-
erlebnissen erschauen (Jansen 2017, S. 145). Dabei haben wir zunächst die
jeweilige Ähnlichkeit selbst gesehener Sachen vor Augen, und es vollzieht sich
automatisch eine „geistige Überschiebung, in der das Gemeinsame, das Rot, die
Figur etc. ‚selbst‘ hervortritt, und das heißt, zur schauenden Erfassung kommt“
(Husserl 1939, S. 421). Dies ist natürlich nicht dasselbe, wie ein sinnliches Sehen,
sondern eine Erweiterung des Sprachgebrauches von Sehen. „[D]as allgemeine
Rot kann man nicht sehen, wie man ein individuelles, einzelnes Rot sieht“
(Husserl 1939, S. 421). Jedoch besteht hier eine Analogie: Ein „Gemeinsames
und Allgemeines beliebig vieler einzeln gesehener Exemplare“ wird uns „ana-
log direkt und als es selbst zu eigen“ (ebd.), genauso wie ein individuell Einzel-
nes in der sinnlichen Wahrnehmung. Jedoch nicht einfach so und direkt, sondern
in einem „komplizierten Erschauen der aktiv vergleichenden Überschiebung der
Kongruenz“ (ebd.).
2.2 · Das Allgemeine bestimmen
45 2

Zur Vertiefung
Das reine Wesen als Eidos

In früheren Texten verwendet Husserl also die allgemeine Bestimmung, die wir
den Begriff ‚Wesen‘, um alle möglichen Gegenständen prädikativ (begrifflich)
Formen des Idealen oder Allgemeinen oder vorprädikativ (in kategorialen An-
zu bezeichnen, also im platonischen schauungen) zuschreiben. ‚Rein‘ meint
Sinne einer Idee (der konkrete Gegen- hier gereinigt von sachlichen Besonder-
stand Tisch hat Anteil an der Idee heiten, also rein formal allgemein be-
‚Tisch‘), einer Spezies (der konkrete stimmt.
Mensch ist Teil der Spezies Mensch) Das reine Wesen oder Eidos um-
oder einer idealen Allgemeinheit oder fasst dabei keine empirischen Wesen,
Bedeutung. Das Wesen ist dabei das- es muss so allgemein sein, dass es
jenige Allgemeine, was sich in einer dabei nicht mehr an Empirisches,
Vielzahl von individuellen Gegen- also an Konditionen und Umstände
ständen vereinzeln kann, also das dieser Welt (wie z. B. Naturgesetze,
Wesen ‚Mensch‘ oder ‚Tisch‘ in willkür- materielle Umwelt etc.) gebunden ist.
lich viele tatsächlich existierende und So kann man z. B. auch allgemein
erfahrene Menschen und Tische. von den Europäern, dem italienischen
In späteren Texten, z. B. dem so- Schuh oder zoologischen Begriffen,
genannten „Logos“-Artikel von 1911 wie Eidechse oder Löwe etc., sprechen.
(Hua XXV, S. 29–41), spricht Husserl Diese empirischen Wesen sind jedoch
vom Allgemeinen und Wesen als Eidos, an einen wirklichen Zusammenhang
und meint hiermit in engerem Sinne gebunden, sie bezeichnen lediglich den
Universalien (‚Mensch‘, ‚rot‘), also Umfang von wirklichen Löwen oder
eine Art allgemeine Gattung oder Kate- real möglichen Löwen. Das reine Wesen
gorie, die als Prädizierbares so etwas hingegen hat keinen realen Umfang von
wie einen Umfang haben kann (alles wirklichen oder möglichen (also in Zu-
was zur Kategorie ‚rot‘ oder ‚Mensch‘ kunft existierenden Löwen), sondern
gehört). In den Ideen I (Hua III/1) bezieht sich auf einen Umfang rei-
definiert Husserl das Eidos als ein im ner Möglichkeiten, also Möglichkeiten
bestimmten Sinne reines Allgemeines, reiner Phantasie (vgl. Sowa 2010, S. 70).

Allgemeinheit als Notwendigkeit Obwohl also das Erschauen und die Bestimmung
der Wesen auf die Wahrnehmung konkreter Dinge angewiesen ist, darf das
konkrete Einzelding oder ein zeitliches Individuum (ein Lebewesen wie z. B. der
Mensch) nicht als Ursache des Eidos verstanden werden. Das Wesen bestand
bereits vor und unabhängig davon, ob wir es zum jetzigen (oder einem anderen)
Zeitpunkt nun erschauen oder erkennen. Vielmehr steht jedes Farbliche unter den
Wesensgesetzen des Farblichen überhaupt (Qualität, Intensität), jedes Einzelne
(farbiges Ding) ist damit in der Gattung oder Spezies (Farbe) qua Umfang ent-
halten. Diese gesetzliche Allgemeinheit (Wesensallgemeinheit) ist damit zugleich
eine Wesensnotwendigkeit, d. h. eine Voraussetzung dafür, zu dieser Gattung zu
46 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

gehören (Hua III/1, S. 19). Dies gilt auch für richtige Urteile über Wesen, wie
z. B., dass Farbe nicht ohne Ausdehnung sein kann, dies gilt nicht nur allgemein,
sondern auch notwendig (wenn das Wesen richtig bestimmt wurde).
2 Die wahrgenommenen Dinge oder Individuen sind daher als beliebige Bei-
spiele anzusehen, die das jeweilige Wesen vereinzeln oder exemplifizieren. Um
diese Unabhängigkeit des Wesens von der konkreten Wahrnehmung deutlich zu
machen, betont Husserl später, dass sich der Übergang vom konkreten Ding oder
Individuum zum Allgemeinen oder Idealen ebenso gut in freier Fiktion, d. h. in
der Phantasie realisieren lässt (Hua XIX/1, S. 456). Die echte, d. h. freie eidetische
Variation ist demnach vor allem in der Phantasie ausführbar, nur hier lässt sich
die Wesensschau vom Charakter der Zufälligkeit bewahren (Husserl 1939, S. 410).

► Beispiel – Ein Wesen ist kein Individuum

» Stellen wir uns etwa ein individuelles Haus vor, das jetzt gelb gefärbt ist, so
können wir ebensogut denken, es könnte blau gefärbt sein, oder es könnte statt
des Ziegeldaches ein Schieferdach haben, oder statt dieser Gestalt eine andere.
Das Haus ist eines, das möglicherweise statt irgendwelcher ihm einheitlicher
Vorstellung zukommender Bestimmungen ebensogut andere mit ihnen
unverträgliche haben könnte. Es, dasselbe, ist denkbar als a und als non-a, aber
natürlich, wenn als a, dann nicht zugleich als non-a. Es kann nicht beides in eins,
beides zugleich sein, es kann nicht zugleich wirklich sein mit jedem von beiden,
aber es kann statt a in jedem Moment non-a sein. Es ist als Identisches gedacht,
an dem entgegengesetzte Bestimmungen getauscht werden können.
[…] Was hier als Einheit im Widerstreit erschaut wird, ist kein Individuum,
sondern eine konkrete Zwittereinheit sich wechselseitig aufhebender, sich
koexistential ausschließender Individuen: ein eigenes Bewußtsein mit einem
eigenen konkreten Inhalt, dessen Korrelat konkrete Einheit im Widerstreit, in der
Unverträglichkeit heißt […].
Das Einzelne, das der Wesensschau zugrunde liegt, ist nicht im eigentlichen
Sinne ein geschautes Individuum als solches. Die merkwürdige Einheit, die hier
zugrunde liegt, ist vielmehr ein ‚Individuum‘ im Wechsel der ‚außerwesentlichen‘
konstitutiven Momente. (Husserl 1939, S. 416–117) ◄

Reale und ideale Möglichkeiten Warum kann und darf ein Wesen keine Ver-
allgemeinerung von tatsächlich existierenden Löwen, roten Rosen oder Menschen
sein? Weil es so immer an dasjenige, was momentan ist, gebunden bleibt. Alles,
was real existiert und passiert, tut dies zwar nicht ohne Grund, Motivation und
Regel, aber eben aus realer und nicht aus reiner Notwendigkeit. Selbst Natur-
gesetze, obschon allgemein gültig, gelten nur für diese zeitlich und materiell
existierende Welt. Husserl unterscheidet damit strikt zwischen realen und idealen
Möglichkeiten, also Möglichkeiten, die für diese Welt und diese Menschen gelten,
aber nicht für Gegenstände und bewusste Subjektivität allgemein. Die Wahr-
nehmung ist demnach immer eine konkrete Erfahrung individueller Gegenstände
2.2 · Das Allgemeine bestimmen
47 2
(oder Lebewesen), wie z. B. diese Hauswahrnehmung. Dabei ist jede weitere
Wahrnehmung horizonthaft vorgezeichnet (die Rückseite des Hauses) und inhalt-
lich mitbestimmt durch das, was wir vom Haus bereits aktuell und eigentlich er-
fahren haben (die Vorderseite). Die wechselnden Perspektiven und Ansichten des
Hauses müssen zusammenpassen, d. h. einstimmig sein, wollen wir von der Wahr-
nehmung desselben Hauses sprechen (und nicht von Ansichten verschiedener
Gegenstände). Dies ist wiederum ein Wesensgesetz der Wirklichkeit: Wirklich ist
für uns nur, was einstimmig ist, d. h., was mit dem übereinstimmt, das wir oder
andere Subjekte bereits erfahren haben.

Die Freiheit der Phantasie Nicht so in der Phantasie. Hier können wir ausgehend
von einem phantasierten Haus frei variieren, wobei die Variationen nicht mit-
einander übereinstimmen müssen. Wir können das Haus einmal gelb, einmal
blau, einmal mit diesem Dach, einmal mit jenem vorstellen. Dies ist deshalb
wichtig, da es uns ja nicht um die Individualität des jeweiligen Gegenstandes geht
(also darum, ein bestimmtes Haus zu identifizieren), sondern um dasjenige, was
allen Häusern als solchen zukommen muss. Dasjenige, was in allen möglichen
(und unendlich fortsetzbaren) Variationen dasselbe bleibt, das Invariante in-
mitten der Variation.
Um dieses Invariante nun erschauen und bestimmen sowie in zukünftigen
Wahrnehmungen und Vorstellungen überprüfen oder darüber urteilen zu können,
bedarf es laut Husserl einer aktiven willentlichen Anstrengung und Methode, die
uns vom Konkreten, Individuellen und Zufälligen zum Abstrakten, Allgemeinen
und Notwendigen führt: die eidetische Wesensschau bzw. eidetische Variation.

Definition
In der eidetischen Variation nehmen wir einen erfahrenen oder phantasierten
Gegenstand als Beispiel, den wir dann beliebig gedanklich imaginär variieren, d. h.,
wir erzeugen offen endlose Varianten dieser Sache. Was sich hierbei zeigt, ist die
sich in der Vielzahl der Varianten enthaltene oder durchgehaltene Einheit: Das-
jenige, was in jeder möglichen Variation gleich bleibt. Diese Invariante stellt die
allgemeine Form der Sache dar, ohne die ein derartiges Ding (als Vorbild seiner
Art) nicht gedacht, d. h. nicht anschaulich als ein solches phantasiert werden kann
(Husserl 1939, S. 411).
Die eidetische Variation besteht aus drei Hauptschritten:
1. das aktiv erzeugte „Durchlaufen der Mannigfaltigkeit der Variation“,
2. die ‚überschiebende Deckung‘, also passive Verknüpfung innerhalb der An-
schauung derjenigen Variationen, die sich in Bezug auf einen Aspekt decken
(Kongruieren), und
3. die aktive Identifizierung des Kongruierenden (das, was invariant bleibt) gegen-
über den Differenzen (das, was sich jeweils ändert) (Husserl 1939, S. 419; Hua
IX, S. 86).
48 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

2.2.1  Beispiele eidetischer Variation

Wie wir gesehen haben, geht es in der eidetisch orientierten Phänomenologie


2 nicht so sehr um empirische, reale Dinge oder Individuen, sondern mit den
‚Sachen selbst‘ ist in beinah platonischer Weise deren Wesen gemeint, d. h. das,
was alle Sachen dieser Art notwendig ausmacht und sie allgemein, d. h. nach
ihrer Möglichkeit (und nicht Konkretheit) bestimmt. Man könnte also sagen,
Phänomenologie so betrieben, ist eine Wissenschaft der Möglichkeiten und nicht
der Tatsachen. So muss auch das bestimmte Eidos einer Sache, z. B. des Tones
oder der Farbe, auf jeden real und möglich existierenden Ton oder jedes real und
möglich existierende Vorkommnis von Farbe zutreffen. Ist dies nicht so, treffen
wir entweder auf eine Farbe oder einen Ton, die bzw. der dem jeweiligen Eidos
nicht entspricht, oder, wenn wir beides anders denken können, dann haben wir
das Eidos noch nicht in reiner Allgemeinheit zu fassen bekommen. Dann stellt
sich heraus, dass das, wovon wir dachten, es gehöre zum unabtrennbaren Wesen
einer Sache, nur eine mögliche Variante oder beliebige Ausformung derselben ist.

► Beispiel – Von einem Ton zum Ton überhaupt

» Z.B. verfahren wir so im Ausgang von einem Ton, mögen wir ihn nun wirklich
hören oder als Ton „in der Phantasie“ vorschweben haben, so gewinnen wir
das im Wandel ‚beliebiger‘ Varianten erfaßte Eidos Ton als das hier notwendig
Gemeinsame. Nehmen wir nun ein anderes Tonphänomen als Ausgang, als
beliebig Variiertes, so erfassen wir an dem neuen „Exempel“ nicht ein anderes
Eidos Ton, sondern im Aneinanderhalten des neuen und des früheren sehen
wir, daß es dasselbe ist, daß die beiderseitigen Varianten und Variationen sich
zu einer einzigen Variation zusammenschließen, und daß die Varianten da und
dort in gleicher Weise beliebige Vereinzelungen des einen Eidos sind. Uns selbst
ist evident, daß wir fortschreitend von einer Variation zu einer neuen, diesem
Fortschreiten und Bilden neue Variationsmannigfaltigkeiten selbst wieder den
Charakter des beliebigen geben können, und daß […] sich „immer wieder“
dasselbe Eidos ergeben muß: dasselbe allgemeine Wesen „Ton überhaupt“.
(Husserl 1939, S. 412) ◄

Die Phantasie bzw. Möglichkeit der freien Variation in der Phantasie, spielt hier
eine wichtige Rolle. Zwar lässt sich auch auf der empirischen Ebene Allgemeines
bestimmen. Ich kann etwa eine Vielzahl hier und jetzt existierender und wahr-
genommener Dinge vergleichen und dabei das ihnen Allgemeine bestimmen.
Selbst wenn ich dies mithilfe digitaler Technologie auf unendlich viele tatsäch-
lich existierende Dinge dieser Art ausweiten würde, erhielte ich am Ende immer
nur einen empirisch begrenzten Umfang. Will ich jedoch den reinen Begriff von
Etwas bestimmen, darf dieser nicht an einen tatsächlichen Umfang existierender
Dinge gebunden sein.

Algorithmische Vorurteile und eidetische Variation Dies lässt sich gut an der
gegenwärtigen Debatte um sogenannte implicit bias (implizite Vorurteile) bei
2.2 · Das Allgemeine bestimmen
49 2
Algorithmen zeigen. Trainiert man einen selbstlernenden Algorithmus zur Ge-
sichtserkennung mit einer nicht repräsentativen empirischen Datenauswahl, also
z. B. nur mit Bildern von Gesichtern mit weißer Hautfarbe, wird dieser nicht in
der Lage sein, Gesichter mit anderen Hautfarben als solche zu erkennen. Bekannt
wurde dies, als der Facebook-Algorithmus Urlaubsfotos von Nutzer:innen mit
nicht-weißer Hautfarbe nicht als Fotos einer Person, sondern als Fotos eines
Affen kategorisierte, oder als eine Software zur Erkennung von Hautkrebs diesen
nur bei Personen mit weißer Haut identifizieren konnte. Dies ist nicht nur ein
Beispiel für die Vorurteile der jeweiligen Programmierer:innen, die mangelnde
Diversität im IT-Bereich oder die eingeschränkte Auswahl an Trainings-
daten, sondern auch ein Beispiel für eine automatisierte (falsche bzw. un-
zureichende) empirische Generalisierung. Würde man hier dagegen die Methode
der eidetischen Variation anwenden, so würde man nicht mit der selektiven Aus-
wahl real existierender Gesichter beginnen, sondern bei einem beliebigen Gesicht
– bzw. allgemeinen Einzelheiten eines Gesichts –, um dann potentiell unendliche
Variationen möglicher Gesichter zu simulieren, bis man stabile Kongruenzen ent-
deckt und dann an der Realität prüft. Das Ausgangsbeispiel muss dabei so be-
liebig wie möglich sein. Es darf dabei keinen Unterschied machen, ob wir mit
unserer Variation bei jenem Gesicht (oder Ton oder mit jener roten Farbe)
beginnen.

► Beispiel – Das Eidos ist keine empirische Verallgemeinerung

» Wir gewinnen für dieses Rot hier und jenes Rot dort wohl ein beiderseits
Identisches und Allgemeines, aber nur als Gemeinsames eben dieses und jenes
Rot. Wir gewinnen nicht das reine Rot überhaupt als Eidos. Freilich können wir,
ein drittes Rot oder mehrere, sich wann immer darbietende Rot heranziehend,
erkennen, daß das Allgemeine der zwei identisch dasselbe ist wie das
Allgemeine der Vielen. Aber wir gewinnen so immer nur Gemeinsamkeiten und
Allgemeinheiten in bezug auf empirische Umfänge […]. Sowie wir jedoch sagen,
jedes beliebige und neu heranzuziehende Gleiche muß dasselbe ergeben, und
abermals sagen: das Eidos Rot ist Eines gegenüber der Unendlichkeit möglicher
Einzelheiten, die diesem und irgendeinem damit zu deckenden Rot zugehören,
brauchen wir schon eine unendliche Variation in unserem Sinne als Untergrund.
[…] Sie liefert uns […] den sogenannten Umfang des Eidos, des rein begrifflichen
Wesens […]. (Husserl 1939, S. 422–423) ◄

Reduktion auf das Wesentliche Um ein solchermaßen reines Allgemeines oder


begriffliches Wesen formulieren zu können, ist es notwendig, die Unabhängig-
keit von empirischen Notwendigkeiten und Gesetzlichkeiten zu gewährleisten.
Hierfür müssen wir von jeglicher Behauptung gegenüber der Wirklichkeit bzw.
in Husserls Worten von jeder ‚Daseinssetzung‘ absehen. Husserl spricht dies-
bezüglich auch manchmal von einer eidetischen Reduktion (Husserl, Hua XIX/1,
S. 412), also einer Reduktion auf das rein Mögliche (in Bezug auf eine Sache).
Diese Reduktion ist jedoch streng von der transzendentalen Reduktion zu unter-
scheiden. Während die transzendentale Reduktion auf dasjenige reduziert, was
50 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

die (formalen, basalen) Bedingungen für Erfahrung sind, d. h. was konstitutiv


notwendig ist für diese oder jene Erfahrung oder Erfahrung überhaupt, soll die
eidetische Reduktion den Blick der Forschenden auf das ideal Allgemeine der
2 jeweils zu bestimmenden Sache lenken. Die zu bestimmende Sache kann dabei ein
Ton sein oder, wie später im Rahmen der transzendentalen Phänomenologie, das
Wesen des Bewusstseins. Eine eidetische Reduktion auf das (z. B. sachliche oder
kategoriale) Wesen ist dabei nicht notwendig auch transzendental im kantischen
und Husserlschen Sinne, dies trifft streng genommen nur auf eine eidetische Be-
stimmung des Bewusstseins oder Subjekts zu (7 Abschn. 2.3).

► Beispiel – Das reine Eidos, an keine Wirklichkeit gebunden

» Zuvor ist darauf hinzuweisen, daß auch die gänzlich freie Variation nicht genügt,
das Allgemeine wirklich als reines zu gewinnen. Selbst das durch Variation
gewonnene Allgemeine muß noch nicht im eigentlichen Sinne rein, frei von
Wirklichkeitssetzung sein. Wenngleich durch die Variation schon die Beziehung
auf das zufällige, wirklich existierende Ausgangsexempel ausgeschaltet ist, so
kann dem Allgemeinen doch noch eine Beziehung auf Wirklichkeit anhaften
[…]. Für ein reines Eidos ist die faktische Wirklichkeit völlig irrelevant. […]
Die Wirklichkeiten müssen behandelt werden als Möglichkeiten unter anderen
Möglichkeiten, und zwar als beliebige Phantasiemöglichkeiten. Das geschieht
nur dann, wenn jede Bindung an vorgegebene Wirklichkeit aufs Sorgsamste
ausgeschlossen ist. Variieren wir frei, aber im geheimen daran festhaltend, daß es
z.B. beliebige Töne in der Welt sein sollen, von Menschen auf der Erde zu hören
oder gehörte Töne, dann haben wir zwar ein Wesensallgemeines als Eidos, aber
auf unsere tatsächliche Welt bezogen und an diese universale Tatsache gebunden.
[…]
Nur wenn wir uns dieser Bindung bewußt werden, sie bewußt außer Spiel setzen
und somit auch den weitesten Umgebungshorizont der Varianten von aller
Bindung, aller Erfahrungsgeltung befreien, schaffen wir vollkommene Reinheit.
Wir stehen dann sozusagen in einer puren Phantasiewelt, einer Welt absolut
reiner Möglichkeit. […]
Ein reines Eidos […] ist z.B. die Artung Rot oder die Gattung Farbe; aber nur
wenn sie gefaßt sind als reine Allgemeinheiten, also frei aller Voraussetzung
irgendwelchen tatsächlichen Daseins, irgendeines faktischen Rot, bzw. irgend
einer farbigen tatsächlichen Wirklichkeit. Das ist auch der Sinn geometrischer
Aussagen; z.B. wenn wir den Kreis als eine Art von Kegelschnitt bezeichnen,
bzw. eidetisch einsichtig erfassen, so ist dabei nicht die Rede von einer wirklichen
Fläche als einer solchen der faktischen Naturwirklichkeit. Demgemäß ist ein
rein eidetisches überhaupt-Urteilen, wie das geometrische oder das über ideal
mögliche Farben, Töne u. dgl. in seiner Allgemeinheit an keine vorausgesetzte
Wirklichkeit gebunden. (Husserl 1939, S. 423–425) ◄

Beginnen wir nun mit der Variation anhand einer vorgestellten beliebigen roten
Farbe (Schritt 1). Hierbei zeigt sich in der durchgeführten Variation (als Leistung
2.2 · Das Allgemeine bestimmen
51 2
oder Erzeugung unserer Imagination) sowohl dasjenige, was sich innerhalb
dieser verschiedenen Varianten deckt oder kongruiert, als auch das, was jeweils
unterschiedlich ist (Schritt 2). Im zweiten Schritt vollzieht sich ein passives Er-
schauen von Kongruenz (überschiebende Deckung der in der Imagination ab-
laufenden Varianten) und Differenz (das was sich bei den Variationen nicht deckt,
sondern als unterschiedlich abhebt). Zum Beispiel imaginiere ich eine rote Rose,
einen roten Stuhl und eine rote Tasse, hierbei ändert sich die Form, die Farbe Rot
aber ist allen gemeinsam. Wie Husserl dabei deutlich macht, ist jede erfahrene
Differenz eng mit einer solchen Kongruenz verbunden. Ich kann gegebene Unter-
schiede nur wahrnehmen auf der Basis eines Gemeinsamen. Jede neu erfahrene
Differenz oder der ‚Widerstreit‘ zwischen den Variationen führt demnach wieder
zu einer höheren (d. h. allgemeineren) Form der Gemeinsamkeit, bis hin zur
letzten oder ersten Allgemeinheit, die alle mögliche Diversität als Teile oder mög-
liche Ausformungen dieses Eidos umfasst.

► Beispiel – Das Eidos Rot: Kongruenz und Differenz

» Wenn wir z.B. von einer gegebenen roten Farbe zu einer Folge beliebiger anderer
roter Farben übergehen – mögen wir sie wirklich sehen oder als Farben „in der
Phantasie“ vorschweben haben – so gewinnen wir das im Wandel der ‚beliebigen‘
Varianten kongruierende Eidos Rot als das notwendig Gemeinsame, während
die verschiedenen Ausdehnungen in der Deckung, statt zu kongruieren, vielmehr
sich streitend abheben.
Die Idee der Differenz ist also nur zu verstehen in ihrer Verflechtung mit
der des identisch Gemeinsamen als Eidos. Differenz ist dasjenige, was in der
Überschiebung der Mannigfaltigkeiten nicht zur Einheit der dabei hervortretenden
Kongruenz zu bringen ist, was also dabei nicht ein Eidos sichtbar macht. […]
Z. B. eine Farbe ist identisch, jedoch ist sie einmal Farbe dieser, das andere Mal
jener Ausbreitung und Gestalt. In der Überschiebung streitet eines mit dem
anderen, und sie verdrängen sich gegenseitig.
Andererseits ist klar, daß nichts in Widerstreit treten kann, was nichts
Gemeinsames hat. Nicht nur, daß hier schon die identische Farbe vorausgesetzt
ist, vielmehr wenn das eine Farbige rund, das andere eckig ist, so könnten sie
doch nicht in Widerstreit treten, wenn nicht beides ausgedehnte Figuren
wären. Also weist jede Differenz in der Überschiebung mit anderen als mit ihr
streitenden Differenzen auf ein neues herauszuschauendes Allgemeines. (Husserl
1939, S. 417–418) ◄

In einem letzten Schritt (Schritt 3) muss das so erschaute Allgemeine nun explizit
als solches identifiziert und formuliert werden. Da jede Wesensbestimmung auch
falsch oder ungenügend sein kann, z. B. wenn mögliche Variationen nicht in Be-
tracht gezogen wurden, muss sich diese auch überprüfen, d. h. bestätigen oder
korrigieren lassen – etwa durch eidetische Variationen anderer Subjekte oder Bei-
spiele aus zukünftiger Erfahrung oder durch empirische oder wissenschaftliche
Tatsachen, die dann aber als pure Beispiele (in reine Möglichkeiten übersetzte
Beispiele) herangezogen werden.
52 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Obwohl das Wesen und die Möglichkeit der Dinge ihrem Status und ihrer
Geltung nach der tatsächlichen Erfahrung und Existenz der Dinge vorrangig sind,
bleibt die Bestimmung und Prüfung dieser Wesen und Möglichkeit doch an die Er-
2 fahrung gebunden, die uns mit eventuell nicht vorstellbaren oder neuen Varianten
versorgt. So können wir bei Husserl etwa lesen, dass die Erfahrung den „Wesens-
forscher“ darauf aufmerksam macht, dass er eventuell einen Fehler gemacht hat:
» Habe ich es als Wesen der Dingwahrnehmung gehörig betrachtet, daß Dinge gesehen
werden müssen, und zeigt mir nun die Erfahrung eines Blindgeborenen, daß der
Tastsinn zur Konstitution von Raumdinglichkeit genügt, so sehe ich ein, daß ich in
der freien Gestaltung der möglichen Abwandlungen der Wahrnehmung nicht weit
genug gegangen bin. (Husserl, Hua XXV, S. 248)

Zur Vertiefung
Veränderliche Wesen?

Gerade wenn es sich um materiale, d. h. weitergeführt wird (vgl. Merleau-Ponty


sachhaltige Wesen, wie Welt, Natur oder 2003 [1954]; vgl. Gerlek 2020, S. 163–
Lebewesen oder Individuen handelt, 179). Diese Prozesse der Institution (die
die sich beständig entwickeln und ver- nicht unbedingt von einem Subjekt aus-
ändern, wird es schwierig von einem gehen) aktualisieren den jeweiligen Sinn
‚unzeitlichen‘ (Hua XIX/1, S. 129) oder nicht nur, sondern bestimmen ihn jedes
‚allzeitlichen‘ (Husserl 1939, S. 309 ff.) Mal neu und tragen ihn weiter in die Zu-
Wesen auszugehen. Sind diese Ver- kunft. Auch hier lässt sich Sinn fixieren
änderungen nur Variationen oder und lassen sich Allgemeinheiten be-
Differenzen einer noch nicht gesehenen stimmen, jedoch immer nur provisorisch
und bestimmten höheren Allgemeinheit? und ‚auf Zeit‘. Indem er das Wesen als
Haben wir aufgrund von uns nicht vor- historisch bestimmt, versucht Merleau-
stellbaren Varianten, z. B. das Wesen Ponty das Allgemeine und Notwendige
des Menschen noch nicht erschauen mit dem Konkreten und Veränderlichen
können? Oder hat sich dieses Wesen zu vereinen. Zugleich bestimmt er dabei
seiner Sache nach geändert (oder ändert aber ein neues, höheres Allgemeines, das
sich beständig), d. h. nicht nur in seinen vor jeder konkreten Erfahrung gilt, näm-
realen, sondern auch seinen idealen lich, dass jeder Sinn, jedes Individuum,
Möglichkeiten? Müssen wir von der Ver- jede Erfahrung und damit jedes Wesen
änderlichkeit, d. h. Historizität materia- qua Wesen historisch, d. h. zeitlich sein
ler Wesen ausgehen? muss. Als das allgemeine Wesen aller
Merleau-Ponty würde hier ganz klar zu- Dinge und Individuen wird hier also
stimmen. Für ihn wird Sinn beständig die Zeitlichkeit bestimmt. Merleau-
zeitlich instituiert: Sinn (und damit auch Ponty knüpft mit seiner Beschreibung
jede sachhaltige Bestimmung) kann der Institution als einer umfassenden
es nur geben in Relation mit dem Ver- Theorie der Geschichtlichkeit an
gangenen, d. h. in der Wiederaufnahme, Husserls Konzept der Stiftung und des
die dann praktisch und sogar kreativ historischen Apriori an (vgl. Hua IV).
2.2 · Das Allgemeine bestimmen
53 2
2.2.2  Kritik am Essentialismus

Lässt sich das Wesen jeglicher Dinge und Lebewesen notwendig und allgemein,
d. h. unabhängig von konkreter Erfahrung im Voraus bestimmen? Sind diese
Wesen selbst unzeitlich oder überzeitlich wie Husserl anzunehmen scheint? Sind
nur unsere Bestimmungen der Wesen möglich einseitig, fehlerhaft und vorurteils-
beladen, da es uns nicht gelingt, das wirklich Allgemeine zu fassen? Oder muss
man materiale Wesen (zumindest der unteren Stufen) als zeitlich (etwa durch
Evolution, Entwicklung, Kultur) veränderlich begreifen? Sind es die Wesen
der Dinge selbst, die wir hier erfassen, oder nur unsere historisch und kulturell
relativen Begriffe davon?

‚Existenz vor Essenz‘? Dies sind kritische Fragen, denen sich Husserl und jedwede
Eidetik stellen muss. Gibt es überzeitliche Wesen oder Ideen, die sich prinzipiell
nie ändern können und die Welt bzw. unsere Erfahrung von Welt notwendig im
Voraus bestimmen, z. B. die kategorialen Wesen der Logik? Jedoch selbst im Be-
reich der kategorialen Logik gibt es kulturelle Unterschiede und parallel ver-
schiedene Logiken. Die Aussagenlogik europäischer Sprachen ist etwa durch
seine Subjekt-Objekt-Struktur gekennzeichnet, diese gibt es jedoch nicht bei allen
Sprachen gleichermaßen. Ist das ‚Wesen‘ von etwas dann lediglich eine nachträg-
liche Bestimmung oder gar politische Legitimation, die lediglich unsere Vorlieben,
Interessen oder die Normen und Machtrelationen unserer Zeit ausdrücken? Dies
wurde ausgiebig in Auseinandersetzung mit Husserl diskutiert und kritisiert,
u. a. in der existentialistischen Phänomenologie, die ‚Existenz vor Essenz‘ zu
ihrem Leitspruch machte. Auch die feministische Philosophie, die kritische
Theorie sowie die Gender und Postcolonial Studies werfen den phänomeno-
logisch eidetischen Beschreibungen Essentialismus vor, den Sie als kulturellen
geschlechtsbinären und eurozentrischen Universalismus kritisieren. Zweierlei
lässt sich hierzu in der gegebenen Kürze anmerken.
Erstens lässt sich zur Verteidigung anbringen, dass eine solche Kritik nicht
eigentlich auf das abzielt, was im Zentrum von Husserls Eidetik steht, näm-
lich das reine (nur möglich denkbare) Wesen. Hierbei sind die Bestimmungen so
formal-allgemein, dass sie keine für die obigen Philosophien relevanten Bereiche
wie ‚Mensch‘ oder gar ‚Frau‘ betreffen. Selbst die Bestimmung eines sachhaltigen
Wesens (wie Farbe, Ton überhaupt) lässt sich nur bedingt auf die Gattungskate-
gorie ‚Mensch‘ oder gar konkret auf die Identitätsbestimmung ‚Frau‘ anwenden.
Lediglich Strukturen von möglichem Bewusstsein oder Subjektivität (für Er-
fahrung) oder möglichen Gegenständen (von Erfahrung) überhaupt lassen sich
phänomenologisch allgemein bestimmen.
Auch geht es Husserl bei der Eidetik mitnichten um eine Naturalisierung, also
die Annahme, dass dem Menschen oder der Frau ein gewisser Charakter von
Natur aus zukommt (wie Schwäche, Sorgsamkeit, Irrationalität, was lange als
‚Natur‘ der Frau galt) und alle Abweichungen davon als ‚schlecht‘ zu bewerten
seien oder es solche gar nicht geben kann, wird bzw. geben darf. Eine solche Be-
stimmung wäre von Husserl als Kategorienfehler entlarvt worden. Handelt es sich
doch bei existierenden Frauen oder Menschen um Individuen und keine Wesen.
54 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Ihre Bestimmung ist daher gebunden an reale Möglichkeiten (Naturgesetze, bio-


logische Konditionen, konkrete Umstände, vorherige Erfahrungen) und gerade
nicht an notwendige oder ideale Möglichkeiten.
2 Zweitens, lässt sich nicht bestreiten, dass wir beständig allgemeine Aus-
sagen über die Wirklichkeit treffen und nicht nur Individuelles, Partikuläres er-
fahren, sondern eben auch Allgemeines und Ideales. Gerade die Philosophie,
wie jede Wissenschaft, ist auf allgemeine Einsichten angewiesen. Die Möglich-
keit, etwas allgemein, d. h. für ein ganzes Gebiet von Dingen oder Sachverhalten
aussagen zu können, muss dabei nicht erst in der Logik oder expliziten Begriffs-
bildung, sondern irgendwo in der Erfahrung selbst liegen. Wir gelangen zum All-
gemeinen nicht erst durch Formalisierung oder Abstraktion, sondern erfahren
etwas als ähnlich, zusammengehörig oder von derselben Art. Zwar ändern sich
unsere Begriffe und Ordnungen der Welt, weshalb sie relativ und willkürlich zu
sein scheinen. Und doch muss der Begriff seine Relation zur erfahrenen Sache be-
halten, will er noch sachhaltig sein und etwas Sinnvolles (d. h. Erfahrbares) aus-
drücken.

Begriff und Wesen Der Begriff und das Wesen der Sache müssen daher unter-
schieden werden, auch wenn sie sich gegenseitig beeinflussen. Einmal da auf-
grund neuer Sachen (z. B. neuer Technologien oder Probleme) auch neue Begriffe
entstehen, und einmal da man nicht willkürlich einen Begriff für jede Sache ver-
wenden kann. So ist es vielleicht strittig (und ändert sich mit anderer Fakten-
oder Interessenlage), ob eine bestimmte Pflanze nun ein Baum oder ein Busch
ist. Man könnte sich jedoch nicht vorstellen, dieses grüne, wachsende Etwas als
Flasche zu bezeichnen. Zu seinem sachlichen Wesen gehört eben nicht, dass man
daraus trinken kann. Des Weiteren lässt sich ein Begriff lediglich denken, nicht
jedoch ‚einsehen‘ oder erschauen, wie dies (nach Husserl) beim Wesen der Fall ist.
Trotzdem ist es legitim zu fragen, ob und wie eine solche allgemeine Wesens-
bestimmung möglich ist oder gelingen kann. Eine vermeintlich allgemeine Be-
stimmung kann von kulturellen und historischen Vorurteilen beeinflusst worden
sein und eventuell lediglich subjektive Interessen, historische Diskurse oder
normative Machtstrukturen verallgemeinern. Hier muss kritisch die Frage gestellt
werden, inwiefern die freie Variation in der Phantasie wirklich ‚frei‘ war und nicht
etwa durch bestimmte Denkweisen und Umstände der jeweiligen Zeit bereits vor-
geformt (vgl. Aldea 2016). Jedoch ist der Versuch einer solchen allgemeinen Be-
stimmung deswegen nicht generell zu diskreditieren.

Das Dilemma der freien Variation Der Leitspruch ‚Zu den Sachen selbst‘ lässt sich
also nicht auf eine Begriffsanalyse reduzieren, sondern bleibt auf die deskriptive
Wesensbestimmung angewiesen. Jedoch muss diese beständig an empirischen Bei-
spielen geprüft werden, die nicht mit dem bestimmten Wesen übereinstimmen,
genauso wie in der Übung der freien Variation. Ein Dilemma hierbei ist, dass das
Ergebnis der freien Variation allgemein sein muss, die Ausübung wird jedoch von
einem bestimmten existierenden, d. h. historisch und kulturell situierten Subjekt
vorgenommen. Daher muss das entsprechende Resultat Bestand haben gegen
2.3 · Zurückfragen nach den Bedingungen
55 2
jede mögliche Variation (ausgeführt durch vergangene, jetzige und zukünftige
Subjekte). Und auch wenn man dadurch vielleicht nie das letztgültige objektive
Wesen erreicht, dann doch zumindest die Grenzen der eigenen Phantasie- und
Denkkraft. Hier zeigt sich dann auch einiges über das Wesen des Denkens und
Phantasierens sowie über das Wesen des Menschen, der denkt und phantasiert.

? Aufgaben
1. Was ist der Unterschied zwischen einer Wesens- und einer Tatsachenwissen-
schaft? Definieren Sie und geben Sie Beispiele für beide.
2. Warum ist es für die Phänomenologie (aber auch andere Wissenschaften)
wichtig, dass etwas eine allgemeine oder notwendige Gültigkeit hat? Geben Sie
Gründe an und diskutieren Sie. Gehen Sie hierbei auf die Unterschiede und
Gemeinsamkeiten von Allgemeinheit und Notwendigkeit ein.
3. Husserl spricht von Wesensschau. Inwiefern kann man Wesen erschauen, was
ist hiermit gemeint und inwiefern spielt Phantasie hierbei eine Rolle? Erklären
und diskutieren Sie.
4. Praktizieren Sie eine eidetische Variation an einer beliebigen, wahrgenommenen
oder vorgestellten Sache. Versuchen Sie, die einzelnen Schritte zu beschreiben.
Vergleichen Sie diese mit Mitstudierenden.
5. Versuchen Sie, Einwände, Kritik oder Schwierigkeiten (an) der Wesens-
bestimmung zu formulieren. Diskutieren Sie diese mit Mitstudierenden.
6. Glossar: Sammeln Sie relevante Begrifflichkeiten aus 7 Abschn. 2.2. Definieren
Sie diese anhand des Textes und weiterer Quellen und fügen diese dem Glossar
hinzu. (Tipp: Dieses Glossar kann gemeinsam mit anderen Kommiliton:innen
erstellt werden.)
7. Erklären Sie den Unterschied zwischen: materiellen und formalen Wesen;
reinen und empirischen Wesen; Wesen und Individuum; realen und idealen
Möglichkeiten; Generalisierung und Formalisierung; empirischer Ver-
allgemeinerung und Wesensbestimmung.

2.3  Zurückfragen nach den Bedingungen

Von der Beschreibung zur transzendentalen Reduktion Schauen wir uns die be-
sprochenen Beispiele in 7 Abschn. 2.1 (Vorurteilsloses Beschreiben) einmal mit
Blick auf die methodische Einstellung der Beschreibung an. Husserl betont etwa
im ersten Text, den Vorlesungen zu Wahrnehmung und Aufmerksamkeit aus dem
Jahre 1907, dass bei der Beschreibung die wirkliche Existenz des Dinges keine
Rolle spielt, sondern nur die Erscheinung oder das Wahrnehmungserlebnis in Be-
tracht kommt; wir halten uns ferner nur an den ‚intentionalen Würfel‘, d. h. den
Sinn unserer Wahrnehmung und beschäftigen uns nicht mit der Frage nach der
Existenz oder Realität desselben. Gleiches finden wir in der Passage aus Husserls
Vorlesungen zum inneren Zeitbewusstsein von 1905, auch hier nimmt er die all-
tägliche Wahrnehmung und Bedeutung einer Melodie zum Ausgang, und beginnt
56 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

dann mit einer ‚tieferen Analyse‘. Dabei sollen alle transzendenten Auffassungen
und Setzungen ausgeschaltet werden, man solle den Ton rein als hyletisches
Datum, d. h. Empfindung oder Erlebnis im Wie seiner Gegebenheit für die Er-
2 fahrung beschreiben.
Wir beschränken uns also in der Beschreibung auf dasjenige, was erscheint
und in den Grenzen, in denen es uns erscheint. So wissen wir natürlich, dass ein
Haus mehrere Seiten hat, und wir zweifeln nicht an seiner Realität, doch heißt
das nicht, dass uns dies auch unmittelbar so erscheint. Mit der methodischen Ein-
klammerung jeglicher Vorannahmen bezüglich des zu beschreibenden Gegen-
standes vollzieht sich dabei ein Aufmerksamkeitswechsel, eine Öffnung oder Vor-
bereitung für eine neue phänomenale Perspektive der Deskription.

Deskriptive und transzendentale Epoché In diesem Zusammenhang ist die Rede


von einer sogenannten deskriptiven Epoché, also der Enthaltung oder Ein-
klammerung von bestimmten Vormeinungen oder eines Urteils über das Sein
oder die Existenz des zu Beschreibenden. Jedoch hat die Epoché oder Ein-
klammerung hier noch keine transzendentale Bedeutung, d. h. der Glaube an das
Sein der Welt, der jede Erfahrung charakterisiert, wird hier nicht vollends außer
Spiel gesetzt. Was eingeklammert wird, sind lediglich Annahmen über die Quali-
tät und Existenz des jeweils zu beschreibenden Gegenstandes oder Sachverhalts.
Nach seiner sogenannten transzendentalen Wende, die Husserl in den Ideen
(Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie,
vgl. Hua III/1; III/2; IV; V) im Jahre 1913 vornimmt, wird die Epoché (Ein-
klammerung) als Vorbereitung oder Eingangstor zu einer transzendentalen Unter-
suchung der Erfahrung bestimmt. Während die vor-transzendentale Epoché zwar
auch die Frage nach dem Sein oder der Existenz des jeweiligen Gegenstandes
zunächst außer Acht lässt (sich also nicht dem Ob oder Was des Gegenstandes
widmet, sondern sich zunächst auf das Wie konzentriert), verändert die Ein-
klammerung bei der transzendentalen Epoché ihre Bedeutung. Nicht mehr die
Frage nach dem Sein oder der Existenz eines bestimmten nun zu beschreibenden
Phänomens wird vorübergehend eingeklammert, sondern die gesamte Generalthe-
sis oder natürliche Einstellung (d. h. unser impliziter und allgegenwärtiger Glaube,
dass die Welt existiert) wird außer Kraft gesetzt, um zu klären, wie wir überhaupt
zur Annahme einer Objektivität und Transzendenz kommen und welche Rolle
dabei die Leistungen des Bewusstseins spielen.
Mit der transzendentalen Reduktion verlassen wir also die von Husserl so ge-
nannte ‚natürliche Einstellung‘, um dasjenige thematisieren und begreifen zu
können, was für uns immer schon selbstverständlich und von Geltung ist: die
Existenz einer objektiven Welt.
» Die „Wirklichkeit“, das sagt schon das Wort, finde ich als daseiende vor und nehme
sie, wie sie sich mir gibt, auch als daseiende hin. Alle Bezweiflung und Verwerfung
von Gegebenheiten der natürlichen Welt ändert nichts an der Generalthesis der
natürlichen Einstellung. „Die“ Welt ist als Wirklichkeit immer da, sie ist höchstens
2.3 · Zurückfragen nach den Bedingungen
57 2
hier oder dort „anders“ als ich vermeinte, das oder jenes ist aus ihr unter den Titeln
„Schein“, „Halluzination“ u. dgl. sozusagen herauszustreichen, aus ihr, die – im
Sinne der Generalthesis – immer daseiende Welt ist. (Hua III/1, S. 61; Hervorh.
M.W.)

Der Glaube an das Sein der Welt Während die deskriptive Epoché sich lediglich
auf lokale oder sachbezogene Vorannahmen oder Urteile bezieht, wird mit der
transzendentalen Epoché der implizit operierende Glaube an das Sein der Welt
(und uns als empirisch seiende Wesen darin) gänzlich außer Kraft gesetzt. Husserl
bezeichnet diesen Weltglauben auch als ‚Generalthesis‘, obwohl dies etwas miss-
verständlich ist. Gemeint ist nicht, dass wir in allen unseren Erfahrungen oder
Handlungen (zusätzlich) ein explizites Urteil über die Existenz der Welt voll-
ziehen. Ein solches Weltbewusstsein ‚im Modus der Glaubensgewissheit‘ ist nach
Husserl kein eigens auftretender Akt der Setzung von Sein. Vielmehr setzt jedes
Urteilen und Setzen bereits ein solches „Weltbewußtsein in Glaubensgewißheit“
voraus. „Dieser universale Boden des Weltglaubens ist es“, so Husserl, „den jede
Praxis voraussetzt, sowohl die Praxis des Lebens als auch die theoretische Praxis
des Erkennens“ (Husserl 1939, S. 25). Mit der transzendentalen Epoché, der Ein-
klammerung dieses Glaubens, verschwindet jedoch weder der Glaube noch die
darin als seiend erfahrene Welt. Der hier vollzogene Einstellungswechsel vom
Existierenden zu seinen Bedingungen löscht Selbstverständlichkeit nicht völlig
aus, sondern thematisiert sie allererst. Die Einklammerung des Weltglaubens
funktioniert also wie die Markierung von etwas, das nun einer näheren Unter-
suchung unterzogen werden soll. Dies lässt sich vergleichen mit einer vorläufigen
Annahme, die nun einer Rechtsprüfung unterzogen wird, d. h. deren Geltung sich
im weiteren Verlauf der Untersuchung erst aufklären und beweisen lassen muss
(vgl. Lohmar 2002, S. 751). In diesem Zusammenhang wird nun alles, was wir er-
fahren (die Inhalte unserer Erfahrung) zunächst rein als Phänomen behandelt.

Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt Nach der allumfassenden


transzendentalen Epoché, die unseren Weltglauben im Ganzen einklammert,
kommt daher derjenige methodische Schritt, den Husserl ‚Reduktion‘ nennt.
Oft werden beide Schritte zusammengenommen, ohne noch zwischen den Be-
griffen ‚transzendentale Epoché‘ und ‚transzendentale Reduktion‘ eigens zu
unterscheiden. Reduktion meint dabei nicht, dass wir an dem Wahrgenommenen
zweifeln oder die Inhalte unserer Erfahrung (unseres Glaubens, Urteilens etc.)
einfach wegstreichen, wie dies etwa bei René Descartes‘ methodischem Zweifel
der Fall ist. Die Ausschaltung der natürlichen Einstellung ist also weder ein
Zweifeln (Skeptizismus) an der Welt, noch ein Leugnen der Welt (Idealismus),
noch eine naive Bekräftigung derselben (Realismus), sondern eine Rückfrage
nach den Bedingungen für die Gegebenheit von Welt.
Vielmehr zielt Reduktion auf eine thematische Fokussierung oder Einengung
auf einen spezifischen Aspekt: Durch die Einklammerung des Weltglaubens wird
nun die Aufmerksamkeit nicht nur darauf gelenkt, wie uns ein bestimmter Gegen-
stand gegeben ist, sondern darauf, wie uns überhaupt etwas (Gegenstände, die
Welt) gegeben sein kann. Wir reduzieren dabei auf diejenigen Aspekte, die hierfür
58 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

absolut notwendig sind (und nicht nur nebensächlich oder zufällig). Diese sind
dann die Bedingungen der aktuellen, aber auch jeder möglichen Erfahrung.
Dieses transzendentale Rückfragen nach den Bedingungen der Möglichkeit
2 von Erfahrung überhaupt ist dabei eine genuin philosophische Frage bzw. Auf-
gabe. Sie muss zwar immer mit einer Beschreibung dessen beginnen, was uns
aktuell gegeben ist, geht aber über eine bloße Beschreibung hinaus und fragt, wie
diese bestimmte Erfahrung (z. B. die Wahrnehmung als Modi von Erfahrung)
oder jede mögliche Erfahrung (als Erfahrung von Etwas) ermöglicht wird. Auf-
grund dieses wesentlichen Unterschiedes zwischen vor-transzendentaler (de-
skriptiver Epoché) und transzendentaler Epoché kann man mit Blick auf die an-
gewandte Phänomenologie (z. B. in der Psychologie) argumentieren, dass es miss-
verständlich wäre, zu sagen, dass jede phänomenologische Beschreibung einer
(transzendentalen) Epoché bedürfe (vgl. Zahavi 2021).

Wieso transzendental? Diese Bedingungen der Erfahrung sucht Husserl (wie


auch Kant) im subjektiven Bewusstsein, im Erkennen oder Erfahren. Die
transzendentale Reduktion öffnet damit den Blick für die ‚konstitutiven
Leistungen‘ unserer Subjektivität. Dies ist insofern eine Reduktion, da ich mich
nicht mehr für meine persönliche Motivation und Situation, mein Aussehen
(empirische Gestalt), kurz für mich als Menschen in dieser Welt interessiere.
Stattdessen konzentriere ich mich nun auf diejenigen Funktionen der Erfahrung,
die für jede nur denkbare Erfahrung notwendig sind. Diese Funktionen oder
Leistungen haben dabei den Status ‚transzendental‘, da sie nicht abhängig von
einer bestimmten Erfahrung sind, sondern a priori (d. h. unabhängig von be-
stimmten Erfahrungen, sozusagen ‚vor der Erfahrung‘) notwendig sind, damit
Erfahrung überhaupt stattfinden kann. Diese Leistungen gelten dann auch nicht
mehr als rein individuelle, persönliche oder psychologische Leistungen, sondern
sind transzendentale; d. h., jedes existierende, vergangene, zukünftige oder nur
denkbare Subjekt muss notwendigerweise dieselben Leistungen, Funktionen und
Möglichkeiten haben, will man überhaupt von Erfahrung von Etwas sprechen.

Definition
Allgemein bedeutet transzendental eine Erkenntnis, die von empirischen Prinzipien
unabhängig ist. Dies unterscheidet eine philosophische oder metaphysische Erkennt-
nis von einer bloß empirischen oder historischen, d. h. relativen Erkenntnis. Das
‚trans‘- in ‚transzendental‘ deutet darauf, dass diese Erkenntnisart die Grenzen der
alltäglichen empirischen Erfahrung überschreitet, genauso wie das ‚meta‘- in ‚Meta-
physik‘ über den Bereich der sinnlichen Erfahrung hinausweist. ‚Transzendentale
Erkenntnis‘ bezieht sich daher auf Notwendigkeiten und nicht auf empirische, d. h.
zufällige oder existierende, Sachverhalte; sie ist nicht auf die Sinne angewiesen und
in Kants Formulierung ‚apriorisch‘ (vgl. Nenon 2005, S. 289).

Dabei lenkt die transzendentale Epoché


Ich als transzendentale Subjektivität
unsere Aufmerksamkeit nicht mehr nur auf die Erscheinung eines Phänomens
2.3 · Zurückfragen nach den Bedingungen
59 2
(d. h. auf den Inhalt), sondern auf das Wie der Erkenntnis (d. h. auf den Akt
der Erfahrung), wodurch eine Art kopernikanische Wende eintritt: Wird näm-
lich alles Erfahrene zum Phänomen, gilt dies natürlich auch für mich selbst als
psycho-physischer Mensch. Schließlich erfahre ich mich selbst ja auch und
gelte daher als Inhalt oder Gegenstand meiner eigenen Erfahrung. Wie kann
ich aber zugleich Objekt und Subjekt meiner Erfahrung sein, Inhalt und Be-
dingung desselben? Hier tritt eine Art Ich-Spaltung auf, ein ‚neues‘ Subjekt,
oder besser: eine neue Dimension unserer Subjektivität, kommt zum Vorschein.
Dies ist das transzendentale Bewusstsein, die transzendentale Subjektivität oder
die transzendentale Person (vgl. Luft 2009, S. 152 f.). Nicht nur formale An-
schauungskategorien wie Zeit und Raum sind daher transzendental (vgl. Kant)
und Bedingungen für Erfahrung, sondern eben auch, dass das erfahrende Subjekt
sich selbst und die Welt empfindet, materiell ist und sich bewegen kann sowie
Sinn und bleibende Vermögen und Kenntnisse erwirbt. Dieses Subjekt mitsamt
seinen Bewusstseinsleistungen, seiner Leiblichkeit und Historizität erscheint
nun als dasjenige, was die jeweilige Erfahrung und jede weitere Erfahrung mög-
lich macht. Es konstituiert jeweils die Kohärenz, den Sinn und die Geltung, die
essentiell sind für die Erfahrung einer stabilen, sinnvollen und objektiven Welt.

Zur Vertiefung
Kant und Husserl: Vom transzendentalen Ich zur transzendentalen Person

Die moderne Tranzendentalphilosophie diejenigen Elemente identifiziert, die


bei Kant heißt transzendental, weil sie notwendig sind für eine solche Er-
die notwendigen Bedingungen für die fahrung, wie z. B. die Erscheinungs-
Erfahrung von empirischen Objekten kategorien Zeit und Raum; und dann
überhaupt identifiziert. Kant setzt sich deduzierend, indem die Notwendigkeit
damit gegen eine gängige Vorstellung argumentativ aus der faktischen Er-
seiner Zeit, für die transzendentale Er- scheinung abgeleitet wird: Da eine sinn-
kenntnis sich auf das Transzendente liche Wahrnehmung ohne Zeit (zeit-
(Übersinnliche oder Göttliche) be- liche Einheit) und Raum (räumliche
zieht. Eine transzendentale Unter- Anordnung) nicht denkbar ist, müssen
suchung ist zwar die Suche nach den diese Kategorien notwendig sein,
nicht-empirischen Bedingungen der Er- d. h. die Bedingungen für jede mög-
fahrung. Kant sucht diese Prinzipien liche Wahrnehmung (vgl. Nenon 2005,
jedoch nicht mehr im Übersinnlichen, S. 292).
sondern leitet diese von endlichen, sinn- Husserl schließt sich in Intention und Ziel
lichen Erscheinungen in der Erfahrung dem Projekt Kants an und kommt teil-
ab, um von hieraus zu notwendigen weise zu ähnlichen Ergebnissen. Jedoch
und invarianten, d. h. apriorischen, Be- gibt es entscheidende Unterschiede. Zu-
dingungen für die Erfahrung zu ge- nächst verwendet Husserl den Begriff
langen. Dabei verfährt er zunächst ana- ‚transzendent‘ nicht mehr im Sinne von
lysierend, indem er unsere Erfahrung übersinnlich, sondern meint damit alles,
und die Gegenstände zergliedert und was dem ­ Bewusstsein nicht immanent
60 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

ist, also alle sinnlich erscheinenden Dinge reflektieren. Dies macht das transzen-
bzw. die Welt. Die transzendentale Frage dentale Ich zu etwas, was es nach Kant
richtet sich hier also darauf, welche Be- nie war: ein notwendig singuläres We-
2 dingungen im Subjekt/Bewusstsein erfüllt sen (vgl. Heinämaa u. a. 2014, S. 8). Dies
sein müssen, damit eine transzendente bedeutet zugleich, dass der Bereich der
Welt erscheinen kann. Ein weiterer ent- Transzendentalität nichts anderes ist, als
scheidender Unterschied liegt darin, der der konkreten, weltlichen Person;
dass Husserl zu den transzendentalen der Unterschied zwischen Empirischem
Bedingungen nicht auf dem Weg der und Transzendentalem bezieht sich viel-
logischen Analyse oder Deduktion ge- mehr auf zwei verschiedene Aspekte in-
langt, sondern eine deskriptive Transzen- nerhalb des bewussten Lebens eines Indi-
dentalphilosophie vertritt: Die gesuchten viduums. Diese Einsicht wird deutlich,
Bedingungen müssen für jedes Subjekt wenn wir uns dem Thema der Leiblich-
selbst intuitiv gegeben, d. h. erfahr- keit zuwenden (7 Abschn. 2.3.2.1; vgl.
bar und beschreibbar sein. Daher muss Heinämaa u. a. 2014., S. 9; Wehrle 2021).
jede Transzendentalphilosophie bei der Zusammenfassend lässt sich festhalten,
Beschreibung der jeweils eigenen Er- dass Husserls Transzendentalphilo-
fahrung beginnen und setzt damit ein sophie eine Radikalisierung, Reartiku-
individuelles, persönliches Subjekt voraus, lation und Erweiterung des kantischen
dem im Hier und Jetzt etwas erscheint. Begriffs des Transzendentalen dar-
Die Singularität und Faktizität des stellt (vgl. Heinämaa u. a. 2014, S. 8).
transzendentalen Ich ist für Husserl Eine Radikalisierung, da Husserl seine
relevant, da er die Bedeutung des Be- transzendentale Erkenntniskritik auf die
griffs ‚transzendental‘ nicht nur Kant Logik ausdehnte, die Kant noch voraus-
entlehnt, sondern diesen auf die carte- gesetzt hatte (Husserl 1939). Rearti-
sianische Einsicht zurückführt, wonach kulation, da das ‚Transzendentale‘ bei
sich die charakteristische Seinsweise des Husserl Teil der konkreten subjektiven
Bewusstseins wesentlich von derjenigen Erfahrung sein muss, und nicht de-
weltlicher oder dinglicher Wesen unter- duziert wird. Erweiterung, da Husserl
scheidet. Zum Beispiel ist es möglich, den Bereich der transzendentalen Unter-
sich ein Bewusstsein ohne Welt vorzu- suchung um die zeitliche Entwicklung
stellen, aber nicht eine Welt ohne ein Ich, des Ichs, seine Leiblichkeit und die inter-
dem es gegeben ist: In diesem Sinne ist subjektiven Beziehungen erweitert.
das Bewusstsein die transzendentale Be- Statt sich nur auf das Innenleben des
dingung aller Transzendenz, der Welt. Subjekts zu konzentrieren, umfasst der
Allerdings können wir diese Bedingung Bereich des Transzendentalen auch seine
nicht aus einzelnen Erfahrungen ab- Lebenswelt sowie Kultur und Sozialität.
leiten, sondern sie manifestiert sich be- Hiermit wandelt sich das ehemals rein
ständig in und durch unser Erleben. Wir formale transzendentale Ich bei Kant
erfahren uns sozusagen implizit als diese (als formaler Ausganspunkt) zu einer
Bedingung und können jederzeit explizit transzendentalen Person, die leiblich,
auf uns als Subjekt, d. h. Ausganspunkt situiert, passiv, aktiv und vor allem inter-
und Bedingung unserer Erfahrung, subjektiv sinnstiftend ist.
2.3 · Zurückfragen nach den Bedingungen
61 2
Genetische Konstitutionsanalyse Diese Wende vom erscheinenden Objekt zu den
Bedingungen seiner Erscheinung im Subjekt wurde bereits in der Beschreibung
zeitlicher Objekte wie der Melodie deutlich. Hier deutet sich die Notwendigkeit
einer genetischen Intentionalanalyse an, die sich mit den Bedingungen der Ent-
stehung oder der ‚Konstitution‘, d. h. dem genetischen Aufbau einer Gegen-
standswahrnehmung beschäftigt. Dies gehört insofern zu einer transzendentalen
Fragestellung, da hier auf allgemeine genetische Bedingungen zurückgefragt
wird, die notwendig für jede mögliche Erfahrung sind. So wird etwa gefragt, wie
sich das Bewusstsein selbst zeitlich konstituiert (Hua XXXIII; vgl. Bernet 2002;
Held 1966); es wird untersucht, wie Urteilen in der sinnlichen Erfahrung fundiert
ist (Husserl 1939); oder gezeigt, dass jede Aktivität (Denken) auf eine Passivität
(Affektion, Rezeption) zurückweist. In einer solchen genetischen Konstitutionsana-
lyse, die sich auf zugrunde liegende Entwicklungen, Prozesse und dazugehörige
Motivationen im Subjekt richtet, wird deutlich, dass jede Dingwahrnehmung
bereits das Resultat von zeitlichen Aufbauprozessen und passiven Synthese-
leistungen des erfahrenden Bewusstseins ist. Jede statische Intentionalanalyse,
die noetisch eine Erscheinungsweise (Wahrnehmung, Urteil, Vorstellung) oder
noematisch ein intentionales Objekt, wie z. B. ein Haus, zum Thema hat, weist
daher zurück auf fundierende Prozesse oder Leistungen im Bewusstsein, die eine
solche einheitliche Gegenstandserfahrung allererst ermöglichen.

Transzendentale Phänomenologie und Eidetik Das Transzendentale bei Husserl be-


zieht sich also auf die Einsicht, dass die Bedingungen dafür, dass mir die Welt
und die Dinge einheitlich als solche erscheinen, in den (passiven und aktiven
Leistungen) der Subjektivität selbst liegen. Durch einen solchen Aufmerksam-
keitswechsel kann jeder sich selbst nicht nur als Ding in der Welt, sondern als
wahrnehmendes und sinnstiftendes, d. h. konstituierendes Subjekt verstehen. In
einem zweiten Schritt werden dann die allgemeinen und notwendigen Strukturen
jedes möglichen Subjekts, also des reinen (von aller Konkretheit gereinigten)
Bewusstseins, ermittelt. Der erste Schritt ist die transzendentale Wende oder Be-
sinnung auf die subjektiven Bedingungen; der zweite, die allgemeine Bestimmung
dieser Bedingungen durch eine eidetische Variation meiner Subjektivität. Um
zu den transzendentalen Prinzipien zu kommen, bedarf es also der eidetischen
Bestimmung. Jedoch zeigt sich dabei, dass jede eidetische Variation unseres
Bewusstseins zugleich immer schon transzendental ist.

2.3.1  Die drei Wege zur transzendentalen Reduktion

In Husserls transzendentaler Phänomenologie wird also strikt genommen nicht


mehr die naiv angenommene ‚Welt‘ beschrieben, sondern ein neues Unter-
suchungsgebiet eröffnet: die transzendentale Person oder das transzendentale
subjektive Leben. In diesem sind sowohl das Ego als Pol aller Bewusstseins-
aktivitäten sowie das Ego als Substrat von durch die Erfahrung erworbenen
Habitualitäten als auch alle aktuellen und möglichen Inhalte der Erfahrung
(und damit die Welt als Erscheinung oder Phänomen) enthalten. Für diese Ein-
sicht sind drei philosophiegeschichtliche Einflüsse zentral. René Descartes‘
62 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Fundamentalbetrachtungen und methodischer Zweifel in seinen Meditationes


de prima philosophia (Descartes 2008 [1641]), die vom Empirismus inspirierte de-
skriptive Psychologie der inneren Erfahrung von Husserls Lehrer Franz Brentano,
2 und Immanuel Kants Kopernikanische Wende von der ontologischen Betrachtung
hin zur transzendentalen Sinnesdeutung der Welt als Welt möglicher Erfahrung
(vgl. Kants Kritik der reinen Vernunft, 1970 [1781]) Dementsprechend ist auch von
drei Wegen zur transzendentalen Reduktion oder transzendentalen Subjektivität
die Rede, dem ‚cartesianischen‘, dem ‚psychologischen‘ und dem ‚ontologischen‘
bzw. ‚kantianischen‘ Weg (vgl. Kern/Bernet/Marbach 1996, S. 60–72).

2.3.1.1  Der cartesianische Weg


Wie der Name schon sagt, folgt Husserl in seinen gleichnamigen Cartesiani-
schen Meditationen (Husserl, Hua I), die 1931 zuerst in französischer Sprache in
einer Übersetzung von Emmanuel Levinas herausgegeben wurden, dem Vor-
bild Descartes’, um zu einem unbezweifelbaren ersten Fundament zu gelangen,
das alle Wissenschaften fundieren kann. Dieses erhält Descartes durch das
strategische Negieren all dessen, wofür wir auch nur den geringsten Grund zum
Zweifeln finden können. Beginnend bei der Welt, die uns durch unsere manchmal
trügerischen Sinne gegeben ist und darum leicht bezweifelt werden kann, über
den eigenen Körper, über den wir uns ebenfalls irren können ‒ etwa, wenn wir im
Traum meinen, durch Paris zu flanieren, während wir doch schlafend in unserem
Bett liegen ‒, bis hin zu den universalen mathematischen und logischen Weis-
heiten, die sich dank eines betrügerischen Dämons, der uns in allem täuscht, eben-
falls bezweifeln lassen. Was bleibt dann noch übrig, wenn materielle sowie ideale
Gegenstände zweifelhaft sind? Hier stößt Descartes nun auf das Ich, das bei dem
ganzen Zweifeln immer schon vorausgesetzt sein muss: Descartes oder wir als
Meditierende können nämlich nicht zugleich denken, dass wir getäuscht werden
und zugleich nicht existieren. Das ich nicht existieren soll, während ich dies doch
denke, ist sozusagen nicht denkbar. Dasjenige, was als unbezweifelbar übrigbleibt,
ist also das denkende Ich. Die Einsicht, dass ich, während ich denke (zweifle etc.),
auch existiere, ist notwendig wahr, wann immer ich sie denke oder ausspreche.

Die apodiktische Evidenz des ‚Ich denke‘ Diese Idee der apodiktischen (not-
wendigen, im Sinne von nicht anders sein können) Gewissheit des ego cogito („ich
denke“) nimmt auch Husserl zum Ausgang seiner Überlegungen. Obwohl wir
uns beim Inhalt jeder Erfahrung täuschen können bzw. immer nur eine partielle
Evidenz des Gegebenen erreichen (nie alle Seiten und Aspekte eines Gegen-
standes zugleich haben), ist der aktuelle Akt des Erfahrens apodiktisch evident,
d. h., wenn und solange ich erfahre, existiere ich notwendigerweise (dies ist nicht
bezweifelbar). Jedoch ist diese Gewissheit nur auf den Moment des Vollzugs der
aktuellen Erfahrung beschränkt und nicht in demselben Maße gültig für ver-
gangene Akte, mein vergangenes Ich. Husserl verwendet viel Mühe und Energie
darauf, zu klären, wie weit diese Apodiktizität reicht, und spricht sich aus für eine
apodiktische Kritik, in der wir immer wieder klären müssen, wie gewiss uns unser
Erfahren und unsere Erfahrungen gegeben sind. Trotzdem betont er, dass jedes
Subjekt zu seinem eigenen Erfahren und den darin erfahrenen Inhalten einen
2.3 · Zurückfragen nach den Bedingungen
63 2
originalen, d. h. direkten Zugang hat. Deshalb muss jede phänomenologische
Philosophie oder Erkenntniskritik bei der eigenen Erfahrung beginnen, da diese
evidenter ist als die nur vermittelt gegebene Erfahrung unserer Mitsubjekte. Nur
innerhalb unserer eigenen Erfahrung können wir uns von der Richtigkeit oder
Falschheit von etwas überzeugen, etwas ‚zu Gesicht‘ bzw. zur Evidenz bringen.
Die Inhalte der Erfahrung, obwohl niemals vollständig gegeben, haben demnach
einen Anteil an der apodiktischen Evidenz des ‚Ich denke‘ oder ‚Ich erfahre‘.
Genau wie Descartes muss jede philosophische und wissenschaftliche Unter-
suchung darum bei der subjektiven Erfahrung oder Erkenntnis beginnen, um von
diesem unbezweifelbaren Fundament weitere Evidenzen, wie die der erfahrenen
Gegenstände und der Welt im Ganzen, zu prüfen und zu versichern.

Descartes’ Irrtum Trotz des Subjekts als gemeinsamen Ausganspunkts und der
Hervorhebung der Praxis der Meditation als Aufmerksamkeitswechsel und
Wendung nach Innen (auf die eigene Erfahrung), grenzt sich Husserl deutlich
von Descartes‘ Verständnis des ego cogito in dessen Meditationes de prima philo-
sophia (Descartes 2008 [1641]), dt. Meditationen über die erste Philosophie, 1994)
ab. Für Husserl kann dieses unbezweifelbare Fundament nämlich nicht mehr das
empirische Ego des Meditierenden sein (etwa von Descartes), da dieses Ich dann
noch selbst Teil derselben Welt wäre, die Descartes ja durch den Zweifel negiert
hatte. Dies führte bei Descartes zu einer Scheidung zwischen Geist und Körper:
zwei weltlichen Substanzen, eine denkende (res cogitans) und eine materielle (res
extensa), wobei nur erstere nach dem methodischen Zweifel übrigbleibt. Dies war
laut Husserl Descartes’ Irrtum: Er nahm fälschlicherweise an, dass das ego cogito

Zur Vertiefung
Zur Verteidigung Descartes’: Das integrale Cogito

Zur Verteidigung von René Descartes bzw. die res cogitans meint, sondern
muss man jedoch anmerken, dass dieser viel breiter angelegt ist und Leiblich-
in anderen Schriften, wie in den Briefen keit, Affektivität und den Willen um-
an Elisabeth (1643–1649) oder Les Pas- fasst. Später hat der französische
sions de l'âme (Descartes 1649; dt. Phänomenologe Jean-Luc Marion eine
Die Leidenschaften der Seele), durch- Neuinterpretation von Descartes vor-
aus die Wechselwirkung von Geist und gelegt, die ebenfalls für ein integratives
Körper betont und auch selbst einiges Verständnis des ego cogito bei Descartes
zu Gefühlen und Leiblichkeit verfasst plädiert (vgl. Marion 2013). Jedoch
hat. Paul Ricœur, Erstübersetzter von ist Husserls Kritik mit Blick auf die
Husserls Ideen und berühmter Ver- Formulierung und argumentativen
treter der hermeneutischen Philo- Positionierung des ego cogito in den Me-
sophie und Phänomenologie, hat darauf ditationes weiterhin berechtigt, auch
zurückgegriffen und spricht von einem wenn sie nicht (mehr) als allgemeine
‚integralen cogito‘ (Ricœur 2016 [1950]), Kritik an Descartes’ Dualismus gelten
das nicht nur das reflektierende cogito kann bzw. sollte.
64 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

doch noch ein „Endchen“ der Welt ist (Hua I, S. 9), d. h. denselben Status hat,
wie weltliche Objekte. Wie Husserl es weiter ausdrückt: Descartes hat die Tür zu
einer transzendentalen Sichtweise geöffnet, ist jedoch nicht hindurchgegangen.
2
Transzendentale Erfahrung Das ‚erkennende Ich‘, so Husserl, steht vielmehr für
einen transzendentalen Blickwechsel, von dem wir nun uns selbst und die Welt als
Teil unserer Erfahrung aus der Distanz überschauen können, als dass es eine eigen-
ständige ontologische Substanz darstellt. Was wir dabei sehen und untersuchen
können, ist unsere transzendentale Erfahrung: In dieser treffen wir alles, was vor-
her als Teil der Welt galt, nunmehr als intentionale vergangene, aktuelle oder mög-
liche Inhalte unserer Erfahrung. Vor allem treffen wir uns dabei selbst als Objekt
und Subjekt unserer Erfahrung an, wobei wir letzteres als die konstitutive Be-
dingung jeder Erfahrung überhaupt erkennen. Descartes' methodischer Zweifel
kann uns also – richtig verstanden – als Vorbild dienen, um auf einen Schlag zur
transzendentalen Subjektivität zu gelangen, d. h. zur Möglichkeit des Erkennens
von uns selbst, nicht nur mit bereits konstituiertem Sinn (als diese Person oder
Inhalt unserer Erfahrung), sondern auch als die Bedingung von Erfahrung und
damit als sinnkonstituierend: den Sinn von Welt, von mathematischen Weisheiten
und schließlich den Sinn von uns und anderen Menschen als leiblichen, fühlenden,
denkenden und eben auch transzendentalen Subjekten.

Ego-cogito-cogitatum Das ego cogito als transzendentale Subjektivität ist denn


auch kein formaler Ausgangspunkt des Denkens oder des Erfahrens, sondern
beinhaltet alle aktuellen, vergangenen sowie zukünftigen Inhalte des Erfahrens
und damit die gesamte erscheinende Welt. Da Bewusstsein immer Bewusst-
sein von etwas ist, haben wir es mit der Struktur ego-cogito-cogitatum zu tun.
Da das Erscheinende als Phänomen Teil der transzendentalen Subjektivität ist,
kommt es hier nicht zu einer Scheidung zwischen Körper und Geist, sondern es
wird nur zwischen dem empirischen Menschen (als Inhalt der Erfahrung) und
dem transzendentalen Subjekt (als Subjekt des Erkennens und Konstituierens)
unterschieden. Letzteres ist dabei kein zweites Subjekt, sondern eine bestimmte,
d. h. transzendentale Perspektive auf dasselbe Subjekt, nämlich auf das jeweilige
Individuum, das diese Perspektive einnimmt. Da weder wir als Menschen noch
die Welt verschwinden, sondern als erfahrene Phänomene im Wie ihrer Gegeben-
heit thematisch werden, handelt es sich bei der Epoché und Reduktion auch nicht
um einen wie auch immer gearteten Zweifel. Die Welt und wir darin werden
weder negiert noch bezweifelt, nur die jeweilige Geltung als ‚objektiv existierende‘
wird vorübergehend außer Spiel gesetzt, um untersuchen zu können, was mit der
Bedeutung ‚objektiv‘ gemeint ist, und was (welche Aspekte und Schritte) für die
Bedeutungen ‚Mensch‘, ‚Natur‘ und ‚Welt‘ konstitutiv sind.

Der epistemologische Vorrang des Subjekts Mit dem cartesianischen Weg wollte
Husserl den epistemologischen Vorrang des erkennenden Subjekts bzw. des
Bewusstseins betonen, das auch dann noch als ‚Residiuum‘ übrig bleibt, wenn
die Welt nicht wäre, wie er im Gedankenexperiment der Weltvernichtung deut-
lich zu machen versucht (Hua II, S. 65 f.). In dieser Hinsicht ist die Welt (ihre Er-
scheinung) abhängig vom jeweils erkennenden Subjekt, nicht jedoch umgekehrt.
2.3 · Zurückfragen nach den Bedingungen
65 2
Diese Darstellung verleitet jedoch zu der missverständlichen Idee eines solus ipse,
dem einsamen Subjekt, das unabhängig von der Welt und anderen Subjekten be-
stehen kann. Dies suggeriert eine künstliche Trennung zwischen Subjekt und
Welt sowie Subjekt und anderen Subjekten, die Husserl sicher nicht im Sinn
hatte. So hat das Subjekt keinen ontologischen Vorrang, sondern lediglich einen
epistemologischen. Natürlich ist jedes konkrete empirische Subjekt immer schon
situiert in der Welt und Teil einer intersubjektiven Gemeinschaft. Da jedoch die
Welt nach der Reduktion lediglich als Korrelat möglichen Bewusstseins unter-
sucht wird, d. h. als erscheinendes Phänomen, bleibt sie als solches prinzipiell an
die Möglichkeit eines Bewusstseins gebunden.
Die Bedeutung von ‚Welt‘, ‚Intersubjektivität etc., die wir immer schon vor-
finden, soll nach der transzendentalen Reduktion nun sozusagen rückwärts wieder
aufgerollt und befragt werden, um die konstitutiven Komponenten explizit zu
machen. Die Frage, wie ich denn in meinen Erlebnissen zu etwas außer mir, d. h.
zur Welt und anderen Subjekten, gelange, ist denn auch aus Husserls Sicht fehl-
geleitet. Hier versteckt sich bereits die Annahme, dass Subjekt und Welt wie durch
einen Abgrund getrennt seien. Nach der transzendentalen Epoché und Reduktion
zeigt sich jedoch, dass die Erscheinung der Welt und der anderen Subjekte Teil
der transzendentalen Subjektivität ist. Will man zwischen Selbst-, Welt- und
Fremderfahrung unterschieden, muss diese Unterscheidung der Erfahrung imma-
nent sein (vgl. Hua I, S. 5. Meditation; Hua II, S. 7), d. h., es muss gezeigt werden
können, dass andere Subjekte, materielle Gegenstände und ich mir selbst jeweils auf
eine andere Weise gegeben sind. Die Bedeutung von Transzendenz und Objektivität
muss sich in der Subjektivität zeigen ‒ oder sie zeigt sich überhaupt nicht. Trotzdem
hat Husserl in späteren Texten die beiden anderen Wege zur Reduktion präferiert,
die vom psychologischen Subjekt oder der Lebenswelt ausgehen, um dem Missver-
ständnis eines solus ipse oder einer Ausschaltung der Welt vorzubeugen.

2.3.1.2  Der psychologische Weg


Mit dem Weg von der Beschreibung der Psyche des Menschen zu den Be-
dingungen von Erfahrung überhaupt möchte Husserl die enge inhaltliche Ver-
bindung, aber auch den Unterschied von Psychologie und (transzendentaler)
Philosophie deutlich machen. Hierbei denkt Husserl nicht so sehr an die
empirische Psychologie seiner Zeit, sondern an eine deskriptive Psychologie, wie
sie etwa von seinem Lehrer Franz Brentano angedacht wurde. Eine solche Psycho-
logie soll das Eigenwesentliche der Psyche untersuchen. Anstatt also die Psyche
mit den Mitteln der Naturwissenschaft kausal zu erklären und damit anderen
materiellen Naturgegenständen gleichzusetzen, soll darauf geachtet werden, in-
wiefern sich die Psyche von anderen Gegenständen unterscheidet und welche
Methode zu ihrer Untersuchung angemessen ist. So ist ein Grundcharakterzug des
Psychischen eben nicht seine materielle Ausdehnung, sondern seine Intentionali-
tät, d. h., dass es sich intentional auf die Welt bezieht: durch Vorstellen,
Denken, Wahrnehmung, aber auch Fühlen, Werten und Urteilen. Genau wie die
transzendentale Phänomenologie wendet sich die phänomenologische Psycho-
logie dabei dem Subjekt und seinem Erfahren zu. Sie versucht das Wesen dieser
inneren Erfahrung zu erschauen und festzustellen. Jedoch handelt es sich beim
66 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Subjekt der Psychologie um den empirischen Menschen, bei der transzendentalen


Phänomenologie um die transzendentale Betrachtung der Subjektivität all-
gemein. Die Psyche ist für die Psychologie dabei noch stets ein Objekt in der
2 Welt (konstituiert) und nicht ein Subjekt für die Welt (konstituierend). Im Sinne
Husserls ist die Psyche damit eine abhängige Seinsschicht (Hua VIII, S. 427), die
auf eine erfahrende und sinnkonstituierende Instanz verweist. Die Psyche ist ein
Untersuchungsgegenstand (Teil des Seins/der Welt), jedoch nicht die Bedingungen
der Möglichkeit der Erfahrung von Sein überhaupt.

Phänomenologie als Psychologie und Philosophie Auch wenn sich der Status
der untersuchten Subjektivität (als Psyche oder transzendentale Instanz) bei
phänomenologischer Psychologie und transzendentaler Phänomenologie jeweils
unterscheidet, trifft dies nicht auf die Inhalte beider Untersuchungen zu. In
Bezug auf ihren Inhalt, bzw. die allgemeinen Strukturen des Bewusstseins, sind
Psyche und transzendentale Subjektivität identisch. Beide zeichnen sich durch
ihre Intentionalität, Zeitlichkeit, Assoziation und Motivationszusammenhänge
(nicht Kausalzusammenhänge) aus. Es handelt sich bei der transzendentalen
Ebene gerade nicht um ein zusätzliches Subjekt, das irgendwie über dem
empirischen Menschen schwebt. Psyche und transzendentale Subjektivität
sind nicht zwei nebeneinander existierende, verschiedene Seinsbereiche. Das
Transzendentale ist ein reflektiver Blick auf sich selbst als empirischer Mensch
oder Psyche. Es ist dieselbe Psyche, nur betrachtet nach ihren notwendigen Eigen-
schaften für eine Erfahrung überhaupt. Was sich unterscheidet, ist demnach der
Status und nicht der Inhalt der Untersuchung. Geht es bei dem einen um die
allgemeine Bestimmung der Psyche von empirischen Menschen, geht es bei
dem anderen um die reine Beschreibung eines Bewusstseins überhaupt und
die Einsicht in dessen transzendentale Notwendigkeit für jede Form von Er-
fahrung. So kann eine streng deskriptiv-eidetische Psychologie den Weg zu einer
transzendentalen Betrachtung ebnen, ist jedoch selbst noch nicht transzendental.
Wie Husserl später betont, lässt sich seine eigene frühere Phänomenologie
(sowie eine rein theoretische Psychologie) als eine phänomenologische (weil
eidetisch beschreibende) Psychologie verstehen. Zur Philosophie wird eine solche
phänomenologische Bestimmung allerdings erst dann, wenn man die Frage nach
den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung im Subjekt miteinbezieht. In
Husserls transzendentaler Philosophie wird die Wesensbestimmung denn auch
genutzt, um das Allgemeine (oder wie Husserl es nennt: das ‚reine‘ oder ‚pure‘,
Bewusstsein) zu bestimmen, also die allgemeinen und notwendigen Strukturen
jedes konkreten und je denkbaren Bewusstseins. Eine solche Bestimmung ist dann
notwendig transzendental, da diese minimale Bestimmung derjenigen Attribute,
die jedes denkbare Bewusstsein haben muss, zugleich die Bedingungen für Er-
fahrung überhaupt darstellen. Gefragt wird hier nach der Notwendigkeit ver-
schiedener Prozesse im Subjekt für die Wahrnehmung eines Tones, einer Melodie,
eines Hauses etc. Gewisse Strukturen wie Intentionalität oder zeitliche Synthese
sind also notwendig, damit ein bestimmter Ton – wie ich ihn jetzt höre ‒ durch
ein bestimmtes empirisches Subjekt – die Autorin dieser Einführung – gehört
werden kann. Und diese Bedingungen gelten dann unabhängig und vor jeder
konkreten Erfahrung, d. h. a priori.
2.3 · Zurückfragen nach den Bedingungen
67 2
Sachliche und konstitutive Notwendigkeit Dabei handelt es sich um einen anderen
Status von Notwendigkeit, als wenn wir von einem eidetischen Apriori sprechen.
Wenn wir z. B. urteilen, dass jeder (allgemein) materielle Gegenstand notwendig
auch ausgedehnt sein muss, ist diese Bestimmung sachlich allgemein und not-
wendig. Wenn wir jedoch urteilen, dass jedes Bewusstsein intentional verfasst sein
muss, ist diese Bestimmung zugleich konstitutiv notwendig. Letztere Bestimmung
ist eine transzendentale Notwendigkeit, nicht nur eine sachliche. Während bei
einem sachlich eidetischen Apriori das Wesen dasjenige bezeichnet, ohne welches
ein Gegenstand dieser Art nicht als solcher erkannt werden kann, bezeichnet
das konstitutives Apriori diejenigen Bedingungen, die notwendig sind, um über-
haupt sinnvoll von der Erfahrung eines ausgedehnten Dinges (oder der Welt im
Ganzen) sprechen zu können. Die intentionale Verfasstheit und die konstitutiven
Leistungen des Bewusstseins sind daher nicht nur unabhängig von einer be-
stimmten Erfahrung, sondern für jede Erfahrung von Gegenständlichkeit über-
haupt notwendig.
Obwohl eidetische Beschreibung und transzendentale Phänomenologie selb-
ständige methodische Richtungen darstellen, gehören sie für Husserl in seiner
Spätphilosophie untrennbar zusammen. Hier wird die eidetische Methode in
eine transzendentale Begründung und Analyse eingebettet, um das allgemeine
und reine Wesen des Bewusstseins oder der transzendentalen Subjektivität zu be-
stimmen. Sowohl die Beschreibung (als noematischer Leitfaden) als auch die Be-
stimmung der Allgemeinheit und des rein Möglichen einer Sache dienen nun
als Eingangstor zu transzendentalen Fragen (wie ist Erfahrung von sinnvollen
Gegenständen überhaupt möglich?). Hierbei wird die Wesensbestimmung haupt-
sächlich auf das transzendentale Subjekt selbst angewandt, um die notwendigen
allgemeinen Strukturen des Bewusstseins zu bestimmen, ohne die (a) konkretes
Bewusstsein nicht denkbar wäre (Wesen von Bewusstsein), noch (b) Erfahrung
oder Erkenntnis überhaupt möglich wäre (transzendentale Bedingung). Im Falle
von Bewusstsein oder Subjektivität ist die Wesensbestimmung also immer zugleich
transzendental, d. h., das allgemeine Wesen des transzendentalen Subjekts (mit-
samt seinem Leib, seiner Geschichte und Intersubjektivität) ist nichts anderes als
die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt.

2.3.1.3  Der lebensweltliche (oder ontologische) Weg


Anstatt die Erkenntnis und Geltung von Welt kritisch unter die Lupe zu nehmen,
oder uns auf das Subjekt zu beschränken, können wir unsere transzendentale
Untersuchung ebenso gut mit einer positiven Beschreibung ebendieser Welt
beginnen. Eine Welt, die für uns immer schon da ist, bevor wir beginnen, Wissen-
schaft oder Philosophie zu betreiben. Eine Welt, in die wir hineingeboren sind
und auf die wir uns in allem praktisch und theoretisch beziehen. Eine Welt, in der
wir leben, die wir kennen, in der wir uns auskennen: die Lebenswelt (vgl. Soldinger
2010; Bermes 2017; Luft 2011). Die Lebenswelt und die darin gegründete ‚natür-
liche Einstellung‘ bildet damit den Ausganspunkt und auch die Motivation
für jede theoretische Reflektion oder Untersuchung, sei es in den Wissen-
schaften oder in der Philosophie. Die Lebenswelt ist daher vor-theoretisch oder
vor-reflektiv immer schon in Geltung, mitsamt ihren kulturellen und sozialen
68 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Institutionen, Bedeutungen, Traditionen und Praktiken; und auch während wir


Wissenschaft betreiben oder philosophieren, bleiben wir stets in diesem Horizont
situiert. Auch hier lässt sich genetisch auf die subjektive (bzw. intersubjektive)
2 Entstehung oder Konstitution einer solchen praktischen, sinnvollen und selbst-
verständlichen Welt zurückfragen.
» [Es] sei erinnert […], daß Wissenschaft eine menschliche Geistesleistung ist,
welche historisch und auch fuer jeden Lernenden den Ausgang von der als seiend
allgemeinsam vorgegebenen, der anschaulichen Lebensumwelt voraussetzt, welche
aber auch fortwährend in ihrer Übung und Fortführung diese Umwelt in ihrer
Jeweiligkeit des Sichgebens für den Wissenschaftler voraussetzt. Z.B. für den
Physiker ist es die, in der er seine Meßinstrumente sieht, Taktschläge hört, gesehene
Größen schätzt usw., in der er sich zudem selbst mit all seinem Tun und all seinen
theoretischen Gedanken enthalten weiß. (Hua VI, S. 123; Herv. M.W.)

Husserl kritisiert hierbei, dass z. B. die Naturwissenschaften ihre Verbindung


zur Lebenswelt regelrecht vergessen haben. Sie etablieren ein Bild von Wirklich-
keit, das diese auf Formeln und Zahlen reduziert, ohne kenntlich zu machen, dass
diese Formeln nicht der Ursprung der Wirklichkeit, sondern das Resultat einer
bestimmten Praxis oder Methode der Abstraktion oder Formalisierung sind. Eine
Praxis, die die vor-theoretische Wirklichkeit oder Welt immer schon voraussetzt,
die sich dann im Anschluss berechnen und formalisieren lässt. So steht etwa am
Anfang der abstrakten Geometrie das praktische Bedürfnis, Abstände zu messen
und die räumlichen Verhältnisse zwischen Dingen zu bestimmen, um mit diesen
besser hantieren zu können. Martin Heidegger formuliert bereits etwas früher
eine ähnliche Kritik, wenn er betont, dass wir zunächst in einer praktischen
Relation zur Welt stehen, die Dinge sind uns zunächst ‚zu-handen‘, bevor wir
diese aus der Distanz betrachten, denken oder vorstellen, d. h. diese für uns ‚vor-
handen‘ sind (Heidegger 1977 [1927]; vgl. Dreyfus 1990).

Konstitution und Konstitutionsanalyse Im Unterschied zu Heidegger möchte


Husserl die Lebenswelt und das Sein (und uns Menschen als Teil dieses Seins)
nicht lediglich ontologisch beschreiben, sondern diese auch erkenntniskritisch
und genetisch aufklären und fundieren. Obwohl Heideggers Vorgehen also nicht
erkenntniskritisch ist, lässt es sich dennoch als transzendental (in einem anderen
Sinne als Kant und Husserl) verstehen, wenn er z. B. in Sein und Zeit (1927) die
‚Transzendentalien‘ des Daseins beschreibt (zum Thema des Transzendentalen
bei Heidegger vgl. Crowell/Malpas 2007). In Husserls Verständnis einer
transzendentalen Konstitutionsanalyse kann man jedoch nicht einfach von
einer objektiven Welt oder einem objektiven Sein ausgehen, sondern muss zu-
nächst danach fragen, wie wir diese überhaupt kennen oder erkennen können.
Heidegger würde erwidern, dass ein solches Erkennen zweitrangig ist und nur
möglich, weil wir jeweils schon in-der-Welt-sind, also selbst Teil desjenigen Seins,
nach dem wir nicht nur fragen, sondern dem auch unsere Sorge gewidmet ist.
Husserl möchte sich jedoch von einer bloßen Ontologie oder Anthropologie (zu
der er auch Heideggers Vorgehen zählt), wie gegen den naiven Objektivismus
der Naturwissenschaften, abgrenzen. Dieser bewegt sich auf „dem Boden der
2.3 · Zurückfragen nach den Bedingungen
69 2
durch ­Erfahrung selbstverständlich vorgegebenen Welt“ und fragt „nach ihrer
‚objektiven Wahrheit‘“, „nach dem, was sie an sich ist“. Der Transzendentalismus
hingegen besagt, so Husserl, dass „der Seinssinn der vor-gegebenen Lebenswelt“
ein „subjektives Gebilde“ (Hua VI, S. 70) ist:
» Leistung des erfahrenden, des vorwissenschaftlichen Lebens. In ihm baut sich
der Sinn und die Seinsgeltung der Welt auf, und jeweils der Welt, welche dem
jeweilig Erfahrenden wirklich gilt. Was die „objektiv wahre“ Welt anlangt, die der
Wissenschaft, so ist sie Gebilde höherer Stufe, aufgrund des vorwissenschaftlichen
Erfahrens und Denkens bzw. seiner Geltungsleistungen. (Hua VI, S. 70)

Das, was wir also in der Lebenswelt antreffen, Kulturgegenstände, Sprache, Be-
deutungen, Institutionen etc. sind das Resultat einer subjektiven oder besser
intersubjektiven Konstitution. Hierbei kann Konstitution sowohl auf eine ex-
plizite Sinnstiftung oder Praxis eines Subjekts oder mehrerer Subjekte hindeuten,
als auch auf eine passive Konstitution, wie z. B. in der passiven Synthesis der
Zeitlichkeit oder Assoziation. Die Phänomene, die wir in unserer Lebenswelt an-
treffen, verweisen damit immer schon auf eine intersubjektive Bedeutung oder vo-
rangegangene Konstitution, ob passiv oder aktiv, willentlich oder unwillentlich,
praktisch oder theoretisch. Um diese intersubjektive Konstitution und Bedeutung
sowie ihre Genese aufzuklären, müssen wir zurückgehen auf das Subjekt, d. h.
uns und unsere Erfahrung. Nur in der jeweiligen subjektiven Erfahrung können
wir andere Subjekte und Intersubjektivität als solche überhaupt erfahren.
Obwohl also die Konstitution immer schon intersubjektiv ist, genauso wie
der Inhalt all unserer Erfahrungen, erfolgt die Analyse oder Aufklärung dieser
Konstitution zunächst in der eigenen Reflektion. Nur hier können wir Erfahrenes
durch weitere Erfahrungen zur Evidenz bringen, nur unsere Erfahrungen sind
uns direkt zugänglich und können von uns verifiziert werden. Daher können wir
nicht bei der Welt oder den anderen Subjekten beginnen, sondern müssen zunächst
prüfen, wie diese uns gegeben sind und ob wir hier Hinweise und Indizien finden
für ihre Existenz (ihr Sein) und ihr spezifisches Wesen (ihr Sosein). Deswegen kann
Husserl trotz seiner Betonung der Wichtigkeit der Lebenswelt auf die Bedeutung
einer transzendentalen Reduktion bestehen. Eine Reduktion, die nach der Ein-
klammerung des Weltglaubens nun auf sich selbst zurückfragt. Dabei stellen wir
fest, dass die Welt mitsamt allen Objekten (und uns selbst als Objekt unserer Er-
fahrung) und ihren Geltungen Teil unserer Erfahrung ist. Und dass das subjektive
Bewusstsein einen Anteil daran hat, dass wir so etwas wie eine einheitliche und
objektive Welt überhaupt, kontinuierlich, und ganz selbstverständlich erfahren:
» Nur ein radikales Zurückfragen auf die Subjektivität, und zwar auf die letztlich
alle Weltgeltung mit ihrem Inhalt, und in allen vorwissenschaftlichen und
wissenschaftlichen Weisen, zustande bringende Subjektivität, sowie auf das Was
und Wie der Vernunftleistungen kann die objektive Wahrheit verständlich machen
und den letzten Seinssinn der Welt erreichen. Also nicht das Sein der Welt in seiner
fraglosen Selbstverständlichkeit ist das an sich Erste, und nicht, was ihr objektiv
zugehört; sondern das an sich Erste ist die Subjektivität, und zwar als die das
Sein der Welt naiv vorgebende und dann rationalisierende oder, was gleich gilt:
objektivierende. (Husserl, Hua VI, S. 70)
70 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Zur Vertiefung
Konstitution und transzendentale Intersubjektivität
2 Der Begriff der Konstitution bezeichnet bestand, und zielt nicht auf den Akt der
einen Prozess der Sinnstiftung oder Erfindung der ‚Schere‘. Konstitution
Sinnaneignung. Bei der sogenannten muss daher kein schöpferischer oder
Konstitutionsanalyse sollen Elemente aktiver Akt sein, der einen neuen Sinn
oder Schritte identifiziert werden, die schöpft, sondern kann sich ebenfalls
für den Sinn einer Sache, Handlung, auf automatische Bewusstseinsprozesse
eines Prozesses etc. konstitutiv sind. der Assoziation und zeitlichen Synthesis
Von einer Konstitution durch ein oder beziehen. Konstitution bezeichnet
mehrere Subjekte zu sprechen, ist daher demnach alles, was im Bewusstsein und
nicht dasselbe, wie zu behaupten, dass der Erfahrung Zusammenhang und
die Welt oder die Dinge lediglich ein Sinn schafft, d. h. eine normale (ein-
subjektives oder soziales Konstrukt stimmige und optimale) Objekt- und
sind. Konstitution bezieht sich vielmehr Welterfahrung möglich macht, von den
auf passive und aktive, individuelle und passiven bis aktiven Synthesen, von
intersubjektive Prozesse der Assoziation, der Wahrnehmung über das praktische
Sinnstiftung oder das Verstehen und Handeln zum Denken und Urteilen
Aneignen von Sinn. In dieser Hin- bis hin zur Wir-Intentionalität. Diese
sicht verwendet Husserl den Begriff in ganze Bandbreite an passiven und
ambivalenter Weise. Er kann sich sowohl aktiven Leistungen leiblicher Subjekte
auf die intersubjektive Konstitution von bezeichnet Husserl als Konstitution.
Kulturbedeutungen und Kulturgegen- Für die Konstitution der Welt als
ständen beziehen, wo dieser Sinn mit- einen offenen Horizont möglicher
samt den dazugehörigen materiellen Wahrnehmung und Handlung, sind
Gegenständen und Praktiken aller- dabei andere Subjektive konstitutiv
erst durch gemeinsame Aktionen ent- notwendig. Dem Sinn von Welt ist
steht. Zugleich verweist der Begriff dabei inhärent, dass dieser nicht nur
aber auch auf die erste Aneignung subjektiv, sondern objektiv, d. h. für alle
oder das Verständnis von bereits durch faktischen und möglichen Subjekte, er-
andere Subjekte ‚konstituiertem‘ Sinn fahrbar ist und Geltung hat. Konkret
(bzw. sinnvollen Gegenständen und deutet beinahe jeglicher Sinn, den
Praktiken). Als Beispiel für eine Stiftung wir in unserer Lebenswelt vorfinden,
oder Konstitution nennt Husserl etwa auf andere Subjekte. Besonders deut-
das erstmalige Erkennen einer Schere als lich wird dies bei Kulturgegenständen,
Schere: Sobald wir das wahrgenommene Institutionen und natürlich in der
Ding mit diesem praktischen Zwecksinn Sprache. Die Bedingung der Möglich-
einmal verknüpft haben, sehen wir es un- keit der (einstimmigen und sinnvollen)
mittelbar als Schere, die uns auffordert Erfahrung liegt also nicht mehr nur
etwas mit ihr zu schneiden. im konstituierenden transzendentalen
In diesem Falle bezeichnet Konstitution Subjekt (wie noch bei Kant), sondern
eher die Aneignung oder Erfassung eines verweist auf eine transzendentale Inter-
Kultur- oder Zwecksinnes, der bereits subjektivität.
2.3 · Zurückfragen nach den Bedingungen
71 2
2.3.2  Beispiele: Selbsterfahrung und Fremderfahrung

2.3.2.1  Selbsterfahrung
Wie wir gesehen haben, geht es bei der transzendentalen Subjektivität nicht um
den Menschen als Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft, sondern um das
erkennende Subjekt, ohne welches es keine Erkenntnis oder Untersuchungsgegen-
stände bzw. Evidenz hiervon gäbe. In dieser transzendentalen Wendung tritt also
eine Art Ich-Spaltung auf. Durch diesen Blick- oder Aufmerksamkeitswechsel er-
öffnet sich eine andere Art von Selbsterfahrung, in der wir uns regelrecht über-
schauen und dabei sozusagen auf zweifache Weise erfahren und thematisieren
können: als Objekt und als Subjekt von Erfahrung.
Eine schöne Illustration dieser Möglichkeit, die bereits eine transzendentale
Überschau oder Distanznahme voraussetzt, ist Husserls Beispiel der Doppelemp-
findung: Wenn wir unsere eigene Hand berühren, empfinden wir demnach auf
doppelte Weise. Unser Körper macht also doppelt ‚Sinn‘ für uns oder ist, in
Husserls Worten, doppelt konstituiert.

► Beispiel – Doppelempfindung

» Die linke Hand abtastend habe ich Tasterscheinungen, d.h. ich empfinde nicht
nur, sondern ich nehme wahr und habe Erscheinungen von einer weichen, so
und so geformten, glatten Hand. Die anzeigenden Bewegungsempfindungen
und die repräsentierenden Tastempfindungen, die an dem Ding „linke Hand“
zu Merkmalen objektiviert werden, gehören der rechten Hand zu. Aber die linke
Hand betastend finde ich auch in ihr Serien von Tastempfindungen, sie werden
in ihr „lokalisiert“, sind aber nicht Eigenschaften konstituierend (wie Rauhigkeit
und Glätte der Hand, dieses physischen Dinges). Spreche ich vom physischen
Ding „linke Hand“, so abstrahiere ich von diesen Empfindungen (eine Bleikugel
hat nichts dergleichen und ebenso jedes „bloß“ physische Ding, jedes Ding,
das nicht mein Leib ist). Nehme ich sie mit dazu, so bereichert sich nicht das
physische Ding, sondern es wird Leib, es empfindet. (Husserl, Hua IV, S. 145) ◄

In der ‚natürlichen Einstellung‘ betaste ich zunächst meine linke Hand und bin
an ihr interessiert als Objekt, d. h. daran, ihre Form und ihre Eigenschaften
zu ertasten. Zugleich mit diesen repräsentierenden Empfindungen (da sie die
Eigenschaften wie Rauigkeit, Glätte etc. der Hand re-präsentieren) habe ich
jedoch auch lokalisierte ‚Empfindnisse‘ in der rechten Hand, aber diesen bin
ich mir zunächst gar nicht bewusst. Währen sich Empfindungen also auf die
repräsentierenden Eigenschaften (Inhalt der Tastempfindung) der ertasteten
Hand beziehen, will Husserl mit dem Begriff Empfindnisse, die propriozeptiven
Empfindungen in der tastenden Hand betonen: In der Selbstempfindung sind wir
also beides: Subjekt und Objekt der Empfindung. Erst nach einem Aufmerksam-
keitswechsel erfahre ich oder sehe ich ein, dass dieses physische Ding zugleich
empfindet, also nicht nur Körper ist (also äußerlich sichtbar und tastbar, wie
jedes andere materielle Ding), sondern auch Leib ist, d. h. (innerlich) empfindet.
72 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Unser eigener Leibkörper kann demnach nicht nur als Objekt (mit
Eigenschaften), sondern auch in seiner Subjekthaftigkeit (als Subjekt von
Empfindungen) von uns erfahren werden.
2
Zur Vertiefung
Merleau-Ponty und der Leib als Subjekt

Maurice Merleau-Ponty betont in genetischer Phänomenologie viele Be-


seiner Phänomenologie der Wahrneh- lege und Beschreibungen finden, die
mung (1966 [1945]), in welcher er eine in diese Richtung deuten, spricht er
situierte Phänomenologie der leiblichen doch auch missverständlich vom ‚Leib-
Wahrnehmung und Lebenswelt vorlegt, körper‘ als einer Form der Selbst-
dass der Leib nicht nur konstituierter Objektivierung des transzendentalen
Gegenstand von einem irgendwie ge- Subjekts, als ob letzteres primär wäre
arteten transzendentalen Bewusst- und auch ohne einen jeweiligen Leib
sein ist, sondern selbst das Subjekt gedacht werden kann. Es war Merleau-
der Wahrnehmung, das in seinen Be- Ponty, der die Leiblichkeit ins Zentrum
wegungen und Interaktionen mit der einer Beschreibung von Subjektivi-
Welt und Anderen praktischen Sinn tät und Welt gerückt hat: ein leibliches
konstituiert bzw. stiftet. Schließlich ge- Subjekt, das sowohl passiv in der Welt
hören Leiblichkeit und Körperlichkeit, situiert ist, als sich auch aktiv zu dieser
wie auch Husserl anerkennt, ebenfalls Welt und seiner faktischen Situation
zu den transzendentalen Bedingungen verhält. Intentionalität, Zeitlichkeit
der Möglichkeit von Erfahrung (Wehrle und Sinnstiftung werden so existentiell
2021). Ist das erkennende Subjekt, das umgedeutet und als Dialog von Leib
seine eigene empfindende Subjektivität und Welt beschrieben – Merleau-Ponty
erkennt, dann nicht selbst notwendig stellt die Phänomenologie damit vom
leiblich? Müssen wir Bewusstsein, Leib- Kopf (Bewusstsein) auf die Füße (den
lichkeit und die faktische Situierung in Leib) (vgl. hierzu Kristensen 2012;
der Welt nicht als gleichursprünglich Alloa 2012; Waldenfels 2000).
betrachten? Obwohl sich in Husserls

Sich als transzendental erkennen Jedes empirische Ich hat darüber hinaus die
Möglichkeit, sich als transzendental zu erkennen, nämlich als dasjenige, was für
Erfahrung (von Welt) notwendig ist: formell (dass es Erfahrung gibt), aber auch
inhaltlich (Konstitution von Sinn, z. B. dem Sinn von Wissenschaft). Diese Ein-
sicht in die konstitutive Dimension muss dabei jedes empirische Subjekt selbst voll-
ziehen, genauso wie die Aufklärung des in unserem Bewusstsein und Leben vor-
gefundenen Sinns. Phänomenologie ist in diesem transzendentalen Sinne immer
eine Form der Selbstaufklärung oder ‚Selbstbesinnung‘.
2.3 · Zurückfragen nach den Bedingungen
73 2

Zur Vertiefung
Sartre und das Problem der Selbsterfahrung

Wie kann es überhaupt möglich sein, sich anderen in der Welt, für andere Subjekte
selbst als Subjekt zu erfahren? Immer sichtbar auf eine Weise, die ihr selbst un-
wenn ich auf mich reflektiere, mache ich zugänglich bleibt. Was sie jeweils ist,
mich doch sogleich zum Objekt, da jede wird dabei dadurch bestimmt, wie und
Thematisierung oder Reflektion bereits als was die Anderen sie sehen: In diesem
ein ‚Etwas‘ braucht, auf das es jeweils Fall als eine Person die verbotenerweise
bezogen ist. Schließlich ist Bewusst- durchs Schlüsselloch späht, oder kurz: als
sein doch immer Bewusstsein von etwas. Spanner.
Diesen Einwand bringt Jean-Paul Sartre Sartre kommt in seiner phänomeno-
gegen Husserl vor. Selbsterfahrung ist logischen Ontologie zu der radikalen
für diesen notwendigerweise eine Objekt- Schlussfolgerung: Entweder ich bin
erfahrung, ein ‚thetisches‘ Bewusst- Subjekt, d. h. Nichts, habe aber dafür die
sein, wie Sartre dies nennt. Als Subjekt Welt, oder ich habe mich (als Objekt),
meiner Erfahrungen oder Handlungen jedoch nur zu dem Preis, dass ich mein
bin ich dagegen bei den Dingen oder der selbstverständliches und sorgloses Agieren
Welt, aber als solches (operierendes oder in der Welt (zumindest zeitweise) verliere.
fungierendes Subjekt) nicht thematisch Entweder die Welt ist ‚für-mich‘ (pour
oder bewusst (nicht-thetisches Bewusst- soi) im Subjektmodus, oder ich bin, aber
sein). Wie Sartre in seiner ontologischen dann zunächst als Objekt für andere
Untersuchung Das Sein und das Nichts (pour-autrui). Man ist entweder Subjekt
(1993 [1943]) zu zeigen versucht, folgt oder Objekt, entweder objektiviere ich
daraus, dass wir in unserer Funktion oder ich werde objektiviert.
als Subjekt eigentlich über keine inhalt- Husserl würde zugeben, dass jede ex-
liche Bestimmung verfügen und daher plizite Selbstthematisierung notwendig
im eigentlichen Sinne NICHTS sind. zu einer Verschiebung bzw. erneuten Ich-
Sind wir dagegen ETWAS (also Teil des Spaltung führt, und dies in potentiell un-
Seins), sind wir dies immer als gesehenes, endlicher Wiederholung. So kann ich
thematisiertes und inhaltlich bestimmtes jetzt etwa meine Kaffeetasse zum Thema
Objekt. Dieses Sein, der Inhalt, wird haben, dann mich als diese Tasse wahr-
jedoch primär von anderen Subjekten nehmend, hernach die Reflektion auf
bestimmt, deren Blick uns objektiviert mich als diese Tasse wahrnehmend, dann
und damit zugleich einen spezifischen die Reflektion auf die Reflektion auf
Sinn und eine spezifische Bedeutung zu- mich, die ich diese Tasse wahrnehme und
weist. Dies macht Sartre in seiner be- so weiter. Immer wieder erscheint ein
rühmten Blickanalyse deutlich, in der neues reflektierendes Ich (als Subjekt) und
eine Person aus Eifersucht oder Neugier ein Ich auf das reflektiert wird (Objekt).
durch ein Schlüsselloch späht. Ist diese Dieser unendliche Regress lässt sich laut
zunächst ganz versunken im Akt des Husserl aber vernachlässigen. Wichtig ist
Spähens und vollends bei dem erspähten lediglich, dass wir zu allen Zeiten auf uns
Paar hinter dem Schlüsselloch, ändert selbst transzendental reflektieren können,
sich dies plötzlich, sobald sie Schritte und dabei die Möglichkeit haben, uns
hört. In einem solchen Moment wird bei unserem Reflektieren, Operieren und
sie sich selbst bewusst als Objekt unter Denken zu ertappen.
74 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Die negative Bestimmung des Eigenen Wenn nach der transzendentalen Reduktion
alle aktuellen und möglichen Erfahrungsinhalte Teil der transzendentalen
Subjektivität sind, wie kann ich dann noch zwischen mir, meiner Erfahrung und
2 anderen Subjekten und ihrer Erfahrung unterscheiden? Alles ist doch demnach
Inhalt meiner Erfahrung, also dieser Erfahrung immanent. Diesem Problem stellt
sich Husserl z. B. in der berühmten und oft kritisierten fünften ‚cartesianischen
Meditation‘ (Hua I). Zunächst versucht er mit einer zusätzlichen thematischen
Reduktion (Reduktion auf die primordinale Sphäre, also eine allererste fundierende
Schicht, oder Eigenheitssphäre) alle Inhalte der Erfahrung provisorisch einzu-
klammern, die bereits auf andere Subjekte verweisen. Dies scheint ein beinah ab-
surd hoffnungsloses Unterfangen zu sein, bei dem wir feststellen, dass jeglicher
Sinn, den wir in unserer Erfahrung, Erinnerung, Wahrnehmung etc. vorfinden
bereits irgendwie direkt oder indirekt auf andere verweist (z. B. ‚Kulturgegen-
stände‘, die Bedeutung ‚Mensch‘, aber auch die Bestimmung von ‚Subjektivi-
tät‘ gegenüber einer ‚Objektivität‘ selbst). Husserl betont denn auch, dass eine
solche Reduktion auf das Eigene uns lediglich eine negative Definition von diesem
Eigenen gibt (was es alles nicht ist). Eine solche Definition bleibt jedoch abhängig
von all dem, gegen das sie sich abgrenzen will (das Fremde) und setzt dieses damit
schon voraus. Nach einer solchen thematischen Scheidung der Inhalte unserer
Erfahrung, in Eigenes und Fremdes, bleibt zunächst nur die Erfahrung unserer
Person mitsamt ihrem Leibkörper und einer vor-objektiven quasi räumlichen Um-
gebung übrig. Dies erscheint als eine künstliche Abstraktion und kann nicht als
positive Definition des Selbst oder Eigenen fungieren.

Eine positive Bestimmung von Selbsterfahrung Was Husserl hiermit bezwecken


wollte, ist eine provisorische Differenzierung der Bewusstseinsinhalte, in die-
jenigen, die mich selbst zum Inhalt haben und diejenigen, die ein anderes Subjekt
zum Inhalt haben. Wie soll ich das andere Subjekt ansonsten auch als anderes
Subjekt erkennen, wenn nach der transzendentalen Reduktion doch zunächst
alles nur als Phänomen oder Inhalt meiner Erfahrung gilt? Jedoch war der erste
Versuch nicht ganz zufriedenstellend. Daher versucht sich Husserl nun an einer
positiven Definition von Eigenheit und findet diese nicht in den Inhalten der Er-
fahrung (Noema), sondern in der Art und Weise wie wir erfahren (Noesis). Jedes
Subjekt erfährt die Dinge und auch sich selbst aus erster Hand, es hat zu seinen
Erscheinungen einen ‚originalen‘ Zugang. Die Erfahrungsinhalte eines anderen
Subjekts können mir dagegen nie original gegeben sein, ich kann nur darauf
schließen, was ein anderer erfährt, denkt und empfindet, anhand seines leib-
lichen Ausdrucks, Verhaltens oder wenn ich mit ihr oder ihm kommuniziere. Dies
ist der eigentliche Unterschied zwischen Eigenem und Fremdem, Erfahrung und
Einfühlung: Ich habe mich selbst und meine Erfahrung original, d. h. direkt ge-
geben, die des anderen Subjekts jedoch lediglich vermittelt durch seinen leib-
lichen Ausdruck. Auch wenn mir andere Körper bzw. Leiber unmittelbar als
Menschen mit Gefühlen, Intentionen und Bewusstsein erscheinen, habe ich zu
ihrem ‚Innenleben‘ doch nie direkten Zugang. Ansonsten würde es sich ja auch
um mein Bewusstsein und meine Erfahrungen handeln, und gerade nicht um die
eines anderen autonomen, d. h. mir transzendenten Subjekts. In dieser positiven
2.3 · Zurückfragen nach den Bedingungen
75 2
Bestimmung ist die Eigenheit also nicht so sehr etwas, das sich inhaltlich vom
Fremden unterscheidet oder diesem vorangeht, sondern durch ihre Art der
direkten Zugänglichkeit gekennzeichnet: Die Eigenheitssphäre ist eine Original-
sphäre. Das wurde bereits im Beispiel der Doppelempfindung deutlich: In meiner
Erfahrung habe ich beides, repräsentative Empfindungen der Eigenschaften der
Dinge und propriozeptive Empfindnisse. Jede Erfahrung der äußeren Welt und
Dinge (ich selbst als Körper eingeschlossen) wird also von einem impliziten, aber
direkten Selbstbezug, begleitet. Zugleich ist mir diese Subjekthaftigkeit bewusst
bzw. kann ich auf diese reflektieren. Neben einer automatischen sinnlichen Rück-
koppelung, dem impliziten Selbstbezug in jeder Erfahrung von Etwas (Fremd-
bezug), gibt es für bewusste (menschliche) Subjekte die Möglichkeit, diese
Subjektivität explizit zu machen. Man könnte dies mit Helmut Plessner, einem
phänomenologischen Anthropologen, so ausdrücken: Der Mensch hat nicht nur
Erfahrungen, sondern erfährt auch seine Erfahrungen (vgl. Plessner 1975 [1928]).

► Beispiel – Original- und Fremdbewusstsein

» Erfahrung ist Originalbewußtsein, und in der Tat sagen wir im Falle der
Erfahrung von einem Menschen allgemein, der Andere stehe selbst leibhaftig
vor uns da. Anderseits hindert diese Leibhaftigkeit nicht, daß wir ohne weiteres
zugestehen, daß dabei eigentlich nicht das andere Ich selbst, nicht seine Erlebnisse,
seine Erscheinungen selbst, nichts von dem, was seinem Eigenwesen selbst
angehört, zu ursprünglicher Gegebenheit komme. Wäre das der Fall, wäre das
Eigenwesentliche des Anderen in direkter Weise zugänglich, so wäre es bloß
Moment meines Eigenwesens, und schließlich er selbst und ich selbst einerlei. Es
verhielte sich ähnlich mit seinem Leib, wenn er nichts anderes wäre als der Körper,
der rein in meinen wirklichen und möglichen Erfahrungen sich konstituierende
Einheit ist, meiner primordinalen Sphäre zugehörig als Gebilde ausschließlich
meiner Sinnlichkeit. Eine gewisse Mittelbarkeit der IntentionaIität muß hier
vorliegen, und zwar von der jedenfalls beständig zugrunde liegenden Unterschicht
der primordinalen Welt auslaufend, die ein Mit da vorstellig macht, das doch nicht
selbst da ist, nie ein Selbst-da werden kann. Es handelt sich also um eine Art des
Mit- gegenwärtig-machens, eine Art Appräsentation. (Husserl, Hua I, S. 139) ◄

Primordinale Transzendenz In dieser zweiten positiven Unterscheidung zwischen


originalem Selbstbewusstsein und vermitteltem bzw. appräsentiertem Fremd-
bewusstsein (was uns präsentiert wird, ist das sichtbare leibliche Verhalten des
Anderen, das wir unmittelbar mit einem ‚Inneren‘, dem Bewusstsein, verbinden,
d. h. ap-präsentieren) wird nun für Husserl auch eine inhaltliche Unterscheidung
zwischen der Erfahrung von uns selbst und dem anderen deutlich. Die Selbst-
erfahrung muss nämlich phänomenologisch der Fremderfahrung vorgeordnet
sein. Dies meint nicht, dass das Eigene ontologisch primär ist, und das Fremde
sekundär, sondern bezieht sich auf die Reihenfolge der Konstitution, d. h. des-
jenigen, was konstitutiv für das Verstehen des Sinnes ‚anderes Subjekt‘ ist.
Hierfür muss die Selbsterfahrung als Vorbild oder Ausganspunkt dienen:
Nur weil wir selbst uns sowohl als Subjekt (von innen) als auch als Objekt (von
außen) erfahren, können wir dies auf die Wahrnehmung des Anderen u ­ nmittelbar
76 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

übertragen. Wir sehen Andere nie bloß als Körper, sondern immer auch als Leib
(von innen gefühlt), da wir dies aus erster Hand auch bei uns selbst erfahren.
Damit wir den Anderen als transzendent (also außerhalb unseres Bewusstseins
2 existierend) erfahren können, bedarf es bereits der Erfahrung einer – wenn auch
schwächeren – Transzendenz, und zwar unserer eigenen zeitlichen und körper-
lichen Transzendenz. Bereits in der Dingwahrnehmung wurde deutlich, dass eine
kohärente und kontinuierliche Wahrnehmung aus der Synthese verschiedener
Abschattungen des Dinges und verschiedener Perspektiven besteht, also die
aktuelle Erfahrung immer schon zeitlich transzendiert. Unser ausgedehnter Leib-
körper mit seinen kinästhetischen Fähigkeiten stellt dabei eine ‚primordinale
Transzendenz‘ dar, er setzt schon eine irgendwie geartete Umwelt voraus, auch
wenn wir den vollen Sinn von ‚Objektivität‘ und ‚Welt‘ noch nicht voraussetzten
dürfen (dieser noch eingeklammert ist). Husserls – innerhalb der Phänomeno-
logie umstrittene – Argumentation ist also, dass für die Konstitution der Be-
deutung ‚Anderer‘ oder ‚Fremdes‘, die eigenen Erfahrung unabdinglich und auf
eine Weise auch primär ist.

Zur Vertiefung
Gegen ein Primat des Eigenen

Jean-Paul Sartre, Emmanuel ist? Diese Konzepte sind notwendiger-


Levinas und der bekannte deutsche weise relativ zueinander. Und trotzdem
Phänomenologe Bernhard Waldenfels betont er die Sonderrolle der Selbst-
haben in ihren Phänomenologien gegen erfahrung: Für die Konstitution des
ein Primat des Eigenen argumentiert: Sinns anderer Subjekte muss etwa mein
Der Andere, das Fremde ist immer Leibkörper als urstiftendes Original
primär, jede Erfahrung und jedes Er- immer mit dabei sein. Würde ich nicht
kennen des Subjekts ist eine Reaktion ständig auch mich selbst auf diese Art
auf die Welt und andere Subjekte. und Weise erfahren oder hätte ich gar
Was wir tun und was wir sind, wird keinen Körper, könnte ich den Anderen
demnach als indirekte oder direkte auch nicht unmittelbar als Subjekt mit
Antwort verstanden, d. h., mensch- einem Bewusstsein erkennen.
liche Existenz bedeutet Responsivität Diese drei Phänomenologen (und viele
und keine reine Intentionalität. Als Ver- andere Phänomenolog:innen) betonen
teidigung Husserls ließe sich hier an- allerdings mit Recht, dass sowohl meine
bringen, dass er sehr wohl betont, Existenz als auch meine Bedeutung
dass sich auf noematischer Ebene der sekundär sind gegenüber einer bereits
Sinn von ‚mein‘ und ‚dein‘, ‚Ich‘ und bestehenden Welt und Intersubjektivi-
‚Anderer‘ notwendigerweise wechsel- tät. Schlichtend können wir jedoch fest-
seitig konstituiert. So macht das Wort halten, dass eventuell beides richtig ist:
‚Subjekt‘ oder ‚meins‘ ohne eine Jedes Subjekt ist bereits situiert, un-
Fremderfahrung keinerlei Sinn. Wenn gewollt in eine Welt geworfen, die
es nur mich gäbe, wieso müsste ich dann bereits lange vor ihm existierte, und
darauf hinweisen, dass etwas ‚meins‘ dabei vollständig fremdbestimmt, da
2.3 · Zurückfragen nach den Bedingungen
77 2

es seine Existenz sowie seinen Namen uns vertrauten Umgebung aus, von
Anderen verdankt (vgl. Waldenfels dem, was für uns normal ist, an was
1997, 1998a, 1998b, 1999). Doch sobald wir gewöhnt sind. Alles, was wir er-
dieses Subjekt versucht, sich philo- fahren, wird vor diesem Hintergrund,
sophisch zu erkennen und diesen Sinn der sogenannten ‚Heimwelt‘ (vgl. hierzu
nachzuvollziehen, muss dies bei der Held 1991; Steinbock 1995; Renker
Selbsterfahrung ansetzen. Die Selbst- 2010), wie Husserl dies nennt, er-
erfahrung ist dabei im guten wie im fahren und beurteilt, ohne dass dies uns
schlechten Sinne vorrangig; letzteres eigens thematisch wird. Hier wird deut-
zeigt sich inhaltlich in Form von Vor- lich, dass es phänomenologisch Sinn
urteilen, Gewohnheiten oder impli- macht, auf diesen erwünschten oder
cit bias. So gehen wir immer von uns unerwünschten Vorrang des Eigenen
selbst, unseren Gewohnheiten und der kritisch zu reflektieren.

2.3.2.2  Fremderfahrung
Schauen wir uns nun die Beschreibung der Fremderfahrung an. Folgende
Frage ist hier leitend: Wie ist es möglich, dass der Andere in meiner Erfahrung
als anderes Subjekt erscheint – mit dem Sinn ‚transzendent‘, ‚außerhalb meiner
existierend‘, ‚mit denselben mentalen und körperlichen Fähigkeiten‘ – und nicht
bloß als Produkt meiner Vorstellung? Husserl versucht, in einem Gedankenexperi-
ment nachzuzeichnen, wie der Sinn ‚anderes transzendentes Subjekt mit Bewusst-
sein‘ Schritt für Schritt konstituiert wird. Zunächst stellt sich die Frage, wie sich
die Erfahrung eines anderen Subjekts von einer gewöhnlichen Dingwahrnehmung
unterscheidet. Beide beziehen sich ja genaugenommen auf externe Dinge. Warum
lässt sich die Erfahrung eines Dinges (leichter) auf eine Vorstellung reduzieren
(intentionale Gegebenheit), die eines anderen Subjekts jedoch nicht?

Wahrnehmung eines anderen Innenlebens Normalerweise nehme ich andere


Subjekte unmittelbar als menschliche, psycho-physische Personen, als ‚Mensch
wie Du und ich‘, wahr. Jedoch sind all diese bereits konstituierten Bedeutungen
zunächst eingeklammert. Was also sehe ich eigentlich, sobald ein Subjekt in
mein Wahrnehmungsfeld tritt? Präsentiert ist ein ausgedehnter Körper oder ein
leiblicher Ausdruck, Verhalten und Bewegung. Genauso wie ich momentan
die Rückseite unseres Nachbarhauses nicht sehen kann, sehe ich auch nicht das
Innenleben des Anderen. Jedoch mit dem Unterschied, dass es mir möglich ist,
die Rückseite des Nachbarhauses in zukünftigen Wahrnehmungen evident zu
machen, nicht jedoch, dasjenige zu erfahren, was den anderen eigentlich zum
Erfahrungssubjekt macht: seinen von innen gefühlten und gelebten Leib, seine
Psyche, seine Gedanken und letztlich seine transzendentale Dimension. All dies
kann ich nur aufgrund dessen, was ich bereits durch meine eigene Erfahrung bei
mir kenne, antizipieren.
Wie läuft dies im Einzelnen ab? Zunächst erscheint ein anderer Mensch als
Körper in unserem Wahrnehmungsfeld. Wir können diesen als Körper eines
78 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

anderen erkennen, da wir zuvor durch die Reduktion auf das Eigene die Selbst-
erfahrung von der (möglichen) Fremderfahrung inhaltlich getrennt hatten. Zu
dem mir inhaltlich Eigenen gehört dann mein eigenes Selbst mitsamt Leibkörper
2 und einer vor-objektiven Umgebung oder Welt. Dies nennt Husserl ‚primordinal‘
oder ‚primordinale Sphäre‘. Hier haben wir bereits eine Art vor-objektive Um-
gebung, jedoch haben weder mein Leibkörper noch dessen räumliche Umgebung
zu diesem Moment eine objektive Bedeutung (als Mensch oder Welt). Diese muss
sich ja erst noch herausstellen im Nachweis, dass wir andere Subjekte als andere
erfahren und ihre Evidenz bewähren können. Es handelt sich also um primäre
Transzendenzen, die notwendig und der Konstitutionsanalyse des Fremden vor-
rangig sind.
Wir nehmen nun den jetzt erscheinenden Körper automatisch als ähnlich und
mit dem unseren zusammengehörig wahr. So wie wir mehrere Menschen oder
Vögel an einem Ort ohne Nachzudenken als Gruppe auffassen. Dieses unmittel-
bare Zusammenwahrnehmen aufgrund von Ähnlichkeit läuft Husserl zufolge als
passive Synthese im Bewusstsein ab. Er nennt sie in Anlehnung an mathematische
Prozesse eine ‚Paarung‘. Danach folgen verschiedene Prozesse der Sinnüber-
tragung von meinem Leibkörper auf den Anderen.

► Beispiel – Meine Erfahrung des Anderen

» Nehmen wir nun an, es tritt ein anderer Mensch in unseren Wahrnehmungsbereich,
so heißt das primordinal reduziert: es tritt im Wahrnehmungsbereich meiner
primordinalen Natur ein Körper auf, der als primordinaler natürlich bloß
Bestimmungsstück meiner selbst (immanente Transzendenz) ist. Da in dieser Natur
und Welt mein Leib der einzige Körper ist, der als Leib (fungierendes Organ)
ursprünglich konstituiert ist und konstituiert sein kann, so muß der Körper dort,
der als Leib doch aufgefaßt ist, diesen Sinn von einer apperzeptiven Übertragung
von meinem Leib her haben, und dann in einer Weise, die eine wirklich direkte und
somit primordinale Ausweisung der Prädikate der spezifischen Leiblichkeit, eine
Ausweisung durch eigentliche Wahrnehmung, ausschließt. Es ist von vornherein
klar, daß nur eine innerhalb meiner Primordinalsphäre jenen Körper dort mit
meinem Körper verbindende Ähnlichkeit das Motivationsfundament für die
analogisierende Auffassung des ersteren als anderer Leib abgeben kann. […]
Sollen wir nun das Eigentümliche derjenigen analogisierenden Auffassung
bezeichnen, durch die ein Körper innerhalb meiner primordinalen Sphäre als
meinem eigenen Leib-Körper ähnlich ebenfalls als Leib aufgefaßt wird, so
stoßen wir fürs erste darauf, daß hier das urstiftende Original immerfort lebendig
gegenwärtig ist, also die Urstiftung selbst immerfort in lebendig wirkendem
Gang bleibt; und zweitens auf die uns schon in ihrer Notwendigkeit bekannt
gewordene Eigenheit, daß das vermöge jener Analogisierung Appräsentierte nie
wirklich zur Präsenz kommen kann, also zu eigentlicher Wahrnehmung. Mit der
ersteren Eigentümlichkeit hängt nahe zusammen, daß ego und alter ego immerzu
und notwendig in ursprünglicher Paarung gegeben sind [...]. (Husserl, Hua I,
S. 140, S. 141–143) ◄
2.3 · Zurückfragen nach den Bedingungen
79 2
Sinnübertragung Die Sinnübertragung beginnt also passiv (nicht als Denk-
akt oder Urteil) bei meiner Erfahrung und wird von da aus ‚aktiver‘, bis hin zu
einem expliziten Hineinversetzen in den Anderen, einer ‚Einfühlung‘, wie Husserl
dies mit dem Konzept des Psychologen Theodor Lipps nennt. Nach einer un-
mittelbaren Paarung, die den Körper in Zusammenhang mit meinem wahr-
nimmt, folgt eine Art Appräsentation oder Apperzeption, die auf einer rezeptiven
Präsentation basiert und von dieser motiviert ist, also von dem sichtbaren Körper,
seinem leiblichen Ausdruck und seiner Art der Bewegung. Von da aus vollziehen
sich Schritt für Schritt, erst passiv, dann aktiv, weitere Antizipationen. Zentral
hierbei ist mein Leib, d. h. meine Erfahrung als subjektiver und objektiver Leib.
So wird deutlich, dass der andere auch ein Leibkörper ist wie ich, aber nie meine
räumliche Position einnehmen kann. Mein Leib ist immer das ‚absolute Hier‘, der
andere ‚dort‘ und umgekehrt. Zugleich kann ich mich nun aktiv in seine Position
hineinversetzen und einsehen, was ich sehen würde, stünde ich dort, wo dieser
jetzt ist. Der andere wird so wahrgenommen, als ‚wenn ich dort wäre‘.
Dabei wird deutlich, dass die Sinnübertragung zwar meine Selbsterfahrung
braucht und von dieser ihren Ausgang nimmt, aber sogleich wechselseitig statt-
findet. Der Sinn des Anderen wird also epistemologisch nachvollzogen als eine
Art ‚Modifikation‘ des Selbst, aber zugleich zeigt sich, dass die eigentliche
Konstitution, das was es inhaltlich bedeutet ‚Selbst‘ zu sein, wechselseitig statt-
findet, und nur als Resultat einer intersubjektiven Sinnstiftung verstanden werden
kann. Der Andere kann demnach kein bloßer Spiegel bzw. kein Duplikat meiner
selbst sein, er ist notwendig sein eigenes Subjekt mit einem eigenen leiblichen
Hier, einer eigenen Perspektive und eigenen konstitutiven Fähigkeiten.

► Beispiel – Der Andere ist kein Duplikat meiner selbst

» Mein körperlicher Leib hat, als auf sich selbst zurückbezogen, seine
Gegebenheitsweise des zentralen Hier; jeder andere Körper und so der Körper
des Anderen hat den Modus Dort. Diese Orientierung des Dort unterliegt
vermöge meiner Kinästhesen dem freien Wechsel. Dabei ist in meiner
primordinalen Sphäre im Wechsel der Orientierungen konstituiert die eine
räumliche Natur, und zwar konstituiert in intentionaler Bezogenheit auf meine
als wahrnehmend fungierende Leiblichkeit. Daß nun mein körperlicher Leib
aufgefaßt ist und auffaßbar ist als ein wie jeder andere im Raum seiender und
wie jeder andere beweglicher Naturkörper, hängt offenbar zusammen mit der
Möglichkeit, die sich in den Worten ausspricht: Ich kann meine Stellung durch
freie Abwandlung meiner Kinästhesen und im besonderen des Herumgehens so
ändern, daß ich jedes Dort in ein Hier verwandeln, d.i. jeden räumlichen Ort
leiblich einnehmen könnte. […]
Ich apperzipiere den Anderen doch nicht einfach als Duplikat meiner selbst,
also mit meiner oder einer gleichen Originalsphäre, darunter mit den räumlichen
Erscheinungsweisen, die mir von meinem Hier aus eigen sind, sondern, näher
besehen, mit solchen, wie ich sie selbst in Gleichheit haben würde, wenn ich
80 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

dorthin ginge und dort wäre. Ferner, der Andere ist appräsentativ apperzipiert
als Ich einer primordinalen Welt bzw. einer Monade, in der sein Leib im Modus
des absoluten Hier, eben als Funktionszentrum für sein Walten ursprünglich
2 konstituiert und erfahren ist. Also indiziert in dieser Appräsentation der in
meiner monadischen Sphäre auftretende Körper im Modus Dort, der als fremder
Leibkörper, als Leib des alter ego apperzipiert [sic!] ist. denselben Körper im
Modus Hier, als den, den der Andere in seiner monadischen Sphäre erfahre.
Das aber konkret, mit der ganzen konstitutiven Intentionalität, die diese
Gegebenheitsweise in ihm leistet. (Husserl, Hua I, S. 145f.) ◄

Wie nehmen den Anderen also in unserer Erfahrung als anderes Subjekt mit
eigener Erfahrung wahr, und dies unmittelbar und direkt (also ohne explizit
darüber nachdenken zu müssen). Jedoch ist das, was jeweils mitwahrgenommen
oder antizipiert wird (dass dieser Körper ein Mensch ist), nie mit aller Sicherheit
gegeben, da das Bewusstsein nie eigentlich in Erscheinung treten kann. Der er-
scheinende Körper muss sich in weiterer Erfahrung kontinuierlich in seinem Aus-
druck und Verhalten als ‚Mensch‘ bewähren. Dabei kann unsere Intention auch
enttäuscht werden: Bleibt der vermeintliche Mensch plötzlich stehen, dampft,
blinkt und piepst, handelt es sich eventuell eher um einen humanoiden Roboter
mit technischen Problemen.

► Beispiel – Der Andere als originäre Unzugänglichkeit

» Der erfahrene fremde Leib bekundet sich fortgesetzt wirklich als Leib nur
in seinem wechselnden, aber immerfort zusammenstimmenden Gebaren,
derart, daß dieses seine physische Seite hat, die Psychisches appräsentierend
indiziert, das nun in originaler Erfahrung erfüllend auftreten muß. Und so im
stetigen Wechsel des Gebarens von Phase zu Phase. Der Leib wird als Schein-
Leib erfahren, wenn es damit eben nicht stimmt. In dieser Art bewährbarer
Zugänglichkeit des original Unzugänglichen gründet der Charakter des seienden
Fremden. Was je original präsentierbar und ausweisbar ist, das bin ich selbst bzw.
gehört zu mir selbst als Eigenes. Was dadurch in jener fundierten Weise einer
primordinal unerfüllbaren Erfahrung, einer nicht original selbstgebenden, aber
Indiziertes konsequent bewährenden, erfahren ist, ist Fremdes. Es ist also nur
denkbar als Analogon von Eigenheitlichem. Notwendig tritt es vermöge seiner
Sinneskonstitution als intentionale Modifikation meines erst objektivierten Ich,
meiner primordinalen Welt auf: der Andere phänomenologisch als Modifikation
meines Selbst (das diesen Charakter mein seinerseits durch die nun notwendig
eintretende und kontrastierende Paarung erhält). Es ist klar, daß damit in der
analogisierenden Modifikation all das appräsentiert ist, was zur Konkretion
dieses Ich zunächst als seine primordinale Welt und dann als das voll konkrete
ego gehört. (Husserl, Hua I, S. 144) ◄

Die erfahrene Transzendenz des Anderen Das andere Subjekt ist einerseits direkt
zugänglich durch seinen leiblichen Ausdruck, d. h., wir erfahren andere immer
2.3 · Zurückfragen nach den Bedingungen
81 2
unmittelbar als Subjekte wie uns, andererseits aber nie original zugänglich: Wir
können nicht in die Köpfe oder Leiber der Anderen kriechen und ihre Gefühle
fühlen oder Gedanken denken. Dies können wir immer nur mitwahrnehmen,
antizipieren. Im Alltag funktioniert dies prima, wir können uns auf unsere
Intuition verlassen. Diese Evidenz gilt aber nur bis auf weiteres und ist bezweifel-
bar; ein als Mensch wahrgenommenes Etwas kann sich etwa bei genauerem
Hinsehen als Schaufensterpuppe herausstellen. Jedoch macht diese Unsicher-
heit, dass sich das andere Subjekt in seiner Anwesenheit zugleich entzieht, auch
im positiven Sinne den Unterschied zwischen Selbst- und Fremderfahrung
aus. Das Wesentliche des anderen Subjekts entwischt uns ständig, wir können
es weder festhalten, kontrollieren noch vollständig erkennen, dies macht seine
Transzendenz aus. Wäre der oder die Andere original erfahrbar, wäre er/
sie lediglich eine meiner Erfahrungen, eine immanente Vorstellung. Der Um-
stand jedoch, dass wir Andere prinzipiell nicht original erfahren können, meint
auch: Das andere Subjekt kann nicht auf meine Erfahrung reduziert werden, es
transzendiert meine Erfahrung, es existiert unabhängig und außerhalb davon.

Fremderfahrung und Objektivität Mehr noch, der/die Andere hat denselben


Status und dieselben allgemeinen Fähigkeiten wie ich selbst. Das heißt im Um-
kehrschluss, dass auch ich ein Objekt der Erfahrung von Anderen bin, auch ich
werde also in meinem Sinn von Anderen konstituiert. Wie Husserl in seiner Be-
schreibung Schritt für Schritt zeigt, muss diese:r Andere, der/die zunächst als
bloßer wahrgenommener Körper in meinem Wahrnehmungsfeld erscheint, not-
wendigerweise auch einen empfindenden und sich bewegenden Leib und damit
eine primordinale Räumlichkeit und Umgebung haben. Einen Leib, der für
mich dort, für den/die Andere:n jedoch hier ist. Auch er/sie hat eine Psyche, ein
Bewusstsein und schließlich eine transzendentale Dimension. Andere sehen die-
selben Dinge wie ich, jedoch aus einer anderen Perspektive, sie stehen auf
demselben Boden wie ich, aber in ihrem Hier. Der konstitutive Aufweis der
Fremderfahrung und weiter der Intersubjektivität ist darum der Schlüssel zur
Sicherung von Objektivität. Sobald wir die Transzendenz der Anderen in unserer
Erfahrung nachweisen können, gilt, dass die Welt und die Dinge, die ich erfahre,
nicht nur für mich existieren, sondern auch für andere, d. h., sie sind nicht nur
subjektiv, sondern objektiv gültig.

? Aufgaben
1. Was macht eine transzendentale Fragestellung und Methode aus, welche Ziele
hat sie? Wieso gilt (laut Husserl) erst die transzendentale Phänomenologie als
eigentlich philosophisch? Definieren Sie ‚transzendental‘. Verwenden Sie bei
ihrer Antwort die Begriffe ‚Bedingung‘, ‚Notwendigkeit‘ (konstitutiv, logisch,
sachlich), ‚a priori‘ und ‚Erkenntnis‘.
2. Praktizieren Sie die transzendentale Epoché (Ausschaltung der natürlichen Ein-
stellung) und Reduktion (Rückgang auf die Bedingungen der Erfahrung im
Subjekt). Wählen Sie dabei jeweils einen der drei Wege (cartesianisch, psycho-
logisch, ontologisch) zur transzendentalen Reduktion. Beschreiben Sie die
82 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Schritte und notieren sie die Schwerpunkte, Vorteile und Schwierigkeiten bei
der Ausführung.
3. Wechselseitige Bestimmung von Subjektivität und Objektivität:
2 a) Warum muss man beim Subjekt, d. h. bei der eigenen Erfahrung, beginnen,
um zu den Sachen selbst, der Welt, zu gelangen?
b) Erklären Sie warum das Subjekt, die eigene Erfahrung, epistemologischen
Vorrang hat.
c) Warum braucht es die transzendentale Intersubjektivität, um die Objektivi-
tät der Welt zu gewährleisten?
d) Erläutern Sie was Husserl unter transzendentaler Intersubjektivität versteht.
Erklären Sie, wie man von der subjektiven Erfahrung zur Objektivität ge-
langt.
4. Was ist der Unterschied zwischen einer Selbst-, Ding- und Fremderfahrung?
Versuchen Sie Schritt für Schritt zu beschreiben, wie sie sich selbst und einen
anderen Menschen wahrnehmen. Was ist der Unterschied und was an dieser
Erfahrung ist transzendental?
5. Glossar: Sammeln Sie relevante Begrifflichkeiten aus 7 Abschn. 2.3.
Definieren Sie diese anhand des Textes und weiterer Quellen und fügen Sie
diese dem Glossar hinzu. (Tipp: Dieses Glossar kann gemeinsam mit anderen
Kommiliton:innen erstellt werden.)

2.4  Phänomenologische Methode nach Husserl

Bereits zu Lebzeiten Husserls und vor allem nach dessen Tod haben sich viele
Phänomenolog:innen in verschiedenster Weise auf die obigen Methoden bezogen,
sei es durch eine Weiterentwicklung, Anpassung oder kritische Abgrenzung. Man
könnte sagen, dass Phänomenologie sich gerade durch eine beständige kritische
Reflektion auf die Methode auszeichnet. Allgemein lässt sich festhalten, dass sich
alle Phänomenologien und Phänomenologietreibenden auf die Beschreibung der
Erfahrung als Kern einer Phänomenologie einigen können. Viele betreiben hier-
bei auch eine mehr oder weniger explizite eidetische Bestimmung allgemeiner
Strukturen der Erfahrung oder eine Bestimmung von allgemeinen Strukturen ver-
schiedener Seinsregionen (regionale Ontologie). Und einige widmen sich einer
transzendentalen phänomenologischen Erkenntniskritik oder genetischen Be-
schreibung der passiven und aktiven Leistungen des Bewusstseins oder leiblichen
Subjekts.

Kritik an der Eidetik nach Husserl Wie bereits erwähnt, wurde Husserls Eidetik
mehrheitlich kritisch aufgenommen. In der analytischen Philosophie zweifelte
man etwa, dass sich ‚Wesen‘ erschauen lassen oder generelle Strukturen intuitiv
erfahrbar sind. Wie ließe sich so etwas verifizieren und welche Rolle spielt hier-
bei die Sprache? In der kritischen Theorie oder feministischen Philosophie galt
Husserls Wesensbestimmung als Rückfall in eine platonische Ideenwelt oder als
Beispiel eines Essentialismus, der einer politischen Strategie der Naturalisierung
von menschlichen Unterschieden (Geschlecht, Herkunft, Fähigkeiten) in die
2.4 · Phänomenologische Methode nach Husserl
83 2
Hand spielt. Durch eine solche Naturalisierung werden Unterschiede oder Ab-
weichungen vom vermeintlichen (idealen) Wesen des Menschen festgeschrieben
und dadurch eine Ungleichbehandlung legitimiert, die mit Marginalisierung, Aus-
grenzung oder Gewalt einhergeht. Diese Einwände sind insbesondere mit Bezug
auf die unaussprechlichen Untaten in der Zeit des Nationalsozialismus mehr
als berechtigt. Wer bestimmt, was universal und ideal ist, und wie sind die ver-
meintlich rein deskriptiven Bestimmungen des Allgemeinen oder Natürlichen
mit Werturteilen verknüpft? Husserl erscheint hier als ein wenig naiv, wenn er an
die epistemologische Gewissenhaftigkeit des Einzelnen glaubt, das Allgemeine
neutral bestimmen zu können und zu wollen. Theoretisch mag dies möglich sein,
jedoch spielen praktisch Vorurteile, Ideologien, Interessen und Machtverhält-
nisse hierbei eine zentrale Rolle. Die Denker:innen nach dem Zweiten Weltkrieg
können sich also nicht mehr so einfach auf das ‚Wesen‘ der Dinge beziehen.
Das Problem, wie wir als Subjekte trotz und innerhalb unserer subjektiven
Erfahrung Zugang und Einsicht zum Allgemeinen haben können, bleibt jedoch
bestehen. Husserl hat dabei deutlich gemacht, dass wir in unserem Erfahren,
Denken und Kommunizieren mit Anderen immer schon von allgemeineren
Strukturen und Invarianten ausgehen müssen. Deshalb scheint die Methode der
Eidetik immer noch aktuell: Das Wesen ist dabei nicht mehr so sehr das Ziel,
sondern der provisorische Ausganspunkt, um herauszufinden, wie und ob sich
allgemeine Strukturen erkennen lassen, oder wie wir zu den meist impliziten An-
nahmen vom Allgemeinen kommen.

Neue Ansätze Auch die Phänomenolog:innen nach Husserl beschäftigen sich


daher nicht nur mit der singulären oder privaten Erfahrung, sondern versuchen
auf ihre Weise das Allgemeine innerhalb der Pluralität menschlicher Erfahrungen
zu bestimmen. Als Beispiele lassen sich Merleau-Pontys existentielle Phänomeno-
logie (vgl. Phänomenologie der Wahrnehmung, 1966 [1945]), Heideggers frühes
wie spätes Seinsdenken (vgl. Sein und Zeit, 1927; Zum Wesen der Wahrheit, 1930;
Zur Sache des Denkens, 1969) Sartres phänomenologische Ontologie (vgl. Das
Sein und das Nichts, 1993 [1943] oder Simone de Beauvoirs Beschreibung der
Situation von Frauen oder des Alterns (vgl. Das andere Geschlecht, 1992 [1949];
Das Alter, 2000 [1970]) nennen. Zwar findet man keine explizite Durchführung
der eidetischen Variation, jedoch steht die Bestimmung allgemeiner Modi von
Erfahrungs- oder Daseinsweisen bei allen im Vordergrund, wie z. B. das Wesen
des allgemeinen oder der Stil des mehr spezifischen leiblichen Erfahrens: Bei
Merleau-Ponty wird etwa der Unterschied zwischen normalen und patho-
logischen Weisen des Zur-Welt-seins untersucht, bei Beauvoir die unterschied-
liche Erfahrungssituation von Frauen und Männern, Jüngeren und Älteren be-
schrieben. Weiterhin findet eine Unterscheidung verschiedener Regionen des
Seins statt: Bei Heidegger wird zwischen ‚Zu-handen-sein‘ und ‚Vor-handen-sein‘,
beim späten Merleau-Ponty zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren
(Merleau-Ponty 1964), bei Sartre zwischen einem Sein als ‚Für-sich‘ und einem
Sein ‚An-sich‘ unterschieden; und Beauvoir beschreibt die künstliche Zuteilung
der Geschlechter zu der Region der Transzendenz einerseits (Männer) und der
Region der Immanenz andererseits (Frauen). Weiterhin treffen wir auf zahlreiche
84 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Reflektionen zur Beziehung zwischen dem Faktischen und dem Wesen: Zum Bei-
spiel in Heideggers Unterscheidung zwischen ontisch und ontologisch oder dem
Wesen der Technik, in Merleau-Pontys späten Gedanken zur Institution oder
2 im Schlachtruf des Existenzialismus bei Sartre als ‚Existenz vor Essenz‘. Der
Status des Wesens oder des Allgemeinen wird dabei nicht mehr als streng a priori,
sondern mehr und mehr in seiner Verknüpfung mit bzw. in seiner Abhängigkeit
von dem Faktischen, und damit auch historisch und veränderlich angesehen.
Trotzdem zeichnen sich alle diese Ansätze durch die Bestimmung eines irgend-
wie Allgemeinen aus, von dem im Ausgang das Besondere, Andere, Konkrete als
solches erst sichtbar wird.

Neue methodische Verfahren Auch finden wir spezielle methodische Verfahren,


der eidetischen Variation nicht unähnlich, um zu einer Bestimmung des All-
gemeinen (oder Besonderen) zu gelangen. Merleau-Ponty verwendet etwa
empirische Fallstudien von Pathologien, um der normalen Erfahrung auf die
Spur zu kommen. Heidegger geht zurück auf die ursprüngliche Nutzung und
Bedeutung von Begriffen in der antiken Philosophie (wie techné oder poie-
sis) oder lässt sich von seiner ländlichen, schwarzwälderischen Umgebung in-
spirieren (durch dort geläufige Begriffe wie ‚Kehre‘ oder ‚Gestell‘), um das Wesen
von Kausalität und Technik sowie darin unser Verhältnis zum Sein (neu) zu be-
stimmen. Dies sind Methoden der Variation, die helfen, die Ähnlichkeiten oder
Unterschiede zwischen Dingen, Auffassungen, Erfahrungsweisen erscheinen zu
lassen und das ihnen zugrunde liegende gemeinsame Prinzip festzustellen. Durch
den Umweg über die Geschichte, das Alltägliche (aber für den Philosophen nicht
immer Selbstverständliche) wird hier ein Abstand oder eine Distanz geschaffen
zum Konkreten oder jetzt Gültigen, was eine andere Denkweise ermöglicht.

Zur Vertiefung
Frühe realistische Phänomenologie: Der ‚Münchner‘ und ‚Göttinger Kreis‘

Die sogenannte ‚frühe‘ oder ‚realistische Gegenstand) und Erfüllung (was von
Phänomenologie‘ (von etwa 1890 bis in diesem Gegenstand aktuell direkt ge-
die Zeit des Ersten Weltkriegs) schließt geben ist) auszeichnet. Gänzlich ab-
sich dem objektbezogenen, eidetisch be- gelehnt wird Husserls transzendentale
schreibenden Ansatz Husserls an und Wende, die Fragen der Erkenntniskritik
entwickelt diesen eigenständig weiter. miteinbezieht. Eine solche Wende zum
Sie steht bereits zu Beginn einigen An- (transzendentalen) Subjekt oder Ich er-
nahmen Husserls kritisch gegenüber, scheint den frühen Phänomenolog:innen
die über die konkrete Gegebenheit von dabei als Rückfall in einen Psycho-
Dingen oder Arten von Intentionali- logismus oder transzendentalen
tät hinausgehen: Wie etwa der Idee, Konstruktivismus und damit als Verrat
dass Intentionalität sich allgemein als an der phänomenologischen Losung: zu
Struktur von Intention (intendierter den Sachen Selbst. Die Werke der frühen
2.4 · Phänomenologische Methode nach Husserl
85 2

Phänomenologie befassen sich mit einer Die frühe Phänomenologie wird in der
Vielfalt an Themen, wie Fragen zu den Fachliteratur auch als „Münchner“
Grundlagen der Logik, der Mathematik oder „Göttinger Kreis“ bezeichnet (vgl.
und der mathematischen Physik, die Salice 2015). Diese Kreise gehen zurück
Erfahrung religiöser und mystischer auf den 1895 von Theodor Lipps in
Phänomene, Gefühl und Wille, Wahr- München begründeten „Akademischen
nehmung, Ästhetik, Ethik, kollektive Verein für Psychologie“ sowie die 1907
Intentionalität und Ontologie. von Theodor Conrad ins Leben ge-
Anstatt über subjektive Bedingungen rufene „Philosophische Gesellschaft
der Erfahrung zu spekulieren, widmen Göttingen“. Mitglieder sind u. a.
sich die Münchner und Göttinger Theodor Conrad, Hedwig Conrad-
Phänomenolog:innen primär der Be- Martius, Johannes Daubert, Herbert
schreibung von spezifischen Dingen Leyendecker, Paul F. Linke, Alexander
(vgl. z. B. Schapp 2013 [1910]), Sach- Pfänder, Adolf Reinach, Max Scheler,
verhalten (vgl. Lipps 1927) oder Dietrich von Hildebrand, Hermann
Intentionalitäten, wie z. B. rechtlichen Ritzel, Wilhelm Schapp und Edith Stein.
Überlegungen (Reinach 2007 [1905]), In den letzten Jahren ist das Interesse an
Willens- und Gefühlsakten sowie der der frühen Phänomenologie wieder auf-
Einfühlung (vgl. Pfänder 1900; Scheler gelebt: Neue Forschungen beleuchten
1913; Stein 2008 [1916]) oder Formen die Verbindung zur Phänomeno-
der Gemeinschaft (vgl. von Hildebrand logie Husserls sowie die Eigenständig-
1930; Walther 1923). Hedwig Conrad keit und Relevanz dieser phänomeno-
Martius (1923) entwickelt in diesem Zu- logischen Bewegung. Erst jetzt wird
sammenhang eine Realontologie, die der Reichtum dieser Untersuchungen
untersuchen soll, wie das Sein sich in ersichtlich, der beinahe verloren ge-
sich selbst gründet, und unterscheidet gangen wäre, weil die meisten frühen
drei phänomenologische Einstellungen: Phänomenolog:innen und ihre Arbeiten
eine engere phänomenologische oder er- durch historische Ereignisse, wie den
kenntniskritische Einstellung im Sinne Ersten Weltkrieg, in Vergessenheit ge-
Husserls (vgl. transzendentale Epoché), raten sind (Moran/Parker 2015, S. 12–
eine breitere phänomenologische Ein- 13; vgl. Salice 2015; De Santis 2021).
stellung, in der die Ein- oder Aus- In Vergessenheit geraten sind auch die
schaltung der natürlichen Einstellung vielen Philosophinnen, die der frühen
keine Rolle spielt (vgl. deskriptive Phänomenologie angehörten, da Frauen
Epoché), und eine realontologische zu dieser Zeit zwar an deutschen Uni-
Einstellung, in der die Welt gerade als versitäten studierten, aber noch nicht
faktische vorausgesetzt werden soll, zur Habilitation zugelassen waren und
ob es sie nun gibt oder nicht (vgl. Ave- somit keine Professorinnen werden
Lallemant 1975, S. 34). konnten (Moran/Parker 2015, S. 13).
86 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Transzendentale Phänomenologie nach Husserl Der transzendentalen Ausrichtung


der Phänomenologie begegnet man in der Philosophenzunft mit einer ähn-
lichen Skepsis. Statt eines Rückfalls in den Platonismus wird Husserl an dieser
2 Stelle eine unkritische Weiterführung des deutschen Idealismus vorgeworfen.
Die Reduktion wird dabei als Leugnung oder Ausschaltung der Welt verstanden,
und das transzendentale Subjekt als ein allmächtiges, kreatives und vollständig
transparentes Subjekt (miss)verstanden. Dies ist sicher auch der schlechten
Rezeptionslage aufgrund Husserls Situation als jüdischer Professor in den
1930er Jahren und seinen (damals noch) unveröffentlichten Manuskripten zu-
zuschreiben (vgl. Vongehr 2017; Luft/Wehrle 2017). Insbesondere im englisch-
sprachigen Raum ist die Rezeption der Phänomenologie daher hauptsäch-
lich von Heidegger und Merleau-Ponty geprägt, Husserl steht fälschlicherweise
für einen Intellektualismus und Repräsentationalismus, den es zu überwinden
gilt (vgl. Dreyfus 1982). Zentrale Konzepte des transzendental-genetischen An-
satzes wie Passivität, passive Synthesis, Zeitlichkeit, Affektion, Gefühle, Leiblich-
keit, Normalität, Intersubjektivität und Lebenswelt kommen erst langsam im all-
gemeinen philosophischen Diskurs an.
Gerade in der gegenwärtigen Phänomenologie spielt die transzendentale
Phänomenologie wieder eine Rolle als Erkenntniskritik, vor allem auch in
ihrem Potential für eine politische Phänomenologie: Hier werden Eidetik und
transzendentale Reduktion als methodische Formen einer immanenten Kritik,
d. h. einer Kritik unserer Erfahrung verstanden, die es uns ermöglicht, unsere
eigenen Voraussetzungen zu erkennen, anders zu denken und so auch mehr
Offenheit und Verständnis für die Perspektiven anderer zu erlangen (vgl. Aldea
2016; Aldea/Heinämaa/Carr 2022).
Zunächst kritisierte die Phänomenologie nach Husserl dessen transzendental
erkenntniskritische Wende der Phänomenologie jedoch als zu cartesianisch
oder kantianisch. Phänomenologie soll nicht mehr primär einen Abstand vom
Konkreten, Alltäglichen oder der eigenen Existenz schaffen: Am Anfang der
Phänomenologie steht demnach kein uninteressierter Beobachter, sondern
gerade die Faktizität, Situiertheit, Engagiertheit und Weltlichkeit selbst ist die
Motivation und der Motor der Beschreibung, in der die Welt sozusagen in actu
eingefangen werden soll. So wird etwa daran gezweifelt, dass es möglich (und
wünschenswert) ist, alle Vorurteile und weltlichen Interessen einfach so einzu-
klammern, um zu den Sachen selbst zu kommen. Ist nicht jede Erfahrung, auch
die phänomenologische, durch bestimmte Erkenntnisinteressen geleitet? Und was
motiviert uns eigentlich dazu, überhaupt eine solchen Epoché oder Reduktion
auszuführen? Das Problem des Beginns und der Adäquatheit der phänomeno-
logischen Beschreibung bestimmt denn auch das Werk vieler Phänomenologinnen
und Phänomenologen.
Obwohl Husserls transzendentale Wende und Methoden auch von nach-
folgenden Phänomenolog:innen größtenteils kritisch oder gar ablehnend auf-
genommen wurde, sehen wir in der Praxis doch vielfältige Überlegungen
transzendentaler Art. Beinahe alle phänomenologischen Ansätze reflektieren
z. B., was die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung sind und unter-
suchen, wie wir die Welt erkennen und beschreiben können, ohne deren Status
2.4 · Phänomenologische Methode nach Husserl
87 2
und Bedeutung schon implizit vorauszusetzen. So bestimmt etwa Sartre das
nicht-thetische (also operative und dem Subjekt nicht thematische) Bewusst-
sein als Voraussetzung für die Erfahrung einer Welt. Merleau-Ponty versteht
seine Phänomenologie der Wahrnehmung als transzendentale Untersuchung, in
der jedoch die Passivität und Situierung jeder faktischen Subjektivität selbst als
Voraussetzung für Erkenntnis und Freiheit angesehen werden. Wie er in seinem
Vorwort zur Phänomenologie der Wahrnehmung betont, tritt die zentrale Ein-
sicht des In-der-Welt-seins durch Heidegger überhaupt erst auf dem Boden
der transzendentalen Reduktion in Erscheinung (Merleau-Ponty 1966, S. 11).
Heidegger selbst, der die Transzendentalphilosophie Kants wie Husserls ent-
schieden als zu rationalistisch ablehnt, zielt dennoch in seiner Beschreibung des
Daseins auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung vom Sinn des Seins
(vgl. Gethman 1993; Crowell 2002; Luft 2005). Statt eine erkenntniskritische
Position einzunehmen, plädiert er jedoch für eine Offenheit gegenüber dem Sein
(vgl. Heidegger 2015 [1955]).

Zur Vertiefung
Heidegger: Gelassenheit statt Epoché

So lässt sich etwa Heideggers frühes wie ­ elassenheit gegenüber dem, was sich
G
spätes Werk als kritische Auseinander- uns zeigt. Anstatt zu versuchen, etwas
setzung mit Husserls transzendentaler zu klären oder zu versichern, sollten wir
Methode oder erkenntniskritischer uns öffnen oder den ursprünglichen Be-
Orientierung verstehen, in der er deutungen von Wörtern auf den Grund
eine Alternative sucht, um mit der gehen.
Phänomenologie zu beginnen (vgl. In Sein und Zeit (Heidegger 1977
Hadjioannou 2018). Anstatt aktiv und [1927]) spricht Heidegger diesbezüg-
rational einen Einstellungswechsel vor- lich von einer formalen Anzeige, die die
zunehmen, d. h. etwas einzuklammern, Phänomene nicht kategorisiert, sondern
plädiert er für Gelassenheit gegenüber lediglich anzeigt, d. h. auf Phänomene
dem Sein oder den Sachen. Die Epoché in einer nicht objektivierenden Weise
oder transzendentale Methode ist ihm verweist. Heidegger versucht hier, eine
zufolge auch eine Form von Setzung, Art der Beschreibung zu finden, die
ein Ordnen, welches gerade nicht zu die Dinge nicht definiert oder einfriert,
den Sachen selbst vordringt, sondern sondern in ihrer Lebendigkeit und
diese in eine rational geordnete Form Dynamik einfängt. In seinem Aufsatz
bringt. Stattdessen soll man versuchen, „Zur Frage der Technik“ (Heidegger
das Sein von sich aus erscheinen zu 2000 [1953]) oder der „Meßkircher
‚lassen‘, sich ihm zu öffnen, durch eine Rede“ (Heidegger 2015 [1955]) spricht
Praxis des Fragens. Nicht Reflektion als er von Gelassenheit, die eine freie Be-
theoretische Einstellung ist demnach ziehung zum Sein ermöglicht. Diese Ge-
das Eingangstor zur Phänomenologie, lassenheit ist dabei auch eine Form des
sondern Offenheit, Seinlassen und Abstandes vom ­ Selbstverständlichen.
88 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Sie wird erreicht durch das Hinter- Verdacht, ein Denker mit mythischen
fragen von gängigen Theorien und (und nicht nur biographisch sondern
das Zurückgehen auf ursprüngliche auch inhaltlich antisemitischen) Zügen
2 Begriffe und Bedeutungen, um von zu sein: In seiner Philosophie ver-
demjenigen, was in unserer Zeit als birgt sich die Gefahr, dass einige ‚Er-
richtig gilt (dem ‚Korrekten‘), zum leuchtete‘ den echten Zugang zum Sein
eigentlichen Wesen des Seins zu ge- für sich proklamieren, während die
langen (dem ‚Wahren‘). ‚Zu den Sachen anderen diesen (noch) nicht gefunden
selbst‘ meint hier also, offen sein für haben. Die Forschung der letzten Jahr-
das, was sich uns vom Sein enthüllt. zehnte bemüht sich jedoch verstärkt,
Auch hier werden Methoden verwendet, diesen hermetischen Charakter der
die eine solche Erkenntnis oder gar Philosophie Heideggers hin zu neuen
Offenbarung vorbereiten, mit dem Ziel Interpretationsmöglichkeiten, Themen
einer vorurteilslosen Beschreibung. sowie interdisziplinären Diskursen zu
Jedoch entzieht sich Heideggers philo- öffnen. Mit Heidegger, gegen und über
sophisches Vorgehen einer inter- diesen hinaus zeigt sich die thematische
subjektiven Kritik und Überprüfung. Relevanz und Anschlussfähigkeit seines
Heidegger stand/steht denn auch im Denkens.

Die Selbstverständlichkeit der Welt Die Phänomenologie in der Nachfolge


Husserls verschiebt ihre Ausrichtung weg von der Erkenntnis der Welt, hin zum
Existieren in der Welt (z. B. Heidegger, Merleau-Ponty, Sartre, Beauvoir, Fanon).
Die existentielle Phänomenologie will mit der konkreten Erfahrung beginnen
und die Existenz auf dieser begründen. Wenn es Objektivität und Transzendenz
geben soll, muss diese vor aller Messung und Formalisierung auch erfahrbar
sein: „Die Welt ist da, vor aller Analyse“, wie Merleau-Ponty (1966, S. 6) betont.
Und dies bestätigt ja auch unsere erste Intuition: In der alltäglichen Erfahrung
zweifeln wir nicht im mindesten daran, dass die Dinge und die Welt unabhängig
von uns existieren und für jeden gleichermaßen zugänglich und erfahrbar sind.
Diese Selbstverständlichkeit der Welt philosophisch aufzuklären, ist auch hier die
Grundmotivation der Phänomenologie.

Engagierte Beschreibung Nachfolgende Phänomenolog:innen argumentieren,


dass nicht die reflektive Distanz, sondern gerade das Betroffen- und praktisch
Engagiertsein in der Welt Voraussetzungen sind für eine Beschreibung eben
dieser Erfahrung. Vertreter eines solchen Ansatzes der direkten Beschreibung ist
etwa Maurice Merleau-Ponty, der es als Aufgabe der Phänomenologie sieht, die
Welt in statu nascendi, also in ihrem Werden zu studieren (Merleau-Ponty 1966,
S. 18). Jedoch spielt auch hier die nachträgliche Reflektion eine Rolle, schließlich
kann man nicht zugleich in einer jeweiligen Erfahrung aufgehen und dieselbe Er-
fahrung philosophisch beschreiben. Im Unterschied zum Ideal des unbeteiligten
Betrachters, das vor allem Husserls frühe Beschreibungen kennzeichnet, soll
jedoch der Bezug von erlebter Erfahrung und Reflektion betont werden: Es wird
2.4 · Phänomenologische Methode nach Husserl
89 2
ein ständiger Wechsel von Erleben und Reflektion angestrebt, nicht jedoch zwei
strikt getrennte Ebenen. Dabei muss sich die Reflektion immer drüber bewusst
sein, dass sie bereits eine vor-reflektive Welt, Sinn und Subjekt voraussetzt. Der
thematisierten Erfahrung geht daher immer schon eine noch ‚stille Erfahrung‘,
dem cartesianischen ‚ausgesprochenen‘ Cogito ein unausgesprochenes Cogito
voraus (s. Vertiefungskasten „Merleau-Ponty und das Problem der Reflektion“).

Hermeneutische Phänomenologie Hierbei verschieben sich die Perspektiven und


Schwerpunkte sowie die Methoden der Phänomenologie. Sind die Münchner
Phänomenolog:innen zu Lebzeiten Husserls Verfechter einer realistischen
Phänomenologie, die sich gegen eine transzendental subjektive Analyserichtung
auf die Beschreibung des Wesens der Sachen fokussiert, orientieren sich einige an
einer existentiell oder hermeneutisch ausgerichteten Phänomenologie. Während
die existentielle Phänomenologie (Merleau-Ponty, Sartre und Beauvoir sowie
Heideggers frühe hermeneutische Phänomenologie) sich nicht mehr auf das er-
kennende Bewusstsein, sondern die leibliche Existenz, das In und Zur-Welt-sein,
oder die konkrete Situierung des Subjekts beziehen und sich die Beschreibung hier
von einer reflektiven hin zum Versuch einer direkten Beschreibung verschiebt; ent-
wickelt sich insbesondere in der Hermeneutik mit und nach Heidegger, z. B. bei
Hans-Georg Gadamer und Paul Ricœur, ein verstehender Ansatz, der weniger am
unmittelbaren Erleben und seiner Beschreibung, sondern am (sprachlichen oder
symbolischen) Ausdruck und seiner Interpretation interessiert ist (vgl. Tengelyi
2007). Unter Ausdruck werden dabei sowohl textuelle Überlieferungen als auch
Symbole, Mythen oder Kunstwerke verstanden. Hierbei geht es um einen indirekt
– also über die Interpretation – zu erschließenden Sinn, wie das folgende Zitat von
Hans-Georg Gadamer gut zusammenfasst:
» Was der Ausdruck ausdrückt, ist eben nicht nur das mit ihm Gemeinte, sondern
vorzüglich das, was in solchem Meinen und Sagen mit zum Ausdruck kommt, ohne
daß es zum Ausdruck gebracht werden soll, also das, was der Ausdruck sozusagen
‚verrät‘. In diesem weiten Sinne umfaßt der Begriff ‚Ausdruck‘ weit mehr als den
sprachlichen Ausdruck. Er umfaßt vielmehr alles, hinter das zurückgegangen werden
muß, wenn man dahinter kommen will, und was zugleich so ist, daß es ermöglicht,
hinter es zurückzugehen. Interpretation meint hier also nicht den gemeinten,
sondern den verborgenen und zu enthüllenden Sinn. (Gadamer 2010 [1960], S. 318)

Als Begründer einer solchen phänomenologischen Hermeneutik stand schon


Martin Heidegger der reflektiven Distanznahme der phänomenologischen Be-
schreibung von Beginn an kritisch gegenüber. Seine hermeneutische Phänomeno-
logie geht davon aus, dass wir uns überhaupt nur mit so etwas wie dem Sein und
unserer Erfahrung beschäftigen können und wollen, weil wir eben selbst zu diesem
Sein (als Dasein) gehören (Heidegger 1977 [1927]). Der Mensch als in-der-Welt-
seiender kann demnach nicht hinter seinen implizit gegebenen Verständnishorizont
zurückgehen. Wir können nur versuchen diesen Verständnishorizont selbst zu ver-
stehen und seine einzelnen Momente aufzuweisen. Dieses Verstehen ist dabei not-
wendigerweise zirkelhalft, da das Einzelne nur in Bezug zum Ganzen Sinn macht,
und das Ganze sich wiederum nur im Einzelnen zeigt. So fragen wir nach unserem
90 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

Sein, da es uns betrifft und wir bereits eine Ahnung von seinem Sinn haben,
jedoch diesen Sinn im Einzelnen noch nicht verstehen oder explizieren können.
Hermeneutische Ansätze bei Paul Ricœur und Hans-Georg Gadamer setzten sich
2 im Anschluss mit der Zeitlichkeit und Horizonthaftigkeit des Verstehens sowie der
Zeitlichkeit und Narrativität der subjektiven Identität auseinander.
Das Ziel der Phänomenologie verlagert sich in diesem Sinne von einer
strengen Wissenschafts- und Letztbegründung hin zu der Sichtbarmachung
der Ambiguität, Situierung, Endlichkeit und Verletzlichkeit der menschlichen
Existenz einerseits und der Interpretation oder gar Enthüllung des ‚verborgenen
Sinnes‘ menschlichen Ausdrucks in seiner geschichtlichen Vielfalt andererseits.
Allen diesen Ansätzen, die sich noch auf ihre phänomenologischen Wurzeln be-
rufen und die Beschreibung zu ihrem Ausgang nehmen, ist das Ethos der Husserl-
schen ‚Selbstverantwortlichkeit‘ gemein, das besagt, dass man nur dasjenige gelten
lassen kann, was man selbst in der Erfahrung, Reflektion und im Abgleich mit
Anderen als evident ausweisen kann.

Zur Vertiefung
Merleau-Ponty und das Problem der Reflektion

Immer dann, wenn ich mich reflektierend dass die wichtigste Einsicht, die uns
und denkend auf mich selbst be- die transzendentale Reduktion bieten
ziehe, setzt dies ein bereits existierendes kann, die Unmöglichkeit ihrer voll-
und implizit operierendes Subjekt ständigen Ausführung ist (Merleau-
voraus. Mit Bezug auf Descartes be- Ponty 1966, S. 11). Hiermit meint
tont daher Merleau-Ponty, dass jedem Merleau-Ponty jedoch den methodischen
ausgesprochenen oder gedachten Ego Schritt der Epoché und nicht so sehr
ein stummes oder nicht gewusstes Ego die Reduktion auf die konstitutiv not-
vorausgeht. Die Situiertheit und die wendigen subjektiven Strukturen. Weder
passiven Bestimmungen des Subjekts können wir uns von allen lebenswelt-
(biologische Dispositionen, kulturelle lichen Bindungen und Motivationen los-
und soziale Einflüsse, Gewohnheiten) lösen, diese einfach neutralisieren oder
machen es dabei laut Merleau-Ponty un- als unbeteiligter Zuschauer thematisieren,
möglich, all diese Aspekte reflektierend noch lässt sich die Bestimmung der not-
einzuholen. Eine vollständige Ein- wendigen konstitutiven Bedingungen
klammerung aller Vorannahmen wird von den jeweils faktisch existierenden
in der Epoché angestrebt, ist aber eine Umständen gänzlich trennen. Merleau-
Illusion. Dabei ist Merleau-Pontys Ponty betont daher die Verflechtung von
existenzielle Phänomenologie inso- Faktizität und Eidetik sowie von Faktizi-
fern transzendental, als sie auf die Be- tät und transzendentalem Zurückfragen.
dingungen der Möglichkeit der Er- Hier stimmt er mit Heidegger überein,
fahrung zurückfragt und diese in der das Wesen der Subjektivität ist sein
Zeitlichkeit und damit Situiertheit der In-und-zur-Welt-sein, das jeweils jede
Subjektivität selbst findet. Im Um- epistemologische Aufklärung motiviert
kehrschluss bedeutet dies für ihn, und ermöglicht.
2.4 · Phänomenologische Methode nach Husserl
91 2
Phänomenologie ist eher Praxis als Schule Auffallend ist, dass die Phänomenologie
nach Husserl sich trotz verschiedenster Abgrenzungen, Transformationen und
Richtungsänderungen weiterhin positiv zu dem Begriff Phänomenologie bekennt.
Wie bereits Husserl und viele andere nach ihm feststellten, liegt dies daran, dass
die Phänomenologie eher eine Bewegung, eine Praxis bezeichnet, die durch ihre
Methode bzw. ihre beständige Reflektion auf ihre Methode bestimmt ist, denn
ein fest umrissenes Forschungsprogramm oder eine philosophische Schule (vgl.
Husserl, Hua IX, S. 237; Spiegelberg 1988; Merleau-Ponty 1966, S. 3).
Gemein ist allen Phänomenologietreibenden die Frage und der Auftrag einer
philosophischen Bestimmung der Erfahrung von Welt, dem Selbst und anderen
Subjekten (oder Lebewesen). Hierbei kann der Fokus auf dem Bewusstsein, dem
Subjekt, dem Leib, der Existenz, dem Sein, der Intersubjektivität, der Wahr-
nehmung oder Sprache liegen. Immer jedoch spielt dabei die sinnliche und sinn-
volle Erfahrung, allgemein die Relation bzw. Interrelation von Subjekt und
Welt, eine Rolle, sei es in der klassischen Bewusstseinsphänomenologie, der
existentiellen oder hermeneutischen Phänomenologie. Dem Aufruf ‚Zu den
Sachen selbst‘ wird so auf verschiedenste Weise gefolgt.
Dies setzt voraus, dass diese Phänomenologien sich nicht auf vorgegebene
wissenschaftliche Definitionen oder vorgefertigte Normen und Meinungen ver-
lassen, sondern versuchen, diese einzuklammern, um deren Bedeutung auf-
zuklären. Dies soll die (Grenzen der) Perspektivität der jeweiligen Erfahrung
thematisieren, um so neue und andere Perspektiven auf die Welt, Dinge, uns
selbst und Andere, möglich zu machen.

Wissenschaft und die Mathematisierung der Lebenswelt Die Phänomenologie


thematisiert die Welt dabei immer als Erfahrungsganzheit, praktischen Er-
fahrungshorizont oder Lebenswelt. Demgegenüber stellen z. B. die Naturwissen-
schaften innerhalb dieser erfahrenden Welt eine besondere Perspektive dar: Be-
stimmt man Wasser als H2O, wird die vorherige erscheinende Realität nicht
hierauf reduziert, ersetzt oder eliminiert, sondern es wird lediglich eine Be-
stimmung von Wasser in Bezug auf seine chemische Zusammensetzung hinzu-
gefügt. Dabei setzt eine solche Bestimmung die vorherige Gegebenheit, d. h. Er-
fahrung von Wasser, stets voraus. Auch danach bleibt Wasser etwas, das auf
eigene Weise sicht- und tastbar ist, jedoch nicht wie ein gewöhnlicher physischer
Gegenstand, sondern wie etwas, indem man schwimmen und das man trinken
kann. Wissenschaft nimmt insofern Idealisierung, Formalisierung, Abstraktion
oder Mathematisierung der Lebenswelt vor, die neue Perspektiven und An-
wendungen ermöglichen, aber immer auf unsere Lebenswelt und unsere Hand-
lungen gegründet sind und auf diese zurückweisen (vgl. Husserl, Hua VI;
Heidegger 1977 [1927]; Merleau-Ponty 1966). In der Phänomenologie, egal
welcher Art, werden also nicht ‚zwei Welten‘ angenommen, eine erscheinende und
eine wirkliche. Phänomenologisch betrachtet, gibt es nur eine Welt, diejenige, die
wir erfahren (vgl. Zahavi 2007, S. 15). Wahrheit, Irrtum, Evidenz, Illusion oder
Wirklichkeit müssen sich daher innerhalb der Erfahrung als solche erweisen und
ausweisen. Erst die Erfahrung, dass meine Perspektive unvollständig ist, ich mich
getäuscht habe, meine Erfahrung nicht mit anderen übereinstimmt, lässt mich
92 Kapitel 2 · Methoden der Phänomenologie

zur Einsicht kommen, dass die Wirklichkeit mehr und teilweise anders sein muss,
als dass, was ich momentan erlebe; oder dass sich meine Situation (historisch,
kulturell, sozial, materiell) von der anderer Subjekte unterscheidet. Der Unter-
2 schied zwischen Erscheinen und Wirklichkeit, Richtig oder Falsch, Normal oder
Abnormal (vgl. Canguilhem 1966; Husserl, Hua XXXVIII) entstammt also selbst
aus der Erfahrung bzw. ist ein Urteil über diese Erfahrung.

Gegenwärtige Phänomenologie und ihre ‚Sachen‘ Phänomenologische Analysen


und Konzepte wie Intersubjektivität, Intentionalität, Leiblichkeit, Zeitlich-
keit, Passivität, Affektivität und Lebenswelt werden seit Husserl aufgenommen,
weiterentwickelt, angepasst, differenziert, kritisch modifiziert und trans-
formiert. Weitere genuin phänomenologische bzw. phänomenologisch inter-
pretierte Konzepte kommen hinzu, wie das der Situation, der Freiheit (Merleau-
Ponty, Sartre, Beauvoir), des Körper-Schemas, des Fleisches (Merleau-Ponty)
oder des ‚historisch-rassischen Schemas‘ (Fanon 1952). Neben klassischen text-
und autorbasierten Studien, widmet sich die gegenwärtige phänomenologische
Forschung wieder vermehrt und dabei interdisziplinär den ‚Sachen‘. Beschrieben
und analysiert werden Gefühle und Emotionen, Wir-Intentionalität, gemeinsame
Handlung, Praxis und Sozialität, Faktizität und Wahrheit, Imagination,
Normativität der Erfahrung, Abnormalität und Krankheit.
Der klassischen Phänomenologie stehen dabei spezifische Ausprägungen
und Anwendungen zur Seite, die die ‚Sachen‘ in politische und historische
Kontexte rücken, interdisziplinär anwenden (Pflegewissenschaft, Sportwissen-
schaft, Psychiatrie, Neurowissenschaft), phänomenologische Beschreibungen
sachlich erweitern und kritisch auf vorschnelle Wesensbeschreibungen oder All-
gemeinaussagen blicken (Feministische Phänomenologie, Sozialphänomeno-
logie, Kritische Phänomenologie, Post-Phänomenologie, Disability Studies, Post-
kolonialismus und Critical Race Studies). Was all diese unterschiedlichen An-
sätze trotz ihrer Kritik an der klassischen Phänomenologie des Bewusstseins (und
deren Subjektzentriertheit) eint und zu genuin phänomenologischen Ansätzen
macht, ist die Überzeugung, dass eine philosophische und kritische Beschreibung
und Analyse der subjektiven Erfahrung unerlässlich ist, wollen wir uns Menschen
im Bezug zu unserer Welt und unseren Lebensumwelten verstehen oder gar ver-
ändern (zu den unterschiedlichen Ansätzen s. auch 7 Kap. 3).

Beschreibung – eine unablässige phänomenologische Arbeit Dem Duktus der


akribischen und differenzierten Arbeit der Beschreibung bleibt die Phänomeno-
logie zu Lebzeiten Husserls und nach seinem Tod 1938 trotz einiger tief-
greifender Veränderungen ihrer Fragestellungen und Ausrichtung bis heute treu.
Zeitgenoss:innen, nachfolgende und gegenwärtige Phänomenolog:innen aus aller
Welt nehmen diese Aufgabe in verschiedenster Weise auf und versuchen, die Er-
fahrung der Welt, von sich selbst und anderen so vorurteilsfrei, differenziert,
offen, so angemessen und kritisch wie möglich zu beschreiben und zu erfassen.
Der Versuch, unserer Erfahrung wissenschaftlich und aus reflektiver Distanz
oder aber involviert und engagiert sowie vermehrt auch kritisch und politisch
Literatur
93 2
(Weiss et al. 2019; Bedorf/Herrmanns 2019) gerecht zu werden, ist es denn auch,
was alte und neue, klassische und kritische, philosophische und nicht-philo-
sophische (psychologische, soziologische, medizinische, neurowissenschaftliche)
Phänomenologie eint.

Literatur
Im Text werden die verwendeten Bände der Gesammelten Werke von Husserl (Husserliana) nur mit
der Sigle Hua und der Bandnummer angegeben. Die einzelnen Bände werden immer in der
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Phänomenologie
in Aktion
Inhaltsverzeichnis

3.1 Phänomenologie konkret – 101


3.1.1 Kritische Phänomenologie – 103
3.1.2 Postphänomenologie (Technikphilosophie) – 115

3.2 Phänomenologie interdisziplinär – 122

3.3 Phänomenologie in anderen Disziplinen – 136


3.3.1 Phänomenologie und qualitative Forschung – 142
3.3.2 Phänomenologie und quantitative Forschung – 152

3.4 Zurück zur Erfahrung: Methode als Projekt – 168

Literatur – 170

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2022


M. Wehrle, Phänomenologie,
Philosophische Methoden, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05778-5_3
100 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Was tun wir, wenn wir Phänomenologie betreiben? Dies lässt sich mit Blick auf
die historische und gegenwärtige Phänomenologie so zusammenfassen: Wir
beschreiben typische Erfahrung von konkreten, situierten und historischen
Individuen oder Gruppen und versuchen dabei, die allgemeinen Strukturen dieser
besonderen Erfahrung oder aber jeder möglichen Erfahrung überhaupt zu er-
fassen. Wir sind dabei gerichtet auf die jeweilige Erfahrung der Dinge oder auf
3 die Art und Weise des Erfahrens selbst. Wir analysieren dabei jeweils eine der
beiden Seiten, z. B. das Erfahrene oder die Erfahrung einzeln oder in ihrer not-
wendigen Zusammengehörigkeit. Philosophisch fragen wir dabei zurück nach den
formalen und genetischen Bedingungen der Möglichkeit dieser spezifischen Er-
fahrung oder von Erfahrung überhaupt.
Um gegenwärtig, relevant, aber auch gültig zu bleiben, muss die Phänomeno-
logie ihre Beschreibungen und Bestimmungen, d. h. ihre Praxis, beständig an-
hand von aktuellen Erfahrungen erweitern und prüfen. Merleau-Ponty betont
dies in seinem Vorwort zur Phänomenologie der Wahrnehmung (1966), das eigent-
lich eher ein phänomenologisches Manifest und ein leidenschaftliches Plädoyer
für die Methode der Phänomenologie darstellt. Er bezieht sich hierbei direkt
auf Husserl, wenn er die methodischen Schritte der Phänomenologie als Be-
schreibung, Eidetik und transzendentale Befragung identifiziert. Über Husserl
hinausgehend, versteht er diese methodischen Schritte als Teil einer notwendig si-
tuierten und engagierten Phänomenologie.
Mit Husserl betont er, dass für die phänomenologische Beschreibung eine ge-
wisse Distanz bzw. „ein Bruch in unserem Vertrautsein mit der Welt“ (Merleau-
Ponty 1966, S. 11) notwendig ist, hält die Idee eines uninteressierten Beobachters
bzw. einer vollständigen Vorurteilslosigkeit jedoch für illusorisch. Weiter macht er
deutlich, dass Phänomenologie nicht ohne eine Bestimmung des Allgemeinen bzw.
Eidetik auskommt, d. h. eine Erfassung der Sachverhalte, Strukturen oder Dinge,
die über spezifische Kontexte und Zeiten hinausgeht; weist jedoch darauf hin,
dass die Bestimmung solcher allgemeinen Wesen an das gebunden bleiben muss,
was ist: das Wesen bekommt damit den Status eines immer nur vorläufigen und
potentiell vorübergehenden Apriori. Zuletzt unterstreicht er, dass die transzenden-
tale Rückfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung unablässig
ist für eine phänomenologische Philosophie; zeigt jedoch, dass gerade diese Rück-
frage zur Einsicht führt, dass unser konkretes In-der-Welt-sein, unsere zeitliche,
räumliche, und kulturelle Situierung notwendig sind für Erfahrung wie Erkennt-
nis.

Phänomenologie als gelebte Praxis Phänomenologie ist bei Merleau-Ponty also


definiert als eine Methode, die sich an den zu untersuchenden Sachen orientieren
und beweisen muss. Phänomenologie ist daher nie nur Theorie, sondern vor allem
eine gelebte Praxis (vgl. Depraz 2012). Eine Praxis, deren Methode(n) sich be-
ständig in der Auseinandersetzung mit ihren Untersuchungsgegenständen an-
passen, legitimieren und optimieren müssen. Der letzte Teil dieser Einführung be-
fasst sich daher mit der gegenwärtigen Phänomenologie in Aktion, um von da
aus der Frage nachzugehen, was tun Forschende heute, wenn sie ­Phänomenologie
3.1 · Phänomenologie konkret
101 3
betreiben? Dabei sollen folgende Anwendungen der Phänomenologie unter-
schieden werden.
Im ersten Teil, Phänomenologie konkret, werden exemplarisch gegenwärtige
phänomenologische Strömungen innerhalb der Philosophie vorgestellt, die alle-
samt eine, in Merleau-Pontys Worten, situierte Phänomenologie repräsentieren.
Situiert bedeutet, dass sie sich mit konkreten gesellschaftlichen und kulturellen
Gegenständen (Technik), Umständen und Problemen (Unterdrückung, Rassis-
mus) deskriptiv und kritisch auseinandersetzen. Diese Ansätze verbinden ver-
schiedene geistes- und sozialwissenschaftliche Perspektiven und integrieren zum
Teil empirische Forschung zum Thema.
Im zweiten Teil, Phänomenologie interdisziplinär, stehen phänomenologische
Forschungen im Mittelpunkt, die a) für die Beschreibung und Bestimmung
ihrer Untersuchungsgegenstände (z. B. Zeitlichkeit, Leiblichkeit, Selbst- oder
Weltbewusstsein) empirische Ergebnisse und Fallstudien heranziehen oder
b) qualitative Forschungsmethoden in die phänomenologische Forschung
integrieren.
Im dritten Teil, Phänomenologie in anderen Disziplinen, geht es um den Ein-
fluss der Phänomenologie auf andere Disziplinen, wie z. B. Psychiatrie, Sozio-
logie, Pflegewissenschaften oder Neurowissenschaften. Hierbei wird der Nutzen
sowie mögliche Probleme der Anwendung phänomenologischer Methoden und
Konzepte in qualitativer Forschung, Pflege und Therapie sowie als Ergänzung zu
quantitativer Forschung diskutiert.

3.1  Phänomenologie konkret

Besonders seit den 1980er Jahren haben sich verschiedene gegenwärtige


Strömungen der Phänomenologie entwickelt, die auf verschiedene Weise an
die klassische Phänomenologie anknüpfen, sich aber auch zum Teil dezidiert
gegen diese abgrenzen, wie etwa die Postphänomenologie oder die kritische
Phänomenologie. Darüber hinaus knüpft die gegenwärtige Phänomenologie viel-
fältig an andere philosophische Positionen an, wie die Philosophie des Geistes,
Kognitionswissenschaft, Soziologie, Poststrukturalismus und Politische Theorie,
um nur einige zu nennen, und bezieht sich vermehrt auf empirische Forschungen
und Fallstudien. Trotz aller Unterschiede, Abgrenzungen und Divergenzen
zwischen diesen Bewegungen oder in Bezug auf die historische oder klassische
Phänomenologie teilen sie denselben Untersuchungsgegenstand bzw. dieselben
Forschungsfragen: Wie erfahren und erschließen Subjekte allgemein oder speziell
sich selbst und die Welt, und was sind die allgemeinen, besonderen, notwendigen
oder kontingenten Bedingungen dieser Erfahrung und dieses Verstehens?
Während bei allen Ansätzen die Beschreibung der Erfahrung den Ausganspunkt
darstellt, lassen sich ferner drei Untersuchungsebenen unterscheiden (vgl.
Fernandez 2017):
102 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

5 Erstens, die allgemein philosophische Frage nach den notwendigen oder allge-
meinen Strukturen der Erfahrung, der Kognition oder des Seins überhaupt.
Dies entspräche theoretisch einer transzendentalen oder einer allgemein onto-
logischen Fragestellung. Phänomenologische Untersuchungen dieser Ebene
wollen die Struktur der menschlichen Existenz im Allgemeinen bzw. den
Rahmen, durch den uns jegliche Bedeutung offenbart wird, freilegen.
3 5 Zweitens, die Frage nach spezifischen Formen und Ausprägungen der konkret si-
tuierten Erfahrung. Diese Untersuchungsebene richtet sich auf die konkreten
Modi und Situierung der Erfahrung, d. h. die unterschiedlichen Arten und
Weisen, wie die Welt jeweils erfahren oder erschlossen werden kann (z. B. in
verschiedenen materiellen Umständen, sozialen Kontexten oder historischen
Zeiten).
5 Drittens, der erkenntniskritische Anspruch der Vorurteilslosigkeit. Dabei wird
versucht, die gewünschte Vorurteilslosigkeit durch entsprechende methodische
Vorkehrungen zu gewährleisten, kritisch auf subjektive Gewohnheiten, Vor-
urteile und Vorannahmen zu reflektieren, oder grundlegend diskutiert, in-
wiefern Vorurteilslosigkeit möglich ist.

Grundlegende und angewandte Debatten Innerhalb der philosophischen Phäno­


menologie lassen sich dabei grundlegende und angewandte Debatten unter-
scheiden. Debatten zur Grundlegung der Phänomenologie befassen sich all-
gemein mit den Zielen, Methoden und dem Gegenstand der Phänomenologie.
Angewandte Debatten befassen sich dagegen typischerweise mit der Beschreibung
von bestimmten Merkmalen oder Aspekten der menschlichen Existenz. Letzteres
kann sich auf allgemeine Strukturen oder Bedingungen der menschlichen
Existenz beziehen (erste Ebene) wie etwa die Leibkörperlichkeit oder Inter-
subjektivität. Konkrete Untersuchungen richten sich hingegen auf spezifische
Merkmale der menschlichen Existenz, etwa diejenigen, die im phänomeno-
logischen Kanon ignoriert oder heruntergespielt wurden, wie Geschlecht (Oksala
2016; Young 2005), sexuelle Orientierung (Ahmed 2006) oder Herkunft (‚race‘)
(Alcoff 2006; Lee 2014).
Heute fällt die meiste phänomenologische Forschung in die Kategorie der
angewandten Phänomenologie (mit Ausnahme der historischen Forschung zur
Phänomenologie und phänomenologischer Beiträge zu theoretischen Debatten
der Philosophie des Geistes und der Wahrnehmung). Das bedeutet jedoch
nicht, dass nicht auch grundlegende Fragen und Kritik in diese Diskussionen
mit einfließen. So kann die konkrete Untersuchung von Aspekten menschlicher
Existenz, die in den kanonischen Texten ignoriert wurde, grundlegende Fragen zu
Zielen, Methoden und Themen aufwerfen, die in früheren Arbeiten übergangen
wurden (Oksala 2016) oder aber die Bestimmung von vermeintlich eidetischen
oder wesentlichen Strukturen der Existenz infrage stellen. Im Folgenden werden
zwei Richtungen gegenwärtiger Phänomenologie beispielhaft vorgestellt. Trotz
aller Unterschiedlichkeit treffen wir in den genannten Richtungen auf die drei
unterschiedenen methodischen Aspekte 7 Kap. 2): Vorurteilslos beschreiben, das
Allgemeine, Typische oder Spezifische bestimmen und nach den (allgemeinen oder
historischen) Bedingungen zurückfragen.
3.1 · Phänomenologie konkret
103 3
3.1.1  Kritische Phänomenologie

Viele gegenwärtige phänomenologische Beschreibungen knüpfen zwar an


die Methoden, Konzepte und Ergebnisse der historischen oder klassischen
Phänomenologie an, entwickeln diese jedoch kritisch weiter, indem sie:
a) den Fokus und die Themen der Beschreibung verschieben von vermeintlich
allgemeinen oder exemplarischen Erfahrungen hin zu bisher unbemerkten,
marginalisierten oder spezifischen Erfahrungsformen und -gegenständen,
b) anhand dieser Verschiebung auf bisher nicht berücksichtigte Erfahrungen die
geforderte Vorurteilslosigkeit der Beschreibung kritisch zum Thema machen,
c) anhand der konkreten Beschreibungen und Fallbeispiele den Status der ver-
meintlich allgemeinen und transzendentalen Bestimmung von Erfahrungs-
strukturen einer kritischen Prüfung unterziehen,
d) zurück fragen nach den konkreten, d. h. den historischen und materiellen, Be-
dingungen dieser spezifischen Erfahrungen.

Nach dem Vorbild von Simone de Beauvoir (und Merleau-Ponty) lässt sich dies
als eine situierte und engagierte Phänomenologie verstehen, die die Erfahrungen
konkreter Subjekte oder Subjektgruppen beschreibt, wie z. B. der Frauen in der
patriarchialischen Gesellschaft im Frankreich der 1940er Jahre (Beauvoir 1949),
und dabei nach den materiellen und historischen Umständen und Möglichkeits-
bedingungen ihrer Erfahrungen fragt. Dabei geht es dann nicht mehr um die
Möglichkeit von Erfahrung überhaupt, sondern um die praktischen Möglich-
keiten und Unmöglichkeiten der Erfahrung dieser bestimmten situierten
Individuen.

Genetische und genealogische Beschreibung Hierbei handelt es sich, entweder


um eine konkrete genetisch-phänomenologische Untersuchung (nach den
individuellen Entwicklungen und Bedingungen im jeweiligen Subjekt) oder um
eine genealogische Untersuchung (nach den externen historischen und materiellen
Bedingungen). Beides lässt sich als eine konkrete Form der Erkenntniskritik ver-
stehen. Die genealogische Analyserichtung zielt dabei nicht auf individuelle
Faktoren (vergangene Erfahrungen, individuelle Entwicklungen und Gewohn-
heiten), sondern auf soziale Umstände, Strukturen, Diskurse oder Macht-
relationen im Sinne von Michel Foucault (vgl. Oksala 2016; Heyes 2020). Bei
beiden steht die Frage nach den Bedingungen und Grenzen der jeweiligen Er-
fahrung im Zentrum.
Ansätze wie die gegenwärtig populäre kritische und politische Phänomeno-
logie verbinden dabei deskriptiv phänomenologische Beschreibungen der Er-
fahrung aus der Innenperspektive mit einer genealogischen Bestimmung aus
der Außenperspektive. Ersteres beschreibt Erfahrung und Handlung aus der
Erste-Person-Perspektive, d. h. wie eine bestimmte Situation von Subjekten er-
lebt wird, wie Subjekte in dieser Situation handeln, interagieren und so Sinn
konstituieren. Letzteres beschreibt materielle, historische, soziale oder diskursive
Faktoren, die vorab die Rahmenbedingungen bestimmen, welche Ausdrucks-
formen von Subjektivität überhaupt möglich sind und gelebt werden können.
104 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Mit M­ erleau-Ponty gesprochen, bezieht sich die genealogische Perspektive auf


den Umstand des Situiert-seins in der Welt, die durch materielle, natürliche, bio-
logische Faktoren genauso wie durch Sprache, Kultur und soziale Normen
konkret bestimmt ist, bevor wir in sie hinein geboren werden. Während die
phänomenologische Perspektive sich auf das aktive In-Situation-sein der leib-
lichen Subjekte bezieht, d. h. darauf wie diese Subjekte ihre Situierung jeweils
3 aufnehmen, sich zu ihr verhalten, diese formen und verändern. Dezidiert kritische
oder politische phänomenologische Ansätze gehen dabei über eine rein deskriptiv
(beschreibende) Ebene hinaus und wollen die phänomenologische Beschreibung
mit normativen Fragestellungen verbinden.

Politische Phänomenologie Die politische Phänomenologie (vgl. Leghissa/


Staudigl 2007; Bedorf/Herrmann 2019) verortet sich dabei als Teilbereich der
politischen Theorie bzw. möchte die Relevanz des phänomenologischen An-
satzes für die politische Theorie hervorheben und etablieren. Sie betrachtet
dabei einerseits das ‚Politische‘ phänomenologisch und identifiziert anderer-
seits relevante politische Konzepte in der historischen Phänomenologie. Dies be-
trifft etwa Fragen danach, warum Politik überhaupt notwendig wird und wie
diese in der intersubjektiven Erfahrung entsteht, oder was eine politische Er-
fahrung oder Handlung jeweils ausmacht. Kurzum: Wann, warum und wie wird
Erfahrung politisch oder bekommt politische Relevanz (politische Erfahrung)?
Gibt es typische politische Seinsweisen oder Seinsbereiche (politische Ontologie)?
Politische Phänomene sollen dabei im Hinblick auf Begriffe wie Intersubjektivi-
tät, Sinnkonstitution, Erscheinung, Existenz, Weltlichkeit etc. analysiert werden.
Zugleich wird geprüft, inwiefern verschiedene Paradigmen der methodischen
Reflexion in der Phänomenologie für die Annäherung an das Politische relevant
sind. Dazu gehört etwa die Untersuchung von eidetischen Strukturen und Er-
fahrungstypen, die hermeneutische Analyse unseres In-der-Welt-seins als Ganzes
und genetische Analysen, die es erlauben, die soziale und historische Situiert-
heit des Selbst, der Anderen und der Welt aufzudecken, um den Raum der Er-
fahrung selbst als Ergebnis politischer Kämpfe zu verstehen. Hierbei spielen z. B.
politische Philosoph:innen wie etwa Hannah Arendt eine zentrale Rolle, deren
phänomenologische Ausrichtung und Relevanz mehr und mehr deutlich wird
(Loidolt 2017).

Kritische Phänomenologie Die kritische Phänomenologie (vgl. Weiss et al. 2019)


versteht sich in ihrer Kritik ebenfalls als politisch. Sie setzt es sich etwa zum Ziel,
den Kanon an Autor:innen und Konzepten in der klassischen Phänomenologie zu
erweitern, indem sie bisher marginalisierte Formen von Erfahrung in den Vorder-
grund rückt. Hiermit sollen wiederum die (impliziten) Annahmen der klassischen
Phänomenologie, ihre Methoden, Konzepte und allgemeinen Beschreibungen auf
den Prüfstand gestellt werden. Dies betrifft z. B. die Frage, ob die als allgemein
bestimmten Aspekte der Leiblichkeit (bei Husserl und Merleau-Ponty) wirklich
alle möglichen leiblichen Subjekte und Umstände einschließen oder lediglich eine
partielle Sicht widerspiegeln, die zum Zeitpunkt der Bestimmung als unhinter-
fragte Norm (Standard) galt (hierzu 7 Abschn. 2.2, Kritik am Essentialismus).
3.1 · Phänomenologie konkret
105 3
Die kritische Phänomenologie verbindet dabei theoretische Kritik mit
politischem Aktivismus. Beschreibungen von Unterdrückung, Gewalt, und Dis-
kriminierung sollen dabei den marginalisierten Subjekten und ihren Erfahrungen
Gehör und Sichtbarkeit verschaffen, indem sie diese Zustände anprangern und zu
Veränderungen motivieren. Sie greift dabei auf Beschreibungen und allgemeine
Konzepte der ‚historischen‘ Phänomenologie zurück, wie etwa bei Husserl (z. B.
Leib-Körper Differenz, Intentionalität, Horizont- und Lebensweltbegriff, Räum-
lichkeit, Zeitlichkeit), Heidegger (z. B. Zu-/Vor-handenheit der Dinge, Zur-
Welt-sein als Sorge, Verstehen oder Befindlichkeit, Zeitlichkeit und Räumlich-
keit des Daseins), Merleau-Ponty (Körperschema, habitueller und aktueller
Leib, intentionaler Bogen, motorische Gewohnheit, situierte Räumlichkeit) und
Sartre (z. B. Existenz, Situation, Für-sich/An-sich/Für-andere Sein, Analyse des
objektivierenden Blickes). Diese Konzepte werden mit diskursorientierten oder
soziologischen Ansätzen verbunden, erweitert, oder modifiziert.

Phänomenologie des Fremden und feministische Phänomenologie Lange vor der


Etablierung einer dezidiert ‚kritischen Phänomenologie‘ wurde in Deutsch-
land schon von Bernhard Waldenfels und seinen Schülerinnen und Schülern
die Phänomenologie in einen fruchtbaren Dialog gebracht mit postmodernen
Theorien, wie etwa die von Jacques Derrida, Michel Foucault u. a. (vgl.
Waldenfels 1983; 1987). In seiner Phänomenologie des Fremden entwickelt
Waldenfels inspiriert durch Husserl, Merleau-Ponty, Michel Foucault und vor
allem Emmanuel Levinas, eine dezidiert kritische und ethische Phänomenologie
der Responsivität. Hier werden etwa Fragen der Ordnungsbildung, der Normali-
tät, Normierung und Ausgrenzung behandelt (vgl. Waldenfels 1990; 1994; 1997–
1999). Auch die feministische Phänomenologie, die sich in den 1990er Jahren aus-
bildete, versucht, die Perspektive der Erfahrung und Leiblichkeit innerhalb der
Feministischen Philosophie sowohl stark zu machen, als auch einer kritischen
Analyse zu unterwerfen (vgl. Stoller/Vetter 1997; Fisher/Embree 2000; Stoller/
Vasterling/Fisher 2005; Landweer/Marcinski 2016).
Als Beispiele einer kritischen Phänomenologie gelten ebenfalls die konkreten
Erfahrungs- und Diskursanalysen von Simone de Beauvoir über die Situation der
Frau in das Andere Geschlecht (Beauvoir 1949 [1992]; Le Deuxième Sexe, 1949),
Frantz Fanons eindringliche Beschreibung der Erfahrung des kolonialisierten
Subjekts in Schwarze Haut, weiße Masken (Fanon 1985 [1952]) sowie Iris
Marion Youngs kanonischer Aufsatz Werfen wie ein Mädchen (1993 [1980]). All-
gemeine Bestimmungen der Strukturen des Bewusstseins oder des Seins werden
hier anhand von konkreten Erfahrungen auf ihre vermeintliche Allgemeinheit
oder Neutralität geprüft. Wie verhält es sich etwa mit Sartres allgemein onto-
logischer Bestimmung des Für-andere-Sein, welches sich für jedes Subjekt in der
objektivierenden Funktion des Blickes des jeweils anderen Subjektes ausdrückt?

Die Gewalt des Blickes Durch den Blick des Anderen werden wir uns bewusst,
dass die Welt nicht nur für-uns existiert, sondern auch für andere Subjekte.
Zugleich geht hiermit ein explizites Objektbewusstsein oder thetisches
106 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

­ elbstbewusstsein einher, wie Sartre es nennt. Dabei erfahren wir uns als Objekte
S
in dieser Welt, auf die man sich richten kann, die gesehen und beurteilt werden.
Was wir sind (unsere Eigenschaften, unser Wert), wird dabei primär durch andere
Subjekte bestimmt. Wir sind auf ihre Erkennung und Anerkennung angewiesen.
Soweit so gut. Aber wie sieht dieser scheinbar neutrale Umstand in der erlebten
Erfahrung von ‚people of colour‘ aus, als Franzose mit dunkler Hautfarbe im
3 Kontext der französischen (post-)kolonialen Gesellschaft? Im Kapitel mit dem
Namen ‚die erlebte Erfahrung des Schwarzen‘ nimmt Fanon uns mit in seine Er-
lebnisperspektive: Beginnend mit dem Ausruf ‚Dreckiger N…‘ beschreibt er, was
dieser Blick, diese unmittelbare Zuschreibung für ihn bedeutet. Zunächst ver-
sucht er noch die Zuschreibung von sich zu weisen. Als dies nicht gelingt, schlägt
er den Weg der rationalen Argumentation ein, um seine Gleichwertigkeit und
damit seinen Subjektstatus zu verteidigen. Als auch dies scheitert, genauso wie
der Versuch eine positive Gegenidentität zu etablieren, kapituliert er zuletzt unter
der Last der Fremdbestimmung. In dieser intensiven Beschreibung wird schmerz-
lich bewusst, dass die von Sartre beschriebene Subjekt-Objekt-Relation weder
reziprok noch neutral ist, sondern abhängig von den jeweiligen Machtverhält-
nissen.
Nicht jedes konkrete Subjekt hat also in der gleichen Weise die Möglich-
keit, den Anderen zu objektivieren und damit mitzubestimmen, was der andere
ist (welche Eigenschaften er als Objekt oder Sein hat). Und nicht jeder Körper
hat die Möglichkeit, dieser Objektivierung, diesem Blick zu entkommen, indem
er seine Subjektposition ergreift und zurückblickt. Dem kolonialisierten Subjekt
wird der Subjektstatus gänzlich abgesprochen, es bleibt Objekt. Diese dauerhafte
Objektivierung zeigt sich in einem Verlust der Selbstverständlichkeit. Fanon be-
schreibt, wie eigentlich banale Alltagshandlungen beständige Aufmerksamkeit
und Reflektion erfordern, da er nicht auffallen, als anders oder gar gefährlich
gelten will. Hiermit einher geht ein Verlust an Individualität, da das Subjekt auf
seine Hautfarbe, Rasse oder Gruppenzugehörigkeit reduziert wird. Seine Identi-
tät kann er somit nicht selbst entwickeln oder verändern, sie wird vorab vom
kolonialen Anderen bestimmt, also z. B. durch die damalige westliche Anthropo-
logie und Geschichtsforschung, die ‚people of colour‘ als primitiv und minderent-
wickelt bestimmt.

► Beispiel – Der koloniale Blick

» Dreckiger Neger! Oder einfach: Sieh mal, ein Neger! Ich kam auf die Welt,
bemüht den Sinn der Dinge zu ergründen […], und dann entdeckte ich mich als
Objekt inmitten anderer Objekte. […][D]er andere fixiert mich durch Gesten,
Verhaltensweisen, Blicke, so wie man ein Präparat mit Farbstoff fixiert. […]
Und dann geschah es, daß wir dem weißen Blick begegneten. Eine ungewohnte
Schwere beklemmte uns. Die wirkliche Welt machte uns unseren Anteil
streitig. In der weißen Welt stößt der Schwarze auf Schwierigkeiten bei der
Herausbildung seines Körperschemas. Die Erkenntnis des Körpers ist eine
rein negierende Tätigkeit. Eine Erkenntnis in der dritten Person. Rings um
den Körper herrscht eine Sphäre der sicheren Unsicherheit. Ich weiß: wenn ich
3.1 · Phänomenologie konkret
107 3
rauchen möchte, muß ich den Arm ausstrecken und nach dem Päckchen greifen,
das am anderen Ende des Tisches liegt. Die Streichhölzer dagegen sind in der
linken Schublade, ich muß mich etwas zurücklehnen. Und alle diese Gesten
mache ich nicht aus Gewohnheit, sondern aufgrund einer stillschweigenden
Erkenntnis. […] Hinter dem Körperschema, hatte ich ein historisch-rassisches
Schema geschaffen. Die Elemente, die ich verwendete, waren mir nicht durch
‚Reste von Empfindungen und Wahrnehmungen […] geliefert worden, sondern
durch den anderen, den Weißen, der mich aus tausend Details, Anekdoten,
Erzählungen gesponnen hatte. […]
Mama, schau doch, der Neger da, ich hab’ Angst. […] Man fing also an sich vor
mir zu fürchten. Ich wollte mich amüsieren, bis zum Ersticken, doch das war mir
unmöglich geworden […] Das Körperschema, an mehreren Stellen angegriffen,
brach zusammen und machte einem epidermischen Rassenschema Platz. […] Ich
war verantwortlich für meinen Körper, auch für meine Rasse, meine Vorfahren.
Ich maß mich mit objektivem Blick, entdeckte meine Schwärze, meine ethnischen
Merkmale – und Wörter zerrissen mir das Trommelfell: Menschenfresserei,
geistige Zurückgebliebenheit, Fetischismus, Rassenmakel, Sklavenschiffe […]
Dabei wollte ich ganz einfach ein Mensch unter anderen Menschen sein. (Fanon
1985, S. 79–82) ◄

Existenz vor Essenz Genau wie Fanon untersucht Iris Marion Young konkrete
Formen der Intentionalität und Existenz spezifischer Subjekte, hier Mädchen im
Amerika der 1980er Jahre. Gibt es einen typisch weiblichen Bewegungsstil und
falls ja, weshalb und wodurch bildet er sich heraus? Muss man allgemeine Be-
griffe wie den der Existenz geschlechtsspezifisch denken? Bevor Young mit ihrer
Analyse der Motilität von Mädchen beginnt, definiert sie in Bezug auf Simone
de Beauvoir, was sie mit einer solchen weiblichen Existenz meint. ‚Weiblichkeit‘
ist demnach keine mysteriöse Qualität oder Essenz (im Sinne von Wesen), die
allen Frauen aufgrund ihres biologischen Frauseins zukommt: „‚Weiblichkeit‘ be-
steht vielmehr aus einer Reihe von Strukturen und Bedingungen, die die typische
Situation des Frauseins in einer bestimmten Gesellschaft abstecken, ebenso wie
auch die typische Weise, in der diese Situation von den Frauen selbst gelebt wird“
(Young 1993, S. 710).
Dies bedeutet zugleich, dass nicht notwendigerweise jede Frau ‚weiblich‘
sein muss, oder dass nur Frauen ‚weiblich‘ werfen. Die Strukturen und Ver-
haltensweisen, die jeweils als typisch für die Situation von Frauen (oder anderer
Subjektgruppen) gelten, sind also nicht a priori notwendig, sondern historisch
veränderlich und kontingent. Mit Sartre könnte man sagen, konkrete Existenz
(ihr Handeln und ihre Projekte) kommt vor der Essenz. Im Sinne von Beauvoir
muss man ergänzen, jede Existenz ist konkret situiert. Diese Situation gibt
wiederum den Rahmen und die Bedingungen dafür, was wir jeweils tun können
oder müssen. Die Situation und die damit verbundenen Tätigkeiten und Projekte
formen unsere Leibkörperlichkeit wie unseren Charakter (wer wir sind). Jedoch
kann sich diese Situation auch ändern, durch unser (Zu-)Tun oder eine externe,
strukturelle oder materielle, Veränderung. Diese veränderte Situation führt dann
wiederum zur Transformation der Existenz, indem wir andere Dinge tun bzw. tun
108 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

können. Young geht also wie Beauvoir davon aus, dass die Art und Weise, wie wir
zur-Welt-sind, unsere Existenz, maßgeblich von unserer konkreten Situation ge-
prägt ist.
Um nun das typisch weibliche Bewegungsmuster beschreiben und bestimmen
zu können, verbindet Young eidetisch allgemeine Beschreibungen der leibli-
chen Intentionalität bei Merleau-Ponty, mit der konkreten Anwendung phäno-
3 menologischer und existentialistischer Konzepte in Beauvoirs Theorie über die
Situation von Frauen. Young geht dabei mit Merleau-Ponty davon aus, dass es
eine allgemeine Beschreibungsebene gibt, die die Relation des gelebten Körpers
zu seiner Welt beschreibt und die auf jede mögliche menschliche Existenz zu-
trifft. Jedoch betont sie, dass es auf einer konkreten Ebene einen besonderen Stil
des Körperverhaltens gibt, der typisch für die weibliche (oder andere spezifische)
Existenz(en) ist; dieser Stil setzt sich für sie „aus bestimmten Modalitäten der
Strukturen und Bedingungen der Körperexistenz in der Welt zusammen“ (Young
1993, S. 711).
Beauvoirs Darstellung der Existenz der Frau in der patriarchalischen Ge-
sellschaft stellt dabei den Rahmen dieser sich ausbildenden Modalitäten dar.
Die konkrete Situation von Frauen und Mädchen ist demnach von einer grund-
legenden Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz gekennzeichnet.
Einerseits sind Frauen wie Männer charakterisiert durch ihre Transzendenz,
im Sinne einer aktiven Gerichtetheit zur Welt, in der sie frei und verantwort-
lich ihre Projekte verfolgen. Andererseits definieren die Kultur und die Ge-
sellschaft, in der die weibliche Person sich bewegt, diese Frauen gerade als das
Andere des Mannes, sein nicht essentielles Gegenstück. In dieser Hinsicht gelten
sie eher als Objekt denn als Subjekt und werden auf die Sphäre der Immanenz
reduziert, d. h. auf im Hintergrund stattfindende häusliche und versorgende Rolle
im Gegensatz zu öffentlich sichtbarem Einfluss, Mitgestaltung und kreativen
Projekten. Kulturell und sozial wird die Frau also ausgeschlossen von der
Subjektivität, Autonomie und Kreativität, obwohl dies gerade als Wesensmerk-
mal des Menschen gilt. Dieses Wesen repräsentiert in der patriarchalischen Ge-
sellschaft jedoch lediglich der Mann. Youngs These hierbei ist nun: „daß die
Modalitäten weiblicher Körperhaltung, Motilität und Räumlichkeit eben diese
Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen Subjektivität und
bloßem Objekt-Sein zum Ausdruck bringen“ (Young 1993, S. 711).

Einverleibte soziale Normen Warum und inwiefern bewegen sich Frauen und
Mädchen anders im Raum, nehmen weniger Platz ein, wahren Distanz, bewegen
sich zögerlicher, vertrauen ihren körperlichen Fähigkeiten weniger und setzen
beim Werfen nicht ihren ganzen Körper ein? Dies, so macht Young sehr eindrück-
lich deutlich, lässt sich nicht auf anatomische Gründe zurückführen, sondern ist
auch Resultat ihrer konkreten Situation mitsamt geschlechtsspezifischen Rollen,
Erwartungen, Aufgaben und Erziehung. Unser Leib, mit dem und durch den wir
in und zur Welt sind, verkörpert in konkretem Sinne immer auch die sozialen
Umstände und Normen unserer Lebenswelt, die uns durch wiederholte Einübung
in Fleisch und Blut übergegangen sind und als solche nicht mehr thematisiert
werden (vgl. Wehrle 2016; 2017).
3.1 · Phänomenologie konkret
109 3
► Beispiel – Werfen wie ein Mädchen

» Die drei Modalitäten weiblicher Motilität, die sich an der weiblichen Bewegung
ablesen lassen, sind mehrdeutige Transzendenz, gehemmte Intentionalität und nicht
kontinuierliche Einheit mit der jeweiligen Umgebung.
1. Der gelebte Körper als Transzendenz ist reine, fließende Aktion, das ständige
Ins-Leben-Rufen von Fähigkeiten, die die Welt betreffen. Statt lediglich in der
Immanenz ihren Ausgang zu nehmen, verharrt die weibliche Körperexistenz
in Immanenz oder besser: ist überdeckt von Immanenz, selbst wenn sie sich
in Bewegungen wie Greifen und etwas Handhaben auf die Welt zubewegt.
Im vorigen Abschnitt hatte ich festgestellt, daß eine Frau beim Werfen
typischerweise nicht ihren ganzen Körper zum Einsatz bringt. Sie konzentriert
die Bewegung auf einen Körperteil, während der restliche Körper relativ
unbeweglich bleibt. Das bedeutet, daß sich nur ein Teil des Körpers der
Aufgabe stellt, während der Rest in Immanenz verwurzelt bleibt.
2. Typischerweise nutzt der weibliche Körper nicht seine gesamte Kapazität,
weder die Möglichkeiten seiner physischen Größe und Stärke noch die ihm zu
Gebote stehenden Fertigkeiten und Koordinationsmöglichkeiten. Weibliche
Körperexistenz ist gehemmte Intentionalität, die sich einerseits mit einem
„Ich kann“ nach einem vorgenommenen Ziel ausstreckt und doch zugleich
andererseits ihren vollen körperlichen Einsatz diesem Ziel gegenüber mit
einem selbstauferlegten „Ich kann nicht“ zurückhält. […]
3. Die dritte Modalität der weiblichen Körperexistenz besteht darin, daß sie
sich in nicht kontinuierlicher Einheit sowohl mit sich selbst als auch mit
ihrer Umgebung befindet. Wie ich schon bemerkt habe, neigen Frauen
bei vielen Bewegungen, die, um richtig ausgeführt zu werden, des aktiven
Körpereinsatzes und der Koordination bedürfen, dazu, ihre Bewegung
nur in einem Teil des Körpers anzusiedeln und den Rest des Körpers dabei
relativ unbeweglich zu lassen. Eine solche Bewegung ist in sich selbst nicht
kontinuierlich. Der Teil des Körpers, der auf ein Ziel hin wirkt, befindet sich
nicht in Übereinstimmung mit dem Rest des Körpers, der unbeweglich bleibt.
Die ungerichtete Bewegung und die damit verschwendete Bewegungsenergie,
die sich oft bei weiblicher Tätigkeit beobachten lassen, belegen diesen Mangel
an körperlicher Einheit […].
Insgesamt haben die Modalitäten der weiblichen Körperexistenz ihren Ursprung
in der Tatsache, daß die weibliche Existenz ihren Körper eher als Ding erfährt,
ein zerbrechliches Ding, dem nachgeholfen werden muß, das angestoßen werden
muß, damit es sich bewegt, ein Ding, das existiert, indem es angeschaut wird
und jemand auf es einwirkt. Natürlich existiert jeder gelebte Körper sowohl als
materielles Ding als auch als transzendierendes Subjekt. […] In dem Maße, in
dem eine Frau ihren Körper als Ding lebt, bleibt sie in der Immanenz verhaftet,
ist gehemmt, und behält eine Distanz sowohl von ihrem eigenen Körper
als der transzendierenden Bewegung als auch vom Eingebundensein in die
Möglichkeiten der Welt. (Young 1993, S. 715–718) ◄
110 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Methodisch fungiert hierbei die allgemeine Struktur der Intentionalität der leib-
lichen Bewegung als Ausgangspunkt. Vor diesem Hintergrund wird nun gerade
die Spezifizität und Andersheit der weiblichen Subjektivierungen deutlich.
Die von Young beschriebene ‚gehemmte Intentionalität‘, die das Werfen des
Mädchens in patriarchal organisierten Gesellschaften kennzeichnet, wird also
sichtbar im Vergleich oder in Abgrenzung von zunächst allgemein bestimmten
3 Strukturen. Doch wie allgemein und wesenhaft ist Merleau-Pontys Beschreibung
des leiblichen ‚Ich-kann‘ oder Sartres Idee der Existenz als Projekt? Besteht hier
nicht das Risiko, ein typisch männliches Verhalten zur Allgemeinheit zu erheben
und das weibliche im Vergleich als Abweichung bzw. minderwertige Ausprägung
zu verstehen? Young selbst kritisiert ihre Analyse später als zu unreflektiert, da sie
eine implizite normative Wertung enthält und männliches Werfen als Norm an-
nimmt. Sind Zögerlichkeit in der Bewegung, Rücksicht auf Andere (indem frau
wenig Raum einnimmt) überhaupt allgemein als negativ zu bewerten, muss jede
Bewegung notwendig einheitlich und flüssig sein, ist jede Aufmerksamkeit auf
den Körper als Objekt problematisch? Dies muss im Einzelfall und mit Bezug auf
den jeweiligen Kontext differenziert werden.
Festzuhalten bleibt: Intentionalität, verstanden als das freie ‚Ich-kann‘ und ex-
plorierende Sich-Richten auf die Welt, ist mitnichten eine Beschreibung, die auf
alle leiblichen Subjekte zutrifft, sondern scheint eine induktive Verallgemeinerung
der konkreten Erfahrung, in diesem Fall, von phänomenologisierenden Männern
zu sein. Jedoch richtet sich die Kritik genaugenommen lediglich auf die Qualität
der jeweiligen Gerichtetheit; Intentionalität als ‚Bewusstsein von etwas‘ oder leib-
liches Zur-Welt-sein (Merleau-Ponty) als solche, die für jedes mögliche leibliche
Subjekt (oder gar Organismus) gilt, wird dabei nicht per se infrage gestellt.

Die Eidetik der gehemmten Intentionalität Die Ausführung von Intentionalität


kann demnach frei oder gehemmt sein, nicht jedoch die Tatsache (oder besser:
das Wesen), dass sich jede subjektive Erfahrung durch eine irgendwie geartete
Gerichtetheit oder einen Bezug (wie passiv oder minimal dieser auch sein mag)
auf die Welt auszeichnen muss. Gerade durch diese allgemeine Bestimmung,
lassen sich Diversitäten voneinander unterscheiden: eine möglichst ungehinderte,
freie und explorative Form auf der einen Seite, eine beinahe vollständig unter-
drückte Bewegungs- und Handlungsfreiheit auf der anderen. Ohne die An-
nahme eines solchen gemeinsamen Wesens, das natürlich ständig zu überprüfen
und gegebenenfalls anzupassen ist, ließen sich überhaupt keine Unterschiede be-
schreiben und damit auch keine Kritik formulieren. Eine minimal eidetische Be-
stimmung der Erfahrungen bestimmter Subjekte sowie ihrer Lebensumstände
ist demnach die Voraussetzung für jede Form der ethischen oder politischen Be-
wertung, wie dies etwa von der kritischen Theorie, der feministischen Theorie
sowie von der kritischen Phänomenologie gefordert wird.

Kritik der privilegierten Verallgemeinerung Jedoch lässt sich die Art und Weise
kritisieren, wie diese Konzepte und Strukturen inhaltlich beschrieben werden,
und welche Erfahrungen und Subjekte jeweils im Fokus stehen oder nur am
Rande oder gar nicht thematisiert werden. Will man allgemeine und notwendige
3.1 · Phänomenologie konkret
111 3
Strukturen und Aspekte von Erfahrung identifizieren und bestimmen, müssen
diese alle möglichen konkreten Beispiele marginalisierter, diverser oder pluraler
Erfahrung umfassen. Was sind allgemeine und notwendige Bestimmungen
und was ist nur meiner Perspektive, meinem Forschungsinteresse oder meinen
blinden Flecken zuzuschreiben? Kritische und politische Analysen erinnern die
Phänomenologie daran, ihre Vorsätze unvoreingenommenen Beschreibens ernst
zu nehmen, und zeigen ihr die Grenzen dieses Vorsatzes auf: z. B. wie sehr eigene
Selbstverständlichkeiten, Privilegien und Normen die Beschreibung und ihren
Fokus beeinflussen können.

Queere Phänomenologie Ein weiteres Beispiel, wie die Selbstverständlichkeit


der phänomenologisch-philosophischen Perspektive selbst kritisch hinterfragt
und erweitert werden kann, ist die von Sara Ahmed im gleichnamigen Buch ent-
wickelte ‚Queer Phenomenology‘ (Ahmed 2006). Ahmed nimmt sich die Ding-
und Raumbeschreibung von Husserl, Merleau-Ponty und Heidegger vor, um die
konkreten Bedingungen offenzulegen, die diesen scheinbar allgemeingültigen Be-
schreibungen zukommen. All diese Beschreibungen betonen die Bedeutung einer
Orientierung, Bekanntheit, Einstimmigkeit, Zur-Handenheit, Gewohnheit oder
gar Heimat, die eine gelungene Situierung in der Welt ausmachen. Ist die Er-
fahrung einer selbstverständlichen Orientierung und Situierung aber wirklich für
jedes Subjekt wesentlich? Welche Rolle spielen hierbei das Unstimmige, Wider-
ständige, die Desorientierung?
Anhand des Leitmotivs der Orientierung beschreibt und verschiebt Ahmed
klassische Wahrnehmungs- und Raumanalysen und zeigt deren verborgene soziale
Bedeutungen auf. Für Ahmed ist die Frage nach der Rolle von Orientierung nicht
nur eine räumliche. Irgendwo wohnen oder sich aufzuhalten bezieht sich sowohl
auf das Verweilen an einem Ort als auch auf die Zeit: Wenn Orientierung eine
Frage der Art und Weise ist, wie wir uns im Raum aus- und einrichten, diesen be-
wohnen, dann wird deutlich, dass Orientierung Zeit erfordert. Zeit, um den Raum
einzunehmen, uns einzugewöhnen oder uns diesen zu eigen zu machen. Auch
wenn es bei Orientierungen darum zu gehen scheint, wo genau wir uns in der Ge-
genwart befinden, weisen sie uns auch in die Zukunft. Hierin liegt, was Ahmed die
Möglichkeit der (oder gar Hoffnung auf) Richtungsänderung nennt. Sie besteht
darin, dass wir nicht immer wissen, wohin uns manche Wege führen werden: Es
gibt daher immer das Risiko, vom geraden Weg abzuweichen. Aber genau dies
macht eine neue Zukunft möglich, und eine solche Zukunft beinhaltet ebenso,
dass wir uns verirren, verloren gehen oder selbst queer werden.
Ahmed wendet den Begriff der Orientierung sowohl auf die sexuelle
Orientierung als auch auf die soziale, ethnische oder migrantische Orientierung
an. Auch die sexuelle Orientierung, so Ahmed, braucht Zeit und Arbeit, und
bleibt immer offen für mögliche Richtungsänderungen. Das heißt, eine sexuelle
wie räumliche Orientierung hat man nicht einfach: Heterosexuell oder straight,
wie es im Englischen heißt, wird man. Dies beinhaltet, dass wir uns nicht nur den-
jenigen ‚Objekten‘ zuwenden müssen, die uns von der heterosexuellen Kultur
vorgegeben werden, sondern uns zugleich auch von anderen ‚Gegenständen‘
abwenden müssen, die uns von dieser Linie abbringen. Das queere Subjekt
112 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

i­nnerhalb der heterosexuellen Kultur weicht also ab und wird als Abweichler:in
gesellschaftlich als solches markiert und sichtbar gemacht.
Rassismus lässt sich ebenfalls als eine Orientierung beschreiben. Rassis-
mus weist bestimmten Körpern bestimmte Richtungen und Plätze zu oder ver-
weigert ihnen diese. Dies beeinflusst, wie und welchen Raum Subjekte ein-
nehmen können. Wir werden also einerseits rassifiziert, aufgrund der Art und
3 Weise, wie wir den Raum besetzen (können), und andererseits ist der Raum
selbst bereits ein Effekt der Rassifizierung und damit gewissermaßen schon be-
setzt durch Rassismus. Ahmed interessiert hierbei etwa, wie nicht weiße Körper
sich in einer ‚weißen Gesellschaft‘ orientieren, d. h. ‚zu Hause‘ sein können. In
ihren Beschreibungen wird deutlich, dass nicht alle Räume oder Gegenstände für
alle gleichermaßen in Reichweite bzw. erreichbar sind. Körper, die dem ‚weißen‘
Standard gewisser Räume nicht entsprechen, wird etwa der Einlass erschwert
oder verweigert, was bei den jeweiligen Subjekten für Desorientierung sorgt.
Was Ahmed mit ihrer queeren Phänomenologie zeigen will, ist, dass es nicht
so einfach ist, zu den Dingen selbst zu gelangen. Da weder die Dinge noch
Räume – also dass, was uns jeweils präsent, nah, zugänglich oder vertraut ist –
zufällig oder neutral sind: Wir erwerben unsere Orientierungen nicht, nur weil wir
Dinge hier oder dort finden. Vielmehr stehen uns bestimmte Objekte aufgrund
von Wegen, oder ‚Linien‘ wie Ahmed es nennt, zur Verfügung, die wir bereits
eingeschlagen haben: Unsere Lebensläufe folgen einem bestimmten Muster,
durch das wir auch auf eine bestimmte Weise gelenkt werden (Geburt, Kind-
heit, Adoleszenz, Heirat, Fortpflanzung, Tod). Das Konzept der Orientierungen
erlaubt es Ahmed, aufzuzeigen, wie das Leben in bestimmte Richtungen gelenkt
wird und nicht in andere, und zwar gerade durch die Forderung, dem zu folgen,
was uns bereits vorgegeben ist. Hier geht es also nicht mehr nur um allgemein
zeitliche, genetische oder räumliche Aspekte, sondern mit ihnen verwoben sind
soziale Bedeutungen und Ordnungen. Damit ein Leben z. B. als ein gutes Leben
zählt, muss es eine bestimmte Richtung annehmen und Etappenziele erreichen,
die mit den sozialen Normen der jeweiligen Gesellschaft übereinstimmen. Ein
queeres Leben, so Ahmed, ist hingegen eines, das von diesen sozialen Wegmarken
und Lebensläufen abweicht (Ahmed 2006, S. 21). Ahmed plädiert dafür, mit und
durch konkrete Orientierungen die Phänomenologie mit ihrer eigenen Selbstver-
ständlichkeit zu konfrontieren. In diesem Zusammenhang sollen Momente der
Desorientierung gesammelt, beschrieben und thematisiert werden, um so in eine
andere Richtung beschreiben und denken zu können, was uns an die Grenzen der
sozialen Übereinkunft, des Gemeinsamen, Geteilten oder Allgemeinen führen
könnte.

► Beispiel – Der verborgene Horizont von Husserls Schreibtisch

» Der konkrete Horizont von Husserls Schreibtisch, der es ermöglicht, dass er


überhaupt in Betrieb genommen werden kann, ist abhängig von einer Arbeit,
die sich im Laufe der Zeit wiederholt und oft im Verborgenen stattfindet. Diese
Arbeit wird dort verrichtet, wohin der Blick bei Husserl eben nicht wandert, wie
3.1 · Phänomenologie konkret
113 3
z. B. die Küche – also die Räume, die mit Hausarbeit und Fürsorge assoziiert
werden, die sich dem Körper zuwenden, um ihn zu pflegen und zu erhalten.
Vermeidet Husserls Blick es, dorthin zu wandern? In gewisser Weise möchte eine
queere Phänomenologie ‚den Spieß umdrehen‘, indem sie sich anderen Arten
von Objekten oder auch vertrauten Gegenständen, wie z. B. Tischen, anders
zuwendet. Man könnte sagen, sie versteht sich als eine liebevolle Rückkehr zu
den Objekten, die bereits innerhalb der Phänomenologie auftauchen, wie etwa
Husserls Tisch, der nun so abgenutzt ist. Solche Tische würden, wenn sie anders
zum Thema werden, als etwas zum Leben erwachen, mit und an dem man
denken kann. (Ahmed 2006, S. 63; Übers. M.W.) ◄

Ahmeds Beschreibung nimmt hierbei ihren Ausgang an typischen Gegen-


ständen der historischen Phänomenologie, wie etwa Husserls Schreibtisch oder
dem Tisch allgemein, um diese dann in konkrete Kontexte zu setzen und damit
zu ‚verseltsamen‘ (to queer), d. h. ihrer Selbstverständlichkeit zu berauben. Hier-
mit thematisiert sie die materiellen und sozialen Bedingungen, die einer philo-
sophischen Beschreibung vorausgehen, aber meist verborgen und unbemerkt
bleiben. Durch den noematischen Leitfaden (Tisch) und der konkreten Variation
eines allgemeinen Begriffs (Orientierung) gelingt es ihr sowohl die Unterschiede,
Kontingenzen und Abweichungen positiv zum Thema zu machen, als auch das
Allgemeine und Verbindende nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Obwohl die
queeren Beschreibungen und Objekte uns an unsere Grenzen führen, schaffen sie es
wörtlich genommen dennoch, uns an einen Tisch zu bringen, um Orientierung als
solches phänomenologisch beschreibbar zu machen. Das Ziel einer solchen Phäno-
menologie und Politik der Desorientierung besteht für Ahmed darin, das Staunen
über die queren Formen der Erfahrung und des sozialen Zusammenlebens auf-
rechtzuerhalten, um damit neue Möglichkeiten und Richtungen aufzuzeigen.

► Beispiel – Die soziale Ordnung der Tische

» Weit weg von zu Hause sind mein Partner und ich im Urlaub in einem Resort
auf einer Insel. Bei den Mahlzeiten kommen alle zusammen. Wir betreten
den Speisesaal, in dem viele Tische aneinandergereiht stehen. Ein Tisch nach
dem anderen steht bereit, wartend auf die ankommenden Körper, die Platz
nehmen oder platziert werden. Ich bin konfrontiert mit einem mir schockierend
erscheinenden Bild. Vor mir, an den Tischen, sitzen Paare. Tisch um Tisch, ein
Paar nach dem anderen, immer in der gleichen Form: Ein Mann sitzt mit einer
Frau um einen ‚runden Tisch‘, einander ‚über‘ den Tisch zugewandt. Natürlich
‚kenne‘ ich dieses Bild – es ist ja ein vertrautes Bild. Aber ich bin schockiert
von der schieren Kraft der Regelmäßigkeit des Vertrauten: wie jeder Tisch die
gleiche soziale Ordnung verkörpert, in der Form des heterosexuellen Paares. Wie
ist es möglich, dass bei allem, was möglich wäre, immer wieder dieselbe Form
wiederholt wird? Immer wieder? Wie schrumpft die Offenheit einer Zukunft auf
so wenig in der Gegenwart?
Wir setzen uns hin. Ich schaue nach unten, mir ist bewusst, dass ich eine
Lebensform verkörpere, die nicht dieselbe ist wie die, die sich entlang der
114 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Tischreihe wiederholt, obwohl meine Partnerin und ich natürlich konform zu


dieser Ordnung sind, insofern wir ein Paar sind. Allerdings die falsche Art von
Paar – das muss gesagt werden. Aus der Reihe tanzen kann unangenehm sein.
Dieser Fall von Unbehagen wird ermöglicht durch ein Staunen und Wundern.
Anstatt das Vertraute einfach nur zu sehen, was bedeutet, dass es regelrecht aus
dem Blickfeld gerät, empfand ich Verwunderung und Überraschung über die
3 Regelmäßigkeit seiner Form. Formen, die sich wieder und wieder wiederholen,
bis sie vergessen werden und einfach zu Formen des Lebens werden. Sich zu
wundern heißt, sich an das Vergessen zu erinnern und die Wiederholung der
Form als das ‚Formwerden‘ des Vertrauten zu sehen. Es ist schwer zu verstehen,
warum wir ‚schockiert‘ sein können über das, was uns vertraut ist. (Ahmed 2006,
S. 82–83, Übers. M.W.) ◄

Obwohl es sich bei Ahmed um eine situierte und deskriptive Phänomenologie


handelt, haben diese Beschreibungen durchaus eine transzendental philosophische
Bedeutung. Auch hier ließe sich von einem Apriori sprechen: Die jeweiligen Um-
stände, Diskurse und sozialen Normen bestimmen ja das Leben und damit die
praktischen Möglichkeiten und den Stil der Erfahrung der Einzelnen schon vorab
(bevor diese überhaupt beginnen, auf ihre Erfahrung zu reflektieren). Jedoch ist
dieses Apriori nicht im klassischen Sinne transzendental, sondern historisch ver-
änderlich (vgl. Allen/Aldea 2016). Hier zeigen sich Verbindungen zu Ansätzen
der Genealogie, die auf Nietzsche und Foucault zurückgehen und nach den
historisch-diskursiv relativen Bedingungen der Möglichkeit von Moral, Wissen
und Macht fragen.

Phänomenologie als Kritik Auch wenn nicht jede Phänomenologie explizit auf
konkrete soziale Umstände und Machtstrukturen reflektiert, sollte letztlich jede
Phänomenologie ihrem Anspruch und ihrer Methode nach kritisch sein, d. h. auf
ihre eigene Ausgangsposition reflektieren, Abstand nehmen, und sich öffnen für
andere Perspektiven. Phänomenologie hat damit bereits ein inhärentes kritisches
Potential. Sie stellt eine immanente Kritik der Erfahrung dar, d. h. sie kritisiert
die eigene Erfahrung, ihre Bedingungen, Einflüsse und Grenzen (vgl. Aldea
2016) Nur eine solche Kritik ermöglicht es, die Erfahrung anderer Subjekte aus
deren eigener Sicht zu beschreiben (oder beschreiben zu lassen) und nachzuvoll-
ziehen (Zweite-Person-Perspektive), anstatt diese lediglich von außen (Dritte-
Person-Perspektive), nach bereits feststehenden normativen Kriterien zu be-
werten. Eine solche Kritik geht dabei mit der Einsicht in die intersubjektive Di-
mension allen Sinns und die unhintergehbare Transzendenz der Anderen einher.
Die eigentliche Lektion der Phänomenologie ist daher, dass wir angewiesen sind
auf Andere: theoretisch, um von der bloß subjektiven Perspektive zur objektiven
Geltung zu gelangen; sowie praktisch, da wir sowohl in der Realisierung unserer
Möglichkeiten, dem Zuschreiben und Erfahren von Bedeutung, als auch in der
Ausbildung unserer Identität von anderen konkret abhängig sind. Zu zeigen, dass
(a) diese existentielle Verletzlichkeit und Abhängigkeit leider auf einige mehr
zutrifft als auf andere, und dass (b) einige wenige Perspektiven konkret das-
jenige bestimmen was als objektiv oder normal gilt, ist Aufgabe einer kritischen
Phänomenologie.
3.1 · Phänomenologie konkret
115 3
Methodische Selbstkritik bleibt dabei eine Herausforderung jeder
Phänomenologie, die vorurteilslos beschreiben, das Allgemeine bestimmen
und nach den Bedingungen zurückfragen will. Hierbei ist die Pluralität der
Perspektiven und die intersubjektive Zusammenarbeit als Prüfstein unentbehr-
lich.

3.1.2  Postphänomenologie (Technikphilosophie)

Seit den 1980ern gibt es die sogenannte Postphänomenologie, eine Form der
Technikphilosophie, die es sich zum Ziel gesetzt hat, sich wieder vermehrt der
Beschreibung der Dinge, d. h. in diesem Fall von technischen Artefakten und
Technologien, zu widmen (vgl. Müller 2020). Die Postphänomenologie versteht
sich dabei nicht nur als eine Rückkehr zu den Dingen, sondern leitet dezidiert
eine empirische Wende in der Technikphilosophie ein (Ihde 1979, 1990, 1993,
2009; Achterhuis 2001; Verbeek 2000, 2005, 2011). Die Vertreter der Post-
phänomenologie, die in Nordamerika sowie den Niederlanden sehr einflussreich
ist, wollen sich mit der Vorsilbe ‚post‘ gegen die klassische Phänomenologie, ins-
besondere Heideggers Reflektionen zum Wesen der Technik, abgrenzen. Anstatt
transzendentaler, metaphysischer oder allgemeiner Aussagen über Technik oder
Technologie als Ganzes, zielt sie auf die Beschreibung und empirische Unter-
suchung einzelner Technologien, ihrer konkreten Entwicklung und Nutzung. Sie
verwendet dabei phänomenologische Konzepte, wie das der Intentionalität, um
die jeweiligen Mensch-Technik-Beziehungen zu beschreiben. Insbesondere Peter-
Paul Verbeek vertritt dabei mit dem französischen Soziologen Bruno Latour
die Überzeugung, dass Subjekt und (technisches) Objekt relationale Kategorien
sind, die nicht vor, sondern nur in und durch ihre jeweilige Vermittlung bestimmt
werden können. Weiterhin werden bei der Beschreibung dezidiert empirische
Untersuchungen über die entsprechenden Technologien und deren Nutzung mit-
einbezogen. Der phänomenologisch deskriptive Ansatz wird also verknüpft und
erweitert mit der (postmodernen) Netzwerktheorie Bruno Latours und dem
empirisch-sozialkonstruktivistischen Ansatz der Science and Technology Studies.
Don Ihde, der die Bezeichnung ‚Postphänomenologie‘ geprägt hat, ist der
Überzeugung, dass die klassische Phänomenologie ihrem Leitsatz ‚zu den
Sachen selbst‘ nicht in geeigneter Weise nachgekommen ist, und möchte dies
durch eine Postphänomenologie einlösen. Die klassische Phänomenologie über-
sieht dabei, welche entscheidende Rolle die Technik bzw. Technologien für die
phänomenologische Beschreibung spielen: Laut Ihde ist jede Erfahrung immer
schon technisch vermittelt. Zu den Sachen selbst, heißt hier also, bei konkreten
(materiellen) Technologien und Artefakten zu beginnen und von da aus zu er-
mitteln, wie diese Dinge unsere Erfahrung, unser Weltverständnis sowie unser
moralisches Urteilsvermögen vermitteln und formen (vgl. Verbeek 2011).

Eidetik der Mensch-Technik-Relation Trotz dieser deutlichen Abgrenzung wendet


die Postphänomenologie klassisch phänomenologische Beschreibungen und
Konzepte an, wie die der Leiblichkeit, des Körperschemas, der I­ntentionalität,
116 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Lebenswelt, Hermeneutik, Alterität etc., um die Relation Mensch-Technik-


Welt in ihren allgemeinen Strukturen zu beschreiben. Die Postphänomenologie,
so könnte man sagen, wendet klassische phänomenologische Methoden an, die
in den Bereich der statischen Phänomenologie oder Konstitutionsanalyse fallen.
Sie nimmt dabei das jeweilige Objekt (technologisches Artefakt oder Programm)
als Leitfaden (intentionales Objekt) und bestimmt die Art und Weise, wie wir auf
3 dieses bezogen sind (intentionaler Akt), nur dass sie diese Intentionalität nicht
mehr primär im Bewusstsein verortet, sondern wie Heidegger oder Merleau-
Ponty allgemein als existentielle Gerichtetheit zur Welt versteht. So unterscheidet
Ihde (1990) zwischen verschiedenen Technologie-Weltbeziehungen wie der verkör-
perten Relation, der hermeneutischen Relation oder der Alteritätsrelation.

► Beispiel – Mensch-Technik-Relationen

» 1. Verkörperte Relation: Ich sehe – durch das optische Artefakt hindurch – die
Welt. Dieses Sehen ist, in wie geringem Maße auch immer, von einem direkten
oder bloßen Sehen unterschieden. Diese Art von existentiell technologischer
Beziehung nenne ich Verkörperungsbeziehungen. Technologien nehme ich
hierbei in bestimmter Weise in mein Erleben auf, d. h. ich nehme die Welt durch
diese Technologien wahr, z. B. Ich-Brille-Welt. […] Die Technik steht hierbei
zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen, in einer Position der Vermittlung.
[…] Man sieht durch die Optik hindurch. […] Zum einen muss die Technik
transparent sein. […] Dies ist eine materielle Bedingung für Verkörperung. Auch
muss das Verkörpern erlernt oder, phänomenologisch ausgedrückt, konstituiert
werden. Wenn die Technologie gut ist, ist das normalerweise einfach. […] [E]
inmal erlernt, lässt sich das Verkörperungsverhältnis beschreiben als eines, in
dem die Technik maximal ‚transparent‘ wird. Sie wird sozusagen in die eigene
wahrnehmend-leibliche Selbsterfahrung aufgenommen: (Ich-Brille)-Welt.
2. Hermeneutische Relation: Sie lesen auf dem Thermometer, das an den Pfosten
der Weinlaube genagelt ist, dass es –2 Grad ist. Sie ‚wissen‘, wie kalt es ist,
fühlen es jedoch nicht selbst. […] Stattdessen lesen Sie das Thermometer ab,
und in der Unmittelbarkeit des Ablesens wissen sie, dass es kalt ist. Dasjenige,
was dabei wahrnehmungsmäßig gesehen wird, ist das Zifferblatt und die Zahlen,
der Thermometer-‚Text‘. […] Beim Three-Mile-Island-Zwischenfall wurde das
Kernkraftsystem etwa nur mithilfe technischer Messinstrumente beobachtet.
Eine Fehlinterpretation der Instrumente verursachte dabei beinahe eine
Kernschmelze. Es gab keinen direkten, unabhängigen Zugang zu dem Meiler.
Dasjenige, was hier unmittelbar wahrgenommen wird, ist die Anzeigetafel. Sie
wird zum Objekt der Wahrnehmung, zugleich ‚liest‘ man durch sie hindurch den
Meiler. Diese Situation erfordert eine andere Formalisierung: Ich-(Technik-Welt)
3. Alteritätsrelation: Der Computer ist ein Beispiel für Technologien, mit denen
wir eine Alteritätsrelation eingehen. Jedoch stellt der Computer lediglich ein
Quasi-Gegenüber dar, ist aufgrund seiner genuinen Nützlichkeit primär ein
Instrument zu dem wir via interface in einer hermeneutischen Relation stehen.
Die Tendenz, eine solche Quasi-Alterität als echte Alterität aufzufassen, ist
jedoch allgegenwärtig, z. B. in Romantisierungen wie der Darstellung des
3.1 · Phänomenologie konkret
117 3
gefühlsbetonten, sprechenden Computers „Hal“ des Films 2001: Odyssee
im Weltraum […] Trotzdem zeigt die Alteritätsrelation, dass Menschen sich
zu Technologien wie zu einem Gegenüber verhalten können. […] Aus diesem
Grund verwenden wir eine dritte Formalisierung: Ich → Technologie (-Welt).
(Ihde 2014 [1990], S. 539–547, Übers. M.W.) ◄

In diesen Fällen differenziert Ihde im Anschluss an Husserl zwischen ver-


schiedenen Qualitäten des Wahrnehmens oder Formen des Bewusstseins, wie z. B.
Vordergrund- oder Hintergrundbewusstsein, Fokus- oder Horizontbewusstsein.
Technologische Vermittlung ist demnach mehr oder weniger transparent oder
opak, das technische Objekt kann dabei entweder ein Quasi-Gegenüber sein – wie
etwa ein humanoider Roboter – und als solches bewusst, oder aber beinahe voll-
ständig inkorporiert werden – wie eine Virtual Reality-Brille – und so Teil unseres
gelebten und aktiven Leibseins bzw. Körperschemas sein, mit und durch das
wir in der Welt unmittelbar wahrnehmen und agieren. Hier verweisen Ihde und
andere Postphänomenolog:innen oft auf Merleau-Pontys Beschreibung der Ge-
wöhnung und der Erweiterung des Körperschemas.

► Beispiel – Technische Erweiterungen des Körperschemas

» Eine Frau hält ohne jede Berechnung zwischen der Feder ihres Hutes und
Gegenständen, die sie zerknicken könnten, einen Sicherheitsabstand ein, sie
hat es im Gefühl, wo die Feder ist, wie wir fühlen, wo unsere Hand ist. Habe
ich die Gewohnheit, einen Wagen zu führen, so sehe ich, in einen Durchgang
einfahrend, daß ‚ich vorbei kann‘, ohne erst die Breite des Weges mit
dem Abstand meiner Kotflügel vergleichen zu müssen, so wie ich eine Tür
durchschreite, ohne deren Breite mit der meines Körpers zu vergleichen. Hut und
Automobil sind hier nicht mehr Gegenstände, deren Größe und Volumen sich
durch Vergleich mit anderen Gegenständen bestimmte. Sie sind zu voluminösen
Vermögen geworden, zum Erfordernis eines bestimmten Spielraumes. […]
Der Stock des Blinden ist für ihn kein Gegenstand mehr, er ist für sich selbst
nicht mehr wahrgenommen, sein Ende ist zu einer Sinneszone geworden,
er vergrößert Umfänglichkeit und Reichweite des Berührens, ist zu einem
Analogon des Blickes geworden. […] Die Lage der Gegenstände ist ihm
unmittelbar durch die Weite der sie erreichenden Geste gegeben, die über
das Ausdehnungsvermögen des Armes hinaus die Reichweite des Stockes
mitumfasst. Will ich mich an einen Spazierstock gewöhnen, so versuche ich ihn,
berühre Gegenstände mit ihm, und nach einiger Zeit habe ich ihn dann ‚in der
Hand‘, sehe ich welche Gegenstände ‚in Reichweite‘ meines Stockes sind und
welche nicht. […]
Sich an einen Hut, an ein Automobil oder einen Stock gewöhnen heißt, sich ihn
ihm einrichten, oder umgekehrt, sie an der Voluminosität des eigenen Leibes
teilhaben zu lassen. Die Gewohnheit ist der Ausdruck unseres Vermögens, unser
Sein zur Welt zu erweitern oder unsere Existenz durch Einbeziehung neuer
Werkzeuge in sie zu verwandeln. (Merleau-Ponty 1966, S. 172–173) ◄
118 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Hybride Form der Intentionalität Peter-Paul Verbeek (2008) beschreibt daneben


noch weitere Formen des Mensch-Technologie-Welt-Verhältnisses, z. B. die
hybride Form der Intentionalität. Hierbei werden Technologien nicht nur in-
korporiert, sondern verschmelzen sprichwörtlich mit unserem organischen
Körper, sodass sie von diesem nicht mehr unterschieden werden können. Dies
ist etwa der Fall bei implantierten Sehhilfen, Herzschrittmachern oder internet-
3 fähigen Chips. Genaugenommen, so könnte man hier einwenden, handelt es sich
dabei nicht um eine neue Form der Intentionalität (als Modus der Gerichtetheit),
sondern vielmehr abhängig von der Technologie, um eine Veränderung dieser
Gerichtetheit selbst (die mehrere Modi, wie z. B. Wahrnehmung, Erinnerung,
Denken, Vorstellen etc. beeinflussen kann und damit die gesamte Weise der
Existenz). Des Weiteren spricht Verbeek von einer zusammengesetzten Intentio-
nalität, die eintritt, wenn menschliche Wahrnehmungen und Handlungen mit be-
stimmten Technologien kombiniert werden. Auch hier wäre es deskriptiv genauer
von einer erweiterten Intentionalität zu sprechen, da sich nicht die Gerichtet-
heit an sich ändert, sondern deren Qualität und Reichweite. Helena de Preester
argumentiert in diesem Zusammenhang, dass es sinnvoll ist, zwischen Techno-
logien zu unterscheiden, die den Körper lediglich erweitern, aber diesem äußerlich
bleiben, wie z. B. eine Beinprothese, und der Inkorporierung von technischen
Objekten in den Körper, wie z. B. bei einem Herzschrittmacher (De Preester
2011).
Im Internetzeitalter wird es dabei zunehmend schwieriger, Technik über-
haupt in der Form von Dingen bzw. technischen Artefakten zu thematisieren,
d. h. Technologien und Virtualität als separate Dinge oder Seinsbereiche zu be-
trachten. Vielmehr sind digitale Technologien beinahe vollständig in unsere all-
täglichen Aktivitäten integriert. In der Tat könnte man sagen, diese digitale Infra-
struktur formt und konstituiert, was Husserl die Lebenswelt nennt: die unmittel-
bare, praktische und unhinterfragte Sphäre unseres täglichen Lebens. Intelligente
Geräte und Umgebungen konstituieren somit eine hochgradig personalisierte
Domäne der Realität; eine Domäne, die nicht getrennt von oder lediglich neben
einer materiellen oder ‚realen‘ Realität existiert, sondern dynamisch in den Zu-
sammenhalt der eigenen Lebenswelt und persönlichen Identität integriert ist (vgl.
De Mul 2010; Durt 2020).
Smarte Technologien wie ICT’S (Internet Communication Technologies)
oder das ‚Internet der Dinge‘ (Internet of Things), die auf der Basis von selbst-
lernenden Algorithmen operieren, präsentieren und kommunizieren nicht nur
Informationen, sondern handeln und entscheiden für uns. Daher kann dieses
digitale Netzwerk nicht länger als Zusammensetzung bloßer Dinge oder techno-
logischer Werkzeuge betrachtet werden. Vielmehr gestalten diese miteinander
kommunizierenden Dinge und smarten Umgebungen unsere Erfahrungen gänz-
lich neu. Sie navigieren uns durch unsere Umgebung, lenken unsere Aufmerk-
samkeit, selektieren Informationen auf der Basis unseres vergangenen Nutzer-
verhaltens, generieren Erwartungen und prägen damit schlussendlich unsere
3.1 · Phänomenologie konkret
119 3
Wahrnehmung, Emotionen, unser Verhalten und unsere Überzeugungen
gleichermaßen.

Neue Forschungsfragen Vor dem Hintergrund dieser neuen technologischen Er-


fahrungsbedingungen ergeben sich neue Forschungsfragen. Auf welche Weise
wird die Realität durch das Virtuelle erweitert, ergänzt, vermischt oder gar er-
setzt? Auf welcher Ebene ist der Einfluss smarter Technologien auf unser Erleben
am stärksten ausgeprägt? Formen personalisierte Algorithmen lediglich unsere
bewussten Überzeugungen, Meinungen und Vorlieben oder auch zunehmend
unsere alltäglichen Handlungen und Gewohnheiten? Werden personalisierte
smarte Umgebungen die Art und Weise, wie wir zeitlich und räumlich wahr-
nehmen, assoziieren, antizipieren oder lernen, generell verändern?
Diese Fragen fordern eine Berücksichtigung von typisch genetisch-
phänomenologischen Themen wie Zeitlichkeit, Assoziation, oder Gewohn-
heit, die untersuchen, wie Kohärenz, Identität, Evidenz und Bedeutung, d. h.
eine ‚sinnvolle Welt‘, für uns in und durch Erfahrung überhaupt entsteht. Solche
genetischen Themen wurden von der Postphänomenologie bisher nur vereinzelt
aufgegriffen (vgl. Rosenberger 2013), obwohl diese für die geforderte dynamische
Verbindung von Subjekt und Objekt maßgeblich sind. Die Beschreibung und
Analyse einer zunehmend digital-technologischen Lebenswelt und ihre Aus-
wirkungen auf das erfahrende Subjekt, scheint dabei eine logische Weiter-
entwicklung der phänomenologischen Technikphilosophie. Hier kann nicht nur
an Heideggers Zeitanalysen und Merleau-Pontys Untersuchungen zur situierten
Räumlichkeit, des Körperschemas und des habituellen Leibes angeknüpft werden,
sondern ebenfalls an Husserls Analyse des inneren Zeitbewusstseins, seiner Be-
schreibung der Aufmerksamkeit und Normalität, Habitualität und Typenbildung
sowie zu verschiedenen Formen der Intersubjektivität.
Sozialphänomenologische Perspektiven, wie Alfred Schütz‘ Beschreibung der
sozialen Strukturen der Lebenswelt, könnten hierbei ebenfalls hilfreich sein, etwa
um zu untersuchen, wie sich generative und sozial geteilte Praktiken, Gewohn-
heiten und Wissensvorräte ausbilden (Luckmann/Schütz 2020; vgl. de Boer 2021).
Und mithilfe von Hannah Arendts politischer Phänomenologie, genauer ihrer
Unterscheidung zwischen privatem und politisch-öffentlichen Bereich (1960),
ließe sich weiterhin die Rolle von sozialen Medien analysieren, z. B. gegen-
wärtige Probleme wie Hassrede oder Postfaktizität (vgl. Behrendt/Loh/Matzner/
Misselhorn 2019).
Eine genetische, generative oder soziale Phänomenologie, die sich auf die zeit-
lichen und assoziativen Synthesen, den Erwerb von Gewohnheiten und typischen
Überzeugungen konzentriert, kann helfen zu verstehen, wie und warum wir
dazu kommen, etwas als real oder illusorisch, normal oder nicht normal zu er-
leben, und wie dies durch smarte Technologien beeinflusst werden könnte. Die
genetische Phänomenologie weist dabei darauf hin, dass unser Sinn für Reali-
tät und Normalität zerbrechlich ist und eine ständige Aktualisierung, Prüfung
120 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

oder sogar Widerstand durch die äußere Welt und die Erfahrungen anderer be-
nötigt. Während wir in der analogen Welt mit Erfahrungen konfrontiert werden,
die von unseren Erwartungen abweichen, uns überraschen oder irritieren, neigen
smarte Umgebungen dazu, diese korrigierende Funktion auszulöschen, indem
sie die Welt in eine maßgeschneiderte Komfortzone verwandeln. Was bedeutet
es für unseren Glauben an die Realität, wenn unsere Gewohnheiten und Über-
3 zeugungen nicht mehr von der Außenwelt oder anderen (nicht gleichgesinnten)
Subjekten angefochten werden? Was passiert mit unseren Entwicklungsmöglich-
keiten, wenn wir nur noch mit Informationen konfrontiert werden, die zu unseren
bisherigen Präferenzen passen, diese bestätigen und damit konservieren?

Rückkehr der transzendentalen Fragestellung? Um solche Fragen beantworten zu


können, braucht es eine Phänomenologie, die sich Gedanken macht über die Be-
dingungen und Möglichkeiten der eigenen technologischen Lebenswelt. Aktuelle
Stimmen der Technikphilosophie plädieren hierbei auch für eine Wiederein-
führung der transzendentalen Fragestellung in die Technikphilosophie. Nun,
da digitale Technik notwendiger und selbstverständlicher Teil unseres All-
tags geworden ist, wird diese selbst zu einer Bedingung der Möglichkeit von Er-
fahrung; d. h. sie wird notwendig, um Zugang zur Welt zu erhalten. Welt be-
deutet dabei, wie z. B. in den Pandemie-Jahren 2020/21 schmerzlich deutlich
wurde, nicht mehr nur die analoge Welt, sondern auch digitale Informationen,
Kommunikation und virtuelle Erfahrungsräume. Hiermit verliert die digitale
Technologie den Charakter eines Werkzeuges oder Dinges über dessen Ein-
satz wir selbst entscheiden und dessen Nutzung wir kontrollieren können. Sie
wird vielmehr zu einer Bedingung (zumindest mancher) Erfahrung selbst mit
eigenen Organisationsformen und Regeln, die aber selbst nicht mehr direkt er-
fahrbar sind. Hierauf hatte Heidegger in seinem Aufsatz zur Frage der Technik
(Heidegger 2000 [1953]) hingewiesen, als er das Wesen der Technik nicht als
Instrument, sondern als eine Art der Entbergung, d. h. des Zugangs zur Wirklich-
keit beschrieb.
Die transzendentale Frage bekommt so, nach Jahren der Kritik an ihrem ab-
soluten, zu abstrakten und technikfeindlichen Charakter (repräsentiert durch
Heideggers Technikkritik) wieder einen Platz in der (post-)phänomenologisch
geprägten Technikphilosophie. Dies bedeutet konkret, dass Technik nicht nur in
Form von tatsächlichen Gebrauchsdingen in der Welt verstanden wird, sondern
eben auch als – wenn auch nur historisch kontingente – Bedingung der Möglich-
keit von Erfahrung. Nach einer langen Phase, in der Forschende sich auf die de-
skriptive und empirische Microanalyse einzelner Technologien beschränkten,
wagt man es wieder, über Technologie ‚mit einem großen T.‘ zu sprechen
(vgl. Lemmens 2021). Auf die Rolle der digitalisierten Technik als Ganzes zu
reflektieren ist dabei vor allem im Hinblick globaler Probleme des Anthropozäns
(Bezeichnung für eine geochronologische Epoche, in welcher der Mensch den
größten Einfluss auf geologische, biologische und atmosphärische Prozesse hat),
3.1 · Phänomenologie konkret
121 3
wie Klimawandel, Artensterben, globale Konflikte und Wirtschaftskrisen, wieder
notwendiger denn je. Welche Rolle spielt die digitaltechnologische Infrastruktur
für die Ursache, den Verlauf und die mögliche Antwort auf solche Krisen, und
wie verändert dasjenige, was wir selbst erschaffen, wiederum unser Denken und
Handeln oder gar das Wesen des Menschseins selbst?
Dabei sollte man jedoch nicht vergessen, dass Technik damals wie heute,
nicht die einzige oder gar wichtigste transzendentale Bedingung für die Möglich-
keit der Bedingung der Erfahrung ist. Nicht Technik allein bestimmt, was und
wie wir erfahren, sondern auch hier sind die anderen Bedingungen zu berück-
sichtigen: natürliche, biologische, materielle, sprachliche, kulturelle, soziale und
normative Aspekte gleichermaßen. Hierbei sollte man gerade die Interrelationen
dieser Bereiche ins Blickfeld rücken. Anstatt also Technik oder Technologie
zu verabsolutieren, ist es phänomenologisch geboten, zunächst konkret unsere
Situierung mit, durch und in Technologie zu beschreiben, um dann in aller Vor-
sicht allgemeine oder gar transzendentale Bestimmungen vorzunehmen. Hierbei
könnte eine Kooperation von Postphänomenologie und den verschiedenen Aus-
formungen der kritischen Phänomenologie hilfreich sein, genauso wie ein Dialog
der Phänomenologie allgemein mit dem Technofeminism (vgl. Wajcman 2004).

? Aufgaben
1. Was könnten relevante und geeignete Themen (‚Sachen‘) einer konkreten
Phänomenologie heute sein? Überlegen Sie in Gruppen betreffende Themen
und versuchen Sie eine erste deskriptive Annäherung. Orientieren Sie sich dabei
an bereits bekannten phänomenologischen Unterscheidungen oder Konzepten.
2. Steht eine konkrete Phänomenologie im Gegensatz zu einer eidetischen oder
transzendentalen Phänomenologie oder ist sie auf diese angewiesen? Sammeln
Sie Argumente dafür und dagegen und diskutieren Sie dies anhand eines Bei-
spiels in 3.1 mit Mitstudierenden.
3. Wie kommt man von der Beschreibung (deskriptive Ebene) zur Kritik oder
Evaluation (normative Ebene)? Wie hängen beide Ebenen in der kritischen
Phänomenologie zusammen? Unterscheiden Sie deskriptive und normative
Elemente anhand von Beispielen und diskutieren sie deren Relation und mög-
liche methodische Probleme.
4. Glossarium: Welche neuen deskriptiven Unterscheidungen, Begriffe oder
Konzepte führen konkrete Phänomenologien ein? Sammeln Sie alle Begriffe,
die eine Erweiterung, Veränderung oder Kritik klassischer phänomenologischer
Konzepte enthalten. Definieren Sie diese anhand des Textes und weiterer
Quellen und fügen Sie sie dem Glossarium hinzu. (Tipp: Dieses Glossar kann
gemeinsam mit anderen Kommiliton:innen erstellt werden.)
5. Denken Sie über neue Begriffe und Unterscheidungen nach, die in Bezug auf
gegenwärtige Themen und Debatten relevant sein können.
122 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

3.2  Phänomenologie interdisziplinär

Phänomenologie als Methode und philosophische Strömung zeichnet sich von


Beginn an durch ihre Interdisziplinarität aus. Interdisziplinär meint in diesem
Kontext, dass die philosophische Arbeit empirische Experimente, Resultate und
Fallstudien kritisch analysiert oder in ihre eigene Beschreibung integriert. So
3 ein interdisziplinärer Austausch fand (und findet) besonders mit der Psycho-
logie, Psychiatrie und den Neurowissenschaften statt. Schon die Entwicklung
der Phänomenologie bei Husserl ist ohne die kritische Auseinandersetzung
mit der Psychologie, in Form von Husserls Lehrer, dem Psychologen Frantz
Brentano und anderer Vertreter der theoretischen und empirischen Psychologie
seiner Zeit, undenkbar. Darüber hinaus suchen Phänomenolog:innen seit jeher
die Auseinandersetzung mit pathologischen Fällen im Bereich der Psychiatrie
oder Neurologie, um normale, gelebte Erfahrungen zu konkretisieren und zu
problematisieren.
Berühmt ist etwa Merleau-Pontys (1966) Auseinandersetzung mit bekannten
Fällen aus der Geschichte der Psychologie und Neurologie sowie mit bestimmten
Phänomenen, wie dem Phantom-Gliedmaßen-Syndrom, der Synästhesie oder
Halluzinationen.

Konzept des Körperschemas Ein Konzept der damaligen Psychologie, das hier-
bei eine besonders zentrale Rolle spielt, ist das des Körperschemas (vgl. Gold-
stein/Gelb 1918). Das Konzept des Körperschemas soll das Phänomen erklären,
warum uns unser Körper, seine Lage und Position unmittelbar gegeben sind. So
muss ich meine Lage oder Position im Raum nicht erst explizit bestimmen oder
einzelne Körperteile als solche identifizieren, bevor ich diese benutze. Meinen ge-
lebten Körper oder Leib habe ich „inne in einem unteilbaren Besitz, und die Lage
eines jeden meiner Glieder weiß ich durch ein sie allumfassendes Körperschema“
(Merleau-Ponty 1966, S. 123). Jedoch, so betont Merleau-Ponty, ist diese Einheit
nicht das „Ergebnis im Laufe der Erfahrung hergestellter Assoziationen“, wie es
die Psychologie seiner Zeit definiert, sondern vielmehr „als Gesamtbewußtsein
meiner Stellung in der intersensorischen Welt“ anzusehen (S. 125). Das Körper-
schema ist demnach eine ganzheitliche Organisationsform, die unsere Umwelt
mitumfasst. Aufgrund des Körperschemas haben wir nicht nur ein unmittel-
bares ‚Wissen‘ über unsere Größe, Lage und Position, sondern es beinhaltet auch
unsere Gewohnheiten, Fähigkeiten und Möglichkeiten mit Bezug auf unsere
Umwelt. Wir wissen z. B., ob wir durch eine bestimmte Tür passen, ob wir einen
bestimmten Gegenstand hochheben können, wie wir uns in einer bestimmten
Situation bewegen oder verhalten sollen. Solch praktisches Wissen hat buchstäb-
lich seinen Ort in unserem Körper; es ist nicht thematisch als solches, sondern
wird automatisch in der Situation abgerufen.
Dies bedeutet nicht nur, dass der Körper mehr ist als die Summe seiner Teile,
sondern zeigt, dass die Einheit des Körpers auch seine gemachten Erfahrungen
und Vermögen umfasst. Weiterhin umfasst das Körperschema nicht nur unsere
vergangenen oder aktuellen Erfahrungen. Vielmehr scheint es die Grenzen zu
sprengen von
3.2 · Phänomenologie interdisziplinär
123 3
5 Innen und Außen (indem es auf die Umwelt bezogen ist und diese umfasst),
von
5 Subjekt und Objekt (indem andere Dinge in das Körperschema integriert
werden können, wie der Stock des Blinden im Beispiel 3.1.2) sowie
5 zwischen Vergangenheit und Zukunft (in der aktuellen Bewegung setzt der
Leib bereits erworbene Fähigkeiten ein, die wiederum in die Zukunft hinein-
reichen).

Dies macht Merleau-Ponty u. a. daran deutlich, dass beim Phänomen des


Phantomgliedes das praktische Feld und die Gewohnheiten des verlorenen Gliedes
noch irgendwie präsent sind – und zwar nicht als explizite Erinnerungen oder als
fehlerhaftes Urteil (wie dies die Psychologie seinerzeit annahm). Auch kann dies
nicht durch physiologische Nervenreize des Stumpfes erklärt werden, da diese
nicht hinreichend sind, damit ein Phantomglied auftritt (z. B. kann dies gar nicht
oder erst im Zusammenhang mit einer psychologischen Stresssituation auftreten).
Die Einheit des Körperschemas ist nicht statisch oder vorgegeben, sondern
muss sich ständig in der Erfahrung aktualisieren und wird dabei angereichert
durch neue Erfahrungen und praktische Vermögen. Dies kann jedoch, wie im Fall
des Phantomgliedes ersichtlich wurde, auch misslingen oder seine Zeit brauchen:
„dann bleibt das Subjekt, wenn schon nicht in seinem expliziten Denken, so doch
in seinem wirklichen Sein, auf jene unmögliche Zukunft hin geöffnet“ (Merleau-
Ponty 1966, S. 107). Das Körperschema in der phänomenologischen Definition
von Merleau-Ponty ist also weder die Summe aktueller Informationen über den
Körper noch eine Art interne globale Repräsentation des Körpers. Vielmehr weist
es über seinen aktuellen Zustand und seine materiellen Grenzen hinaus. Das
Körperschema ist damit „letztlich nur ein anderes Wort für das Zur-Welt-sein
meines Leibes“ (S. 126).

Interdisziplinäre Anwendung Die phänomenologische Beschreibung leiblicher Er-


fahrung aus der Perspektive der ersten oder zweiten Person erweist sich dabei in
vielen interdisziplinären Untersuchungen zu Pathologien und Krankheiten als
aufschlussreich. Hierbei werden etwa Veränderungen der Leiblichkeit untersucht
mit Bezug auf (a) das Körperschema als dem operativ (nicht-thematischen) leib-
lichen Zur-Welt-sein oder (b) das Körperbild – in welchem wir unseren Körper als
Objekt ‚haben‘, also diesen wahrnehmen, vorstellen oder beurteilen. Zwar hängen
beide Formen des leiblichen Selbstbewusstseins eng miteinander zusammen, wie
bereits Husserl hervorgehoben hatte, jedoch ist die deskriptive Unterscheidung
beider Ebenen hilfreich, um die Effekte, z. B. einer Krankheit, auf die leibliche
Erfahrung von Subjekten zu beschreiben. Fragen wir nach dem Körperschema,
fragen wir, wie die Art und Weise sich verändert, wie wir mit und durch unseren
Leib die Welt erfahren. Dies kann sich etwa darin äußern, dass wir die Gescheh-
nisse um uns herum als zu langsam, zu schnell, oder gar bedrohlich empfinden
und manche Dinge sich nun als Hindernisse darstellen. Fragen wir nach dem
Körperbild, fragen wir danach, wie wir unseren Leib als Körper, d. h. in seiner
nun veränderten Körperlichkeit wahrnehmen, beurteilen oder welche Gefühle wir
124 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

mit diesem verbinden. Bei den Veränderungen des Körperbildes spielen unsere
Mitsubjekte, soziale Normen und Erwartungen eine noch größere Rolle. In-
wiefern fühle ich mich beobachtet, gilt mein Körper als zu langsam, abweichend,
‚behindert‘, und ich als nicht normal? Inwiefern macht mich dies unsicher und
hindert es mich daran, am sozialen Leben teilzunehmen?
Bei manchen Pathologien, wie z. B. der Deafferenzierung (s. den Fall Ian
3 Waterman, Gallagher und Cole 1995), bei denen eine Person z. B. nach einer Ver-
giftung die propriozeptive Empfindung ihres Körpers vom Nacken abwärts ver-
liert, fallen etwa die operativen Funktionen des Körperschemas fast komplett
aus. Koordinierte Bewegung ist nicht mehr möglich, da die unmittelbare Rück-
koppelung des Leibes fehlt (mit Husserl gesprochen: die kinästhetischen
Empfindungen). Die Person lernt nur durch die Hilfe der expliziten visuellen
Wahrnehmung des eigenen Körpers langsam und umständlich wieder das Laufen.
Hier muss also über den Umweg des Körperbildes wieder eine Verbindung her-
gestellt werden mit Bewegungsintentionen einerseits und ausgeführten Be-
wegungen andererseits.

► Beispiel – Pathologie des Körperschemas: Der Fall Ian Waterman

» IW leidet an einer akuten sensorischen Neuropathie, bei der große Fasern


unterhalb des Halses durch Krankheit zerstört wurden. Infolgedessen hat
IW keine propriozeptive Funktion und keinen Tastsinn unterhalb des Halses.
Er ist immer noch in der Lage, sich zu bewegen, und er spürt Wärme, Kälte,
Schmerzen und Muskelermüdung, aber er hat keinen propriozeptiven Sinn für
die Körperhaltung oder die Position der Gliedmaßen.[…] Um seine Haltung
aufrechtzuerhalten und seine Bewegungen zu kontrollieren, muss IW Teile seines
Körpers in seinem Gesichtsfeld behalten, aber auch Bewegungen konzeptuell
erfassen. Ohne propriozeptive und taktile Informationen weiß er weder, wo
seine Gliedmaßen sind, noch kann er seine Körperhaltung steuern. Dies ist nur
möglich, wenn er die bewegenden Körperteile sieht und damit thematisch macht.
Die Aufrechterhaltung der Körperhaltung ist für ihn daher kein automatischer
Prozess, seine Bewegungen erfordern ständige visuelle und mentale
Konzentration. […] In der Dunkelheit ist er nicht in der Lage, Bewegungen zu
kontrollieren. […] IW hat durch Versuch und Irrtum gelernt, ein Ei aufzuheben
und zu halten, ohne es zu zerbrechen. Wenn sich jedoch seine Aufmerksamkeit
auf eine andere Aufgabe richtet, während er das Ei hält, zerdrückt er das Ei
ungewollt. […]
In Bezug auf die Unterscheidung zwischen Körperbild und Schema, lässt sich
festhalten, dass die wichtigsten funktionellen Aspekte seines Körperschemas
und damit der normalerweise unbeaufsichtigten Bewegung entfallen. Er ist
gezwungen, dies zu kompensieren, indem er sich auf sein Körperbild verlässt
(das sich hierdurch in relevanter Weise in Bezug auf den Gebrauch und die
Differenziertheit von dem Körperbild ‚normaler‘ Subjekte unterscheidet).
Bewegungsprozesse, die sonst habituell und ohne explizites Bewusstsein ablaufen,
steuert IW anhand des visuellen Bewusstseins für die Position seines Körpers.
(Gallagher und Cole 1995, S. 374–376, Übers. M.W.) ◄
3.2 · Phänomenologie interdisziplinär
125 3
Die begriffliche Unterscheidung zwischen Körperbild und Körperschema
ist für die Analyse dieses Falles hilfreich, da sich die motorischen Schwierig-
keiten von Ian Waterman hiermit beschreiben und einordnen lassen. Im Gegen-
zug wirft der Fall von Ian Waterman laut Shaun Gallagher ein Licht auf
normale und anormale Beziehungen zwischen Körperbild und Körperschema.
Da Ian Watermans Bewegungen eher durch bewusste Aufmerksamkeit als
durch ein vorpersönliches Körperschema gesteuert werden, weisen sie auf ein
außergewöhnliches, vielleicht einmalig hohes Maß an intentionaler und persön-
licher Kontrolle hin. Sie zeigen jedoch auch eine Reihe von Einschränkungen,
z. B. haben die Bewegungen keine ganzheitliche und flüssige Struktur und die
erfahrungsmäßige Integration mit der umgebenden Welt vollzieht sich nicht un-
mittelbar.

Leib- und Körperbewusstsein Auch bei anderen Pathologien, wie etwa Ess-
störungen, scheinen Änderungen oder Probleme mit dem Körperbild im Vorder-
grund zu stehen. Patient:innen sind hierbei sehr mit ihrem äußeren Erscheinungs-
bild beschäftigt und scheinen dies oft subjektiv verzerrt (im Vergleich zur Wahr-
nehmung anderer oder objektiver Einschätzung) wahrzunehmen (vgl. Rosen
1990). Phänomenologisch inspirierte Untersuchungen weisen jedoch darauf hin,
dass es sich hier vielmehr, um eine mangelnde Verbindung von Leib- und Körper-
bewusstsein handelt. In einem ‚Fremde-Hand-Experiment‘ (Alien-Hand-Expe-
riment) stellte sich etwa heraus, dass bulimische Personen eher eine Dissonanz
zwischen dem leiblichen Erleben und der Wahrnehmung ihres Körpers tolerieren
als Proband:innen, die nicht an einer Essstörung leiden. Bei dem ‚Fremde-Hand-
Experiment‘ befinden sich die Hände der Subjekte in einer eigens konstruierten
Box, die Hände sind dabei nicht direkt einsehbar, sondern werden gespiegelt
wiedergegeben. Die phänomenologische Unterscheidung von Körperschema und
-bild, sowie verschiedener Stufen von Handlungsfähigkeit (agency), wurden hier-
bei zur Auswahl des Aufbaus sowie zur Interpretation der Studie herangezogen.
Die teilnehmenden Subjekte (Frauen und Männer, mit und ohne Essstörungen)
wurden in offener Weise nach ihren Erfahrungen beim Experiment gefragt.
Die Aussagen wurden dann nach den obigen phänomenologischen Kategorien
sortiert und interpretiert.
Wenn die Bulimiker:innen nun Armbewegungen ihres vermeintlichen Armes
zu sehen bekamen, die sie selbst weder initiiert noch ausgeführt hatten – also in
Wirklichkeit zur fremden Hand gehörten – stellten sie nicht so sehr die Richtig-
keit des Gesehenen oder die Umstände infrage (ist das Gespiegelte falsch, handelt
es sich hierbei um einen Trick), sondern vielmehr ihre eigenen Bewegungs-
intentionen (Sørensen 2005). Eine Probandin drückt ihre Erfahrung dabei so aus:
„Die Hand machte einfach weiter, aber es war, als wären wir zwei Kreaturen: Da
war die Hand, die tat, was ihr gefiel, und da war ich, der ihr einfach nur sprachlos
zusah“ (zit. und übers. aus: Sørensen 2005, S. 80). Dies deutet darauf hin, dass
eine Dissonanz zwischen Leib und Körper für diese Subjekte durchaus normal
war (ansonsten würde diese Erfahrung sofort als Trick abgetan) und eng mit
einem Gefühl des Verlusts der Handlungsfähigkeit einhergeht.
126 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Zur Vertiefung
Leibliches Spüren und neue Phänomenologie

Neben dem Unterschied zwischen dem und Schwellung verbunden ist. Para-
Leib als Subjekt der Wahrnehmung digmatisch für ein solches Wechselspiel
3 (von Welt, Dingen) und dem Körper als ist das Ein- und Ausatmen. Innerleib-
Objekt der Wahrnehmung, gibt es in der liches Spüren meint damit nicht, dass
Phänomenologie noch Ansätze, die ver- es sich hier um eine irgendwie isolierte
suchen, eine nicht-objekthafte leibliche Eigenheitssphäre handelt. Vielmehr
Selbsterfahrung zu beschreiben. Gegen- wird Leiblichkeit hier als Resonanz-
wärtig argumentiert etwa Dorothee boden gedacht, d. h. sie hört nicht bei
Legrand für einen integrativen Ansatz, den Grenzen des Körpers auf, sondern
der graduell verschiedene Formen von überschreitet diesen nach außen in Be-
leiblichem Selbst- und Weltbewusst- wegungen und im Blick, zugleich nimmt
sein verbindet: beginnend mit einer sie dabei Äußeres regelrecht in sich
prä-objektiven und impliziten Leib- auf, in der sogenannten Einleibung,
erfahrung, die sich inhaltlich sowohl von wie z. B. Blicke, Gesten, Stimmungen,
der Erfahrung der Welt (intentionale Ge- Atmosphären, Gefühle (Schmitz 1990,
richtetheit auf Etwas) als auch von der S. 116). Der phänomenologische An-
Erfahrung des eigenen Leibes als wahr- satz von Schmitz wird u. a. angewandt
genommener Körper unterscheidet. in der Phänomenologie der Ge-
Sie beschreibt dies als eine vage Hinter- fühle (Nörenberg 2020; Landweer/
grunderfahrung der Ausgedehntheit Demmerling 2007; Andermann/
oder Voluminösität des eigenen Leibes Eberlein 2011), der feministischen
(Legrand 2011). Historisch vertrat Phänomenologie (Landweer/Marcinski
Michel Henry eine Theorie der absoluten 2016), Soziologie (Gugutzer 2002, 2012)
Subjektivität, in welcher die Selbst- sowie in interdisziplinären Studien zur
Affektion des Leibes bzw. lebendiger Anorexie (vgl. Marcinski 2020). Auch
Wesen einen transzendentalen Status er- in der neuen Phänomenologie wird ver-
hält (Henry 1963, 1965). sucht, ausgehend von konkreter Be-
In Deutschland betonte Herrmann schreibung (der eigenen Erfahrung
Schmitz (vgl. 1965–1978) in seiner genauso wie anhand von Fallbeispielen,
neuen Phänomenologie die Ebene des Personenberichten oder Literaturbei-
leiblichen Spürens, die primär ist gegen- spielen) allgemeine Strukturen leib-
über der Wahrnehmung mit den fünf lichen Spürens zu identifizieren, die
Sinnen (Sehen, Tasten, Hören, Riechen, jeweils typisch sind für bestimmte Ge-
Schmecken). Dieses leibliche Spüren fühle, wie z. B. Scham oder Schuld-
beschreibt Schmitz als ein Wechsel- gefühl, oder sich jeweils bei Ess-
spiel zwischen Enge und Weite, das störungen oder spezifischen Krank-
jeweils mit Erlebnissen der Spannung heiten auf typische Weise verändern.
3.2 · Phänomenologie interdisziplinär
127 3
Phänomenologie der Krankheit und leiblicher Zweifel Die wechselseitige Ver-
bindung von operativem Leib- und thematischem Körperbewusstsein spielt auch
eine Rolle in der phänomenologischen Beschreibung von Krankheit. Wenn auf-
grund einer Krankheit oder eines Unfalls etwa die unmittelbare Zuhanden-
heit der Dinge, wie Heidegger (1977 [1927]) dies bezeichnete, verloren geht, ver-
wandeln sich früher alltägliche Aufgaben und Dinge auf einmal in allgemeine,
mich persönlich nicht mehr betreffende Möglichkeiten. In dieser Erfahrung des
‚Ich-kann-nicht (mehr)‘ (z. B. Treppensteigen) wird der Leib, mit dem wir zur
Welt sind, als Körper explizit zum Thema, als objektiver, materieller und verletz-
barer Körper, den ich als Teil einer allgemeinen und unpersönlichen Natur nur
unzureichend verstehen und kontrollieren kann.
So kann sich das Körperschema oder selbstverständliche Leibsein durch eine
schwere chronische Lungenkrankheit derart verändern, dass dies zu einem Ver-
lust des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten führt, einem leiblichen Zweifel,
wie Havi Carel (2016) dies nennt. Dies führt wiederum dazu, dass wir gezwungen
werden, unseren Körper konstant zum Thema zu machen. Die erzwungene Auf-
merksamkeit auf den eigenen Körper (als Objekt) ist somit gepaart mit dem Ver-
lust des selbstverständlichen Agierens in der Welt. Havi Carel beschreibt dabei in
ihrer Phenomenology of Illness (Carel 2016) wie ein solcher Verlust von Gewohn-
heit und Selbstverständlichkeit einhergeht mit der Entfremdung vom eigenen
Körper. Der Leib ist hier nicht mehr ein im Hintergrund bleibendes Vehikel zur
Welt, das allzeit zur Verfügung steht, sondern wird als ungewohnt oder gar un-
heimlich erfahren (vgl. Leder 1990; Svenaeus 2000; Toombs 1987, Slatman 2014).
Carel tut dies theoretisch unter Rückgriff auf phänomenologische Begrifflich-
keiten (Husserl, Merleau-Ponty, Heidegger, Sartre etc.), aber auch konkret be-
schreibend, anhand ihrer eigenen Erfahrung als Patientin mit einer dauerhaft
atemwegsverengenden Lungenerkrankung.

► Beispiel – Eine Phänomenologie der Atemnot

» Gefangen. So fühlt sich Kurzatmigkeit an. Gefangen im Netz der Ungewissheit,


der körperlichen Zweifel, der praktischen Hindernisse und der Angst. Die tiefste
Angst, die man sich vorstellen kann. Die Angst zu ersticken, nicht atmen zu
können, die Angst zu kollabieren, entsättigt bis hin zum Atemstillstand. […]
Vielleicht waren Sie noch nie so atemlos. Also nein, es ist nicht so, wie zum Bus
zu rennen; es ist nicht so, wie in großer Höhe zu wandern; es ist eher so, wie ich
mir das Sterben vorstelle. […] Die Luft strömt ein und aus, aber die verringerte
Oberfläche der Lunge bedeutet, dass der Sauerstoff nicht schnell genug
einströmt und das CO2 nicht schnell genug abtransportiert wird. Dies führt zu
dem schlimmsten Gefühl, das ich je empfunden habe. Eines, das sehr schwer zu
beschreiben ist, es sei denn, man hat viel zu lange die Luft angehalten und das
Gefühl, dass die Brust gleich explodiert […].
Was ist die Phänomenologie dieser totalen Empfindung? Wie beim Schmerz
kann man es unter keinen Umständen ignorieren. […] Die psychologische
Wirkung ist enorm. Das Gefühl des leiblichen Zweifels und der Unsicherheit
128 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

führt zu […] Verzweiflung, Ängstlichkeit, Beklemmung, Depression,


Verlust der Hoffnung. […] Die Welt schrumpft und wird feindlich. Die
Handlungsmöglichkeiten, die mit den Gegenständen in der Umwelt verbunden
waren, verschwinden. Ein Fahrrad ist keine Einladung mehr für einen
Nachmittag an der frischen Luft und in Freiheit. Es ist ein Relikt vergangener
Tage. Die Wanderschuhe stehen jetzt bleiern im Schrank. Sie sind nicht mehr
3 ‚etwas, das man beim Wandern trägt‘. […] Die Körperlichkeit jeder Aktion muss
kalkuliert, überlegt, an die Grenzen des Körpers angepasst werden […]. Einkäufe
müssen nach ihrem Gewicht beurteilt werden: ein halber Liter Milch: ja; 2 L:
nein. […] Ein Spaziergang an einem schönen Sommertag? Kommt auf die
Steigung der Strecke an, auf die Menge an Sauerstoff, die noch im Tank ist, auf
die Temperatur und letztlich den Grad der chronischen Müdigkeit. Alles wird
potenziell lähmend, frustrierend, ein Problem. (Carel 2016, S. 109–111, Übers.
M.W.) ◄

Eine Phänomenologie des Krankseins hat das Ziel, das subjektive Erleben von
Krankheit (illness) aus der Erste- oder Zweite-Person-Perspektive zu bestimmen
– und zwar im Gegensatz oder in Ergänzung zur objektiven Bestimmung von
Krankheit (disease), anhand von messbaren Symptomen und objektiven Klassi-
fizierungen, die in der medizinischen Diagnose und Therapie im Vordergrund
steht. Die Phänomenologie soll hierbei sowohl die Subjektivität und Spezi-
fizität der Krankheitserfahrungen einfangen, als auch eidetische (wesentliche)
Merkmale von Krankheitserfahrung überhaupt bestimmen. S. Kay Toombs
definiert in diesem Zusammenhang wesentliche Merkmale, die für jede Erfahrung
des Krankseins zutreffen sollen, wie die Erfahrung eines Verlusts der körperlichen
Ganzheit, von Sicherheit und Kontrolle, der Handlungsfreiheit sowie der ver-
trauten Welt (Toombs 1993).
Wichtig ist hierbei, wie auch bei der philosophisch theoretischen Bestimmung
allgemeiner Strukturen, dass diese vermeintlich wesentlichen Strukturen immer
wieder an konkreten Fallbeispielen und Erfahrungsberichten geprüft werden.
Krankheit im Sinne von Kranksein ist weder eine logisch allgemeine Struktur
noch ein kategoriales Apriori. Was Kranksein bedeutet und ausmacht, ist ab-
hängig von den Subjekten, die die Modifikation ihrer Erfahrung als Leid, als ein-
schränkend und bedrohlich, erfahren. Hierbei muss immer wieder auf das Ver-
hältnis von diagnostizierter Krankheit und Erleben dieser Krankheit reflektiert
werden. Nicht jede diagnostizierte Krankheit oder Veränderung des Organis-
mus geht (sofort) mit bewussten Veränderungen der Erfahrung einher. Und
nicht jede Abweichung von Gesundheitsnormen, wie etwa dem durchschnitt-
lichen Blutdruck, führt zur Erfahrung des Krankseins oder der Beeinträchtigung
bei Individuen. Zugleich gibt es noch viele Leiden und Symptome, die (noch)
keiner diagnostizierbaren Krankheit zugeordnet werden können. Hier kann eine
systematische phänomenologische Beschreibung helfen, um objektiv messbare
Veränderungen und Ursachen mit typischen Erfahrungsänderungen systematisch
in Verbindung zu bringen.
3.2 · Phänomenologie interdisziplinär
129 3
Phänomenologische Psychopathologie Auch die phänomenologische Psycho-
pathologie (7 Abschn. 3.3.1) trägt in ihrer theoretischen Ausrichtung zur
Problematisierung, Beschreibung und zum Verständnis von (den Grenzen der)
Erfahrung bei. Sie versteht sich als Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie
und untersucht die Grundstrukturen des subjektiven Erlebens und ihre Ab-
wandlungen in psychischer Krankheit sowohl theoretisch als auch empirisch.
Schon zu Lebzeiten Husserls und Heideggers entwickelte sich die sogenannte ver-
stehende Psychopathologie, begründet durch Karl Jaspers (1913), die maßgeblich
von phänomenologischen Einsichten geprägt ist. Die gegenwärtige phänomeno-
logische Psychopathologie und Psychiatrie ist weiterhin beeinflusst von der so-
genannten Daseinsanalytik (Binswanger 1922; Blankenburg 1956, 2012; Holzey-
Kunz 2008), die der Psychiater Ludwig Binswanger im Anschluss an Heideggers
Daseinsanalyse entwickelte, oder begreift sich als angewandte Phänomenologie
im Sinne Husserls, wie die Forschungsgruppe an der Universitätsklinik Heidel-
berg um den Psychiater und Philosophen Thomas Fuchs. Traditions- und ein-
flussreich ist die angewandte phänomenologische Psychopathologie auch an
der Universität Kopenhagen und dem Center for Subjectivity Research (Leiter:
Dan Zahavi), wo in Zusammenarbeit mit Psychiater:innen und Philosoph:innen
ein Fragebogen zur Diagnose früher schizophrener Symptomatiken erarbeitet
wurde – mit dem Namen EASE (Early Anomalies of Schizophrenic Experience) –,
dessen Aussagekraft auch quantitativ erforscht wird (Henriksen/Nordgaard
2016). Der erarbeitete Fragebogen orientiert sich dabei an phänomenologischen
Kategorien und zielt auf die Erkennung der von Karl Jaspers sogenannten Ich-
Störungen, also Veränderungen in der impliziten und expliziten Selbsterfahrung,
sowie der Erfahrung der Umgebung und anderer Menschen.
Obwohl die phänomenologische Psychopathologie innerhalb der klinischen
Psychiatrie nur ein Randphänomenon darstellt, hat sie gerade in den letzten
Jahren wieder an Einfluss und Relevanz gewonnen, was sich u. a. an der Ver-
öffentlichung eines Handbuchs für Phänomenologische Psychopathologie im
renommierten Verlag der Universität von Oxford erkennen lässt (Stanghellini
et al. 2018). In der gegenwärtigen theoretischen und empirischen Forschung (z. B.
in der Klinik in Heidelberg) stehen dabei vor allem Erlebniskategorien wie Leib,
Raum, Zeitlichkeit und Intersubjektivität im Zentrum. Sie finden besondere An-
wendung auf die Analyse schizophrener Ich- und Intentionalitätsstörungen und
auf das Leib- und Zeiterleben in der Melancholie oder Depression.
Thomas Fuchs, der sowohl theoretisch als auch empirisch und therapeutisch
arbeitet, untersucht etwa die veränderte Zeiterfahrung bei Patienten:innen mit
Schizophrenie und beschreibt diese im Anschluss an Husserls Theorie des inneren
Zeitbewusstseins sowie Merleau-Pontys Begriff des ‚intentionalen Bogens‘ als
eine Störung auf der Ebene der Protention (also des unmittelbaren Antizipierens
der nächstfolgenden Impression wie z. B. eines Tones einer Melodie). Fuchs
unterscheidet dabei zwischen einer impliziten und expliziten Zeitlichkeit.
130 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

5 Die implizite oder gelebte Zeit basiert auf der protentional-retentionalen Ver-
knüpfung und der affektiven Dynamik des Bewusstseinslebens. Falls diese
basale implizite zeitliche Einheit nicht gegeben ist, kommt es zu grund-
legenden Störungen in der Wahrnehmung; etwa in Form einer fragmentierten
Zeitwahrnehmung, indem gewisse Laute, Stimmen, Bewegungen als plötzlich
oder ‚aus dem Nichts kommend‘ erfahren werden. Solche basalen Störungen
3 der Zeitlichkeit finden sich laut Fuchs etwa bei schizophrenen Patient:innen.
5 Die explizite, erlebte bzw. autobiographische Zeit stellt die dimensionale Zeit
von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit dar. Auf dieser expliziten Ebene
können Erfahrungen der Desynchronisierungen erfahren werden, also wenn
die eigene Zeitlichkeit im Vergleich zu früheren Erfahrungen (auf individueller
Ebene) oder im Vergleich zu anderen Subjekten (auf intersubjektiver Ebene)
als zu langsam, träge oder zu schnell, eilend erfahren wird. Ersteres tritt u. a.
bei Depressionen auf, letzteres z. B. bei der Manie bzw. manischen Phasen.

Laut Fuchs ergeben sich aus diesen Zeitordnungen vielfältige Störungsmöglich-


keiten, die v. a. in psychischen Erkrankungen zutage treten.

► Beispiel – Störungen impliziter Zeitlichkeit in der Schizophrenie

» Ich bin gar nicht in der Lage, mein Selbst zu empfinden. Wer jetzt hier spricht,
ist das falsche Ich […]. Beim Fernsehen wird es noch seltsamer. Obwohl ich jede
Szene richtig sehe, verstehe ich die Handlung insgesamt nicht. Jede Szene springt
über in die nächste; es gibt keinen Zusammenhang. Auch der Lauf der Zeit ist
sonderbar. Die Zeit fällt auseinander und läuft nicht mehr voran. Es entstehen bloß
unzählige auseinandergefallene Jetzt, Jetzt, Jetzt, ganz verrückt und ohne Regel
oder Ordnung. Genauso ist es mit meinem Selbst. Je nach Augenblick entstehen und
verschwinden unterschiedliche Selbst ganz ohne Regel. Es gibt keine Verbindung
zwischen meinem jetzigen Ich und dem vorherigen. (Kobayashi 1998, S. 114, zitiert
in Fuchs 2015).
You are dying from moment to moment and living from moment to moment, and
you’re different each time. (Chapman 1966, zitiert in Fuchs 2015)
Die beiden Patienten schildern eine zeitliche Fragmentierung des Selbsterlebens,
die […] als eine Grundstörung der Schizophrenie anzusehen ist. Insbesondere
Symptome wie formale Denkstörungen, Gedankenentzug oder -eingebung,
Willensblockade oder -beeinflussung und schließlich der ‚Verlust der natürlichen
Selbstverständlichkeit‘ (Blankenburg 1971) lassen sich danach als Resultate
einer Fragmentierung des intentionalen Bogens auffassen, der allen Denk-,
Wahrnehmungs- und Handlungsvollzügen, aber auch dem Selbstvollzug
zugrunde liegt […] Wir haben es dabei also nicht mehr mit einer bloßen
Aufmerksamkeits- oder Konzentrationsstörung zu tun, die einen, wie man sagt,
einmal den Faden verlieren lässt. Die Störung muss vielmehr auf der Ebene der
Zeitkonstitution selbst zu lokalisieren sein: Der Bewusstseinsstrom zersetzt sich
gewissermaßen. […].
3.2 · Phänomenologie interdisziplinär
131 3
Wenn ich mich zu rasch bewege, komme ich unter Druck. Die Dinge gehen dann zu
schnell für mich. Sie werden unscharf, und es ist, wie wenn man blind wäre. So als
sähe man ein Bild in einem Moment und ein anderes Bild im nächsten (McGhie und
Chapman 1961) My feeling of experience as my own experience only appears a
split second delayed. (Parnas et al. 2005, S. 245, zitiert in Fuchs 2015)
Die Erlebnisse können also nur im retentionalen Modus, also gewissermaßen im
Nachhinein erlebt werden. Sie tauchen im Bewusstsein gleichsam als ‚erratische
Blöcke‘ auf, von denen die Patienten überrascht werden – freilich nicht im
normalpsychologischen Sinn des Plötzlichen, das wir auf der Ebene der
expliziten Zeit untersucht haben, sondern derart, dass das Bewusstsein von sich
selbst überrascht wird. In dieser Nachträglichkeit liegt der entscheidende Grund
für die schizophrenen Ich-Störungen, nämlich eingegebene Gedanken oder
von außen gesteuerte Handlungen: Die unvorhergesehenen Gedanken- oder
Bewegungsfragmente, auf die der Patient in der Retention trifft, kann er nur als
radikal Ich-fremd, letztlich als von außen gemacht erleben.
(Thomas Fuchs 2015, S. 105–106) ◄

Der Sonderfall der Normalität Eine Phänomenologie der mentalen Pathologie


oder Diversität, des Krankseins, von Schmerz, Verletzung, aber auch des Alterns
sowie körperlicher Beeinträchtigung beginnt bei der Beschreibung, um von da aus
typische Erfahrungsstrukturen oder Erfahrungsmodifikationen zu bestimmen.
Hierbei wird die Pathologie, Krankheit, Behinderung oder Beeinträchtigung
meist als Abweichung von normaler Erfahrung, d. h. Modifikation, verstanden.
Dies ist insofern gerechtfertigt, da sich ‚normal‘ hierbei auf den früheren Zustand
der Subjekte (vor der Krankheit, Unfall etc.) bezieht. Vorsicht ist jedoch geboten,
wenn man unreflektiert einen intersubjektiven Standard der Normalität an-
nimmt (wie durchschnittlicher Blutdruck oder historisch veränderliche Maßstäbe
von Gesundheit oder Fitness). Ist etwa die Erfahrung einer von Geburt an so-
genannten körperlich behinderten (oder unterschiedlich validen Person) wirklich
nicht normal, fühlt sich die Person tatsächlich eingeschränkt, oder entspricht sie
nur nicht dem intersubjektiven körperlichen Durchschnitt?
Wie in 7 Abschn. 2.2 bereits erklärt wurde, stellt Normalität keine eidetische
Kategorie dar, d. h. sie ist nicht gleichbedeutend mit dem Wesen von Erfahrung
oder ‚des Menschen‘. Normalität ist eine relative Kategorie, die sich phänomeno-
logisch entweder auf meine vorherige Erfahrung (abweichend von dieser) oder
die anderer konkreter Subjekte (abweichend von der Intersubjektivität) bezieht.
Pathologische Erfahrung oder nicht normale Körper sind daher nicht unwesent-
lich, sondern gehören wesenhaft zur menschlichen Erfahrung (das als Individuum
und Existenz nicht a priori bestimmt werden kann). Dies wird besonders deut-
lich am Beispiel des Alterns. Altern ist eine notwendige und typische Eigenschaft
jeden Lebens, damit verbundene Veränderungen und Einschränkungen sind also
nicht notwendig pathologisch; auch wenn sie von den betroffenen Subjekten
selbst als Leiden erfahren oder von einer leistungsorientierten Gesellschaft als
‚abweichend‘ charakterisiert werden (vgl. Beauvoir 2000 [1970]; Stoller 2016;
Wehrle 2020a).
132 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Normalität, konkret gedacht, ist daher nicht dasselbe wie die Bestimmung
transzendentaler Strukturen von Erfahrung. Letztere, wenn sie richtig bestimmt
wurden, gelten in ihrem Status als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung
überhaupt und daher für alle möglichen Modifikationen innerhalb möglicher
Erfahrung. Jede, auch pathologische Erfahrung weist ein Minimum an zeit-
licher, assoziativer Einheit, Sinnbildung, Bewusstsein, Passivität, Aktivität,
3 Intentionalität oder leiblicher Gerichtetheit auf. In diesem Sinne kann Normali-
tät, verstanden als minimale Einstimmigkeit oder Kohärenz der Erfahrung, als
transzendentale Bedingung gelten. Konkret lässt sich pathologische Erfahrung
dann qualitativ von normaler Erfahrung unterscheiden, z. B. in Form von der
Überbetonung eines Erfahrungsaspekts oder der mangelnden Integration von
zeitlichen Erfahrungsebenen, Formen des Selbst- und Körperbewusstseins,
passiven und aktiven Erfahrungsebenen oder Dissonanzen zwischen individueller
und intersubjektiver Erfahrung. Hier stößt die Phänomenologie an ihre Grenzen:
Sie kann Erfahrung nur auf dem Hintergrund von Normalität als Kohärenz,
Selbstverständlichkeit, Resonanz, Einstimmigkeit, Optimalität, Harmonie be-
schreiben; Pathologien, insbesondere Psychopathologien, befinden sich dabei in
einem Grenzbereich, in dem gemeinsame Begriffe und Wirklichkeiten wegfallen
und es daher schwierig wird, noch von Erfahrung oder Wahrnehmen zu sprechen.

Pathologien vorurteilslos beschreiben Auch wenn also die meisten phänomeno-


logischen Beschreibungen von Pathologien keine transzendental philosophischen
Fragen stellen – was macht Erfahrung, Wirklichkeit oder Wahrheit mög-
lich – und daher keiner transzendentalen Epoché oder Reduktion bedürfen,
sondern konkrete Beschreibungen und Typisierungen zum Ziel haben, die bei der
Diagnose und Therapie hilfreich sind, bleibt der phänomenologische Anspruch
der Vorurteilslosigkeit relevant. Erstens neigt man hier dazu, unreflektiert Vor-
annahmen darüber zu machen, was jeweils normal oder pathologisch ist bzw. als
solches gilt. Zweitens, kann man, wie etwa Merleau-Ponty betont, nicht einfach
vom Pathologischen auf das Normale schließen. Denn durch eine Krankheit oder
Verletzung fällt nicht einfach nur ein Teilbereich oder eine bestimmte Funktion
des Körpers aus, der beim normalen Subjekt noch intakt ist.
So lässt sich bei blinden Personen etwa nicht eine sogenannte reine Form
der Taktualität beobachten und anhand dieser folgern, dass die betreffenden
Funktionen, hier Tasten und Wahrnehmen, unabhängig voneinander existieren
bzw. bestimmbar sind. Vielmehr ändert sich bei einer Pathologie die gesamte
Art und Weise wie ich auf mich selbst, andere und die Welt gerichtet bin, also
wie ich wahrnehme, denke oder fühle. Es findet eine komplette Reorganisation
des Organismus statt, durch die manche Funktionen (wie das Tasten) relevanter
werden und andere Aufgaben übernehmen. Kurzum: Der Umstand, dass ich
sehen kann, ändert auch maßgeblich, wie ich die Welt tastend erfahre. Umgekehrt
nimmt das Tasten eine gänzlich andere Rolle und Qualität an, sobald das visuelle
Vermögen wegfällt.
3.2 · Phänomenologie interdisziplinär
133 3

Zur Vertiefung
Phänomenologie und Normalität

Normalität ist phänomenologisch bei erfahrungen leiden, und dabei ver-


Husserl wie Merleau-Ponty als Modali- suchen, ihrer Erfahrung aktiv Sinn zu
tät der Erfahrung und insofern nicht geben, d. h. eine wie auch immer ge-
inhaltlich bestimmt. Letzteres, also artete ‚Normalität‘ zurückzugewinnen
was und wer in einer jeweiligen Zeit bzw. diese für sich auf andere Weise
als normal gilt und identifiziert wird, (als die Mehrheit) zu etablieren. Ob-
ist historisch kontingent und bestimmt wohl also die Unterscheidung zwischen
durch soziale und kulturelle Normen. Normalität und Pathologie inhaltlich
Dies sollte gerade in der phänomeno- relativ und in der Erfahrung eventuell
logischen Untersuchung eingeklammert nur graduell zu unterscheiden ist, kann
oder als noematischer Leitfaden diese nicht gänzlich aufgegeben werden.
thematisch gemacht und kritisch hinter- Wie sonst sollte eine erwünschte Pflege,
fragt werden. Normalität nicht als Therapie und Behandlung möglich sein,
noematische, d. h. inhaltliche, sondern wenn man das Leiden nicht als solches
noetische Untersuchung orientiert sich bezeichnen kann.
dabei an der Frage, was es heißt, auf Ein deskriptiver Ansatz phänomeno-
normale Weise zu erfahren. Hierbei geht logischer Psychopathologie kann
die Phänomenologie davon aus, dass dabei etwa von minimal allgemein be-
normale Erfahrung als einstimmige (mit stimmten existenzialen Erfahrungs-
Bezug auf vorherige individuelle oder strukturen ausgehen und dann jeweils
die Erfahrung anderer Subjekte) oder die typische Selbst- und Welterfahrung,
optimale Erfahrung (in Bezug auf die den bestimmten Aufmerksamkeits-,
Umgebung, Handlungen und Bedürf- Bewegungs-, oder Denkstil von de-
nisse des Individuums oder in Bezug zu pressiven, anorektischen, schizophrenen
einer intersubjektiven Gemeinschaft) Erfahrungen bestimmen, ohne dabei
bestimmbar ist (vgl. Steinbock 1995; den Unterschied normal vs. patho-
Wehrle 2010c; Heinämaa/Taipale 2018). logisch zentral zu stellen. Jedoch bleibt
Inwiefern Einstimmigkeit, Kohärenz auch hier eine (provisorische und zu-
und Einheitlichkeit wirklich notwendig sammen mit den Patient:innen heraus-
sind für die Erfahrung und das Wohl- gearbeitete) Definition von ‚normaler
befinden leiblicher Subjekte und in Erfahrung‘ relevant, nämlich als Ziel
welchem Maße bzw. was jeweils für ein der Behandlung. Dies meint dann nicht,
Individuum oder eine Gesellschaft als dass die Patienten wieder ‚normal‘
optimale Erfahrung gilt, muss dabei im Sinne eines sozialen Normalitäts-
immer wieder kritisch hinterfragt standard oder Durchschnitts werden
werden (vgl. Wehrle 2015, 2016, 2021). sollen, sondern einfach, dass sie
Jedoch lässt sich festhalten, dass bei- wieder ‚besser‘ (schmerzfreier, unein-
nahe alle Subjekte mit Pathologien geschränkter, unbeschwerter, sorgen-
unter dauerhaft fragmentierten, un- freier etc.) leben und sozial teilhaben
zusammenhängenden, Selbst- und Welt- können.
134 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Hieraus ergibt sich, dass allgemeine Bestimmungen von Erfahrung (auch die-
jenigen der Phänomenologie selbst) zwar erst einmal als Orientierung gelten,
jedoch stets durch neue Einsichten oder empirische Ergebnisse problematisiert
werden müssen. Im Hinblick auf Pathologien und Krankheiten muss dabei
immer auch die soziale und kulturelle Dimension, also die Situierung der jeweili-
gen Subjekte, mitreflektiert werden. Nicht nur die Definition und Klassifizierung
3 von Pathologien und Krankheiten ist historisch, sondern eben auch das Erleben
selbst ist zeit- und kontextsensitiv. Erfahrungsberichte und empirische Ergeb-
nisse sind in der interdisziplinären Phänomenologie also nicht primär dazu da,
allgemeine Konzepte und Theorien zu bestätigen, sondern sollen dabei helfen,
diese zu testen und kritisch zu hinterfragen. Die meiste interdisziplinär orientierte
phänomenologische Beschreibung wendet dabei qualitative Methoden nicht
selbst an, sondern integriert lediglich existierende Resultate der empirischen
Forschung. Sie benutzt pathologische Fälle oder Fallstudien als Beispiele, um
ihre phänomenologischen Analysen zu konkretisieren, zu unterbauen oder zu
prüfen. Solche realen Beispiele können dabei als konkrete eidetische Variationen
gelten, die helfen, eine vermeintlich allgemeine Struktur der Erfahrung anhand
realer Variationen zu überprüfen sowie ihre Kontingenz oder Notwendigkeit zu
problematisieren.
Hierbei ist nicht nur ein Blick auf pathologische Erfahrung oder die
empirische Untersuchung von Pathologien hilfreich, sondern dies gilt auch für
konkrete Beispiele leiblicher Erfahrung, die eine spezielle Fähigkeit, Kompetenz
oder Expertise verkörpern, wie z. B. Tanz- und Sportaktivitäten. Auch solche
‚positiven‘ und hochspezialisierten Erfahrungen und Bewegungsprofile können
das phänomenologische Denken konstruktiv herausfordern, erweitern oder
präzisieren.

Möglichkeiten bewegter Leiblichkeit Als hochtrainierte Bewegungspraktiker


präsentieren etwa Tänzer und Sportler konkrete Variationen davon, welche Be-
wegungen, Empfindungen oder Interaktionen für uns als leiblich-körperliche
Subjekte möglich sind (wenn auch nicht für jede:n gleichermaßen). Während
pathologische Fälle mit greifbaren körperlichen oder mentalen Abweichungen
einhergehen, die vom Subjekt nicht gewollt und meist als hinderlich und be-
schränkend empfunden werden, handelt es sich bei spezialisierten Bewegungs-
praktiken von Tänzern und Sportlern um Erfahrungsmöglichkeiten, die durch
willentliche Übung und aktive Selbstformung des Körpers hervorgebracht
wurden. Sie beleuchten und konkretisieren Erfahrungsmöglichkeiten in einem
als positiv empfundenen Sinn und stellen daher konkrete eidetische Variationen
dessen dar, wie ein bewegter Körper sein kann (vgl. Ravn 2021).
Sportliche oder künstlerische Praktiken heben dabei Erfahrungen und
Möglichkeiten der Leiblichkeit hervor, die im alltägliche Leben nicht unmittel-
bar präsent sind (Legrand/Ravn 2009). Während pathologische Fälle meist durch
spezifische physische Veränderungen des Körpers oder Geistes definiert sind, die
von der medizinischen Wissenschaft gemessen und getestet werden können, ist
dies bei körperlichen Fertigkeiten nur sehr bedingt der Fall.
3.2 · Phänomenologie interdisziplinär
135 3
In beiden Fällen, der Beschreibung von Krankheit und Pathologie oder von
sportlichen und künstlerischen Bewegungsprofilen muss dabei berücksichtigt
werden, dass es sich hierbei nicht nur um individuelle oder objektive Formen von
Leiblichkeit und Körperlichkeit handelt, sondern sowohl sportliche Praktiken
als auch das Erleben von Krankheit kulturell und sozial bestimmt sind. Tanz ist
etwa Ausdruck einer bestimmten Kultur und damit verbunden mit mehr oder
minder expliziten Regeln und sozialen Normen, die den Rahmen der möglichen
Ausführung mitbestimmen. Auch die Weise, wie wir bestimmte Krankheiten er-
leben und beurteilen ist, ist zum Teil abhängig von den sozialen und kulturellen
Rahmenbedingungen. Deshalb ist es sinnvoll, phänomenologische Beschreibung
mit genealogischen oder soziologischen Perspektiven zu verbinden.

Selbst gesammelte Erfahrungsberichte, erhobene Erfahrungsdaten, eigens


untersuchte Fallstudien etc. können der Phänomenologie dabei als faktische Va-
riationen (Froese/Gallagher 2010, S. 86) im Gegensatz zu imaginierten eidetischen
Variationen (7 Abschn. 2.2) dienen, und insofern behilflich sein, sowohl
konkrete Unterschiede als auch allgemeine Strukturen der Erfahrung zu be-
stimmen. Anhand solcher faktische Variationen kann eine wechselseitigen Über-
prüfung stattfinden, zwischen bereits etablierten phänomenologischen Konzepten
und invarianten Strukturen der Erfahrung einerseits, und den konkreten Er-
lebnisberichten etwa aus qualitativen Studien (Befragungen) andererseits (7 Ab-
schn. 3.3.1).

? Aufgaben
1. Was sind die Vor- und Nachteile, Chancen und Probleme einer interdisziplinären
Phänomenologie? Listen Sie betreffende Aspekte und Argumente auf und dis-
kutieren Sie diese anhand eines Beispiels aus dem Text.
2. Was kann Phänomenologie zu einer Untersuchung von Normalität, Pathologie
oder Krankheit beitragen? Diskutieren Sie, inwiefern die drei methodischen
Schritte der Phänomenologie (Beschreibung, Eidetik und transzendentale
Rückfrage) bei der Untersuchung von Normalität und Pathologie nützlich sind
und wo sie an ihre Grenzen stoßen.
3. Was sind geeignete Themen und Probleme einer interdisziplinären Phänomeno-
logie? Sammeln Sie Ideen für neue Untersuchungsgegenstände und -gebiete
und skizzieren sie mögliche methodische Herangehensweisen für diese.
4. Glossarium: Sammeln Sie alle relevanten Fachbegriffe im Text. Definieren
Sie diese anhand des Textes und weiterer Quellen und fügen Sie diese dem
Glossarium hinzu. (Tipp: Dieses Glossar kann gemeinsam mit anderen
Kommiliton:innen erstellt werden.)
5. Welche (nicht im Text genannten) phänomenologischen Konzepte können für
eine interdisziplinäre Phänomenologie noch hilfreich sein? Sammeln Sie Unter-
scheidungen, Begriffe und Konzepte und geben Sie an, wie diese bei der Be-
schreibung bestimmter Themen und Gebiete angewandt werden könnten.
136 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

3.3  Phänomenologie in anderen Disziplinen

Es gibt kaum einen Ansatz innerhalb der Philosophie, der auf so vielfältige Weise
und in so vielen interdisziplinären Bereichen seine Anwendung gefunden hat, wie
die Phänomenologie. Bereits zu Lebzeiten von Husserl war die Phänomenologie
Ausgangspunkt und Inspirationsquelle, etwa für die Psychologie und Psychiat-
3 rie, wie sich z. B. in der Ausprägung einer Phänomenologischen Psychopathologie
oder existentiellen Daseinsanalyse bei Karl Jaspers (1913; vgl. Fuchs et al. 2013;
2017), Ludwig Binswanger (1922; vgl. Breyer et al. 2015), Wolfgang Blanken-
burg (2012; vgl. Micali/Fuchs 2014) oder später bei Henri Maldiney (1991;
Thoma 2019) zeigt. Hier steht nicht etwa wie in der klassischen Psychoanalyse
das Unbewusste im Zentrum, sondern vielmehr der Verlust der Selbstverständ-
lichkeit in der Erfahrung, der mit psychophysischen Pathologien einhergeht. Die
phänomenologische Psychopathologie versucht diesen Verlust an Selbstverständ-
lichkeit in der Selbst- und Welterfahrung auf verschiedenen Ebenen (Zeitlichkeit,
Wahrnehmung, Handlung, Denken, Urteilen, Kommunikation) zu erkennen und
zu beschreiben.
Auch innerhalb der Soziologie entsteht eine phänomenologische Strömung,
die sich im Ausgang von Husserl und der Sozialphänomenologie von Alfred
Schütz (2004 [1932]; Schütz/Luckmann 2020 [1979], 2020 [1984]) als Alltags-,
Lebenswelt- oder Wissenssoziologie versteht. In diesem Zusammenhang werden
auch neue Untersuchungsmethoden entwickelt, die versuchen, die Erfahrung
und ihre Bedeutung für die jeweiligen Subjekte in die soziologische Analyse ein-
zubinden. Es entwickeln sich von der Phänomenologie inspirierte, jedoch eigen-
ständige, von der philosophischen Problemstellung weitgehend abgelöste
Richtungen und Methoden, wie der Sozialkonstruktivismus, die hermeneutische
Soziologie und die Ethnomethodologie von Harold Garfinkel. Ausganspunkt bei
der Ethnomethodologie ist etwa, dass Erfahrung immer schon eine Art (soziale)
Interpretation, d. h. auf eine bestimmte Art und Weise geordnet, ist. Diese
Ordnungen werden von den Subjekten interaktiv hergestellt, bestätigt oder in-
frage gestellt. Die Ordnung, das ‚ethnos‘, machen die Handelnden dabei selbst,
sind sich dessen aber nicht eigens bewusst. Die Ethnomethodologie soll nun
helfen, diese Ordnung bzw. die ordnende und sinngebende Tätigkeit reflektiv
zum Thema, d. h. explizit, zu machen. Die hierfür eingeführte interpretative Ge-
sprächsanalyse führte methodisch zu einer hermeneutischen Wende und trug
maßgeblich zu der Etablierung der empirisch qualitativen Sozialforschung bei
(vgl. Knoblauch 2009).

Soziologie als Lebensweltanalyse Die Besonderheit einer phänomenologisch in-


spirierten Soziologie ist dabei ihre Betonung der Subjektivität innerhalb einer
theoretischen wie empirischen Gesellschaftsanalyse. So soll in der soziologischen
Praxis die Analyse der Gesellschaft an das Verstehen von Subjekten sowie die
Wissenschaft an die Lebenswelt zurückgebunden werden. Die gegenwärtige
deutschsprachige Sozialphänomenologie orientiert sich dabei als Lebensweltana-
lyse oder Ethnographie der Lebenswelt konzeptuell an Alfred Schütz’ Analyse
der Typisierung. Sie will dabei nicht einfach Ansichten von betroffenen Personen
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
137 3
in die soziologische Analyse mit einbeziehen, sondern das Handeln aus der
Perspektive der Handelnden, sozusagen ‚von innen‘ verstehen, indem sie typische
subjektive Perspektiven rekonstruiert. Hierbei handelt es sich um den Versuch
einer historisch, sozial und kulturell spezifischen, jedoch noch stets eidetischen,
d. h. allgemein-typischen, Beschreibung von Handlungen. Dabei steht nicht
mehr nur die sinnliche Erfahrung oder leibliche Handlung im Zentrum (wie
etwa bei Husserl oder Merleau-Ponty), sondern zunehmend die Sprache. Durch
die Sprache tragen wir ein implizites aber jederzeit verfügbares ‚Vorratslager‘ an
Wissen mit uns, das typisch für unsere Zeit, Kultur, Geographie oder soziales
Umfeld ist. Wie Schütz es ausdrückt, „die Sprache wählt aus, was wichtig ist und
was als selbstverständlich angesehen wird“ (Schütz 2003, S. 276).

Ethnologie – Vorurteile und teilnehmendes Verstehen Die phänomenologisch


orientierte Ethnographie versucht zudem auch methodisch kritisch auf ihre
eigenen Vorannahmen, Erwartungen und Beobachtungen zu reflektieren und
wendet damit eine Art deskriptive Epoché an. Neben einer solchen Besinnung
auf die Erfahrung der Forschenden selbst, wird eine „praktische Mitgliedschaft“
am Geschehen bzw. dem Forschungsgegenstand erwartet, von dem man sich eine
„existentielle Innenansicht“ verspricht (Honer 2000, S. 200). Dies ist jedoch nicht
zu verwechseln mit einer transzendentalen Epoché, die ja gerade eine Distanz
zum Untersuchungsgegenstand herstellen will, und unsere natürliche Ein-
stellung vollständig einklammert. Eine existentielle Innenansicht soll hingegen
dem Forschenden ‚fremde‘ und nicht selbstverständliche Kulturen näherbringen,
etwa durch einfühlendes Nachverstehen oder praktisches Nach- und Miterleben.
In der teilnehmenden Beobachtung findet dabei auch eine Konfrontation mit den
eigenen Vorurteilen über die zu untersuchende Kultur oder Subjektgruppen statt,
jedoch nicht nur vorab oder reflektiv, sondern während des Beobachtens selbst,
also performativ. Im Versuch des Mitmachens und Mitlebens im Alltag der zu
untersuchenden Subjekte, werden etwa wechselseitig sowohl die eigene Ausgangs-
position und Vorannahmen der Forschenden explizit – etwa dadurch, dass diese
enttäuscht werden – als auch das jeweilig typische oder charakteristische des
Untersuchungsgegenstands. In der ethnographischen Untersuchung selbst findet
damit eine Art intersubjektive oder besser interkulturelle Konstitution von Sinn
statt, die sowohl die andere als auch die jeweils eigene Kultur im Vergleich und
durch Abgrenzung bestimmt. Hermeneutisch gesprochen, wird hier in der Aus-
einandersetzung mit dem Anderen das eigene Vorverständnis erst ersichtlich: In-
dem ich versuche die Anderen zu verstehen, verstehe ich mich selbst eben auch
anders.

Verlust der Selbstverständlichkeit Sowohl die phänomenologische Psychiatrie


oder Psychopathologie als auch die phänomenologische Soziologie oder Ethno-
graphie versuchen also, die Selbstverständlichkeit der Welterfahrung bzw. den
Verlust dieser Selbstverständlichkeit zu beschreiben. Beide tun dies in Gesprächen
mit oder durch Berichte von den jeweiligen Subjekten, also aus einer Zweite-­
Person-Perspektive. Nicht mehr die eigene Erfahrung ist Ausgangspunkt der
138 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

­ eschreibung (Erste-Person-Perspektive), sondern die beobachtete, ausgedrückte


B
oder artikulierte und berichtete Erfahrung anderer Menschen.
Liegt die Herausforderung der Kultur- und Sozialforschung darin, dass es sich
bei den Untersuchenden und dem Untersuchten um zwei verschiedene Selbstver-
ständlichkeiten handelt (etwa verschiedene Kulturen), liegt sie bei der Psycho-
pathologie darin, dass Selbstverständlichkeiten und Sinn als gemeinsame Grund-
3 lage der Beschreibung zwischen Psychiater:innen und Patient:innen selbst fehlen.
Wie bereits der deutsche Psychiater Wolfgang Blankenburg betonte, muss hierbei
unterschieden werden zwischen der Methode der Reduktion oder Epoché, also
einer vorübergehenden methodischen Einklammerung der Selbstverständlich-
keit (also der natürlichen Einstellung), und dem konkreten pathologischen Ver-
lust derselben. Patient:innen der Schizophrenie müssen sich etwa verzweifelt be-
mühen, ein Minimum an überlebensnotwendigen Evidenzen aufrechtzuerhalten,
oder kämpfen gegen den Schrecken oder die Grundlosigkeit der eigenen Existenz
an (Blankenburg 2012, S. 97, 133, 93, 90).
Die Herausforderung beider Disziplinen liegt wie auch in der klassischen
phänomenologischen Methode darin, ausgehend von der eigenen Erfahrung, aber
absehend von deren lediglich subjektivem Charakter, Gemeinsamkeiten genauso
wie spezifische oder gar radikale Unterschiede zu erkennen und zu beschreiben.

Anpassung phänomenologischer Leitbegriffe Um etwa die anormale Erfahrung


eines Patienten von sich selbst, der Zeit, dem Raum oder der Atmosphäre zu er-
forschen, ist es notwendig, einige recht spezifische, aber dennoch offene Fragen zu
stellen. Typischerweise wird hierfür die Form eines ‚halbstrukturierten Interview‘
gewählt. Dies ist ein Interview, dem im Gegensatz zum freien Interview ein festes
Frageschema zugrunde liegt, in welchem jedoch die Reihenfolge der Fragen nicht
verbindlich ist, wie etwa beim strukturierten Interview. Mit Hilfe eines solchen
halbstrukturierten Interviews gelingt es, betreffende Bereiche der Erfahrung zu
identifizieren und mögliche Veränderungen dieser Erfahrungen aufzuzeigen.
Als Ausgangspunkt und Leitfaden dieser Interpretation müssen dabei bereits
phänomenologische Unterscheidungen und Konzepte zum Ausgang genommen
werden. Daher gleicht dieses Vorgehen eher einer hermeneutischen Phänomenolo-
gie, als einer vollständigen Einklammerung von Vorannahmen (vgl. Sass 2019).
Ebenfalls zeigt sich, dass in der phänomenologischen Psychiatrie und Psycho-
pathologie eine gewisse eidetische Orientierung vorliegt, indem man von all-
gemeinen Bestimmungen und Bereichen von Erfahrung ausgeht. Die qualitative
Untersuchung der anormalen Erfahrungen der Patient:innen kann und soll
jedoch auch zur Verfeinerung dieser Grundkonzepte beitragen. Bei psychotischen
Störungen kann sich eine solche Verfeinerung sogar als revolutionär erweisen.
Die Forschenden müssen sich hier bemühen, zu begreifen, was zumindest auf den
ersten Blick (für sie) gar nicht vorstellbar erscheint, und kommen so zu neuen Er-
fahrungsvariationen und Begriffen.
Die phänomenologische Psychopathologie richtet sich dabei verstärkt auf die
Rolle des Selbst bei psychischen Erkrankungen. Eine der wichtigsten Hypothesen
hierbei ist, dass sich etwa die Schizophrenie durch eine Störung des (impliziten)
Basis-Selbst oder der Ichhaftigkeit auszeichnet (vgl. Sass/Parnas 2003; Parnas
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
139 3
2003; Parnas/Henriksen 2014; Henriksen/Nordgaard 2016). Die Untersuchung
solcher Phänomene kann die Phänomenologie dazu inspirieren, die notwendige
Universalität dessen, was manchmal als Bewusstsein bezeichnet wird, infrage
zu stellen. Gleichzeitig legt sie die Notwendigkeit nahe, zwischen verschiedenen
Aspekten der grundlegenden Selbsterfahrung (z. B. zwischen agency und owners-
hip) zu unterscheiden, die zuvor nicht offensichtlich waren (Zahavi 2005).

Zur Vertiefung
Hermeneutische Aspekte der Psychopathologie

Während die phänomenologische die wir in Zukunft sein wollen, unsere


Psychopathologie sich vor allem auf Ambitionen, Träume und Hoffnungen
Störungen der präreflexiven Strukturen für die Zukunft. Auch dies beeinflusst
der Selbstwahrnehmung wie Zeitlich- die Erfahrung von Krankheit und
keit und Verkörperung richtet, also dem Leiden maßgeblich.
impliziten Selbstbewusstsein, widmet Die Identität in ihrer vollen personalen
sich die hermeneutische Phänomeno- Form kann dabei als eine Art Selbst-
logie den Folgen solcher Störungen für erzählung verstanden werden, an
das explizite Selbstbewusstsein. Dies ist der wir aktiv mitwirken, sozusagen
insofern notwendig, als eine umfassende das Narrativ, die storyline oder der
Untersuchung einer möglichen Selbst- plot unseres Lebens. Der Mensch, so
störung nicht nur implizite Bewusst- die Idee, lebt sein Leben nicht ein-
seins- oder Verhaltensprozesse, sondern fach so, sondern möchte diesem
auch die personale Ebene des Subjekt- Leben, seinem Verhalten, den Taten
seins umfasst. und Geschehnissen Sinn geben. Wir
Als Personen sind wir leibliche, aber erzählen also Geschichten von uns
auch soziale und rationale Wesen, die selbst und anderen, um so einen Zu-
diesen Aspekten ihres Seins einen Platz sammenhang herzustellen. Eine solche
und einen Sinn geben müssen. Der Be- narrative Identität ist eine Art und
griff der Person ist daher weiter ge- Weise, sogenannte ‚Wer?‘-Fragen zu be-
fasst als der Begriff des Selbstseins, wie antworten. Also ‚Wer ist das?‘, ‚Wer
er typischerweise in der phänomeno- sind wir?‘, ‚Wer hat das gesagt?‘, ‚Wer
logischen Psychopathologie genutzt hat das getan?‘. Dieser narrative Kern
wird, d. h. als kontinuierlicher und be- und Zusammenhang innerhalb unseres
ständiger impliziter Selbstbezug. Der Lebens oder in Relation zu anderen
Begriff der Person schließt sowohl Menschen bleibt jedoch zerbrech-
die biologischen, sozialen als auch lich (vgl. Ricœur 1990). Im Kontext
ethischen Aspekte des menschlichen psychischer Krankheiten wird dieses
Lebens ein. Darüber hinaus bringt narrative Selbst radikal infrage ge-
er Aspekte der menschlichen Identi- stellt. Um diese Aspekte thematisieren
tät zum Vorschein, die wir nicht un- und behandeln zu können, ist es dabei
mittelbar erleben, z. B. die Person, wichtig, hermeneutische Aspekte in
140 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

die Psychiatrie zu integrieren. Wie halte? Diese Fragen stellen sich nicht
René Rosfort dies treffend ausdrückt, mit der gleichen existenziellen Dring-
ist es ein besonderes Merkmal von lichkeit, wenn es um einen Beinbruch
psychischen Krankheiten, dass sie oder eine Nierenerkrankung geht (ob-
unsere Identität infrage stellen oder wohl das Identitätsgefühl natürlich
3 sogar drohen, diese aufzulösen: immer auch von einer somatischen Er-
„Die Fragen, die schweres psychisches krankung betroffen ist). Bei psychischen
Leiden begleiten, provozieren oft das Ge- Erkrankungen steht die Identität der
fühl, sich selbst zu verlieren oder verloren Person radikaler auf dem Spiel, da es
zu haben […]. Warum fühle ich so, wie keine determinierte Erfahrungsgegeben-
ich fühle? Ist meine Reaktion normal? heit oder eine explizite Ursache gibt (z. B.
Bin ich schuld an dem, was mit mir ge- der Schmerz, wenn man sich den Zeh
schieht? Liegt es an etwas, das ich ge- stößt, oder das Gefühl der Traurigkeit
tan habe, oder daran, dass ich eigent- aufgrund einer abfälligen Bemerkung).“
lich nicht der bin, für den ich mich (Rosfort 2019, S. 244, Übers. M.W.)

Hermeneutischer Zirkel All dies zeigt, dass die Erkenntnis des Wesens der Er-
fahrung selbst ganz und gar erfahrungsmäßig ist, aber auch, dass jede Erkennt-
nis von Tatsachen immer ein apriorisches Verständnis des Wesens einschließt.
So lassen sich die Aufgaben eben nicht immer so strikt trennen, zwischen einer
Philosophie, die die Definitionen und Begriffe bereitstellt, und einer empirischen
Psychologie, die versucht, Tatsachen zu verstehen. Stattdessen treffen wir hier
in der Verbindung von Psychiatrie und Philosophie auf einen hermeneutischen
Zirkel, eine ‚Hyperdialektik‘, d. h. ein Hin- und Herpendeln zwischen Theorie
und Evidenz, zwischen Wesen und Existenz bzw. Tatsachen.

Ethnographische Beschreibung ist nicht neutral Auch in der Ethnographie oder


interkulturellen Phänomenologie wird deutlich, dass sich das reine Wesen oder
das Ursprüngliche einer Kultur nicht a priori oder überzeitlich bestimmen
lässt. In der ethnographischen Forschung sind dabei weder das Untersuchungs-
interesse noch die Methode völlig neutral oder objektiv. Zwar können minimale
Strukturen oder Bedingungen identifiziert werden, die für alle Menschen
(Körperlichkeit, Erfahrung, Sprache etc.) oder Kulturen (Werkzeuge, Tradition,
Rituale etc.) gelten – diese müssen jedoch immer wieder überprüft werden:
Schließlich sind es immer konkrete, kulturell, sozial und historisch situierte
Menschen, die wiederum andere Menschen und deren Kultur untersuchen. Noch
vielmehr als im Ärzt:innen-Patient:innen-Verhältnis wird hierbei die Asym-
metrie von Forschenden und erforschten Subjekten deutlich. Es bleibt ein Macht-
gefälle und eine Deutungshoheit zwischen den untersuchenden und den unter-
suchten Subjekten bestehen, die, wie in der Anthropologie, imperiale, rassistische
Züge annehmen kann, wie die post-koloniale Kritik innerhalb der Ethnographie
und Anthropologie aufgezeigt hat: Etwa wenn westliche Anthropolog:innen
im 20. Jahrhundert sogenannte ‚primitive‘ Völker untersuchten und damit
gleichzeitig entweder als unzivilisiert abwerteten oder als naturverbunden und
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
141 3
­ rsprünglich idealisierten und romantisierten. Eine ähnliche Gefahr lauert, wenn
u
man in der Psychiatrie abweichende Erfahrungen und Verhalten entweder zu
schnell pathologisiert oder aber das echte Leiden an einer psychischen Krankheit
als geniehaften Wahnsinn idealisiert.

Zu den Sachen selbst? Phänomenologie oder der Ruf nach den Sachen selbst,
darf in diesem Zusammenhang weder missverstanden werden als naive Rück-
kehr zu einer vermeintlich unmittelbaren und direkt zugänglichen Erfahrung
(der eigenen oder anderer Kulturen) noch mit einer Theoriefeindlichkeit gleich-
gesetzt werden, wie dies etwa manchmal in der amerikanischen Ausprägung
der phänomenologischen Anthropologie den Anschein hat (vgl. Jackson 1996).
Manche sehen in der Praxis der Ethnographie dabei selbst schon den Vollzug
einer Epoché, da es in der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen automatisch
zu einem Bruch mit der natürlichen Einstellung kommt. Diese erlebte Ab-
weichung von der eigenen Normalität kann aber, wenn überhaupt, nur ein erster
Schritt, keineswegs aber hinreichender Grund für eine kritische Reflektion sein.
Schließlich könnte eine solche Abweichung anstatt zu der gewünschten Offenheit
auch zu einer Abwertung der anderen Kultur oder einer Verteidigung der eigenen
Normalität, Kultur, Herkunft oder Nationalität führen, wie in der unrühmlichen
Geschichte der Anthropologie von der Aufklärung bis hin zu ihrer Kulmination
in der Rassenlehre unter Hitler im Nationalsozialismus nur allzu deutlich wird.

Vorurteilslos beschreiben? Vorurteilslos beschreiben meint also nicht, jegliche


Theorie zu negieren, sondern diese in Erfahrung zu fundieren. Es handelt sich
um eine bewusste methodische Einstellung, die die jeweils gängigen theoretischen
Methoden und Annahmen einklammert, um diese zu thematisieren und deren
Legitimität zu prüfen. Ziel muss es sein, zu einer besseren Theorie zu gelangen,
d. h., einer Theorie, mit der die zu untersuchenden Sachen adäquater, der Sache
nach besser erfasst werden können. Die Einklammerung von liebgewonnenen An-
nahmen und Vorwissen (als eine noch nicht transzendentale, sondern deskriptive
Epoché) soll dabei den Blick auf die Art und Weise lenken, wie uns der Unter-
suchungsgegenstand gegeben ist. Hierzu gehören im Falle der Ethnographie oder
Anthropologie auch Vorannahmen darüber, was einen ‚Menschen‘ oder eine
‚Kultur‘ ausmacht oder was innerhalb des Faches als relevante Analysekategorie
verstanden wird. Im Hinblick auf die Psychiatrie ist hier ein kritischer Umgang
mit der Unterscheidung und Definition von Normalität und Pathologie gefragt.

Transzendentale Fragen und Methodenkritik Transzendental wird die Frage-


stellung dabei erst, wenn wir nicht mehr danach fragen, wie uns etwas gegeben
ist, sondern wie uns etwas gegeben sein kann, wenn also die Bedingungen der
Möglichkeit von Gegebenheit als solches untersucht werden. Diese vermeintlich
transzendentalen Strukturen werden jedoch in der Psychiatrie auch theoretisch
zum Thema, da es sich dort um die Untersuchung von Grenzfällen der Er-
fahrung handelt, wo jegliche zeitliche und inhaltliche Kohärenz im Selbst- und
Weltbezug verlorengeht. Wo sind die Grenzen der Erfahrung und des Selbst? Hier
ist ein Blick auf Psychopathologien lehrreich. Die Soziologie, Ethnographie und
142 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Anthropologie kann uns dahingegen in einem konkreten genealogischen Sinn auf


die Grenzen unserer eigenen Vorannahmen hinweisen, indem sich diese im Blick
auf die Geschichte, andere Kulturen und mögliche Situierungen relativiert. Dabei
können sich Phänomenologie und Soziologie gegenseitig korrigieren und prüfen,
um dem Imperativ der Vorurteilslosigkeit gerecht zu werden. Dabei sollte man
nicht nur nach den eigenen Vorannahmen, sondern auch nach den historisch-
3 kulturellen Bedingungen seines Faches fragen. Eine solche genealogische Wissen-
schaftskritik muss dabei über eine rein phänomenologische Untersuchung hinaus-
gehen (z. B. indem sie dezidiert nach den historischen oder ökonomischen, d. h.
strukturellen Bedingungen fragt).

3.3.1  Phänomenologie und qualitative Forschung

Wie lassen sich nun in gegenwärtiger Forschung Erfahrungs- oder Erlebnis-


berichte von Subjekten, sogenannte Erfahrungsdaten, in geeigneter Weise er-
heben und in die Analyse miteinbeziehen? Und was ist daran phänomenologisch,
außer dem thematischen Fokus auf die Erfahrung selbst?
Bei einer solchen qualitativen Sozialforschung sind die Subjekte selbst mit-
samt ihrer Erfahrung und ihrer Handlungsfähigkeit der zu untersuchende Gegen-
stand. Qualitative Forschung, die sich auf die Phänomenologie als Methode
beruft, erhebt dabei Erfahrungsdaten in Form von direkter Befragung (Inter-
views oder aufgezeichnete Erlebnisberichte, z. B. Tagebücher) und bezieht teil-
weise auch die Beobachtung des Verhaltens als Hintergrundinformation über die
untersuchten Subjektgruppen mit ein. Dieses Vorgehen geht dabei meist über eine
einmalige Befragung hinaus. Die zu untersuchenden Subjekte, werden dann über
einen längeren Zeitraum begleitet. Dies lässt sich als eine Art ethnographisches
Vorgehen bzw. Kurzzeit-Feldforschung bezeichnen (vgl. Ravn 2021).

Interpretative Phänomenologische Analyse (IPA) Eine geläufige Methode, die hierfür


genutzt wird, ist die aus der Soziologie stammende (und durch die Phänomeno-
logie historisch inspirierte) Methode der Interpretativen Phänomenologischen
Analyse, kurz: IPA. Eine gegenwärtige Studie im Bereich der Medizin und Pflege-
wissenschaften unter Beteiligung der niederländischen Phänomenologin Jenny
Slatman soll hier als Illustration für den Einsatz dieser Methode dienen (vgl.
Bootsma et al. 2021). Die Studie richtet sich auf das Leiden an chronischer
Müdigkeit bei Krebspatient:innen, und der Rolle, die hierbei der Verlust und die
Wiedergewinnung von (alten und neuen) Gewohnheiten spielt. Ziel der Studie war
es, nicht nur herauszufinden, ob und wie chronische Müdigkeit mit dem Verlust
von Gewohnheiten einhergeht (also wie dies von den betreffenden Subjekten er-
fahren wird), sondern auch wie man Krebspatient:innen beim Aufbau neuer Ge-
wohnheiten in der Therapie helfen kann, damit Betroffene wieder ein Stück
Normalität zurückgewinnen.
Hierfür wurden halbstrukturierte Interviews mit einer gezielten Stich-
probe von 25 Teilnehmenden durchgeführt, die mindestens drei Monate lang
unter schwerem CCRF (chronic-cancer related fatigue), also chronischer
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
143 3
­ rebs-relatierter Müdigkeit litten. Dabei wurde ein Themenleitfaden zu den ge-
k
lebten Erfahrungen der Patient:innen eingesetzt. Dieser bestand aus offenen
Fragen, die auf Forschungsliteratur sowie klinischer Erfahrung basierten, und
die zusammen mit Therapeut:innen, die über klinische Expertise in der Be-
handlung von Patienten mit CCRF verfügten, vorab am Institut für Psycho-
onkologie getestet wurde. Der Themenleitfaden umfasste dabei die Gebiete Er-
fahrung (Beschreibungen, Empfindungen, Kognitionen, Muster, Attributionen),
Konsequenzen (für das tägliche Leben, den Körper, das Selbstgefühl) sowie
Handlungen (in Bezug auf sich selbst und andere; Nennung helfender und
hinderlicher Faktoren). Für die Analyse der Transkripte wurde die IPA ver-
wendet, in welcher die Berichte in sechs Schritten ‚kodiert‘ werden. Die IPA ist
laut der Autor:innen besonders nützlich, um die Multidimensionalität, d. h. die
Dynamik, den Einfluss des Kontextes und die subjektive Dimension von CCRF
zu untersuchen.

Fünf Schritte der Kodierung von Erfahrungsberichten Der erste Schritt der
Kodierung nach IPA besteht im Lesen und Wiederlesen der Transkripte und
dient dazu, sich mit den Daten vertraut zu machen. Im zweiten Schritt beginnt
man, erste Notizen zu den betreffenden Berichten zu machen, was als offenes
Kodieren bezeichnet wird. Im dritten Schritt werden nun wiederkehrende Themen
in Bezug auf die Reaktion auf CCRF identifiziert, die danach in den folgenden
Interviews zur Anwendung kommen. Hierbei wurde eine Auswahl von sechs
Kategorien (d. h. Metaphern, Glaubenssätze, Vergleiche, Antworten, hilfreiche
und nicht hilfreiche Antworten) in zwei Klassen eingeteilt, in maladaptive (z. B.
weitermachen, verleugnen und Widerstand) und adaptive (z. B. Aktivitäten ver-
langsamen, stoppen oder reduzieren) Reaktionen. Im vierten Schritt suchten
die Forscher:innen nach Verbindungen zwischen den auftauchenden Themen
und entwarfen eine Tabelle mit zwei allgemeinen Mustern des Bewältigungs-
prozesses: dem Anpassen (individuell/sozial) an neue Umstände und dem Los-
lassen (individuell/sozial) in Bezug auf alte Gewohnheiten. Der fünfte Schritt
fasst die Einzelinterviews zusammen, und prüft sie auf Vollständigkeit. Darüber
hinaus wurden in der betreffenden Studie abschließend zwei Teamdiskussionen
abgehalten, um übergeordnete Themen zu identifizieren, die sowohl adaptive als
auch maladaptive Reaktionen umfassend beschreiben. Thematische Unstimmig-
keiten zwischen den Teammitgliedern wurden dabei diskutiert, bis ein Konsens
erreicht war. Hierbei war es von Vorteil, dass die Mitglieder der Forschungs-
gruppe über einen multidisziplinären Hintergrund, d. h. über philosophische,
klinische und/oder qualitative Forschungserfahrung in der Psychoonkologie, ver-
fügten.

Definition
Die IPA (vgl. Smith et al. 2009) wurde u. a. vom Psychologen Jonathan Smith
entwickelt und findet ihre Anwendung im Bereich der Sozial- und Gesundheits-
forschung. Bei der IPA wird keine vorab aufgestellte Hypothese oder Theorie ge-
testet; ausgehend von den Erfahrungsberichten werden im Verlauf Bedeutungen
144 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

und Strukturen festgelegt. Hierfür nutzt man halbstrukturierte Interviewtechniken,


d. h. Interviews, die bestimmte Erfahrungsbereiche vorgeben, aber ansonsten
offen gehalten sind. Nach der Transkription der Daten arbeiten die Forschenden
mit dem Text und kommentieren (‚kodieren‘) diesen in mehreren Durchgängen.
Dies soll einen Einblick verschaffen in (a) die Erste Personsperspektive der
Subjekte (Phänomenologie) und (b) wie Subjekte ihren Erfahrungen Sinn geben
3 (Hermeneutik). Im weiteren Verlauf der Analyse katalogisieren die Forschenden
diese ‚Codes‘ und beginnen, nach sogenannten Themen zu suchen, d. h. wieder-
kehrende Bedeutungsmuster (Ideen, Gedanken, Gefühle), die dann in jeweils über-
geordnete Themen integriert werden können. Idealerweise wird der Prozess des
Kommentierens und Kodierens von mehreren Forschenden durchgeführt, dis-
kutiert und ausgehandelt.

Als Resultat der obigen Studie konnten fünf zusammenhängende Themen oder
typische Reaktionen identifiziert werden, die bei allen Teilnehmenden in der Er-
fahrung von CCRF sowie in der dokumentierten schrittweisen Anpassung an
die neuen Lebensumstände gleichermaßen relevant waren: (1) körperliche und
emotionale Grenzen entdecken, (2) Unterstützungsbedürfnisse kommunizieren,
(3) Aktivitäten und Ruhe reorganisieren und planen, (4) die ‚habituelle Identität‘
(Wehrle 2020b) loslassen und (5) CCRF erkennen und akzeptieren.

Genetische Ebenen der Gewohnheitsbildung Wie die Autor:innen betonen, stimmt


dies mit den drei Ebenen der Gewohnheitsbildung überein, die man in Bezug auf
Husserl und Merleau-Ponty unterscheiden kann (Wehrle 2020b). Die erste Ebene
der Gewohnheitsbildung wird als ein Erlebensstil definiert, der auf einer direkten,
unbewussten Reaktion auf wiederholte individuelle Erfahrungen beruht. Der
Kampf gegen CCRF mit nicht mehr ‚adaptiven‘ Gewohnheiten und Glaubens-
sätzen ist hierbei ein verzweifelter Versuch, weiterzumachen wie bisher. Dies
spiegelt sich z. B. darin, dass Patient:innen den eigenen Körper vernachlässigen.
Dies basiert, so die Forschungsgruppe, auf einer primär unbewussten Reaktion
auf CCRF und steht in Zusammenhang mit Erfahrungen aus der Krebsvor-
geschichte mit Müdigkeit. Die zweite Ebene der Gewohnheitsbildung bezieht
sich in passiver oder aktiver Weise auf frühere leibliche und praktische Erfahrung
(z. B. Körpergedächtnis). Themen wie ‚körperliche und emotionale Grenzen ent-
decken‘, ‚Unterstützungsbedarf kommunizieren‘ und ‚Aktivitäten und Ruhe-
zeiten planen und reorganisieren‘ sind Beispiele für eine solche leiblich-körper-
liche Ebene der Gewohnheitsbildung und weisen auf einen Lernprozess in Bezug
auf frühere leibliche Erfahrungen hin. Das leibliche Erleben und Wahrnehmen
des Körpers ist in dieser Phase zentral; es wird in Bezug gesetzt mit früheren Er-
fahrungen und von den Patient:innen in verschiedenen Selbstbeobachtungs-
prozessen festgehalten, wie z. B. dem Schreiben über Erfahrungen, dem Auf-
zeichnen von Aktivitäten oder der Pflege ihres Körpers. Diese Prozesse voll-
ziehen sich zunächst aktiv, bevor sie dann zu einer neuen leiblichen Gewohnheit,
und damit selbstverständlich werden. Die dritte Ebene der Gewohnheitsbildung
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
145 3
basiert dann auf persönlicher Reflexion, um bewusst alte Gewohnheiten zu
­verändern und neue Verhaltensweisen und Überzeugungen zu bilden und ein-
zuhalten. Diese persönliche Ebene der Gewohnheitsbildung spiegelt sich in den
Themen ‚Loslassen der gewohnten Identität‘ und ‚Erkennen und Akzeptieren von
CCRF‘.

Phänomenologische Interpretation? Die phänomenologische Perspektive kann


hierbei einen Einblick in die Bildung neuer Gewohnheiten und Überzeugungen
schaffen, und so darüber informieren, welche bewussten und unbewussten
Prozesse eventuell hilfreich sind, um eine positive Reaktion auf CCRF zu unter-
stützen. Die interpretative phänomenologische Analyse ermöglicht es hierbei, zu
erfassen, wie Subjekte CCRF erfahren und auf diese reagieren. Die Reaktion auf
eine chronische Krankheit ist dabei ein vielschichtiger Prozess, der nie vollständig
abgeschlossen ist. Jedoch können typische Elemente einer solchen Reaktion be-
stimmt werden, um daraufhin diejenigen Prozesse in den Fokus zu rücken, die
Patient:innen helfen können, die Anpassung an die neuen Lebensumstände zu er-
leichtern.
Auch in den Pflege- und Gesundheitswissenschaften wird die IPA gerne an-
gewandt, da sie geeignet ist, um zu untersuchen, wie kleine Subjektgruppen in
spezifischen Kontexten ein bestimmtes Phänomen (ihre Krankheit, ihre Sexuali-
tät oder andere Aspekte ihres Lebens etc.) erfahren. Aus philosophischer Sicht,
lässt sich jedoch einiges am Verständnis der Phänomenologie und ihrer Methode,
z. B. seitens der Psychologie oder Pädagogik, kritisieren (vgl. Zahavi 2018). Zum
Beispiel lässt sich fragen, inwiefern die IPA wirklich eine vollständig neutrale und
theoriefreie Befragung ermöglicht oder ob dies im praktischen Kontext über-
haupt erstrebenswert ist. In langjährigen Forschungsprojekten ist etwa nicht ein-
deutig zu bestimmen, ob sich die Ausrichtung und der Fokus einer qualitativen
Studie lediglich aus ‚neutralen‘ Erfahrungsberichten herauskristallisiert oder ob
bestimmte phänomenologische Differenzierungen oder vorherige Erfahrungen
mit Patient:innen leitend waren. Dies muss nicht unbedingt schlecht sein bzw. als
Kritik verstanden werden. Auch die Orientierung anhand phänomenologischer
Konzepte oder Resultate kann zu einer neuen und aufschlussreichen Perspektive
auf die Erfahrung der jeweiligen Subjekte und der untersuchten Krankheit
führen, die andere Ansätze komplementieren kann. Es ist jedoch ratsam, diese
Ausrichtung und Vorannahmen vorab explizit zu machen und ihre Auswahl zu
begründen, um so die Transparenz der Untersuchung zu gewährleisten.
Weitere phänomenologische Ansätze, z. B. in der englischsprachigen Erziehungs-
wissenschaft, sind in diesem Kontext ebenfalls einflussreich. Bei genauerem Hin-
sehen haben die dort übernommenen Methoden oder methodischen Empfehlungen,
wie ‚untersuche die Erfahrung, wie Du sie erlebst, unabhängig von Kon-
zeptualisierungen‘; ‚identifiziere wesentliche Themen, die diese Erfahrungen
charakterisieren‘ etc. (vgl. van Manen 1990, S. 31 f.) nur oberflächlich etwas mit den
philosophischen Fragen und Zielen der Phänomenologie gemein. Oft wird dabei die
transzendentale Dimension der Phänomenologie sowie der Sinn und Umfang der
transzendentalen Epoché und Reduktion missverstanden.
146 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Lieber die Epoché vergessen? Dies hat Dan Zahavi dazu veranlasst, die Frage
zu stellen, ob denn jede Anwendung der Phänomenologie notwendig auch
transzendental sein oder deren Methoden genauestens übernehmen muss (vgl.
Zahavi 2021). Qualitative Untersuchungen bieten eine Vielfalt von Möglich-
keiten, wie Daten jeweils generiert und interpretiert werden können. Die
Integration und Auswahl qualitativer Forschungsmethoden ist dabei stark ab-
3 hängig vom Untersuchungsgegenstand, d. h. vom Zugang der Forschenden
zu den relevanten Personen, Gruppen und Feldern sowie von den jeweiligen
Forschungsfragen und -interessen. Aufgrund dieses Umstandes erscheint es para-
dox und beinahe unphänomenologisch, dass viele qualitative Forschungsstudien,
die sich auf die Phänomenologie berufen, darauf bestehen, dass dabei die An-
wendung der Epoché, im Sinne der transzendentalen Reduktion, im Vorder-
grund stehen muss (vgl. Allen-Collinson/Evans 2019; Giorgi 1975, 2008). Zahavi
kommt daher zu dem Schluss, dass dies insbesondere mit Blick auf die empirische
Forschung und Therapie nicht immer empfehlenswert ist.
So ist es irreführend, wenn etwa Erziehungswissenschaftler wie Max
van Manen (2017, S. 820; vgl. Zahavi 2021, S. 260) explizit die Anwendung
von phänomenologischen Methoden wie der eidetischen Variation oder der
transzendentalen Reduktion in der empirischen Forschung fordern. Aufgrund
der verschiedenen, teils falschen oder missverständlichen, Interpretationen dieser
Methoden und dem fehlenden philosophischen Hintergrund führt dies in der
Anwendung oft eher zur Verwirrung als zu systematischen Resultaten. Anstatt
sich in Methodendiskussionen über die Interpretation oder Anwendungen der
Epoché oder Reduktion zu verlieren, rät Zahavi daher dazu, lieber die Epoché
aus pragmatischen Gründen zu ‚vergessen‘. Zielführender wäre es, wenn man sich
stattdessen an den Resultaten bzw. den in der philosophischen Phänomenologie
gewonnenen Konzepten und Differenzierungen orientiert (wie Leib und Körper,
Intentionalität, Lebenswelt etc.) und diese dann anwendet, differenziert, erweitert
oder empirisch überprüft, wo diese für die Praxis hilfreich und nützlich sind (vgl.
Zahavi 2021).

Theorie und Praxis Begriffe wie transzendentale Epoché und Reduktion sind,
wie wir gesehen haben, bei Husserl mit sehr spezifischen transzendentalphilo-
sophischen Zielen und Bestrebungen verbunden. Ihr Zweck ist es, uns von einem
gewissen natürlichen Dogmatismus zu befreien, in dem wir die Welt einfach als
gegeben hinnehmen, um dadurch die Möglichkeit zu schaffen, eine Reihe grund-
legender erkenntnistheoretischer und metaphysischer Fragen zu stellen. Die
Durchführung der transzendentalen Reduktion soll dabei helfen, die Selbstver-
ständlichkeit des Seins der Welt im Ganzen zu thematisieren und verständlich
zu machen. Eine solche philosophische Reflektion befasst sich mit der wesent-
lichen Verbundenheit von Subjektivität, Vernunft, Wahrheit und Sein; hierbei
handelt es sich um wichtige transzendentalphilosophische Ideen. Es ist jedoch
nicht offensichtlich, warum jemand, der Phänomenologie außerhalb der Philo-
sophie anwenden will, ständig auf diese Ideen zurückgreifen muss. Während
solche Reflektionen für eine theoretische Bestimmung der Erfahrung innerhalb
dieser Disziplinen relevant sein kann, gilt dies nur eingeschränkt für die jeweilige
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
147 3
Praxis der Psychiaterin, des Psychotherapeuten, des Pflegepersonals oder der
qualitativen Forscherin. Für Sie sind eventuell andere Aspekte der Phänomeno-
logie wichtiger, wie etwa die Kritik der Phänomenologie am Szientismus, ihre An-
erkennung der Bedeutung der Lebenswelt, ihr Versuch, eine unvoreingenommene
Haltung einzunehmen, oder ihre sorgfältige Analyse der menschlichen Existenz,
in der das Subjekt als ein verkörpertes, sozial und kulturell eingebettetes In-der-
Welt-Sein verstanden wird (vgl. Zahavi 2021).
In einem nicht-philosophischen Kontext ist es daher nicht von Bedeutung,
ob sich die phänomenologische Forschung oder Praxis strikt an Husserls (oder
Heideggers oder Merleau-Pontys etc.) kursorische Anweisungen hält. Weit-
aus wichtiger ist, ob die betreffende Anwendung neue Einsichten oder bessere
therapeutische Interventionen ermöglicht, d. h., ob sie einen wertvollen Unter-
schied für die wissenschaftliche Gemeinschaft und/oder die Patient:innen macht.
Die erfolgreiche Anwendung der Phänomenologie bemisst sich also nicht so sehr
an der exakten Nachahmung der von Husserl beschriebenen Methoden, sondern
vielmehr daran, wie diese Methoden gemäß ihres Untersuchungsgegenstandes
angepasst und weiterentwickelt werden.

Die Besonderheit der Zweite-Person-Perspektive Es scheint also angemessen,


zunächst einmal darauf zu reflektieren, was bei qualitativen Erhebungen
phänomenologisch relevant ist, bevor man diese philosophische Methode ohne
Rücksicht auf die Umstände bestimmter Disziplinen und Spezifizität der Unter-
suchungsgegenstände anwendet. Dies würde ganz Husserls Kritik an der Psycho-
logie seiner Zeit entsprechen: Hier betont er, dass man nicht einfach naturwissen-
schaftliche Methoden, die auf materielle Dinge abgestimmt sind, gleichermaßen
zur Untersuchung der Psyche anwenden kann, da die Psyche ein ganz besonderes
Objekt ist. Genauso handelt es sich bei einem qualitativen Interview phänomeno-
logisch weder um eine neutrale oder distanzierte Analyse des Untersuchungs-
objekts, noch um die Beschreibung oder Reflektion der eigenen Erfahrung. Die
für ein Interview charakteristische Zweite–Person-Perspektive impliziert hingegen
eine reziproke Relation zwischen einem Ich und einem Du (vgl. Zahavi 2015b).
Und trotzdem ist dies keine persönliche, sondern eine wissenschaftliche Inter-
aktion, in welcher die Forschenden an die zu untersuchenden Subjekte mit spezi-
fischen Interessen und Fragestellungen herantreten. Die Interviewer:innen sind
demnach genauso wie die zu interviewenden Subjekte an der Produktion von
Wissen und Sinnstiftung beteiligt, es lässt sich hierbei von einer Co-Produktion
von Wissen sprechen. Neben aufgezeichneten mündlichen Gesprächen oder ge-
schriebenen Berichten enthält die Untersuchung dabei auch unartikulierte
Informationen in Form von Gesten, Gesichtsausdrücken oder Tonfall, mit denen
etwas angezeigt wird. All dies gehört zu einer reziproken Interaktion und beein-
flusst deren Dynamik. Hier empfiehlt es sich, auf diese phänomenologischen Um-
stände zu reflektieren und diese so gut wie möglich transparent zu machen.

Situierte Analyse Die qualitative Forschung kann dabei in zweierlei Weise als
eine situierte Befragung gelten. Zum einen, da sich qualitativ Forschende mit der
konkret historisch, kulturell und sozial situierten Erfahrung bzw. dem gelebten
148 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Leben befassen. Aufgrund dieser kontextualisierten Bedingungen kann etwa die


qualitative Forscherin nicht in demselben Maße die wissenschaftlichen Kriterien
der Wiederholbarkeit erfüllen, die z. B. quantitativ orientierte Methoden
charakterisieren. Während bei quantitativen Untersuchungen Instrumente und
Methoden in einer standardisierten Art und Weise verwendet werden, sodass die
Messungen wiederholbar und über die Zeit konsistent bleiben (Golafshani 2003),
3 sind bei qualitativen Erhebungen subjektive Erfahrungsperspektiven zentral.
Letztere stellen jedoch bei quantitativen Analysen lediglich unerwünschte Ver-
zerrungen dar, die die Wiederholbarkeit der objektiven Daten ‚stören‘.
Zum anderen ist die qualitative Forscherin wie die befragten oder be-
obachteten Subjekte selbst in der Welt – und, wie bereits erwähnt, Teil der
Situation, in der Daten ko-generiert werden. Qualitativ Forschende müssen
sich daher bewusst sein, dass ihre eigene Geschichte, Biographie, soziale Klasse,
ethnische Zugehörigkeit, ihr Geschlecht usw. nicht neutralisiert werden können,
sondern die Interaktion mitbestimmen. Diese Faktoren sollten daher explizit
in der Studie thematisiert werden. Das heißt nicht, dass die Situierung darüber
entscheidet, ob und wie man auf die richtige Art und Weise Daten generieren
kann. Mann muss, wie die Sportwissenschaftlerin Susanne Ravn betont, keine
Tänzerin oder Tänzer sein, um die Erfahrungen von Tänzer:innen verstehen
oder untersuchen zu können. Vielmehr geht es darum, dass die unterschied-
lichen Positionen, die Forschende in Bezug auf die untersuchten Subjekte und
Praktiken einnehmen, in der Analyse reflektiert werden. Verfügt man etwa über
eine praktische Erfahrungsnähe, z. B. da man etwa selbst tanzt, kann dies in der
qualitativen Forschung ebenfalls produktiv eingesetzt werden.

► Beispiel – Leibliche Selbstwahrnehmung im Tanz


In welcher Weise ist Tänzer:innen eigentlich die eigene Leiblichkeit während des
Tanzens bewusst? Diese Frage stellt ein qualitatives Forschungsprojekt der Sport-
wissenschaftlerin Susanne Ravn und der Phänomenologin Dorothée Legrand (Ravn
2009; Legrand/Ravn 2009). Professionelle Tänzer:innen sind besonders interessante
Fälle, da hier die Erfahrung der eigenen Bewegung für das Training von großer Be-
deutung ist.
Angesichts der Vielfalt der Tanzpraktiken, die den professionellen Tanz im
europäischen Kontext charakterisieren, wurden unterschiedliche Genres und Stile von
Tanzpraktiken in die Studie miteinbezogen. Insgesamt 13 Tänzerinnen und Tänzer
mit verschiedenen Ausbildungen (Ballett, zeitgenössischer Tanz, Improvisation etc.)
aus verschiedenen Städten Europas nahmen an dem Forschungsprojekt teil. Um den
jeweiligen lokalen Kontext und seinen Einfluss auf die tänzerischen Praktiken in die
Studie zu integrieren, wurden die Tänzer:innen jeweils vor Ort befragt und beobachtet.
Die kurzzeitige Feldforschung von typischerweise einer Woche fand in Kopenhagen,
London, Amsterdam, Malmö, Brüssel und Wien statt. Sie beinhaltete ein formales
Interview, das auf der Basis der teilnehmenden Kurzzeit-Feldforschung vorbereitet
wurde. Dieses wurde in der Regel mit jedem der Tänzer:innen zweimal wiederholt
(Ravn 2009, S. 118–120).
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
149 3
Susanne Ravn verfügt dabei selbst über einen professionellen Tanzhintergrund, der
innerhalb der Beobachtung aktiv genutzt wurde, indem sie z. B. selbst bei einigen
Trainings mitmachte. Mithilfe ihrer Beobachtungen während der Teilnahme wurden
die formalen Interviews vorbereitet. Tänzerinnen und Tänzer wurden etwa gebeten,
ihre Praktiken sowohl von Innen (als gelebte und erfahrene) zu beschreiben als auch
in Relation zu ihren äußeren Strukturen und Kontexten. Oft wurden dabei konkrete
Situationen, z. B. des Trainings, in die Fragen miteinbezogen. Die Vertrautheit der
Forscherin mit dem Untersuchungsgegenstand erforderte eine sorgfältige Überlegung,
wie eine offene und selbstreflexive Haltung gegenüber dem Untersuchungsgegenstand
gewahrt bleiben kann. Darüber hinaus wurden die Daten und die Analyse mehrmals
mit anderen Forschenden besprochen, die selbst keine Tanzerfahrung hatten. Diese
Diskussionen wurden insbesondere zwischen den Interviews und zur Vorbereitung von
Folgeinterviews genutzt (Ravn/Hansen 2013).
In den anschließenden Phasen der Analyse wurden zunächst übergreifende Themen für
jeden Fall einzeln identifiziert. Dabei wurden Kodierungskategorien auf der Grund-
lage der Tanzpraxis und ihrer kontextuellen Einbettung entwickelt. Zur Überprüfung
der Gültigkeit der erzeugten Beschreibungen wurde die Tänzer:innen aufgefordert,
das bearbeitete Interview entweder anzunehmen, zu kommentieren und/oder anzu-
passen (Ravn 2009, S. 141 ff.). Die bearbeiteten Transkriptionen gingen neben der voll-
ständigen Originaltranskription und den Beobachtungsnotizen in die fallspezifischen
Analysen ein. Besonders auffällig war, dass die Tänzer:innen auf jeweils eigene Weise
beschrieben, wie sie ihren Körper auf eine bestimmte Art und Weise fühlen mussten,
um gut tanzen zu können. Die spezifische Art, den Körper zu spüren, war wiederum
abhängig von den Techniken und Stilen, in denen die Tänzer:innen trainierten und
auftraten. Für die Balletttänzer:in drehte sich alles um das Gefühl, ausgerichtet und
platziert zu sein, für eine der Improvisator:innen war es absolut notwendig, sich ‚be-
schwert oder gewichtet‘ (weighted) zu fühlen. Für eine Tänzerin, die sich speziell auf
das Body-Weather-Training (eine Butoh-verwandte Tanzpraxis) bezog, war es wichtig,
sich geerdet zu fühlen, die zentral für ihre expressiven Tanzaktivitäten war (Ravn 2009,
2017).
In der folgenden Phase der phänomenologischen Analyse wurde dann geprüft, ob be-
stimmte Erfahrungsstrukturen über die Vielfalt der Personen und Tanzpraktiken
hinweg erkennbar sind. Hierbei wurde speziell die phänomenologische Analyse von
Dorothée Legrand (2007a, 2007b) zum leiblichen Selbst herangezogen. Als Ergeb-
nis konnte festgehalten werden, dass eine allgemein geteilte ‚Form der Erfahrung der
Subjektivität des Leibes‘ für das Tanzen zentral zu sein scheint. Eine besondere Art
des prä-reflektiven, performativen leiblichen Selbstbewusstseins, das zwar eine Art
von Wahrnehmung ist, jedoch nicht auf eine Verdinglichung oder Objektivierung zielt
(Legrand/Ravn, 2009, S. 405), wie etwa beim Körperbild, bei welchem der Körper das
Objekt der eigenen Wahrnehmung oder Vorstellung ist. ◄

Die Einbindung der Forschenden in die Situation erfordert also eine (kritische)
Selbstreflexivität während des gesamten Forschungsprozesses. Die Integration
von qualitativen Forschungsmethoden und phänomenologischer Analyse er-
fordert dabei Forschungsmethoden, die sensibel sind für die kontextuellen Prä-
missen der Erfahrungen, die mit bestimmten kulturellen und sozialen Praktiken
150 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

verbunden sind. Bei der Untersuchung von Erfahrungen von Tänzer:innen oder
Athlet:innen ist es z. B. wichtig, diese Erfahrungen mit dem historischen und
kulturellen Kontext ihrer Praktiken in Verbindung zu bringen. Inwiefern spielen
hier Regeln, Traditionen und Normen eine Rolle bzw. bilden den Rahmen dieser
subjektiv ausgeführten Praktiken? Eine ergebnisoffene, nicht-objektivierende
und selbstreflexive Perspektive in Bezug auf die im Fokus stehenden Tanz-
3 und Sportpraktiken ist hierbei hilfreich. Zugleich empfiehlt es sich, Verhaltens-
beobachtungen in das Design solcher Studien miteinzubeziehen, was auf eine
kurzzeitige ethnographische Feldforschung bzw. teilnehmendes Verstehen hinaus-
läuft. Idealerweise lassen sich die Ergebnisse dann mit einer kulturwissenschaft-
lichen oder soziologischen Perspektive auf das jeweilige Verhalten auch kritisch
evaluieren.

Leitsätze für das phänomenologische Interview Abschließend lassen sich mit Simon
Høffding fünf allgemeine Leitsätze formulieren, die für ein phänomenologisches
Interview relevant sind (vgl. Høffding 2018):
1. Zu den Sachen selbst: Möglichst offene und detaillierte Erfahrungsberichte zu
erstellen, ohne dabei bereits bestehende Theorien, Erklärungen oder Über-
zeugungen zum Thema als selbstverständlich vorauszusetzen.
2. Strukturen der Subjektivität: Hiermit soll die Spezifizität des Untersuchungs-
gegenstandes (Subjekt) hervorgehoben werden und zugleich die Annahme ge-
macht werden, dass sich invariante oder typische Strukturen allgemeiner oder
spezifischer Erfahrung identifizieren lassen. Das phänomenologische Inter-
view ist in diesem Sinne keine Introspektion. Zwar beinhaltet es sogenannte
Introspektionen und Beschreibungen ‚innerer‘ Erfahrung, indem Subjekte
nach ihren Erfahrungen oder Erinnerungen gefragt werden, bleibt aber hier-
bei nicht stehen. Ziel ist es jedoch, invariante phänomenologische Strukturen
zu entdecken, die auf alle gemachten Beschreibungen einer spezifischen Er-
fahrung (der Krankheit, des Bewegens etc.) zutrifft.

Um den ersten zwei Leitsätzen im Interview gerecht zu werden, schlägt Høffding


zwei Stufen der Untersuchung vor, eine beschreibende und eine phänomeno-
logisch analysierende, die sich überlappen und wechselseitig beeinflussen und
informieren sollen:
a) In der ersten Stufe werden Interviews geführt und Erfahrungsbeschreibungen
generiert, indem die Forschenden sich vertraut machen mit den gelebten Er-
fahrungen der zu untersuchenden Subjekte.
b) In der zweiten Stufe werden diese Beschreibungen analysiert, und es wird aus-
gewertet, inwiefern sich diese generalisieren lassen, um so Aussagen über Er-
fahrungsstrukturen oder Subjektivität als solche machen zu können.

Hierbei ist es explizit gewollt, dass die phänomenologische Theorie die Inter-
pretationen der Beschreibungen beeinflusst. Zugleich können aber im Laufe der
Analyse weitere Beschreibungen genau diesen theoretischen Rahmen infrage
stellen. Beschreibungen der Zweite–Person-Perspektive und deren phänomeno-
logische Analyse stehen also in einem dialektischen Verhältnis – so lange,
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
151 3
bis ein gewisser Grad an Konsistenz erreicht ist, also alle oder die meisten Be-
schreibungen unter dem so entwickelten konzeptuellen Gerüst verständlich ge-
macht werden können.
Dies führt jedoch zur Frage, wie man sicher sein kann, dass diese Analyse
wirklich dasjenige Erlebnisphänomen trifft, welches man untersuchen will (im
Falle von Høffdings Studie, das der musikalischen Absorbiertheit), oder nicht
vielmehr ein anderes (z. B. die Erfahrung von Erinnerungen)? Hierfür ist ein
dritter phänomenologischer Leitsatz relevant:
3. Irreduzibilität der Subjektivität: Hier soll betont werden, dass Erfahrungs-
berichte sich nicht vollständig objektivieren lassen, weshalb es einer anderen
Methode bedarf als die der quantitativen Untersuchung.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern die Beschreibung


der Erfahrung nicht schon die unmittelbar erlebte Erfahrung verfälscht. Dies
ist jedoch nur dann ein Problem, wenn man die Beschreibung als eine Art
Repräsentation der Erfahrung versteht, die entweder dem Erlebnis adäquat
oder nicht adäquat sein kann. Stattdessen lässt sich die Beschreibung oder
Artikulation der Erfahrung auch als eine andere Art und Weise der Manifestation
derselben Erfahrung deuten. Jede Erfahrung, wie z. B. das Haben eines Kopf-
schmerzes, durchläuft verschiedene graduelle oder qualitative Stadien, von
den ersten Anzeichen, die gar nicht als solche wahrgenommen werden (die
Buchstaben verschwimmen, Konzentration lässt nach), bis hin zur expliziten
Artikulation oder Reaktion auf den Schmerz (ich entscheide mich, eine Schmerz-
tablette einzunehmen). In diesem Kontext argumentiert etwa Dan Zahavi, dass
eine Reflektion oder Beschreibung einer Erfahrung nicht als Verfälschung einer
prä-reflektiven Erfahrung angesehen werden sollte, sondern eher als eine Öffnung
zu einer solchen Erfahrung (Zahavi 1999, S. 181–189; 2005, S. 89–96; 2011).
Natürlich bedeutet das keinesfalls, dass eine solche beschriebene Erfahrung nicht
fehlerhaft sein kann. Jedoch ist Fehlerhaftigkeit allein noch kein hinreichendes
Argument, um eine Methode zu disqualifizieren, sondern nur ein Anlass, darüber
nachzudenken, wie diese Fehlerhaftigkeit verringert und die Methode ver-
bessert werden kann. Erfahrungsbeschreibungen können dabei nicht wie andere
Daten im strikten Sinne reproduziert werden. Schließlich handelt es sich bei Er-
fahrungen nicht um statische Daten, sondern zeitliche Erlebnisse.
Der vierte phänomenologische Leitsatz lautet daher:
4. Erfahrung ist leiblich, situiert und enaktiv (enactive): Dies hebt hervor, dass
das Befragen auch eine leibliche Fertigkeit, ein Geschick ist, dass man üben
muss. Hierbei spielt der Aspekt der teilnehmenden Beobachtung eine Rolle.
Aktiv Zeit mit den zu untersuchenden Subjekten zu verbringen, kann zur
Kontextualisierung und zum Verständnis der Beschreibungen beitragen. Dies
heißt aber auch, dass keine Befragung und Beschreibung neutral sein kann.
Jede Untersuchung ist immer auch Interpretation, es offenbart bestimmte
Perspektiven und Aspekte, während es zugleich andere verdeckt.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass jeder Erlebnisbericht verfälscht oder nicht
vertrauenswürdig sein muss. Validität lässt sich etwa prüfen anhand einer
152 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

internen phänomenologischen Konsistenz. Eine solche Konsistenz verweist


auf die Möglichkeit, eine Interpretation zu finden, die alle oder die meisten Be-
schreibungen der Interviews verständlich machen kann. Je mehr Beschreibungen
dabei anhand einer phänomenologischen Interpretation verständlich gemacht
werden können, je stärker die Konsistenz.
Hier muss allerdings noch eine externe Kontrolle hinzukommen, was als
3 fünfter phänomenologischer Leitsatz formuliert werden kann:
5. Intersubjektive Validierung: Die Ergebnisse sind mit anderen Studien zu ver-
gleichen und mit Forschenden zu diskutieren.

Dieser methodische Schritt der intersubjektiven Validierung (Varela/Shear 1999,


S. 10) oder Bestätigung (Gallagher/Zahavi 2008, S. 29–31) ist, wie schon Husserl
selbst betonte, unentbehrlich.

3.3.2  Phänomenologie und quantitative Forschung

Als Philosophie des Bewusstseins und der subjektiv leiblichen Erfahrung steht
die Phänomenologie nicht nur in unmittelbarer Verbindung zur Psychologie und
Soziologie und der darin angewandten qualitativen Forschung, sondern auch zur
teils quantitativ ausgerichteten Untersuchung im Bereich der kognitiven Psycho-
logie und Neurowissenschaft. Hierbei steht nicht nur die Frage im Vordergrund,
wie sich der Aspekt der Erfahrung sinnvoll in die Untersuchung integrieren lässt,
sondern auch wie sich dieser überhaupt zu neurologischen Aspekten verhält, d. h.
wie sich Erfahrungsdaten mit objektiven Daten korrelieren lassen.

Naturalisierung der Phänomenologie Hierfür muss die phänomenologische Unter-


suchung in gewissem Maße naturalisiert werden, also in eine direkte Verbindung
mit physikalischen, biologischen oder materiellen Vorgängen gebracht werden.
Verliert aber die Phänomenologie dadurch nicht ihren Anspruch auf Vorurteils-
losigkeit (also keine wissenschaftliche Theorie, auch nicht die des Physikalismus,
von vorneherein als gegeben anzunehmen) oder ihre transzendentale Dimension,
in welcher das bewusste und erkennende Subjekt notwendigerweise primär ist?
Dies wurde seit den späten 1990er Jahren lebhaft diskutiert (vgl. Petitot et al.
1999). Einige sprechen sich dabei für eine pragmatische Haltung aus, schließlich
merkte schon Husserl an, dass alle inhaltlichen Ergebnisse der transzendentalen
Phänomenologie auch auf der konkreten Ebene, d. h. der natürlichen Einstellung,
ihre Geltung haben. Andere sehen eine solche naturalisierte Phänomenologie, die
sich in den Dienst empirischer Forschung stellt, kritisch. Festzuhalten bleibt, dass
Phänomenologie zwar kritisch gegenüber einem Szientismus ist, der seinen Bezug
zur Lebenswelt der Menschen vergessen hat, keinesfalls jedoch anti-wissenschaft-
lich ist. Wie weit die Phänomenologie jedoch naturalisiert werden kann, und in-
wiefern sich grundlegende philosophische Fragen aus Disziplinen wie der Neuro-
wissenschaft einfach so ausklammern lassen, bleibt eine wichtige und bisher
nicht geklärte Frage. Bedeutet Naturalisierung nur, dass Erfahrung und Bewusst-
sein immer irgendwie verkörpert ist und deswegen notwendig mit biologischen,
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
153 3
physiologischen und materiellen Aspekten einhergehen muss? Oder ist man der
Überzeugung, dass sich Erfahrung und Bewusstsein – etwa mit fortgeschrittener
Technologie und Empirie – auf neuronale Vorgänge zurückführen oder gar auf
diese reduzieren lassen?

Reduktionismus Die häufigste Bedeutung von ‚Naturalisierung‘ ist die der


Reduktion. Dabei wird angenommen, dass sich prinzipiell jedes Bewusstseins-
phänomen bei genauerem Hinsehen bzw. Wissen auf etwas ‚Natürliches‘, d. h.
Materielles, reduzieren lässt. So wie sich etwa Wasser auf seine chemischen Bausteine
H2O reduzieren lässt. Reduktion setzt dabei ein physikalistisches Weltbild voraus,
indem lediglich dasjenige als real verstanden wird, was materiell, d. h. ausgedehnt,
kausal effektiv und direkt messbar ist. Obwohl hier also letztlich von einem Monis-
mus (es gibt nur eine Form des Seins bzw. der Realität) bzw. einer Identitätstheorie
(das Mentale ist identisch mit dem Materiellen; das Gefühl mit dem neuronalen Zu-
stand) ausgegangen wird, bleibt man doch mit dem Problem des Dualismus zurück.
Denn: Wie stehen meine subjektiven Erfahrungen und Gedanken in Relation
zu den gleichzeitig auftretenden neuronalen Aktivitäten? Wie lässt sich die Be-
deutung und Qualität meiner Erfahrung durch die neuronalen Aktivitäten er-
klären? Und weshalb braucht es überhaupt Bewusstsein, wenn es doch schein-
bar auf die materielle und funktionale Ebene des Gehirns reduziert werden kann?
Dieses ‚harte‘ Problem des Bewusstseins, wie David Chalmers es nennt (vgl.
Chalmers 1995) bleibt also ungelöst. Es scheint beinahe so, als ob es zwei Seins-
schichten oder Welten gibt, die des Materiellen, Sichtbaren und Messbaren und
die des Mentalen und Idealen, eine res extensa (ausgedehnte Sache) und eine res
cogitans (denkende Sache), wie Descartes dies nannte. Nur mit dem Unterschied,
dass nun nicht mehr die res cogitans den Körper steuert, sondern umgekehrt, der
Körper die Illusion oder den Effekt des Bewusstseins hervorbringt.
Die Reduktion oder Naturalisierung will also im Wesentlichen die subjektive
Erfahrung auf einen effektiven Teilbereich der Objektivität (hier verstanden als
materielle Realität) reduzieren. Dabei wird das Problem des Bewusstseins aber
nicht gelöst, schließlich verfügen wir noch stets über Erfahrungen und Gefühle,
auch wenn dies wissenschaftlich für irrelevant erklärt wird. Dies führt dann zu
einer doppelten ‚Erklärungslücke‘ (vgl. Levine 1983), der zwischen der Beziehung
zwischen messbaren Gehirnaktivitäten und Erfahrungen einerseits und der
zwischen dem Alltagsleben der Menschen und der Wissenschaft, die diesen Be-
reich als (unwissenschaftlich) ausklammert.

Das Vergessen der Lebenswelt Genau dies hatte Husserl in seiner Krisis der eu-
ropäischen Wissenschaften aus dem Jahre 1938 (vgl. Hua VI) kritisiert, nämlich
ebendies, dass die Wissenschaft den Bezug zur Lebenswelt verliert. Eine Lebens-
welt, der die Wissenschaftler:innen und ihre Praxis selbst angehören, und die die
Fragestellungen und Probleme, d. h. die Motivation, überhaupt Wissenschaft zu
betreiben, erst hervorbringt. Ein solches Auseinanderfallen dieser zwei ‚Welten‘
(der objektiven und der Lebenswelt) führte in den 1930er Jahren – und führt auch
gegenwärtig wieder – zu einer Welle von Wissenschaftsskepsis und Ablehnung,
einer Flucht zu alternativen Wahrheiten und Esoterik.
154 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Eigenschaftsdualismus Eine andere, inklusivere Konzeption von Naturalisierung


vertritt dagegen David Chalmers (2010). In seinem Eigenschaftsdualismus ist
Naturalisierung gleichbedeutend mit der Erweiterung unserer Vorstellung von
Natur. Hier wird der Bereich der Erfahrung in das Konzept der Natur mitein-
bezogen, ohne die Erfahrung lediglich auf Natur zu reduzieren. Die Grund-
ausstattung der Welt (ihre Ontologie) wird also erweitert um die Erfahrung,
3 die als eine neue Art von ‚Eigenschaft‘ bestimmt ist. Jedoch ergibt sich aus der
Methode (dem Einstellungswechsel) der Phänomenologie, dass bewusste Er-
fahrung eben gerade keine Sache oder Eigenschaft ist, die man hat; sondern viel-
mehr die Voraussetzung dafür, dass uns überhaupt Sachen gegeben sind und wir
diese dann nach Eigenschaften differenzieren können. Bewusstsein ist demnach
nicht etwas, was man neben anderen Dingen oder Eigenschaften zusätzlich ‚hat‘,
sondern vielmehr die Art und Weise, wie wir sind oder leben. Bewusstsein kann
also nicht auf eine bestimmte Domäne von Entitäten oder Eigenschaften be-
schränkt werden, die jeweils kategorisierbar sind, sondern umschreibt unsere
gesamte leibkörperliche Subjektivität als eine von Innen und Außen gelebte und
erlebte. Bewusstsein ist in diesem Sinne also weder etwas nur Materielles (Gehirn)
noch rein Ideelles (Geist), sondern muss dem leiblichen Subjekt oder lebenden
Organismus als Ganzem zugeschrieben werden (vgl. Fuchs 2008).
Auch der Eigenschaftsdualismus kann demnach nicht gänzlich erklären,
warum diese zusätzliche ‚Eigenschaft‘ entstanden ist, wie sie mit den materiellen
Vorgängen oder den rein funktional bestimmten Kognitionen korreliert und wozu
sie nützlich ist. Eine phänomenologische Untersuchung der Wahrnehmung zeigt
hierbei, dass Bewusstsein – nicht nur in seiner expliziten Form, sondern vor allem
in Form eines impliziten Selbstbezuges – notwendig ist für eine kohärente, d. h.
real und objektiv erscheinende, Objektwahrnehmung. Wir erfahren nicht nur
die Dinge, sondern in dieser Ding- und Welterfahrung auch, wenn auch meist
implizit, unser Erfahren dieser Dinge.

Bewusstsein: Neben- oder Hauptrolle? Wahrnehmung ist somit kein einfaches


‚Registrieren‘ von Daten, sondern das Resultat einer Relation oder erfolgreichen
Integration von Impressionen. Hierbei spielt der räumliche und inhaltliche
Kontext eine Rolle, in dem die ‚Sache‘ sich befindet, sowie unsere Bewegungen,
geplanten Handlungen, Empfindungen und vorherigen Erfahrungen. Kurzum: Es
könnte sich herausstellen, dass Bewusstsein entgegen der geläufigen Theorien in
der Philosophie des Geistes oder Kognitionswissenschaft eben doch keine bloße
Nebenrolle, sondern eine Hauptrolle spielt. Eine phänomenologische Sichtweise
könnte hier helfen, Unterschiede aufzuzeigen zwischen einem automatischen
Registrieren, symbolischer Repräsentation oder statistischer Berechnung und
menschlichem Wahrnehmen, Denken oder praktischem Gewohnheitshandeln.
Diese Differenzierungen könnten wiederum dabei behilflich sein, biologische
(menschliche) von artifiziellen Formen von Intelligenz zu unterscheiden.
Die Phänomenologie kann dabei eine theoretisch-methodische Alter-
native bieten, indem sie deutlich macht, wie Subjektivität und Objektivität zu-
sammengehören; z. B. das objektiv immer nur dasjenige ist, was nicht nur für
mich, sondern intersubjektiv gültig ist. Zugleich unterscheidet sie verschiedene
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
155 3
­ instellungen, in denen wir die Welt und uns selbst wahrnehmen, z. B. in
E
personaler oder wissenschaftlicher Einstellung, von Innen wie von Außen etc.:
Nur zusammen ergeben diese Einstellungen oder Perspektiven einen ‚Sinn‘ oder
eine ‚Welt‘. Dabei ist die wissenschaftliche Sicht auf die Welt als ein Zusammen-
hang materieller Dinglichkeit selbst eine (historisch gewachsene) Einstellung, die
wir in Bezug auf die Welt und uns selbst einnehmen und nicht etwa eine Realität
an sich. Dies in aller Bescheidenheit anzuerkennen, heißt nicht, diese Realität, ihre
Transzendenz und Vorgängigkeit, zu leugnen, sondern auf unseren Zugang zu ihr
kritisch zu reflektieren.

Objektives Wissen und Erfahrung Bisher lag der entscheidendste Fortschritt der
Neurowissenschaften darin, objektives Wissen über den Körper (hier: das Ge-
hirn) anzuhäufen. So wurden etwa neue Techniken der Bildgebung entwickelt,
die eine hohe räumliche Auflösung erlauben, oder Geräte zur elektrischen und
magnetischen Aufzeichnung, die eine hohe zeitliche Auflösung der gemessenen
Daten ermöglichen. Hierdurch konnte ein beeindruckender Korpus anatomischer
und funktioneller Daten über das zentrale Nervensystem gesammelt werden.
Leider sagt diese beträchtliche Menge an Informationen erstmal nichts aus über
mentale Abläufe und das Verhalten oder Erleben, das sie repräsentieren sollen.
Zumindest solange sie nicht direkt oder indirekt mit subjektiven Daten verglichen
oder in Beziehung gesetzt werden: wie es sich also anfühlt, jemand zu sein, der die
entsprechenden neuronalen Prozesse durchläuft.
Was nützt uns z. B. eine Neurowissenschaft, wenn sie keine Antworten geben
kann auf alltägliche Fragen, wenn sie in keinem Bezug steht zu unseren Er-
fahrungen? Eine willkürliche Ansammlung von aufgezeichneten EEG Daten oder
ein buntes Bild des Gehirns hat ohne Kontext weder Sinn noch Aussagekraft.
Dies haben Repräsentationen erst, wenn wir wissen, was sie darstellen: eine be-
stimmte menschliche Erfahrung oder Aktivität, eine Veränderung in Bezug auf
vergangene Erfahrungen und Gehirnaktivitäten oder im Vergleich zu anderen
Menschen, die dieselbe Handlung ausführen. Ohne diese Korrelation, z. B. mit
einem lebensweltlichen Kontext, einer Fragestellung, einem bestimmten mensch-
lichen Problem (wie etwa das Fehlen von Aufmerksamkeit) oder menschlichen
Leiden (wie z. B. Depression), sind diese Zahlen oder Bilder nachgerade un-
bedeutend. Diese Notwendigkeit, einen Zusammenhang herzustellen zwischen
objektiver Feststellung und subjektivem Erfahren, macht die Phänomenologie in
der Psychopathologie, Medizin und Pflege sowie der Bioethik zu einer wichtigen
Partnerin.
Wie lässt sich nun die Erfahrungsperspektive in die quantitative Forschung,
z. B. der Neurowissenschaft, integrieren? Wie lassen sich objektiv messbar
Körperdaten, z. B. der Gehirnaktivität, und qualitativ erfasste Erfahrungsdaten
oder Erlebnisberichte derselben Subjekte in Beziehung setzen?
Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten. Zum Beispiel könnte man die Ver-
suchspersonen direkt bitten, ihre Erfahrung während der sich vollziehenden
Messung zu beschreiben. Eine solche Verwendung von Selbstberichten oder In-
trospektion blieb jedoch lange Zeit unterentwickelt, methodisch mangelhaft
und wird nur mit großer Skepsis und Zurückhaltung verwendet. In der Praxis
156 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

reduziert sie sich oft auf eine Vielzahl von Ja-Nein– oder Multiple-Choice-Fragen
sowie Knopfdrücken. Eine andere Möglichkeit ist der indirekte Einbezug der Er-
fahrung in Form einer Studie des Verhaltens, dies wird oft bevorzugt mit dem
Grund, dass sich eine objektive Beobachtung des Verhaltens leichter mit den
objektiven Daten der Gehirnmessung vergleichen lässt. Hierbei sollte man jedoch
nicht vergessen, dass z. B. beobachtbaren Bewegungen nur dann der Status eines
3 ‚Verhaltens‘ (und nicht etwa bloß eines mechanistischen Reflexes) zugesprochen
wird, wenn diese Bewegungen mit gelebten Intentionen und Erfahrung in Ver-
bindung gebracht werden. In diesem Sinne ist es beinahe unmöglich, die ge-
lebte Subjektivität gänzlich aus der neurowissenschaftlichen Forschung auszu-
klammern.

Transzendentale Fragen Nimmt man dagegen objektive neurobiologische Prozesse


als Ursprung (oder auslösende Ursache) des Verhaltens oder des Bewusstseins an,
hat man damit das ‚harte‘ Problem der Subjektivität nicht gelöst, sondern nur ver-
schoben. Bewusstsein oder Erleben sind dann nur weitere objektive Fakten, die
man zu den anderen hinzu addiert. Sobald man jedoch Wissenschaft oder Philo-
sophie praktiziert, d. h. untersucht, misst oder reflektiert, hat man dabei bereits
Bewusstsein vorausgesetzt. Dies deutet auf den Umstand hin, dass ganz un-
abhängig davon, wie das Gehirn einmal entstanden sein mag und warum, Neuro-
wissenschaft auf forschende Subjekte mit Bewusstsein und Gehirn angewiesen ist,
die dieses Gehirn wiederum bei anderen Subjekten als Objekt untersuchen. Philo-
sophisch treten hier die bekannten transzendentalen Fragen auf; praktisch be-
deutet dies, dass die Erfahrung, das Erleben und das Bewusstsein notwendig sind,
um neurowissenschaftlichen Daten einen Sinn zu geben, selbst wenn dieser Sinn
als sekundär und abgeleitet angesehen wird (Bitbol 2014).

Neuropänomenologie In den 1990er Jahren hat sich aus diesem Kontext heraus
die sogenannte Neurophänomenologie um den chilenischen Biologen, Philo-
sophen und Neurowissenschaftler Francisco Varela herausgebildet, die versucht,
diesen Schwierigkeiten entgegenzutreten. Zunächst lädt sie Forschende dazu
ein, neue Methoden zur Untersuchung des subjektiven Erlebens zu entwickeln.
Methoden zur Gewinnung von Erfahrungsdaten sollen dabei dieselbe Priorität
einnehmen, wie Methoden zur Gewinnung objektiver Daten (Depraz et al. 2003).
Die Neurophänomenologie plädiert dabei für ein permanentes Wechselspiel
zwischen subjektiven und objektiven Informationsquellen, die sich gegenseitig
stützen sollen, d. h. es wird versucht, die jeweils eine Ebene in die jeweils andere
zu übertragen (Gallagher 2003). Eine Konsequenz dieser neu etablierten Balance
der Methoden ist, dass die objektive Ebene der messbaren Daten keinen onto-
logischen Vorrang mehr hat. Man möchte also die Vorannahme einklammern,
dass nur objektive oder direkt messbare Daten Auskunft geben können über die
Wirklichkeit. Sie verschiebt damit die Perspektive, weg von der Suche nach einer
objektiven Lösung, um den Ursprung der Subjektivität aufzuklären, hin zu einer
Untersuchung darüber, wie die Identifikation allgemeiner Erfahrungsstrukturen,
die viele oder alle Subjekte teilen, dabei helfen kann, Bewusstsein und Welt
objektiv zu erfassen (Varela 1999).
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
157 3
Die Neurophänomenologie wendet hierbei ebenfalls eine Art phänomeno-
logischer Reduktion an, wie sie es selbst nennt, bzw. einen phänomenologischen
Einstellungswechsel: weg von den (für selbstverständlich objektiv angenommen)
Dingen, hin zu der Frage nach ihrer Gegebenheit. Hierbei soll mit Husserl erkannt
werden, dass es sich bei der Erste- und Dritte-Person-Perspektive eben nicht um
zwei verschiedene Bereiche handelt, sondern um zwei Einstellungen innerhalb der
(möglichen) Erfahrung. Also genau wie wir uns selbst sowohl als Leib als auch als
Körper wahrnehmen, können wir letzteren mithilfe von neuer Technologie nun in
einer erweiterten Weise wahrnehmen und messen. Dies erlaubt den Zugang zu ab-
laufenden Prozessen im eigenen Körper, die vorher nicht selbst erfahrbar waren.
Neben unserem Erleben gibt es nun ein Arsenal von Körperdaten zu Herzschlag-
frequenz, Temperatur oder Gehirnaktivität. Diese repräsentieren jedoch keinen
direkten Zugang zu diesen Prozessen, sondern eine statistisch vermittelte Wieder-
gabe, wie bei der Messung der Gehirnaktivität besonders deutlich wird. Bei der
funktionellen Magnetresonanztomographie wird die Gehirnaktivität nämlich
nicht direkt gemessen, sondern die Veränderungen in der Durchblutung des Ge-
hirns (Hämoglobingehalt), was auf Stoffwechselvorgänge hinweist, die wiederum
mit Gehirnaktivität in Verbindung gebracht werden. Die statistisch errechnete
Differenz der Durchblutung im Vergleich vor und während einer experimentellen
Untersuche wird dann als Gehirnbild repräsentiert.

Kein Vorrang der Objektivität Die Neurophänomenologie weist nun darauf hin,
dass beide Ebenen, die erlebte und die extern gemessene, beständig aufeinander
bezogen werden müssen. Phänomenologie und Kognitionswissenschaft bzw.
Neurowissenschaft und ihre jeweils zugehörigen Ergebnisse bedingen sich laut
Varela gegenseitig. Eine Gesamteinschätzung kann nur gegeben werden, wenn
beide Wissenschaften zu einer wechselseitigen Aufklärung dieser Ebenen bereit
sind. Dies bedeutet jedoch, dass die Neurowissenschaft ihren Objektivitäts-
anspruch nicht unhinterfragt lassen kann. Was ist die Bedingung der Möglichkeit
der Erfahrung (Messung) von Gehirnaktivitäten? Was wird und kann hier genau
gemessen werden? Und wie steht es in Beziehung zum Verhalten und Erleben?
Ohne einen Bezug zur subjektiven Erfahrung ergeben die Messungen keinerlei
Sinn, da sie ja gerade die Differenz und das Typische eines bestimmten Verhaltens
gegenüber einem ‚Ruhezustand‘ messen und damit objektiv sichtbar machen
wollen.

Erfahrung als Ausgangspunkt In der Neurophänomenologie nach Varela soll


daher die erlebte Erfahrung der Ausgangs- und Endpunkt neurowissenschaft-
licher Forschung sein und damit als roter Faden der Untersuchung fungieren
(Varela 1996, 1999). Dies heißt erstens, dass das phänomenale Bewusst-
sein nicht als bloßes Explanandum oder zusätzliche Information angesehen
wird, sondern als Grundlage für jede Erklärung. Zweitens sind neurobio-
logische Prozesse (genau wie Erfahrungen) nicht einfach ein Teil dessen, ‚was es
gibt‘, sondern ein bestimmter Bereich von Phänomenen, die aufgrund ihrer In-
varianz in Bezug auf eine experimentelle Situation ausgewählt wurden. Drittens
soll die Übereinstimmung zwischen neurowissenschaftlichen Phänomenen und
158 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

­ ewusstseinsinhalten nicht im Sinne einer einseitigen Kausalität interpretiert


B
werden. Vielmehr lässt sich dies als Kontinuum dessen verstehen, was sich
zeigt, als eine Art gemeinsame Manifestation des erlebten Leibes und des wahr-
genommenen Körpers. Dies sieht man z. B. in der Analogie und Gleichzeitig-
keit der erlebten ‚Entscheidung‘, den eigenen Arm zu bewegen, einerseits und der
empirischen Beobachtung dieser Bewegung andererseits (Bitbol 2014).
3 Die Notwendigkeit der Verbindung zwischen Gehirnereignissen, Verhalten
und Erfahrung ist natürlich nicht neu und ziemlich unumstritten. Neu und
phänomenologisch daran ist jedoch der Anspruch der gegenseitigen Bedingtheit
der Ebenen. Dies meint, dass sogenannte ‚disziplinierte Selbstberichte‘ der Ver-
suchssubjekte ein integraler Bestandteil der Validierung eines neurobiologischen
Ansatzes sein müssen und nicht nur zufällige oder heuristische Informationen.
Dies heißt weder, dass man Erfahrung auf funktionelle oder physiologische
Prozesse reduzieren kann, noch dass Erfahrung unabhängig von diesen Prozessen
ist. Anstatt gewisse physikalische oder philosophische Vorannahmen zu machen,
sollte vielmehr auf beiden Ebenen versucht werden, auf methodisch fundierte
Weise Invarianten der erfahrenen und gemessenen Daten zu identifizieren und
diese miteinander in Beziehung zu setzen.

Neurophänomenologie light In der tatsächlichen Umsetzung wurde aus dieser


philosophisch inspirierten Neurophänomenologie jedoch eher eine ‚Neuro-
phänomenologie light‘: Hierbei wird versucht, mithilfe phänomenologischer
Expertise die Dimension der Erfahrung möglichst pragmatisch in die empirische
Untersuchung der Gehirnaktivitäten miteinzubeziehen ─ und zwar ohne dass
die Neurowissenschaft dafür notwendigerweise ihre Vorannahmen und ihr Vor-
gehen selbst kritisch hinterfragen muss. So werden etwa Phänomenolog:innen als
Expert:innen der Erste-Person-Perspektive oder ‚Ich-Perspektive‘ für kurze Inter-
ventionen in die Labore von Kognitionswissenschaftler:innen eingeladen. Die
Aufgabe der Phänomenologie besteht hier hauptsächlich darin, einen Beitrag zur
objektiven Neurowissenschaft zu leisten.
In diesem Kontext werden etwa phänomenologische Beschreibungen und
Konzepte zur Klärung der Funktion verschiedener biologischer Prozesse
(Thompson et al. 2005) benutzt, um die Korrelation zwischen dem technisch
hochentwickelten neurowissenschaftlichen Datenbestand und dem bisher noch
vagen Erfahrungswissen zu präzisieren. Dies geschieht durch die Feststellung von
wechselseitigen Beschränkungen (mutual constraints), also bestimmter Aspekte
(subjektiv wie objektiv), die sich nicht verändern lassen, ohne dass es auf der
jeweils anderen Ebene ebenfalls zu Änderungen kommt. Die Anwendung der
Phänomenologie in den Neurowissenschaften vollzieht sich dabei meist auf zwei
Arten. Entweder werden phänomenologische Konzepte und Differenzierungen
für das Design und die Fragestellungen neurowissenschaftlicher Experimente
genutzt, was man als frontloading phenomenology bezeichnet (vgl. Gallagher
2003), oder es wird versucht, die Selbsterfahrung und Aufmerksamkeit der
Proband:innen zu schulen, damit diese ihre Erfahrung während eines Experi-
ments gezielter und differenzierter erfassen und darüber berichten können (Lutz
2002), etwa beim Erhebungs- oder mikrogenetischen Interview (Depraz 2003).
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
159 3
Erlebte und gemessene Aufmerksamkeit Zum Beispiel konnte in einem neuro-
wissenschaftlichen Wahrnehmungsexperiment eine starke Korrelation zwischen
dem von den Proband:innen jeweils erlebten Status des ‚Bereitseins‘ (poten-
tial readiness) und der mit einem EEG gemessenen Reaktionsgeschwindigkeit in
Bezug auf die auszuführende Wahrnehmungsaufgabe festgestellt werden (Lutz
2002). Die Versuchspersonen verfassten dabei vor Beginn des eigentlichen Experi-
ments unter phänomenologischer Anleitung subjektive Einschätzungen, d. h., sie
wurden angehalten, über ihren subjektiven Zustand vor und während der Probe-
durchläufe des Experimentes zu achten: Waren sie abgelenkt oder nicht? Gab es
unaufmerksame Momente? Oder haben sie eine bestimmte kognitive Strategie
während der Versuche angewandt? Anhand dieser Trainingsberichte wurden
sozusagen a posteriori allgemeine deskriptive Kategorien definiert, um die Ver-
suchsdurchgänge in phänomenologische Cluster aufzuteilen, z. B. in Bezug auf
die empfundene Bereitschaft für das betreffende Experiment. Hierbei wurde dann
zwischen einer stabilen und einer zögerlichen Bereitschaft sowie einem Zustand
des Nicht-Bereitseins unterschieden.

► Beispiel – Neurophänomenologie und meditierende Gehirne


Wie lassen sich in neurowissenschaftlichen Studien zur Aufmerksamkeit mit bild-
gebenden Verfahren Aussagen über das Erleben der Teilnehmenden auf verlässliche
und systematische Weise integrieren? Ein neurophänomenologisches Experiment unter
Beteiligung des Phänomenologen Evan Thompson hat diese Herausforderung an-
genommen, indem Versuchspersonen mit ausgewiesener Erfahrung in der Meditation
eingesetzt wurden (vgl. Garrison et al. 2013).
Um objektive Messdaten und subjektive Erlebnisdaten zu verknüpfen, wurde ein
Echtzeit-fMRT (rt-fMRT) eingesetzt, das den Teilnehmenden während einer laufenden
Aufgabe Feedback über ihre eigene Gehirnaktivität geben konnte. Dieses Echt-
zeit-Feedback während einer fokussierten Aufmerksamkeitsaufgabe zeigte, dass der
posteriore cinguläre Kortex, der ‚normalerweise‘ im Zustand der gedanklichen Ab-
schweifung oder ‚Gedankenwanderung‘ aktiviert ist, während der Meditation jedoch
nicht aktiv war.
In einem ersten Experiment berichteten sowohl Meditierende als auch Nicht-
Meditierende von einer signifikanten Übereinstimmung zwischen der Feedback-Grafik
und ihrer subjektiven Erfahrung von fokussierter Aufmerksamkeit einerseits oder Ge-
dankenwanderung andererseits. Wenn sie jedoch angewiesen wurden, bewusst zu ver-
suchen, ihre Gehirnaktivität zu beeinflussen, waren nur die Meditierenden in der Lage
dies zu tun. Sie führten willentlich eine signifikante Deaktivierung des posterioren
cingulären Kortex herbei.
Diese Ergebnisse konnten anschließend in einer separaten Gruppe von Meditierenden
repliziert werden, indem ein neuartiges schrittweises rt-fMRT-Entdeckungsprotokoll
verwendet wurde, bei dem die Teilnehmenden kein Vorwissen über die erwartete
Beziehung zwischen ihrer Erfahrung und dem Feedback-Graphen hatten (d. h.
fokussierte Aufmerksamkeit versus gedankliches Abschweifen). Diese Ergebnisse be-
stätigen, dass es durch die Verwendung von Echtzeit-fMRT in der neurowissenschaft-
lichen Forschung möglich wird, objektive Messungen der Gehirnaktivität mit Be-
160 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

richten über parallel ablaufende subjektive Erfahrungen zu verknüpfen. Zugleich


zeigen sie, dass die Expertise der Meditierenden in introspektiver Wahrnehmung
generalisiert werden kann (da der Effekt bei allen Versuchspersonen mit Meditations-
erfahrung auftrat) und auf neue Kontexte, hier die Ausführung einer Aufmerksam-
keitsaufgabe, anwendbar ist. ◄

3 Eine neue Form der Introspektion? Auch in dem sogenannten Erhebungs- oder
mikrogenetischen Interview steht die Schulung von Versuchspersonen im
Zentrum. Dies soll einen differenzierteren Zugang zu dem jeweils Erlebten, ins-
besondere den impliziten Prozessen dieses Erlebens, erlauben. Ob und wie dies
möglich ist, wird jedoch innerhalb der philosophischen Phänomenologie wie auch
in der empirischen Wissenschaft kontrovers diskutiert. Philosophisch stellt sich
die Frage, ob hier nicht eine neue Form von Introspektion entwickelt wird. Dies
würde einer klassischen phänomenologischen Herangehensweise entgegenstehen,
die sich als eidetische und transzendentale Philosophie und gerade nicht als Intro-
spektion versteht. Die Phänomenologie will schließlich nicht auf das Innere selbst
schauen, sondern vielmehr die Welt von innen heraus betrachten. Weiterhin ist die
philosophische Phänomenologie nicht so sehr an den spezifischen Erfahrungen
des Einzelnen, sondern den invarianten Strukturen der Erfahrung überhaupt
interessiert bzw. welche dieser Strukturen für die Erfahrung einer Welt notwendig
und konstitutiv sind. Wissenschaftlich stellt uns der Einbezug von Introspektion
ebenfalls vor einige Probleme, z. B. im Hinblick auf die Forderung nach Trans-
parenz (inwiefern wird das Erlebte durch experimentale Umstände, bestimmte
Fragen oder den Fokus der Untersuchung sowie durch das Berichten und
Reflektieren auf die Erfahrung selbst verändert), Validität (inwiefern kann man
Selbstberichten vertrauen, inwiefern sind Erfahrungen falsch oder eingebildet
etc.?) und Verallgemeinerung (inwiefern kommt man von individueller Intro-
spektion zu allgemeinen Erfahrungsstrukturen, die sich mit objektiven Daten
korrelieren lassen?).

Was wissen wir wirklich über unser Erleben? Im wissenschaftlichen und psycho-
logischen Kontext wird oft vom Einbezug introspektiver Erlebnisberichte ab-
gesehen, da sie aufgrund der singulären Natur der Erfahrung nicht reproduzier-
bar und daher nicht verifizierbar sind. Richard Nisbett und Timothy Wilson
(1977) haben etwa in einer einflussreichen Studie gezeigt, dass Menschen
oft mehr (über sich selbst) erzählen, als sie eigentlich (über sich) wissen. Sie
folgerten daraus, dass Subjekte eben keinen zuverlässigen introspektiven Zu-
gang zu ihren eigenen kognitiven Prozessen haben. Ein schwedisches Team von
Kognitionswissenschaftler:innen (Johansson et al. 2005) hat diese Schluss-
folgerungen bestätigt. In ihrer Studie mussten sich Teilnehmende zwischen zwei
Bildern von Frauengesichtern entscheiden, als Beurteilungskriterium diente hier-
bei die Attraktivität der Gesichter. Unmittelbar nach der Auswahl wurde den
Subjekten das ausgewählte (attraktivere Gesicht) erneut gezeigt, verbunden mit
der Bitte, die Gründe für die Wahl zu erläutern. In einigen Fällen wurde nun
ein Bild präsentiert, dass die betreffenden Personen gar nicht selbst ausgewählt
hatten. Erstaunlicherweise erkannten die Teilnehmer diesen Trick nur in 20 % der
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
161 3
Fälle. In den restlichen 80 % der Fälle gaben sie daher eine Erklärung für eine
Wahl ab, die sie gar nicht getroffen hatten.
Es scheint also, dass wir äußerst wenig darüber wissen, wie wir erleben und
entscheiden. Dies ist für eine Phänomenologin erst einmal nicht verwunderlich,
werden doch gerade bei Husserl, Merleau-Ponty, Sartre, Beauvoir oder Heidegger
etc. die passiven, impliziten und daher nicht explizit thematischen Bereiche des
Bewusstseins und der Existenz beschrieben. Sind deshalb alle Erfahrungs- und
Selbstberichte unzuverlässig und nutzlos, oder kann man die Probanden eventuell
darin schulen, ihre eigenen Erfahrungen aufmerksamer und damit differenzierter
zu erfassen und zu beschreiben?

Über Bewusstwerdung Eine Gruppe französischer Phänomenolog:innen und


Psycholog:innen wiederholten obiges Experiment, um genau dies herauszu-
finden. Hierfür integrierten sie zwischen den zwei experimentellen Schritten (der
ersten Auswahl des Bildes und der Erläuterung der Auswahl) ein sogenanntes Er-
hebungsinterview. Bei einem solchen Interview werden neutrale, aber dennoch
präzise Fragen an die Teilnehmenden gestellt, die ihnen dabei helfen sollen, ihre
Aufmerksamkeit retrospektiv auf die Prozesse der vorhin ablaufenden Erfahrung
zu lenken, um diese differenzierter beschreiben zu können. Das Erhebungs-
interview soll also helfen, sich die eigenen impliziten Erlebnisse im Nachhinein
bewusst zu machen. Welche Gedanken, Assoziationen oder Gefühle führten zu
der Entscheidung? Bei denjenigen Teilnehmenden an dem Experiment zeigte sich
tatsächlich ein Unterschied im Ergebnis, während in der ‚normalen‘ Versuchs-
gruppe das Ergebnis der anderen Studien bestätigt wurde. Der Einsatz des Er-
hebungsinterviews kehrte die Sachlage sogar um, hier wurde das falsche Bild in
80 % der Fälle erkannt (Petitmengin et al. 2013).

► Beispiel – Erhebungs- oder mikrogenetisches Interview


Das Erhebungsinterview wurde entwickelt, um Personen in der beruflichen Praxis
zu helfen, sich des impliziten Anteils ihrer mentalen oder körperlichen Handlungen
bewusst zu werden (vgl. Vermersch 1994). In der Kognitionswissenschaft wird es
weiterhin zur Beschreibung der Mikrodynamik von Erfahrungen eingesetzt, die mit
jeder Art von kognitiven Prozessen verbunden sind (Petitmengin 2006). Der Zweck
eines Erhebungsinterviews ist es, den Proband:innen zu helfen, ihre Aufmerksamkeit
vom Inhalt der Erfahrung auf die Dynamik der Erscheinung dieses Inhalts zu lenken,
die meist unerkannt, unbemerkt oder in der phänomenologischen Sprache ‚vorreflexiv‘
bleibt.
Der erste Schritt besteht darin, die Aufmerksamkeit vom Inhalt auf den vollständigen
Bewusstseinsakt zu lenken. Dies wird von Michel Bitbol und Claire Petitmengin (2013,
S. 273) gleichgesetzt mit der Durchführung der phänomenologischen Reduktion. Dies
ist jedoch missverständlich, da es sich hierbei nicht um eine transzendentale Reduktion
handelt, d. h. um die philosophische Frage, was die Bedingungen der Möglichkeit von
Erfahrung überhaupt sind. Stattdessen soll die Aufmerksamkeit der Versuchsperson
auf ihre singuläre Erfahrung gelenkt werden. Wann immer die Versuchspersonen
dabei abgelenkt werden, etwa dadurch, dass sie diese Erfahrung kommentieren,
162 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

r­echtfertigen, erklären oder evaluieren, wird ihre Aufmerksamkeit durch die


Forschenden geduldig auf die Ebene der Beschreibung zurück gelenkt.
Im zweiten Schritt soll der Versuchsperson geholfen werden, das betreffende Er-
lebnis abzurufen oder ‚heraufzubeschwören‘ (zu evozieren), egal ob dieses weit in
der Vergangenheit liegt oder gerade erst vorbei ist. Da es sich um implizite und prä-
reflektive Prozesse handelt, sind sensorische Auslöser besonders wichtig, um das Auf-
3 tauchen der gesamten Erinnerung in all ihren qualitativen, emotionalen und kognitiven
Dimensionen zu ermöglichen. (Ein berühmtes Beispiel ist der ‚Madeleine-Effekt‘, be-
nannt nach Marcel Prousts mehrbändigem Roman Auf der Suche nach der verlore-
nen Zeit. Hier löst das französische Gebäck ‚Madeleine‘ durch seinen Geschmack in
der Figur Swann eine unmittelbare Erinnerung an das Dorf und die Menschen seiner
Kindheit aus.) In diesem Zusammenhang konnten Kriterien identifiziert werden, die
auf die Effektivität eines retroaktiven Evokationsaktes hinweisen (Vermersch 1994;
Petitmengin 2006), z. B. die spontane Verwendung des Präsens, das Abnehmen des
visuellen Fokus, die Verlangsamung des Redeflusses und das Auftreten von Gesten.
Im dritten Schritt sollen die Mikroprozesse der jeweiligen Akte, also die präreflexiven
Elemente, die sich normalerweise im Hintergrund abspielen, in den Fokus der
Evokation rücken. Dies geschieht, indem man die Aufmerksamkeit vom Inhalt eines
inneren Bildes auf die Dynamik seiner Erscheinung, d. h. die Genese dieses Inhalts,
lenkt: z. B. auf das Entstehen einer neuen Idee, einer auditiven Wahrnehmung, eines
Gefühls der Überraschung, einer Wahrnehmungsillusion oder einer schmerzhaften
Episode. Hierfür werden Fragen der Art: ‚Wie hat es angefangen?‘, ‚Was ist dann
passiert?‘, ‚Was haben Sie genau getan?‘, ‚Was haben sie genau gefühlt in diesem
Moment?‘ gestellt. Diese Art der ‚inhaltsleeren‘ Befragung soll eine genaue Be-
schreibung ermöglichen, ohne dabei eigene Vorannahmen und falsche Erinnerungen zu
erzeugen.
Die Struktur eines Erhebungsinterviews ist iterativ. Sie soll der Versuchsperson helfen,
die betreffende Erfahrung mehrmals zu evozieren, und dabei ihre Aufmerksamkeit
auf ein diachrones Geflecht zu lenken, das zunehmend verfeinert wird, bis der ge-
wünschte Detaillierungsgrad erreicht ist. Ziel ist es, eine generisch dynamische Struktur
zu identifizieren, die unabhängig von den verschiedenen Erfahrungsinhalten ist ─ z. B.
die typische Struktur bzw. die wesentlichen Mikroprozesse, die bei der Erfahrung von
Überraschung oder dem Entstehen einer Idee wesentlich sind. ◄

Naive vs. angeleitete Erlebnisbeschreibung Zwei Dinge werden hier deutlich.


Erstens sind naive Beschreibungen von Entscheidungsprozessen oder Erlebnissen
in der Regel unzuverlässig. Jedoch zeigt die hohe Entdeckungsrate des ‚falschen
Bildes‘ bei denjenigen Teilnehmenden, die retrospektiv bei der Beschreibung ihrer
Wahl angeleitet wurden, dass es möglich ist, solche Fehleinschätzungen durch ge-
zielte Aufmerksamkeit auf das eigene Erleben zu vermeiden. Durch das Inter-
view wird eine Art Erinnerung an das Erlebnis der Auswahl des Bildes mög-
lich, die wiederum regelmäßig im Verlauf des Interviews aufgefrischt und ein-
geordnet wird. Die hohe Erkennungsrate zeigt die Effizienz dieses Vorgangs und
damit auch die Zuverlässigkeit der Erinnerungen, was wiederum für die Validi-
tät der Beschreibungen spricht. Zweitens wird ersichtlich, dass eine naive oder
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
163 3
ungeschulte Beschreibung der Erfahrung, auch bei Teilnehmenden, die nicht der
Täuschung unterlagen, ziemlich ungenau und dürftig ist. Personen gaben etwa
an: ‚Ich habe diese Person ausgewählt, weil sie ein schönes Lächeln hatte‘ (vgl.
Bitbol/Petitmengin 2017, S. 732). Die Beschreibungen bleiben auf das Was oder
den Inhalt ihrer Wahl konzentriert, also auf das gewählte oder nicht gewählte Ge-
sicht.
Im Gegensatz dazu, trifft man bei den ‚angeleiteten‘ Subjekten auf sehr
detaillierte Beschreibungen ihrer Erlebnisse und Entscheidungsprozesse. Zum
Beispiel beschrieben sie die zeitliche Abfolge der Erkundung der Merkmale der
Gesichter, die flüchtigen inneren Bilder, die durch die Fotografien hervorgerufen
wurden, oder die subtilen inneren Gefühle, die als Auswahlkriterien verwendet
wurden. Ein Unterschied zeigte sich auch in der Länge der Berichte bzw. der An-
zahl der benutzten Wörter: Nicht angeleitete Versuchspersonen umschrieben ihre
Erfahrung im Durchschnitt mit 200 Wörtern, während die angeleiteten Subjekte
hierfür 3000 Wörter benötigten. Für Claire Petitmengin und Michel Bitbol sind
diese detaillierten Beschreibungen die Folge einer Umlenkung der Aufmerksam-
keit: von dem Inhalt der Wahrnehmung (Gesicht) auf das ‚Wie‘ ihrer Gegeben-
heit (Akte und Mikroprozesse). Das Interview hat also eine ähnliche Funktion
wie die deskriptive Epoché bei der phänomenologischen Beschreibung, nun jedoch
extern angeleitet durch die Befragung. Experimente, in denen die Probanden
lediglich in naiver und oberflächlicher Weise über ihre Erlebnisse berichten,
können daher nicht als generelle Diskreditierung der Introspektion gelten. Denn
eine angeleitete Introspektion kann die Möglichkeit hervorbringen, auf kognitive
Prozesse erfahrungsmäßig zuzugreifen, um diese detailliert beschreiben zu
können.

Phänomenologie und Introspektion Folgendes lässt sich hierzu kritisch anmerken.


Erstens muss methodisch ein Unterschied gemacht werden zwischen einer
phänomenologisch inspirierten Introspektion und der philosophisch phänomeno-
logischen Methode. Auch wenn bei beiden Vorgängen eine Umlenkung der Auf-
merksamkeit vom Inhalt des Gegebenen zum Wie seines Gegebenseins auf-
tritt, handelt es sich bei der Beschreibung des ‚Gegebenen‘ im Erhebungsinter-
view nicht um erfahrene Dinge oder die Welt, sondern um mentale Vorgänge.
Während die Phänomenologie also bei den Dingen beginnt und von da aus nach
den allgemeinen Strukturen und notwendigen Bedingungen von Erfahrung und
Subjektivität überhaupt zurückfragt, nimmt das Erhebungsinterview beim In-
halt eines mentalen Prozesses einer bestimmten Person ihren Ausgang und fragt
von da genetisch zurück nach individuellen Mikroprozessen, die diesen Inhalt
motiviert haben. Die Bewusstwerdung zielt also auf die konkrete Beschreibung
vorreflexiver mentaler Vorgänge in der Zweite–Person-Perspektive (der Versuchs-
personen) ab. Hierbei bleibt es jedoch nicht, denn die Beschreibungen der Ver-
suchspersonen werden gesammelt, um anhand dieser eine allgemeine, eidetische
Struktur der Mikrogenese feststellen zu können, die auf alle Versuchspersonen
zutrifft.
164 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Mikrophänomenologie und Eidetik Eine solche genetische Mikrophänomenologie


möchte konkrete Erlebnisformen und ihre Entstehung in ihrer Typik (allgemein)
beschreiben, also z. B. welche Mikroprozesse der Erfahrung einer Überraschung
oder dem Haben einer Idee vorausgehen. Im Gegensatz zur Eidetik in der
Phänomenologie, bei der die jeweilige Erfahrung lediglich als willkürliches Bei-
spiel den Ausganspunkt der Variation bildet, bleibt diese Typisierung jedoch an
3 die Beschreibung des konkret Erlebten und seiner Qualität gebunden. Dies macht
den Ansatz anfällig für das Problem voreiliger Generalisierungen (welche und wie
viele Subjekte wurden befragt, welche nicht?) und dem Risiko, die Evokation der
Erfahrung zu sehr in eine bestimmte Richtung zu lenken und damit einer nach-
träglichen Rationalisierung des Erlebten Vorschub zu leisten. Dies muss noch
nicht einmal durch die Forschenden selbst ausgelöst werden, sondern kann der
jeweiligen sozialen oder kulturellen Situierung geschuldet sein. Daher sollte man
berücksichtigen, dass jede Erfassung und Beschreibung von Erlebnissen durch
Sprache, Konventionen oder Erwartungen implizit mitgeformt wird.
Dass die introspektive Mikrophänomenologie sich von der traditionellen
phänomenologischen Methode unterscheidet und mit den bekannten Problemen
jeder Introspektion zu kämpfen hat, bedeutet jedoch nicht, dass eine solche
Methode und ihre konstante Verfeinerung nicht zu wichtigen Ergebnissen
kommt, d. h. in der Forschung oder Therapie nützlich ist. Da jede neurowissen-
schaftliche Studie auf Versuchspersonen und direkte oder indirekte Erfahrungs-
berichte basiert, ist eine methodische Reflektion und das Entwickeln eines Ver-
fahrens zur Systematisierung der Erlebnisberichte dringend notwendig.

Sich Bewusst werden, was in einem passiertEinige Studien deuten auch darauf hin,
dass das Erhebungsinterview Aufschluss geben kann über die Entstehung von
Illusionen, z. B. im Kontext der berühmten ‚Gummihand-Illusion‘ (Valenzuela
et al. 2013), bei der eine widersprüchliche Kombination aus visuell wahr-
genommener (einer lebensecht aussehenden Gummihand) und gefühlter Be-
rührung (der unter dem Tisch liegenden echten Hand) den Eindruck erzeugt,
dass die gesehene Gummihand die eigene Hand ist. Auch im klinischen Bereich
erwies sich das Erhebungsinterview als nützlich. Es ermöglichte Patient:innen,
sich der frühen Anzeichen bewusst zu werden, die einem epileptischen An-
fall vorausgehen. Damit konnte auf der Erfahrungsebene bestätigt werden, was
auf der neuronalen Ebene bereits antizipiert worden war (Le Van Quyen et al.
2001), dass nämlich Anfälle nicht ‚wie ein Blitz aus heiterem Himmel‘ entstehen,
sondern sichtbare Ergebnisse eines Prozesses sind, der lange vorher begonnen
hat. Ein Bewusstsein oder eine Bewusstwerdung dieser Mikrogenese von Anfällen
könnte also der Schlüssel zu einer neuen kognitiven Therapie für Epilepsie sein
(Petitmengin 2006).

Frontloading-Phänomenologie Jedoch lässt sich Phänomenologie auch in


quantitative Forschung integrieren, ohne dass dafür die Versuchspersonen vorab
geschult werden müssen. Im von Shaun Gallagher vertretenen Ansatz der front-
loading phenomenology, wird etwa das experimentelle Design durch phänomeno-
logische Erkenntnisse geleitet, z. B. durch phänomenologische Differenzierungen
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
165 3
zwischen Körperschema und Körperbild oder zwischen dem Gefühl von Besitz
(ownership) und der Handlungsfähigkeit bzw. -initiation des eigenen Leibkörpers
(agency). In diesem Zusammenhang wurde etwa die Hypothese überprüft, ob
Handlungsinitiation (a) bedingt ist durch neuronale Prozesse, die die Motorik
steuern ─ sogenannte efferente Signale, also Signale die das Gehirn an die
Muskeln sendet und die Bewegung auslösen ─, oder (b) mit höheren kognitiven
Arealen der Handlungsintention assoziiert werden muss. Grob gesagt, wurde hier
mithilfe von Magnetresonanztomographie nach den neuronalen Korrelaten von
einerseits agency und andererseits ownership gesucht (Chaminade/Decety 2002;
Farrer/Frith 2002; Tsakiris/Haggard 2005).

Sub-personale und personale Ebene Eine kritische phänomenologische Inter-


pretation dieser Experimente zeigt, dass der Verlust des Gefühls der Handlungs-
fähigkeit auf verschiedenen Ebenen verortet sein kann und je nach Fall ver-
schiedene Ursachen hat, sowohl auf motorischer als auch kognitiver Ebene oder
in der Verbindung beider Ebenen (also wenn die Handlungsintention nicht den
gewünschten Effekt in der Welt zeigt, vgl. Gallagher/Zahavi 2008, S. 162 f.).
Hierbei muss zunächst deutlich zwischen der sub-personalen Ebene neuronaler
Prozesse und der personalen (oder vor-personalen) Ebene der Erfahrung unter-
schieden werden, bevor man versucht, beide Ebenen zu korrelieren. So kann
es auf der neuronalen Ebene so aussehen, als würde es keinen Unterschied
machen, ob ich meine eigenen Bewegungen oder die eines anderen beobachte,
indem z. B. dieselben Gehirnregionen (auch: Spiegelneuronen) Aktivierungen
zeigen. In diesem Kontext wurde die These aufgestellt, dass man erst eine schein-
bar ‚nackte Intention‘ sieht und erst in einem zweiten Schritt dieser Bewegungs-
intention einen Urheber (ich oder der andere) zuschreibt. Auf der Erfahrungs-
ebene spielt diese Unterscheidung jedoch eine entscheidende Rolle, denn außer
in sehr seltenen pathologischen Fällen wird die eigene Bewegung kaum mit der
von anderen verwechselt. So wie Bewusstsein immer Bewusstsein von Etwas ist
– so minimal dieses ‚etwas‘ auch sein mag –, nehmen wir Bewegungen immer als
Bewegungen von jemandem oder etwas (einem Lebewesen) wahr. Es lässt sich
also nicht einfach so von der neurologischen Ebene auf die Erfahrungsebene
schließen. Will man wissen, was Handlungsfähigkeit oder Bewusstsein ausmacht,
reicht es eben nicht aus, nur eine dieser beiden Untersuchungsebenen in den Blick
zu nehmen.

Probleme der Korrelation Wie oben deutlich wurde, müssen die sub-personale
und die personale Ebene sich dabei nicht ähnlich (isomorph) sein. Was in der
Erfahrung unmittelbar gegeben ist, kann verschiedene neurologische oder
sub-personalen Prozesse voraussetzen. Und doch ist eine gewisse wechsel-
seitige Bedingtheit zu erwarten, d. h., es gibt bisher keine guten Gründe davon
auszugehen, dass die Verbindung von Erfahrung und neuronaler Aktivi-
tät willkürlich ist, oder subpersonale Prozesse und personale (thematische) Er-
fahrung völlig unabhängig voneinander sind. Es gibt z. B. gute Gründe anzu-
nehmen, dass Unterschiede auf der Erfahrungsebene, etwa zwischen Wahr-
nehmung (Präsentation) und Erinnerung (Reproduktion oder Repräsentation),
166 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

sich irgendwie auch im n ­ euronalen Bereich oder in der Art der sub-personalen
Informationsverarbeitung, wie es in der Kognitionswissenschaft heißt, wider-
spiegeln. Phänomenologie kann hierbei nicht nur durch ihre Beschreibungen und
Konzepte die neurowissenschaftliche Experimentalforschung inspirieren oder
prüfen, sondern auch selbst von dieser profitieren, indem diese als Prüfstein für
phänomenologische Konzepte dient und so hilft, die philosophischen Konzepte
3 zu verfeinern, zu bestätigen oder zu widerlegen.
Der sogenannte Frontloading-Ansatz ist insofern in vielen Fällen der mehr
introspektiven Methode vorzuziehen, da es nicht immer möglich ist, Versuchs-
personen phänomenologisch zu schulen. Zur Prüfung mancher Hypothesen ist es
z. B. nicht erwünscht, dass die Versuchspersonen schon vorab darüber informiert
sind, was im betreffenden Experiment passiert. Bei Versuchen zur sogenannten
Wechselblindheit (wenn Menschen substantielle Veränderungen in Bildern und
Szenen nicht erkennen) ist man etwa auf die Naivität der Versuchspersonen
angewiesen. In anderen Fällen können Subjekte involviert sein, die aus ver-
schiedensten Gründen nicht in der Lage sind, phänomenologischen Anleitungen
zu folgen, z. B. aufgrund ihres Alters oder da sie an einer Pathologie leiden.
Im Kontext der quantitativen Erforschung des Gehirns oder der Kognition
kann die Phänomenologie also helfen, das Problem der Korrelation zwischen dem
Erlebnis einerseits und der messbaren physiologischen Veränderungen anderer-
seits differenzierter zu betrachten. Hierbei muss je nach Fall unterschieden
werden, ob es sinnvoller ist, von allgemeinen phänomenologischen Konzepten
auszugehen, die dann das experimentale Design oder die Interpretation der Daten
leiten, oder aber Erlebnisberichte von Probanden selbst miteinzubeziehen.

Dimensionen der Korrelation Bei der Suche nach Korrelationen zwischen Er-
lebtem und Messbarem kann die initiierende Dimension entweder eine bestimmte
neuronale Struktur sein oder eine phänomenologisch identifizierte Erfahrungs-
kategorie. Hierbei muss darüber nachgedacht werden, wie die relevante Erlebnis-
variable identifiziert werden soll ─ a posteriori durch den Vergleich phänomeno-
logisch angeleiteter Beschreibungen von Versuchspersonen oder a priori (front
loaded), indem phänomenologische Konzepte und Differenzierungen das Design
des Experiments bestimmen (das können handlungsleitende Hypothesen sein
oder Aufgaben, die die Versuchspersonen ausführen sollen, während ihre Gehirn-
aktivität aufgezeichnet wird).
Wichtig ist dabei auch die Frage, nach welcher Art der Korrelation man sucht:
a) Sucht man nach einer Korrelation generischer Erfahrungsstrukturen, in denen
die Besonderheiten der individuellen Erfahrung zugunsten der Bestimmung
einer allgemeinen Struktur vernachlässigt werden? Hierbei handelt es sich
um eine Korrelation in Form eines type oder Typus, also einer allgemein be-
stimmten Form oder Kategorie der Erfahrung.
b) Sucht man nach der Korrelation eines spezifischen singulären Erlebnisses und
seinem entsprechenden neuronalen Korrelat? Hierbei handelt es sich um eine
Korrelation in Form eines tokens (singuläres Vorkommnis).
3.3 · Phänomenologie in anderen Disziplinen
167 3
Abschließend stellt sich noch die Frage, auf welcher Zeitskala eine Korrelation
gesucht oder erwartet wird. Methoden wie das Erhebungsinterview, die Zugang
zu den Mikroprozessen des Erlebens gewährleisten, könnten hier etwa mit neuen
Methoden, wie der Echtzeit-Analyse neuro-elektrischer Signale, kombiniert
werden. Dies würde ein unmittelbares Feedback der Versuchspersonen (und
Forschenden) über die Feindynamik der ablaufenden neuronalen Aktivität er-
möglichen. Daten der ersten und dritten Person könnten so in der Erfahrung der
Versuchspersonen selbst kombiniert werden, als von Innen erlebt und von Außen
wahrgenommen bzw. lesbar gemacht werden.

Die Grenzen der Phänomenologie Letzteres führt die Phänomenologie auf


konstruktive Weise methodisch an ihre Grenzen. Hier stellt sich nämlich
die Frage, inwiefern wir diejenigen passiven Prozesse im Bewusstsein (oder
der Leiblichkeit), die unser Bewusstsein von den Dingen und der Welt mög-
lich machen, selbst noch als solche erfahren können. Wie lässt sich ein nicht-
objektives, vorreflexives Selbsterleben beschreiben? Zwar würden die meisten
Phänomenolog:innen zustimmen, dass jede Intentionalität und Weltgerichtetheit
mit einem impliziten Selbstbezug einhergeht (vgl. Zahavi 1999/2020), die Frage,
inwiefern dieser allerdings eigens erlebt wird oder sogar primär oder absolut ist,
bleibt jedoch umstritten. Gerade deshalb ist es wichtig, Methoden zu suchen,
die es ermöglichen, ein Selbsterleben jenseits oberflächlicher Zustandsangaben
systematisch und wissenschaftlich einzufangen.
Inwiefern ist dies noch Phänomenologie im Sinne einer Beschreibung
von Dingen bzw. einer Bestimmung von allgemeinen oder transzendentalen
Strukturen? Vielleicht ist diese Frage einfach falsch gestellt. Wie schon Husserl
nicht müde wurde zu betonen, muss die Phänomenologie sich immer wieder einer
Metakritik, d. h. Methodenkritik, unterwerfen, um ihrem Anspruch auf Evidenz
und Vorurteilslosigkeit gerecht zu werden. Hierzu gehört, dass man thematisch
und methodisch an die Grenzen dessen gehen muss, was Phänomenologie zu
leisten im Stande ist. Was sind die Grenzen der Beschreibung (methodisch) oder
des Bewusstseins selbst (thematisch)? Erleben wir die Welt und uns selbst noch im
Schlaf, Delirium oder Koma? Und wie lässt sich dies dann beschreiben?
Dies sind Fragen, die sich Husserl selbst, z. B. in den Manuskripten, die nun
als Grenzprobleme der Phänomenologie (Hua XLII) veröffentlicht sind, und viele
phänomenologisch Forschende nach ihm immer wieder gestellt haben. Dabei
kann uns die Phänomenologie eines zeigen, nämlich, dass jede Erfahrung, auch
die banale Dingwahrnehmung, immer schon über sich hinausweist und damit
Aspekte enthält, die nicht eigentlich wahrgenommen, d. h. noch nicht, nicht mehr
oder nicht explizit erfahren werden. Und doch machen all diese Aspekte und
Prozesse unsere Erfahrung erst zu dem, was sie ist. Ausgehend von demjenigen,
was wir momentan eigentlich wahrnehmen, können wir darum zurückfragen (ver-
gangene Erfahrung), uns einfühlen (in die Erfahrung anderer) und differenzieren
zwischen (a) Erlebnissen, die thematisch bewusst sind, (b) die potentiell bewusst
gemacht werden können oder (c) solchen, die vielleicht niemals oder nur in
Grenzfällen erlebt werden (wie das Funktionieren innerer Organe oder des Ge-
hirns). In letzterem Fall eröffnen Naturwissenschaft und Technologie nicht nur
168 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Risiken, wie die der Objektivierung und Medikalisierung des Körpers, sondern
auch Möglichkeiten, unsere und andere Bewusstseine sowie Leibkörper neu und
anders wahrzunehmen.

? Aufgaben
1. Inwiefern kann die qualitative Sozialforschung von phänomenologischen
3 Methoden profitieren, und wo liegen Probleme der Anwendung? Nennen
Sie Vor- und Nachteile einer phänomenologisch orientierten qualitativen
Forschung und diskutieren Sie diese.
2. Entwickeln Sie ein qualitatives Forschungsprojekt und entwerfen Sie dafür
einen Fragbogen für ein phänomenologisches Interview.
3. Wie kann die Phänomenologie dazu beitragen, die ‚Erklärungslücke‘ zwischen
Materialismus und Bewusstsein zu schließen? Geben Sie Argumente und Bei-
spiele, wie man mithilfe von phänomenologischen Einsichten und Methoden,
die Korrelation zwischen messbaren Gehirnaktivierungen und Erfahrung
untersuchen und erklären kann.
4. Entwerfen Sie ein neurophänomenologisches Experiment. Verwenden Sie eine
der vorgestellten Methoden und begründen Sie Ihre Auswahl. Nehmen Sie eine
kritische Evaluation vor: Inwiefern muss die Methode angepasst oder ergänzt
werden?
5. Glossarium: Sammeln Sie relevante Begrifflichkeiten und definieren Sie diese
anhand des Textes und weiterer Quellen. Fügen Sie diese dem Glossarium
hinzu. (Tipp: Dieses Glossar kann gemeinsam mit anderen Kommiliton:innen
erstellt werden.).

3.4  Zurück zur Erfahrung: Methode als Projekt

Innerhalb der Philosophie sowie in den interdisziplinären Anwendungen der


Geistes- und Naturwissenschaften gibt es diverse Überzeugungen darüber, was
eine phänomenologische Methode eigentlich genau ausmacht. Über die jeweiligen
Differenzen hinweg lassen sich jedoch deutliche Gemeinsamkeiten identifizieren,
die den Forschungsstil, die Fragerichtung, die Einstellung, den Untersuchungs-
bereich sowie Praxis und Ziel betreffen.

Anwendungsbereiche und Methoden Ob in gegenwärtigen Bewegungen, wie der


kritischen Phänomenologie, der Technikphilosophie, oder der Anwendung in
den Kognitions- und Neurowissenschaften, der Sportmedizin, den Pflegestudien,
der Psychiatrie, der Medizin oder Bioethik sowie der Pädagogik oder Soziologie
─ überall steht die differenzierte Beschreibung, Klassifizierung, Erklärung oder
Kritik der Erfahrung im Zentrum. Dabei greift man direkt oder indirekt auf die
Erste- oder Zweite-Person-Perspektive zurück, d. h. durch Erlebnisberichte, Ver-
haltensbeobachtung, Befragungen oder direkter Interaktion wie z. B. in einer
Therapie.
3.4 · Zurück zur Erfahrung: Methode als Projekt
169 3
In theoretischer Hinsicht stellen sich dabei Fragen zur Relation von Er-
fahrungen mit physisch messbaren Reaktionen (Neurowissenschaft) oder von Er-
fahrung und kognitiven Funktionen (Kognitionswissenschaft). Lassen sich hier
Kausalitäten, Ähnlichkeiten oder bloße Korrelationen feststellen, oder kann
Erfahrung gar gänzlich auf Gehirnaktivitäten oder formale Verarbeitungs-
prozesse reduziert werden? Können phänomenologische Beschreibungen
naturalisiert werden oder eine empirische Bestätigung finden? Eine sorgfältige
und differenzierte Beschreibung der Erfahrung, d. h. der verschiedenen Formen
von Bewusstsein und Erfahrung, ist in all diesen Fällen notwendiger Ausgangs-
punkt wie auch das zu erklärende Ziel. Wenn Neurowissenschaft, Psychologie,
oder Kognitionswissenschaft die Antwort sein soll, muss zunächst die Frage
sowie das Explanandum ─ also dasjenige, was es zu erklären gilt ─, deutlich um-
rissen sein. Hierbei kann Phänomenologie auf vielfältige Weise behilflich sein, sei
es beim Aufstellen von Hypothesen, beim Design von Experimenten und Frage-
bögen oder bei der Interpretation der Daten.
In praktischer Hinsicht kann die Phänomenologie eine bedeutende Rolle in der
Diagnose, Behandlung und Therapie spielen. Die Anwendung der Phänomeno-
logie im klinischen Kontext ist dabei nicht nur eine Frage des Interesses an der
Perspektive der Patient:innen. Ein Teil der Aufgabe besteht gerade darin, einen
theoretischen Rahmen anzuwenden, der es erlaubt, die grundlegenden Strukturen
der veränderten Lebenssituation zu erfassen. Wie verändert sich das eigene In-
der-Welt-Sein, wenn man mit einer Schizophrenie, Epilepsie oder einer Zerebral-
parese lebt? Wie beeinflusst eine Krankheit, eine plötzliche, lebenslange oder an-
geborene Behinderung oder eine psychische Störung die Beziehung des Subjekts
zu sich selbst, zur Welt und zu anderen? Lassen sich normale und pathologische,
gesunde und kranke, behinderte und unbehinderte Subjekte überhaupt anhand
ihrer Erfahrungen unterscheiden oder sind dies nur externe Zuschreibungen?

Historische und kulturelle Situierung der Erfahrung Weiterhin kann die Phänomeno-
logie den Blick darauf lenken, wie verschiedene Zeiten, materielle Umstände
oder soziale und politische Kontexte von den entsprechenden Subjekten erfahren
werden oder wie sich Erfahrungen (von uns selbst, der Welt und anderen) durch
individuelle Umstände oder soziale Kontexte verändern bzw. von diesen geformt
werden. Wie entwickelt und verändert sich meine Erfahrung (von mir selbst,
meiner Umgebung und anderen Menschen) durch Sport, Erziehung, Technik,
Medien oder auch Verfolgung, Gefangenschaft, Unterdrückung oder Dis-
kriminierung? Wie unterscheiden sich Erfahrungen von Menschen in unterschied-
lichen Umständen, mit unterschiedlicher Herkunft, Geschichte, körperlichen
Konditionen, Gewohnheiten oder Möglichkeiten? Wie vermitteln und formen
Technologien unsere Wahrnehmung und Gewohnheiten? Kann Erfahrung selbst
rassistisch oder sexistisch sein, d. h. die Art und Weise, wie wir wahrnehmen, uns
bewegen und verhalten, ohne dass dies uns explizit bewusst ist? Dies sind nur
einige der drängenden Fragen, die sich die gegenwärtige Phänomenologie stellt,
und mit welchen sie bewusst die Grenzen der akademischen Disziplinen über-
schreitet, um zu den Sachen selbst zu gelangen.
170 Kapitel 3 · Phänomenologie in Aktion

Phänomenologie betreiben, heißt hier mithilfe von phänomenologischen


Methoden oder Konzepten verschiedene Formen von Erfahrung und Subjektivi-
tät (bzw. Inter-Subjektivität) vorurteilslos und so differenziert wie möglich zu be-
schreiben. Je nach Ausrichtung und Fokus stehen dabei grundlegende oder an-
gewandte Fragen im Zentrum: Mal ist die Vorurteilslosigkeit als epistemische
Kritik oder praktische Offenheit wichtig, mal wird versucht, allgemeine
3 Strukturen oder spezifisch situierte Erfahrungen zu bestimmen, mal wird nach
notwendigen oder konkreten Bedingungen dieser Erfahrung und Subjektivität ge-
fragt ─ oder alles auf einmal.

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Personenregister

A Husserl, Edmund 2, 4, 6, 27, 32, 34, 38, 46, 53,


100, 105, 111–113, 119, 124, 127, 129, 133,
Ahmed, Sara 111–114 137, 146, 147, 152, 153, 157, 161
Arendt, Hannah 104, 119

I
B
Ihde, Don 115–117
Beauvoir, Simone de 83, 88, 89, 103, 105, 107,
108, 161
Binswanger, Ludwig 129, 136 J
Bitbol, Michel 163
Blankenburg, Wolfgang 136, 138 James, William 29
Brentano, Franz 5–7, 62, 65 Jaspers, Karl 129, 136

C K
Carel, Havi 127 Kant, Immanuel 15, 58, 62, 70
Chalmers, David 153, 154
Conrad, Theodor 80, 85
L
Latour, Bruno 115
D Legrand, Dorothée 126, 148, 149
Derrida, Jacques 105 Levinas, Emmanuel 62, 76, 105
Descartes, René 3, 57, 61–63, 90 Lipps, Theodor 79, 85

F M
Fanon, Frantz 88, 105–107 Maldiney, Henri 136
Foucault, Michel 4, 103, 105, 114 Manen, Max van 146
Fuchs, Thomas 129, 130 Marion, Jean-Luc 63
Martius, Hedwig Conrad 85
Merleau-Ponty, Maurice 19, 27, 38, 52, 72, 83,
G 84, 88–90, 100, 103, 105, 108, 111, 116, 117,
119, 122, 123, 127, 132, 133, 137, 147, 161
Gadamer, Hans-Georg 89, 90
Gallagher, Shaun 125, 164
Garfinkel, Harold 136 N
Nietzsche, Friedrich 114
H Nisbett, Richard 160

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 44


Heidegger, Martin 38, 68, 83, 84, 87–89, 111, P
116, 119, 120, 127, 129, 147, 161
Henry, Michel 126 Petitmengin, Claire 161, 163
Høffding, Simon 150, 151 Platon 45
180 Personenregister

Plessner, Helmut 75 Toombs, S. Kay 128


Preester, Helena de 118

V
R Varela, Francisco 156, 157
Ravn, Susanne 148, 149 Verbeek, Peter-Paul 118
Ricœur, Paul 63, 89, 90, 139
Rosfort, René 140
W
S Waldenfels, Bernhard 76, 105
Wilson, Timothy 160
Sartre, Jean-Paul 73, 76, 83, 88, 89, 106, 107, Wundt, Wilhelm 29
127, 161
Schmitz, Herrmann 126
Schütz, Alfred 119, 136, 137 Y
Slatman, Jenny 142
Young, Iris Marion 105, 107, 108
Smith, Jonathan 143

T Z
Zahavi, Dan 129, 146, 151
Thompson, Evan 159
Titchener, Edward B. 29, 80

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