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(Cora - Julia Love & Crime 1 (Komplett) ) Peterson, Ann Voss

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Gewagter Einsatz

Ann Voss Peterson

Julia Love & Crime 1-01 1/03

Gescannt von almutK


Korrigiert von Max
PROLOG

Wollen Sie diese Frau zu Ihrer rechtmäßig angetrauten Ehefrau nehmen...


Risa Madsen trat auf die Bremse, der Wagen kam abrupt zum Stehen, und sie stieß die Tür
auf. Hastig sprang sie heraus und rannte quer über den Parkplatz auf die hohe
Umfassungsmauer des Gefängnisses zu. Im selben Rhythmus wie ihr Herzschlag knallten ihre
Absätze auf den Asphalt.
Sie musste diese Ehe verhindern, ehe sie geschlossen wurde. Auf keinen Fall durfte sie
zulassen, dass Dixie ihr Leben fortwarf. Sie musste ihre kleine Schwester retten.
... sie lieben und ehren ...
Die Sonnenstrahlen des frühen Nachmittags glitzerten auf dem messerscharfen
Stacheldraht der Mauerkrone über ihr. Risa überlief ein kalter Schauer. Ohne sie hätte Dixie
diesen Killer nicht kennen gelernt und wäre niemals versucht gewesen, ihr starkes Bedürfnis
nach männlicher Anerkennung auf Dryden Kane zu übertragen. Jetzt war sie Kanes williges
Opfer geworden.
... von diesem Tag an ...
Am Tor standen zwei Wärter. Risa blieb stehen, rang nach Luft und versuchte, ihre Panik
zu unterdrücken. Sie blickte den massigen Wärter an, dessen Augen einen Ausdruck bargen,
als könne der Mann den Anblick des Bösen nicht länger ertragen.
„Hi, Duane. Komme ich zu spät?"
„Sie sind schon dabei, Professor." Er öffnete das Gitter und zog sie herein. „Warum haben
Sie so lange gebraucht?"
„Ich bin in einen Stau geraten. Schneller ging es nicht." Wenn Duane nicht angerufen
hätte, wäre sie überhaupt nicht hier. Sie hätte nicht einmal von der bevorstehenden Trauung
erfahren.
Er bedeutete ihr, ihm zu folgen. „Rasch, wir müssen uns beeilen!"
Der Mann lief die Stufen hinauf. Risa folgte ihm. Er drückte eine Tür auf, führte sie durch
einen Metalldetektor und dann hinein in die große Eingangshalle im Hauptgebäude.
... in guten und in schlechten Zeiten ...
Während eine Justizbeamtin sie abtastete und ihre Schuhe und Fußsohlen kontrollierte,
holte Risa bebend Atem. Die Luft roch abgestanden. Innerhalb dieser Mauern schien es
niemals genug Luft zu geben. Oder Licht.
Der perfekte Ort für einen Mann wie Kane, um den Rest seiner Tage zu verbringen.
Natürlich würde sie so etwas niemals laut sagen. Beruflich sollte sie Kanes Bemühungen
um Rehabilitation unterstützen und fördern. Und daran glauben, dass er mittels einer
Psychoanalyse seine schreckliche Kindheit aufarbeiten und ein neues Leben beginnen könnte.
Ein Teil von ihr wollte es sogar glauben. Andererseits konnte sie nicht verhindern, dass sie
jedes Mal ein kalter Schauer überlief, wenn sie an diese eisblauen Augen und das süffisante
Grinsen nur dachte.
In solchen Momenten packte sie eine unbestimmte Ahnung drohenden Unheils.
Natürlich wusste sie, woher diese beunruhigenden Gefühle stammten. Trent hatte ihr dieses
Vorurteil eingeimpft, als er über Kane ein Profil für das FBI erstellte. Dann hatte er vor
Gericht gegen ihn ausgesagt und damit geholfen, dass er ins Gefängnis kam.
Alles führte immer wieder zurück zu Trent.
Sie schüttelte unwillig den Kopf und versuchte, nicht daran zu denken, dass in der
Gefängniskapelle die Trauung voranschritt. Sie musste es noch rechtzeitig schaffen und diese
Farce einer Eheschließung verhindern.
Sobald ihre Überprüfung abgeschlossen war, rannte sie hinter Duane her. Gittertüren
öffneten sich vor ihnen und schlossen sich wieder mit metallischem Klang. Risa hämmerte
das Herz gegen die Rippen. Am liebsten hätte sie Duane zur Seite gestoßen und wäre so
schnell zur Kapelle gerannt, wie ihre Füße es vermochten. Sie wollte Dixie packen und aus
diesem gottverlassenen Ort zerren, wenn nötig mit Gewalt und lautem Geschrei.
Sie wünschte, sie könnte die Vergangenheit ändern. Sie wünschte, Dixie wäre nicht das
bedauernswerte, verletzliche Mädchen, das sie war – im Grunde seines Herzens ein Kind, das
sich nach der Anerkennung des Vaters sehnte. Niemals hätte sie Kane als Studienobjekt für
ihre Arbeit heranziehen dürfen. Leider halfen all diese Wünsche Dixie nicht mehr. Ihr blieb
nur noch, sie fortzubringen von diesem Ort, fort von Kane.
... in Krankheit und Gesundheit...
Endlich hielt Duane vor einer schlichten Stahltür, auf der Kapelle stand.
„Ich hoffe bei Gott, wir sind noch nicht zu spät. Ihrer Schwester wegen." Er stieß die Tür
auf.
Risa drängte sich an ihm vorbei und stürzte in die Kapelle.
Ihre Schwester stand in der Ecke des Raums. Das gebleichte Haar fiel ihr in platinblonden
Ringellocken auf die Schultern. Bestimmt fünfzehn Meter Spitze, Satin und hauchzarter Tüll
hüllten sie ein wie Zuckerguss ein Konditorkunstwerk. Ihr leuchtend rot geschminkter Mund
öffnete sich, die fein gestrichelten Augenbrauen zogen sich überrascht in die Höhe.
„Risa!"
Risa schaute an Dixie vorbei auf den Bräutigam. Der Mann war charmant, fast jungenhaft,
mit einer liebenswerten Schüchternheit und einem netten Lächeln. Wenn man ihn so sah,
würde man ihn für einen sanften, freundlichen Burschen halten, den perfekten Ehemann für
eine problematische junge Frau wie Dixie. Risa wusste es besser.
Dryden Kane war ein brutaler Serienkiller.

Sie schlenderte auf ihre Schwester zu, auf Kane. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt.
Kanes eisblaue Augen wichen ihrem grimmigen Blick nicht aus. Er verzog die dünnen
Lippen zu einem spöttischen Grinsen. „Hi, Professor. Sind Sie hergekommen, um mich in der
Familie willkommen zu heißen?"
Es kroch ihr kalt über den Rücken.
„Nein?" Sein Grinsen wurde noch breiter. „Warum nicht? Erzählen Sie mir nicht, Sie sind
auf Ihre kleine Schwester eifersüchtig. Hörst du das, Dixie? Sie ist eifersüchtig auf dich."
Dixie schaute ihn an, mit einem strahlenden Lächeln, als hätte er ihr gerade das größte
Kompliment ihres Lebens gemacht.
Übelkeit stieg in Risa auf. Sie würde so gerne glauben, dass alle Mörder heilbar wären.
Doch bei dem Blick in Kanes emotionslose blaue Augen konnte sie es nicht. Nein, Trent hatte
Recht. Ein Mann wie Kane änderte sich niemals. Er manipulierte. Er terrorisierte. Er tötete.
Aber er änderte sich nicht.
Und er hatte genau den richtigen Dreh gefunden, ihre Schwester zu manipulieren.
Kane betrachtete Dixie gierig, als hätte er eine geröstete Lammkeule vor sich, gewürzt und
zubereitet, so wie er sie liebte.
„Seien wir ehrlich, Professor. Dixie hat gesiegt, wo jahrelange Psychotherapie jämmerlich
versagte. Ihre Liebe hat mich zu einem besseren Menschen gemacht. Einem guten Menschen.
Wir zwei sind Seelenverwandte. Und Sie kommen zu spät, um daran noch etwas ändern zu
können. Wir haben bereits Ja zueinander gesagt."
Risa blieb für einen Moment die Luft weg.
Kane blickte sie wieder an und zwinkerte ihr zu. „Dixie ist meine Frau ...bis dass der Tod
uns scheidet."
1. KAPITEL

Risa starrte auf die in schneller Abfolge gezeigten Bilder der Zehn-Uhr-Abendnachrichten.
Messerscharfer Stacheldraht blitzte in der Sonne. Ein von hohen Mauern umgebener
Komplex. Die Stimme des Nachrichtensprechers dröhnte wie ein Todesurteil in ihren Ohren.
Ihre schlimmsten Befürchtungen waren Wirklichkeit geworden: Dryden Kane war
ausgebrochen.
Dixie ...
Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Kanes Blick auf der Hochzeit hatte sich in ihr
Gedächtnis eingebrannt. Seine spöttische Stimme hallte in ihrem Kopf nach.
...bis dass der Tod uns scheidet.
Kane würde direkt zu Dixie gehen. Und sobald sie in seinen Händen war, würde er sie
umbringen. Daran gab es für Risa keinen Zweifel.
Sie rappelte sich auf und lief mit wehendem Morgenmantel in die Küche. Eigentlich hatte
sie gerade ins Bett gehen wollen, als die schreckliche Nachricht gesendet wurde. An Schlaf
war jetzt nicht mehr zu denken. Nicht, bis Kane wieder hinter Gittern war. Und Dixie in
Sicherheit. Sie riss den Hörer vom Telefon, das auf dem Küchentresen stand. Mit zitternden
Fingern wählte sie die Nummer ihrer Schwester.
Es klingelte einmal ... zweimal ...
Risa umklammerte den Hörer so fest, dass die Kunststoffhülle knirschte. „Bitte, Dixie,
bitte, sei zu Hause", flüsterte sie.
Dreimal ... vier...
Verzweifelt warf sie den Hörer auf die Gabel und eilte zur Treppe, die zu ihrem
Schlafzimmer führte. Sie musste sich anziehen. Ihre Handtasche, ihre Autoschlüssel finden.
Sie musste vor Kane bei ihrer Schwester sein.
Sie nahm zwei Stufen auf einmal und stieß dabei die Teddybären um, die die Treppe
dekorierten.
Da hallte die Türklingel durch ihr kleines Haus.
Abrupt blieb Risa stehen und hielt den Atem an. War es Dixie? Oder die Polizei?
Sie rannte die Treppe wieder hinunter zur Haustür und lugte durch den Türspion. Ihr Herz
setzte einen Schlag lang aus. Sie umklammerte ihren Morgenrock mit einer Hand, zog den
Riegel beiseite und riss die Tür auf.
Trent stand vor ihr. Das grelle Verandalicht ließ sein markantes Gesicht noch schärfer
erscheinen.
Risas Herz begann zu hämmern, so heftig, dass sie glaubte, es müsse ihr aus der Brust
springen. Seit zwei Jahren hatte sie ihn nicht gesehen, zwei endlos lange Jahre, und sich nicht
träumen lassen, dass sie ihm jemals wieder begegnen würde.
Er blickte sie aus stahlgrauen Augen an. „Du weißt es, nicht wahr?"
Erneut wallte Panik in ihr auf. Die Zeit drängte. „Ich habe es gerade in den Nachrichten
gesehen. Wir müssen Dixie erreichen."
„Verdammt. Ich wollte nicht, dass du es auf diese Weise erfährst."
Frustriert schüttelte sie den Kopf. Es war egal, wie sie es erfahren hatte. „Wir müssen zu
Dixie, bevor Kane bei ihr ist. Er wird sie umbringen, ich weiß es. Wir müssen uns beeilen. Sie
geht nicht ans Telefon."
Trent rührte sich nicht vom Fleck. Sein Blick gefiel ihr nicht.
Kalte Furcht packte sie. Er wusste etwas, das in den Nachrichten nicht erwähnt worden
war. Etwas Schreckliches. Sie öffnete den Mund, aber ihre Stimme versagte.
Trent streckte die Hand aus und ergriff ihren Arm, als wolle er sie auf eine schlechte
Nachricht vorbereiten. „Dixie ist bei ihm", sagte er. „Wir nehmen an, dass sie ihm bei der
Flucht behilflich war."
Risa schwirrte der Kopf. Kane hatte Dixie bereits! Erst brachte er sie dazu, ihm zu helfen,
und nun hatte er sie in seiner Gewalt. Bis dass der Tod uns scheidet. Risas Knie zitterten, und
die Beine gaben unter ihr nach.
Trent hielt sie fest, drückte die Tür auf und führte sie zu der antiken Bank im Vorraum. Er
schob die Teddybären beiseite und drückte sie behutsam auf das Polster.
Noch immer konnte Risa keinen klaren Gedanken fassen. Sie schüttelte den Kopf, wehrte
sich gegen die Hand auf ihrer Schulter, gegen das, was er gerade gesagt hatte. Nein! Es
konnte nicht wahr sein. Wenn Kane ihre Schwester in seiner Gewalt hatte, war sie so gut wie
tot. „Dixie kann nicht tot sein. Es darf nicht sein. Sie ist nur in ..."
„Rees." Sein tiefer Bariton schnitt ihr das Wort ab. Er beugte sich dicht über sie. Sein
Gesicht war ganz nah. „Wir wissen nicht, ob sie tot ist. Ich glaube es nicht."
Voller Hoffnung machte ihr Herz einen Satz. Trent kannte Kane besser als jeder andere.
Deswegen hatte ihn das FBI auch hergeschickt. Damit er Kane fand. Und Dixie rettete. „Dann
müssen wir sie suchen. Jetzt." Sie wollte aufstehen.
Sein Griff wurde fester, hielt sie auf der Bank. „Wir werden sie finden. Aber zuerst musst
du dich anziehen. Ein Polizeibeamter von Grantsville ist auf dem Weg hierher, um dich
abzuholen. Du musst mit ihm zum Revier fahren und einige Fragen beantworten."
„Grantsville?" Risa kannte den Namen der kleinen Stadt, die nur einen Steinwurf vom
Gefängnis entfernt lag. Doch sein Vorschlag machte für sie wenig Sinn. „Dafür habe ich
keine Zeit. Wir müssen Dixie finden. Bevor es zu spät..."
„Rees. Sieh mich an."
Sie zwang sich, ihm ins Gesicht zu sehen. Er strahlte Stärke, Zuversicht und
Entschlossenheit aus. Abgesehen von den letzten Minuten, hatte sie dieses Gesicht nie mehr
sehen wollen.
„Ich will Kane finden, Rees. Das habe ich schon einmal getan, und ich werde es auch jetzt
schaffen. Ich tue alles in meiner Macht Stehende, um Dixie lebend aus dieser Sache
herauszuholen. Das verspreche ich dir."
Trents Versprechen. Sie schloss die Augen, damit sie ihn nicht mehr ansehen musste. Seine
faszinierenden Augen. Das kantige Kinn. Der Himmel war Zeuge, dass er seine Versprechen
in der Vergangenheit gebrochen hatte. Zumindest die, die er ihr gegeben hatte: Ehe, eine
Familie. Dies hatte allerdings mit seinem Job zu tun. Hier ging es um Leben oder Tod. Er
würde sein Versprechen halten. Das hatte er immer getan, wenn es um seinen Beruf ging.
Sie öffnete die Augen wieder und atmete einmal tief durch. „Was willst du unternehmen?"
„Wenn der Beamte hier ist, fahre ich ins Gefängnis. Ich möchte mir Kanes persönliche
Habe ansehen, alles, was er zurückgelassen hat und was mir einen Tipp geben könnte, wohin
er gegangen ist und was er vorhat. Danach treffen wir uns auf dem Polizeirevier. Die
Einsatzgruppe wird sich dort versammeln."
„Ich fahre mit dir zum Gefängnis."
Mit finsterem Blick sah er sie an. Risa kannte diesen Ausdruck. Er richtete sich auf und
wandte sich ab, als wolle er verhindern, dass sie zu viel sah.
„Ich kann helfen, Trent. Denn ich weiß Dinge über Kane, die vielleicht nützlich sind."
Er schüttelte den Kopf. Das Licht über ihm spielte in den silb ernen Strähnen in seinem
Haar und ließ sie wie Sterne in der Nacht auffunkeln. „Fahr mit dem Beamten. Beantworte
seine Fragen. Es besteht kein Grund, dass du mit ins Gefängnis kommst."
Risa presste die Lippen zusammen. „Die Polizei wird doch auch im Gefängnis sein, oder?
Ich kann dort die Fragen beantworten."
Rastlos durchquerte er den winzigen Vorraum, dann fuhr er herum und starrte sie an. Sein
Gesicht war ausdruckslos, die Lippen zusammengepresst.
Zorn wallte in ihr auf. Oft genug hatte er sie früher so angesehen. Damals, als sie noch
verlobt gewesen waren. Bevor er sich zurückgezogen und sie aus seinem Leben
ausgeschlossen hatte.
Risa bemühte sich um Fassung und schob ihren Groll beiseite. Mit ruhiger Stimme sagte
sie: „Ich war bei einer kriminalpsycholo gischen Studie federführend. Im letzten Jahr bin ich
Dutzende Male ins Gefängnis gefahren, um Kane und andere Insassen zu befragen. Außerdem
habe ich Einsicht in ..."
„Ich kann dich nicht in die Jagd auf einen Serienkiller einbeziehen. Selbst wenn deine
Schwester bei ihm ist. Das steht völlig außer Frage."
Enttäuscht sah sie ihn an. Pochende Kopfschmerzen machten sich breit. Für einen Streit
war es nun zu spät, denn Dixie blieb nicht mehr viel Zeit. Risa sprang auf. Ihr Morgenmantel
öffnete sich und zeigte ihr bequemes Flanellnachthemd, aber sie kümmerte sich nicht darum.
„Verdammt, Trent. Du hast in anderen Fällen auch Angehörige der Opfer benutzt, damit sie
halfen. Ich weiß es genau."
„Diesmal nicht. Überlass es den Behörden, sich darum zu kümmern. Lass uns den Job
machen." Es klang endgültig. Doch in seinen Augen las sie noch etwas anderes, Vertrautes. Er
wollte sie beschützen.
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte sie gegen seine Brust getrommelt, ihn
an den Jackenaufschlägen gepackt und geschüttelt. So lange geschrien, bis sie keine Luft
mehr hatte. Stattdessen biss sie die Zähne zusammen und dachte an den Abend, als er die
Verlobung gelöst hatte. Der Abend, an dem ihre Träume zerbrochen waren.
Dann begriff sie, und es traf sie wie ein Schlag. Sie schüttelte den Kopf. „Unfassbar. Du
denkst immer noch, du müsstest mich vor der bösen Welt bewahren, nicht wahr?"
Er erstarrte. Bedauern flackerte in seinen Augen auf, aber er wollte nicht mit ihr streiten.
Das hatte er nie getan. Auch an dem Abend, als er sein Versprechen brach und ihre Verlobung
löste, hatte er ihren Zorn und ihre Wut stumm über sich ergehen lassen, als sei das die Strafe
für den Schmerz, den er ihr zugefügt hatte. Eine wohlverdiente Strafe.
Aber ihr ging es nicht darum, ihn zu bestrafen. Sie wollte ihn verstehen. „Ich brauche
deinen Schutz nicht. Ich habe Kane bereits kennen gelernt, mit ihm gesprochen, ihn befragt.
Und Dixie fand meine Arbeit so interessant, dass sie diesen Mann geheiratet hat. Ich stecke
bis zum Hals im Bösen dieser Welt. Vermutlich bin ich ebenso davon durchseucht, wie du es
von dir glaubst."
Ein Muskel zuckte an seiner Wange. „Das magst du denken, doch du bist es nicht. Noch
nicht. Und ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass du immer tiefer hineingerätst. Ich
nehme dich nicht mit."
Sie hielt eine beißende Antwort zurück. Worte waren offensichtlich sinnlos. Sie musste die
Dinge selbst in die Hand nehmen. Dixie brauchte sie. Und sie würde nicht zulassen, dass ihr
irgendjemand, und ganz besonders nicht Trent Burnell, im Weg stand.
„Schön. Dann fahre ich eben allein ins Gefängnis. Wenn dein Kollege mich fragen will,
kann er mich dort treffen. Oder mich verhaften." Sie umklammerte ihren Morgenmantel fester
und rannte die Treppe hoch.

Verdammt.
Trent ließ den Blick über die Teddybären auf den Stufen und der Bank schweifen, während
Risa die Treppe hinaufhastete. Selbst von einem geschnitzten Regal her starrten die Bären ihn
an. Ihre glänzenden Knopfaugen schienen ihm im Licht der Deckenlampe wissend
zuzuzwinkern. Er riss den Blick von den Stofftieren los. Seine Haut prickelte, als würden ihn
echte Augenpaare beobachten, mustern, einschätzen.
Verdammt, verdammt.
Er hatte nicht gewusst, wie das Zusammentreffen sein würde, aber so hatte er es sich ganz
sicher nicht vorgestellt. Dass Risa helfen wollte, Dixie zu retten, überraschte ihn nicht.
Allerdings hatte er gehofft, sie würde sich damit zufrieden geben, mit zum Revier zu fahren
und Fragen zu beantworten. Eigentlich hätte er es besser wissen müssen.
Einfach nur Frage n zu beantworten würde ihr nicht genügen. Nicht Rees. Das hätte er
kommen sehen müssen. Er hätte sie irgendwie ablenken müssen, ehe sie auf die Idee verfiel,
selbst zum Gefängnis zu fahren. Bevor sie halsstarrig wurde.
Er öffnete die Tür und trat hinaus. Das sanfte Mondlicht liebkoste die knospenden Blätter
einer Eiche und schimmerte im Tau, der auf dem gepflegten Rasen lag. Der süße Duft von
Flieder und Geißblatt mischte sich mit dem kräftigen Aroma der Fichte daneben. Vertraute
Frühlingsgerüche in Wisconsin, die für immer in seiner Erinnerung bleiben würden.
Leider waren sie nicht mehr zu trennen vom Blutgeruch und dem Gestank der Verderbnis,
der unlösbar mit Dryden Kane verbunden war.
Das war die Realität des Lebens. Qual und Tod, ein Mörder auf der Flucht. Gepflegte
Rasenflächen und treuherzig dreinblickende Teddybären passten nicht dazu.
Und eine mustergültige Psychologin wie Risa erst recht nicht.
Er schloss die Augen, versuchte, nicht an ihren sanften Lavendelduft zu denken, ihre
samtige Stimme, die weiblichen Rundungen, die selbst ein unförmiges Nachthemd nicht
verbergen konnte.
Verdammt. Er selbst hatte den Gewalttäter Dryden Kane in ihr Leben gebracht. Wäre er
nicht gewesen, hätte sie den Job an der Universität von Wisconsin nicht angenommen und
nicht alles Mögliche getan, um Kane in ihre Studie mit einzubeziehen, und ihre Schwester
hätte dieses Monster nicht geheiratet und ihm nicht bei der Flucht geholfen.
Er hatte ihr Leben beschmutzt, denn Dixie würde sehr wahrscheinlich durch Kanes Hände
sterben. Und Risas Welt zerbräche in tausend Scherben.
Schuld drückte seine Schultern nach unten und pochte in seinem Schädel. Hätte er nur
nicht diesen Profiler-Job beim FBI übernommen! Keine Frage, die Arbeit war interessant und
die Erfolgsquote beachtlich. War das Charakterprofil eines Kriminellen erst erstellt, konnten
die Kerle schneller dingfest gemacht werden. Trent haderte mit sich. Wäre er nicht nach
Wisconsin gefahren, um nach dem Unbekannten zu suchen, der Schülerinnen entführte und
ermordete, wären Risa und er jetzt verheiratet. Und ihre Schwester nicht in Gefahr.
Doch die Dinge waren nicht mehr zu ändern. Und selbst wenn er in die Vergangenheit
reisen könnte, dürfte er seine Entscheidungen nicht rückgängig machen. Einen anderen Weg
in seiner beruflichen Karriere einzuschlagen bedeutete, dass die Mörder, die er ins Gefängnis
oder in die Todeszelle gebracht hatte, frei herumliefen und weiter unschuldige Menschen
töteten. Und damit könnte er nicht leben. Nicht einmal für Risa.
Trent trat hinaus auf die Veranda und ging über das feuchte Gras zu seinem Mietwagen.
Die Ereignisse konnte er nicht ungeschehen machen. Ihm blieb nichts, als seine Arbeit zu tun.
Er musste Kane finden, ehe er Dixie oder jemand anders umbrachte.
Und er würde sein Bestes geben, um Risa zu beschützen. Ob es ihr gefiel oder nicht.

In Hose und Baumwollpullover betrat Risa die Garage und drückte auf den schwach
leuchtenden Knopf an der Wand. Das automatisch betriebene Garagentor fuhr langsam hoch.
Scheinwerferlicht blendete sie und vertrieb die Dunkelheit in der Garage. Sie hob eine Hand,
um die Augen zu beschatten.
„Steig in den Wagen, Rees", übertönte Trents barsche Stimme das Surren des Motors. „Ich
fahre dich ins Gefängnis."
Sie umklammerte ihren Autoschlüssel so fest, dass sich der Bart in ihre Handfläche grub.
Welch ein Wunder, Trent hatte seine Meinung geändert. Doch im gleichen Augenblick wurde
ihr klar, dass er einzig und allein seine Strategie geändert hatte. Risa kannte ihn. Mit seinem
Herzen hatte das nichts zu tun. Garantiert ging er davon aus, die hässliche Wahrheit ein wenig
beschönigen zu können, wenn er bei ihr war.
Nun, ihr erster Schritt war gewesen, ihn dazu zu bringen, sie ins Gefängnis mitzunehmen.
Jetzt hatte sie eine Dreiviertelstunde Zeit, ihn zu überzeugen, dass sie seinen Schutz nicht
brauchte – und dass sie helfen konnte.
Sie verließ die Garage und gab den Tastencode an der Wand ein. Das Tor senkte sich
hinter ihr. Sie öffnete Trents Wagentür und ließ sich auf den Sitz sinken.
Sein Duft umhüllte sie wie warmes Wasser. Ein Schauer lief ihr über den Rücken,
ausgelöst von Erinnerungen an eine Zeit, da sie Trost in seinem Duft gefunden hatte, in der
Wärme seines Körpers neben sich. Aber diese Zeit war vergangen. Genauso wie die Liebe,
die sie einst geteilt hatten. Und die geplante gemeinsame Zukunft.
Sie presste die Zähne zusammen. Plötzlich aufsteigender Zorn zog ihr den Magen
zusammen. Gut so. Besser als Wehmut und Traurigkeit über den Verlust oder den Betrug.
Zorn ließ sie klar und scharf denken, sich auf eine Sache konzentrieren, schaffte
Entschlossenheit. All die Dinge, die sie brauchte, wenn sie Dixie helfen wollte.
Trent legte den Rückwärtsgang ein, fuhr aus der Einfahrt und lenkte den Wagen Richtung
Highway. Im schwachen Licht der Armaturenbeleuchtung wirkte sein Gesicht hart und
unversöhnlich. Er sah aus, als wolle er sich gegen die Argumente in ihrem Kopf wappnen –
und hätte sich bereits entschlossen, überhaupt nicht darauf einzugehen.
Natürlich, er wusste sehr wahrscheinlich, was sie dachte. Schließlich hatte er sie kennen
gelernt, als sie noch Studentin war und er gerade beim FBI angefangen hatte. Acht Jahre
intensiver Werbung um sie dürften ausgereicht haben zu lernen, wie sie dachte.
Und wie entschlossen sie sein konnte.
Trotzig schob sie das Kinn vor. „Ich muss wissen, was los ist, Trent."
Warnend zog er die Augenbrauen hoch. „Rees ..." Ein Muskel zuckte an seiner Wange.
„Ich weiß nicht mehr, als ich dir bereits erzählt habe."
„Und mehr würdest du mir auch nicht sagen, selbst wenn du etwas wüsstest."
„Genau."
Enttäuscht biss sie sich auf die Unterlippe.
„Was erwartest du denn? Dass ich dir all die blutigen Details beschreibe?"
„Bei den blutigen Details geht es diesmal um Dinge, die mich persönlich betreffen. Dixie
ist..." Sie brach mitten im Satz ab. Ihre Worte konnte sie sich eigentlich sparen. Trent nahm
sie zwar mit ins Gefängnis, aber nur um sie davon abzuhalten, weitere Informationen zu
sammeln. Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Meinst du, es ist besser, ich erfahre diese Dinge
erst, wenn irgendein Krimiautor ein Buch darüber geschrieben hat? Soll ich vielleicht dann
erst irgendeine entscheidende Information entdecken, mit der Kane hätte gefunden werden
können? Eine Information, die Dixies Leben gerettet hätte?"
Er drückte die Schultern durch.
„Ist es so, Trent?"
Zum ersten Mal, seit sie den Wagen bestiegen hatte, wandte er sich ihr zu und schaute sie
an. Eine steile Falte hatte sich zwischen seinen Brauen gebildet, und sein Gesicht sah
schmaler aus, als sie es in Erinnerung hatte. Verhärmt. Bekümmert.
Er kannte sie, ja, aber auch er war für sie kein unbeschriebenes Blatt. Und sie ahnte den
Grund für die Schatten in seinen Augen. Sie wusste, welch tiefe Bedeutung das Wort
Verantwortung für Trent Burnell barg. „Ich würde mir niemals vergeben, wenn ich nicht
jeden Hinweis nutzte, der Dixie – oder anderen – das Leben rettet. Was ist mit dir, Trent?
Wärest du in der Lage, dir zu vergeben, wenn du solche Informationen zurückhieltest?"
Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. Mit hartem Blick wandte er sich wieder
der Straße zu, die Lippen zu einem messerscharfen Strich zusammengepresst.
Sie beugte sich zu ihm hinüber und legte die Hand auf seinen Arm. „Lass mich Kanes
Sachen ansehen, um herausfinden, ob mir irgendetwas davon ein Indiz verschafft. Etwas, das
Dixie irgendwann erwähnt hat. Lass mich helfen. Bevor es zu spät ist."
Er seufzte schwer, und sein Blick verfinsterte sich noch mehr. „Wir werden sehen."
Ein wenig erleichtert lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und starrte aus dem Fenster
hinaus auf die hügelige Landschaft, die schemenhaft in der Nacht an ihnen vorbeiflog.
Wir werden sehen.
Genau genommen hatte er ihr nichts versprochen, aber es war weitaus mehr, als sie erhofft
hatte. Und sie würde das nehmen, was sie bekommen konnte. Um Dixie zu retten. Und sich
selbst.
2. KAPITEL

Trent kritzelte seine Unterschrift auf das Dokument vor sich, ohne einen zweiten Blick auf
das Kleingedruckte zu werfen. Er wusste, was darin stand. Seit er beim FBI war, hatte er
solche Papiere unzählige Male unterzeichnet. Unterschrieben und seine Waffe abgegeben.
Jedes Mal, wenn er den Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses betrat. Die Grube, in die
Risa und er jetzt hinabstiegen.
Er warf einen Blick auf Risa, die neben ihm vor dem verglasten Empfangstresen stand. Mit
zitternden Fingern umklammerte sie den Kugelschreiber. Sie hatte Gespräche mit Gefangenen
geführt, doch er bezweifelte, dass sie je weiter als bis in die Besucherräume vorgedrungen
war. Die eigentlichen Zellen hatte sie bestimmt nie zu Gesicht bekommen, es gab keinen
Grund dafür.
Mit halb zusammengekniffenen Augen studierte sie das Formular vor sich. In kurzen
Worten stand dort, dass die Gefängnisbehörde keinen Finger rühren würde, sollte einer der
Insassen sie zur Geisel nehmen. Keine Verhandlungen. Keine Diskus sionen. Kein
Abschiedskuss.
Natürlich hatte Trent oft genug das Gegenteil erlebt, wenn die Behörden alles getan hatten,
das Leben der Geisel zu retten. Dieses Dokument sollte das Gefängnis nur vor Klagen
schützen, wenn ein Besucher verletzt wurde. Dies war ein schrecklicher Ort mit bösen
Männern.
Ein Ort, dem sie nicht zu nahe kommen sollte.
Schnell riss er den Blick von ihr los und versuchte, ihre Angst zu vergessen, die sich in
ihren bebenden Händen und der starren Haltung deutlich zeigte. Er wünschte, er hätte sie gar
nicht erst in diese Lage gebracht, sondern könnte sie von aller Gefahr fern halten. Aber sie
hatte Recht. Er brauchte jede Hilfe, um Kane zu stoppen, auch wenn ausgerechnet sie die
Quelle war.
Jetzt wandte er sich an den Gefängniswärter, der sie zu Kanes Zelle bringen sollte. Je eher
sie sie durchsuchten, umso schneller konnte Risa von diesem düsteren Ort wieder
verschwinden. Und er selbst konnte sich an die Spur des Killers heften.
„Wollen wir?"
Der Mann nickte und sprach Risa an. „Sind Sie bereit, Professor?"
Sie schaute ihm in die müden Augen und lächelte tapfer. „Gehen Sie voran, Duane", sagte
sie, doch ihre Stimme klang ein wenig zu forsch, zu eifrig.
Der Wärter erwiderte ihr Lächeln und ging den abgetretenen Mittelgang entlang voraus.
Trent und Risa folgten ihm.
„Bevor wir die Zelle betreten, möchte ich dich warnen."
„Wovor warnen?"
„Ich weiß nicht, was wir in Kanes Zelle entdecken werden. Möglicherweise will er, dass
wir etwas Bestimmtes finden. Und er ist ein verdammt mieser Schweinehund. Vielleicht
bekommst du einige richtig üble Dinge zu sehen."
Trotzig schob sie das Kinn vor und beschleunigte ihre Schritte. „Ich werde schon damit
zurechtkommen."
„Das hoffe ich. Weil ich dich nämlich gegen mein besseres Wissen hierher bringe."
„Du musst alles nutzen, was dir hilft, Trent. Um Dixies Leben zu retten. Und das Leben
anderer."
„Das ist der einzige Grund, warum du jetzt hier bist, Rees. Glaub es mir. Wenn ich könnte,
würde ich dich über die Schulter werfen, zum Wagen schleppen und dort festbinden."
Sie warf ihm einen giftigen Blick zu. „Das würde dich teuer zu stehen kommen."
Er riss seinen Blick von ihr los. „Man bezahlt immer teuer, das kannst du mir glauben."
Nachdem sie scheinbar eine Ewigkeit gegangen waren, blieb Duane stehen und öffnete die
letzte Gittertür zum ersten Zellenblock. Gleich darauf schlug sie metallisch hinter ihnen zu.
Das Echo hallte donnernd durch das große zweistöckige Gebäude, als wäre die Tür zum
Hades zugeschlagen worden.
Trent war noch nie in diesem Trakt gewesen, aber er glich so endlos vielen anderen. Ein
langer Gang, auf der einen Seite vergitterte, nachtdunkle Fenster, auf der anderen zwei
Stockwerke Zellen. Die abgeschrammten Eisenstangen und die schmutzigen Wände hätten
aus einem Albtraum stammen können. Gemurmel, Buhrufe und Pfiffe wurden laut, als sie den
Zellenblock betraten. Gott sei Dank war es mitten in der Nacht, sonst wären sie mit
Obszönitäten, vielleicht auch Drohungen nur so überschüttet worden.
Als sie das zweite Stockwerk erreichten, führte Duane sie an zwei uniformierten Polizisten
vorbei den Gang entlang, von dem aus man einen freien Blick nach unten hatte. Die Zellen in
diesem Bereich waren nicht belegt, die Türen standen sperrangelweit offen. Trent atmete
erleichtert auf. Zumindest war Risa hier vor spöttischen Bemerkungen sicher.
Zwei Männer im Anzug standen vor Kanes Zelle. Der größere von ihnen trug Armani.
Trent vermutete, den Gefängnisdirektor vor sich zu haben. Woher der Mann allerdings das
Geld hatte, sich einen solchen Anzug zu leisten, mochte der Himmel wissen.
Den anderen Mann kannte er, wenn auch nicht besonders gut. Es war Pete Wiley. Sie
hatten sich bei dem letzten Fall kennen gelernt, als Kane noch nicht als Täter identifiziert
worden war. Leider gehörte der ältere Detective zu den vielen Polizisten, die eine Abneigung
gegen das FBI hatten. Genau genommen war Wiley nicht gerade ein leuchtendes Beispiel für
die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Behörden gewesen.
Nun stand der blonde Detective da und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
Der Direktor schüttelte dramatisch den kahlen Kopf. Auch wenn er sich nur an Wiley
wandte, so waren seine Worte doch auch für die anderen zu hören. „...und vermutlich ist es
auch am besten so. Vielleicht bekommen wir nun endlich mehr Geld für verbesserte
Sicherheitsvorkehrungen und zusätzliche Wärter. Wozu soll all das Geld in das neue
Hochsicherheitsgefängnis und den Transport von Gefangenen in Gefängnisse von Tennessee
und Oklahoma fließen?"
Meint der Mann das etwa ernst? fragte sich Trent entgeistert. Der Ausbruch eines
Serienkillers hätte sogar gute Seiten?
Wut stieg in ihm auf. „Was, zum Teufel, ist am besten?"
Die beiden Männer fuhren herum. Wiley grinste wachsam. „Special Agent Burnell." Er
nickte in Trents Richtung, dann hefteten sic h seine babyblauen Augen auf Risa. Überrascht
hob er eine Augenbraue und ließ sie dann wieder sinken.
„Dies ist Risa Madsen", stellte Trent vor.
„Ich weiß, wer sie ist."
Bei Wileys feindseligem Ton runzelte Trent die Stirn. Seltsam. Soweit er wusste, hatten
die beiden sich nie kennen gelernt, und doch benahm sich der Detective, als hätte er etwas
gegen sie.
Nun ergriff der Direktor Trents Hand und schüttelte sie. Danach begrüßte er Risa mit
Handschlag. „Es tut mir Leid, dass Ihre Schwester in den Fall verwickelt wurde, Miss
Madsen."
„Danke, Direktor Hanson. Aber ich bin ebenso neugierig wie Trent, worüber Sie sich
gerade unterhalten haben. Wie sind Ihre Worte zu verstehen?" Herausfordernd musterte sie
ihn.
Nur mit Mühe unterdrückte Trent ein Lächeln.
Hanson errötete leicht. „Das war vielleicht eine etwas unglückliche Formulierung. Aber es
muss leider erst etwas Schreckliches passieren, damit man in den oberen Etagen unser
Problem erkennt. Vorher wollte man ja nicht auf mich hören." Er wedelte mit seiner
knochigen Hand. „Ich mache die mangelnde finanzielle Ausstattung für Kanes Flucht
verantwortlich. Noch letzte Woche habe ich die Aufsichtsbehörde davon unterrichtet, dass es
uns an Geld für Überstunden und Verbesserungen der Sicherheit mangelt." Betrübt schüttelte
er den Kopf. „Die verantwortliche Behörde darf dieses Problem einfach nicht länger
ignorieren."
Trent konnte nur schwer seinen Ärger zurückhalten. Was für ein angeberischer
Dummkopf. Insgeheim feierte er auch noch Kanes Ausbruch als persönlichen Erfolg. Er
funkelte den Direktor an. „Nach Kanes Flucht steht das Leben unschuldiger Menschen auf
dem Spiel. Angesichts dessen kann ich für Ihre finanziellen Probleme im Augenblick wenig
Verständnis aufbringen."
Immerhin besaß der Mann noch so viel Anstand, dass er beschämt aussah. „Ja, natürlich.
Ich habe nur Ausschau nach einem Silberstreif am Horizont gehalten."
„Soweit ich sehe, ist keiner in Sicht." Trent warf einen Blick auf seine Uhr. Sie hatten
bereits genug Zeit vergeudet. Zeit, die sie nicht hatten. „Fangen wir an, Wiley."
Der Direktor schoss dem Agent einen verärgerten Blick zu und strich mit der Hand über
seine Anzugjacke. „Ja. Sie werden mich entschuldigen müssen, ich habe ein paar
verwaltungstechnische Dinge zu erledigen. Viel Glück, Special Agent Burnell. Professor
Madsen."
„Vielen Dank", betonte Trent. Der Direktor ging davon, und Trent wandte sich zur Zelle.
Wiley stand in der offenen Tür und schaute wütend auf Risa. „Warum ist sie hier,
Burnell?"
„Haben Sie ein Problem mit Miss Madsen, Wiley? Als Professorin für Psychologie und
jemand, der sich ausgiebig mit Kane befasst hat, wird sie uns wertvolle Hinweise geben
können. Fangen wir an."
Trent bemerkte Risas dankbaren Blick, den er allerdings kaum verdient hatte. Im blieb nur
die Hoffnung, dass sie wertvolle Hinweise geben konnte. Und dass er sie nicht umsonst dem
üblen Sumpf hier aussetzte.
Wileys Stirnfalte vertiefte sich, als er in die Zelle vorausging. Risa und Trent folgten ihm.
Die Wache blieb draußen vor der Tür.
Kanes Zelle war klein und fast leer, mit einem gemauerten Bett an der einen Wand, einem
Regal an der anderen und einer Toilette und einem Waschbecken an der dritten. Im Gang
hatte es leicht nach verschwitzten Socken gerochen, hier aber hing ein scharfer, leicht
pfefferminzartiger Duft in der Luft.
„Desinfektionsmittel. Kane hat seiner krankhaften Sauberkeitsmanie gefrönt, wie zu
riechen ist."
Risa trat neben ihn. „ Er hat oft davon gesprochen und seine Zelle mehrmals am Tag
gesäubert. Und er sagte, es gäbe nichts Saubereres und Reineres als frisches, rinnendes Blut."
Ihre Stimme bebte leicht bei der Erinnerung daran.
Trent presste die Zähne zusammen. Verdammt. Der Sauberkeitsfimmel war nicht alles,
was Kanes kranken Charakter ausmachte. Er war nur ein Teil der Fantasien, die er durchlebte,
wenn er jemanden umbrachte. Die größte Befriedigung bereitete ihm die Angst seiner Opfer.
Ihre Panik, wenn er sie im Wald verfolgte. Ihre Schreie, während er mit dem Messer auf sie
einstach.
Ganz bestimmt hatte der Bastard die Angst in Risas Augen genossen, als er über das Blut
sprach. Und er hatte nach mehr gelechzt. Was, zum Teufel, hatte Risa nur dazu getrieben, ihn
zu befragen? Warum hatte sie sich ihm ausgeliefert und damit verletzlich gemacht?
Er wusste die Antwort, noch ehe er den Gedanken beendet hatte. Sie wollte verstehen,
warum er, Trent, sich von ihr zurückgezogen hatte, als er am Fall Kane arbeitete. Und aus
welchem Grund er kurz darauf die Verlobung gelöst hatte. Sie war zu Kane gegangen, um die
Antwort zu finden.
Er hatte sie dieser Bestie direkt in die Arme getrieben.
Nun führte er sie noch tiefer in dieses schmutzige Labyrinth menschlicher Gemeinheit.
Und er konnte nichts dagegen tun, wenn er das Leben anderer Menschen nicht gefährden
wollte.
Er wandte sich dem grauen Holzgestell an der Ze llenwand zu, das Regalbretter, Fächer und
eine kleine Schreibplatte enthielt. Die Fächer waren voll mit Briefen, ordentlich gefalteten
Zeitschriftenseiten und ein paar persönlichen Dingen. Trent warf Wiley einen Blick zu. „Hat
sich diese Sachen schon jemand angesehen?"
Der Detective schüttelte den Kopf. „Als ich hörte, Sie seien unterwegs, dachte ich, es wäre
besser, Ihnen den Vortritt zu lassen. Ich wollte niemandem auf die empfindlichen Zehen
treten."
Trent ignorierte die bissige Bemerkung und wandte sich den Fächern zu. Er griff hinein,
nahm ein paar Zeitschriftenseiten heraus und faltete sie auseinander.
Risa schaute ihm über die Schulter.
Zumeist handelte es sich um widerwärtige sadomasochistische Pornografie. Sie stieß einen
leisen Schrei aus.
Trent drehte sich zu ihr herum.
Schnell straffte sie sich, und ihr Gesicht wurde sofort ausdruckslos. „Es hat mich nur
überrascht, das ist alles."
Von wegen! Sie wusste genau, welche Art Lektüre Kane bevorzugte. Die Darstellungen
hatten sie umgehauen. Alles andere hätte ihn auch gewundert. Bei solchen Bildern reagierte
jeder normale Mensch entsetzt. Er selbst hatte schon Schlimmeres gesehen. Auf Fotos, Videos
... und in natura. Man vergaß es nie wieder.
Risa schluckte trocken und wandte sich an den Detective. „Woher hat Kane dieses...
Zeug?"
Wiley warf einen Blick auf die Seiten. Voller Abscheu verzog er den Mund. „Es muss
hereingeschmuggelt worden sein. Sehr wahrscheinlich von Ihrer Schwester", sagte er
gehässig.
Ganz offensichtlich hatte er ein Problem mit Risa. Trent war nicht länger bereit, sich das
weiterhin anzuhören.
Bevor er jedoch einschreiten konnte, baute sie sich mit herausforderndem Blick vor Wiley
auf. „Offenbar haben Sie keine Ahnung, wovon Sie reden, Detective. Dixie würde sich
niemals mit etwas derart Schmutzigem abgeben."
Wiley zuckte mit den Schultern. „Sie hat Kane geheiratet, oder?"
„Ja, nachdem er sie überzeugt hat, dass ihre Liebe ihn zu einem besseren Menschen
machen würde. Ich bezweifle allerdings, dass er diese Farce noch länger hätte
aufrechterhalten können, wenn sie dies hier gesehen hätte."
Sie kann sich gut selbst verteidigen, dachte Trent. Mich hat sie dazu nicht nötig. Er nahm
sich vor herauszufinden, wo Wileys Problem mit ihr lag, und wandte sich dann wieder der
tatsächlichen Bedrohung zu – Kane.
Er legte die pornografischen Fotos beiseite, zog einen Stapel Briefe aus den Fächern und
begann, sie durchzusehen. Dann reichte er sie an Risa weiter.
Die meisten Briefe stammten von Dixie und enthielten lange Erklärungen ihrer
unsterblichen Liebe für den Serienmörder, außerdem sprach sie von ihrem unerschütterlichen
Glauben und den bitteren Gefühlen ihrer Schwester gegenüber.
Es waren verletzende Worte und Anklagen. Offensichtlich war Dixie eifersüchtig auf Risa.
Trent sah, wie sie sich auf die Unterlippe biss, während sie las, aber ihr Gesicht blieb
ausdruckslos. Nur ihre Augen schimmerten feucht.
Der nächste Stapel war von einer Frau namens Farrentina Hamilton. Sie schrieb schwung-
und kraftvoll, ein deutlicher Gegensatz zu Dixies kindlicher Schrift. Aber der Inhalt
unterschied sich nicht grundlegend von Dixies Briefen. Liebeserklärungen. Versprechen, ihm
Pakete zu schicken. Pläne für Kanes Zukunft außerhalb des Gefängnisses. Eine Zukunft, die
gerade durch ein mehrfaches Lebenslänglich ausgeschlossen werden sollte.
Er blickte Wiley an. „Was wissen Sie über eine Frau namens Farrentina Hamilton?"
„Sie ist Witwe. Hat einen Haufen Kohle von ihrem Mann geerbt. Besuchte Kane
regelmäßig. Mehrere Kollegen sind bereits auf dem Weg zu ihr."
Trent nickte. Er reichte Risa den Stapel und besah sich die persönlichen Dinge. Eine
platinblonde Locke, sehr wahrscheinlich von Dixie. Ein halbes Dutzend Zigaretten. Dann
griff er nach den Fotografien, die mit dem Bild nach unten in einem der Fächer lagen. Das
erste zeigte Kane und Dixie. Es war ein Hochzeitsfoto.
Risa beugte sich vor, um es genauer zu betrachten. Ihr Lavendelduft stieg ihm in die Nase
und überlagerte den stechenden Desinfektionsgeruch. Sie war ihm so nahe, dass er die Wärme
ihrer Haut spürte.
Sie erstarrte, als sie die Trauung dokumentiert sah, die sie nicht hatte verhindern können.
Rasch nahm Trent das nächste Foto zur Hand. Zusammen mit zwei folgenden zeigten sie
eine üppige Brünette in verführerischer Pose. Rote Spitzendessous, komplett mit Strapsen,
bedeckten gerade das Nötigste. Trent hatte plötzlich das Gefühl, dass mit dem Bild
irgendetwas nicht stimmte. Aber er konnte nicht genau sagen, was es war.
Er drehte die Aufnahme um und las die Worte auf der Rückseite. Genieß es! Alles Liebe,
Farrentina. Aha, die verführerischen Fotos gehörten zu der Inhaberin der markanten Schrift.
Doch sein Unbehagen blieb. Wenn er nur wüsste, was ihn daran störte.
Er ging die andern Fotos durch, Schnappschüsse verschiedener Blondinen, die
offensichtlich von der Gefahr und Kanes trauriger Berühmtheit angezogen wurden. Diese
Frauen würde er nie verstehen. Schließlich griff er nach dem letzten Foto.
Es war ein Schnappschuss von Dixie und ihrer Schwester, aufgenommen im Flur bei Risa
zu Hause. Die beiden saßen, umgeben von Teddys, lächelnd auf der antiken Bank.
Aber das Bild war beschädigt. Von dem Medaillon um Dixies Hals bis zu ihren Schenkeln
verlief ein präzis geführter Schnitt. Bräunlich rote, verschmierte Spuren verunzierten ihr
hübsches Lächeln.
Blutstropfen.
Risa atmete scharf ein und schwankte.
Trent ließ schnell die Fotos auf die Unterlage fallen und packte energisch ihre Arme.
Verdammt. Verdammt, verdammt! Genau das hatte er befürchtet. Kane würde sich niemals
die Chance entgehen lassen, eine offene Drohung für den zurückzulassen, der die Zelle
durchsuchte.
Und er selbst hatte zugelassen, dass Risa seine Zielscheibe wurde.
Sie zitterte heftig und schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende.
Trent zog sie an sich. „Rees, vergiss nicht, genau das ist Kanes Spiel. Manipulieren,
kontrollieren, dominieren. Er hat wohl damit gerechnet, dass du mit mir hierher kommen
würdest, und das Foto absichtlich hingelegt, damit du es findest. Um dir wehzutun und dir
Angst einzujagen. Lass ihn nicht gewinnen. Halt dich an mir fest. Ganz ruhig." Er atmete
langsam tief ein und wieder aus.
Sie machte es ihm nach, und allmählich beruhigte sie sich wieder.
Er schaute sie an, um sich zu überzeugen, dass sie sich wieder gefangen hatte.
Ihr herzförmiges Gesicht war leichenblass, die dunklen, weit geöffneten Augen
schimmerten feucht. Aber es bestand nicht mehr die Gefahr, dass sie ohnmächtig auf den
Zellenboden sank.
Wut erfasste ihn. Risa war stark, aber nicht stark genug gegenüber Kanes gemeinen
Spielchen. Wie sollte sie auch, da das Leben ihrer Schwester auf dem Spiel stand?
„Ich bringe dich nach draußen."
Heftig protestierend schüttelte sie den Kopf. „Nein. Es ist schon wieder gut. Ich ..."
„Nichts ist gut! Ich hätte dich nicht mitnehmen dürfen. Komm, ich bringe dich zurück zum
Eingang. Auf der Stelle."
Während er sie mit sanfter Gewalt aus der Zelle schob, verfluchte er sich im Stillen. Sie
hatten alles untersucht und nichts gefunden, das auf Kanes gegenwärtigen Aufenthaltsort
schließen ließ. Er hatte Risas Seelenfrieden umsonst erschüttert.
3. KAPITEL

Risa lehnte sich gegen eine der beige gestrichenen Wände am Eingang des Gefängnisses –
Wände, die sie einschlossen, einengten, sie erdrückten. So wie jedes Mal nahmen ihr der
Stacheldraht, der Mangel an Licht und Freiheit die Luft, und ihr Herz hämmerte viel zu
schnell. Aber was sie in der Zelle gesehen hatte, schnürte ihr vor Angst noch immer die Kehle
zu.
Das Foto mit dem Schnitt und dem Blut hatte sie erschüttert. Seit jenem fragwürdigen
Hochzeitstag hatte sie gewusst, dass Kane Dixie töten wollte. Es nun schwarz auf weiß zu
sehen war fast zu viel gewesen.
Das Schlimmste war jedoch, dass seine Rechnung aufgegangen war. Seine mörderische
Falle war zugeschnappt. Sie selbst hatte darauf bestanden, keinen Schutz zu brauchen, da sie
geglaubt hatte, mit allem fertig zu werden, was Kane plante. Die Wahrheit lautete, dass sie
dazu nicht in der Lage war.
Trent hatte Recht. All ihre Forschungen auf dem Gebiet der Kriminalistik, all die
Horrorgeschichten, die ihr dabei begegnet waren, hatten sie nicht auf das Blut auf der
Fotografie vorbereiten können. Und Dixies symbolisch aufgeschlitzten Körper – eine
eindeutige Todesdrohung für ihre Schwester.
Glücklicherweise hatte Trent sie nicht, wie angedroht, über die Schulter geworfen, sondern
sie nur aus der Zelle geschoben, hier abgesetzt und Duane aufgetragen, auf sie aufzupassen,
bis er gemeinsam mit Wiley Kanes Sachen zusammengesammelt hatte.
Verzweifelt presste sie die Lippen zusammen und verfluchte ihre Schwäche. Gott sei Dank
war sie nicht ohnmächtig geworden. Dann hätte Trent sie sehr wahrscheinlich mit der
Ambulanz ins nächste Krankenhaus schaffen lassen und den Ärzten befohlen, sie dort zu
behalten, bis Dixie gerettet worden war – oder bis es für sie zu spät war. Hier konnte sie sich
immerhin mit den Wärtern unterhalten. Vielleicht wussten sie irgendetwas von Bedeutung.
Sie seufzte und blickte Duane an. Er hatte sie unter seine Fittiche genommen, schon bevor
er sie von Dixies heimlicher Hochzeit unterrichtet hatte.
Jetzt bemerkte er ihren Blick und legte eine seiner breiten Hände auf ihren Arm. „Es tut
mir wirklich Leid, was passiert ist, Professor."
Sie schaute ihm in die müden Augen. „Danke. Das bedeutet mir viel."
Zorn zeigte sich plötzlich auf Duanes Gesicht. „Verdammter Kane. Warum musste er Ihre
Schwester mit hineinziehen?"
„Ich weiß es nicht." Nur schwer widerstand sie dem Wunsch, aufzustehen und rastlos auf
und ab zu laufen. Ihr Blick wanderte hinüber zum Eingang mit den schweren Gittertüren, die
zu den dahinter liegenden Korridoren führten, gesichert mit weiteren Gittertüren. Sie
vermochte sich nicht vorzustellen, wie ein Gefangener hier ausbrechen konnte, ohne Hilfe aus
dem Gefängnis. „Wie gut kannten Sie Kane?"
Duane verzog abschätzig seinen Mund. „Ich verstehe nicht ganz, wie Sie..."
„Haben Sie sich jemals mit ihm unterhalten? Hatten Sie persönlichen Kontakt zu ihm?"
Heftig schüttelte der Wärter den großen Kopf. „Mit solchem Abschaum wie Kane
unterhalte ich mich nicht."
„Niemals?"
„Nicht, wenn ich es verhindern kann."
„Sind irgendwelche anderen Wärter mit Gefangenen auf vertrautem Fuß? Oder, genauer
gefragt, mit Kane?"
Er überlegte einen Moment. „Keiner, der mir einfällt."
„Wüssten Sie jemanden, der einen Grund haben könnte, Kane zu helfen?"
Überrascht sah er sie an. „Ihm helfen?"
„Ja. Bei der Flucht. Irgendjemand muss ihm aus dem Gebäude und über die Mauer
geholfen haben, damit Dixie ihn wegbringen konnte."
Duane zog die buschigen Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. „Ich glaube,
das sehen Sie falsch. Er muss es allein geschafft haben."
„Aber wie denn? Mir erscheint es unmöglich für einen Gefangenen, allein
hinauszugelangen."
Der Wärter zuckte mit den breiten Schultern. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier
jemand auch nur einen Finger für dieses Monster rührt. Aber vielleicht irre ich mich auch. Ich
konnte mir auch nicht vorstellen, dass ihn jemand hei..." Er unterbrach sich und wurde rot.
„Sie können sich nicht vorstellen, dass ihn jemand heiratet, nicht wahr?" beendete sie
seinen angefangenen Satz. „Ist schon okay, Duane. Ich auch nicht."
„Das Beste wäre, jemand würde ihn auf der Flucht umlegen." Er sah sie düster an. „Den
Mädchen, die er umgebracht hat, hat er auch keine Chance gelassen. Abschaum wie er
verdient es nicht zu leben. Keinen einzigen Tag länger. Nicht einmal in einem Loch wie
diesem hier."
Risa hatte Mühe, nicht zustimmend zu nicken. Sie war keine Verfechterin der Todesstrafe.
Zumindest nicht in der Theorie. Aber bei einem Mann wie Dryden Kane...
Schnell verscheuchte sie die morbiden Gedanken. Kane den Tod zu wünschen würde auch
nicht helfen, ihn zu finden. Und ganz bestimmt nicht, Dixie zu retten. „Nun, über sein Leben
haben nicht wir zu entscheiden. Wir können nur bei der Suche nach ihm behilflich sein. Fällt
Ihnen denn niemand ein, der freundlich mit ihm umgegangen ist?"
Duane runzelte wieder die Stirn und seufzte, während er offenbar angestrengt nachdachte.
Schritte näherten sich. Die Gittertür glitt zur Seite, und Trent schlenderte hindurch, in der
Hand einen Karton. Detective Wiley und die beiden uniformierten Beamten folgten ihm.
Sie warf einen Blick auf Trents Gesicht und richtete sich auf. „Hast du noch etwas
gefunden?"
„Nicht viel." Er blieb nur kurz am Empfangstisch stehen, um sich wieder auszutragen. Als
er fertig war, sah er Risa prüfend an. „Wie geht es dir?"
Seine Frage und sein Ton zeigten Besorgnis, aber sie vertrieben ihre Enttäuschung nicht.
„Mir geht es gut", versicherte sie dennoch.
Trent steckte seine Waffe wieder ein und marschierte Richtung Ausgang. „Gut, denn wir
fahren jetzt zum Polizeirevier."
Sie folgte ihm zur Tür und warf dem Wärter zum Abschied einen Blick zu.
Er grinste, immer noch mit gerunzelter Stirn. „Ich werde über Ihre Frage nachdenken,
Professor. Und wenn mir jemand einfällt, der Kane vielleicht geholfen haben könnte, melde
ich mich bei Ihnen."
„Danke, Duane." Es war ein Versuch. Möglicherweise erinnerte er sich an etwas. Risa
nickte ihm noch einmal zu und folgte Trent hinaus in die Dunkelheit.

Trent fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und warf einen Blick auf Risa. In sich
zusammengesunken saß sie auf einem Sessel vor dem Konferenzzimmer des kleinen
Polizeireviers, die Augen auf den polierten Fliesenboden gerichtet. Sie war immer noch blass.
Er schaute kurz über die Schulter ins Konferenzzimmer. Auf dem langen Tisch standen ein
paar Aktenkartons, gefüllt mit Tatortfotos und Berichten, die Kane das erste Mal hinter Gitter
gebracht hatten. Gut, dass er sie damit nicht konfrontieren musste.
Entschlossen straffte er sich. Er durfte nicht ständig an Risa denken. Ihm blieben nur noch
zwei Stunden, bevor er sich mit der Sonderkommission traf, die Kane finden sollte. Zwei
Stunden Zeit, in denen er Ideen und Strategien entwickeln musste, um den Killer in die Falle
zu locken.
Er betrat den Konferenzraum und warf die Tür geräuschvoll ins Schloss. Dann drehte er
sich zu Wiley um.
Der Detective warf einen Blick auf die geschlossene Tür und zog eine Augenbraue hoch,
sagte aber nichts. Dein Glück, mein Junge, dachte Trent grimmig.
Jetzt wurde die Tür hinter ihm geöffnet, und ein schlanker, dunkelhaariger Mann schlüpfte
herein. Er nickte Trent zu, wobei seine Augen aufleuchteten. Eifrig streckte er die Hand aus.
„Rook, Sir. Ich bin der Polizeichef von Grantsville. Es ist mir eine Ehre, Sie endlich kennen
zu lernen."
Trent schüttelte Rook die Hand. Offensichtlich gehörte er zu den wenigen Beamten, die
nur zu gern mit dem FBI zu tun hatten, vielleicht weil sie deren Arbeit in einem eher
romantisch verklärten Licht sahen. „Ich freue mich auch, Sie kennen zu lernen, Chief."
Der Polizeichef schaute ihn leicht verlegen an. „Nennen Sie mich bitte Rook. Oder John.
Mein Revier hat nur drei Vollzeitbeamte, mich eingeschlossen."
„Wir sollten zur Sache kommen, Rook", grollte Wiley. „ Hören Sie auf, Burnells Hand wie
einen Pumpenschwengel zu schütteln und setzen Sie sich. Wir haben zu arbeiten."
Widerspruchslos setzte Rook sich. Offensichtlich schüchterte der ältere, erfahrenere
County-Detective den jungen Kleinstadtpolizeichef ein.
Als sie alle saßen, blickte Wiley den FBI-Agent an und deutete auf die Aktenkartons. „Ich
habe nach Ihrem Profil von Kane gesucht, konnte aber nichts finden."
Trent trat an den Tisch. „Es gibt kein Protokoll."
„Warum nicht?"
„Wir wollen nicht, dass ein umfassendes Profil auf Umwegen in die Presse gelangt. Es gibt
zu viele Faktoren, die falsch interpretiert und aufgebauscht werden könnten. Außerdem
möchten wir uns den Vorteil sichern, ausgewählte Details zu veröffentlichen. Besondere
Einzelheiten, die den Flüchtigen nervös machen und ihn dazu treiben, unnötige Risiken
einzugehen. Oder die ihn zwingen, aktiv zu werden. Wenn wir den Reportern Zugang zu
einem solchen Profil gestatten, geben wir wichtige Chancen aus der Hand."
„Reporter. Wir haben ein Pressezentrum in Platteville eingerichtet. Hoffentlich schaffen
wir es, uns die Blutsauger vom Hals zu halten." Wiley wühlte in einem der Aktenkartons.
„Dann müssen Sie also ein völlig neues Profil erstellen? Dauert das nicht zu lange?"
Trent nahm den Stapel Fotografien, die er in Kanes Zelle durchgesehen hatte. „Ich checke
die Sachen, die wir im Gefängnis gefunden haben, und werfe einen Blick in die Akten. Das
Profil wird fertig sein, wenn die übrigen Mitglieder der Sonderkommission hier sind."
Aufmerksam betrachtete er die Bilder in seiner Hand. Das Hochzeitsfoto von Dixie und
Kane. Der verführerische Schnappschuss von Farrentina Hamilton. Wieder verspürte er dieses
sonderbare Gefühl, wie schon zuvor in der Zelle. Irgendetwas stimmte mit diesen Fotos nicht.
Trent legte sie zurück auf den Tisch und griff nach dem nächsten Aktenkarton. Er zog
einen großen Umschlag heraus, öffnete ihn und studierte den Inhalt. Auf einem der Fotos
starrten ihn die blinden blauen Augen eines Opfers an. Es war Ashley Dalton. Zwanzig Jahre
alt. Ihr geschundener nackter Körper leuchtete weiß im Blitzlicht. Wirres, langes blondes
Haar bedeckte halb ihr bleiches Gesicht.
Er steckte den Umschlag wieder in den Karton, machte den Deckel zu und griff nach dem
nächsten.
Dawn Bertram, Studentin der Psychologie, war ein weiteres Opfer von Kanes Mordlust.
Ein wunderschönes Mädchen. Dawn hatte grüne Augen. Ihr blondes langes Haar umrahmte
ein noch kindliches Gesicht.
Das war es.
Das hatte ihn an Farrentina Hamiltons Foto gestört. Ihr Haar. Farrentina Hamilton war
brünett.
Kane bevorzugte jedoch Blondinen.
Wiley beugte sich vor. „Haben Sie was entdeckt, Burnell?"
Trent schob ihm die Fotos zu. „Sämtliche Opfer waren blond. Eine eindeutige
Gemeinsamkeit. Er hat Blondinen getötet. Nur Blondinen."
Rook hob eine Augenbraue. „Ein Haarfarbenfetischist? War seine Mutter vielleicht
blond?"
„Nicht seine Mutter, auch wenn sie möglicherweise die Ursache für seinen Hass ist. Er
hatte schon als Kind Gewaltfantasien, war voller Wut. Wir wissen, dass er sie damals an
kleinen Tieren in seiner Nachbarschaft ausgelebt hat."
„Aber wie passen die Blondinen dazu?" fragte Rook.
„Ein paar Monate nach dem Krebstod seiner Mutter heiratete er eine Blondine. Sie lernten
sich auf dem College kennen. Als sie Affären mit anderen Männern begann, drehte Kane halb
durch. Er wurde gewalttätig Frauen gegenüber, die ihr ähnelten. Schließlich mündeten seine
brutalen Fantasien in Mord. Offenbar verlieh ihm nur der Tötungsakt das Gefühl, mächtig zu
sein, sie zu beherrschen. Eigenschaften, über die er im normalen Leben nicht verfügte. Jedes
Mal, wenn er eine blonde Studentin tötete, übte er Macht über die Frau aus, die ihn
gedemütigt hatte."
„Bis er sie schließlich ebenfalls umbrachte?"
Trent nickte. Wenn er ein wenig schneller gewesen wäre, hätte er den Mord an Kanes
erster Frau verhindern können. Hätte er ihn schneller identifiziert und schneller ausfindig
gemacht. .Es war bitter, dass Kanes Vorsprung nur wenige Stunden betragen hatte.
Er schaute auf das Foto von Risa und Dixie. Ein zweites Mal durfte ihm das nicht
passieren.
Wiley betrachtete die Bilder vom Tatort und griff dann nach Farrentina Hamiltons Foto.
„Eine Brünette würde ihn also nicht reizen?"
„Nein."
Angestrengt runzelte der Detective die Stirn. „Stand in einem ihrer Briefe nicht etwas vom
Haarfärben? Vielleicht hat sie sich die Haare seinetwegen gefärbt?"
Trent überflog die Briefe, bis er gefunden hatte, was Wiley meinte. Er las laut vor: Wie Du
sehen kannst, habe ich mir die Haare gefärbt, Dryden. Die roten Dessous sehen an einer
Brünetten schick aus, nicht wahr?
Wiley tippte mit dem Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte. „Aber das hört sich an, als
hätte sie sich seinetwegen die Haare brünett gefärbt."
Ja, das stimmte. Aber es ergab keinen Sinn. Ein Serienmörder änderte seine Vorlieben
nicht. Er mochte seine Vorgehensweise ändern, aber nicht das Motiv, aus dem er seine
emotionale Befriedigung bezog. Und Kane bezog sie aus der Angst der Opfer, wenn er sie in
seiner Gewalt hatte. Rache für den Verrat der Exfrau. Die Exfrau mit dem langen blonden
Haar.
„Diese Sätze sind wichtig. Gibt es noch mehr Fotos? Eins, das die Hamilton als Blondine
zeigt?"
Wiley blätterte die Bilder durch, die sie in Kanes Zelle gefunden hatten. „Ja, dies hier." Er
reichte es Trent.
Rook lehnte sich über den Tisch, um es mit ansehen zu können.
Auf dem Bild umfloss Farrentina Hamiltons platinblondes Haar ihre Schultern. Sie trug
einen Hosenanzug, der heute aus der Mode war, und sah eindeutig jünger aus als auf dem Bild
mit den Strapsen.
Verdammt. Trent wusste nicht, was er daraus machen sollte. Es war so gut wie unmöglich,
dass Kane seine Fixierung auf Blond geändert hatte. Warum hatte er dann Farrentina
Hamilton gebeten, ihre Haare braun zu färben?
„Dixie." Sie war von Natur aus brünett, so wie Risa, aber schon seit Trent sie kannte, färbte
sie sich die Haare blond. Er nahm das Hochzeitsfoto und das zerschnittene Bild wieder zur
Hand. Auf beiden Bildern hatte Dixie platinblondes Haar, das ihr in weichen Locken auf die
Schultern fiel. Wenn sich Kanes Fixierung zu brünett hin verändert hatte, warum hatte er dann
erst vor einigen Monaten eine Blondine geheiratet?
Es sei denn, Dixie war nicht länger blond, so wie Miss Hamilton.
Trent schaute wieder auf das zerschnittene Foto. Sein Blick blieb auf Risa hängen. An
ihrem fröhlichen Lächeln, den Arm um die Schulter der Schwester gelegt, umgeben von
Teddybären. Sein Magen zog sich zusammen. „Professor Madsen weiß vielleicht ein paar
Antworten auf unsere Fragen." Er stand auf und ging zur Tür.
Hinter ihm schnaubte Wiley abfällig und trommelte mit seinem Kugelschreiber auf der
Akte herum. Trent ignorierte sein offensichtliches Missfallen.
Risa war schon halb aus dem Sessel, bevor die Tür ganz offen war. „Habt ihr etwas
herausgefunden?" Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit. Sie wirkte zwischen den
klobigen Behördenmöbeln so zierlich, verletzlich, als sie sich nun fragend vo rbeugte.
Leider konnte er ihr keine Antworten bieten.
„Magst du hereinkommen?"
Rasch nickte sie und eilte auf ihn zu. Als sie an ihm vorbei den Raum betrat, strichen seine
Finger wie von selbst über ihren Rücken. Eine alte Angewohnheit. Das hatte er immer getan,
wenn sie vor ihm durch eine Tür gegangen war. Damals, als sie noch zusammen gewesen
waren und er noch das Recht dazu gehabt hatte.
Er fühlte die Wärme ihrer Haut unter der dünnen Seide.
Sie erstarrte bei seiner Berührung, blickte ihn aber nicht an. Stattdessen schoss sie förmlich
in den Raum hinein und setzte sich an den Tisch.
Was, zum Teufel, trieb er hier eigentlich? Er hatte kein Recht, sie zu berühren und in
vertraute alte Verhaltensweisen zurückzufallen. Auf dieses Privileg hatte er freiwillig vor
zwei Jahren verzichtet, damit sie sicher war. Umsonst, wie es schien. Die Bedrohung war
stärker denn je.
Er vertrieb seine Erinnerungen, schloss die Tür und ging um den Tisch herum. Dann setzte
er sich auf den Stuhl neben ihr.
Risa hielt den Blick auf die Tischplatte gerichtet, und er sah, dass sie auf den hastig
zusammengeschobenen Aktenstapel schaute.
Eine Fotohälfte lugte aus einer Akte heraus. Das Gesicht eines der Opfer starrte sie an.
Blondes Haar, helle Haut, blicklose Augen.
Trent schob rasch das Foto zurück und den Aktenstapel Rook zu. So weit wie möglich fort
von ihr. „Fragen Sie."
„Hat Dixie in der letzten Zeit ihre Haarfarbe gewechselt?"
Risa überraschte diese Frage sichtlich. „Ja. Sie kehrte zu ihrer natürlichen Farbe zurück."
„Wann?"
„Nach der Hochzeit. Vor ungefähr drei Wochen."
Wiley hörte zum ersten Mal auf, mit dem Stift auf den Tisch zu trommeln, seit Risa den
Raum betreten hatte. „Dann ist sie jetzt also brünett?"
„Ihr Haar hat ungefähr die gleiche Farbe wie meins."
Trent nickte. Ähnlich wie das von Farrentina Hamilton. „Hat sie gesagt, warum sie es
getan hat?"
„Oh ja. Es war wichtig für sie. Sie meinte, Kane wollte, dass sie wieder ihre natürliche
Haarfarbe hätte. Er liebe sie so, wie sie sei."
Trent spürte einen zunehmenden Druck im Magen bei der Vorstellung, wie Kane Dixie
diese Worte ins Ohr flüsterte. Und so wie Risa aussah, erging es ihr ähnlich.
Wiley beugte sich über den zerschrammten Tisch. „Dann hat er sie also ausdrücklich
gebeten, sich ihr Haar wieder brünett zu färben?"
„So hat Dixie es mir erzählt." Sie blickte von dem Detective zu Rook und dann zu Trent.
Doch er sah nicht auf. Eine böse Vorahnung jagte ihm einen eisigen Schauer über den
Rücken.
„Wieso wollt ihr wissen, warum Dixie sich die Haare gefärbt hat?"
Trent blickte sie an. „Es scheint, als bevorzuge Kane seit einigen Wochen brünett anstelle
von blond."
Verwirrt sah sie ihn an.
„Er hat auch Farrentina Hamilton gebeten, ihre Haarfarbe in Dunkelbraun zu ändern."
„Die Frau in den roten Dessous", sagte sie und zählte eins und eins zusammen.
„Ja."
„Die Frauen, die er bisher umgebracht hat, waren alle blond, stimmt's? Das war Teil seiner
Fixierung. Es ergibt keinen Sinn. Außer..."
„Außer was?"
„Es sei denn, die Haarfarbe spielte eigentlich keine entscheidende Rolle."
„Was meinst du damit?"
Er schaute auf Risas langes brünettes Haar, das im fluoreszierenden Licht der
Deckenlampe schimmerte. Haar, das nach Lavendel duftete und sich einst zwischen seinen
Fingern wie Seide angefühlt hatte.
„Hast du je etwas getan, das ihn wütend gemacht haben könnte? Irgendetwas, das er
vielleicht missverstanden hat?"
Sie erstarrte.
Er packte sie am Arm und zwang sie, ihn anzusehen. „Was ist passiert, Rees?"
Sie atmete einmal tief durch. „Vor ungefähr vier Monaten veröffentlichte ich in einer
Fachzeitschrift einen Artikel. Über Kane, auch wenn ich seinen Namen nicht erwähnte. Ich
weiß nicht, wie er im Gefängnis daran gelangt ist, aber es war so. Und er vermutete, dass der
Artikel ihn betraf. Er war außer sich. Einige Dinge, die ich schrieb, gefiele n ihm gar nicht."
„Was hat er getan?"
„Ich habe mich noch einmal mit ihm für das Buch getroffen, an dem ich arbeite. Er war
einverstanden, aber jedes Mal, wenn ich eine Frage stellte, wollte er sie nicht beantworten. Er
starrte mich nur an." Sie schloss die Augen und bedeckte den Mund mit bebenden Fingern.
Ihr Gesicht war kreideweiß.
„Was sonst noch?" drängte der Agent.
Sie schluckte trocken, öffnete die Augen und sah ihn flehentlich an. „Zum selben Zeitpunkt
begann er, auf Dixies Briefe zu antworten. Er fing an, um sie zu werben."
Ein Bild formte sich in Trents Kopf. Ein entsetzliches Bild. Abgrundtiefe Furcht packte
ihn.
Kanes Handlungsmuster war klar: Er befriedigte ein krankhaftes Rachebedürfnis, indem er
seine Gewaltfantasien an wehrlosen Frauen auslebte. Zu diesem Zweck wählte er Frauen mit
derselben Haarfarbe aus wie die, von der er meinte, dass sie ihn betrogen hätte. Dann spielte
er sein grausames Spiel – lockte seine Opfer in einen einsamen Wald, jagte sie und schlitzte
sie auf.
Und diesmal war Risa sein eigentliches Ziel.
4. KAPITEL

Es überlief Risa eiskalt. Sie sah die unterdrückte Furcht in Trents Augen.
Er hatte Angst. Angst um sie.
Ihr war, als zöge man ihr den Boden unter den Füßen weg. „Was bedeutet das?" flüsterte
sie, wusste jedoch im selben Moment die Antwort.
Trent richtete sich auf, schüttelte den Anflug von Panik ab und war plötzlich wieder kühl
und kontrolliert, so wie sie ihn kannte. Doch das beruhigte sie nicht im Mindesten.
„Es ist nicht ausgeschlossen, dass Kane jetzt auf dich fixiert ist." Er machte eine kleine
Pause, als wolle er ihre Reaktion abwarten, testen, wie viel Wahrheit sie vertrug. „So, wie er
vorher auf seine Exfrau fixiert war, bevor er gefasst wurde. Es kann sein, dass er sich diesmal
an dir rächen will."
Risa wurde übel. Sie hatte den Hass in Kanes Augen gesehen, an dem Tag, als er Dixie
heiratete. Und sie hatte ihn aus seiner Stimme heraushören können.
Bis dass der Tod uns scheidet.
„Er hat Dixie verführt, sie geheiratet, und nun wird er sie umbringen, wegen des Artikels,
den ich über ihn geschrieben habe." Es war keine Frage. Sie wusste es. „Dixie wird
meinetwegen sterben."
Trent fasste sie am Arm. „Du darfst dich nicht schuldig fühlen, Rees. Auch wenn du den
Artikel nicht geschrieben hättest, hätte er wohl nach eine r Möglichkeit gesucht, dich auf
irgendeine Weise zu demütigen. Er ist das Monster. Nicht du."
Sein Argument war logisch. Aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass Kopf und
Herz zwei völlig verschiedene Dinge waren. Und im Augenblick hielt ihr Herz sie für
schuldig. An Kanes Wut. Und Dixies Entführung.
Panik wirbelte in ihr auf, drohte sie zu ersticken. „Es gibt nichts, was ich tun kann, nicht
wahr? Dixie läuft die Zeit davon, und wir können nichts machen."
„Irrtum." Er umfasste sanft ihr Kinn und drehte ihr Gesicht so, dass sie ihn ansehen musste.
„Wenn Kane diese jungen Frauen im Wald freiließ und jagte, tat er es, um seinen Spaß zu
verlängern und ihre Furcht zu spüren. Bringt er Dixie sofort um, kappt er die Verbindung zu
dir. Er beraubt sich damit der Möglichkeit, dich zu quälen, deine Angst zu schüren. Aber
genau das will er auskosten."
Risa schloss die Augen. Sie wollte ihm so gern glauben. „Ich hoffe, du hast Recht. Bei
Gott, ich hoffe es."
Jemand klopfte laut an die Tür.
Trent ließ die Hand sinken.
Wiley sprang auf. Risa hatte ihn und die anderen Polizisten vergessen und nicht daran
gedacht, dass sie Zeugen ihrer Angst geworden waren. Wileys Feindseligkeit ihr gegenüber
war immer noch greifbar. Vielleicht hatte er es genossen, ihre Schwäche miterlebt zu haben.
Der Druck in ihrem Magen verstärkte sich wieder. Sie wusste nicht, worin seine Abneigung
gegen sie begründet war. Er blickte sie nicht einmal an, als er um den Tisch herumkam und
die Tür aufriss.
„Ja?"
Ein junger Polizist in Uniform stand vor der Tür. Unruhig wippte er auf den Fersen, so als
wolle er am liebsten gleich wieder verschwinden. „Wir haben etwas gefunden, Detective."
Trent spannte die Kiefermuskeln an. Er schaute von Wiley zu dem Polizisten und wieder
zurück.
Der Detective warf Risa einen verächtlichen Blick zu und deutete nach draußen. „Reden
wir im Flur."
Der Beamte am Tisch sprang ebenfalls auf und folgte dem jungen Polizisten. Wiley ging
hinaus und schloss die Tür fest hinter sich.
Bilder stiegen vor Risas innerem Auge auf. Schreckensbilder. Dixie. Brünettes Haar, Blut.
Verzweifelt blickte sie Trent an, suchte in seinen Augen nach einer Antwort. Oder
zumindest nach einem Funken Mitgefühl. Aber er verbarg seine Gefühle hinter einem
neutralen Ausdruck und starrte an ihr vorbei auf die geschlossene Tür, hinter der sich die drei
unterhielten.
Schließlich wurde die Tür wieder weit geöffnet. Wiley kam allein zurück. Sein
ausdrucksloses Gesicht hätte jeden Pokerspieler neidisch gemacht.
Trent sah ihn scharf an. „Was haben sie gefunden? "
Der Detective antwortete nicht sofort, sondern warf einen unbehaglichen Blick in Risas
Richtung und presste dabei die Lippen zusammen.
Ihr gefror das Blut in den Adern. Grauenhafte Bilder wirbelten durch ihren Kopf.
„Dixie...", flüsterte sie. „Haben sie Dixie gefunden?"
Wiley sagte immer noch nichts. Stattdessen starrte er sie nur an. Hart. Abneigung in den
Augen. Vielleicht sogar Abscheu.
Trent stand auf und stellte sich zwischen Risa und den Detective. „Verdammt, Wiley, was
haben sie gefunden?"
„Ihren Wagen."
„Dixies Wagen? Sie ist doch nicht..." Risa konnte nicht weitersprechen.
„Nein, sie befand sich nicht im Fahrzeug. Es war leer."
Risas Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen. Beinahe wäre sie vor Erleichterung
auf den Tisch gesunken. Vielleicht hatte Trent Recht, was Kane betraf. Er würde Dixie leben
lassen, damit er sie, Risa, quälen konnte. Sie konnte nur hoffen und beten, dass er sie so lange
am Leben ließ, bis Trent und die Polizei sie gefunden und gerettet hatten.
Der Agent machte ein paar Schritte auf die Tür zu. „Wie weit ist es bis zum Wagen?"
„ Er wurde hinter einem verlassenen Kuhstall ungefähr sechs Meilen von hier gefunden."
„Ich fahre hin. Ich möchte ihn mir ansehen, bevor ich die Sonderkommission unterrichte."
Trent drehte sich zu Risa um und musterte sie. Schließlich seufzte er tief. „Meinst du, du
kannst mitkommen?"
Furcht packte sie. Angst vor dem, was sie dort finden könnte. Sie schluckte und nickte.
Denn sie musste alles tun, was ihrer Schwester irgendwie helfen würde. „Du könntest mich
nicht davon abhalten."
Trent ging zur Tür. „Wohl nicht."

Als sie die verlassene alte Farm erreichten, begrüßten die Vögel bereits den jungen Tag.
Einen Moment lang sehnte Risa sich nach der Geborgenheit ihres warmen, sicheren Bettes.
Der Agent lenk te den Wagen die ausgedehnte Zufahrt entlang. Die Räder knirschten auf
dem Kies und schleuderten Steinchen zur Seite. Blinkende Streifenwagenlichter wiesen ihnen
den Weg zu dem ehemals weißen Kuhstall.
Trent fuhr an den Wegrand und stellte den Motor ab. Er drehte sich zu Risa um, doch
durch die Lichter hinter ihm lag sein Gesicht im Schatten.
Sie kniff die Augen zusammen, konnte seine Miene allerdings nicht erkennen. Aber es
spielte keine Rolle. Sie wusste, wie er aussah. Besorgt. Entschlossen, sie zu beschützen. So,
wie er eigentlich immer aussah, wenn er in ihrer Nähe war.
„Vielleicht hat er etwas für uns zurückgelassen, weißt du. Eine Drohung. Wie das Bild in
seiner Zelle. Ich möchte, dass du vorbereitet bist."
Risa kannte die Gefahren. Aber sie bezweifelte, dass sie je vorbereitet sein könnte. Allein
schon bei dem Gedanken an ein weiteres Foto mit grausamen Andeutungen bekam sie
Herzklopfen. Trotzdem musste sie sich das Wageninnere ansehen. Weil es vielleicht
irgendeinen Hinweis lieferte, der sie zu Dixie führte.
Sie lebendig vorzufinden, das war die Hoffnung, an die sie sich klammerte. „Geh voraus."
Trent stieg aus. Risa folgte ihm. Sie gingen an der Handvoll Polizisten und den
Labortechnikern vorbei zum Stall. Die weiße Farbe war an vielen Stellen bereits abgeblättert,
darunter zeigte sich das nackte Holz. Das Dach war auf einer Seite eingesackt und das
steinerne Fundament mit dichten Büschen umwuchert. Der gesamte Komplex hatte schon
bessere Tage gesehen. Ein brandneues Schild, an einer Seite angenagelt, verkündete, dass auf
dem ehemaligen Farmland in Kürze exklusive Einzelhäuser entstehen würden.
Risa schaute auf den Stall, das Schild, die Lichter und die arbeitenden Beamten, aber sie
sah immer nur das Gesicht ihrer Schwester.
Und das gemeine Grinsen von Dryden Kane.
Dann entdeckte sie Dixies chromblitzenden kirschroten Thunderbird. Der Wagen war ihr
ganzer Stolz. Viele Monate hatte sie dafür gespart. Als könnte das schnittige Modell sie
aufwerten und seine Besitzerin in glamourösem Licht erscheinen lassen.
Traurigkeit erfasste sie. Ihre Schwester hatte eine trostlose Kindheit erleben müssen und
war zu einer bemitleidenswerten jungen Frau herangewachsen. Dixies Daddy, der zweite
Mann ihrer Mutter, hatte das kleine Mädchen immer als Störenfried empfunden, sie von sich
gestoßen und kaum einmal Zeit für sie gehabt.
Risa war froh gewesen, als sie mit zehn zu ihrem Vater und seiner zweiten Frau ziehen
durfte. Etwas Besseres hätte ihr nicht passieren können. Für Dixie hätte sie sich das Gleiche
gewünscht.
Jetzt schob sie die Gedanken an die Zeit damals beiseite und atmete tief die feuchte
Frühlingsluft ein.
Trent drehte sich zu ihr um. „Fertig?" fragte er.
Sie zwang sich zu nicken.
Einen Moment noch hielt er ihren Blick fest, dann folgte er einem der Beamten zum
Kofferraum des Thunderbird. Risa ging hinter ihm her, die Dornen der Himbeerbüsche
zerrten an ihrer Kleidung und zerkratzten ihre Haut, als sie sich zum Wagen hindurchzwängte.
Die Kofferraumklappe klaffte weit auf wie ein schreiender Mund. Sie holte tief Luft und
zwang sich hineinzuschauen. Nur ein geblümter Koffer lag darin.
Dixies Koffer.
Ihr blieb das Herz einen Moment lang stehen. Sie brachte kein Wort heraus, sondern starrte
nur auf den Koffer und betete, dass sich ihre Befürchtungen nicht bewahrheiten würden.
Trent öffnete den Reißverschluss des Koffers und hob den Deckel an. Offensichtlich hastig
gepackte Kleidungsstücke lagen darin. Dixies Lieblingsjeans. Eine Blümchenbluse, die Risa
ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Die hautenge Caprihose, die sie in der letzten Zeit fast
nur noch getragen hatte. Ihr roter Kosmetikkoffer.
Risa wurde schwindlig. Sie rang nach Luft und gab einen erstickten Laut von sich.
Trents Kopf fuhr herum. „Was ist los, Rees?"
„Ihr Kosmetikkoffer..." Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überschwemmte sie. „Dixie
schminkt sich jeden Tag, selbst wenn sie zu Hause bleibt und nur fernsehen will. Sie ist nie
irgendwo hingefahren ohne ihren Kosmetikkoffer."
Trent ließ den Deckel wieder fallen und drehte sich zu ihr herum. „Wenn sie es eilig
hatte..."
„Nein. Selbst dann gilt ihr erster Griff diesem Schminkkoffer. Entweder hat er sie
gezwungen, ihn hier zu lassen. Oder..." Ihre Stimme verlor sich. Sie mochte es nicht
aussprechen. Dann würde es für sie zur Realität werden.
Denn sie wollte sich nicht eingestehen müssen, dass ihre Schwester tot war.
Trent zog sich der Magen zusammen, als er sah, wie ihr das Blut aus den ohnehin schon
bleichen Wangen wich. Spontan zog er sie in die Arme.
Hilfe suchend presste sie sich an ihn, als könne er allein verhindern, dass sie
zusammenbrach. Sie zitterte am ganzen Leib. Ihr Atem ging schnell und flach und strich in
warmen Wellen über seinen Hals.
Er führte sie fort vom Wagen, weg von den hellen Lampen, den Polizisten und dem
Beweis, den Kane hinterlassen hatte. Am Eingang des alten Stalls blieb er stehen und hielt sie
fest, bis sie aufhörte zu zittern.
Er wusste, dass er sie in den Wagen setzen und schleunigst mit ihr nach Hause fahren
sollte. Aber irgendwie wollten seine Arme sie nicht wieder freigeben. Stattdessen saugte er
das Gefühl, ihren Körper zu spüren, auf wie ausgetrocknete Erde den lang ersehnten Regen.
In seinen Träumen hatte er sie gespürt und war schweißgebadet erwacht. Aber dies hier war
kein Traum. Es war Wirklichkeit. Ihre zierliche Gestalt, die sanften Rundungen, der zarte
Lavendelduft. Er hatte sie vermisst, mehr, als er sich eingestehen mochte.
Endlich atmete sie bebend durch und schaute ihn an. Furcht schimmerte in den Tiefen ihrer
Augen. Ihre üppigen Lippen waren zusammengekniffen.
Da begriff er, und ihm wurde eiskalt. Er konnte ihr keinen Trost bieten, durfte sie nicht so
in den Armen halten. Nur eins konnte er für Risa tun: ihre Schwester finden und sich dann so
schnell wie möglich wieder aus ihrem Leben verabschieden. Sie hatte genug auf ihre
Schultern geladen. Sorgen. Angst. Schmerz.
Er trat einen Schritt zurück und ließ die Hände sinken. Kühle, feuchte Luft füllte den Raum
aus, wo eben noch ihre Wärme, ihr weicher Körper gewesen war. Und obwohl nur ein paar
Handbreit zwischen ihnen lagen, kam es ihm wie Meilen vor.
„Du brauchst etwas Schlaf. Lass mich dich nach Hause bringen. Ich werde einen der
Polizisten vor deinem Haus als Wache postieren."
Heftig schüttelte sie den Kopf. „Ich kann nicht nach Hause. Wenn du hier irgendetwas
findest, werde ich gebraucht."
Verlangen flammte in ihm auf, sie wieder an sich zu reißen. Er fuhr sich mit den Fingern
durchs Haar. „Die Untersuchung hier vor Ort kann noch eine ganze Weile dauern. Danach
habe ich eine Sitzung mit der Sonderkommission. Du kannst nicht mitkommen, Rees. Und zu
Hause ist das Warten um einiges angenehmer als hier oder auf dem Revier."
Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, aber er hob die Hand, bevor das erste Wort
heraus war.
„Sich ohne Grund fertig zu machen wird Dixie auch nicht he lfen. Vor uns liegen ein paar
strapaziöse Stunden, wenn nicht Tage. Du solltest dich ausruhen, solange du noch die
Gelegenheit dazu hast."
Risa schwieg und ließ sich seine Argumente durch den Kopf gehen. „Rufst du mich an,
wenn die Polizei etwas findet? Egal, wie unwichtig es vielleicht erscheint?"
Trent atmete erleichtert aus. „Rees, ich habe dafür gestimmt, dass du mit einbezogen wirst.
Und auch wenn mir die Idee immer noch nicht gefällt, habe ich meine Meinung doch nicht
geändert. Ich rufe dich an, wenn sich etwas ergibt."
„Gut. Dann bring mich nach Hause."
Er ergriff ihren Ellbogen und schob sie zu dem Mietwagen. Selbst diese einfache
Berührung ließ ihn zusammenzucken. Er versuchte, die Erinnerungen an ihre Umarmungen,
den Duft ihrer Haut und die von ihr ausströmende Energie abzuschütteln. Je eher er von ihr
fortkam, umso schneller konnte er sich in die Arbeit stürzen und sich darin verlieren. Und
hoffentlich Kane und Dixie finden und diesem Albtraum ein Ende bereiten.
Danach könnte er aus Risas Leben verschwinden. Für immer.

Risa lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und schaute aus dem Wagenfenster. Der
Frühling kleidete Wisconsin in sanftes Grün und bunte Blütenträume. Die friedliche
Schönheit der Natur erreichte sie jedoch nicht. Stattdessen schienen bleierne Gewichte ihre
Brust zu beschweren. Ihre Hände lagen fest verschränkt im Schoß. Sie bekam kaum Luft und
konnte sich nicht bewegen. Ihre Gedanken kreisten um Dixie und die vage Hoffnung, ihre
Schwester lebend wieder zu sehen.
Kanes Flucht. Dixies Entführung. Trents Rückkehr. Das und die damit verbundenen
Emotionen reichten eigentlich für ein ganzes Leben. Dabei war alles in einer Nacht
geschehen. Die beiden ersten Ereignisse erfüllten sie mit Entsetzen. Das letzte mit
Erleichterung, Furcht, Wehmut und Bedauern.
Sie war froh, dass Trent hier war, Dixies und auch ihrer selbst wegen. Aber wenn sie ihm
nahe war, auch nur eine einzige Minute, überschwemmten sie die Erinnerungen an damals.
Wie sie Hand in Hand zur Zeit der Frühlingsblüte durch Washington schlenderten. Einander
im Bett mit Erdbeerkeksen fütterten. Die Wärme ihres Körpers. Sie hatte förmlich geglüht,
wenn Trent bei ihr war.
Langsam löste sie die Finger voneinander und konzentrierte sich auf die vertrauten Häuser
des Viertels, die am Fenster vorbeihuschten. Sie musste vorsichtig sein, durfte sich nicht von
ihren Erinnerungen überrollen lassen. Stattdessen sollte sie sich daran erinnern, wie
schmerzhaft es gewesen war, ihn zu verlieren. Und sie musste sich bewusst machen, dass er
wieder gehen würde.
Als sie endlich in die Zufahrt einbogen, hoffte sie, die innere Anspannung würde
nachlassen, aber das Gegenteil war der Fall. Die Morgensonne kroch über den Horizont. Ihre
Strahlen spiegelten sich in den vorderen Fenstern des Hauses und ließen sie funkeln wie die
Augen eines dämonischen, wilden Tieres.
Trent stellte den Motor ab, löste den Sicherheitsgurt und knöpfte seine Jacke auf. Er griff
in die Innentasche und zog seine Pistole aus dem Schulterhalfter. „Ich werde das Haus
überprüfen. Bleib dicht hinter mir."
Risa hielt entsetzt den Atem an. Sie hatte überhaupt nicht an die Möglichkeit gedacht, dass
Kane hierher kommen könnte, zu ihrem Haus. „Du glaubst, er ist hier? Er wartet auf mich?"
„Ich hoffe, er ist nicht so dreist, aber ich will kein Risiko eingehen."
Ein Schauer überlief sie. „Ich bleibe direkt hinter dir."
Er streckte die Hand aus. „Die Schlüssel."
Sie wühlte in ihrer Handtasche, fand das Schlüsselbund, zog es heraus und ließ es auf
Trents Handfläche fallen.
Ohne ein Wort wandte er sich um, öffnete die Wagentür und stieg mit einer geschmeidigen
Bewegung aus. Sie folgte ihm dichtauf.
Trents Schritte auf dem Plattenweg hallten in der Morgenstille wider. Er stieg die
Verandastufen hinauf und schob den Schlüssel ins Schloss. Dann drückte er die Tür auf,
zögerte jedoch einen Moment, ehe er das Haus betrat, die Hand mit der Pistole ausgestreckt.
Kaum war er drinnen, blieb er wie angewurzelt stehen.
Irgendetwas stimmte nicht. Risa lugte um Trents Schulter.
Zuerst begriff sie nicht. Überall in dem kleinen Flur trieben weiße flauschige Flocken in
der Luft. Sie bedeckten die polierten Eichendielen, die Regale, die antike Bank.
Das Blut dröhnte ihr in den Ohren. Ihre Teddybären. Blanke Knopfaugen starrten sie an,
die früher runden Körper waren schlaff und leer. Aufgeschlitzt.
Kane war da gewesen.
Alles verschwamm vor ihren Augen. Ihre Beine drohten nachzugeben.
Trent streckte den Arm aus und hielt sie fest. Sekunden nur verharrte er, dann zog er sie
vom Haus fort.
Sie klammerte sich an ihn, als hinge ihr Leben davon ab.
5. KAPITEL

Trent hielt Risa fest an seine Brust gedrückt und wich mit ihr auf den Weg zurück. Das Blut
rauschte in seinen Ohren. Die Pistole aufs Haus gerichtet, suchte er die Schatten hinter der
Eibe und die niedrigen Äste der Fichte ab. Ihm war, als verstecke sich Kane dort. Fast meinte
er das leise, zufriedene Lachen dieses Monsters zu hören.
Er beobachtete sie, um zu sehen, wie Trent reagierte. Ihre Angst wollte er sehen. Er würde
sie genießen. Sie verlieh ihm Macht.
Und er hatte erst angefangen, seine Gier nach dieser Macht zu befriedigen.
Trent umklammerte die Pistole fester. Reichte es nicht, dass Kane sich in seinem Gehirn,
seinem Herzen eingenistet hatte, als ein dunkler Fleck des Todes? Genügte es nicht, dass er
ihm seinen inneren Frieden gestohlen hatte, das Glück, die Zukunft?
Wollte dieser Bastard all dies nun auch Risa antun?
Verdammter Kane. Sollte er doch zur Hölle fahren.
Sie hatten den Wagen erreicht, und Trent schob Risa auf den Beifahrersitz. Er schloss die
Tür hinter ihr, ging um den Wagen herum, behielt jedoch Bäume, Büsche und das Dach des
Hauses im Blick, bevor er hinters Steuer schlüpfte. Dann drehte er den Zündschlüssel um, und
der Motor erwachte zum Leben. Trent legte den Gang ein.
Langsam fuhr er von der Auffahrt. Nur mit Mühe beherrschte er sich, das Gaspedal nicht
bis zum Boden durchzutreten. Am liebsten wäre er mit quietschenden Reifen davongerast,
aber er wollte Kane nicht zu erkennen geben, wie erschüttert er war. Ihn nicht seine Angst
sehen lassen.
Während er beide Seiten der Straße mit den Augen absuchte, griff er zum Handy und rief
Pete Wiley an, noch bevor sie um die Ecke gebogen waren. Je eher die Polizei hier war, desto
besser. Sie mochten Kane möglicherweise nicht fangen, aber eine frische Spur führte sie
vielleicht weiter.
Er beendete das Gespräch und warf einen Blick auf Risa. Angst stand in ihren Augen.
Entsetzen. Genau der Effekt, den Kane beabsichtigt hatte.
Wut stieg in Trent auf. Bilder formten sich vor seinem inneren Auge: Frauen, die gejagt
wurden, um dann leblos, abgeladen in der Wildnis wie Abfall zu enden. Frauen, die ein Leben
und eine Zukunft und Menschen, die sie liebten, zurückließen.
Er musste Risa von hier fortbringen. Weit fort. Kane würde nicht bekommen, was er
wollte. Diesmal nicht. Nur über meine Leiche, schwor sich Trent grimmig.

Risa zitterte immer noch. Die innere Kälte blieb, auch nachdem Trent sie in sein Hotelzimmer
in Platteville geschoben und die Tür hinter ihnen verriegelt hatte.
Sie schaute sich um. Zwei Sessel standen an einem winzigen runden Tisch, daneben ein
großes Doppelbett. Es war ein ganz normales Hotelzimmer, das dem Gast das Gefühl von
Sicherheit vermitteln sollte.
Doch sie spürte nichts davon.
Überall, wohin sie blickte, sah sie weiche weiße Flocken, das Innenleben ihrer
Teddybären. Und alles, was sie fühlte, war Kanes kalte Wut.
Sie erschauerte und schlang die Arme um sich.
Risa hatte immer auf sich selbst Acht geben können. Und nicht nur das. Auch auf andere.
Selbst als Kind hatte sie sich für ihre Schwester und ihre Mutter verantwortlich gefühlt. Sie
war die Starke gewesen, die ihrer Mutter ins Bett half, wenn sie wieder einmal zu viel Wodka
getrunken hatte. Und die dafür sorgte, dass Dixie ihre Schularbeiten machte, da sich sonst
niemand darum kümmerte. Sie hatte alles geregelt, organisiert.
Beinahe hätte sie hysterisch aufgelacht. Im Augenblick kam sie sich vor wie ein
neugeborenes Baby. Von Stärke keine Spur. Ihre Knie waren butterweich.
Trent trat hinter sie. Sein Duft stieg ihr in die Nase, herb und männlich. Stark und sicher.
„Du solltest dich setzen", sagte er.
„Bevor ich zu Boden sinke?" versuchte sie zu spaßen, aber es misslang kläglich, weil ihre
Stimme zitterte.
„Ja, bevor du umkippst."
Sie nickte, rührte sich aber trotzdem nicht von der Stelle. Nicht nur, weil sie fürchtete, ihre
Beine würden sie nicht mehr tragen, sondern weil sie dicht bei ihm bleiben wollte. Bei seiner
Wärme. Seiner Stärke.
„Ich kann nicht. Ich..."
„Schon gut. Du bist jetzt sicher." Schützend legte er die Arme um sie und zog sie an sich.
Risa lehnte sich an ihn, ließ sich von seiner Wärme einhüllen.
Trent umarmte sie fest, presste die Lippen an ihre Schläfe und küsste sie sanft. Sein Atem
strich über ihr Gesicht, ließ sachte ein paar Haarsträhnen über ihre Wange tanzen.
Langsam schloss sie die Augen und genoss den Moment. Er rief Erinnerungen wach an die
Augenblicke in Trents Armen. Diese nie vergehenden Schatten süßer Erinnerung.
Sie hätte sich dagegen wehren können. Aber sie wollte es nicht einmal. Sie brauchte ihn zu
sehr. Seine Kraft und die Geborgenheit, die sie bisher nur bei ihm gefunden hatte. Mit ihm
zusammen war sie vollkommen. Nichts fehlte.
Ohne sich von ihm zu lösen, drehte sie sich um, hob die Arme und verschränkte sie in
seinem Nacken.
Seine Hand glitt zu ihrem Hinterkopf, wie früher. Er umfasste ihn, schob die Finger in ihr
Haar und senkte den Kopf.
Seine Lippen suchten ihren Mund. Risa hieß seine Zunge willkommen, ergab sich der
prickelnden Liebkosung.
Aber es reichte ihr nicht. Nicht im Mindesten. Es war nicht annähernd ge nug. Risa sehnte
sich nach mehr. Sie wollte seine feste Brust spüren, die harten Bauchmuskeln, seine Erregung.
Dann würde sie eins mit ihm werden, Haut an Haut, und sich ihm grenzenlos hingeben.
Sie nestelte an seinen Hemdknöpfen, zerrte daran, bis sie sic h öffneten, und schob lustvoll
die Hand unter den Stoff.
Trent streifte das Hemd ab. Risa strich mit den Fingern über seine Rippen, den flachen
Bauch, die schmale Spur dunkler Härchen, die zu seinem Gürtel führte.
Verlangen kochte in ihr hoch.
Als würde Trent ihre Gedanken lesen, ließ er beide Hände über ihren Rücken gleiten und
packte den Saum ihres Pullovers. Er zog ihn hoch, und sie fühlte die kühle Luft an ihrer
nackten Haut und seine warmen Finger.
Keinen Moment länger wollte sie warten und griff nach hinten zum Verschluss ihres BHs.
Er fiel zu Boden. Risa drängte sich näher an Trent, hungerte nach seiner Hitze, dem Gefühl
seiner Haut auf ihrer. Ihre Brüste pressten sich gegen seine Brust, die seidigen Härchen
liebkosten ihre empfindlichen Knospen.
Tief stöhnte er auf, senkte den Kopf, eroberte ihren Mund. Seine Lippen kosteten, reizten,
schürten das Feuer zwischen ihnen. Seine Finger stahlen sich zu ihrem Hosenbund, öffneten
den Knopf, dann den Reißverschluss und streiften ihr die Hose herunter, dann das
Spitzenhöschen.
Risa erbebte und griff nach seiner Jeans. Sekunden später trug er nur noch seinen Slip.
Trent umfasste ihren Po mit beiden Händen und hob sie hoch. Sie schlang beide Beine um
seine Hüften und drängte sich an ihn.
Mit wenigen Schritten war er am Bett und ließ sie auf die Matratze sinken. Dann lag er auf
ihr. Seine Hitze übertrug sich auf sie, ließ ihr Blut schneller kreisen.
Er atmete flach und schnell. Ihr Herz hämmerte wild in ihrer Brust. Sie wollte mehr. Alles.
Sehnsüchtig schob sie eine Hand unter das elastische Slipgummi. „Ich brauche dich so sehr,
Trent. Daran hat sich nie etwas geändert."
Er erstarrte. Dann atmete er scharf ein und bebend wieder aus. „Wir..." Starke Finger
legten sich um ihre Hand und hielten sie fest. „Wir dürfen es nicht tun, Rees."
Sie riss die Augen auf, suchte in seinem Gesicht und versuchte zu verstehen, was er sagte,
warum er innehielt.
Seine Haut war gerötet. In seinen Augen stand deutliches Verlangen. Er schluckte und
schüttelte den Kopf. „Wir dürfen es nicht, Rees."
Diesmal begriff sie. Und es tat weh.
Noch immer spürte sie seine Haut an ihrer. Sein Gewicht drückte sie auf die Matratze.
Aber er entzog sich ihr. Schaffte Distanz. Versagte ihr die Erfüllung ihrer Bedürfnisse. Seiner
Bedürfnisse.
Nicht zum ersten Mal.
„Wie meinst du das? Warum können wir es nicht tun, Trent?" Zorn überlagerte die
Demütigung, zurückgewiesen worden zu sein. „Weil du Angst hast, mich zu verderben?"
Er presste die Lippen zusammen.
Es war ein Schlag unter die Gürtellinie, und sie war nicht stolz darauf. Absichtlich hatte sie
ihn verletzt. Aber sie konnte nicht anders. Sie wollte ihm wehtun, so wie er es vor zwei Jahren
mit ihr gemacht hatte.
So wie er sie jetzt verletzte.
Er rollte sich auf den Rücken. „Es tut mir Leid, Rees."
„Was tut dir Leid? Dass du mir das versagst, was ich brauche?"
Er schloss die Augen und drehte das Gesicht zum Fenster. Sanftes Licht fiel durch die
Gardinen. Tiefe Linien zogen sich um seine Augen und den Mund.
„Wenn es dir Leid tut, dann zieh dich nicht zurück."
Er wandte ihr wieder das Gesicht zu, schaute sie an und fuhr sich mit den Fingern durchs
Haar. „So einfach ist es nicht, und das weißt du auch. Nicht zwischen uns."
„Die Sache ist einfach, Trent. In deinen Armen fühlte ich mich stärker als jetzt, wo ich
allein bin. Wir waren stärker. Und wir brauchen diese Nähe zueinander. Selbst wenn sie nur
für kurze Zeit anhält."
Geschlagen runzelte er die Stirn. „Soll ich dir etwas sagen, Rees? Kane hat eine düstere
Realität geschaffen, die Gewalt und Tod mit sich bringt. Du kannst ihr nicht entfliehen, indem
du mit mir schläfst. Im Gegenteil, das Erwachen wird hinterher umso schmerzlicher sein."
Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, dann schloss sie ihn wieder. Er hatte Recht. Mit
Trent zu schlafen, für wenige Stunden, würde die Bedrohung durch Kane nicht mildern. Die
Angst, Dixie zu verlieren, blieb trotzdem. Und dass sie ihn brauchte, ihn lieben wollte, würde
ihr tatsächlich nur mehr Schmerz bringen. Dennoch konnte sie das Gefühl nicht abschütteln,
dass sie in seinen Armen stärker war. Wo sollte das hinführen?
Risa spürte einen dumpfen Druck im Magen, und ihr brannten die Augen. Sie rollte sich
von Trent fort und stieg aus dem Bett. Auf wackligen Beinen lief sie ins Badezimmer.
Sie schloss die Tür und lehnte sich schwer dagegen. Dann blickte sie an sich herab. Auf
ihre nackten Brüste, die dunklen Knospen. Auf ihre Schenkel und das dunkle Dreieck, das
Zentrum ihrer Leidenschaft, noch immer vibrierend und voller Sehnsucht nach Trents
Liebkosungen.
Entschlossen zog sie ein Badelaken aus dem Regal und wickelte sich darin ein, als ob sie
sich schützen wollte. Sie sollte nicht darüber nachgrübeln, was hätte sein können, durfte ihn
nicht begehren. Nur eins war jetzt wichtig: Dixie vor Kane zu retten, bevor es zu spät war.
Dafür würde sie alles tun.

Trent setzte sich aufrecht hin und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Bettende. Dem
Kissen hinter sich gab er einen kräftigen Schlag mit der Faust. Verdammt, verdammt,
verdammt.
Warum nur hatte er die Kontrolle über seine Gefühle verloren?
Risa brauchte ihn als Halt, als Trost. Aber nicht als Liebhaber, der ihr die Kleider vom
Leib riss. Er durfte weder die Situation ausnutzen noch ihre Verletzlichkeit. Auch wenn er
seine Gefühle schließlich wieder in den Griff bekommen hatte, so hatte er sie doch verletzt.
Wieder einmal.
Er schloss die Augen. Risa brauchte seinen Schutz mehr denn je.
Er wusste, worauf er sich einließ, was ihn erwartete. Kanes Grausamkeiten hatte er
gesehen. Die geschundenen Körper. Das gefrorene Entsetzen in den toten Augen der Opfer.
Er musste Risa vor Kanes Messer schützen. Und vor seiner verdorbenen Seele.
Die Badezimmertür ging auf, und sie kehrte ins Zimmer zurück. Ihr offenes Haar fiel in
sanften Wellen über die Schultern. Sie hatte sich in ein großes Handtuch gewickelt, unter dem
sich ihre Brüste abzeichneten. Der Saum endete weit oben an den schlanken Schenkeln.
Bilder ihres nackten Körpers und die Erinnerung an ihren süßen Duft steigerten seine
Erregung aufs Neue. Sie hatte ihm eben all dies angeboten. Er hatte es zurückgewiesen. Trent
unterdrückte ein Stöhnen und versuchte, sein Verlangen zu unterdrücken.
Trotzig schob sie das Kinn vor und schaute ihm direkt in die Augen. „Ich weiß, wie wir
Kane schnappen."
Sein Magen zog sich zusammen. Was immer sie im Kopf hatte, es würde ihm nicht
gefallen. Das sagte ihm schon ihr herausfordernder Ton. Er warf ihr einen skeptischen Blick
zu und wartete.
„Diese Sache mit den Teddybären zeigt doch deutlich, dass Kane hinter mir her ist,
stimmt's?"
„Richtig", bestätigte er, absichtlich ausdruckslos.
„Und wir können davon ausgehen, dass er nach dem gleichen Muster vorgeht wie bei
seiner Frau, oder?"
Trent nickte. „Wahrscheinlich wird er anfangen, Frauen umzubringen, die so aussehen wie
du, gleiche Haarfarbe, gleiche Figur."
Wie Dixie. Und auch wenn er es nicht laut aussprach, sah er doch, dass sie das Gleiche
dachte. Das kurze Aufblitzen von Panik in ihren Augen verriet sie.
Sie schluckte und holte tief Luft. „Er wird andere Frauen umbringen, bis er genügend
Erregung und Erwartung aufgebaut hat, um mich zu jagen."
„Richtig. Und er wird nicht aufhören. Nicht, bis wir ihn erwischt haben..."
„Oder bis er mich umgebracht hat."
Trent zwang sich zu nicken. Risa hatte Recht, von einem Punkt einmal abgesehen. Kane
würde niemals aufhören. Er würde die nächste Frau finden, die ihn ungerecht behandelt hätte
und an der er Rache üben konnte. Und alles würde wieder von vorn losgehen, nach dem alten
Schema. Seine Fantasien würden gewalttätiger werden, sein Hunger nach dem Schmerz und
der Angst seiner Opfer stärker. Er würde mehr Grausamkeit anwenden, um ihn zu
befriedigen. Aber er würde niemals aufhören. Mörder wie Dryden Kane waren unersättlich.
Es blieb nur eins. Man musste sie fangen.
Oder töten.
Risa kam einen weiteren Schritt herein. „Da Kane im Grunde mich und nicht Dixie haben
will, könnten wir das zu unserem Vorteil nutzen."
Ein ungutes Gefühl beschlich Trent. „Du wirst doch nicht das vorschlagen, was ich
denke?"
„Warum nicht? Wenn er mich will, brauche ich nur den Lockvogel zu spielen, um ihn aus
seinem Versteck zu locken, habe ich Recht?"
Trent schnappte nach Luft. „Du bietest dich als Lockvogel für einen Serienmörder an? Für
einen gefährlichen Mann wie Kane? Hast du den Verstand verloren?"
„Du warst immer dafür, selbst die Initiative zu ergreifen. Und mein Vorschlag könnte
funktionieren. Warum sollten wir es nicht probieren?"
Am liebsten wäre er zu ihr gestürmt und hätte sie kräftig geschüttelt, damit sie wieder zu
Verstand kam. Er hatte Mühe, seine Hände bei sich zu behalten. „Es ist zu gefährlich,
deswegen."
„Und nichts zu tun ist nicht gefährlich? Für Dixie? Und für mich? Er wird sie sowieso
umbringen und dann Jagd auf mich machen, wie auch immer!"
Trent schwang die Beine vom Bett und stand auf. Seine Gefühle diktierten ihm zu sagen,
Dixie wäre ihm völlig egal. Ihm sei nur Rees wichtig, der er am liebsten das Badelaken
fortgerissen, sie aufs Bett geworfen und ihr gezeigt hätte, zu welcher Leidenschaft er fähig
war, wenn es um sie ging. Er wollte sie in die Arme ziehen und nie wieder freigeben.
Sein Verstand gewann. Nichts von alledem durfte er tun. Außerdem war ihm Dixies Leben
genauso viel wert wie jedes andere. Seine Umarmung konnte Risa nicht beschützen, das hatte
er ausreichend bewiesen. „Dabei mache ich nicht mit."
„Du würdest mich immer noch beschützen, Trent. Aber wir könnten vielleicht auch Dixie
retten. Sei doch vernünftig."
„Vernünftig?" Er lief rot an vor Zorn. „Soll ich zusehen, wie du dich als Köder einem
blutrünstigen Hai vorwirfst? Das kannst du vergessen."
„Dixies Zeit läuft ab." Ihre Stimme klang schrill vor Angst.
„Ich habe gesagt, vergiss es." Er hob seine Hose vom Boden auf und schlüpfte hinein.
Selbst wenn es ihre einzige Chance war, die Schwester zu retten, würde er nicht zulassen,
dass Risa ihr Leben aufs Spiel setzte, damit Kane seinen Unterschlupf verließ.
Anklagend deutete sie mit dem Zeigefinger auf ihn. „Wenn es ein anderer Fall wäre, eine
Frau, die du nicht kennen würdest, dann wäre es okay, nicht wahr? Du würdest mitspielen."
Er presste die Kiefer zusammen, so fest, dass seine Zähne schmerzten.
„Antworte mir!" verlangte sie.
„Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass es um diesen Fall und keinen anderen geht. Und ich
werde dich nicht in dieser Weise benutzen. Ganz sicher nicht."
Risa schüttelte den Kopf, ihr dichtes schokoladenbraunes Haar wirbelte um ihre nackten
Schultern. Sie sah aus, als würde sie gleich vor Enttäuschung anfangen zu weinen. Doch er
konnte keine Tränen in ihren Augen entdecken. Stattdessen schnappte sie sich ihre zerknüllten
Sachen vom Boden, presste sie gegen die Brust und starrte ihn entschlossen an. „Wie gut für
mich, dass du nur eine Nebenrolle in der Jagd auf Kane spielst. Pete Wiley wird begeistert
sein angesichts der Chance, ihn aus der Deckung zu locken. Und du kannst nichts dagegen
tun." Sie wartete seine Antwort gar nicht erst ab, sondern wirbelte herum und marschierte
zurück ins Badezimmer. Die Tür fiel mit der Endgültigkeit eines Todesurteils hinter ihr ins
Schloss.
Trent machte ein paar Schritte auf die Tür zu. Er musste sie zur Vernunft bringen. Dann
blieb er jedoch stehen, schlug sich mit der Faust in die Handfläche und fluchte leise.
Ihm waren die Hände gebunden. Er konnte nichts tun, weil er hier nur ein Helfer der
örtlichen Polizei war und keine Entscheidungsgewalt besaß. Wenn sie sich als Lockvogel für
Kane zur Verfügung stellen wollte, stand es nicht in seiner Macht, das zu verhindern. Ihr
Leben lag dann in Wileys Hand. Und wenn er dessen Abscheu Risa gegenüber richtig
einschätzte, musste er sich nicht nur wegen Kane Sorgen mache n.
6. KAPITEL

Risa betrachtete die geschlossene Tür zum Konferenzraum des winzigen Polizeireviers von
Grantsville und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Sie hatte immer noch nicht mit Pete
Wiley sprechen können.
Als sie und Trent hier eingetroffen waren, um die Sonderkommission zu informieren, hatte
Wiley bereits seinen Platz am Konferenztisch eingenommen, umgeben von einem guten
Dutzend Detectives des Grant County, den anschließenden Landkreisen, der Staatspolizei und
dazu einigen Beamten aus Grantsville. Zudem befanden sich ein paar zivil gekleidete Männer
im ohnehin schon überfüllten Raum, die verdächtig nach FBI aussahen. So blieb ihr nichts
anderes übrig, als geduldig zu warten, bis die Sitzung zu Ende war, ehe sie Wiley ihr Angebot
unterbreiten konnte.
Endlich öffnete sich die Tür, und die Männer strömten heraus. Risa wischte sich die
feuchten Hände an der Jeans ab und hielt nach Wileys blondem Haarschopf Ausschau.
„Professor Madsen?" Ein junger Beamter kam direkt auf sie zu. Seine Augen leuchteten.
Risa hätte schwören können, dass sie ihn von irgendwoher kannte. Doch ihr fiel nicht ein, wo
sie ihn schon einmal gesehen hatte.
„John Rook. Erinnern Sie sich? Ich bin der Polizeichef von Grantsville. Wir haben uns
heute Morgen im Konferenzzimmer gesehen. Aber ich glaube, man hatte mich Ihnen nicht
offiziell vorgestellt." Sein kräftiger Adamsapfel hüpfte beim Sprechen aufgeregt auf und ab.
Er streckte ihr die Hand entgegen. „Ich habe ein paar Fragen wegen Ihrer Schwester."
Risa erwiderte den Händedruck und suchte dabei über seine Schulter hinweg die Gruppe
ab. Sie wollte Wiley nicht hinausschlüpfen lassen, während sie mit dem Polizeichef sprach.
„Ich beantworte Ihre Fragen gern, Chief Rook. Aber ich suche gerade Detective Wiley. Ich
habe etwas sehr Dringendes mit ihm zu besprechen. Haben Sie ihn gesehen?"
„Bitte, nennen Sie mich nur Rook. Oder John." Er deutete mit der Hand auf den
Konferenzraum. „Wiley unterhält sich immer noch mit Special Agent Burnell."
Na, großartig. Garantiert lieferte Trent Wiley jetzt gerade Argumente, warum er sie nicht
in die Jagd nach Kane einbeziehen dürfte. Viel Glück. Wenn sie Wileys Verhalten ihr
gegenüber richtig einschätzte, dann konnte Trent reden, bis er schwarz wurde. Denn der
Detective würde sich diese Chance nicht entgehen lassen.
„Wollen wir uns dann etwas später unterhalten? Wo wohnen Sie?" Rook sah sie
erwartungsvoll an.
Wo wohnte sie? Nach Hause zurück konnte sie nicht. Ihre Wohnung war zum Tatort
geworden. Und außerdem würde sie bei jedem Schritt aufgeschlitzte Teddybären vor sich
sehen.
Sie dachte an Trents Hotelzimmer. Das große Doppelbett. Die Wärme seiner Umarmung.
Die kalte Panik, als er sie von sich stieß. Und das Verlangen, das sie trotz allem immer noch
empfand.
Hoffentlich hatte er getrennte Zimmer für sie gebucht. „Ich ... ich bin mir nicht sicher. Ich
glaube, Special Agent Burnell hat sich um diese Angelegenheiten gekümmert."
„Dann nehme ich an, Sie wohnen im selben Hotel wie er." Rook zog eine Visitenkarte
heraus und drückte sie ihr in die Hand. „Er wird ziemlich beschäftigt sein, also sollten Sie
Zeit haben, mit mir zu reden. Rufen Sie mich jederzeit an. Dann komme ich sofort vorbei."
Risa schob die Karte in die Gesäßtasche ihrer Jeans und lächelte ihn an. Anscheinend
wollte Rook beweisen, dass seine kle ine Dienststelle den Fall ebenso gut lösen konnte wie die
viel größere des Countysheriffs. Was auch immer der Grund für seine Ambitionen war, ihr
waren sie mehr als lieb. Sie konnte nur hoffen, dass alle mit dem Fall Befassten so eifrig
waren wie er. Dixies Leben hing davon ab.
„Ich rufe durch, sobald ich einen Moment Zeit habe." Sie wandte sich ab, gerade in dem
Augenblick, als Wiley aus dem Konferenzzimmer kam, tief ins Gespräch mit einem
glatzköpfigen Kollegen vertieft.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und trat auf ihn zu. „Detective Wiley?"
Sein Kopf ruckte herum, und ersah sie verächtlich an. „Burnell ist immer noch drinnen." Er
deutete mit dem Kopf hinein und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder dem anderen
Detective zu.
Sie machte noch einen Schritt auf ihn zu. „Ich muss mit Ihnen sprechen, Detective."
Skeptisch sah er sie an.
„Allein."
Kalte Augen musterten sie, dann schüttelte der Mann den Kopf. „Falls Sie Informationen
über die Jagd nach Kane wollen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Machen Sie sich an
Burnell ran. Ich bin nicht hier, um Ihnen irgendeinen Gefallen zu tun, Professor." Das letzte
Wort betonte er abschätzig.
Aber Risa ließ sich nicht einschüchtern. Sie wusste nicht, woher seine Abneigung gegen
sie stammte, aber es spielte keine Rolle. Im Gegenteil, es war genau das, was sie brauchte. Er
würde nicht auf den Gedanken kommen, sie zu beschützen, sondern ihren Vorschlag nur zu
gern aufgreifen.
„Ich möchte, dass Sie mich dazu benutzen, Kane aus seiner Deckung zu locken."
Wiley warf seinem Kollegen einen schnellen Blick zu. „Wir unterhalten uns später,
Mylinski."
Der Detective verzog spöttisch die Lippen, schob sich ein Kaugummi in den Mund und
schlenderte davon.
Wiley sah sie unfreundlich an. „Weiß Burnell davon?"
„Ja. Die Idee gefällt ihm nicht."
Langsam musterte er sie von oben bis unten. „Das kann ich mir lebhaft vorstellen."
Sie richtete sich zu voller Größe auf. „Ich bin Kanes wirkliches Ziel. Nicht Dixie oder
irgendeine unschuldige Frau, die er sich irgendwo schnappt, um sie dann grausam zu töten.
Also, was ist? Nehmen Sie mein Angebot an?"
Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Darauf können Sie Gift nehmen. Das
dürfte genau der Durchbruch sein, den wir brauchen."
Risa unterdrückte einen Schauer der Furcht. Der Anfang war gemacht. Wie immer es auch
ausgehen mochte, Trent konnte es nun nicht mehr verhindern.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, tauchte der Agent in diesem Augenblick auf. Einer der
gut gekleideten Männer stand neben ihm. Die beiden passten hervorragend zusammen,
abgesehen davon, dass der andere Mann ein schärferes Profil und volle weiße Haare hatte.
Salz zu Trents Pfeffer.
Unbehagen packte sie.
Trent blickte von Risa zu Wiley und wieder zurück. Er zog die Stirn in Falten. „Rees, dies
ist Vince Donatelli. Er ist ein Kollege vom FBI. Aus Milwaukee."
FBI. Ihr Unbehagen verwandelte sich in eine düstere Vorahnung. „Und was bringt Sie
hierher, Special Agent Donatelli?"
„Ich bin gekommen, um Ihre Schwester zurückzuholen, Professor Madsen." Er lächelte sie
beruhigend an.
Auf Risa wirkte das Lächeln jedoch keineswegs beschwichtigend. Auch die Tatsache nicht,
dass er mit dem Fall vertraut genug schien, um ihren Namen und Titel zu wissen, ohne dass
sie vorgestellt worden war. Sie nickte in Wileys Richtung. „Das Sheriffbüro arbeitet
hervorragend in dieser Angelegenheit. Warum schickt das FBI zusätzlich zu Trent einen
zweiten Beamten her?"
„Das Büro des Sheriffs leistet gute Arbeit, das weiß ich." Donatelli nickte Wiley
anerkennend zu und blickte sie wieder mit ernsten Augen an. „Aber uns liegen Berichte vor,
dass Kane und Ihre Schwester in Iowa gesehen wurden. Am Mississippi. Da er die
Staatsgrenze überschritten hat, wird die Angelegenheit zu einem Fall für das FBI."
„Jemand hat sie gesehen..." Sie hielt den Atem an. „Kane kann Dixie nicht mit nach Iowa
genommen haben. Heute Morgen war er in meinem Haus. Er hat meine Teddybären
aufgeschlitzt. So schnell kann er nicht nach Iowa gefahren und wieder zurückgekommen sein.
Unmöglich."
„So unmöglich ist das gar nicht", sagte Trent mit gesenkter Stimme. „Von deinem Haus bis
zur Grenze sind es nicht einmal zwei Stunden Fahrt."
Sie funkelte ihn an. Waren Kane und Dixie wirklich auf der anderen Seite der Grenze
gesichtet worden? Oder hatte Trent sich das alles ausgedacht, damit er seinen Kollegen vom
FBI ins Spiel bringen konnte? Um die Kontrolle über die Jagd nach Kane dem Sheriffbüro
abzunehmen? Damit Wiley keine Möglichkeit erhielt, sie als Lockvogel einzusetzen?
Wiley, der neben ihr stand, verlagerte sein Gewicht ständig von einem Fuß auf den
anderen, wie ein tänzelnder Boxer. „Die Professorin hat mir gerade erzählt, dass sie bereit
sein würde, sich als Köder für Kane zur Verfügung zu stellen."
Donatelli zog eine Augenbraue hoch. „Sie wollen eine Zivilperson benutzen?"
„Es war nicht meine Idee. Sie hat es von sich aus angeboten", verteidigte sich der
Detective mit kaum verhüllter Feindseligkeit in der Stimme.
Der FBI-Beamte schüttelte den Kopf. „Wir werden diese Möglichkeit erst in Betracht
ziehen, wenn alle anderen ausgeschöpft sind."
Risa ballte wütend die Fäuste und starrte Trent böse an. Sie hatte das Gefühl, explodieren
zu müssen. „Ich möchte mit dir reden, Trent. Sofort."
Er nickte. „Schön." Seinem Gesicht nach zu urteilen wusste er, was kam. Und der
Geschwindigkeit nach, mit der er sich bei den anderen entschuldigte, ahnte er offenbar, dass
sie kurz davor stand, vor Wiley und Donatelli die Beherrschung zu verlieren.
„Komm mit." Trent verließ das Revier durch den Haupteingang und marschierte zu dem
kiesbestreuten kleinen Parkplatz, auf dem jetzt nur noch wenige Fahrzeuge standen. Er
entsicherte die Zentralverriegelung seines Mietwagens. „Steig ein. Wir unterhalten uns
während der Fahrt."
Risa blieb abrupt stehen. Auf keinen Fall würde sie in seinen Wagen steigen und sich von
ihm irgendwohin fahren lassen, wo sie keinerlei Chance hatte, Kane und Dixie zu finden.
„Verdammter Kerl!"
Er blieb stehen und drehte sich zu ihr herum.
„Du..." In diesem Augenblick verließ ein Mann das Gebäude und ging auf seinen Wagen
zu. Risa senkte die Stimme. „Das mit Iowa, das hast du dir ausgedacht, stimmt's?"
„Nein, sie wurden tatsächlich gesehen. Ich habe es nur zu meinem Vorteil ausgenutzt."
„Und als Donatelli den Fall übernahm, hast du ihn überredet, mich auszuschließen. Du hast
ihm gesagt, das Risiko wäre zu groß."
„Natürlich, was glaubst du denn? Es ist tatsächlich zu groß", betonte er.
„Aber ich bin doch diejenige, die das Risiko eingeht. Die Entscheidung sollte mir
überlassen bleiben."
Trent presste die Lippen zusammen. „Es nützt Dixie nichts, wenn du umgebracht wirst."
Sie schüttelte den Kopf, wandte sich ab und wollte zum Polizeirevier zurücklaufen.
„Warte, Rees. Steig in den Wagen. Du kommst mit mir." Er griff nach ihrem Arm, riss
seine Hand jedoch sofort wieder zurück, als hätte er sich verbrannt.
Wie angewurzelt blieb sie stehen und starrte auf seine Hand.
„Eine kurze Berührung reicht also schon, dass du zurückzuckst!" rief sie zornig und
frustriert. Wut über seinen Rückzug vor zwei Jahren erfasste sie. Und über sein Verhalten an
diesem Morgen. „Hast du solche Angst vor mir?"
„Nicht vor dir, sondern um dich." Sein Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt. „Mach die
Augen auf, Rees. Sieh, was Dixie passiert ist. Was du durchgemacht hast. Wenn ich Kane
nicht in dein Leben gebracht hätte, würdet ihr beide, deine Schwester und du, ganz normal
leben und müsstet nicht den Tod durch die Hand eines Gewaltverbrechers fürchten! Ich habe
dich infiziert."
Ihr blieb die Antwort im Hals stecken. Er würde nicht zuhören und niemals akzeptieren,
dass die Sache nichts mit ihm, sondern eher damit zu tun hatte, dass sie Kane als
Forschungsobjekt gewählt hatte.
Der Fall Dryden Kane hatte Trent verändert. Er war nach Wisconsin gegangen und völlig
verwandelt zu ihr zurückgekehrt. Als gequälter Mann, der sie nicht heiraten konnte.
Nachdem er die Hochzeit abgeblasen hatte, bot man ihr eine Professur an der University of
Wisconsin an. Eine Ironie des Schicksals. Doch als sie ihr kriminalpsychologisches
Forschungsprojekt begann und eine Liste der Gefängnisinsassen erstellte, war es kein Zufall,
dass sie Kanes Namen hinzufügte. Sie musste herausfinden, was Trent so verändert hatte, und
Antworten auf ihre Fragen finden. Und sie wollte dem Teufel ins Auge schauen.
Oh ja, sie hatte ihn gesehen. Ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden.
Die Antworten waren ihr verwehrt geblieben. Stattdessen fand sie Wut, Hass und
Bösartigkeit.
Sie konzentrierte sich auf den Mann vor sich, auf seine störrische Miene, die Verzweiflung
in seinen Augen. Wieder kam die Erinnerung an seine Umarmungen zurück und gab ihr Kraft.
Es hatte keinen Sinn, sich mit ihm zu streiten. Nicht, wenn das meiste stimmte, was er
gesagt hatte. Und wenn ihr Herz bei jedem Atemzug wehtat.
Sie schluckte. „Also gut, Trent. Du kannst deinen Willen haben. Der Fehler liegt bei dir.
Du solltest dich in Zukunft von mir fern halten."
Die Worte schmeckten bitter. Sie wirbelte herum und marschierte aufs Revier zu, mit
Beinen schwer wie Blei. Wenn sie Glück hatte, befand sich Chief Rook immer noch drinnen
und wollte sich mit ihr über Dixie unterhalten. Trent mochte sie aus seinem Herzen und
seinem Leben gerissen haben, aber er konnte sie nicht davon abhalten, bei der Suche nach
Kane zu helfen.
Sie hörte, wie er die Wagentür zuschlug. Der Motor röhrte auf. Kies spritzte unter den
Reifen weg, als er das Gaspedal durchtrat. Im nächsten Moment bremste er abrupt vor ihr ab
und verstellte ihr den Weg.
Er lehnte sich über den Beifahrersitz und stieß die Tür auf. „Steig ein, Rees. Ich lasse dich
nicht aus den Augen."
„Tatsächlich? Aber dennoch hast du Angst, mir nahe zu kommen, weil du fürchtest, mich
mit dem Bösen dieser Welt zu verseuchen? Siehst du nicht, wie absurd das ist?"
Er runzelte die Stirn.
„Nein, das siehst du nicht!"
„Verdammt, Rees, steig in den Wagen."
Trotzig hob sie das Kinn. „Erst sagst du mir, wohin wir fahren."
„Ins Gefängnis."

Trent sah zu, wie Risa sich auf einen Stuhl in dem kleinen Befragungsraum setzte und sich
offensichtlich zwang, von dem Sandwich abzubeißen, das er aus einem Automaten gezogen
hatte. Auch wenn sie seit rund vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte, so schien sie
ebenso wenig Appetit auf das Schinken-Käse-Sandwich zu haben wie er. Aber sie brauchte
etwas, um weitermachen zu können.
Ihre Haut zeigte bereits die ungesunde Farbe, die durch Dauerstress hervorgerufen wird.
Ihre Augen hatten den gleichen Ausdruck, den er oft genug gesehen hatte, wenn er
Familienmitgliedern von Verbrechensopfern begegnete. Sie durchlebte einen schweren
Schock. Ihre Schwester war entführt worden und befand sich in der Gewalt eines brutalen
Serienkillers. Dann musste sie erfahren, dass sie eigentlich das Ziel des Mörders war.
Erstaunlich, dass sie überhaupt noch aufrecht stand.
Sie musste etwas essen. Und sie brauchte Schlaf – und Trost.
Um Nahrung hatte er sich gekümmert. Schlaf konnte sie vorerst vergessen.
Und Trost?
Nein, er war nicht der richtige Mann, um sie zu trösten.
Erinnerungen stürmten auf ihn ein. Der Anblick ihres nackten Körpers. Das Gefühl, wie
sich ihre nackten Brüste gegen seine Brust pressten. Der Duft ihrer Haut.
Schnell schüttelte er die verführerischen Bilder ab. Sie waren ein Luxus, den er sich nicht
erlauben konnte. Nicht, wenn er die Leidenschaft unterdrücken wollte, die zwischen ihnen
explodiert war. Wichtig war nur, dass er sie beschützte. Vor Kane. Und vor sich selbst.
Gott sei Dank hatte Donatelli den Fall übernommen, seit Kane und Dixie in Iowa gesichtet
worden waren. Sonst hätte er sich etwas ausdenken müssen, denn auf keinen Fall würde er
Risa an Wileys Haken baumeln lassen, nur damit dieses Monster anbiss.
Der Zeitgewinn war allerdings mager. Wenn sie nicht bald einen Durchbruch erzielten,
würde Kane anfangen, Frauen anstelle der Teddybären aufzuschlitzen. Und dann wäre
Donatelli gezwungen, alles zu versuchen, um den Killer zu fangen. Und dabei würde Risa als
Lockvogel an oberster Stelle stehen.
Das musste er um jeden Preis verhindern. Er musste irgendetwas finden – eine Spur, die
ihnen entgangen war, irgendeinen Beweis, der sie zu Kane führte, ehe er wieder morden
konnte.
Ihm fiel nur das Gefängnis ein. Irgendjemand hatte dem Killer bei der Flucht geholfen.
Und er tippte auf die Wärter.
Jemand klopfte an die Tür. Der Wärter, der sie das letzte Mal zu Kanes Zelle begleitet
hatte, trat ein. Duane Levens. Im grellen Licht der Neonlampe an der Decke wirkte sein
Gesicht bleich. Schatten zeigten sich um seine tief liegenden Augen. Unruhig blickte er zu
Trent hinüber.
„Hallo, Duane", sagte Risa.
Trent schoss ihr einen warnenden Blick zu. Es reichte schon, dass sie dabei sein musste.
Aber er wollte sie nicht mehr als notwendig mit in die Sache hineinziehen.
Levens lächelte sie fast scheu an. Dann kniff er die Augen halb zusammen und wandte sich
dem Agent zu. „Sie wollten mich sprechen?"
Trent hatte beschlossen, mit Levens den Anfang zu machen, denn der kräftige Wärter
schien schon beim ersten Mal kooperationsbereit gewesen zu sein. Dennoch verstärkte sich
jetzt das Gefühl, Levens hätte sein Verhalten geändert. Seine gesamte Haltung drückte
Abwehr aus. Trent deutete auf den Platz neben ihm an dem festgeschraubten Tisch. „Setzen
Sie sich bitte."
Der Wärter ließ sich auf den Stuhl sinken und musterte Trent argwöhnisch. Vermutlich
kam er fast um vor Angst, weil das FBI ihn nach einem Gefangenenausbruch, der während
seiner Schicht passiert war, befragen wollte.
Und diese Furcht konnte Trent für sich nutzen. Er kam sofort zur Sache. „Es sieht so aus,
als hätte Kane seine Flucht nicht allein bewerkstelligt, Levens. Wahrscheinlich hat ihm
jemand geholfen. Einer aus dem Gefängnis."
Ein leichter Geruch von Angstschweiß hing auf einmal in der Luft. Der schwere Mann
rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. „Was hat das mit mir zu tun?"
„Genau das ist meine Frage."
Röte kroch dem Mann den Nacken hoch und erreichte seine Wangen. Wut verzerrte sein
Gesicht. „Damit habe ich, verdammt noch mal, nichts zu tun. Nicht das Geringste!"
Trent bemühte sich um eine neutrale Miene. „Nein?"
„Nein! Niemals würde ich einem Abschaum wie Kane helfen."
„Dann würden Sie ihn also auch niemals kurz vor der Abfuhr des Mülls in den
Entsorgungsbereich lassen?"
„Nein."
Trent ließ die Antwort in der Luft hängen. Die meisten schuldigen Menschen würden das
Schweigen nicht ertragen und noch irgendetwas nachschieben. Als wäre ihr Schweigen ein
Beweis für ihre Unaufrichtigkeit.
Levens biss nicht an.
Also musste er es anders angehen. „Worüber haben Sie und Kane sich unterhalten, als er
hier war?"
Wieder stieg Levens die Röte ins Gesicht. „Mit diesem widerwärtigen Mörder unterhalte
ich mich nicht."
„Kane besaß Charme. Wenn man seine Vorgeschichte nicht kennen würde, könnte man ihn
fast nett finden. Sicherlich hat er sich mit den Wärtern unterhalten."
„Mit mir nicht."
„Niemals?"
„Nein."
„Sie meinen, keiner Ihrer Kollegen würde aussagen, Sie hätten sich jemals mit Kane
unterhalten, wenn man sie befragte?"
Levens schien leicht zusammenzuzucken. „Ich habe nur mit ihm gesprochen, wenn es
unbedingt notwendig war."
„Und worüber haben Sie sich dann mit ihm unterhalten?"
Der Wärter machte ein Gesicht, als hätte man ihn in die Ecke gedrängt.
„Zum Beispiel, wenn er sich übers Essen beklagte oder darüber, dass er zu lange in seiner
Zelle eingesperrt wäre. So was eben."
„Und was haben Sie ihm in diesen Fällen gesagt?"
Abscheu zeichnete sich auf Levens' Gesicht ab. Er verzog angeekelt den Mund. „Ich sagte
ihm, er solle zur Hölle gehen. Das Schwein bekam sowieso zu viel Aufmerksamkeit. Mehr,
als er den Frauen zukommen ließ, die er bestialisch umbrachte." Kalter Hass lag in seiner
Stimme.
Interessant. Sein Hass auf Kane schien ehrlich zu sein. Und stark. „Dann mochte Kane Sie
auch nicht sonderlich?"
Levens riss sich zusammen, wieder lag ein vorsichtiger Ausdruck auf seinem Gesicht.
„Nein."
Trent betrachtete den kräftigen Wärter. Es wurde Zeit, ihn ein wenig durchzurütteln, um
herauszufinden, ob er zu erschüttern war. Er öffnete seine Mappe und zog eine dicke Akte
heraus, die weder mit dem Gefängnis noch mit Levens zu tun hatte. Aber das wusste der
Mann natürlich nicht. Er legte sie auf den Tisch und tippte mit dem Finger darauf, als
enthielte sie all die verdammten Beweise, die er benötigte. „Es sieht ganz so aus, als hätte
Kane eine ganze Menge Sondervergünstigungen erhalten – zum Beispiel mehr Zeit außerhalb
der Zelle, Telefonprivilegien, solche Dinge. Meistens während Ihrer Schicht. Haben Sie eine
Erklärung dafür?"
Levens beugte sich vor. „Mir ist egal, was in Ihrer Akte steht. Ich habe Kane nichts
Derartiges zukommen lassen. Ich hätte ihm höchstens eine Kugel in den Kopf verpasst." Er
schlug mit der Faust auf den Tisch. Sein Hass auf diesen Mörder war fast mit Händen
greifbar.
Jemand, der Kane geholfen hatte, würde sich nicht so verhalten. Aber das hieß nicht, dass
er nicht wusste, wer den Killer unterstützt hatte.
„Wenn diese Begünstigungen nicht von Ihnen kamen, von wem dann?"
„Woher soll ich das wissen?"
„War es einer der anderen Wärter?"
„Keine Ahnung. Ich kann Ihnen nicht helfen. Und nun lassen Sie mich, verdammt noch
mal, zufrieden und zu meinem Dienst zurückkehren."
Trent beugte sich vor. „Ich brauche Antworten. Wenn Sie sie mir nicht geben, muss ich sie
mir von jemand anders holen."
„Dann tun Sie das. Ich gehe jetzt." Er schoss hoch.
„Warten Sie, Duane", bat Risa aus ihrer Ecke.
Trent warf ihr einen Blick zu, der sie zum Schweigen bringen sollte.
Abrupt blieb Levens stehen und drehte sich zu ihr um.
„Ich weiß, Sie hassen Kane." Ihre Stimme klang verständnisvoll. „Sie hätten nie versucht,
mir zu helfen, Dixies Hochzeit zu verhindern, wenn Sie der Helfer gewesen wären."
Der Wärter nickte. „Da haben Sie verdammt Recht."
„Aber irgendjemand hat ihm bei der Flucht geholfen. Und diese Person weiß, wo er ist."
Sie stand auf, durchquerte den kleinen Raum und legte die Hand auf Levens' Arm. „Ich
brauche Ihre Hilfe, Duane."
Trent wollte ihr sagen, dass sie sich setzen und sich heraushalten solle. Aber Levens war
stehen geblieben, als sie ihn ansprach. Und ihre Bitte blieb anscheinend nicht ohne Wirkung.
Seine Augen schauten nicht mehr ganz so argwöhnisch. Deshalb schluckte Trent seine Worte
wieder herunter.
„Wer, glauben Sie, hat Kane geholfen, Duane?"
Levens schüttelte den Kopf. „Ich weiß es wirklich nicht, Professor."
Plötzlich fiel Trent die Bemerkung des Direktors wegen der ungenügenden Finanzmittel
wieder ein. „Was ist mit dem Direktor?"
Eine steile Falte erschien auf Levens' Stirn. „Der Direktor? Wieso er?" Sein Blick schoss
zu Trent, als würde er jetzt erst begreifen, wer die Frage gestellt hatte.
Risa nahm den Ball auf. „Als wir am Fluchttag den Direktor draußen vor der Zelle trafen,
beschwerte er sich, dass das Gefängnis nicht genügend Mittel bekäme, erinnern Sie sich? Das
Geld reiche nicht, um den Wärtern Überstunden zu bezahlen oder bessere
Sicherheitsmaßnahmen zu installieren. Sind seine Beschwerden berechtigt?"
Levens nickte leicht. „Wir sind immer knapp mit Personal."
„Was ist mit der Sicherheit?" fragte Risa.
„Ich glaube, seit ich hier angefangen habe, ist nichts mehr verbessert worden. Und das war
vor zehn Jahren."
Trent fiel noch eine besondere Bemerkung des Direktors ein. „Er beschwerte sich, dass die
Finanzmittel an Gefängnisse außerhalb des Staates und in die neue
Hochsicherheitsvollzugsanstalt umgeleitet würden."
Levens lachte auf. „Kein schlechter Witz."
Risa lächelte kaum merklich. „Was ist daran so komisch, Duane?"
„Es geht dem Direktor nicht um die Gelder für andere Gefängnisse."
„Sondern?"
„Das Hochsicherheitsgefängnis ist ihm der eigentliche Dorn im Auge."
„Warum das denn?" wollte Trent wissen.
Levens warf ihm einen herablassenden Blick zu, als wäre die Antwort sonnenklar. „Sehen
Sie sich das Loch hier doch an. Der Kasten fällt uns bald über unseren Köpfen zusammen und
ist das schlimmste Gefängnis im ganzen Staat. Es ist kein Geheimnis, dass der Job hier in
Grantsville für Hanson nur eine Sprosse auf der Karriereleiter bedeuten sollte. Er wollte
Direktor des Hochsicherheitsgefängnisses werden."
„Aber das hat nicht geklappt?"
„Nicht nur das. Einige seiner berüchtigten Insassen werden nächste Woche dorthin
verlegt." Er lächelte bitter. „So bleibt ihm nur ein Loch mit bröckelnden Wänden und einem
Haufen gewöhnlicher Krimineller. Damit kann man auf Partys nicht sonderlich glänzen."
Trent begriff. Die ausbleibenden Gelder. Die nicht erfolgte Beförderung. Die Verteilung
der Gefangenen. Ein Bild formte sich in seinem Kopf. Hanson wollte sich am Ministerium für
eine lange Liste von Kränkungen rächen. Es fehlte nur noch ein Stück im Puzzle. „Kane steht
auf der Liste derjenigen, die überführt werden sollten, stimmt's?"
„Ja."
7. KAPITEL

Trent lenkte den Wagen auf die Zufahrt von Direktor Hansons Haus. Er hielt an und
betrachtete das Gebäude hinter dem Stacheldrahtzaun. Die Dämmerung war schon
hereingebrochen und warf lange Schatten, aber aus den Fenstern fiel Licht. Irgendjemand war
zu Hause. Gut.
Hanson hatte bereits Dienstschluss gehabt, als sie ihr Gespräch mit Levens beendeten, aber
Trent konnte es sich nicht leisten, bis zum nächsten Morgen zu warten. Niemand konnte mit
Gewissheit sagen, wann Kane das nächste Mal zuschlagen würde, aber der Agent war
hundertprozentig sicher, dass es schon bald sein würde.
Sehr bald.
Er warf Risa, die neben ihm im schwach erleuchteten Wagen saß, einen Blick zu.
Sie bemerkte den Blick und drehte sich mit einem bitteren Lächeln um. „Bitte, ich hab gern
geholfen, aus Duane etwas herauszuholen."
Ihr Sarkasmus traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Ohne sie hätten sie von Levens
nichts erfahren. Aber er wollte immer noch nicht diese Hilfe. Nicht von ihr. Sie steckte bereits
bis zum Hals in diesem Schlamassel. Er durfte sie auf keinen Fall noch tiefer hineinziehen. Es
reichte auch so schon. „Falls du erwartest, dass ich mich bei dir bedanke, spar dir deinen
Atem."
„Wenn ich die Luft angehalten hätte, als es um dich ging, wäre ich schon vor einiger Zeit
blau angelaufen und längst tot."
Dann schwieg er. Es gab nichts zu sagen. Nichts, das ihr den Frust nehmen würde, ihren
Zorn auf ihn auslöschen könnte. Zorn, den er verdient hatte.
Ihm blieb nur noch, sich auf Kane zu konzentrieren. Zudem musste er die Menschen
finden, die möglicherweise dem Mörder bei der Flucht geholfen hatten. Und die wussten, wo
er sich jetzt befand. Nur daran durfte er jetzt denken.
„Bleib hier." Er drückte die Wagentür auf und stieg aus. Auf der einen Seite des Tors
befand sich eine Gegensprechanlage mit Telefonhörer. Interessant. Hanson hatte offenbar
nicht nur eine Schwäche für teure Anzüge, sondern neigte auch dazu, sein Haus übertrieben
abzusichern. Trent nahm den Hörer und drückte den Knopf der Gegensprechanlage. Eine
Lampe schaltete sich ein und beleuchtete sein Gesicht für die Überwachungskamera.
„Wer ist da?" quäkte eine weibliche Stimme an seinem Ohr.
„FBI, Ma'am", erwiderte Trent. „Ich muss ein paar Worte mit Mr. Hanson sprechen. Es
geht um den Ausbruch im Gefängnis von Grantsville."
Schweigen war die Antwort, so drückend wie die Nachtluft. Schließlich erklang die
Stimme wieder. „Woher soll ich wissen, dass Sie wirklich vom FBI sind?"
Trent hielt seine Dienstmarke vor die Kameralinse. „Ich bin Special Agent Trent Burnell,
Ma'am."
„Es ist noch jemand bei Ihnen. Wer ist das?"
Er warf einen Blick über die Schulter. Risa kam heran, weiter ins Blickfeld der Kamera.
Ein leichter Lavendelduft hing in der Luft.
Er war mit seinen Gedanken beschäftigt gewesen und hatte nicht mitbekommen, dass sie
ausgestiegen war. Aber nun war ihm ihre Anwesenheit bewusst. Viel zu stark bewusst. Trent
unterdrückte ein Stöhnen. Er hätte wissen müssen, dass sie nicht im Wagen bleiben würde.
„Professor Risa Madseri", zwang er sich zu sagen und zuckte kaum merklich zusammen.
„Sie unterstützt mich in diesem Fall."
Auch wenn er nicht in Risas Richtung schaute, wusste er, dass sie lächelte. Zweifelsohne
gefiel ihr seine Erklärung.
„Es tut mir Leid." Die dünne Frauenstimme holte ihn in die Gegenwart zurück. „Paul ist
nicht zu Hause."
„Wissen Sie, wann er zurück sein wird?"
„Nein."
Trent runzelte die Stirn. Wusste sie es nicht, oder wollte sie es nicht sagen? „Spreche ich
mit Mrs. Hanson?"
Schweigen.
„Ma'am?"
„Ja.“
„Dürfen wir hereinkommen und uns mit Ihnen unterhalten?"
„Nein, ich..." Bebend holte sie Luft. „Ich möchte lieber niemanden hereinlassen. Nicht,
solange Paul fort ist."
„Es handelt sich um eine äußerst dringende Angelegenheit, Mrs. Hanson. Ich muss
wirklich mit Ihnen reden."
„Ich habe nicht gern Besucher im Haus, wenn Paul nicht da ist. Er wird morgen wieder in
seinem Büro sein. Dort können Sie mit ihm sprechen. Bitte."
Trent überlegte, was er tun sollte. Er musterte den stacheldrahtgekrönten Zaun, die
zugezogenen Gardinen vor den Fenstern. Wenn er noch einen Grund gebraucht hätte, sich von
Risa fern zu halten, die Hochzeit abzusagen, dann hatte er ihn hier. Er würde nicht wollen,
dass sie ihr Leben lang in Furcht lebte, weil er sich mit dem Bösen und Gemeinen abgeben
musste. So wie Mrs. Hanson.
„Ist alles in Ordnung, Mrs. Hanson?"
„In Ordnung? Ja, natürlich. Ich möchte Sie nur nicht gern hereinlassen. Es gibt so viele
schlechte Menschen."
Risa trat näher an ihn heran, die Stirn gerunzelt. Er ahnte, was sie dachte, da sie nur einen
Teil des Gesprächs mitbekommen hatte. Trent wandte ihr den Rücken zu. Sie sollte sich nicht
noch mehr Sorgen machen. „Wenn Sie mich hereinlassen, kann ich das Haus für Sie
durchsuchen, damit Sie sich sicherer fühlen."
„Nein. Das ist nicht nötig. Mir geht es gut. Ich will nur niemanden im Haus haben, wenn
Paul nicht da ist. Bitte."
Ihre Beharrlichkeit weckte seinen Argwohn. Hatte Mrs. Hanson grundsätzlich Angst? Oder
fürchtete sie jemand Bestimmten? Vielleicht Dryden Kane? Er griff in seine Jacke und löste
die Sicherung des Schulterhalfters.
Risa, die hinter ihm stand, sog hörbar die Luft ein.
Trent zwang sich, nicht darauf zu achten, sondern suchte Haus und Umgebung mit den
Augen ab. „Ist jemand bei Ihnen im Haus, Mrs. Hanson?"
„Was? Nein. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, ich bin allein. Deswegen möchte ich Sie
auch nicht hereinlassen. Ich kenne Sie nicht. Sie können irgendwer sein."
Trent zwang sich zur Geduld und suchte immer noch nach etwas Verdächtigem, etwas, das
nicht stimmte. „Ich bin Special Agent des FBI, Ma'am. Ich habe Ihnen meine Dienstmarke
gezeigt."
„Woher soll ich wissen, wie eine FBI-Dienstmarke aussieht? Es kann eine Fälschung sein.
Sie könnten einer der Insassen sein, die meinem Mann etwas antun wollen."
Die Sache kam ihm von Minute zu Minute seltsamer vor. Er massierte sich den Nacken.
„Ist es schon vorgekommen, dass jemand Ihrem Mann etwas antun wollte, Ma'am?"
„Also ... nein. Aber es könnte sein. Alles ist möglich. Ich muss jetzt aufhören."
„Es tut mir Leid, Ma'am. Wenn Sie nicht ans Tor kommen, damit ich mich überzeugen
kann, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist, werde ich hineinkommen müssen."
Langes Schweigen.
„Ma'am?"
„Na, schön. Aber nur für einen Moment."
Es klickte, und die Leitung war tot.
Trent hängte den Hörer ein.
„Was ist los?" flüsterte Risa mit dünner, ängstlicher Stimme.
„Vielleicht gar nichts." Er warf einen Blick über die Schulter.
Ein großer Fehler.
Sie sah ihn mit furchtsamem Blick an und wirkte so angstvoll, dass er drauf und dran war,
sie in die Arme zu ziehen. Trent zwang sich, wieder auf das Haus zu schauen.
„Geh zurück zum Wagen und warte dort."
Er spürte, wie sie erstarrte. „Bestimmt nicht! Ich bleibe hier. So leicht wirst du mich nicht
los."
Das hatte er auch nicht erwartet, aber es war immerhin einen Versuch wert gewesen. Ihm
wäre sehr viel wohler zu Mute, wenn sie sicher im Wagen saß, falls irgendetwas schief ging.
Und schlecht war es auch nicht, wenn sie nicht in seiner Nähe war. So konnte er sich besser
konzentrieren.
Nach einer endlos langen Minute öffnete sich endlich die Haustür, und eine spindeldürre
Frau mit braunem Haar trat heraus. Mit kurzen, schlurfenden Schritten kam sie heran. „Hier
bin ich. Sind Sie nun glücklich?"
Glücklich war nicht das richtige Wort. „ Ich bin erleichtert, dass es Ihnen gut geht."
„Das hatte ich Ihnen doch gesagt." Als sie näher kam, fiel das Licht der Straßenlaterne auf
ihr Gesicht. Es war blass und verkniffen, ängstlich.
Mrs. Hanson blieb rund drei Meter vor dem Zaun stehen und musterte sie misstrauisch.
„Geht es um die Bestechungen?"
Bestechungen? Trent hatte alle Mühe, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.
Aber Mrs. Hanson sollte nicht wissen, dass er keine Ahnung hatte. Deshalb nickte er. „Was
können Sie mir darüber erzählen, Mrs. Hanson?"
Risa neben ihm reckte den Hals, als wollte sie kein Wort verpassen.
Abwehrend schüttelte Mrs. Hanson den Kopf. „Wohl nichts, was Sie nicht bereits wissen."
Das bezweifelte Trent. Er wusste nicht das Mindeste. „Bitte, erzählen Sie von Anfang an."
Misstrauisch musterte sie ihn, ehe sie begann. „Vor ungefähr einem Monat fiel Paul auf,
dass ein Serienmörder zusätzliche Fernsehzeit und Freistunden außerhalb der Zelle bekam. Er
hegte den Verdacht, einer der Wärter hätte sich bestechen lassen. Sicher hat er es Ihnen
bereits erzählt."
„Nicht mir persönlich, aber einem anderen Beamten", bluffte er. „Hat Direktor Hanson
Ihnen auch den Namen desjenigen genannt, der das Geld bezahlte?"
Sie seufzte. „Ich bekam zufällig ein Gespräch mit. Der Name war ungewöhnlich, wenn ich
mich recht erinnere. Farrah oder so ähnlich. Eine Frau."
„Farrentina?"
„Ja, genau so."
Farrentina Hamilton bestach also Wärter. Und der Direktor wusste davon. Interessant. Er
musste an Hansons Armani-Anzug und die goldenen Manschettenknöpfe denken. Kein
Wunder, dass der Direktor niemandem von den Bestechungen erzählt hatte. Farrentina
Hamilton war reich. Reich genug, um sich Hansons Schweigen zu erkaufen.
„Nun, vielen Dank für Ihre Hilfe, Mrs. Hanson. Mit Ihrem Mann werde ich ein andermal
sprechen." Er betrachtete die magere Frau, die nervös an einer Haarsträhne drehte. „Ich werde
die örtliche Polizei bitten, ein Auge auf Ihr Haus zu haben."
„Vielen Dank. Gute Nacht, Special Agent." Sie nickte in Risas Richtung. „Gute Nacht,
Professor."
„Gute Nacht", erwiderte Risa.
Trent sah, wie Mrs. Hanson hastig zurück in die Sicherheit ihres Hauses flüchtete. Als sie
die Tür hinter sich geschlossen hatte, blickte Risa ihn an. „Es ist so traurig."
Er war mit seinen Gedanken gerade bei Hanson und Farrentina Hamilton gewesen. „Was
ist traurig?"
Sie deutete auf das verschlossene Haus. „Mrs. Hanson. Die arme Frau. Es ist, als würde sie
Tore und Schlösser benutzen, um sich von der Welt abzukapseln. Und nun sind ihr nur noch
Schatten und Furcht geblieben."
„Vielleicht kann sie nicht anders. Es ist ihre Art zu überleben."
„Dann ist es auch nicht mehr als reines Überleben. Leben kann man so etwas nicht nennen.
In keinster Weise."
Schweigend sah Trent sie an. Ein Leben, das mit dem Bösen verseucht war, war kein
richtiges Leben. Risa wusste nicht, wie Recht sie hatte.
Und er würde alles tun, damit sie es nie erfuhr.

„Bereit?"
Risa nickte Trent zu. Immer noch hielt sie den Blick auf die moderne Villa zwischen den
dichten Bäumen vor ihnen gerichtet und unterdrückte einen Schauer. Sie fühlte sich gar nicht
bereit. Kein bisschen. Sie wollte Farrentina Hamilton nicht kennen lernen und nicht erfahren,
was für ein Mensch diese Frau war, die sich selbst in erotischen Posen fotografierte und diese
Aufnahmen an einen Serienkiller schickte. Aber wenn Farrentina Hamilton wusste, wo Kane
sich befand, wollte sie es erfahren. Und auch wenn die Polizisten, die ihr Anwesen
beobachteten, nirgendwo eine Spur von Kane bemerkt hatten, wollte sie nicht draußen
herumsitzen und warten.
Mit ausgreifenden Schritten marschierte Trent den gewundenen Weg entlang.
Unweigerlich wurde ihr Blick von seiner Gestalt angezogen. Sehnsüchtig schaute sie auf seine
breiten Schultern in dem gut geschnittenen Anzug, die langen, kräftigen Beine. Erst als sie
fürchten musste, über ihre eigenen Füße zu stolpern, hielt sie den Blick auf die Platten
gesenkt. Es half nichts. Sie spürte immer noch jeden Schritt, den er tat, jede Nuance seiner
Bewegung. Es war, als würde ihr Körper sich im Gleichklang mit seinem bewegen.
Als wären sie zwei Teile eines Ganzen.
Welch eine Ironie. Risa schüttelte den Kopf. Sie durfte sich diesen unerfüllbaren Träumen
nicht hingeben. Auch nicht dem Schmerz über den Verlust.
Hart presste sie die Zähne zusammen und vertrieb Trent aus ihren Gedanken. Sie hatte
Wichtigeres zu tun. Farrentina Hamilton zu befragen, Dixie zu finden, alles zu tun, was dabei
helfen konnte.
Nun standen sie vor dem Eingang. Trent drückte auf den Klingelknopf. Ein hoher Ton
hallte durchs Haus.
„Charmant", murmelte Trent vor sich hin.
Unter anderen Umständen hätte Risa gelächelt und ihren Senf dazugegeben. Jetzt erstarben
ihr die Worte auf den Lippen.
„Ich werde die Fragen stellen, Rees. Verstanden?"
„Jawohl, Sir", erwiderte sie sarkastisch, war im Grunde jedoch erleichtert. Duane kannte
sie und wusste, dass sie einen gewissen Einfluss auf ihn hatte. Farrentina hingegen hatte sie
noch nie getroffen. Und sie wollte sie auch nicht näher kennen lernen.
Nach einer Minute blinkte über ihren Köpfen ein Licht auf, und Farrentina selbst öffnete
die massive Eingangstür.
Sie sah älter aus als auf den Fotos. Ausgeprägte Falten umgaben Augen und Mund. Ihre
Augen blickten, als hätten sie schon zu viel gesehen. „Da haben wir also den oberschlaue n
Bullen und die Schwägerin. Was verschafft mir das zweifelhafte Vergnügen?" Sie hatte eine
sanfte, rauchige Stimme, und ihr flapsiger Kommentar wirkte daher so unpassend wie Flüche
aus dem Mund einer Vierjährigen.
Offensichtlich hatte sie über Kane bereits von ihnen gehört. Risa erstarrte, schaute hinüber
zu den dicht stehenden Bäumen und wieder zum Haus. War Kane vielleicht hier? Konnte es
sein, dass Farrentina ihn versteckte?
„Ich brauche Antworten auf ein paar Fragen", erwiderte Trent ruhig.
Farrentina machte eine einladende Handbewegung. Dabei klingelten die kleinen
Glöckchen an ihrem roten Seidenmorgenmantel, den sie übergeworfen hatte wie der Matador
seinen Umhang. „Na schön, kommen Sie herein, wenn es sein muss. Ich bin sicher, ihr zwei
seid weitaus interessanter als die anderen Cops, mit denen ich bislang gesprochen habe."
Schwungvoll drehte sie sich um, ließ Risa und Trent einfach an der Tür stehen und stolzierte
mit schwingenden Hüften durch die weite Eingangshalle.
Trent schob Risa hinein und schloss die Tür hinter ihnen. Aufmerksam schaute er sich um,
als erwarte er jeden Moment, dass Kane irgendwo auftauchte.
Risa rückte ein wenig dichter an ihn heran und sah sich ebenfalls um. Weißer Marmor
bedeckte den Fußboden und die Wände. An der hohen Decke spendete ein ausladender
Kronleuchter funkelndes Licht. In der Luft hing ein auffälliger Duft nach einem
Reinigungsmittel mit Zitronenzusatz.
Unwillkürlich fiel Risa Kanes Sauberkeitsfimmel ein. Ihm würde es hier garantiert
gefallen. Leer. Steril. Zweifelsohne wusste Farrentina, was er mochte. Hatte sie
möglicherweise die ganze Einrichtung auf ihn abgestimmt, falls er einmal hierher kommen
würde?
Ein Schauer überlief sie. Sie atmete tief durch und folgte Trent und Farrentina in ihrem
roten Seidenmorgenmantel in einen angrenzenden Raum. Er war nicht wesentlich gemütlicher
als die Eingangshalle. Nackte weiße Wände, ein weißer Teppich und weiße Ledermöbel – das
Zimmer bot den Charme einer Eishöhle.
Farrentina schwebte zur üppig bestückten Hausbar und wedelte mit einer Wodkaflasche.
„Einen Drink?"
Trent schüttelte den Kopf. „Nein danke."
Mit halb zusammengekniffenen Augen blickte sie seine Begleiterin an. „Und Sie?"
Risa hatte ihrer Mutter zu oft ins Bett helfen müssen, um noch Geschmack an Alkohol zu
finden. „N ein, vielen Dank."
Farrentina hob ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen, verzog verächtlich den Mund und
griff nach einem Glas. „Nun, wenn ich schon wieder langweilige Fragen über mich ergehen
lassen muss, brauche ich einen Drink in der Hand." Sie schenkte kräftig ein. Nachdem das
Glas fast bis zum Rand gefüllt war, schlenderte sie zu einem der Sessel und ließ sich
hineinfallen. „Wollen Sie sich setzen oder in der Gegend herumstehen?"
Trent wählte einen Sessel dem Eingang gegenüber. Risa setzte sich auf die Couch daneben.
Farrentina beäugte sie beide, hob das Glas an die Lippen und trank ein paar große
Schlucke, ihre Hand zitterte leicht.
„Sie wollen also etwas über meine Beziehung zu Dryden wissen?" Eindringlich fixierte sie
Trent. „Ob ich ihn gesehen habe und weiß, wo er sich befindet? Und ob er seine kleine Frau
dabeihat oder nicht? Habe ich richtig geraten?"
Trent antwortete nicht, sondern sah sie nur interessiert an und wartete ab.
„Also, ich weiß nicht, wo er ist." Offensichtlich ertrug Farrentina das Schweigen nicht
lange. Herausfordernd sah sie Trent an, als hätte er sie der Lüge bezichtigt. „Ich habe ihn
nicht gesehen, und ich nehme an, die wehleidige kleine Schlampe ist bei ihm, nach allem, was
ich von der Polizei weiß."
„Haben Sie Kane pornografische Fotos ins Gefängnis geschmuggelt?"
Sichtlich erstaunt schaute sie ihn an. „Ist das ein Verbrechen?"
„Es ist nichts, für das sich das FBI interessiert."
„Dann – ja, das habe ich. Warum fragen Sie?"
Trents Gesicht blieb ausdruckslos. „Haben Sie ihm bei den Wärtern Sonderbehandlungen
erkauft? Mehr Stunden außerhalb der Zelle? Längere Fernsehzeiten?"
„Weshalb interessieren Sie sich dafür?" Trotzig schob sie das Kinn vor, aber ihre
Unterlippe bebte kaum merklich. Anscheinend war sie längst nicht so selbstsiche r, wie sie
sich gab. Die schlanken Finger mit den blutrot lackierten Nägeln umklammerten fest das Glas.
„Wen haben Sie für diese Privilegien bezahlt?"
„Warum sollte ich es Ihnen verraten?"
„Ich will jeden dingfest machen, der bei Kanes Flucht geholfen hat. Sie können entweder
kooperieren und mir den Namen der Person nennen, oder aber Sie persönlich tragen die
Folgen. Dann müsste ich nämlich annehmen, dass Sie ihn aus dem Gefängnis geholt haben."
Farrentina schluckte und funkelte ihn böse an. „Wenn es mir mö glich gewesen wäre, hätte
ich es getan. Dryden gehörte nicht in dieses Gefängnis. Eine solche Behandlung hat er nicht
verdient. Es war alles die Schuld seiner ersten Frau, wissen Sie. Diese Schlampe. Sie hat ihn
dazu gebracht, all dies zu tun. Es ist nicht fair. Sie ist jetzt tot. Es ist vorbei. Dryden sollte
nicht sein Leben lang für den Kummer bezahlen, den sie ihm angetan hat."
Risa drehte sich der Magen um. Farrentina hatte alles geschluckt, was Kane ihr an
Entschuldigungen aufgetischt hatte. Genau wie Dixie.
„An wen haben Sie das Geld für diese Vergünstigungen bezahlt?" bohrte Trent nach.
„Ich erinnere mich nicht mehr an ihre Namen."
Trent streckte ihr ein Blatt Papier entgegen. Von ihrem Platz aus konnte Risa sehen, dass
es sich um eine Namensliste handelte. „Welchen dieser Wärter haben Sie Geld gegeben?"
Farrentina überflog die Aufstellung. „Caldwell, Franklin und Bollinger."
„Nur diesen dreien?"
„Ja."
Erleichtert seufzte Risa auf. Sie hatte nie geglaubt, dass Duane Kane geholfen hatte. Er
hasste den Mörder abgrundtief. Aber sie war erleichtert zu wissen, dass sie sich nicht
getäuscht hatte.
„Sie und Detective Wiley hätten Informationen austauschen sollen. Er schien von jeder
meiner Zahlungen des letzten Jahres zu wissen, und auch, an wen ich gezahlt habe."
„Wiley?" Trent konnte seine Überraschung nicht verbergen. Auch Risa traute ihren Ohren
kaum.
Woher wusste der Detective, dass Farrentina Wärter bestochen hatte? Und warum hatte er
ihn davon nicht unterrichtet?
Neugierig blickte er Farrentina an. „Wohe r hat Wiley diese Informationen?"
„Fragen Sie mich nicht. Ich habe es ihm jedenfalls nicht erzählt. Und ich bezweifle, dass
die Wärter es hinausposaunen." Farrentina versuchte, lässig mit den Schultern zu zucken, aber
es wirkte eher kläglich. „Der Einzige, der sonst noch davon wusste, war Dryden. Er könnte es
Wiley erzählt haben."
Beinahe hätte Risa laut aufgekeucht. Fragen schwirrten ihr durch den Kopf, die sie zutiefst
beunruhigten. Steckte Wiley mit Kane unter einer Decke? Rührte daher sein Hass auf sie?
Trent neigte den Kopf ein wenig zur Seite und musterte Farrentina prüfend. „Hat Kane
Ihnen gegenüber von Detective Wiley gesprochen, Miss Hamilton?"
„Manchmal hat er über Cops geredet. Aber Namen erwähnte er nie. Er war mit keinem
befreundet, falls Sie das meinen." Farrentinas Blick richtete sich auf Risa. „Ich wette, Ihre
Schwester hat von den Privilegien gewusst."
Risa richtete sich auf. „Dixie ist nicht darin verwickelt", widersprach sie in scharfem Ton.
Im selben Moment wurde ihr klar, wie absurd es sich anhörte.
Genau das drückte Farrentinas Gesicht auch aus. „Sie hat doch Dryden geheiratet, nicht
wahr? Und sie ist jetzt bei ihm. Vielleicht hat Ihre Schwester jemanden bestochen, damit er
ihm bei der Flucht hilft. Sie wissen schon, das treue kleine Eheweib..."
Wütend biss Risa sich auf die Lippen. Sie wollte Farrentina sagen, dass Dixie niemals Geld
dafür bezahlen würde, damit ein Mann wie Kane freikam. Denn ihre Schwester war nicht wie
diese Frau. Aber ihr blieben die Worte im Halse stecken.
„Was sagen Sie dazu, dass Kane nicht Sie, sondern Dixie geheiratet hat?" durchbrach
Trents Stimme das drückende Schweigen.
Farrentina schien plötzlich in sich zusammenzufallen. Ihr Gesicht wirkte ältlich. Trotzdem
zuckte sie mit den Schultern, als mache es ihr nichts aus, dass Kane eine andere zur Frau
genommen hatte.
„ Dryden und mich hält ein besonderes Band zusammen. Uns verbindet etwas sehr viel
Stärkeres als ein weißes Kleid und der Wisch vom Standesamt."
Trent hob eine Augenbraue. „Was denn?"
„Die Chemie. Glühende Leidenschaft. Nennen Sie es, wie Sie wollen." Farrentina lächelte
anzüglich. Doch die falsche Selbstsicherheit unter der Fassade bekam Risse und bröckelte wie
poröser Stein bei strengem Frost. Ihre geschwollenen, leicht geröteten Augen konnten nicht
verbergen, dass sie verletzt war. „Wir haben uns andere Versprechen gegeben."
Risa wandte den Blick ab. Sie wollte nicht wissen, dass diese Frau unter ihrer Fassade auch
ein Herz hatte. Ein verwundbares Herz. Sie wollte sie streitlustig, stark und ebenso böse wie
Kane. Und nicht als bemitleidenswertes Vögelchen wie Dixie.
„Was ist los mit Ihnen, Schätzchen? Eifersüchtig? Dryden meint, Sie wären scharf auf
ihn."
Purer Ekel überschwemmte Risa.
„Und er ist scharf auf sie, nicht wahr, Farrentina?"
Trents Worte lenkten Farrentinas Aufmerksamkeit wieder auf ihn. „Scharf auf die da?" Sie
umklammerte das schwere Kristallglas so fest, dass ihre Knöchel weiß durch die Haut
schimmerten. „Sie wissen nicht, was Sie da reden!"
„Ich kenne Kane. Hat er es Ihnen verheimlicht? Ich bin derjenige, der ihn das erste Mal
erwischt hat."
Farrentinas Mund wurde zu einer messerscharfen Linie. Sie bedachte Risa mit einem
hässlichen Blick, bevor sie den Agent wieder anschaute.
„Er will Risa, nicht wahr, Farrentina? Nur deswegen hat er Sie gebeten, dass Sie sich die
Haare färben. Er wollte, dass Sie aussehen wie sie. Wann immer Sie ihn auch besuchten,
wann immer er Sie auf dem Foto in der roten Reizwäsche anschaute, tat er nur so, als wären
Sie gemeint."
Farrentinas Blick heftete sich auf Risas Haar. Panik stand in ihren Augen. „Nein. Er liebt
mich. Dryden liebt mich!" flüsterte sie.
Trent beugte sich vor. „Kane hat Sie nur benutzt. Als Ersatz für Risa."
Farrentina schüttelte heftig den Kopf. Ihre Augen schimmerten feucht.
„Er war heute Morgen in Risas Haus", setzte Trent nach.
„Nein!" keuchte sie und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit. „Die verdammte Polizei
war im ganzen Gelände ausgeschwärmt. Wären sie nicht hier gewesen, wäre er zu mir
gekommen." Tränen strömten ihr nun über die Wangen. „Er wäre zu mir gekommen ..."
Risa schloss die Augen. Sie wusste nicht, welcher verschlungene Weg Farrentina zu Kane
geführt hatte, aber sie war sicher, dass es ein trauriger Weg war, voller Misshandlungen und
Vernachlässigung.
Der gleiche einsame Weg, den Dixie gegangen war.
Schuldgefühle und Bedauern breiteten sich in ihr aus. Wenn sie doch nur in der Zeit
zurückgehen, Entscheidungen ändern könnte. Sie hätte ihre Schwester verteidigen und sich
noch mehr bemühen müssen, ihr zu zeigen, dass sie ein ganz besonderer Mensch war.
Vermutlich hätte Dixies Leben dann einen anderen Verlauf genommen.
Und vielleicht befände sie sich dann jetzt nicht in Kanes tödlicher Umarmung.
8. KAPITEL

Rastlos wanderte Trent in seinem Hotelzimmer auf und ab und versuchte, das Rauschen der
Dusche hinter der verschlossenen Badezimmertür zu ignorieren. Nachdem er und Risa
zurückgekommen waren, hatte er Donatelli über den Fortschritt der Ermittlungen informiert.
Immer und immer wieder waren sie die Gespräche mit Duane Levens und Farrentina
Hamilton durchgegangen. Und er hatte sich die Berichte über Dixies Wagen und Risas Haus,
die man ihm ins Hotelzimmer gebracht hatte, gründlich durchgelesen. Morgen würde er
Wiley zur Rede stellen, und auch die drei Wärter, die Farrentina Hamilton bestochen hatte.
Anschließend wollte er mit Hanson sprechen.
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und strich sich dann die Haare zurück. Es gab
einen Killer auf der Flucht, eine unbekannte Person, die ihm geholfen hatte zu entfliehen, und
damit verbunden einen Haufen Arbeit, die auf ihn wartete. Trotzdem schaffte er es einfach
nicht, sich von den Geräuschen hinter der Badezimmertür abzulenken.
Es war ein Fehler gewesen, darauf zu beharren, dass Risa heute Nacht in seinem Zimmer
schlief. Aber jedes Mal, wenn er so weit war, die Rezeption anzurufen und ihr ein eigenes
Zimmer zu bestellen, musste er an Kanes Scheußlichkeiten denken. Dann kam es ihm
unerträglich vor, Risa auch nur eine Tür weit entfernt zu wissen.
Jetzt wurde das Wasser abgestellt. Ein Rascheln war durch die dünne Tür zu hören.
Sicherlich hatte sie gerade den Duschvorhang beiseite geschoben und begann, sich jetzt
abzutrocknen.
Bei der Vorstellung, wie das flauschige Badelaken über ihre Haut strich, konnte er kaum
ein Stöhnen unterdrücken. Sie die ganze Nacht über in seinem Zimmer zu haben – dicht
genug, dass er sie atmen hörte, ihren Duft roch, ihr ausgebreitetes Haar auf dem Kopfkissen
sah, wenn sie schlief –, würde die reinste Tortur werden. Aber wenn er sie beschützen wollte,
hatte er keine andere Wahl.
Er griff sich ein Kissen und eine Extradecke aus dem Schrank und warf beides in einen der
Sessel. Nicht gerade sehr bequem, doch was blieb ihm anderes übrig? Mit Risa in einem Bett
zusammen zu schlafen kam nicht infrage.
Er hatte gerade Pistole und Handy in Reichweite auf dem Tisch abgelegt, als ein anderes
Geräusch durch die Tür drang.
Ein leises Weinen.
Ihm zog sich der Magen zusammen. Im nächsten Moment stand er vor der Badezimmertür
und hob die Hand, um anzuklopfen.
Das Schluchzen verstummte kurz, setzte dann jedoch wieder ein.
Seine Hand blieb mitten in der Bewegung in der Luft hängen. Was tat er hier eigentlich?
Wollte er wirklich ins Badezimmer reiten wie der sprichwörtliche weiße Ritter? Sie in die
Arme ziehen? Ihr die heißen Tränen fortküssen?
Schließlich wusste er doch, dass er ihr den Schmerz nicht nehmen würde und sie nicht
trösten konnte. Er brauchte sich nur an das zu erinnern, was heute Morgen in diesem Zimmer
geschehen war. Trent war, als schmeckte er ihre süßen Lippen, spürte ihre heiße nackte Haut
an seiner. Aber er hatte auch nicht den verwundeten Blick vergessen, als er endlich wieder zu
Verstand gekommen war und sich von ihr gelöst hatte.
Langsam ließ er die Hand sinken. Er kannte nur einen Weg, sie zu trösten – indem er sie in
die Arme nahm, ohne ihr zu nahe zu kommen. Denn sobald sich ihre Körper eng aneinander
schmiegten, würde er sich nicht mehr beherrschen können.
Am Ende musste er sie doch wieder verletzen.
Er legte die Stirn an den Türrahmen und lauschte.
Langsam verklangen ihre Schluchzer. Er zwang sich, zum Sessel ans andere Ende des
Zimmers zu gehen. Ein paar lange Minuten später öffnete sich die Badezimmertür, und Risa
tappte barfuß in den Raum.
Sie schaute ihn aus geröteten Augen an. Ihr kurzes Flanellnachthemd ließ sie noch
zerbrechlicher erscheinen. Haarsträhnen klebten an ihren Wangen, feucht von den Tränen.
Er strich ihr das Haar aus dem zarten Gesicht. „Ist alles in Ordnung?"
Tränen wallten in ihren Augen auf.
Er biss sich auf die Zunge. Welch eine dumme Frage! Natürlich war nicht alles in
Ordnung. Sie würde erst wieder zur Ruhe kommen, wenn er Kane gefunden und ihr Dixie heil
und gesund zurückgebracht hatte. Dann würde er aus ihrem Leben verschwinden, damit ihre
Wunden heilen konnten.
„Es tut mir Leid, Rees."
Sie schluckte und schlang die Arme um ihren Oberkörper, als wäre ihr kalt. „Mir auch,
Trent. Alles. Wegen uns. Kane. Dixie. Farrentina."
„Farrentina?"
Sie nickte. Ihre Lippen bebten, aber sie weinte nicht. „Sie ähnelt meiner Schwester so sehr.
Genau wie Dixie ist sie entsetzlich auf die Zuneigung anderer angewiesen. Ich vermute, ihr
Leben hat mehr aus Verletzungen und Kränkungen bestanden, als ihr glückliche Zeiten
beschert." Mit hängenden Schultern ging sie zum Bett hinüber und ließ sich auf die Kante
sinken. Erschauernd schlang sie die Arme noch fester um sich. „Ich frage mich, ob Farrentina
eine große Schwester hat. Die sie verlassen hat, so wie ich Dixie verließ. Eine Schwester, die
ihr Leben positiv hätte verändern können."
Am liebsten hätte er sie in die Arme gezogen, um ihr die Schuldgefühle zu nehmen. „Du
warst damals noch ein Kind, Rees."
„Ich war zehn Jahre alt."
„Ein Kind. Und du lebtest in einer unerträglichen Situation. Das Bedürfnis, beim leiblichen
Vater in einem schönen Zuhause zu leben, ist doch etwas ganz Natürliches. Und du hast die
Chance ergriffen. Dafür musst du dich nicht schuldig fühlen."
„Ich hätte wissen müssen, wie allein sie sein würde. Denn ich wusste, wie es in diesem
Haus war und wie es sein würde, wenn ich fort war. Trotzdem bin ich gegangen. Ich habe sie
allein zurückgelassen." Sie schüttelte den Kopf, ein Frösteln schüttelte sie. „Dixie hatte von
da an niemanden mehr."
„Es ist nicht deine Schuld, Rees."
„Nein? Sie wirft mir vor, sie im Stich gelassen zu haben. Das hat sie schon immer getan.
Sie hat sich mit Kane eingelassen, um mich zu bestrafen. Er brauchte sie nur noch davon zu
überzeugen, dass er sie liebte. Sie war hungrig nach Liebe, ein leichtes Opfer für dieses
Monster."
„Rees, niemand erwartet von einer Zehnjährigen, dass sie die Rolle der Mutter und des
Vaters übernimmt. Das weißt du ebenso gut wie ich."
„Vielleicht."
„Eindeutig. Wenn es jemand anderem passiert wäre, würdest du meiner Meinung sein."
Sie schaute auf ihre verschränkten Arme. „Du hast wohl Recht. Ich möchte so gern all dies
ungeschehen machen. Alles wieder gutmachen."
Sie wollte immer alles richtig machen. Zuerst bei ihrer Mutter und ihrer Schwester, dann
mit ihm. Leider liefen manche Dinge falsch. Und einigen Menschen konnte man nicht helfen.
Nicht mehr. „Manchmal geht es nicht."
Mit feuchten Augen blickte sie ihn an. Aber sie weinte nicht. Dann bemerkte er
Entschlossenheit in ihrem Blick. „Ich kann das nicht glauben, Trent. Ich will es einfach nicht
glauben."
Natürlich konnte sie es nicht. Nicht Rees. Genau das machte sie aus.
Trent musterte sie. Sie war eine verletzliche, zarte Frau und gleichzeitig so stark. Er griff
um sie herum und schlug die Bettdecke auf. Dann drückte er sie sanft aufs Bett und deckte sie
zu. Nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, schlüpfte er zu ihr.
Sie brauchte ihn. Und wenn das bedeutete, dass er sie in den Armen hielt, bis sie endlich
einschlafen und ihre Sorgen und Nöte für eine Weile vergessen konnte, würde er es tun.
Sie drehte sich auf die Seite und schmiegte sich dicht an ihn. Trent schloss die Augen und
lauschte ihrem Atem, der nach und nach ruhiger, regelmäßiger wurde.

Risa genoss Trents Nähe. Seine Wärme hüllte sie ein, und endlich hörte sie auf zu zittern.
Bedauern und Schmerz wichen jedoch nicht. Im Gegenteil. Beides war sogar noch schlimmer
geworden.
Jetzt, da Trent so dicht bei ihr war und sie in den Armen hielt, konnte sie immerzu nur
daran denken, was sie verloren hatte und niemals wiederbekommen würde.
Sie versuchte, den Zorn heraufzubeschwören, der die letzten beiden Jahre ihr ständiger
Begleiter gewesen war, ihr einziger Schutz vor dem Schmerz.
Vergeblich. Trent hatte so besorgt ausgesehen, als sie das Badezimmer verließ. Er hatte
verständnisvoll zugehört, sie zärtlich in den Arm genommen, als würde sie ihm etwas
bedeuten.
Wie sollte sie da zornig auf ihn sein?
Alles, was er getan hatte, von der Auflösung der Verlobung vor zwei Jahren bis zu seinem
Rückzug heute Nachmittag, hatte er schließlich aus dem Gefühl heraus getan, sie beschützen
zu müssen.
Risa atmete einmal tief durch und drängte die aufsteigenden Tränen zurück. Sie konnte
nicht wütend auf ihn sein, und genau das machte ihr Angst. Denn wenn sie keinen Zorn
aufbrachte, würden ihr nur ein gebrochenes Herz und niedergerissene Mauern bleiben, die
keinen Schutz mehr boten.

Das Klingeln des Handys riss Trent aus einem unruhigen Traum. Er sprang aus dem Bett und
suchte im Dunkeln nach dem Telefon auf dem kleinen Tisch am Fenster. Dann fühlte er den
kalten Kunststoff unter den Fingern.
Risa war inzwischen auch wach geworden und setzte sich aufrecht hin. Im Halbdunkel des
Raums konnte er deutlich das Weiße in ihren Augen sehen.
Er versuchte, sie nicht anzuschauen, seine Beunruhigung nicht zu zeigen. Telefonanrufe
mitten in der Nacht bedeuteten selten etwas Gutes. Schnell holte er tief Luft, klappte das
Handy auf und hob es ans Ohr.
„Burnell."
„Trent? Hier ist Donatelli. Wir haben eine Leiche gefunden. Eine Frau. Ich brauche dich
am Tatort."
Furcht packte ihn. Unwillkürlich schaute er zu Risa hinüber und konnte den Blick nicht
von ihr lösen. „Wer ist sie, Vince?" Er hielt den Atem an, wartete auf die Antwort.
„Bislang noch nicht identifiziert. Der Leichnam wurde gerade gefunden. Ich bin auch erst
vor einer Minute angerufen worden."
„Wo ist sie?"
„Das ist das Interessante an der Sache. Die örtliche Polizei ist heute Nacht jede halbe
Stunde Streife gefahren, und er hat sie so hingelegt, dass jeder sie sofort sehen muss. Ich weiß
nicht, wie zum Teufel er herein- und wieder herausgekommen ist, ohne dass er bemerkt
wurde."
„Wo ist sie, verdammt noch mal?" rief Trent genervt.
„Auf der Veranda von Risa Madsens Haus."
9. KAPITEL

Im dämmrigen Innenraum von Trents Mietwagen herrschte eine bedrückende Stimmung. Risa
hatte das Gefühl, als schnürte sie ihr die Luft ab. Das Blut rauschte ihr in den Ohren.
Dixie.
Trent hatte sie nicht mitnehmen wollen. Sie wusste, wie schwer es ihm gefallen war, sie
einsteigen zu lassen. Aber sie wollte mitfahren, um all das mit eigenen Augen zu sehen. Sie
musste es wissen. Und letztendlich konnte er sie auch nicht aus den Augen lassen. Deshalb
saß sie nun neben ihm, während sie durch die Dunkelheit rasten, auf dem Weg zu einem
Tatort. Zu einer Frauenleiche.
Dixie.
Trent bog langsam in die Straße ein, die zu ihrem Haus führte. Feuchtigkeit hing in der
Luft. Blitzende rote und blaue Lichter der Streifenwagen empfingen sie. Jeweils ein Fahrzeug
blockierte den Zugang zu ihrem Haus von beiden Seiten. Trent brachte den Wagen zum
Stehen und zeigte den Polizisten seine Dienstmarke. Dann wurden sie von den Uniformierten
hindurchgewunken.
Gelbes Plastikband sperrte Risas Haus ab. Die Fenster reflektierten die blinkenden Lichter
der Streifenwagen, und starke Scheinwerfer beleuchteten die Zufahrt, den Weg und die
Veranda.
Dixie.
Risa konnte von ihrem Platz aus den Leichnam nicht sehen, aber sie wusste, dass er vor
ihrem Haus lag. Detectives und Spezialisten drängten sich auf der schmalen Veranda und der
Treppe. Blitzlicht flammte auf, als der Polizeifotograf seine Bilder schoss.
Trent stellte den Motor ab und griff zur Tür. „Bleib hier. Ich bin gleich zurück."
Benommen starrte sie hinaus.
„Hast du mich gehört, Rees? Bleib hier sitzen. Ich komme zurück und hole dich."
Wie betäubt saß sie da. Selbst mit dem Kopf zu nicken fiel ihr unendlich schwer.
Trent musterte ihr bleiches Gesicht, versuchte, ihre Gedanken zu lesen, ihre Gefühle zu
erforschen. Schließlich streckte er die Hand aus und strich ihr sanft eine Haarsträhne aus der
Stirn. „Bleib hier im Wagen, Rees. Vielleicht ist sie es ja gar nicht."
„Und wenn sie es doch ist?" krächzte sie. Die eigene Stimme klang ihr völlig fremd in den
Ohren.
„Du wirst es durchstehen, Rees. Ich verspreche dir, du überlebst es."
Sie würde überleben. Ja, sie würde überleben, während Dixie das Böse ertragen musste.
Genau wie damals, als sie noch Kinder gewesen waren.
Risa sank im Sitz zusammen. Sie war dreißig. Dreißig Jahre alt. Und Dixie war
dreiundzwanzig. Noch immer hatte sich nichts geändert.
„ Ich komme gleich zu dir zurück." Trent drückte die Tür auf und stieg aus. Kühle Luft
drang herein, der Duft von Fichten und Flieder, würzig und süß. Die Tür schlug hinter ihm zu.
Einen Moment lang saß Risa nur da und zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Schreckensbilder von wirrem Haar und ausdruckslosen toten Augen wirbelten ihr durch den
Kopf. Kanes eiskalter Blick. Der Gedanke, dass Dixie das Opfer seiner Gemeinheiten
geworden war, jagte ihr Wellen der Panik durch den Körper.
Egal, was sie Trent versprochen hatte, sie konnte nicht im Wagen sitzen bleiben.
Horrorbilder oder nicht, sie musste mit eigenen Augen sehen, ob die Tote Dixie war. Sie
konnte nicht denken, nicht mehr richtig atmen, bevor sie es nicht wusste.
Entschlossen packte sie den Griff, spürte das feste, kalte Metall unter den Fingern und stieß
die Wagentür auf. Ihr Herz hämmerte wild. In ihren Ohren summte es. Sie mühte sich heraus
und zwang ihre Beine, sie zu tragen.
Ein Schritt. Zwei Schritte. Über den Rasen auf das grelle Licht zu, hin zu ihrer Veranda.
Das feuchte Gras ließ jeden Schritt noch mühsamer erscheinen. Der Duft des Frühlings
schloss sie ein. Wenn Dixie tot war, würde der Frühling für Risa nie wieder Aufbruch, Beginn
neuen Lebens bedeuten, das wusste sie.
Drei Schritte. Vier. Das Summen in ihrem Kopf wurde lauter, übertönte die murmelnden
Stimmen, das Hämmern ihres Herzens. Sie ging weiter. Über das Gras. Über die Betonplatten.
Zu den versammelten Leuten. Näher und näher zur Veranda.
Näher und näher dem Tod.
Dixie.
Süßlicher Fleischgeruch drang ihr in die Nase. Der Gestank des Todes. Risa trieb sich
voran.
Ihr Herz schlug, als wolle es zerspringen. Die Lungen schienen nicht genug Luft
aufzunehmen. Sie machte den letzten Schritt auf die Veranda zu, schob sich zwischen den
Polizisten und Technikern hindurch.
„Rees." Wie aus dem Nichts tauchte Trent neben ihr auf, griff sie am Arm und wollte sie
wegziehen.
Die Brust der Frau war rot von Blut. Mit ausgebreiteten Armen und Beinen lag sie am
Boden, die braunen Haare wirr im Gesicht. Ihre toten Augen schienen bis in Risas Seele zu
starren.
Farrentina Hamilton.
Entsetzen und Erleichterung zugleich überschwemmten Risa. Sie schwankte, ihr Magen
zog sich zusammen. Starke Arme packten sie, zogen sie zur Seite.
Fort von dem Körper, von dem Geruch. Fort vom Tod.
Trent. Sie klammerte sich an ihn, barg ihr Gesicht an seiner Schulter und schluchzte
bitterlich.
Trent hielt Risa so lange fest, bis sie aufhörte zu zittern. Er wusste, dass er sie nicht allein
im Wagen hatte zurücklassen dürfen. Wenn er einen Beamten gebeten hätte, bei ihr zu
bleiben, wäre sie gar nicht erst bis zur Veranda gekommen. Sie hätte Farrentinas geschundene
Leiche nicht gesehen. Wäre nicht Zeugin von Kanes Grausamkeit geworden.
Er presste die Wange an ihr Haar und atmete ihren Duft ein. Über ihren Kopf hinweg sah
er, wie Donatelli Anweisungen gab. Der FBI-Agent war nun sicher bereit, alles einzusetzen,
um Kane zu fangen. Auch Risa als Köder.
Trent beschloss, mit allen Mitteln zu versuchen, ihn so lange wie möglich davon
abzuhalten. Und dazu musste er ihm eine Alternative bieten. Er warf einen Blick auf Wiley,
der gerade den Tatort abschritt. Jetzt war es an der Zeit, Farrentinas Kommentare ins Spiel zu
bringen und dem Polizisten auf den Zahn zu fühlen.
„Ich muss gehen, Rees."
Sie nickte, ließ ihn aber nicht los.
Er zwang sich, sie mit sanfter Gewalt von sich zu schieben, und sah ihr in die Augen.
Sie blickte hoch zu ihm. „ Ich komme schon zurecht." Ihre Stimme klang fest, aber ihre
weit geöffneten Pupillen und die kalkweiße Haut verrieten etwas anderes.
Trent gab ihr einen Kuss auf die kühle Stirn. So ungern er sie aus den Armen ließ, er
musste es doch tun. Er hatte seinen Job zu erledigen. Musste Kane finden. Dixie. Und
jemanden, dem er Risa in der Zwischenzeit wirklich anvertrauen konnte, damit sie Schutz
hatte.
Sein Körper weigerte sich noch, sie freizugeben. „Ich werde dich von einem Beamten ins
Hotel bringen lassen. Er wird dann vor deiner Tür Wache stehen."
Sie schluckte und nickte.
„Ich kann nicht genau sagen, wann ich zurück bin. Ich möchte mir hier die Beweise
ansehen und an der Autopsie teilnehmen."
„Dann wird es wohl eine Weile dauern."
„Ja."
Sie atmete tief durch, als wolle sie sich wappnen.
Am liebsten hätte er sie auf der Stelle irgendwohin gebracht, wo sie sicher war und er sie
selbst bewachen konnte.
Risa schob das Kinn vor. „Chief Rook wollte mir wegen Dixie ein paar Fragen stellen.
Kannst du ihm sagen, er möchte bitte ins Hotel kommen?"
„Ruh dich aus, Rees. Du musst dich erst wieder ein wenig erholen."
„Und Kane Zeit lassen, Dixie das anzutun, was er Farrentina angetan hat? Nein. Ich muss
tun, was ich kann, um ihn zu stoppen. Und du ebenfalls."
„Na gut." Trent seufzte. Es hatte keinen Sinn, sich mit ihr zu streiten. Sie würde tatsächlich
alles tun, wenn ihre Schwester dadurch auch nur die geringste Chance bekam, wieder heil
nach Hause zu kommen. Und das konnte er ihr nicht verdenken. Er hatte das Gleiche für
Menschen getan, die er nicht einmal kannte. „Ich werde es ihm sagen."
„Danke." Sie brachte ein bebendes Lächeln zu Stande, aber es konnte ihn keine Sekunde
täuschen. „Ich komme schon zurecht, Trent. Finde du Dixie, bevor es für immer zu spät ist."
Lange schaute er ihr in die dunklen Augen. Dann nickte er, presste die Lippen zusammen
und ging davon.

Die meisten Menschen kannten den unverkennbaren Geruch nicht, den eine Leiche
ausströmte. Trent war er jedoch in Fleisch und Blut übergegangen. Er erfüllte den
Autopsieraum, drang tief in die Kleidung, Haare und Haut ein, so tief, dass nicht einmal das
Waschen mit scharfen Reinigungsmitteln ihn ganz vertreiben konnte.
„Trent?" Donatelli ging an dem stellvertretenden Coroner vorbei, ohne ihm einen Blick zu
gönnen, und strebte auf den Agent zu. So wie dieser trug auch Donatelli Spezialkleidung, um
sich vor Spritzern zu schützen und den Geruch abzuhalten. „Ich muss mit dir reden."
„Schieß los."
„Ich will Kane eine Falle stellen. Dazu möchte ich Risa Madsen als Lockvogel benutzen."
Trent hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Er wollte Donatelli eine Reihe von Gründen nennen,
warum er Risa nicht hineinziehen dürfte, ihm sagen, dass der Plan nicht funktionieren würde.
Aber er konnte nicht lügen. „Und du willst meinen Rat?"
„Ja. Und zwar hier und jetzt. Vorausgesetzt, sie hat ihre Meinung nicht wieder geändert."
Trent zwang sich zu einem Nicken. Darüber brauchte sich Donatelli keine Sorgen zu
machen. Nichts würde Risa davon abhalten, alles zu tun, um ihre Schwester zu retten. „Wir
unterhalten uns nach der Autopsie weiter darüber."
Donatelli nickte. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, dann wandte er sich an den
Coroner. „Wollen wir?"
Der Coroner, der von allen nur Doc gena nnt wurde, ließ ein bellendes Husten hören. Auch
die rasselnde Stimme verriet den starken Raucher. „Sollte Pete Wiley nicht hier sein?" fragte
er. „Oder ist heute nur das FBI vertreten?" Mit seinen runden roten Wangen besaß er entfernte
Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann. Niemand hätte vermutet, dass er sich seine Brötchen
mit dem Sezieren von Leichen verdiente.
Unruhe machte sich bei Trent breit. Er hatte bisher keine Chance gehabt, den Detective zur
Rede zu stellen. Aber sobald er hier auftauchte, würde dieser ihm einige Fragen beantworten
müssen. „Wir fangen ohne Wiley an."
Donatelli nickte. ,,Bringen wir es hinter uns."
„Okay." Doc drückte einen Knopf, und auf dem Bildschirm an der Wand war Farrentina
Hamiltons Körper zu sehen. So wie alle anderen Opfer Kanes, war auch sie vom Brust- bis
zum Schambein aufgeschlitzt.
Trent atmete einmal tief durch. Wut packte ihn. Auch diesen Anblick würde er nicht
vergessen können. Wie viel Angst hatte das Opfer ausstehen müssen, welche Entwürdigung,
welchen Schmerz, bis der Tod die Erlösung gebracht hatte.
Verdammter Kane! Sollte er doch zur Hölle fahren.
Er riss sich zusammen und machte sich Notizen, während Doc untersuchte, maß und
seinem Assistenten diktierte, der peinlich genau jede Verletzung der Leiche fotografierte und
dokumentierte. Handgelenke und Hals wiesen Spuren einer Fesselung auf. Farrentinas Hände,
Knie und Fußsohlen waren aufgerissen und blutig. Kane hatte sie im Wald ausgesetzt und
dann Jagd auf sie gemacht. Nachdem er sie umgebracht hatte, schaffte er ihre Leiche zu Risas
Haus und legte sie gut sichtbar dort ab, damit die Polizei sie fand.
Er musste sie an einem abgelegenen Ort gejagt haben. Vielleicht irgendwo auf Farrentinas
weitläufigem Besitz? Unmöglich. Wenn er sie dort gehetzt und gefoltert hätte, mussten die
Deputys, die dort Wache hielten, sie gehört haben. Da er und Risa sie nur wenige Stunden vor
ihrem Tod noch gesprochen hatten, konnte dieser Ort jedoch weder weit von Farrentinas noch
von Risas Haus liegen.
Trent betrachtete die Schmutzteile an Füßen, Knien und Händen, die am geronnenen Blut
kleben geblieben waren. Für das bloße Auge sah es aus, als könnten sie aus jedem Wald im
südlichen Wisconsin stammen. Aber eine genauere Analyse würde die Gegend vielleicht
einkreisen können. Das, verbunden mit dem ungefähren Todeszeitpunkt, könnte sie
möglicherweise zum Tatort führen. Wenn sie den bestimmt hatten, würden sie auch Kane
finden.
„Sagen Sie dem Labor, wir brauchen so schnell wie möglich eine Analyse der
Schmutzteile", wandte Trent sich an den Coroner.
„Wird gemacht."
Der Assistent begann, die Schmutzteile einzusammeln, während Doc mit seiner Arbeit
fortfuhr, und machte sich anschließend damit auf den Weg ins Labor.
Pete Wiley erschien im Autopsieraum. Er war noch damit beschäftigt, sich die
Schutzkleidung über sein zerknittertes weißes Hemd zu streifen.
Doc blickte auf und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Schön, dass Sie endlich auftauchen,
Pete. Sie holen mich in aller Herrgottsfrühe aus den Federn und besitzen nicht einmal
genügend Anstand, pünktlich zu erscheinen?"
„Tut mir Leid, Sie mit unseren zwar berühmten, aber inkompetenten Freunden allein
gelassen zu haben."
Trent ging auf Wileys Seitenhieb nicht ein. Schweigend blickte er den Detective an, der
einen angespannten Zug um den Mund und dunk le Schatten um die Augen hatte. „Wir
müssen uns unterhalten."
Wileys Blick flog zu Trents Gesicht. Wachsamkeit beherrschte plötzlich seine scharfen
Züge. „Was gibt's denn?"
„Erzählen Sie es mir." Trent bemühte sich nicht um Freundlichkeit. „Warum haben Sie
Donatelli oder mir nicht erzählt, dass Farrentina Hamilton für Kane Gefängniswärter
bestochen hat?"
Feindselig schaute der Detective ihn an, Verachtung im Blick. „Was ist los mit euch?
Kommt das FBI nicht allein darauf?"
„So läuft es normalerweise nicht, und das wissen Sie auch, Wiley. Wir sollten
zusammenarbeiten."
„Zusammenarbeiten, dass ich nicht lache." Er schnaubte abfällig. „Ihr habt doch die Sache
mit Kane in Iowa aufgebauscht, damit ihr den Fall übernehmen könnt."
Trent starrte Wiley an. Natürlich hatte es dem Detective nicht gefallen, dass man ihm bei
der Jagd nach dem Mörder das Kommando entzog. Hegte er heimlich eine starke Abneigung
gegen alles und jeden vom FBI? So etwas war durchaus möglich. Er hatte es selbst erlebt.
Viele Male. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns zu erzählen, wann Sie das erste Mal von
der Bestechung Wind bekamen, Detective?"
„Schon mal von Polizeiarbeit gehört? Vielleicht solltet ihr es damit probieren."
„Ich will Antworten, Wiley."
„Einer der anderen Wärter hat es mir vor ein paar Wochen gesteckt. Er beschwerte sich
darüber, dass Kane bevorzugt würde. Offensichtlich hat er es auch dem Direktor gemeldet,
aber das nützte nichts. Er ist der Meinung, dass Hanson vielleicht seinen Anteil daran
bekommt. Bevor Kane floh, war ich mit der Untersuchung der Angelegenheit beschäftigt."
Trent nickte. Wileys Erklärungen klangen plausibel. Und er konnte sie leicht überprüfen.
„Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Burnell. Sie versuchen, den Mann zu finden, der Kane
bei der Flucht geholfen ha t, damit Sie Ihre kleine Professorin daran hindern können, sich
selbst als Köder anzubieten. Sparen Sie sich die Mühe, mir etwas anhängen zu wollen. Ich
habe meine Arbeit getan, ob ich Sie nun informierte oder nicht. Ich habe das Leben der drei
Wärter auf den Kopf gestellt, aber nichts gefunden, außer dass sie Kane für ein wenig Kohle
mehr Fernsehzeit zugestanden."
Donatelli richtete sich auf. „Sie besorgen mir besser verdammt schnell Kopien der
Berichte, Detective."
„ Die hab ich auf dem Weg hierher schon einem Ihrer Leute gegeben."
Trents Gedanken überschlugen sich. Die Wärter waren nicht die Einzigen, die Kane bei der
Flucht hätten helfen können. Da war immer noch Direktor Hanson. Als wenn er seine
Gedanken gelesen hätte, grinste Wiley.
„Falls Sie glauben, Hanson könnte Ihnen ein paar Fragen beantworten, vergessen Sie's. Ich
habe mir seine Bankauszüge angesehen. Die Tante seiner Frau ist vor kurzem gestorben und
hat ihr ein nettes Sümmchen vererbt. Ansonsten lebt der Mann nicht über seine Verhältnisse.
Außerdem überwachen wir ihn und seine Frau seit gestern Abend, nachdem wir von Ihnen
alarmiert wurden. Er ist zur Arbeit gegangen und sie einkaufen. Keine sonderlich
verdächtigen Unternehmungen, würde ich sagen."
Vielleicht nicht. Aber ein paar Stunden an seinem Arbeitsplatz und die Shoppingtour
seiner Frau genügten nicht, Direktor Hanson von einem möglichen Verdacht zu befreien. Er
hatte ein starkes Motiv, Kane zu helfen. Ein Motiv, das nichts mit Geld, aber viel mit Rache
zu tun hatte.
Trent musterte den Detective aus halb zusammengekniffenen Augen. Wiley selbst hatte
sich durch verschiedene Aktivitäten verdächtig gemacht. „Offensichtlich verabscheuen Sie
Risa Madsen. Und auch ihre Schwester. Warum?"
„Was für eine Rolle spielt das? Ich habe meine Pflichten in diesem Fall nicht
vernachlässigt und meine Arbeit gemacht. Genau nach Vorschrift."
Das mochte durchaus so sein. Aber damit war seine Frage nicht beantwortet. „Was haben
Sie gegen die beiden Frauen?"
Höhnisch verzog Pete Wiley den Mund. „Möchten Sie wissen, was ich von solchen Frauen
halte? Wollen Sie es wirklich wissen?"
Trent sagte nichts, sondern wartete darauf, dass er fortfuhr.
„Frauen, die Monster wie Kane erregend finden? Denen es Spaß macht, mit einer solchen
Gefahr zu spielen? Ob sie ihn nun heiraten oder als Forschungsobjekt benutzen, es ist
letztendlich das Gleiche. Und es macht mich krank! Wenn er die Gelegenheit bekommt, wird
er beide fesseln, quälen und sie umbringen. Sehen Sie sich doch Miss Hamilton hier an."
Trent folgte seinem Blick zu der verunstalteten Leiche. Aber er sparte sich die Mühe,
Wiley auf den Unterschied hinzuweisen zwischen Risas Forschungsinteresse und Dixies und
Farrentinas Fixierung auf den Mann Dryden Kane. Zu dieser logischen Schlussfolgerung war
Wiley offenbar nicht fähig.
„Offensichtlich wollen diese Frauen nicht sehen, welch ein Monster Kane wirklich ist. Sie
finden ihn faszinierend, halten ihn sogar für ein Justizopfer. Uns geben sie die Schuld,
während sie ihn glorifizieren. Mir wird speiübel, wenn ich nur daran denke!"
Auch wenn Trent sich über Wileys Abneigung gegen Risa und sein mangelndes
Verständnis für Dixie ärgerte, so verstand er doch dessen Frustration. Ihm selbst war es mehr
als einmal ähnlich gegangen. Im konkreten Fall brachte ihn das allerdings nicht weiter. Wiley
mochte mancher Dinge schuldig sein, aber Kane geholfen hatte er nicht.
„Leute, bevor ihr euch in Rage redet, solltet ihr euch lieber das hier ansehen", mischte sich
der Coroner ein.
In der offenen Brust der Leiche glänzte etwas Metallisches.
Nachdem er ein paar Fotos gemacht hatte, griff Doc mit einer Pinzette in die Wunde,
packte das Objekt vorsichtig und zog es heraus. Es war eine Silberkette, blutverschmiert. Mit
einem silbernen Medaillon daran. Doc hielt das Fundstück in die Höhe.
Donatelli beugte sich vor, um es genauer anzusehen. „Ein Medaillon? Wieso, zum Teufel,
befand es sich in ihrer Brust?"
Plötzlich verspürte Trent einen dumpfen Druck im Magen. Er dachte an das Foto von Risa
und ihrer Schwester mit den Teddybären. Auf dem Foto hatte Dixie ein Medaillon getragen,
das diesem sehr ähnlich sah. „Öffnen Sie es."
Donatelli, der Gummihandschuhe trug, nahm das Medaillon behutsam in die Finger und
drückte auf den Verschluss. Der winzige Deckel sprang auf.
Drinnen befand sich ein Foto von Risa. Sie stand lächelnd vor ihrem Haus – auf den
Stufen, auf denen man Farrentinas Leiche gefunden hatte. Das Bild war in der Mitte
aufgeschlitzt, genau wie Dixies. Und am unteren Ende stand in feiner Schrift, mit Blut
geschrieben, ein einziges Wort.
Mein.
Trent schluckte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Sein Puls raste, das Blut
rauschte in seinen Ohren.
Mit Wiley würde er später weiterreden und sich danach die Obduktionsprotokolle
vornehmen. Zuerst musste er zu Risa.
Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es noch nicht zu spät war.

Zum zehnten Mal innerhalb der letzten Minuten schaute Risa auf ihre Armbanduhr, während
sie rastlos im Hotelzimmer auf und ab marschierte. Rook hatte versprochen, dass er kommen
würde, sobald er mit den Arbeiten am Tatort fertig wäre. Er hatte hinzugefügt, dass er
wichtige Fragen an sie hätte, dringende Fragen. Deswegen sollte sie das Hotel auf keinen Fall
verlassen.
Eigentlich hätte er längst hier sein müssen.
Tausend verschiedene Erklärungen für seine Verspätung schossen ihr durch den Kopf.
Hatte die Polizei eine Spur gefunden? Eine Leiche, von der sie ihr nicht berichten mochten?
Dixies Leiche?
Sie schaute zum Telefon. Nicht einmal Trent konnte sie anrufen und sich erkundigen. Es
war ihm schwer gefallen, sie allein zu lassen. Auch wenn sie sich wünschte, er würde sie
wieder in die Arme ziehen, ihr Sicherheit und Kraft geben, so durfte sie ihn jetzt nicht
anrufen. Auf keinen Fall wollte sie ihn beunruhigen oder für sich beanspruchen, wenn er all
seine Kraft und Zeit für die Jagd nach Kane brauchte.
Sie dachte an den uniformierten Beamten auf der anderen Seite der Tür. Deputy Perry hatte
ein Funkgerät dabei. Vielleicht wusste er, was los war.
Als sie die Tür öffnete, ruckte Perrys Kopf herum. Freundliche blaue Augen blickten sie
an. „Was kann ich für Sie tun, Professor?"
Risa entspannte sich. Vielleicht litt sie inzwischen schon unter Wahnvorstellungen.
Trotzdem, sie musste es wissen. „Chief Rook sollte eigentlich längst hier sein. Wissen Sie, ob
ihn vielleicht etwas Wichtigeres abgehalten hat?"
Der Polizist schüttelte den Kopf. „Ich habe nichts gehört. Aber ich sage Ihnen Bescheid,
falls etwas durchkommt." Er legte die Hand auf sein Funkgerät.
Sie lächelte ihn an. „Vielen Dank."
„Sonst noch irgendetwas?"
„Nein, mir geht es gut." Soweit es einem in einer solchen Situation gut gehen konnte.
„Wenn Sie etwas essen möchten, rufen Sie ruhig den Zimmerservice an." Ermutigend
nickte er ihr zu, und sie fragte sich, ob er um ihren leeren Bauch besorgt war oder um seinen.
Auch wenn sie seit Kanes Flucht außer dem pappigen Sandwich aus dem Automaten nichts
mehr gegessen hatte, drehte sich ihr allein schon bei dem Gedanken an Nahrung der Magen
um. „Nein danke. Möchten Sie vielleicht, dass ich Ihnen etwas zu essen bestelle?"
Perry schüttelte den Kopf. „Nein, Ma'am. Ich mache mir nur Sorgen um Sie. Soweit ich es
mitbekommen habe, haben Sie in der letzten Zeit einiges durchgemacht."
Risa schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Danke, Deputy."
„Verschließen Sie bitte die Tür von innen."
Sie folgte seinem Rat und legte noch die Sicherheitskette vor.
Genauso nervös wie zuvor nahm sie ihre rastlose Wanderung wieder auf. Ständig schaute
sie auf die Uhr. Die Zeit kroch wie von Schnecken gezogen voran.
Risa war erschöpft. Letzte Nacht hatte sie ein paar Stunden geschlafen. Aber da hatte Trent
sie in den Armen gehalten. Sie beschützt. Ihr Kraft gegeben. Nun aber, da die
Morgendämmerung sich allmählich durch die Vorhänge stahl und die Ereignisse der letzten
Stunden ihr nicht aus dem Kopf gehen wollten, war an Schlaf nicht zu denken. Unmöglich.
Jemand rüttelte am Türknauf. Ein Klopfen folgte.
Risas Herzschlag setzte kurz aus. War Rook endlich gekommen? Oder hatte Deputy Perry
etwas über Funk gehört? Sie eilte zur Tür und griff nach dem Knauf, verharrte dann aber
mitten in der Bewegung. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte durch den Türspion.
Tödlich kalte blaue Augen in einem jungenhaften Gesicht starrten sie an. Der Hass darin
drang durch die Tür und schnür te ihr die Luft ab.
Dryden Kane.
Er lächelte, zeigte seine ebenmäßigen weißen Zähne. Lautes Splittern durchdrang Risas
paralysiertes Gehirn. Es war eine Messerklinge, die sich ins Holz bohrte.
10. KAPITEL

Trent raste durch die Straßen, die Sinne geschärft, um niemanden zu gefährden. Er musste zu
Risa. Um keinen Preis durfte er zu spät kommen.
Das Büro des Sheriffs und das Polizeirevier hatte er bereits auf dem Weg aus dem
Autopsieraum verständigt. Sie sollten eigentlich vor ihm bei Risa ankommen. Er betete zum
Himmel, dass sie früher da sein würden.
Ohne das Tempo zu drosseln, schwenkte er auf den Hotelparkplatz ein und fuhr direkt vor
den Eingang. Die Sonne spiegelte sich auf den Streifenwagen, die den Eingang blockierten.
Blaue und rote Lichter blitzten auf. Noch bevor er das Bremspedal bis zum Boden durchtrat,
sah er die uniformierten Beamten an den breiten Glastüren, die die Hotelgäste daran
hinderten, das Gebäude zu betreten. Oder zu verlassen.
Sie sicherten einen Tatort ab.
Einen Moment bekam er keine Luft mehr. Er fuhr den Wagen in eine Parkbucht, stieß die
Tür auf und sprang heraus. Seine Dienstmarke in der Hand haltend, raste er die flachen Stufen
empor, zeigte sie kurz, und rannte ins Gebäude.
Stimmen hallten durch das Foyer. Die Deputys hinderten Gäste am Verlassen des Hauses
und sicherten mögliche Fluchtwege ab.
Trent warf einen Blick auf die Fahrstühle. Sie standen offen, unbenutzt. Schnell lief er zum
Treppenaufgang, zeigte kurz seine Dienstmarke und eilte dann die Stufen hinauf. Er nahm
immer zwei auf einmal. Furcht umklammerte sein Herz.
Schließlich erreichte er den dritten Stock und stieß die Tür mit bebenden Händen auf. Der
Geruch nach Tod hing in der Luft. Als er den Flur betrat, zog sich sein Herz zusammen.
In einer Blutlache lag eine unifo rmierte, leblose Gestalt. Ein junges, freundliches Gesicht
starrte zu ihm hoch, mit entsetzten blauen Augen, im Tod erstarrt.
Deputy Perry.
Der Anblick traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Kane hatte Perry die Kehle
durchgeschnitten. Damit er zu Risa konnte.
Mit steifen Bewegungen schritt Trent um die Leiche herum und betrat das Zimmer.
Zusammengesunken hockte Risa in einem Sessel. Ihr Gesicht war wachsbleich, und sie
zitterte so sehr, dass er es von der Tür aus sehen konnte.
Grantsvilles junger Polizeichef stand halb über sie gebeugt, Kugelschreiber und Notizblock
in der Hand.
Mit vier langen Schritten war Trent bei ihr. Entschlossen schob er Rook aus dem Weg, fiel
auf die Knie und zog Risa in die Arme.
Er barg sein Gesicht in ihrem Haar, ihr schwacher Lavendelduft überlagerte den des Todes.
Kane hatte sie nicht gekriegt. Zumindest nicht körperlich. Sie war unverletzt.
Und voller Todesangst.
Unbändige Wut ergriff ihn. Der Killer musste ihr Haus beobachtet und das Polizeiaufgebot
genossen haben. Das Entsetzen der Beamten über sein Kunstwerk. Seine Macht über sie. Er
musste auch Risa am Tatort entdeckt haben und ihr zum Hotel gefolgt sein.
Trent hätte sich denken können, dass Kane in der Nähe lauerte, um sein Publikum zu
sehen. Er hätte wissen müssen, dass Risa in Gefahr geriet, wenn er sie an den Tatort brachte.
Denn er kannte Kane. Er hatte sich in seine Gedanken versetzt. Zwei Jahre lang.
Aus welchem Grund also hatte er Risa mitgenommen? Warum hatte er sie nicht in der
Sicherheit des Hotels gelassen? Sie war allein zurückgeblieben, nachdem er sie Kane förmlich
auf dem Silbertablett präsentiert hatte. Weshalb hatte er sie danach ins Hotel zurückgeschickt,
mit nur einem jungen Polizisten als Wache?
Er hätte sie verlieren können. Für immer.
Panik packte ihn. Nur mit größter Mühe konnte er seine Fassung bewahren.
Er war nicht davon ausgegangen, dass Kane sich so schnell an Risa heranwagen würde,
sondern hatte geglaubt, er würde zunächst eine andere Frau umbringen, so wie er es bei seiner
ersten Frau gemacht hatte. Aber er hatte sich geirrt. Tödlich geirrt.
Doch er hatte Risa nicht verloren. Sie war hier, in seinen Armen. Aber das war nicht sein
Verdienst. Trent zwang sich, sie loszulassen. Er schaute ihr in die trüben Augen. „Was ist
passiert?"
„Er hat versucht hereinzukommen, aber Deputy Perry hatte mir gesagt, ich solle ..." Sie
presste die Hand auf den Mund. Ihre Fingerzitterten. „Ich schaute durch den Spion. Er
lächelte mich nur an. Und seine Augen ... diese kalten, hasserfüllten Augen..."
Wieder überkam Trent eine Welle heißer Wut. Doch er musste sich beherrschen. Er durfte
sich jetzt nicht vergessen. Risa brauchte ihn. Ihretwegen musste er ruhig bleiben. Er rieb ihr
die Arme, versuchte sie zu wärmen, als wäre Kälte dafür verantwortlich, dass sie zitterte.
„Erzähl weiter."
„Er schlitzte die Tür mit seinem Messer von oben bis unten auf und schaute dabei durch
den Spion, als könnte er mich sehen. Es war, als würde er mich aufschlitzen." Ein Schauder
schüttelte sie.
Trent biss die Zähne zusammen. Was gäbe er nicht alles dafür, Kane in diesem Augenblick
hier zu haben. Dann würde er diesem Schweinehund zeigen, was er verdiente...
Bebend holte Risa Luft. „Und dann ging er einfach davon. Ich habe die Polizei angerufen.
Erst als Chief Rook ankam, erfuhr ich, was Kane mit Deputy Perry gemacht hatte." Sie biss
sich auf die Unterlippe. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie schloss die Augen. Eine
Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht.
Trent hob die Hand und strich sie ihr hinters Ohr. Sanft glitten seine Finger über ihre
seidenweiche Haut.
Was hätte er getan, wenn Kane...? Er wusste es nicht. Und Gott sei Dank musste er es auch
nicht herausfinden. Sie war in Sicherheit. Zumindest für den Augenblick.
Bis er sie Kane wieder vor die Füße legte. Und das würde schon bald der Fall sein.
Diesmal in voller Absicht.
Er atmete ein paar Mal tief durch, weil sich alles in ihm gegen diesen gefährlichen Plan
sträubte. Im Autopsieraum hatte Donatelli über die Falle gesprochen, die sie dem Killer
stellen wollten. Trent wusste, dass es unvermeidlich war, aber bislang hatte er jeden
konkreten Gedanken daran verscheut. Er hatte ihn verdrängt. Hatte sich mit weniger
schmerzlichen Optionen befasst. Inzwischen blieb ihnen jedoch keine Wahl mehr. Nicht nach
zwei Toten. Er musste sich der Realität stellen. Sie würden ihm eine Falle stellen. So bald wie
möglich.
Und Risa würde der Köder sein.
Trent legte die Arme um sie und zog sie an sich. Er musste es ihr sagen. Und obwohl er
wusste, dass sie es so wollte, würde es eine der schwersten Entscheidungen seines Lebens
werden. Nicht ihre Reaktion auf diesen Plan machte ihm Sorgen, sondern seine eigene.
Er schmiegte sein Gesicht an ihr Ohr. „Wir müssen miteinander reden." Obwohl er sich
alle Mühe gab, ruhig zu bleiben, schwangen doch Furcht und Wut in seiner Stimme mit.
Unweigerlich wich sie ein Stück zurück und suchte in seinem Gesicht. „Was ist passiert,
Trent?"
„Es geht nicht um das, was passiert ist. Sondern um das, was geschehen wird." Schnell
warf er Rook einen Blick zu, der immer noch bei ihnen stand. Auch wenn der Polizeichef
spätestens in ein paar Stunden sicherlich alle Einzelheiten des Plans kennen würde, so wollte
Trent jetzt kein Publikum. Sein unbändiger Zorn, die innere Qual, die ihn wie Säure verätzte,
ging niemanden etwas an.
Sein Blick fiel auf die sperrangelweit offen stehende Zimmertür. Blutspritzer bedeckten
das gesplitterte Türblatt. Nein, er konnte Risa nicht nach draußen bringen. Nicht, solange
Perrys Leiche dort noch lag.
Zuhörer oder nicht, er musste es ihr sagen.
„Was ist los, Trent?" Ihre Augen ließen ihn nicht einen Moment los.
Er holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. „Wir stellen Kane eine Falle."
Sie presste die Lippen zusammen und nickte. „Ihr werdet mich als Lockvogel benutzen?"
„Ja."
„Gut." Ihr Blick wanderte über sein Gesicht, dann schaute sie ihn an. Ihre Augen
schimmerten feucht. Aber neben Schmerz und Kummer lag auch eine klare, unumstößliche
Entschlossenheit darin. Sie legte die Hand auf seinen Arm. „Es ist richtig, du weißt es. Es ist
das Einzige, was wir tun können."
„Ja." Trent erstickte fast an diesem einen Wort. Und er betete zum Himmel, dass er das
Richtige tat. Inständig hoffte er, es möge nicht damit enden, dass er Risa Kane ans Messer
lieferte. Zu viel stand auf dem Spiel, als dass irgendetwas schief gehen durfte.

Risa schlüpfte auf den Stuhl neben Trent. Das Konferenzzimmer des Polizeireviers von
Grantsville hatte sich innerhalb eines knappen Tages in eine straff geführte
Kommandozentrale verwandelt. Karten, Bilder und Diagramme hingen an den Wänden. Ein
gutes Dutzend FBI-Agenten und Deputys saßen gedrängt um den Tisch. In der Luft hing der
saure Geruch nach lauwarmem Kaffee und Stress.
Vince Donatelli stand am Kopfende vor einer großen Karte von Wisconsin. Farbige
Stecknadeln und Kreise bedeckten mehrere der Countys. Er deutete auf ein ausgedehntes
Gebiet, das sich von Grantsville bis fast nach Madison erstreckte.
„Nach allem, was wir wissen, wurde Farrentina Hamilton irgendwo in dieser Gegend
ermordet. Der Zeitpunkt, wann sie zuletzt gesehen wurde, dazu die ungefähre Todeszeit und
die Zeit, in der ihre Leiche bei Professor Madsens Haus gefunden wurde, deuten darauf hin."
Risa musterte den Kreis, der auf der Karte eingezeichnet worden war. Steile Hügel und
tiefe Schluchten prägten das Land in der südwestlichen Ecke des Bundesstaates. Es gab ein
paar Kleinstädte und kleine Farmen. Da die Gegend spärlich besiedelt war, konnte Kane seine
Opfer dort ungestört jagen. Niemand würde ihre Schreie hören.
„Die Schmutzteilchen, die am Körper des Opfers gefunden wurden, stammen aus diesem
Bereich", fuhr Donatelli fort.
Am Körper des Opfers. Wieder sah Risa Farrentina im Tod vor sich, gefolgt von Deputy
Perrys gutmütigem Gesicht. Ein Schauer überlief sie.
Sie ballte unter dem Tisch die Hände zu Fäusten und vertrieb die bedrückenden Bilder.
Kane würde keine neuen Opfer finden. Nicht, wenn sie es verhindern konnte. Deshalb war sie
bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Um Dixie zu retten. Und um zu verhindern, dass Kane
noch mehr Frauen umbrachte.
Vince Donatelli warf einen Blick auf einen der Berichte, die sich vor ihm auf dem Tisch
häuften. „Wir wissen, dass er einen Pkw oder Kleinlaster besitzt, aber die Meldungen über
gestohlene Fahrzeuge haben bislang nichts ergeben."
Risa bemerkte, dass Trent unruhig auf dem Stuhl neben ihr hin und her rutschte, aber sie
schaute nicht zu ihm. Denn sie wollte die Sorge in seinen Augen und die Anspannung in
seinem Gesicht nicht sehen. Sie wusste, wie schwer es ihm fiel, ihre Entscheidung, sich als
Lockvogel zur Verfügung zu stellen, mitzutragen. Es verstieß gegen den Beschützerinstinkt,
den er im Laufe der Jahre entwickelt hatte. Er wollte sie an einem sicheren Ort wissen. Nur
die Aussicht, dass Kane noch mehr Menschen umbringen würde, hatte ihn überzeugt.
Donatelli tippte mit dem Finger auf die Karte. „An den Highways haben wir
Straßensperren errichtet, alle Fahrzeuge, die dieses Gebiet verlassen, werden überprüft.
Sheriffs aus allen Countys durchkämmen die Gegend mit Hubschraubern und Hunden."
„Wir werden Tage brauchen, um so viel Land abzus uchen. Selbst mit Hubschraubern",
meldete sich Wiley vom anderen Ende des Raumes zu Wort. „Ich bezweifle, dass wir es
schaffen, bevor er sich ein neues Opfer sucht."
Donatelli schüttelte den Kopf. „Das ist der Moment, wo Professor Madsen ins Spiel
kommt."
Alle Augen im Raum richteten sich nun auf Risa. Sie setzte sich aufrechter hin. In groben
Zügen kannte sie die Falle, die Kane gestellt werden sollte. Und sie war bereit. Sie brauchte
nur noch zu packen und die Universität zu benachrichtigen, eine Vertretung für sie zu finden.
Aber zuerst wollte sie die Details hören.
Donatelli blickte Trent an. „Burnell?"
Unwillkürlich hielt Risa den Atem an.
Trents Kopf fuhr hoch, als wäre er mit seinen Gedanken weit fort gewesen. Er war blass
und hatte die Stirn in düstere Falten gezogen.
Ein Frösteln überlief Risa. Sie riss den Blick von ihm los und konzentrierte sich auf die
Karte.
Trent sah sich im Raum um. „Kane wird sich wieder an Professor Madsens Spur heften.
Diesmal werden wir seine Aggression zu unserem Vorteil nutzen."
Risa überlief es kalt. Sie verschränkte die Finger, um zu verhindern, dass ihre Hände
zitterten.
Jetzt wandte Trent sich ihr zu. „Wir werden für dich ein Zimmer in einer
Frühstückspension mieten. Die Besitzer müssen wir für diese Zeit ausquartieren." Er sprach
nun leiser, eindringlicher, als wären sie beide allein im Raum.
Risa zwang sich, seine Worte aufzunehmen, die Details des Plans zu speichern und
gleichzeitig nicht auf seine Stimme zu achten, auf die Wärme, die der vertraute Klang in ihr
auslöste.
Und nicht auf die Furcht, die an ihren Nerven zerrte.
„Wir werden einen Streifenwagen patrouillieren lassen, so dass Kane glauben muss, du
wirst überwacht." Sein Blick glitt über die Gesichter der anderen, als wolle er die Besten unter
ihnen für diesen Job aussuchen. „Kane ist wagemutig, gefällt sich darin, den Behörden eins
auszuwischen. Das gibt ihm das Gefühl der Macht. Der Unverwundbarkeit. Wir müssen das
nutzen, indem wir dich als gut bewacht präsentieren."
Risa sah wieder Kanes Augen vor sich, sein höhnisches Grinsen, als er die Messerklinge in
das Holz stieß. Unwillkürlich gruben sich ihre Fingernägel in die Handflächen.
„Ich vermute, er beobachtet entweder Professor Madsens Haus, dieses Polizeirevier, oder
er bekommt seine Informationen durch eine undichte Stelle. Wir werden also zu ihrem Haus
fahren, ein paar Sachen packen und ihren Aufenthaltsort durchsickern lassen. Und wenn Kane
auftaucht, werden wir einen Haufen Agenten und örtlicher Polizeibeamter in der Nähe
haben."
Die Wände schienen ein wenig näher zu rücken und die Luft im Raum knapper zu werden.
Risa hatte noch nie eine Angstattacke erlebt, aber sie kannte die Symptome. Schnell schloss
sie die Augen und atmete tief durch. Sie hatte Grund, Angst zu haben. Das hatte ihr der
Ausdruck in Trents Augen verraten. Aber diese Angst würde sie nicht abhalten können, alles
zu tun, was sie für Dixies Rettung tun konnte. Und für das Leben anderer.
Als spürte er, dass sie Unterstützung brauchte, legte ihr Trent die Hand auf den Arm. „Du
wirst nicht allein sein, Rees. Die ganze Zeit über wird ein Agent bei dir wachen."
Abwesend schüttelte sie den Kopf, das Blut pochte ihr in den Ohren. Sie war nicht allein
gewesen, als Kane bis zu ihrer Hotelzimmertür vorgedrungen war. Deputy Perry hatte Wache
gestanden, um sie zu beschützen. Aber es hatte nichts geholfen. Der Killer war bis auf wenige
Zentimeter an sie herangekommen. Aber nicht das machte ihr Sorgen. Sondern Perrys
blutbeflecktes Gesicht mit den toten Augen, die ihr nur kurze Zeit vorher fröhlich zugelächelt
hatten.
Sie durfte nicht zulassen, dass noch ein Polizist ihretwegen sein Leben verlor. Selbst wenn
es zu seinem Berufsrisiko gehörte. Sie schaute sich um. Alle warteten anscheinend darauf,
dass weitere Einzelheiten auf den Tisch kamen.
„Ich muss mit dir sprechen, Trent."
Fragend zog er eine Augenbraue hoch.
Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. „Bitte."
Er schien ihre Verzweiflung zu spüren, erhob sich und folgte ihr in den Flur hinaus.
Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, wirbelte Risa zu ihm herum. „Lass
mich allein in diesem Haus bleiben."
Trent kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht."
„Ich muss immer an Deputy Perry denken. Er war ein netter Kerl. Machte sich Sorgen um
mich. Und nun ist er tot. Er ha t sein Leben geopfert, um mich zu beschützen." Risa wollte ihn
überzeugen, ihn dazu bringen, dass er verstand. „Und nun wirst du wieder jemanden abstellen,
der mich bewacht. Vielleicht bringt er auch diesen Mann um. Das Risiko kannst du nicht
eingehen."
„Ich werde dieser Agent sein, Rees."
Entsetzt starrte sie ihn an. „Nein!"
„Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dich als Köder vor Kanes Nase baumeln lasse, ohne
in deiner Nähe zu sein?"
Natürlich nicht. Warum war sie nicht schon eher darauf gekommen? Er würde darauf
bestehen, sie persönlich zu beschützen. So lautete seine Bedingung, damit er dem Plan
zustimmte.
Kalte Furcht packte sie. Sie hatte sich wegen eines Fremden Sorgen gemacht, aber dies
hier war noch viel schlimmer. Der Gedanke, Trents Leben in Gefa hr zu bringen, war
unerträglich.
„Nein, Trent. Bitte."
Er sah sie scharf an. „Dann glaubst du also nicht an das, was du gesagt hast, oder?"
Verständnislos blickte sie ihn an.
„Hast du es vergessen? Gestern im Hotelzimmer sagtest du, zusammen wären wir beide
stärker als allein. Daran glaubst du nicht wirklich, stimmt's?"
Ihre eigenen Worte hallten in ihrem Kopf wider. In deinen Armen fühlte ich mich stärker
als jetzt, wo ich allein bin. Wir waren stärker.
Sie hatte diese Worte gesagt, und sie hatte sie ernst gemeint. Aber konnte sie jetzt immer
noch dazu stehen? Wenn sie möglicherweise damit sein Leben gefährdete?
Verzweifelt biss sie sich auf die Unterlippe. Sie wollte Trent beschützen. Ihn so weit wie
möglich von Kane, vom Haus fern halten.
Versuchte er nic ht die ganze Zeit das Gleiche bei ihr? Hatte er nicht vor zwei Jahren ihre
Verlobung aus genau diesem Grund gelöst... um sie zu beschützen?
Ja, sie wollten beide das Gleiche. Mit einem Unterschied allerdings: Sie konnte ihn nicht
von sich stoßen, egal, wie sehr sie es sich wünschte. Denn selbst wenn er nicht daran glaubte,
dass sie zusammen stärker wären – sie tat es. Und sie musste zu ihrem Wort stehen, zu ihrer
Überzeugung. Es gab für sie keinen anderen Weg.
„Zusammen sind wir stärker, Trent. Davon bin ic h felsenfest überzeugt."
Er nickte, als hätte er die Antwort schon die ganze Zeit gewusst und damit gerechnet. Seine
stahlgrauen Augen ließen ihren Blick nicht los. „Dann beweis es."
11. KAPITEL

Dicht belaubte Eichenzweige hingen über ihnen und beschatteten die Zufahrt. Schweigend
lenkte Trent den Wagen um die Kurven, mit den Gedanken bei der Frau, die neben ihm saß.
Es war ein schäbiger Trick gewesen, Risas eigene Worte gegen sie zu verwenden, aber er
würde es sofort wieder tun, wenn er sie damit zu seinem Plan überreden konnte. Unter keinen
Umständen würde er sie mit dem Killer allein lassen.
Kurz sah er zu ihr herüber. Stocksteif saß sie da, die Arme vor der Brust verschränkt. Seit
sie eingestiegen war, hatte sie kaum zwei Worte gesprochen. Und er nicht viel mehr. Es gab
eigentlich nichts zu sagen, sie konnten nur noch stumm beten. Und abwarten.
Wenn er doch nur den Wagen einfach wenden und zurückfahren könnte! Am liebsten
würde er Risa weit, weit weg bringen, fort von Kane und FBI-Finten und der Gefahr. Wenn er
all dies nur hinter sich lassen könnte!
Sie könnten sich einen Ort suchen, an dem weder das FBI noch Kane sie je finden würden.
Ein Haus kaufen, eine Familie gründen und glücklich sein – so, wie sie es immer geplant und
sich erträumt hatten.
Doch das war unmöglich.
Selbst wenn sie sich aus dem Staub machten, um ihre lang ersehnten Pläne zu
verwirklichen, würde er dieses Leben doch nicht genießen können. Er hätte Menschen im
Stich gelassen, potenzielle Opfer und ihre Familien. Niemals würde er den Tod und
menschliche Verderbtheit vergessen können. Es war richtig gewesen, vor zwei Jahren solche
Träume aufgegeben zu haben. Und egal, wie sehr er sich wünschte, zusammen mit Risa all
dem entfliehen zu können, er würde es nicht tun. Er hätte es eigentlich wissen und akzeptieren
müssen.
Aber in ihrer Gegenwart wollte er all dies vergessen – Kane, die FBI-Falle. Er sehnte sich
danach, sie in die Arme zu nehmen und für immer festzuhalten.
Er wollte einfach nur eigensüchtig sein.
Das Laubdach der Allee lichtete sich und gab den Blick frei auf ein vom Mondlicht
verzaubertes viktorianisches Gebäude. Runde Türmchen reckten sich zum Himmel. Die für
die Mitte des 19. Jahrhunderts typischen Gingerbread-Verzierungen, die an
Pfefferkuchenhäuschen erinnerten, zierten die Dachtraufen. Auf der vorderen Veranda
schwang eine Schaukel sacht in der leichten Brise hin und her. Vor ihnen lag das Lilac Inn.
Trent brachte den Wagen zum Stehen.
„Es ist wunderschön", hauchte Risa ehrfurchtsvoll.
„Ja." Es war wunderschön. Und romantisch. Aber heute Nacht war die Romantik mit
Gefahr verwoben.
„Es erinnert mich an diesen Ort an der Chesapeake Bay", sagte sie leise. „Dort, wo wir
unsere Flitterwochen verbringen wollten."
Auch er erinnerte sich. Nur zu gut. Er selbst hatte das Zimmer bestellt, bevor er nach
Wisconsin gefahren und in die Ermittlungen um den Tod von fünf Studentinnen einbezogen
worden war. Bevor Kane sich Zugang zu seiner Seele erschlichen und seine Gedanken
vergiftet hatte.
Nach seiner Rückkehr hatte er die Buchung storniert. Die Hochzeit abgesagt. Seine
Zukunft mit der Frau, die er liebte, begraben.
Trent konzentrierte seine Gedanken wieder auf die Gegenwart. Ein ausgedehnter,
gepflegter Rasen umgab das Haus und verschmolz schließlich mit dem Wald dahinter. Es war
so abgelegen, dass kein Unschuldiger in Gefahr gebracht werden konnte.
Die Falle war perfekt.
Risa überlief ein Schauer, als sie seinem Blick hinüber zum düsteren Waldrand folgte. Sie
verschränkte die Arme vor der Brust. „Glaubst du, Kane ist jetzt irgendwo dort draußen?"
„Heute Nacht nicht. Er ist nicht dumm, denn er weiß, dass wir eine Menge Agenten und
Deputys im Wald Wache halten lassen. Deshalb wird er warten, bis ihre Aufmerksamkeit
nachlässt und er den Eindruck hat, wir würden nicht mehr mit ihm rechnen."
Sie nickte, konnte aber den Blick nicht von der tintenschwarzen Dunkelheit vor ihnen
losreißen. Fest biss sie sich auf die Unterlippe. Wie immer, wenn sie verhindern wollte, dass
ihre Lippen bebten.
Er sehnte sich danach, sie in die Arme zu ziehen, ihre innere Anspannung fortzuküssen. Ihr
seine Stärke zu geben. Von ihr Kraft zu empfangen.
Eine Sehnsucht, die sich niemals erfüllen würde.

Mit zitternden Beinen stand Risa in der Tür und schaute sich in dem gemütlichen
Gästezimmer des Lilac Inn um. Weiße Tüllgardinen hingen vor den Fenstern, und ein
hauchdünner Baldachin schirmte das Bett ab. Ein zarter Duft nach Eukalyptus vermischte sich
mit dem Aroma frisch geschnittener Lilien. Durch die offene Badezimmertür sah sie die
Kerzen, die eine alte Badewanne mit Klaue nfüßen säumten. Die Wanne war riesig, groß
genug für zwei.
Das FBI hätte sie ebenso gut in ein feuchtes, dunkles Verlies mit Folterwerkzeugen stecken
können. In dieser romantischen Umgebung mit Trent eingeschlossen zu sein und darauf zu
warten, dass Kane jeden Moment hereinkam und all ihre Illusionen zunichte machte, all ihre
Hoffnungen – das kam auf dasselbe heraus.
Sie zwang sich, einen Schritt vor den anderen zu setzen und ans Fenster zu treten. Mit
bebender Hand zog sie den Vorhang beiseite und lugte durch das geriffelte Glas hinaus zu den
Laternen entlang der Zufahrt.
Eine dunkle Gestalt bewegte sich aufs Haus zu, einen offenbar schweren Karton in der
Hand. Sie erkannte Trents Silhouette, den scharfen Ruck seines Kopfes, als er den Waldrand
absuchte, seine breiten Schultern. Sie wirkten nicht so gerade wie sonst, und daran war
bestimmt nicht nur das Gewicht des Kartons schuld. Trent trug an einer viel größeren Last.
Es war die gleiche Pein, die auch Risa niederdrückte.
Die vergangenen Tage waren schrecklich gewesen, einer schlimmer als der andere. Dixies
Entführung. Kanes Drohungen. Die Morde an Farrentina Hamilton und Deputy Perry. Und
nun kam die Angst um Trent hinzu, der sie mit seinem Leben schützen wollte. Risa
konzentrierte sich auf die Hoffnung, dass Kane gefasst und Dixie gerettet werden konnte.
Früher oder später musste dieser Albtraum ein Ende haben. Die Sonne würde aufgehen und
die Dunkelheit vertreiben.
Trent besaß diese Zuversicht und den festen Glauben an das Gute nicht.
Wenn sein Fall gelöst war, würde er sich auf die Jagd nach dem nächsten grausamen
Mörder machen. Und dem übernächsten. Er musste sich in die Seele dieser Menschen
hineinversetzen, in die Furcht anderer Opfer. Für ihn würde die Dunkelheit niemals vergehen,
der Albtraum nie enden.
Und das Schlimmste war, dass er diesen dunklen Weg allein gehen musste.
Ein kalter Schauer lief Risa über den Rücken. Sie rieb sich die Arme, ein vergeblicher
Versuch, die Kälte zu vertreiben, die sich in ihr ausbreitete.
Nächte voller Einsamkeit. Tage, geprägt von Verbrechern und ihren Opfern.
So würde sein Leben aussehen. Außer, sie brachte ihn dazu zu erkennen, dass er nicht
allein zu sein brauchte. Es sei denn, sie konnte ihn davon überzeugen, dass sie beide
zusammen besser waren. Stärker.
Sie ließ den Vorhang sinken und wandte sich vom Fenster ab. Es hatte keinen Sinn. Schon
vor zwei Jahren hatte er sich nicht gestattet, an so etwas zu glauben. Und sie hatte keinen
Grund, jetzt darauf zu hoffen. Trotzdem wollte sie ihn nicht allein lassen in seiner düsteren
Welt. Wenn es einen Weg gab, dieses Leben ein wenig zu erhellen, und sei es auch nur für
kurze Zeit, würde sie ihn finden.
Zumindest musste sie es versuchen.
Die Haustür fiel dumpf ins Schloss. Schritte waren auf der Treppe zu hören. Risa holte tief
Luft, drehte sich um und ging durch die Tür hinaus auf den Flur zur Sitzecke am
Treppenabsatz.
Trent stellte gerade den schweren Karton auf dem Couchtisch vor dem Zweisitzersofa ab.
Er richtete sich auf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
„Na, wie sieht es aus?"
„Gut, danke." Sie täuschte eine Lockerheit vor, die sie überhaupt nicht empfand. „Die
Räume sind wunderschön."
„Ja, das sind sie." Das Licht einer antiken Sturmlaterne warf harte Schatten in sein Gesicht,
die Augen lagen im Dunkeln. Er wirkte angespannt. „Ich habe unten einige Sandwichs, wenn
du hungrig bist."
Sie vermochte nicht zu schlucken, so trocken war ihre Kehle, und essen konnte sie sowieso
nichts. „Danke, aber ich habe keinen Hunger."
„Durst? Es ist auch Limonade da."
„Nein danke." Sie blickte an ihm vorbei auf den Karton. „Kanes Akten?"
Er nickte kurz. „Ich dachte, ich sehe sie noch einmal durch. Vielleicht ist mir etwas
entgangen. Ein Hinweis auf Kanes Helfer im Gefängnis. Oder etwas, das mir hilft
herauszufinden, wo er sich versteckt."
Sie runzelte die Stirn. Das Ich störte sie. Ohne Zweifel hatte er vor, sich über den Akten
die Nacht um die Ohren zu schlagen, während sie gemütlich im Bett lag. „Ich helfe dir."
„Dies sind FBI-Akten, Rees."
Sie wusste nur zu gut, was in dem Karton war. Und sie kannte auch den wahren Grund,
warum er ihre Mitarbeit ablehnte. Es hatte wenig mit der Vertraulichkeit der Akten zu tun,
sondern viel mehr mit den schrecklichen Bildern der Tatorte, die sie unweigerlich zu Gesicht
bekommen würde.
Es hatte keinen Sinn, jetzt mit ihm zu streiten. Außerdem wollte sie es gar nicht. „Wie war
dein Leben in den letzten beiden Jahren, Trent?"
Er runzelte die Stirn und sah sie mit halb zusammengekniffenen Augen an. „Wie meinst du
das?"
„Was hast du so getrieben? An einem normalen Tag? In einer normalen Woche?"
Die Furche zwischen den Augenbrauen vertiefte sich. „Ich arbeite viel."
Das war nur zu offensichtlich. Und wenn er viel sagte, meinte er damit jede wache Minute.
Und dass er nicht viel Schlaf bekam. „ Ist das alles, was du tust? Arbeiten?"
„Ich gehe auch ins Fitnessstudio."
Das Fitnessstudio, natürlich. Die Übungen hatten ihm immer zur Stressabfuhr gedient. Und
dem kräftigen Bizeps unter seinem zerknitterten Hemd nach zu urteilen, hatte er in den letzten
zwei Jahren mehr als genug Stress gehabt.
„Noch etwas? Außer Arbeiten und Fitnessstudio?"
„Für mehr habe ich keine Zeit." Er wandte ihr den Rücken zu und blätterte in den Akten
herum.
Es war genau so, wie sie vermutet hatte. Ein Leben nur mit Finsternis erfüllt. Kein
Wunder, dass er sich beschmutzt fühlte und glaubte, alles zu infizieren, was er anfasste. Sie
ging um das Sofa herum und stellte sich vor ihn.
„Warum nimmst du dir keine Zeit für andere Dinge?"
Frustriert stieß er die Luft zwischen den schmalen Lippen aus. „Zeit für was, Rees?
Gobelinstickerei?"
Sie kümmerte sich nicht um seinen Sarkasmus. „Für etwas anderes als Tod und Mord und
Dunkelheit. Für etwas Schönes in deinem Leben, das dich aufrichtet."
Sein Gesicht verdüsterte sich. „Worauf willst du hinaus?"
„Du lässt zu, dass Kane dein Leben bestimmt."
„Er ist aus dem Gefängnis geflohen, hat deine Schwester entführt und seitdem zwei Leute
umgebracht, und er ist hinter dir her. Natürlich bestimmt er mein Leben."
Risa hob die Hand. Sie wollte seine Ausflüchte nicht gelten lassen. „Ich meine nicht die
Zeit nach dem Ausbruch, sondern jeden einzelnen Tag in den letzten beiden Jahren. Du hast
es zugelassen, dass er dir unter die Haut ging. Du hast es gestattet, dass er dir alles Gute in
deinem Leben genommen hat, bis nur noch Dunkelheit, Tod und das Böse übrig waren."
„Das Böse, Dunkelheit und Tod sind mein Job, Rees. Was soll ich denn deiner Meinung
nach machen? Den Dienst quittieren?" Er schüttelte den Kopf, als wäre diese Idee so
verabscheuenswert wie einige der Männer, die er jagte. „Wenn ich gehe, sterben noch mehr
Menschen."
„Ich schlage nicht vor, dass du gehst. Das würde ich niemals tun."
„Was dann?"
Sie biss sich auf die Lippe. Wollte ihm sagen, dass er sie liebte und sie heiraten solle. Sie
könnten ein Leben zusammen planen, voller Freude und Kinder. Ein Leben, das Kane zerstört
hatte. Doch es wäre zwecklos. „Red mit mir. Hier. Jetzt. Vielleicht kann ich helfen." Sie hielt
den Atem an und wartete auf seine Antwort.
Seine Züge wurden weicher. „Das kannst du nicht."
„Aber ich kenne Kane. Und ich kenne dich. Ich bin vielleicht die Einzige, die dir helfen
kann."
„Nein, Rees."
„Du glaubst immer noch, dass du mich infizierst, nicht wahr?"
Ein Muskel zuckte an seiner Wange, aber er antwortete nicht. Doch das Schweigen sagte
genug.
„Nicht du bist schmutzig, Trent. Es sind die Verbrecher, deren Profile du erstellst. Dein
Job ist nur ein Teil von dir."
Er stieß den angehaltenen Atem aus und schüttelte den Kopf. „Das kannst du nicht so
einfach voneinander trennen. Dieser Job verändert einen Menschen, Rees. Er führt dazu, dass
man die Welt mit völlig anderen Augen sieht. Du verinnerlichst es." Trent schaute ihr
forschend ins Gesicht, als suche er nach Verständnis.
„Ich verstehe, was du sagst, aber..."
„Nein, das tust du nicht. Und ich bin nicht in der Lage, es dir richtig zu erklären." Er kniff
sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel, als würde es ihm helfen, die Worte zu
finden, um ihr begreiflich zu machen, was für ein Mensch er war. Dann wurde sein Mund zu
einem grimmigen Strich. Er ließ die Hand sinken und schaute Risa an. Traurigkeit und
Bedauern im Blick.
„Ich wette, dein Magen ist steinhart vor Anspannung. Deswegen interessieren dich die
Sandwichs unten nicht, obwohl du in achtundvierzig Stunden nur einmal etwas gegessen
hast."
Sein Gesicht verriet ihr, dass er eigentlich keine Antwort brauchte. Risa biss sich auf die
Zunge und ließ ihn weiterreden.
„Und was ist mit Schlaf? Seit ich zum ersten Mal an deine Tür geklopft habe, waren es
gerade einmal drei Stunden."
Noch eine Äußerung, gegen die sie nichts anführen konnte.
„Du kannst nicht essen. Nicht schlafen. Kane hat deinen Seelenfrieden zerstört, Rees. Und
er ist nicht wieder herzustellen. Selbst wenn diese Falle Erfolg zeigt und wir Dixie heil
zurückbekommen. Und auch dann nicht, wenn wir Kane schnappen. Niemals wieder wirst du
auf deine Veranda treten können, ohne Farrentina Hamiltons Leiche dort zu sehen. Nie wieder
durch einen Türspion schauen, ohne dass Kanes Augen dich anstarren."
Risa zuckte zusammen. Er hatte Recht. Diese Erlebnisse würden sie bis ans Ende ihrer
Tage verfolgen. Selbst jetzt konnte sie sich nicht vorstellen, jemals wieder in ihrem kleinen
Bungalow zu wohnen.
„Und je länger du Kanes Bösartigkeit und Schlechtigkeit ausgesetzt bist, desto schlimmer
wird es. Glaub mir. Es frisst dich auf, bis du in jedem Mann einen potenziellen Mörder siehst.
Das Lächeln jedes Fremden wird dir wie eine Drohung erscheinen." Müde fuhr er sich mit der
Hand übers Gesicht, so, als versuche er, diese Bilder auszuradieren. „Und dann gibt es für
dich keine Unbefangenheit, keine Sorglosigkeit mehr. Nichts erscheint dir mehr gesund,
natürlich, sicher. Vom Moment des Aufwachens bis zu dem, wo du die Augen wieder schließt
– falls du überhaupt Schlaf findest –, erkennst du nur noch das Böse, Gefahr und Tod um dich
herum."
Ein Schauer überlief sie.
Sofort streckte er die Hand aus und strich ihr über den Arm, als wolle er ihre innere Kälte
vertreiben.
„Nimm diese Gefühle und multipliziere sie mit allen pro Jahr auftretenden Fällen. So ist es
für mich. Ich kenne die düsteren, bedrohlichen Seiten des Lebens, den gewaltsamen Tod, das
Verderben. Sie sind in mir. Ich kann sie nicht von mir trennen."
Risa ergriff seinen Arm, um ihm Halt zu geben.
„Während ich vor zwei Jahren an Kanes Fall arbeitete, wurde mir bewusst, dass ich eine
unsichtbare Linie überschritten hatte. Es schien, als könnte ich nichts mehr mit normalen
Augen sehen. Ich war unfähig zu genießen. Die sonnigen Tage, die warme Frühlingsbrise.
Oder den Duft von Flieder. Ich sah immer nur Dunkelheit. Ich fühlte nur noch die Eiseskälte
des Todes und roch Blut, Leichengeruch."
Tiefe Einsamkeit flackerte in seinem Blick auf.
„So ist mein Leben, Rees. Mir irgendein Hobby zu suchen wird nichts lösen. Und dich in
diese Hölle mit hineinzuziehen ebenso wenig."
Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht glaubte er wirklich daran, dass sein Schicksal
unabänderlich sei. Sie hingegen nicht. „Als ich Dixies Bild in Kanes Zelle sah, sagtest du, ich
solle ihn nicht gewinnen lassen. Aber du bist derjenige, der ihn gewinnen lässt, Trent. Indem
du nichts Gutes mehr in deinem Leben zulässt."
Er wandte den Kopf ab.
Risa packte seinen Arm, als gelte es das Leben. Nun war sie an der Reihe zu erklären, sein
Verständnis zu wecken. „Es muss nicht so sein. Du hast das alles nicht allein zu bewältigen.
Gemeinsam sind wir stark. Wir können alles durchstehen, wenn wir zusammen sind."
Ein scharfer Blick traf sie. „Du bist stärker ohne mich, Rees. Und du wärst besser dran,
wenn du mich niemals kennen gelernt hättest."
„Wenn du das wirklich glaubst, hast du bereits zugelassen, dass Kane und all die anderen
gewonnen haben."
Der Ausdruck in seinen Augen versetzte ihr einen qualvollen Stich. „Ich glaube fest daran,
Rees", sagte er mit dumpfer Stimme. „Und du solltest es auch tun."
Risa senkte die Lider. Sein Schmerz ging tiefer, als sie erwartet hatte. Und sie konnte
nichts dagegen tun. Keines ihrer Worte würde ihn überzeugen.
Vielleicht hatte Trent Recht. Vermutlich gab es Dinge, die nicht wieder in Ordnung zu
bringen waren. Sicher, manche Menschen waren nicht zu retten. Ihre Mutter hatte
wahrscheinlich dazugehört. Sie hatte sich zu Tode getrunken, in einem letzten verzweifelten
Versuch, die zahlreichen Enttäuschungen des Lebens zu vergessen. Gehörte Dixie auch zu
diesen Menschen?
Oder Trent?
Eisige Kälte kroch in ihr hoch. Vielleicht konnte sie ihn gar nicht mehr retten, nichts mehr
für ihn in Ordnung bringen. Ihr nächster Gedanke kam unerwartet. „Ich weiß, ich kann die
Dunkelheit nicht vertreiben, Trent. Aber ich könnte dir einen Lichtstrahl schenken." Sie hob
die Hand und berührte sein Kinn. Unter ihren Fingerspitzen spürte sie seine rauen
Bartstoppeln wie Sandpapier. „Lass mich dich lieben, Trent. Nur heute Nacht. Ich will dich
berühren und liebkosen. Du brauchst es. Genau wie ich."
12. KAPITEL

Trent erbebte unter Risas zärtlichen Fingerspitzen. Seit zwei Jahren träumte er von ihren
Berührungen. Dachte an ihre Finger, die über seine Haut strichen. An das Leuchten in ihren
Augen, wenn sie ihn dabei anschaute. Und nun war sie hier, bot ihm alles, was er sich
wünschte. Alles, was er brauchte. Und er musste nur die Hand ausstrecken und es sich
nehmen.
Er schluckte trocken. Was würde er nicht alles dafür geben, dieses Licht
wiederzugewinnen. Es zu halten und in seine Seele zu lassen. Um die Dunkelheit seines
Lebens nur eine einzige Nacht zu vertreiben.
Eine Gnadenfrist.
Zögernd legte er die Hand auf ihren Arm, streichelte ihre Schulter, das wundervolle
Gesicht. Langsam ließ er die Finger über ihre Wange gleiten, zu ihrem weichen, duftenden
Haar, weiter zu ihrem Nacken. Bis ihr Kopf in seiner Hand lag.
Ihre Augen schimmerten in dem dämmrigen Raum. Und als sich ihre Blicke trafen, strahlte
ein klares, unerschütterliches Licht darin.
Trent brachte kein Wort heraus. Konnte sich nicht bewegen. Er wusste, dass Risa auf eine
Antwort wartete. Sein Herz schlug wild. Sicher, sein Leben war höllisch einsam geworden.
Ihm fehlte so vieles. Ändern konnte er daran nichts. Niemals. Doch er konnte ihr Angebot
annehmen.
Für die Dauer einer wundervollen Nacht würde er aus den Schatten hervortreten, die Kraft
und Wärme dieser einzigartigen Frau in seinem Herzen speichern für die dunklen Tage, die
ihn erwarteten.
Sie hob das Kinn. Ihre samtigen Lippen öffneten sich einladend, verführten ihn zu einem
leidenschaftlichen Kuss. Trent beugte sich vor, schmeckte Honig, als er ihren Mund berührte,
und war im Paradies. Heute Nacht hatten die Albträume keine Chance. Heute Nacht funkelten
die Sterne wieder für ihn.
Wie lange hatte er diese Gefühle entbehren müssen? Trent erinnerte sich nur an Zorn und
Bedauern, wenn er an die letzten beiden Jahre dachte. Jetzt erfüllte ihn eine köstliche,
erwartungsvolle Unruhe. Ein Kuss war nicht genug. Er wollte mehr.
Er löste die Lippen von ihren, packte ihre Hand und zog sie in Richtung Gästezimmer.
Risa folgte ihm willig, konnte es kaum erwarten, sich ihrem und seinem Verlangen endlich
hinzugeben.
Der Raum verströmte eine feminine Atmosphäre. Feine Spitze säumte die Bettwäsche. Auf
den Nachttischen standen silberne Leuchter mit langen, schlanken Kerzen. Ein dicker weißer
Teppich bedeckte den Boden.
Zarter Lilienduft hüllte sie ein. Trent zog Risa an sich. Ihre Wärme vertrieb die Kälte in
seinem Herzen, ihr weicher Körper passte perfekt zu seinem.
Er benötigte nur wenige Sekunden, um sein Schulterhalfter abzulegen und das Hemd
auszuziehen. Risa schmiegte sich an ihn, strich mit den Fingern über seine muskulöse nackte
Brust, reizte seine Haut.
Trent umfasste ihre Handgelenke, legte ihre Arme um seinen Nacken und ließ seine Hände
über ihren Rücken gleiten. Selbst durch das Sweatshirt spürte er ihre Hitze. Ungeduldig hob
er den Saum an und zog es ihr über den Kopf.
Die seidige Haut unter seinen Fingern brachte ihn fast um den Verstand. Er wollte mehr,
viel mehr. Er löste den Verschluss des mit Spitzen besetzten Oberteils und streifte ihr die
Träger von den Schultern. In diesem Moment trat der Mond hinter einer Wolke hervor und
sandte sein milchiges Licht durch die Gardinen ins Zimmer.
Trent hielt den Atem an. Risas Brüste waren so perfekt, wie er sie in Erinnerung hatte. Er
bedeckte sie mit den Händen, massierte sie sanft, bis die dunklen Knospen hart wurden.
Risa stöhnte leise und verriet ihm damit, dass seine Liebkosungen ihr gefielen, dass auch
sie sich nach mehr sehnte. Sie griff nach seinem Hosenbund, zögerte dann jedoch kurz.
Glaubte sie, er würde sie erneut zurückweisen?
Sie sollte es besser wissen. Sanft schob er ihre Finger beiseite und schlüpfte aus Hose und
Slip.
Risa berührte seine Brust, ließ die Hand tiefer gleiten, über seinen Bauch, zu seinen
Schenkeln. Hitze wallte in ihm auf. Er griff nach dem Reißverschluss ihrer Jeans und befreite
Risa von den letzten störenden Kleidungsstücken.
Nichts trennte sie mehr. Er nahm die Geliebte auf die Arme und trug sie zum Bett. Risa
spreizte die Beine und hieß ihn willkommen. Bei einem heißen, nicht enden wollenden Kuss
steigerte er ihre Lust. Ihr Keuchen schürte sein eigenes Begehren, bis er es fast nicht mehr
unter Kontrolle hatte.
Risa krallte die Finger in seine Schultern. Ihre heftigen Atemstöße trafen seine erhitzte
Haut. Ihr Körper war angespannt, und sie hob ihm ihre Hüften entgegen.
„Bitte, Trent", flehte sie leise.
Er kam zu ihr, ließ sich von ihrer feuchten Wärme umschließen. Schnell fanden sie den
richtigen Rhythmus. Risa schlang die Beine um seine Hüften, drängte sich ihm entgegen und
zog ihn mit sich in die gleißende Hitze, bis nichts mehr zählte. Nur sie. Beide vereint in
reinem, weißem Licht.

Als am Morgen die Sonne durchs Fenster hereinfiel und Risa aus einem langen, traumlosen
Schlaf weckte, war Trent bereits fort. Sie atmete tief durch, genoss den Duft seines Körpers,
der immer noch in den Laken hing, die Erinnerungen an das herrliche Liebesspiel.
Er hatte sie in der vergangenen Nacht gebraucht. So wie sie ihn. Um seinen Schmerz zu
lindern und ihn daran zu erinnern, wie das Leben sein konnte – süß, voller Liebe, sanft. Sie
hatte ihm eine Atempause verschaffen wollen, wie kurz auch immer, von dem Bösen und dem
Tod, mit dem er jeden Tag lebte.
Ein Leben, zu dem er zurückkehren würde, sobald Kane wieder hinter Schloss und Riegel
saß.
Sie schloss die Augen. Warum begriff Trent nicht, wie viel besser ihr Leben sein würde,
wenn sie zusammen waren? Hatte er nicht auch die Stärke gefühlt, die sie in der Nacht erfüllt
hatte, als sie zusammen gewesen waren? Sie selbst jedenfalls hatte sie deutlich gespürt.
Vielleicht war sie auch zu ihm durchgedrungen.
Fast fürchtete sie sich, darauf zu hoffen. Um sich Mut zu machen, holte sie tief Luft,
öffnete die Augen und schlug die Bettdecke zurück. Es hatte keinen Sinn, noch länger hier zu
liegen und sich den Kopf zu zerbrechen mit fruchtlosen Fragen nach dem Wenn. Sehr
wahrscheinlich war Trent schon Stunden auf und suchte in den Akten nach Hinweisen, wo
Kane sich versteckt halten könnte. Und sie musste ihm helfen. Ob ihm die Idee gefiel oder
nicht.
Sie duschte rasch, fönte sich das Haar, zog eine rote Seidenbluse und eine frisch
gewaschene Jeans an. Dann machte sie sich auf die Suche nach Trent.
Aromatischer Kaffeeduft empfing sie, als sie die Tür öffnete und den Flur betrat. Sie tappte
die Treppe hinunter und spürte das kühle Holz der Stufen unter den nackten Füßen.
Schließlich fand sie ihn im Speisezimmer der Pension. Eine Kanne mit frischem Kaffee
stand auf dem Mahagonitisch, der groß genug war, einem ganzen Haus voller Gäste Platz zu
bieten. Daneben wartete eine leere Tasse. Trent hatte sie offensichtlich für sie dorthin gestellt.
Die fürsorgliche Geste rührte sie, und ihr wurde ganz warm ums Herz.
Jetzt blickte er von der Akte auf. Er war frisch rasiert, hatte ein sauberes Hemd an, eine
sorgfältig gebundene Krawatte – und er trug das Schulterhalfter, in dem seine Waffe steckte.
„Guten Morgen", sagte er. Obwohl seine Stirn die gewohnte Sorgenfalte zeigte, klang
seine Stimme doch anders als noch am Tag zuvor.
„Guten Morgen." Sie ging zu ihm. Gern hätte sie sich über ihn gebeugt und ihm einen Kuss
gegeben, wie alle Liebenden es nach einer solchen Nacht taten. Aber sie wagte es nicht.
Stattdessen beschränkte sie sich darauf, ihm die Hand auf die Schulter zu legen. Dabei
warf sie einen Blick auf die offene Akte vor ihm und entdeckte Polizeiberichte und
Zeugenaussagen.
Schnell schloss er die Akte, so dass sie nichts mehr sehen konnte.
Frustriert biss sie sich auf die Unterlippe. Sie hatte gehofft, dass sich in der letzten Nacht
etwas zwischen ihnen geändert hätte. Wahrscheinlich hatte sie zu viel erhofft.
Trent bückte sich, zog eine weitere dicke Mappe aus dem Karton zu seinen Füßen und
legte sie auf den Tisch. Er drehte sich in seinem Stuhl herum, blickte Risa an und lächelte
leicht. „Zeitungsausschnitte, die du beim Frühstück lesen kannst."
Sie erwiderte sein Lächeln. Die letzte Nacht hatte doch etwas bewirkt. Wie zart das
Pflänzchen auch sein mochte, es war eine Veränderung spürbar. „Danke."
Er nickte stumm. Dann hob er die Kaffeekanne, schenkte ihr ein und stellte sie wieder
neben der Akte ab.
Risa setzte sich und trank einen Schluck. Der Kaffee war kräftig und heiß, hatte ein
herrliches Aroma. Genau das, was sie brauchte, um richtig wach zu werden. Sie betrachtete
die prall gefüllte Mappe. Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, öffnete sie die Akte
und nahm sich den ersten Artikel vor.
Er befasste sich mit dem Verschwinden von Ashley Dalton, einer zwanzig Jahre alten
Biochemiestudentin, die zuletzt von ihrer Kommilitonin gesehen worden war, als sie zum Bus
gehen wollte. Ashley hatte vorgehabt, zum Labor Day, dem 1. Mai, in ihre Heimatstadt zu
fahren, um das Wochenende mit ihren Eltern und zwei jüngeren Geschwistern zu verbringen.
Der Bus kam ohne sie dort an. Ihre Eltern meldeten sie bei der Polizei als vermisst. Der
Artikel war sehr nüchtern geschrieben und beschränkte sich auf die reinen Fakten, aber das
Foto der jungen Frau ging Risa ans Herz.
Ashley Dalton war nicht gerade eine Schönheit gewesen, aber in ihren Augen strahlte eine
Lebensfreude, die man selbst auf dem groben Zeitungspapier erkennen konnte. Kane hatte ihr
brutal ein schreckliches Ende bereitet.
Nach drei weiteren Artikeln, die noch zur Zeit der Suche abgefasst worden waren, las sie
im vierten, dass ein Jäger die Leiche gefunden hatte. Der nächste Artikel beschrieb die Suche
nach dem Täter. Risa las zuerst den Artikel, dann besah sie sich die dazugehörigen
Aufnahmen.
Das erste Foto zeigte Ashley, als sie noch lebte. Eine fröhliche junge Frau. Auf dem
zweiten Bild war ein Polizist zu sehen in der bewaldeten Gegend, in der Ashleys Leiche
gefunden worden war. Risa wollte Trent gerade fragen, ob er den Mann kenne, da fiel ihr
Blick auf das dritte Foto.
Es stammte von der Beerdigung. Ashleys gramgebeugte Eltern standen an der Kirchentür,
die Arme schützend um ihre zwei jüngeren Töchter gelegt, als hätten sie Angst, dass sie ihnen
auch noch genommen werden könnten.
Doch nicht die schmerzerfüllten Eltern erregten ihre Aufmerksamkeit, sondern ein Gesicht
im Hintergrund. Ein vertrautes, viereckiges Gesicht, mit traurigen Augen.
Duane Levens.
Entsetzt keuchte sie auf.
„Was ist? Was hast du gesehen?" Trent reckte den Hals, um einen Blick auf das Foto
werfen zu können.
Sie schob ihm den Artikel zu und deutete auf das Bild. „Duane Levens, der
Gefängniswärter, war auf der Trauerfeier von Ashley Dalton."
Trent starrte auf das Bild. „Unzweifelhaft."
Fragen schwirrten ihr durch den Kopf. Was hatte Duane mit Kanes erstem Opfer zu tun?
Bestand irgendeine Verbindung zwischen dem Wärter und dem Killer? Schon damals, zwei
Jahre, bevor Dryden Kane gefasst wurde?
Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um Duanes Gesichtsausdruck
genauer zu betrachten. Erinnerungsfetzen schossen ihr durch den Kopf. Duane, der sie aus
dem Gefängnis anrief, um Dixies Hochzeit mit Kane zu verhindern. Seine hasserfüllten
Worte, als sie mit ihm am Eingang stand.
Abschaum wie er verdient es nicht zu leben. Keinen einzigen Tag länger. Nicht einmal in
einem solchen Loch wie diesem hier.
Duane konnte Kane nicht geholfen haben. Er hasste ihn und hätte niemals einem
Serienmörder zur Flucht verholfen.
Oder doch?
Ich habe Kane nichts Derartiges zukommen lassen. Ich hätte ihm höchstens eine Kugel in
den Kopf verpasst.
Es kroch ihr kalt den Rücken hoch.
Trent hob den Kopf, und der Ausdruck in seinen Augen sagte ihr, dass er die gleichen
Gedanken hatte. Ohne ein Wort beugte er sich vor, wühlte im Karton und holte schließlich
eine Akte hervor.
Konzentriert blätterte er sie durch. Schließlich hatte er offenbar gefunden, was er suchte.
Er hielt Risa einen Bogen Papier hin. „Ashley Dalton hatte einen Freund. Für eine kurze Zeit
wurde er von der Polizei verdächtigt. Aber der Verdacht bestätigte sich nicht."
Sie schaute auf das Blatt. Der Name des Verdächtigen sprang ihr förmlich entgegen.
Duane Levens.
Sie blickte hoch. Ihre Blicke trafen sich. Nun war alles ganz klar. Duanes Versuch, Dixie
davon abzuhalten, dieses Monster zu heiraten. Seine Bemerkungen, dass Kane das Leben
nicht verdient hätte. All das ergab einen Sinn.
„Kane hat Duanes Freundin umgebracht. Und nun will er Rache."

Trent packte das Steuerrad fester und jagte den Wagen in schnellem Tempo durch die Kurven
der gewundenen Straße. Mit jeder Drehung der sirrenden Reifen entfernte sich das Lilac Inn
mehr und mehr und schickte ihn der düsteren Realität entgegen. Bald sah er nur noch den
dunklen Waldsaum im Rückspiegel.
Neben ihm saß Risa, eine Hand am Türgriff, die andere am Armaturenbrett. Der
Sicherheitsgurt hielt sie fest im Sitz. Seit sie den Zeitungsausschnitt gefunden hatten, waren
kaum Worte zwischen ihnen gefallen. Risa hatte sich zur Abreise fertig gemacht, während er
dafür sorgte, dass die Falle erst in Gang gesetzt wurde, wenn sie Nachforschungen über
Levens angestellt hatten.
Duane Levens, dieser verdammte Dummkopf!
Es war schon schlimm genug, dass er Kane bei der Flucht geholfen hatte. Sein
hirnverbrannter Akt von Selbstjustiz hatte zwei weitere Menschen das Leben gekostet, und
niemand konnte garantieren, dass er nicht auch Dixie auf dem Gewissen haben würde.
Oder Risa.
Allein deswegen hätte Trent ihm am liebsten den Hals umgedreht.
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und atmete tief durch, um einen klaren Kopf zu
bewahren. Gefühle durften seine Entscheidungen nicht beeinflussen. Das konnte er sich nicht
leisten. Er musste sich darauf konzentrieren, Kane zu finden. Levens würde ihm vielleicht
entscheidende Hinweise geben. Nichts würde er unversucht lassen, um Dixie zu retten und
Risa vor dem Mörder zu bewahren.
Wieder warf er ihr einen Blick zu. Trotz der neuen Entwicklungen konnte er nicht
verhindern, dass seine Gedanken zu der vergangenen Nacht abschweiften. Noch immer hatte
er den süßen Duft ihrer seidigen Haare in der Nase, spürte ihre samtige Haut unter den
Fingern. Er war wie ein Verhungernder gewesen, der sich an einer reich gedeckten Tafel
laben konnte.
Er hatte von Risa nicht genug bekommen können. Wem versuchte er eigentlich etwas
vorzumachen? Noch immer hatte er nicht genug von ihr. Auch jetzt nicht, da sie neben ihm
saß und ihn mit ihrer Wärme, ihrem Licht erfüllte.
Und genau das machte ihm Sorgen. Wie sollte er ohne sie leben?
Sein Herz wollte sie nicht mehr hergeben.
Er konnte diese Frage nicht beantworten. Erst musste er Kane finden. Und Dixie.
Regentropfen klatschten gegen die Windschutzscheibe und verwandelten die gewundene
Straße in eine schwarze Asphaltschlange. Trent schaltete den Scheibenwischer an. Die Bäume
rasten an ihnen vorbei, ein verschwommenes Mosaik aus Grün und Braun. Bald darauf
erreichten sie das Ende der Straße. Langsam rollte er an die Kreuzung heran, dann gab er Gas
und schoss auf den Highway.
Als sie auf der schnurgeraden Straße dahinsausten, entspannte sich Risa ein wenig. Sie
wandte sich zu Trent um. „Wird das FBI vor uns bei Duane sein?"
„Sehr wahrscheinlich." Ihm wäre es lieber gewesen, Levens im Gefängnis zur Rede zu
stellen, denn die Situation wäre dort besser zu kontrollieren. Aber da der Wärter heute frei
hatte, blieb ihm keine andere Wahl. „Die Leute vom Sheriffbüro werden ebenfalls da sein. Ich
schätze, man hat Levens bereits in Haft genommen."
Sie presste die Lippen zusammen und runzelte die Stirn. „Lass mich mit ihm sprechen. Mit
mir wird er reden. Ich weiß es. Er wird mir helfen, Dixie zu retten."
Trent gefiel es nicht, Risa weiter in die Sache hineinzuziehen, aber sie hatte Recht. Levens
mochte sie. Bei ihrem letzten Gespräch hatte sie eindeutig die besseren Resultate erzielt.
Außerdem würde er wahrscheinlich ihr gegenüber Schuldgefühle empfinden, weil sein
Handeln ihr Kummer bereitete. Und wegen der Gefahr, in die er ihre Schwester gebracht
hatte. Wenn jemand ihn dazu bewegen konnte, ein Geständnis abzulegen und zu erzählen,
was er über Kane wusste, dann war es Risa.
„Also gut. Befrag du ihn."
Entschlossen nickte sie, und ihm entging ihr schwaches Lächeln nicht. „Wir arbeiten
zusammen, Trent."
Zusammen. Besser. Stärker.
Er bremste scharf ab, verließ den Highway und landete auf der nächsten sich
schlängelnden Landstraße. „Verdammt. Gibt es in dieser Gegend nicht eine einzige gerade
Straße?" fluchte er leise.
Ein dunkelgrüner Wagen blockierte wenig später die Weiterfahrt. Trent hielt an, kurbelte
das Seitenfenster herunter und zeigte dem Deputy kurz seine Dienstmarke.
Der junge Mann nickte. „Special Agent Donatelli hat Sie bereits angekündigt."
„Ist der Verdächtige in Gewahrsam genommen worden?"
„Ja. Er befindet sich im Haus." Der Mann trat zur Seite.
Trent befestigte seine Dienstmarke am Revers, legte den Gang ein und fuhr langsam um
den Streifenwagen herum durch den flachen Graben, der sich an der Zufahrt entlangzog.
Sobald die Reifen Kies unter sich hatten, beschleunigte er wieder.
Eine Reihe Wagen säumte den Wegrand. Die Dächer glänzten feucht im Regen. Deputys
und FBI-Agenten waren über das ganze Gelände verteilt.
Trent hielt vor der Garage. Er nickte Risa zu. „Dann wollen wir mal."
Sie nickte stumm und öffnete die Beifahrertür. Zusammen eilten sie zum Haus und stiegen
die Stufen zu dem erhöht liegenden Ranchgebäude hinauf, während der kalte Regen ihnen
über Kopf und Schultern rann. Zwei Männer in Zivil hielten Wache an der Tür. „Sie warten
im Wohnzimmer auf Sie", sagte der eine.
Trent nickte, und sie gingen hinein.
Der wolkige Himmel wirkte im Vergleich zum Inneren des Hauses hell und freundlich.
Trent blieb einen Moment stehen, damit sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen
konnten. Gealterte Holzpaneele bedeckten die Wände im Eingang und zogen sich die kurze
Treppe bis zum Wohnbereich hoch. Gleich neben der Eingangstür stapelten sich Angelruten
und andere Ausrüstungsgegenstände.
Er führte Risa um den Haufen herum und erklomm mit ihr die Stufen zu einem Raum, der
mit den Fotos von Männern gepflastert war, die stolz ihren Fischfang präsentierten.
Levens stand in einer dämmrigen Ecke des Zimmers. Langsam schüttelte er den Kopf, als
könne er nicht begreifen, dass irgendjemand ihm dies antun wollte. Seine Hände waren mit
Handschellen auf dem Rücken gefesselt, und er überragte die Beamten, die ihn umstanden.
Nur Donatelli hatte etwa die gleiche Größe wie der hoch gewachsene, bullige Wärter.
Levens starrte an Trent vorbei auf Risa. Ein schuldvoller Ausdruck glitt über sein grobes
Gesicht. Rasch schaute er zur Seite, hinunter auf die Füße. „Es tut mir Leid, Professor."
Risa ging zu ihm und blieb vor ihm stehen. Der Wärter war mindestens dreißig Zentimeter
größer als sie, aber er sah aus, als hätte er eine Menge Nackenschläge einstecken müssen. Sie
straffte den Rücken und schaute dem Mann in die Augen. „Was ist geschehen, Duane?"
Der Wärter schüttelte den massigen Kopf. „Ich hatte nicht geplant, dass er Ihre Schwester
als Geisel nimmt. Sie müssen es mir glauben, ich wollte es wirklich nicht."
„Ich weiß", sagte sie beherrscht. „Was ich nicht weiß, ist, warum Sie ihm geholfen haben."
Levens presste die Zähne so hart aufeinander, dass Trent meinte, ein Knirschen zu hören.
„Ich habe ihm nicht geholfen. Niemals würde ich ihm helfen!"
„Sie haben ihm die Flucht ermöglicht, Duane."
Röte ergoss sich über Levens' Gesicht, aber er schwieg.
„Warum haben Sie das getan, Duane?" drängte Risa. „Damit Sie nicht ins Gefängnis
wandern, wenn Sie ihn töten?"
Levens' Kinn bebte, während er um Fassung rang. „Ashley hat nicht verdient, was er ihr
angetan hat. Ich wollte ihn dafür bezahlen lassen. Er sollte dafür büßen."
„Er saß im Gefängnis, Duane. Rechtskräftig verurteilt."
„Das nennen Sie Buße? Drei Hofgänge am Tag, Fernsehen, Fitnessausrüstung, Bücher.
Sondervergünstigungen von den Kollegen. Eine hübsche junge Frau, die es kaum erwarten
kann, ihn zu heiraten." Er atmete schwer. Seine Augen sprühten Funken. „Er verdient die
Hölle, die er Ashley und den anderen Mädchen bereitet hat. Er verdient den Tod."
„Das mag sein." Risa schüttelte den Kopf. „Ich weiß jedoch nur eins: Solange Kane im
Gefängnis saß, befand sich Dixie in Sicherheit."
Levens zuckte zusammen. „Es war nicht meine Absicht, dass er entfliehen konnte und Ihre
Schwester entführt. Er sollte leiden. Ich wollte, dass er stirbt."
„Was also lief schief?"
„Ich ließ ihn in den Entsorgungsbereich, und dann wartete ich beim ersten Stopp des
Müllwagens nach dem Gefängnis auf ihn. Aber er befand sich nicht mehr im Wagen. Er muss
schon während der Fahrt irgendwie herausgekommen sein."
„Ist Ihnen denn nicht der Gedanke gekommen, dass er schon früher verschwinden könnte?"
Trent versuchte nicht einmal, seine Fassungslosigkeit vor so viel Naivität zu verbergen.
„Eigentlich hätte es nicht geschehen dürfen. Vom Gefängnis zum nächsten Stopp geht es
direkt auf den Highway. Mit rund neunzig Stundenkilometern. Bei einer solchen
Geschwindigkeit kann er nicht abspringen." Levens blickte müde zu Risa. Er wirkte
abgekämpft. So, als hätte ihn alle Kraft verlassen. Als hätte sein Hass die Seele verbrannt und
nur noch eine leere Hülle hinterlassen. „Es tut mir Leid."
Trent spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Er verstand, warum Levens so gehandelt
hatte. Den Hass, das Bedauern, das Scheitern. Er verstand all das. Nur zu gut. „Haben Sie eine
Ahnung, wo Kane sich jetzt aufhalten könnte?"
„Nein." Der Wärter schloss bedrückt die Augen. „Wenn ich es wüsste, würde er jetzt schon
nicht mehr leben."
Ein Handy klingelte, durchschnitt das Schweigen nach Levens' Worten und vertrieb Trents
Enttäuschung. Er griff nach dem Handy, aber sein Display blinkte nicht.
Donatelli nahm sein eigenes Handy, schüttelte jedoch den Kopf.
Wieder klingelte es. Diesmal kam das Klingeln eindeutig aus Risas Richtung.
„Ich hatte ganz vergessen, dass ich meins mitgenommen habe." Sie holte den Apparat aus
der Jackentasche und hielt ihn ans Ohr „Hallo?"
Trents Haut begann vor Erwartung zu prickeln, wie von tausend winzigen Nadeln.
Risa schluckte. Sie war plötzlich leichenblass.
„Dixie, bist du es?"
13. KAPITEL

Risa rauschte das Blut in den Ohren. Sie umklammerte das Handy fester, als wäre es Dixie
selbst und als hätte sie Angst, auch ihre Schwester würde sie verlassen, wenn sie es losließe.
Sie blickte Trent an.
Mit einem schnellen Schritt war er bei ihr, legte den Arm um ihre Schultern, zog sie an
sich und presste den Kopf an ihren, dicht an ihrem Ohr.
Sie drehte das Handy ein wenig zur Seite, damit er besser hören konnte. „Wo bist du,
Dixie? Sag mir, wo du bist, dann komm ich und hole dich."
„Nein." Obwohl ihre Schwester flüsterte, klang ihre Stimme furchterfüllt. Ein angstvoller
Schrei hätte Risa nicht weniger erschüttert. „Du kannst nicht kommen und mich holen. Er will
dich, Risa. Er ist hinter dir her."
Er war hinter ihr her, aber zuerst würde er Dixie umbringen. Panik schnürte ihr die Kehle
zu. „Von wo aus rufst du an?" Sie schluckte, um die Heiserkeit loszuwerden. „Wo ist er
jetzt?"
„Draußen. Er weiß nicht, dass ich anrufe."
Schreckensbilder stiegen vor Risas geistigem Auge auf. Wenn Kane Dixie nun beim
Telefonieren entdeckte? „Bist du sicher, dass er nicht gleich wieder hereinkommt?"
„Ja, ich bin sicher."
„Kannst du weglaufen, Dixie?"
„Er ist draußen im Garten. Er würde mich sehen und mich jagen. Das macht er immer so.
Es gefällt ihm. Er wird es auch mit mir machen ..." Sie fing an zu schluchzen. „Diesmal habe
ich wirklich alles falsch gemacht. Alles."
„Es ist schon okay, Dix."
„Nein, das ist es nicht. Ich dachte, er liebt mich. Das habe ich wirklich geglaubt."
Die Qual in der Stimme ihrer Schwester zerriss Risa fast das Herz. Schuldgefühle drohten
sie zu erdrücken. „Ich weiß, Dix. Es tut mir so Leid. Wenn ich nicht..."
„Es war nicht deine Schuld, Rees."
„Ich habe dich verlassen."
„Und das habe ich dir lange übel genommen. Aber ich habe mich geirrt." Dixies
Schluchzen wurde zu einem Schniefen, und ihre Stimme wurde fester, entschlossener. „Wenn
mir etwas passiert, möchte ich nicht, dass du dir Vorwürfe machst."
„Es wird nichts geschehen, Dixie. Ich werde es nicht zulassen."
„Du hast keine Kontrolle über das, was jetzt kommt, also lass mich zu Ende reden." In
ihrer Stimme schwang plötzlich eine Bestimmtheit, eine Stärke mit, die Risa noch nie bei
ihrer Schwester gehört hatte. „Es war nicht deine Schuld, dass unsere Mutter trank und mein
Vater mich nicht liebte. Und es war auch nicht deine Schuld, dass ich mir so verzweifelt
wünschte, von Dryden geliebt zu werden, und deshalb nicht sah, wie er wirklich ist. Du darfst
dir also keine Schuld mehr geben, hörst du?"
Ein warmes Gefühl des Stolzes erfüllte Risa mit einem Mal. Dixie hatte die Hölle
durchlebt und Ängste erfahren, die man nicht einmal seinem ärgsten Feind wünschte. Doch
anstatt zu jammern und zu verzweifeln, sich aufzugeben, war sie daran gewachsen. Risa
schwor sich, dafür zu sorgen, dass sie die Sache heil überstand.
„Sag mir, wo du bist, Dix."
„Versprich mir, dass du dir keine Schuld anlastest. Egal, was passiert."
Egal, was passiert. Risa schloss die Augen und versuchte, die schrecklichen Bilder zu
vertreiben, die sie auf einmal vor sich sah.
„Ich verspreche es. Also, sag, wo bist du?"
„Ich kann es dir nicht verraten. Du würdest mich suchen. Und genau das will Dryden." Sie
klang fest entschlossen. „Ist Trent bei dir?"
„Ja." Risa öffnete die Augen wieder und richtete sie auf Trent. Er erwiderte ihren
bedeutungsvollen Blick. „Wirst du ihm sagen, wo du bist?"
„Hol ihn ans Telefon. Und, Risa ..."
„Ja, Dix?"
„Ich hab dich lieb."
Risa schnürte es die Kehle zu, Tränen bahnten sich ihren Weg. „Ich dich auch, Dix." Sie
schluckte und reichte Trent das Handy.
In seinen Augen las sie, dass er wusste, was es sie kostete, die Verbindung zu ihrer
Schwester zu unterbrechen und ihm das Handy zu überlassen. „Hier ist Trent, Dixie. Wir vom
FBI und der Sheriff mit seinen Leuten werden dich befreien. Rees bringe ich ins Polizeirevier
von Grantsville. Dort ist sie sicher, während wir dich holen. Sie wird dich nicht suchen, das
garantiere ich. Also, wo bist du?"

Trent brachte den Wagen vor dem Polizeirevier zum Stehen. Er starrte durch die
Windschutzscheibe nach draußen, vermied es jedoch, Risa anzublicken.
Wie versteinert saß sie auf dem Beifahrersitz, die Lippen fest zusammengepresst, die Arme
vor der Brust verschränkt. Ihre Verzweiflung, ihr e Wut waren fast mit Händen greifbar. „Ich
will mitkommen, Trent. Wegen Dixie." Nicht zum ersten Mal auf dieser Fahrt stieß sie die
Worte hervor.
„Und ich sage es dir nochmals, Rees, ich werde mich um Dixie kümmern. Und um dich
auch."
„Indem du mich einsperrst?"
„Ja, wenn du es so ausdrücken willst."
„Aber du hast selbst gesagt, das FBI und der Sheriff und seine Leute werden bei Dixie
sein. Wie kann mir da etwas passieren? Ich wäre völlig sicher."
„Mitten im Kugelhagel? Nein, das denke ich nicht." Allein die Vorstellung, dass sie auch
nur in der Nähe einer solchen Aktion war, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Auch
wenn er davon ausging, dass alles nach Plan lief und sie den Mörder überwältigen und Dixie
lebend herausholen konnten. Wenn nicht... Rasch verscheuchte er diesen Gedanken. Er durfte
nicht einmal daran denken, dass etwas schief laufen könnte. „Ich will dich nicht dabeihaben."
„Und genau darum geht's, nicht wahr? Du willst nicht, dass ich da bin. Nicht einmal, wenn
alles vorbei ist."
Wie sehr sie sich irrte. Er wollte sie dabeihaben. Für immer bei sich haben. Aber das war
unmöglich. „Ich möchte dich in Sicherheit wissen. Und da kommt zurzeit nur ein Ort infrage:
das Polizeirevier."
„Weit weg von dir."
„Ja."
„Hast du letzte Nacht nichts gelernt?"
„Letzte Nacht?" Er sah sie überrascht an. „Was hat das mit all dem hier zu tun?"
„Zusammen sind wir stärker, Trent. Ich hatte gehofft, das wäre dir klar geworden."
Letzte Nacht hatte er eine Menge Dinge gefühlt. Erstaunliche Dinge. Die Nacht war ein
Traum gewesen. Doch wenn sich eins in den vergangenen Jahren in sein Gedächtnis
eingebrannt hatte, dann die Erfahrung, dass Träume nicht von Dauer sein konnten. Er musste
die Wirklichkeit akzeptieren.
„Die letzte Nacht war wundervoll. Sie ändert allerdings nic hts."
„Dann fühltest du dich also nicht stärker, als wir zusammen waren? Willst du das sagen?"
Er presste die Lippen zusammen. „Du glaubst, dass wir zusammen stärker sind, Rees. Ich
nicht. Daran habe ich nie geglaubt."
„Und du wirst es auch nie."
Kalt kroch es ihm den Rücken hoch. „Wohl nicht."
Langsam nickte sie und fixierte ihn mit ihren dunklen Augen, als suchte sie ein Zögern
darin, den Hauch einer Chance, dass er seine Meinung ändern würde.
Trent wappnete sich und erwiderte fest ihren Blick. Sie würde nicht finden, was sie suchte.
Er hatte ihr nichts zu bieten. Und wenn sie sich auch noch so sehr wünschen mochte, die
Dinge lägen anders, könnte er an den Tatsachen nichts ändern.
Schließlich schaute sie zur Seite, öffnete die Wagentür, stieg aus und schlo ss die Tür hinter
sich. Für einen kurzen Augenblick wandte sie sich ihm wieder zu. Regen rann unaufhörlich
über die Scheiben. Die Tropfen glitzerten wie Tränen. Das Licht in ihren Augen brannte noch
immer, so stark und rein wie zuvor, doch Trent spürte seine Wärme nicht mehr.
Unbeweglich blieb er sitzen und sah ihr hinterher, als sie das Polizeirevier betrat.

Regen tropfte von seinen Haaren, und das Wasser rann ihm in den Nacken. Trent unterdrückte
einen Schauer und richtete den Blick auf das Haus im Tudorstil, das durch die Zweige der
Büsche, hinter denen er hockte, kaum zu erkennen war. Kein Geräusch war zu hören, weder
vom Haus her noch aus der Nachbarschaft. Nur das Rauschen des kalten Regens auf die
Blätter.
Verdammt schöner Tag für eine Geiselbefreiung.
Vorausgesetzt, Kanes Geisel befand sich noch immer im Haus. Lebendig.
Trent fuhr sich mit den Fingern durchs nasse Haar. Er musste Dixie lebend herausholen
und sie sicher zu ihrer Schwester bringen. Er konnte Risa nicht das Leben, das Glück geben,
das sie verdiente, aber er konnte Dixie aus den Klauen des Killers befreien und die beiden
Schwestern für immer vor ihm in Sicherheit bringen.
Die Leute des Sheriffs und die FBI-Agenten schlichen lautlos auf das Haus zu. Trent schob
sich näher heran, bis er eine Position nahe der Haustür eingenommen hatte. Er zog seine
Glock aus dem Schulterhalfter. Der Griff lag fest und sicher in seiner Hand. Normalerweise
gehörte er nicht zu den Ersten, die ins Haus stürmten, aber heute hätte er sich diesen Job von
niemandem nehmen lassen. Er würde nicht herumsitzen und zusehen.
Donatelli und weitere Agenten pirschten sich heran.
Zwei Agenten stellten sich vor der Tür als Rammbock auf. Donatelli gab das verabredete
Signal, und hinter dem Haus klirrte zersplitterndes Glas, gefo lgt von einer kleinen Explosion.
All das geschah, um Kane von dem Geschehen an der Haustür abzulenken.
Im nächsten Augenblick schoss der Rammbock gegen die Haustür. Mit einem einzigen,
kraftvoll geführten Stoß splitterte das Holz. Die Tür flog auf. Trent war mit einem Satz im
Haus. Flach presste er sich gegen die Wand. Bewaffnete Männer hasteten an ihm vorbei.
Trent dröhnte das Blut in den Ohren, Adrenalin pulste durch seine Adern. Er kniff die
Augen zusammen, um sie an das Dämmerlicht im Haus zu gewöhnen. Im Schutz der
Bewaffneten liefen die Agenten durch die Halle und durchsuchten die angrenzenden Räume.
Er war der Erste, der ins Schlafzimmer eindrang. Eine Gestalt lag auf dem großen Bett, mit
ausgebreiteten Armen und Beinen, die Gelenke mit Kabel an Kopf- und Fußende gefesselt.
Trents Herz machte einen Satz.
Dixie.
Reglos lag sie da, ihre wachsbleiche Haut hob sich gespenstisch gegen ihr dunkles Haar
und die schmutzige Bluse und Jeans ab. Furcht packte ihn. War er zu spät gekommen? Mit
zwei langen Schritten stürmte er zum Bett.
Sie wandte ihm das Gesicht zu, starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Trent?"
Erleichterung überflutete ihn. Gott sei Dank, sie lebte. „Es wird alles gut, Dixie. Du
kommst wieder nach Hause." Rasch löste er die Fesseln und half ihr, sich aufzurichten.
Sie war dünner, als er sie in Erinnerung hatte. Zerbrechlich. Und sie klammerte sich an ihn
wie ein verängstigtes Kätzchen.
„Oh, Trent, es tut mir so Leid, so Leid."
Ein Sturzbach an Tränen strömte aus ihren Augen und durchnässte die Schulter seiner
kugelsicheren Weste.
Sanft strich er ihr über das wirre Haar. Jetzt, da ihr Haar wieder dunkel war, glich sie Risa
sehr. „Du bist in Sicherheit. Aber wo ist Kane?"
„Ich weiß es nicht. Ich glaube, er ist weggefahren. Er bindet mich immer fest, wenn er
geht. Wo ist Risa?"
„Ich habe sie zum Polizeirevier gebracht, wie ich es dir versprochen hatte. Sie ist in
Sicherheit."
Dixie nickte und schnappte nach Luft, während sie aufschluchzte.
Donatelli kam herein und heftete den Blick auf Trent.
„Sie hat Recht", erklärte er. „Kane ist fort. In der Garage steht kein Wagen."
„Verdammt!" Trent spürte auf einmal einen dumpfen Druck im Magen. Es gefiel ihm gar
nicht, dass Kane direkt vor ihrem Zugriff verschwunden war. Er hatte ein ungutes Gefühl
dabei. Das konnte kein Zufall sein. Die Sache war zu glatt gelaufen. Er wandte sich an Dixie,
fasste sie behutsam bei den Schultern und schaute ihr in die Augen. „Hat Kane irgendwie
angedeutet, wohin er wollte?"
„Nein. Er hat mir nie etwas gesagt. Er wiederholte immer nur, was er mit mir anstellen
würde. Und was er mit Risa machen will." Sie schloss die Augen und unterdrückte ein
weiteres Aufschluchzen. „Er hat eine Frau getötet, Trent. Zuerst hat er sie gejagt und dann
umgebracht."
Trent warf einen Blick auf den Wald, der das Haus umgab. Selbst durch das dichte
Blattwerk hindurch erkannte er das zweistöckige Haus nebenan. Bestimmt hatte Kane
Farrentina Hamilton nicht hier gejagt. Die Nachbarn hätten ihre Schreie hören können. Und
sie zu knebeln passte nicht zu seinem Muster. Kane brauchte die Schreie, die weithin hörbare
Angst seiner Opfer. Mit einem Knebel hätte er sich des Vergnügens beraubt.
Nein. Die Jagd musste irgendwo anders stattgefunden haben. Und wenn sie sein Jagdrevier
entdeckten, würden sie vielleicht auch ihn selbst finden. „Wo war das, Dixie? Wohin brachte
er diese Frau?"
„Ich bin mir nicht sicher. Es war eine Hütte. Er hat mich drinnen festgebunden, während er
sie tötete." Sie presste die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, als wolle sie die
Erinnerung daran loswerden.
Eine Hütte. In einer spärlich besiedelten Gegend. „Gab es in der Hütte irgendwelche Fotos
oder sonst etwas, das vielleicht den Namen des Besitzers verraten könnte?"
„Nein. Aber Dryden hat von ihm gesprochen."
Erneut schoss Adrenalin in seine Adern. „Nannte er seinen Namen?"
„Nein. Er hat nur gesagt, der Besitzer würde vor Wut platzen, wenn er wüsste, dass wir
dort sind."
„Vor Wut platzen? Warum?"
„Weil er Dryden hasst. Er hatte ihn benutzt. Um aus dem Gefängnis zu fliehen, denke ich. "
Levens.
Trent dachte an die Angelausrüstung und die Fotos in dessen Haus. Duane Levens musste
eine Hütte besitzen, von der Kane irgendwie erfahren hatte. Und nachdem er den Wärter
hereingelegt hatte, konnte er der Verlockung nicht widerstehen, seinen Triumph noch zu
erhöhen, indem er dessen abgelegenes Angelgebiet als privates Jagdrevier nutzte.
Er drehte sich zu Donatelli um. „Levens muss in der Gegend eine Hütte haben."
Donatelli nickte. „Das finden wir heraus."
Trent wandte sich wieder Dixie zu. „Wann ist Kane gegangen?"
Sie brauchte nur einen winzigen Moment, um zu überlegen. „Gleich nachdem ich mit dir
gesprochen hatte."
„Nachdem wir miteinander gesprochen hatten?" Eine eiskalte Hand presste sein Herz
zusammen. „Könnte er vielleicht mit angehört haben, was wir besprachen?"
Sie schüttelte den Kopf. „Er war draußen. Ich hatte mich ins Schlafzimmer geschlichen,
um telefonieren zu können. Er wusste nicht, dass ich angerufen habe." Furchtsam blickte sie
Trent an. „Er kann es nicht wissen. Dann wäre er fürchterlich wütend geworden. Er hätte
mich am Weitersprechen gehindert."
Trent war sich dessen nicht sicher. Das ungute Gefühl in ihm verstärkte sich. Kane beging
keine Fehler. Er war viel zu clever, um Dixie ans Telefon zu lassen, wenn er nicht wollte, dass
sie Hilfe herbeiholte. Es sei denn, er hatte es darauf angelegt. „Gibt es hier im Haus noch
einen Telefonanschluss?"
„Ja, in der Küche." Dixie riss die Augen weit auf. „Du glaubst doch nicht..." Entsetzt
schlug sie die Hand vor den Mund.
„Dass er zugehört hat?" Er hatte Mühe, die Worte herauszubringen. Eine furchtbare
Ahnung schnürte ihm die Luft ab. „Oh ja, das glaube ich. Kane weiß, wo Risa sich aufhält."
Genau dort, wohin er selbst sie gebracht hatte.
Zu ihrer eigenen Sicherheit.

Risa ließ sich in den Sessel sinken, der im Flur des Polizeireviers von Grantsville stand. Bis
auf das Klappern einer alten Schreibmaschine im Büro etwas weiter den Gang hinunter
herrschte in dem winzigen Gebäude tiefe Stille. Sie ballte die Hände zu Fäusten und bemühte
sich, ihre Unruhe in den Griff zu bekommen. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Nicht zu wissen, was vor sich ging, war schrecklich für sie. Ihre Gedanken drehten sich die
ganze Zeit im Kreis, ohne dass sie Antworten auf ihre Fragen fand. Waren sie noch rechtzeitig
gekommen? War Dixie in Sicherheit? Hatten sie Kane gefangen nehmen können?
Sie zog ihr Handy aus der Jackentasche und überzeugte sich zum sicher fünfzigsten Mal in
der vergangenen Stunde, dass es angeschaltet war. Bestimmt würde Trent sie bald anrufen
und ihr mitteilen, wie die Sache verlaufen war. Sicherlich würde ihn seine Entscheidung, sie
aus seinem Leben auszuschließen, nicht davon abhalten, sie zu informieren.
Trent.
Risa biss sich auf die Unterlippe. Mit jedem Herzschlag vergrößerte sich die Leere in ihrer
Brust. Als er darauf bestanden hatte, sie zum Polizeirevier zu bringen, musste sie sich dem
stellen, was sie schon die ganze Zeit über befürchtet hatte. Niemals würde er begreifen, dass
er ein schöneres Leben haben konnte. Er würde ihnen beiden nie eine Chance geben, da er
nicht daran glaubte, dass sie zusammen stärker waren.
Eigentlich hätte sie es längst erkennen müssen. Nein, sie hatte es gewusst, aber nicht
aufgeben und nicht akzeptieren wollen, dass sie und Trent keine gemeinsame Zukunft hatten.
Nun blieb ihr keine Wahl mehr. Er hatte die Entscheidung für sie getroffen. Und es gab
keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern.
Trent würde in sein einsames Leben zurückkehren. Und sie musste sich bemühen, ihr
eigenes wieder aufzubauen. Allein. Der Traum vom Happy End war zerplatzt.
Aber vielleicht nahm die Sache wenigstens für Dixie ein glückliches Ende. Sie
verschränkte die Hände im Schoß und flüsterte stumm ein Gebet.
Eine Tür im Flur wurde geöffnet. Grantsvilles Polizeichef lugte um die Ecke. „Na, wie
halten Sie sich, Professor?" fragte er munter.
Risa sprang auf. Am liebsten wäre sie auf ihn zugestürzt und hätte ihn mit Fragen
bestürmt. „Haben Sie schon etwas gehört?"
„Nicht ein Wort." Chief John Rook lächelte sie entschuldigend an.
Sie nickte und sank zurück in den Sessel.
„Tut mir Leid."
„Es ist nicht Ihre Schuld. Meine Nerven halten nur nicht mehr viel aus..." Sie schaffte es
tatsächlich zu lächeln.
„Sobald ich etwas höre, gebe ich Ihnen Bescheid. Und ... machen Sie sich keine Sorgen."
„Danke, John."
„Gern geschehen." Er grinste verlegen und nickte ihr dann beruhigend zu. „Hören Sie, ich
will kurz zu Lionel's Grill und mir ein paar Black-Forest-Sandwichs holen. Soll ich Ihnen
etwas mitbringen?"
Sandwichs. Mittagszeit. Ihr Zeitbegriff war völlig durcheinander geraten. „Nein danke, ich
bin nicht hungrig."
„Sicher? Sie sollten einen Happen essen."
Risa schüttelte den Kopf. „Nein, wirklich nicht. Aber dennoch vielen Dank."
„Ich bringe Ihnen eins mit, nur für den Fall, dass Sie Ihre Meinung ändern." Er deutete auf
die Eingangstür. „Der Imbiss liegt nur zwei Häuser weiter. Bin umgehend zurück. Don ist im
hinteren Büro. Er wird Ihnen Bescheid geben, falls wir etwas hören."
„Danke."
Er lächelte ihr noch einmal zu und verschwand dann nach draußen.
Risa hasste es, untätig herumsitzen und warten zu müssen, wenn sie so hilflos war und
nicht wusste, was geschah.
Die Stille im Gebäude zerrte an ihren Nerven. Die Schreibmaschine war inzwischen
verstummt. Dons eifriges Tippen mit dem Zwei-Finger-Suchsystem hatte sie wenigstens ein
bisschen abgelenkt. Jetzt war sie ihren schwirrenden Gedanken ausgeliefert. Wo war Trent
jetzt gerade? Was tat er? Ging es ihm gut? Würde er unversehrt zurückkommen? Wie sollte
sie das Wiedersehen ertragen, wenn er sich dann endgültig aus ihrem Leben verabschiedete?
Er würde ihr das Herz brechen. Wie sollte sie jemals die Scherben wieder zusammenfügen?
Ein dumpfes Geräusch erklang vor der Tür, durch die Rook gerade eben hinausgegangen
war.
Sie richtete sich auf und versuchte, es zu ident ifizieren. Irgendetwas war gegen die Wand
gefallen. Oder hatte draußen jemand eine Wagentür zugeschlagen?
Trent! War er zurück? Hatte er Dixie mitgebracht?
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie erhob sich im selben Moment, als die Tür aufging.
Blassblaue Augen fixierten sie. Schmale Lippen verzogen sich zu einem eiskalten Lächeln.
In der Hand des Mannes blitzte ein Messer auf, an dessen Klinge frisches Blut klebte.
Wie durch Watte hörte sie im hinteren Büro das Funkgerät knacken. Trents verzerrte
Stimme erklang brüllend. Es war eine Warnung: Kane befand sich auf dem Weg zum Revier.
14. KAPITEL

Risa erstarrte vor Entsetzen.


„Hallo, Risa. Na, haben Sie mich vermisst?" Kane machte einen Schritt auf sie zu. Seine
nassen Turnschuhe gaben auf den Fliesen ein quietschendes Geräusch von sich.
Wie angewurzelt stand sie da, gelähmt, ihr Kopf war leer. Ihr Verstand fasste nicht, was
ihre Augen sahen.
Kane war hier. Kam näher.
„Sie haben mir gefehlt." Das sadistische Grinsen vertiefte sich. „Dixie ist ein nettes
Mädchen, aber die Unterhaltungen mit ihr bewegen sich doch auf wenig anspruchsvollem
Niveau."
Schreckliche Angst schnürte ihr die Kehle zusammen. Übelkeit stieg in ihr auf und
verursachte einen bitteren Geschmack im Mund. Endlich schaffte sie es, einen Fuß zu
bewegen, zurückzuweichen. Dann stieß sie gegen die Sesselbeine und wäre fast hintenüber
gefallen.
„Vielleicht täuscht mich meine Erinnerung auch. Heute scheinen Sie nicht besonders
gesprächig zu sein. Was ist los? Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?"
Langsam gewann sie ihre Fassung wieder, wich weiter zurück vor ihm, Schritt für Schritt,
und griff nach der Wand hinter sich. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie musste Hilfe
finden.
„Ich hoffe doch sehr, dass Sie nicht für immer verstummt sind. Noch nicht, jedenfalls. Ich
hatte mich darauf gefreut, Sie um Gnade betteln zu hören. Ich kann es kaum erwarten zu
erleben, wie Sie mich anflehen, Sie von Ihrer Pein zu erlösen."
Schrei! Schrei um Hilfe. Sie zwang sich, einen Laut hervorzubringen. Der erste Versuch
endete in einem unterdrückten Gurgeln, dann stieß sie einen schrillen Schrei aus.
„Das ist Musik in meinen Ohren." Er legte den Kopf zurück, als lausche er genussvoll dem
Klang nach. „Niemand kann Sie hören. Nur ich. Aber ich bin dankbar für das kleine
Privatkonzert."
Niemand? Chief Rook? Don, der Polizist, der im hinteren Büro getippt hatte? Hatte Kane
beide getötet? Ihnen die Kehle durchgeschnitten wie Deputy Perry? Sie blickte zur
Eingangstür und wünschte verzweifelt, Chief Rook würde hereinstürmen, die entsicherte
Waffe in der Hand.
Die Tür blieb geschlossen. Stille herrschte im ganzen Polizeirevier. Nur ihr Herz hämmerte
laut und dröhnte in ihren Ohren.
„Glauben Sie wirklich, ich hätte nicht erst gewisse Vorkehrungen getroffen, ehe ich einen
Fuß in dieses Gebäude setzte? Ich habe dieses Zusammentreffen geplant, Liebling. Jedes
Detail."
Risa stützte sich an der Wand hinter sich ab und zwang sich zur Ruhe. Sie musste einen
kühlen Kopf bewahren. Sich konzentrieren.
Ein Hoffnungsschimmer flackerte in ihr auf. Sie hatte Trents Stimme übers Funkgerät
gehört. Er wusste, dass Kane auf dem Weg hierher war, also würde er ihm folgen. Trent
musste bald hier sein.
Aber würde er noch rechtzeitig eintreffen?
Sie warf einen Blick auf das Messer in Kanes Hand. Nein. Er würde es nicht schaffen.
Nicht, bevor dieses Monster zuschlagen würde. Nun war sie auf sich gestellt. Sie musste es
allein schaffen, Kane zu entkommen.
Risa spannte jeden Muskel an, bereit loszusprinten. Im Revier musste es einen
Hinterausgang geben. Eine Tür, durch die sie fliehen konnte. Sie wirbelte herum und raste den
Flur hinunter.
Kanes quietschende Schuhe ertönten dicht hinter ihr. Er kam immer näher.
Sie packte den Türrahmen und schwang sich ins Büro. Ein lebloser Körper hing über der
Schreibmaschine. Der Schreibtisch schwamm in Blut.
Risa drehte sich der Magen um.
Hinter dem Körper sah sie ein beleuchtetes Schild. Ausgang. Ihre einzige Chance. Sie
stürzte darauf zu.
Kane stürmte herein. Zwei Schritte hinter ihr. Einen Schritt.
Risa griff nach dem Türkna uf. Ihre Finger berührten das kalte Metall.
Eine kräftige Hand zerrte an ihrem Haar. Ihr Kopf ruckte zurück, und ihr eigener Schwung
rammte sie gegen die Tür. Sie stürzte, fiel schmerzhaft auf die Knie.
Kane holte sie an den Haaren wieder hoch, riss sie an sich. Kalter Stahl presste sich gegen
ihren Nacken. „Wohin wollten Sie denn? Wir haben doch so viel miteinander zu besprechen."
Sein Atem glitt über ihre Wange. Pfefferminz. Als hätte er sich extra ihretwegen frischen
Atem verschafft.
Ein Schauer überlief sie, ein Zucken, das sie nicht kontrollieren konnte.
Er hatte sie. Der Killer hatte sie in seiner Gewalt.
„Sie scheinen sich nicht zu freuen, mich zu sehen, Risa. Warum eigentlich nicht?"
Ihr Nacken, ihre Knie, die Kopfhaut, alles schmerzte.
„Sie haben gern die Kontrolle, stimmt's? Erst machen Sie einen Mann an, und dann
demütigen Sie ihn. Mögen Sie solche Spielchen?" Die Finger immer noch in ihrem Haar und
die Klinge an ihrer Kehle, zog er sie an dem leblosen Körper vorbei zur Tür. „Nun, da habe
ich auch ein nettes Spielchen für Sie, meine Süße. Sie glauben gar nicht, wie sehr es Ihnen
gefallen wird."

Trent griff unter John Rooks blutigen Körper, legte zwei Finger dorthin, wo die
Halsschlagader für gewöhnlich pulste, und hielt unwillkürlich den Atem an. Ja, da war ein
schwacher Rhythmus unter seinen Fingerspitzen spürbar. „Er lebt. Gerade noch. Rufen Sie
sofort einen Krankenwagen."
„Ist schon unterwegs!" schrie jemand.
Wiley raste heran und kniete sich neben ihn. „Ich kümmere mich um ihn."
Trent widersprach nicht. Er überließ Rook den Händen des Detectives, rappelte sich auf
und hastete ins Polizeirevier.
Überall befanden sich Männer vom FBI und Deputys. Donatelli stand mitten im
Eingangsbereich. Er wirbelte herum und blickte Trent finster an. „ Der Beamte im Büro ist
tot. Kehle durchgeschnitten. Er heißt Don Largent."
Trent drängte die aufschießende Panik zurück. „Risa?"
Donatelli schüttelte den Kopf. „Sie ist nicht hier. Kein Zeichen von ihr."
Kane hatte Risa.
Ihm wurde schwindlig. Er schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Jetzt
nicht den Verstand verlieren. Konzentrier dich, ermahnte er sich.
„Wir haben eine Fahndung nach dem Wagen herausgegeben, den er gestohlen hat."
Donatelli sah ihn voller Besorgnis an. „Es gibt keine Anzeichen dafür, dass er sie bereits
umgebracht hat, Burnell. Wahrscheinlich lebt sie noch."
Natürlich lebte sie noch. Das Töten war nur ein Teil von Kanes perversen Fantasien. „Er
wird sie jagen."
„Levens' Hütte?"
„Vielleicht." Im Grunde hoffte er, dass Kane sie zu dieser Hütte verschleppt hatte. Er
hoffte, dass es so einfach war. „Sind die Männer, die du hingeschickt hast, schon da?"
Donatelli schüttelte den Kopf. „Noch nicht."
Trent fuhr auf dem Absatz herum und eilte zur Tür. „Ruf mich an, wenn sie angekommen
sind. Ich fahre hin."
Er stieß die Tür auf, umrundete den Krankenwagen und das Notfallteam, das sich um Rook
kümmerte, und rannte zu seinem Wagen. Levens' Hütte war einige Meilen entfernt. In einem
anderen County. Er hatte keine Zeit zu verlieren.
Rasch schlüpfte er hinters Steuer, ließ den Motor an, legte den Gang ein und trat das
Gaspedal bis zum Boden durch. Seine Gedanken rasten, fast so schnell wie die Räder, die sich
auf dem Asphalt drehten.
Als Kane das Ranchhaus verließ, hatte er gewusst, dass das FBI unterwegs war. Er wollte,
dass sie Dixie suchten und Zeit damit vergeudeten, das Haus ausfindig zu machen, die
Nachbarn zu evakuieren, um anschließend das Versteck zu stürmen. Er hatte damit gerechnet,
dass durch diese Aktion fast alle Deputys vom Polizeirevier abgezogen würden. Und er hatte
gewusst, dass Dixie ihnen von der Hütte erzählen würde, sobald sie sie befreit hatten. Auch
dass er gleich nach ihrem Anruf weggefahren war. Die gesamte Truppe würde zurück zum
Revier rasen und Rook und den anderen Polizisten in ihrem Blut vorfinden.
Während Kane Risa längst in seine Gewalt gebracht hatte.
Die ganze Zeit war er ihnen einen Schritt voraus gewesen. Warum also sollte er sie in
Levens' Hütte bringen? Weshalb dorthin, wo sie zuallererst nach ihm suchen würden?
Nein.
Diese Hütte war nicht sein Ziel. Wohin verschleppte er sie dann?
Trent wusste es nicht. Doch falls ihm nicht schnell etwas einfiel, würde Risa tot sein.
Sein Herz pochte wie verrückt, schnürte ihm die Luft ab. Wenn es je einen Moment gab, in
dem er sich in Kane hineinversetzen, seine Gedankengänge erspüren musste, dann jetzt. Denk
nach, hämmerte er sich ein, denk nach. Du kennst sein Verhaltensmuster in- und auswendig.
Irgendwo' ist ein Hinweis verborgen. Finde ihn, dann findest du auch Rees.
Schnell lenkte er den Wagen an den Straßenrand und brachte ihn zum Stehen. Er verbarg
das Gesicht in den Händen und schloss die Augen.
Trent kannte Kane. Er konnte denken, wie der Mörder dachte. Er konnte fühlen, wie der
Mörder fühlte. Ganz sicher würde er darauf kommen, wohin Kane Risa brachte, um seine
Fantasien auszuleben. Sequenzen sadistischen Treibens, die er sich ausmalte, seit er ihre
erniedrigende Beschreibung in der Fachzeitschrift gelesen hatte.
Seine erste Frau hatte Kane in die eigene Jagdhütte im Norden mitgenommen. An einen
Ort, wo er den Demütigungen seines Lebens entfliehen konnte. Ein Platz, an dem er Wild
jagte, das schwächer war als er selbst. Dort war er der Herr und Meister.
Einen solchen Ort besaß er nun nicht mehr.
Trent öffnete die Augen und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Es musste eine Antwort
geben. Irgendwo verborgen in Kanes Gehirn. In seinem früheren Verhalten. Geboren aus
seiner Unsicherheit, seinem Trieb, seinem schwarzen Herzen.
Er hatte Farrentina nicht nur zu Levens' Hütte gebracht, um dort seiner Jagdleidenschaft zu
frönen. Ein willkommener Nebeneffekt war die Rache an dem Wärter gewesen. Wenn dieser
davon erfuhr, würde er vor Wut platzen, wie Dixie sich ausgedrückt hatte. Nach der Jagd
hatte er Farrentinas Leiche auf Risas Veranda abgelegt. Auch damit war eine bestimmte
Absicht verbunden. Er wollte ihr Angst machen. Ihr zeigen, welche Macht er über Frauen
besaß, die aussahen wie sie. Und dann das Medaillon mit Risas Foto, das sie in der Leiche
gefunden hatten. Es sollte allen klar machen, dass er sie früher oder später schnappen würde
und sie entführen konnte, ohne dass sie es merkten. Sein kaltblütiges Eindringen ins Hotel, wo
er Deputy Perry die Kehle durchgeschnitten hatte, war beinahe erfolgreich gewesen.
Diesmal hatte er es gescha fft.
Trent packte das Steuer fester, bis die Gelenke schmerzten. Er durfte nicht zulassen, dass
Kane Risa etwas antat!
Konzentrier dich, ermahnte er sich. Die Antwort war da, er spürte es. Er musste nur tief
genug graben, um sie zu Tage zu fördern. Die Aus wahl seines Jagdreviers war bezeichnend
für Kane gewesen, bevor er ins Gefängnis gekommen war. Dort fühlte er sich stark. Als
Herrscher. Und er hatte die Leichen verborgen abgelegt. Dahin, wo so schnell niemand über
sie stolperte. Ungesehen konnte er zurückkehren, um ungestört im Rausch der Erinnerung zu
schwelgen. Wochenlang danach noch. Ohne sich der Gefahr auszusetzen, dabei ertappt zu
werden.
All das hatte sich grundlegend gewandelt, seit er aus dem Gefängnis ausgebrochen war. Er
hatte Farrentina in der Angelhütte ermordet, um sich an Levens zu rächen für dessen Hass und
die Macht, die er in den Gefängnismauern über ihn ausgeübt hatte. Den geschundenen Körper
legte er auf Risas Veranda ab, um ihr Angst einzujagen. Sie sollte sein nächstes Opfer sein.
Dass er sie sozusagen unter den Augen der Polizei in seine Gewalt gebracht hatte, wies darauf
hin, dass er den Behörden eins auswischen wollte. Trent spann den Gedanken weiter. Kane
hatte sicher noch mehr geplant. Wo würde er Risa nach vollbrachter Tat präsentieren? An
wem wollte er sich noch rächen?
Wen würde Risas Tod am meisten treffen?
Trent blieb das Herz stehen. Er wusste, wer unter ihrem Tod am stärksten leiden würde.
Und Kane wusste es auch.
Er, Trent, selbst.
Wütend hieb er mit beiden Fäusten auf das Steuerrad. Schmerz schoss ihm die Arme hoch.
Jetzt hatte er den Hinweis. Es gab nur einen passenden Ort, wo der Mörder sie loslassen,
jagen, schließlich umbringen und ihren Körper ablegen würde.
Aber er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass dieser Schweinehund seinen
grausamen Plan auch nur in einem Punkt in die Tat umsetzte.
Er mochte vor zwei Jahren einen Teil seines Ichs an Kane verloren haben, aber er würde
Risa nicht verlieren. Lieber würde er sterben.
Und diesen mordgierigen menschlichen Abschaum mit sich nehmen.

Furcht schnürte Risa die Kehle zu, raubte ihr den Atem. Sie konnte kaum einen klaren
Gedanken fassen. Ihre Hände waren vor dem Bauch mit Handschellen gefesselt, die Kane
Chief Rook abgenommen hatte. Sie starrte durch die regennasse Windschutzscheibe hinauf zu
den Bäumen, die über die Straße ragten, und versuchte, das Bild von Farrentinas Leiche aus
ihrem Kopf zu vertreiben. Auf keinen Fall durfte sie daran denken, was Kane mit ihr anstellen
würde, wenn sie ihm nicht entkommen konnte. Einzig und allein auf ihre Flucht musste sie
sich konzentrieren und keinen Fehler begehen.
Unterlief ihr auch nur einer, würde sie sterben.
Neben ihr saß Kane, eine Hand am Steuer des gestohlenen Streifenwagens, und fuhr mit
einer Nonchalance durch die Kurven, als wäre er auf einem Sonntagsausflug.
Aber sie wusste es besser.
Risa spürte beinahe körperlich die Gewalt, die hinter der Fassade lauerte. In den blauen
Augen brannte Abscheu, jedes Mal, wenn er sie anschaute.
Das Blätterdach über ihnen lichtete sich, und vor ihnen lag das alte viktorianische Haus,
das sie an diesem Morgen verlassen hatte. Aber anders als am Morgen wirkte es nicht mehr
warm und einladend, sondern wie ein Geisterhaus mit blinden Fenstern, umweht von Tod und
Verderben. Regen glänzte auf dem steilen Dach.
„Hübsches Plätzchen. Das FBI ist großzügiger, als ich dachte." Kanes schmale Lippen
verzogen sich zu einem Lächeln. Er drehte sich zu ihr um. „Nett von ihnen, das Haus zu
räumen und es uns beiden zu überlassen, oder?"
Sie schob das Kinn vor und funkelte ihn wütend an. „Das FBI wird schon herausfinden, wo
wir sind, Kane."
„Du vertraust darauf, dass Burnell darauf kommt, stimmt's?" Er lachte hässlich. „Das hoffe
ich auch. Und ich hoffe, ihm gefällt, was ich seinen Augen bieten werde."
Wieder musste Risa an Farrentina denken. Kane würde ihren eigenen Körper auch so zur
Schau stellen. Ihn so hinlegen, dass Trent sie finden musste. Der Anblick würde ihn sein
Leben lang begleiten. Heiße Wut stieg in ihr auf. Übelkeit rang mit ihrer Selbstbeherrschung.
„Möchtest du, dass ich dir ein paar Einzelheiten erzähle?" Gemeinheit leuchtete in seinen
eiskalten Augen auf.
Kane ist sich seiner sicher, dachte sie. Deswegen duzte er sie jetzt auch, um ihr ihre
Position klar zu machen. Risa biss sich auf die Unterlippe. Sie kannte Kanes Spiel. Er wollte
das Entsetzen, die Angst in ihren Augen sehen. Sie schreien hören. Sich genüsslich daran
ergötzen.
Dieses Vergnügen würde sie ihm nicht gönnen.
Hart presste sie die Lippen zusammen und starrte aus dem Fenster. Die scharfen
Metallkanten der Handschnellen schnitten schmerzhaft in ihre Gelenke. Ihre Kopfhaut und die
Knie pochten mit jedem schnellen Herzschlag. Aber all das zählte nicht. Sie würde es nicht
zulassen. Sollte er doch sagen, wozu er Lust hatte. Sie würde ihre Rolle in seinen perversen
Fantasien nicht spielen.
Er bremste den Wagen am Anfang des Weges, der zur Eingangstür der Pension führte, ab
und wandte sich erneut ihr zu. „Du willst nicht hören, wie ich mein Ausstellungsobjekt
gestalten werde?" Grinsend streckte er die Hand aus und strich ihr mit einem kalten Finger
übers Kinn.
Es fiel ihr schwer, nicht zu würgen.
„Tapfer, tapfer, Risa. Sehr kontrolliert. Du hast immer alles im Griff, nicht wahr? Das ist
dein Problem, weißt du das? Du bist eine kontrollierte Schlampe. Selbst deine
minderbemittelte Schwester hat das erkannt."
Weiterhin starrte sie geradeaus, ließ seine Worte an sich abprallen. Sie durfte nicht
zulassen, dass er sie verunsicherte und ihre Furcht an die Oberfläche zerrte.
Ekel erregend sanft schob er die Hand in ihr Haar, spielte mit den Strähnen. „Nun, damit
kannst du aufhören. Lass einfach los. Lass dich fallen. Ich habe jetzt die Kontrolle." Sein
Griff wurde fester, und er riss an ihren Haaren.
Schmerz schoss durch ihre Kopfhaut. Ihr tränten die Augen.
Er öffnete die Tür, zerrte sie über den Sitz und mit sich hinaus aus dem Wagen.
Ihre zerschrammten Knie berührten den Boden. Der Schmerz kam plötzlich, und sie konnte
einen Schrei nicht unterdrücken.
Kane schien es zu gefallen. Mit leuchtenden Auge n blickte er auf sie herab. „Steh auf,"
Noch immer die Hand in ihren Haaren, riss er sie brutal hoch und zerrte sie hinter sich her,
über den nassen Rasen.
Humpelnd bemühte sie sich, mit ihm Schritt zu halten. Blut rann aus ihren aufgeschürften
Knien und färbte die Jeans dunkel. Ihre Kopfhaut brannte wie Feuer. Kalter Regen tränkte ihr
Haar und lief ihr in die Augen.
Am Waldrand blieb er stehen und beugte sich zu ihr vor. Sein Gesicht war nur noch ein
paar Zentimeter von ihrem entfernt, die Augen beherrscht von kalter Wut. „Ich bin nicht so
unfähig, wie du dachtest, nicht wahr? Nicht so klein, wie du mich in deinem Artikel
beschrieben hast."
Bebend atmete sie ein. „Das war ein psychologisches Profil, Kane. Es war nicht persönlich
gemeint." Die Worte waren kaum heraus, als sie auch schon begriff, dass sie einen Fehler
begangen hatte.
Er bleckte die Zähne zu einem gemeinen Grinsen. „Natürlich war es persönlich gemeint.
Ich habe mich dir geöffnet. Mit dir geredet. Und wie hast du mir meine Freundlichkeit
vergolten? Du versuchtest, mich zu kontrollieren. Hast mich als unfähig bezeichnet."
Risa schluckte trocken, erwiderte aber nichts. Sie erinnerte sich nicht wörtlich, was sie in
dem Artikel geschrieben hatte, aber den Sinn ihrer Sätze gab er unzweifelhaft richtig wieder.
Dryden Kane war unfähig, gesunde Beziehungen zu Frauen einzugehen. Unaufhörlich
gedemütigt von seiner Mutter, geriet er später an eine ähnlich dominierende Frau, die ihn
ebenfalls erniedrigte. Die bittere Opferrolle trieb ihn dazu, sich selbst Opfer zu suchen, um
sich für alles zu rächen. Sie konnte nicht leugnen, was sie geschrieben hatte. Es war die
Wahrheit gewesen.
Ihre Haare noch immer gepackt, griff er mit der freien Hand an seinen Gürtel. Er zwinkerte
ihr zu, als er das Messer aus der Scheide zog. „Ich werde dir zeigen, was Unfähigkeit
bedeutet, Professor Madsen. Du wirst daran ersticken."
Panik packte Risa.
Nein, sie durfte ihm ihre Angst nicht zeigen. Bewusst konzentrierte sie sich aufs Atmen.
Luft holen, ausstoßen. Einatmen, ausatmen. Sie wollte verdammt sein, wenn sie ihm das gab,
was er haben wollte.
Ja, verdammt!
Er hielt ihr das Messer vors Gesicht. Regen rann an der Klinge herab, färbte sich rot, als er
das angetrocknete Blut löste. Er lächelte sie an, zeigte ihr seine geraden, weißen Zähne. „Bist
du jemals auf der Jagd gewesen?"
Ihr Herz schlug wild. Sie kämpfte darum, gleichmäßig weiterzuatmen.
„Nein?" Er zog eine Augenbraue hoch und grinste höhnisch. „Also, lass es mich
beschreiben. Es ist wie ein Wettkampf. Ein Wettbewerb zwischen Mensch und Raubtier. Und
der Stärkere, der Fähigere, wenn man so will, wird gewinnen."
Wut erfasste sie. Sie würde sich von ihm nicht in Angst und Schrecken versetzen lassen.
Sich nicht von ihm beherrschen lassen. „Fahren Sie zur Hölle, Kane."
Ein kaltes Lächeln war die Antwort. „Nach dir, Risa, Liebling. Nach dir." Er nahm die
Hände aus ihrem Haar und gab sie frei.
Doch sie verspürte nur einen kurzen Moment der Erleichterung.
Mit einem Arm umfasste er ihre Taille und presste sie mit dem Rücken an seine Brust,
während er ihr mit dem anderen das Messer unter die Nase hielt. Von Blut gefärbter Regen
tropfte von der Klinge. „Zuerst schneide ich dir die Kleider vom Leib. Ich mag meine Beute
gern nackt."
Die scharfe Spitze schob sich unter ihren obersten Blusenknopf. Eine kurze, schnelle
Bewegung, und der Knopf fiel ins Gras. Ihre Bluse klaffte auseinander.
Risa erstarrte und biss sich auf die Wange, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie biss so
fest zu, dass sie Blut schmeckte. Übelkeit stieg gleichzeitig in ihr auf, und sie fürchtete, sich
übergeben zu müssen.
Der nächste Knopf fiel zu Boden. Ihre Bluse öffnete sich weiter, schwarze Spitze wurde
sichtbar. Kane starrte auf den Ansatz ihrer Brüste. „Du hast dich also für mich herausgeputzt.
Schade, ich hätte Weiß bevorzugt. Reines, sauberes Weiß."
Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen. Risa zwang sich, die Schreie wieder
hinunterzuschlucken, die sich ihr auf die Lippen drängten. Sie musste einen Weg zur Flucht
finden. Kane irgendwie überrumpeln, bevor ihre Angst sie endgültig lähmte. Ehe sein Messer
allem ein Ende bereitete.
Er schien erheblichen Aufwand betrieben zu haben, um an ihren Artikel zu kommen.
Vielleicht konnte sie daraus einen Nutzen ziehen. „Ich schreibe ein Buch, Kane. Ein Buch
über Sie." Ihre Stimme klang bemerkenswert ruhig, als wäre er ein ganz gewöhnlicher Mann
und dies eine ganz normale Unterhaltung.
Als ob er sie nicht gehört hätte, drückte er die Schneide unter den nächsten Knopf. Auch
dieser landete im feuchten Gras.
Panik drohte ihren schmalen Vorrat an Selbstbeherrschung zu vernichten. „Selbst wenn ich
tot bin, wird man das Buch finden. Die Leute werden es lesen."
„Und warum sollte mich das interessieren?"
„Ich dachte, Sie würden es vielleicht lesen wollen, bevor es irgendwo veröffentlicht wird."
„Du hast es immer noch nicht begriffen, was?" Kane schüttelte langsam den Kopf. „Du
zählst nicht mehr, Sweetheart. Nichts kannst du mehr kontrollieren. Du bist ein Nichts. Und
wenn ich mit dir fertig bin, sogar noch weniger als das."
Noch ein Knopf. Noch einer. Die Bluse war offen. Regentropfen trafen ihre Brüste, ihren
Bauch, durchnässten den BH.
Tu etwas! befahl sie sich. Sie durfte nicht warten, bis er mit der Jagd begann. Dann war
alles vorbei.
Und sie wäre tot.
Kane leckte sich die Lippen und starrte auf ihren BH. Er zog das Messer ein wenig zurück
und reckte den Hals, offenbar, um einen besseren Ausblick zu bekommen. Der Griff seiner
Arme lockerte sich leicht.
Das reichte ihr.
Sie verlagerte all ihre Kraft in die Beine und ließ sich schwer gegen ihn fallen.
Überrumpelt ließ er sie los und fiel rückwärts ins Gras. Wie durch ein Wunder blieb sie auf
den Beinen, wirbelte herum und rannte mit langen Schritten in den Wald.
Himbeerranken rissen ihr die Haut auf und zerrten an ihrer Bluse. Zweige peitschten ihr ins
Gesicht und verfingen sich in ihren Haaren. Risa kümmerte sich nicht darum, sondern bahnte
sich weiter ihren Weg durchs Dickicht. Sie musste den Abstand zwischen sich und Kane
vergrößern.
Seine widerwärtigen Flüche hallten durch den Wald. Äste brachen knackend unter seinen
schweren Schritten.
Risas Herz raste, sie bekam kaum Luft. Der feuchte Boden unter ihren Füßen war rutschig.
Wenn sie hinfiel, hatte Kane sie! Sie hetzte weiter und fegte mit ausgestreckten, gefesselten
Händen beim Rennen Zweige beiseite.
Er brach hinter ihr durchs Unterholz. Holte auf. Kam näher. Sie hörte ihn keuchen. Jetzt
griff er nach ihrem Blusenärmel.
Risa riss sich los, der Stoff zerfetzte.
Wieder packte er zu. Seine Finger schlossen sich um ihren Arm. Pressten sich schmerzhaft
in ihr Fleisch. Hielten sie unerbittlich fest.
Es ist aus! dachte sie zitternd.
Mit einem Ruck brachte er sie zum Stehen.
Die Beine gaben unter ihr nach.
Er hielt sie fest, verhinderte, dass sie auf den Waldboden fiel, und schleuderte sie brutal
gegen einen Baumstamm.
Raue Borke grub sich in ihre Wange.
„Für wen, zum Teufel, hältst du dich eigentlich?" knurrte er an ihrem Ohr. „Du bist kein
Mensch. Ein wildes Tier bist du. Wild, aber unfähig. Du wirst tun, was immer ich dir sage.
Und wenn ich mit dir fertig bin, wirst du deinen Herrn und Meister kennen. Ich bin dein
Meister!"
Das Blut rauschte in ihren Ohren und löschte all ihre Gedanken mit einem Schlag aus.
Seine Hand schloss sich um ihren Hals, und er zog sie an sich. Aus den Augenwinkeln sah
sie das Messer, die blitzende nasse Klinge. Die Schneide berührte ihre Brust, direkt unter
ihrem Brustbein. „Und weißt du, wie ich es machen werde, Risa?" Er drückte die Spitze tiefer
in ihre Haut. „Hier werde ich dich aufschlitzen."
Ein markerschütternder Schrei entrang sich ihrer Kehle.
15. KAPITEL

Ein schriller Schrei gellte durch die Luft.


Trents Herz setzte einen Schlag lang aus. Er trat die Bremse bis zum Anschlag durch und
kam gerade noch hinter dem schwarzweißen Streifenwagen zum Stehen, den Kane am
Polizeirevier gestohlen hatte. Mit einem Satz war er aus dem Wagen.
Donatelli wusste Bescheid. Trent hatte auch den Notruf gewählt. Das FBI und die Leute
des Sheriffs waren auf dem Weg hierher. Aber er konnte nicht auf sie warten. Ihm lief die Zeit
davon. Er musste Risa retten, ehe es zu spät war.
Er warf nicht einmal einen Blick auf das aufragende viktorianische Haus vor sich, in dem
Risa und er sich noch gestern Nacht geliebt hatten. Kane würde sie nicht hierher bringen.
Noch nicht. Erst, wenn sie tot war, würde er ihren Körper auf die noch immer zerwühlten
Laken betten.
Trent rannte über den aufgeweichten, glatten Rasen. Er rutschte bei jedem Schritt aus,
schaffte es aber, aufrecht zu bleiben und weiterzulaufen.
Ein zweiter Schrei gellte in seinen Ohren.
Risa.
Ein Horrorszenario blitzte vor seinem inneren Auge auf: Kane, der ihr die Haut
aufschlitzte, ihr das kostbare Leben nahm.
Nein!
Ihm brach der kalte Schweiß aus, und er packte mit feuchten Händen die Glock fester. Als
er den Waldrand erreichte, verlangsamte er seinen Lauf. Er konnte nicht blindlings durch die
Büsche stürmen. Wenn er auf Kane traf, dann musste er vorbereitet sein. Er brauchte freie
Schusslinie. Ein sauberer Schuss musste genügen, damit er ihn erwischte, ohne Risa zu
verletzen.
So schnell und so geräuschlos wie möglich eilte er in den Wald. Dornen zerrten an seiner
Jacke. Er riss sich los und hastete weiter. Regen mischte sich mit Schweiß, rann ihm in die
Augen. Er wischte mit der Hand über die Stirn und versuchte, etwas durch die dichten Büsche
zu erspähen.
Da hörte er Kanes Stimme. Schauerlich klang sie, wie ein unheimlicher Singsang. Von
Risa kein Laut. Keine Schreie, nicht einmal ein schmerzerfülltes Wimmern. Wo war sie?
Sein Herz zog sich zusammen.
Kam er zu spät? Hatte er zu lange gebraucht? War sie bereits tot?
Panik packte ihn.
Nein!
Er durfte Risa nicht verlieren. Sie war sein Licht. Seine Hoffnung.
Kanes Stimme summte immer noch durch die Zweige und Äste der Eichen und der
Hickorybäume, übertönte den Regen, der auf die Blätter prasselte.
Trent holte tief Luft, hielt sie an und versuchte zu verstehen, was der Mörder von sich gab.
Er versuchte, einen Ton von Risa zu hören. Irgendeinen Laut. Ein Zeichen, dass sie lebte.
Nichts. Nur der Regen. Und Kanes Stimme.
Heiße Wut stieg in ihm auf. Wenn er Risa umgebracht hatte, würde er diesen Wald nicht
lebend verlassen.
Schussbereit hielt er die Glock vor sich, während er sich so schnell wie möglich Kane
näherte. Sein Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen, seine Lungen schmerzten.
Da leuchtete etwas Rotes durch die Blätter.
Risas Bluse.
Trent kroch näher.
Kane stand hinter ihr, eine Hand an ihrer Kehle. Mit der anderen Hand presste er sein
Messer an ihre Brust. Ihre Bluse stand weit offen, zeigte ihren schwarzen Spitzen-BH. Blut
rann über die helle Haut. Der Schweinehund hatte sie verwundet.
Aber sie lebte.
Erleichterung überflutete ihn. Er richtete die Glock auf Kanes Hand und legte den Finger
an den Abzug. Verdammt. Aus diesem Winkel heraus konnte er keinen sauberen Schuss
abgeben. Er musste um die beiden herumschleichen und beten, Kane möge so sehr mit seinen
wirren Fantasien beschäftigt sein, dass er ihn nicht hörte. Er senkte die Pistole und schlich
leise weiter.
Jetzt hob Kane das Messer und presste die Klinge an Risas Kehle. Und in diesem
Augenblick schaute er auf, sah direkt in Trents Augen.
„Na, wen haben wir denn da? Das FBI..."
Trent unterdrückte einen Fluch und hob die Pistole. „Es ist aus, Kane. Lassen Sie sie los."
Risa suchte seinen Blick. Das Entsetzen wich aus ihrem Gesicht, stattdessen sah sie ihn
voller Vertrauen und Hoffnung an. Erleichtert atmete sie auf.
Kane starrte ihn an, als hätte er kein Wort verstanden. Die Pupillen wirkten starr und leblos
wie bei einer Puppe. „Wir haben uns lange nicht gesehen, Burnell. Zuletzt vor Gericht, als Sie
vor allen Leuten diesen Psychomüll über mich auskippten, stimmt's?"
„Geben Sie sie frei und lassen Sie das Messer fallen."
Kane schüttelte den Kopf. „Wussten Sie, dass in der menschlichen Kehle eine Blutbahn
namens Jugularvene verläuft? Ein rascher Schnitt mit einer scharfen Klinge, und der Mensch
verblutet. Innerhalb von Minuten. Ich schlage vor, Sie lassen die Pistole sinken."
Trent schätzte den Schusswinkel ab. Die Sache war zu ungewiss. Kane hielt Risa als
Schutzschild vor sich. Die Kugel konnte danebengehen, oder er verletzte sein Opfer
lebensgefährlich, noch bevor sie ihn traf.
Das Risiko durfte er nicht eingehen. Er senkte die Waffe.
„Werfen Sie das Ding vor sich auf den Boden."
Trent zögerte. Ohne Pistole hätte er nichts mehr in der Hand, um Kane zu stoppen. Er war
zu weit weg, um sich auf ihn stürzen zu können. Der Killer würde Risa töten, sobald er selbst
eine falsche Bewegung machte.
Trent lauschte, ob Sirenengeheul zu hören war oder Wagen, die sich auf der langen,
gewundenen Zufahrt des Lilac Inn näherten.
Nur der stetig fallende Regen war zu hören.
„Lassen Sie endlich die Pistole fallen, Burnell. Oder wollen Sie sich ansehen, was ich mit
diesem Ding hier alles anstellen kann?" Kane drückte die Messerspitze in Risas zarte Haut.
Ein feines rotes Rinnsal lief über die Klinge.
Risa atmete tief durch, hielt jedoch still.
„Stopp." Trent hob beide Hände, die Glock baumelte an einem Finger. Machtlos oder
nicht, er musste die Waffe hergeben. Ihm blieb keine andere Wahl. „Hier ist sie." Er warf die
Pistole von sich. Sie landete in einem dichten Himbeerbusch.
Kane verzog die Lippen zu einem triumphierenden Lächeln. „Sehr viel besser, Burnell. Es
ist wirklich ausgesprochen unhöflich von Ihnen, mich zu unterbrechen. Ich habe lange darauf
gewartet, dies hier zu jagen."
Trent zog sich der Magen zusammen. Dies hier. Nicht Risa. Kein menschliches Wesen,
sondern Wild, das zur Jagd freigegeben war. Eine Frau, an der er sich rächen, die er
erniedrigen und schänden wollte. „ Es sind noch mehr Agenten auf dem Weg hierher. Und der
Sheriff mit seinen Leuten. Ihre einzige Chance ist, sie freizugeben und zu verschwinden."
Kane neigte leicht den Kopf und grinste Trent hämisch an. „Warum sollte ich das tun?
Ihretwegen bin ich aus dem Gefängnis abgehauen. Ich lasse sie nicht einfach gehen." Er
wandte den Blick ab und schien mit einem Mal Trents Anwesenheit vergessen zu haben.
Seine Aufmerksamkeit galt wieder uneingeschränkt seinem Opfer.
Trent überlegte fieberhaft. Er musste dafür sorgen, dass Kane sich mit ihm beschäftigte.
Der Killer durfte sich nicht auf Risa konzentrieren oder beenden, weswegen er hergekommen
war. Er machte einen Schritt auf den Killer zu.
Kanes Kopf ruckte hoch. „Bleiben Sie, wo Sie sind, Burnell."
„Wie haben Sie das geschafft? Sie haben sie sich direkt unter unseren Augen geschnappt."
Trent hielt den Blick auf Kanes Gesicht gerichtet und widerstand der Versuchung, Risa in die
Augen zu schauen. Ihr Blick war erfüllt von Vertrauen, das wusste er. Sein Herz krampfte
sich vor Sehnsucht zusammen.
Wo, zum Teufel, blieben die anderen? „Sagen Sie mir, wie Sie es gemacht haben, Kane."
„Warum? Schreiben Sie auch ein Buch?"
Trent reagierte nicht auf diese Frage, sondern behielt bewusst ein ausdrucksloses Gesicht
bei. Kane gefiel sich darin zu zeigen, wie clever er war, wie er die Polizei austricksen konnte,
ja, sogar das FBI. Darauf baute Trent. Er hoffte, ihn damit so lange ablenken zu können, bis
Hilfe kam. „Es gibt nicht viele Killer, die es geschafft haben, mich zu täuschen. Ihnen ist es
gelungen. Aber wie?"
Kane lächelte, aber die Kälte in seinen Augen blieb. „Ich habe den Ball nur ins Spiel
gebracht. Sie haben ihn angenommen."
Natürlich. Es war genau das, was Trent erwartet hatte. „Sie haben damit gerechnet, dass
Dixie jede Gelegenheit zu telefonieren nutzen würde."
„Glauben Sie ernsthaft, ich würde versehentlich ein Telefon herumliegen lassen?"
„Und Sie wussten, wen sie anrufen würde."
„Das liebe Schwesterherz." Er warf einen Blick auf Risa, sein Gesicht war nur ein paar
Zentimeter von ihrem entfernt. Genießerisch schob er die Zungenspitze zwischen den
schmalen Lippen hervor und strich damit langsam von ihrem Kinn bis zum Haaransatz.
Risa zuckte zusammen.
Trent ballte die Fäuste. Nur mit äußerster Willensanstrengung bewahrte er nach außen hin
Ruhe. Er musste mehr Zeit gewinnen. „Aber Sie konnten doch nicht wissen, was danach
geschehen würde."
„Sie schmeicheln sich selbst. Ich wusste genau, was passieren würde. Sie würden sie
irgendwohin bringen, wo Sie sie sicher glaubten. Und dann würden Sie und Ihre Truppen in
den Kampf marschieren, um den Rest zu erledigen."
Trent zuckte innerlich zusammen. Kane hatte Recht. Er hatte Risa zum Polizeirevier
gebracht, weil er sie dort in Sicherheit wähnte. Sicherer als bei einem Einsatz, weit weg vom
Kugelhagel, weit fort von ihm selbst. Er tat es, um sie zu schützen, ohne zu ahnen, dass er sie
dem Mörder direkt in die Hände spielte.
Kane hatte sich ein persönliches Profil von ihm erstellt.
„Ihr Handeln ist eben vorhersehbar, Burnell. Ich brauchte nur noch die beiden Bullen auf
dem Revier aus dem Weg zu räumen und meinen Preis abzuholen." Er nahm das Messer von
Risas Kehle und schob es unter den Steg ihres schwarzen BHs. Dann grinste er Trent
spöttisch an. „Ich habe gewonnen."
Niemals! Trent spannte sämtliche Muskeln an, bereit, sich auf den Mörder zu stürzen.
Im selben Augenblick ertönten in der Ferne Sirenen.
Kanes Kopf ruckte herum.
Risa stieß den Ellbogen nach hinten und rammte ihn Kane in die Rippen.
Keuchend entwich die Luft aus seinen Lungen. Er klappte zusammen, hielt gle ichzeitig, in
Erwartung der nächsten Attacke, die Arme vor die Rippen.
Sie sprang zur Seite, landete auf allen vieren auf dem Waldboden und kroch hastig aus
Kanes Reichweite. Und aus der Schusslinie.
Die Pistole! Trent stürzte vorwärts, riss die Himbeerranken auseinander, ohne darauf zu
achten, dass sich die Dornen tief in seine Haut bohrten.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Risa sich aufrappelte, gerade, als Kane wieder nach ihr
griff. Er bekam ihren Arm zu fassen.
Trent kümmerte sich nicht weiter um die Pistole, sondern stürmte vorwärts. Er rammte
Kane mit aller Kraft, warf ihn um und landete auf seiner Brust. Schmerz durchzuckte ihn.
Schnell riss Kane das Messer zurück und stieß wieder zu.
Trent packte seinen Arm und drückte ihn nach unten. Wieder und wieder hieb er den Arm
des Mörders auf die Erde und versuchte, ihm die Waffe zu entwinden.
Kanes freie Hand fand sein Gesicht. Finger krallten sich hinein, stießen nach seinen
Augen. Trent wandte den Kopf zur Seite, um sich zu schützen. Versuchte, etwas zu sehen.
Die Hand mit dem Messer drohte ihm zu entgleiten.
Trents Augen tränten. Seine Seite schmerzte. Selbst im Kampfgetümmel nahm er die
klebrige Feuchtigkeit wahr, die sein Hemd tränkte, ihm zunehmend die Kraft nahm. Er musste
durchhalten. Um keinen Preis durfte er zulassen, dass Kane die Hand mit dem Messer wieder
freibekam...
Kanes Kopf flog zur Seite. Trent bekam gerade noch mit, wie Risa den Fuß zurückzog.
Dann landete er wieder an der Schläfe des Killers.
Kane ließ das Messer fallen. Seine Finger in Trents Gesicht erschlafften.
Ohne Zeit zu vergeuden, warf Trent ihn auf den Bauch und hielt seine Hände auf dem
Rücken fest. Die Sirenen kamen näher.
„Ich konnte die Pistole nicht finden. Trent? Oh, Gott, du bist verletzt." Risa sank neben
ihm auf die Knie.
Er drehte sich um und schaute sie an, auf das Licht, die Stärke in ihren Augen. Es war
vorbei. Kane war erledigt. Sie hatten ihn geschlagen, das Böse besiegt. Sie hatten gewonnen.
Zusammen.
Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel, trotz der Schmerzen, die rasch stärker wurden.
„Netter Tritt."
„Komm, lass mich deine Wunde sehen." Sie ignorierte sein Kompliment und zerrte an
seinem Hemd. Unbeholfen, weil sie noch immer die Handschellen trug. Eine klaffende
Fleischwunde wurde sichtbar. „Oh, Trent."
Er warf einen Blick auf die Wunde, das Blut. Die Verletzung sah bedrohlich aus, aber er
würde es überleben. Er musste es, denn er hatte noch allerhand Dinge zu erledigen.
„Dixie geht es gut. Sie ist in Sicherheit."
Tränen schossen Risa in die Augen. „Gott sei Dank."
Er wollte sie in die Arme nehmen und ihr sagen, dass alles vorbei sei. Alles. Aber zuerst
musste er dafür sorgen, dass Kane niemandem mehr wehtun konnte.
Seine Wunde schmerzte. Trent presste die Zähne zusammen. Er kniete sich mit einem Bein
auf Kanes Rücken und tastete ihn ab. In einer der Taschen fühlte er einen kleinen harten
Gegenstand. Ein Schlüssel. Er griff hinein und zog ihn heraus. „Warte, ich öffne deine
Handschellen."
Risa streckte ihm die Hände hin.
Er nahm ihr die stählernen Ringe ab und legte sie Kane um die Handgelenke. Dann schloss
er den Killer mit dem Rücken an einen jungen Baum in der Nähe.
Die Sirenen wurden lauter. Kane rührte sich, erwachte allmählich aus seiner Ohnmacht. Es
würde ihm nichts nützen. Selbst wenn er vor Donatellis Ankunft wach wurde, würde er
nirgendwohin mehr gehen.
Nur noch ins Hochsicherheitsgefängnis.
Risa knöpfte Trent das Hemd auf und zog es ihm aus. Sie knüllte es zusammen und presste
es gegen die Wunde an seiner Seite. „Lehn dich zurück", befahl sie. „Wir müssen die Blutung
stillen."
Trent folgte ihrer Anweisung. Sie mussten die Blutung tatsächlich zum Stillstand bringen.
Und er durfte seine Kräfte nicht verausgaben. Das Schicksal hatte ihm eine weitere Chance
gegeben. Eine zweite Chance zu leben. Zu lieben. Glücklich zu sein. Und er brauchte all seine
Kraft, um diese Chance zu packen und festzuhalten.
Er musste nur die richtigen Worte finden. Sein Blick fiel auf den langen Schnitt zwischen
ihren Brüsten. Ihm zog sich der Magen zusammen. „Du bist verletzt. Er hat dich geschnitten."
Trent versuchte, sich aufzurichten.
Sie drückte ihn energisch zurück und zuckte bei der Anstrengung zusammen. „Es tut zwar
weh, aber ich bin in Ordnung. Der Schnitt ist nicht sehr tief."
Ihm wurde schwindlig. Er versuchte, den Nebel zu vertreiben. Nichts würde ihn davon
abhalten zu sagen, was er zu sagen hatte. „Du hattest Recht, Rees."
Sie blickte ihn an, runzelte die Stirn. Ein sorgenvoller Ausdruck trat in ihre Augen. „Recht
womit?"
„Mit uns." Er tastete nach ihrer Hand, fand sie und legte seine darüber. „Ich habe
zugelassen, dass das Böse in den letzten beiden Jahren mein Leben zerstörte. Stück für
Stück."
Wagen bremsten in einiger Entfernung. Stimmen brüllten Befehle.
Trent holte tief Luft. „Zuerst war ich von dir wie besessen. Dann verbannte ich alles Gute
und Schöne aus meinem Leben. Ich verbannte dich."
Tränen traten ihr in die Augen und verfingen sich in den Wimpern. Sie öffnete den Mund.
„Warte. Lass mich zu Ende reden. Ich möchte, dass du mich verstehst."
„Ich verstehe dich."
„Dann will ich es sagen, um es selbst zu begreifen. Ich möchte diese Worte laut und
deutlich aussprechen und sie dadurch Wirklichkeit werden lassen."
Ein Lächeln flatterte über ihr Gesicht, schimmerte in ihren Augen. Sie schluckte und
nickte.
„Diese beiden Jahre, in denen ich nur Dunkelheit und Tod atmete und erlebte, ließ ich
Kane gewinnen." Seine Stimme bebte kurz. Er zwang sich weiterzusprechen. „Damit ist von
nun an Schluss. Ich werde kämpfen. Und dabei brauche ich deine Hilfe."
Schritte dröhnten im Dickicht. Dunkle Gestalten kämpften sich ihren Weg durch die
dornigen Büsche zu ihnen.
„Du hast mich stark gemacht, Rees. Stärker, als ich es allein sein konnte."
Tränen rannen ihr nun über die Wangen und mischten sich mit dem Regen. Tränen der
Freude. Tränen der Erlösung.
„Ich liebe dich, Rees. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, nicht einen einzigen
Augenblick lang. Ich liebe deinen Dickkopf und deine Verletzlichkeit und das Licht der
Hoffnung, das in deiner Seele brennt."
Sie strahlte ihn an. „Ich liebe dich auch, Trent. Und ich werde dich immer lieben."
Jetzt lächelte Trent. Es war ein Lächeln, das tief aus dem Herzen kam. Aus seiner Seele.
„Du hast mich gerettet, Rees. Mich glauben gelehrt. An Licht. An Hoffnung. Und du
hattest die ganze Zeit über Recht. Zusammen sind wir stärker."
EPILOG

„Risa und Trent", sagte der Pastor und lächelte auf die beiden herab. „Wenn es euer Wille und
Wunsch ist, Freud und Leid zu teilen in all den Jahren, die vor euch liegen, dann gebt euch
nun das Versprechen, das euch in liebevoller Ehe zusammenfügt."
Risa drehte sich zu Dixie um und reichte ihr den Brautstrauß aus weißen Rosen und
Flieder. Das Rascheln von Satin, Organza und Spitze übertönte das aufgeregte Pochen ihres
Herzens. In all den Jahren, die sie Trent geliebt hatte, in denen sie ihn so gern geheiratet hätte,
hatte sie immer von einer romantischen Hochzeitsreise und einem wundervollen
gemeinsamen Leben geträumt. An ihre Hochzeit hatte sie nie viele Gedanken verschwendet.
Aber sie hätte nicht perfekter sein können, selb st wenn sie sie ihr Leben lang vorbereitet hätte.
Und sie könnte nicht glücklicher sein.
Sie wandte sich wieder Trent zu, schaute ihm in die Augen, die wie die Sommersonne
draußen vor den Fenstern der kleinen Kirche leuchteten. Er nahm ihre Hände.
Überall im Kirchenschiff waren üppige Fliedersträuße verteilt. Risa sog den süßen Duft
ein, der den gesamten Raum erfüllte. So wie die Süße der Liebe Trents Augen erfüllte. Und
ihr Herz.
Es schien schon so lange her zu sein, dass er sie vor Kanes Messer gerettet hatte, doch es
waren nur ein paar Wochen vergangen. Die erste Woche hatte Trent im Krankenhaus
verbringen müssen, um von seiner Verwundung zu genesen, die glücklicherweise nicht so
schwer war, wie sie ausgesehen hatte. Und Risa hatte jeden Tag an seiner Seite gesessen und
war selbst genesen. Von der Wunde auf ihrer Brust, den Abschürfungen und Prellungen, und
vor allem von den Nachwirkungen des Entsetzens in den Minuten, als Kane ihr das Messer an
den Hals drückte und ihr sein Pfefferminzatem ins Gesicht schlug.
Und auch wenn weder Trent noch sie sich völlig erholt hatten von den schrecklichen
Erlebnissen, so befanden sie sich doch auf dem besten Weg dazu. Auf dem Weg in eine
wundervolle Zukunft.
Risa war nicht so naiv zu glauben, sie würde ohne Narben davonkommen. Sie brauchte nur
auf die heilende Haut auf ihrer Brust zu schauen, die jetzt durch das Hochzeitskleid verdeckt
wurde, um zu wissen, dass sie noch Zeit brauchte. Das Gleiche galt für Trent und Dixie. Aber
sie war ganz sicher, dass sie es schaffen würden. Zusammen.
Dryden Kane hatte die Schlacht verloren. Und den Krieg. Er saß jetzt hinter den Gittern
des Hochsicherheitsgefängnisses und würde nie wieder eine Frau terrorisieren.
Auch Duane Levens würde seine Strafe absitzen müssen. Er war ein bedauernswertes
Opfer seines Hasses und seiner Rachsucht geworden. Für eine Überraschung hatte gestern
jedoch eine Karte von Sergeant Pete Wiley gesorgt, verbunden mit einem großzügigen
Hochzeitsgeschenk. Er entschuldigte sich bei Risa für sein Verhalten ihr gegenüber. Sie solle
es nicht persönlich nehmen. Er wäre wütend auf die ganze Welt und fest entschlossen
gewesen, Kane hinter Schloss und Riegel zu bringen.
Risa verscheuchte Kane und die anderen aus ihrem Kopf. An diesem besonderen Tag
wollte sie keine Zeit mit den Gedanken an die Schattenseiten des Lebens vergeuden. Heute
heiratete sie den Mann, den sie über alles liebte.
„Ich nehme dich, Risa Madsen, zu meiner Frau...", erklärte Trent mit leiser, gefühlvoller
Stimme.
Risa lief ein Schauer über den Rücken. Träne n verschleierten ihren Blick. Sie blinzelte, um
sie aufzuhalten. Wenn sie ihr über die Wangen liefen, würden sie ihr das Make- up ruinieren.
Sie wollte schließlich eine Menge Hochzeitsfotos haben. Perfekte Fotos, die den Zauber
dieses Moments und ihr strahlendes Glück für immer und ewig festhielten.
„... in guten und in schlechten Zeiten ..."
Deutlich hörbar seufzte Dixie hinter ihr. Nachdem die Ehe mit Kane annulliert worden
war, war sie wieder Single. Doch sie genoss ihre Rolle als Risas Brautjungfer. Und die
Aufmerksamkeit von Polizeichef John Rook. Obwohl der Chief von seinen schweren
Verletzungen noch geschwächt war, entging Risa doch nicht das Leuchten in seinen Augen,
jedes Mal, wenn er ihre Schwester anblickte.
„... dich ehren und achten ..."
Trents Stimme drang in ihre Gedanken. Seine Versprechen für die Zukunft erfüllten ihr
Herz: einander ehren und achten, geben und nehmen, reden und zuhören. Ja, so würde ihr
Leben sein. Das würden sie daraus machen.
„... dich lieben und umsorgen ..."
Sie schaute ihn durch einen Tränenschleier an. Es waren Tränen der Freude. Tränen, die
Schmerz und Angst fortspülten. Tränen, die neue Kraft gaben, neuen Mut.
Und in seinen Augen sah sie die gleichen Tränen schimmern.
„... ein Leben lang, bis dass der Tod uns scheidet."

-ENDE-
Ein gefährlicher Plan

Sylvie Kurtz

Julia Love & Crime 01 - 2/03

Gescannt von almutK


Korrigiert von Max
PROLOG

Brooke schaute hinaus zu ihren Eltern am Seeufer, froh, dass die dicke, schmutzige
Glasscheibe des Dachbodenfensters ihren Streit nur gedämpft durchließ. Ihr Vater fuchtelte
mit den Armen wie eine dieser verrückten Comicfiguren im Fernsehen. Das Gesicht ihrer
Mutter sah aus, als sei es erstarrt. Brooke mochte es nicht, wenn ihr Dad sauer wurde und ihre
Mutter so still. Sie spürte einen dumpfen Druck im Magen und blinzelte heftig, als alles vor
ihren Augen verschwamm.
„Nicht doch, Brookie. Dies ist ein Zauberdachboden. Hier ist das Weinen verboten."
Brooke schniefte und drehte sich zu ihrer Schwester um. „Ich habe Angst."
„Ich weiß. Aber ich passe auf dich auf." Alyssa rutschte über die rauen Bretter zu ihrer
Zwillingsschwester hinüber.
„Aua!"
Ein langer Splitter hatte sich in Alyssas Finger gebohrt. Brooke fühlte den Schmerz in
ihrem eigenen Daumen pochen. „Komm, lass sehen."
Unter Tränen hielt Alyssa ihr die Hand hin. Brooke zog den Splitter vorsichtig heraus und
küsste die gerötete Stelle. „Da, alles wieder gut." Sie lächelte. „Ich passe auch auf dich auf,
Aly."
Die Arme tröstend umeinander gelegt, drehten sich die beiden Mädchen zum Dachfenster
und sahen hinaus. Das orangerote Licht der untergehenden Sonne tanzte jetzt auf dem fast
schwarz wirkenden Wasser – ein schöner Anblick. Brooke ließ den Kopf gegen Alyssas
Schulter sinken. „Wir passen aufeinander auf."
1. KAPITEL

Nach vierund zwanzig Jahren hatte Brooke Snowden ihre Schwester wieder gefunden – und
gleich ein zweites Mal verloren.
So hatte sie sich das Zusammentreffen nicht vorgestellt. Statt Freudenschreien und
Aufeinanderzurennen in der Ankunftshalle, statt liebevoller Umarmungen und langer
Gespräche, die ihnen geholfen hätten, die lange Zeit der Trennung zu überbrücken, herrschte
Stille, eine unnatürliche, drückende Stille.
„Alyssa..."
Ihre Zwillingsschwester lag im Krankenhausbett, eine leblose Hülle ihrer selbst. Das kurze
blonde Haar war größtenteils von einem dicken Verband verdeckt. Ihre Haut wies eine fahle
Blässe auf. Die bläuliche Vene des einen Arms stand deutlich hervor. In ihr pulsierte das
Leben. Der andere Arm war eingegipst. Ihr Gesicht und eine Hand waren mit dunklem Schorf
bedeckt, dort, wo die Wunden langsam abheilten. In ihrer Schwester ihr zerschundenes
Ebenbild zu erblicken war erschreckend.
Zögernd griff Brooke nach Alyssas Hand. Aber sie spürte nichts von der Wärme, die sie
von früher her kannte, das dumpfe Klopfen des Pulses teilte ihr nichts mit. Nicht einmal das
leiseste Gefühl des Schmerzes übertrug sich auf sie.
Es gab so viel zu sagen, zu erklären, zu fühlen, aber dieser Mensch, einst wie ein Teil von
ihr, war eine völlig Fremde für sie. Eine Fremde, die sie so verzweifelt gern wieder kennen
lernen wollte.
„Erinnerst du dich ...?" begann sie, brach ab und schluckte. Alyssa fehlte ihr, jetzt mehr als
damals, als sie gedacht hatte, sie wäre für immer gegangen.
„Ich habe es nicht gewusst." Brooke setzte sich auf die Bettkante, und die Matratze senkte
sich unter ihrem Gewicht. Schnell erhob sie sich wieder, fürchtete, sie könne irgendwelchen
Schaden an den Schläuchen anrichten, die Alyssa am Leben erhielten. „Mom hat mir erzählt,
dass du und Dad tot seid. Ein Autounfall. Gleich nachdem sie ... fortging."
Brooke wandte sich ab von der unbeweglichen Gestalt, die ihre Schwester war. Draußen
vor dem Fenster schien warm die Sommersonne, spiegelte sich in den Scheiben. Aber die
schöne Aussicht auf Boston war ihr gleichgültig. Sie war einzig und allein Alyssas wegen
hier.
„Wenn Mom nicht einen Herzinfarkt erlitten hätte, wüsste ich es immer noch nicht."
Brooke kam sich ein wenig komisch vor, mit jemandem zu sprechen, der aussah, als würde er
schlafen. Ihre Stimme schien zu laut, hallte von den nackten Wänden und dem blitzblanken
Boden wieder. Verzweifelt versuchte sie, Zugang zu ihrer Schwester zu finden, konnte nicht
einfach aufhören zu reden. Sie senkte die Stimme fast zu einem Flüstern – so, wie sie mit
ihren Vorschulkindern sprach. „Sie hatte Angst zu sterben. Ich glaube, sie wollte ihr
Gewissen erleichtern."
Brooke schloss die Augen bei der Erinnerung an das Geständnis ihrer Mutter, an das
Mitleid und die Bitterkeit, die sie immer noch empfand.
„Sie tat es nicht. Sterben, meine ich. Sie erholt sich jetzt in einem Pflegeheim in San
Diego. Bald wird sie wieder gesund sein."
Sie begann, auf und ab zu gehen. Bei jedem Schritt gaben die Gummisohlen ihrer
Leinenschuhe ein quietschendes Geräusch von sich. Sie blieb stehen, schaute verwirrt auf ihre
Füße und ließ sich in den beigefarbenen Sessel sinken.
„Ich rief an, sobald ich konnte. Aber... es war bereits zu spät." Sie starrte auf ihre
Schwester und knetete unruhig die Hände. „Eine Frau, die sich mit Franny Cotter meldete,
sagte mir, dass du einen Unfall hattest. Ich musste herkommen."
Wir passen aufeinander auf. Das Kindheitsversprechen ging ihr durch den Sinn, weckte
Schuldgefühle, weil sie es nicht hatten einhalten können. „Ich habe es nicht gewusst, Aly. Ich
habe es nicht gewusst."
Rastlos stand sie wieder auf. Sie wollte nicht weinen. Sie musste etwas tun. Handeln. Diese
Hilflosigkeit hielt sie nicht aus. Und doch gab es nichts, was sie für Alyssa hätte tun können.
Plötzlich kam ihr die rettende Idee.
Sie konnte bei ihr bleiben.
Erst in zwei Monaten begann die Schule wieder. Sie würde sich in der
Krankenhausbibliothek alles über Komapatienten anlesen. Sie würde einfach für ihre
Schwester da sein.
Es konnte der erste Schritt zur Heilung sein – für sie beide.
Plötzlich war sie von neuer Energie erfüllt, jetzt, da der Entschluss gefasst war.
Sie griff in ihre Handtasche und zog Notizbuch und Kugelschreiber heraus, um sich gleich
eine Liste zu machen. Sie brauchte ein Zimmer hier in der Nähe, wollte ihre Mutter anrufen,
dann musste sie mit...
„Alyssa!"
Das raue Flüstern ließ sie erschrocken aufsehen. Der Mann in der Tür starrte sie mit einer
Intensität an, die ihr den Atem nahm. Dunkle Augen, ein Gesicht wie gemeißelt, ein Blick wie
ein Raubtier und die gleiche angespannte Haltung, als setze er zum Sprung an. Unwillkürlich
wich sie einen Schritt zurück. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Notizbuch und Stift fielen ihr aus der Hand. Die Tasche glitt ihr von der Schulter, sie
machte noch einen Schritt zurück, wie um ihre hilflose Schwester vor dieser unbekannten
Gefahr zu schützen.
„Alyssa."
Vor Jack Chessman stand das Wunder, das die Ärzte ausgeschlossen hatten. Alyssa war
aus dem Koma erwacht, anscheinend bereit, nach Hause zu gehen.
Das Sonnenlicht strömte hinter ihr durchs Fenster herein und lag um sie wie ein
Heiligenschein. Ihr langes hellblondes Haar fiel ihr schimmernd über die Schultern, das
luftige, blau und pink gemusterte Kleid schmiegte sich um ihren schlanken Körper – um
Formen, die ihm bisher nie richtig aufgefallen waren. Ihre Haut hatte einen goldenen Ton und
war völlig heil. Als er die Hand nach ihr ausstreckte, fuhr sie zurück.
Ein seltsames Gefühl durchrieselte ihn. Er wollte sie berühren, halten, den blumigen
Sommerduft einatmen, der auf ihn zutrieb.
Irgendetwas stimmte nicht.
Er zwinkerte, runzelte die Stirn. Ihre großen grünen Augen waren voller Furcht. „Alyssa?"
„Wer sind Sie?"
Die Stimme passte nicht, sie war sanfter, als er sie in Erinnerung hatte. Dann sah er die
Finger mit den polierten, rosa lackierten Nägeln, die über dem Notrufknopf verharrten.
Und im Bett Alyssas reglose Gestalt.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in den Magen.
Es war nicht Alyssa.
Die Frau, die vor ihm stand, sah aus wie sie – und doch auch wieder nicht. Etwas
Strahlendes ging vo n ihr aus, während Alyssa immer etwas Düsteres umgab.
Wer war sie? Woher kam sie? Warum war sie hier?
„Mein Name ist Jack Chessman." Kurz hatte die Überraschung ihn aus dem Gleichgewicht
gebracht, aber nun fand er wieder zu der kühlen professionellen Distanz zurück, die sein
Beruf als Polizist erforderte. „Ich bin ein Freund von Alyssa. Und wer sind Sie?"
Die Frau nahm den Finger nicht von dem roten Knopf, musterte Jack mit einem Blick
voller Misstrauen, und er spürte ihre Furcht fast körperlich.
„Ich bin ihre Schwester. Brooke. Brooke Snowden."
„Brooke Snowden." Jack trat näher, vermochte den Blick nicht von dem Gesicht zu
nehmen, das Alyssas ähnelte und doch so anders aussah. Der Schnitt der Augen, der Schwung
der Nase, die Wangenknochen, die Sommersprossen, selbst die moosgrünen Augen kamen
ihm vertraut vor und gleichzeitig fremd.
Konnte es wahr sein? Hatte Alyssa eine Schwester, von der er nichts wusste?
Nein, das war unmöglich. Alyssa hatte alle Schicksalsschläge, alle Enttäuschungen, jeden
Schmerz mit ihm geteilt. Etwas derart Wichtiges wie eine Schwester hätte sie ihm nicht
verheimlicht.
„Ich kenne Alyssa, seit sie sechs ist." Jack nahm ihre Finger von der Klingel. „Sie hat
keine Schwester."
Die Frau entzog ihm ihre Hand, dann schob sie sich an ihm vorbei ans Fußende des Betts.
„Ich hielt sie vierundzwanzig Jahre lang für tot. Mein Vater hat ihr wahrscheinlich erzählt,
ihre Mom und ich seien ums Leben gekommen – so wie Mom mir erzählte, Dad und Alyssa
wären bei einem Autounfall gestorben."
Sie zog eine Schulter hoch, wie Alyssa es tat, wenn sie sich einer Sache nicht ganz sicher
war.
„Warum sollten sie so grausam gewesen sein?"
„Das weiß ich nicht." Brooke zuckte die Achseln, schaute ihn traurig und verwirrt an. „Dad
zog mit uns in das Haus am See. Unsere Eltern stritten sich fürchterlich. Dann nahm Mom
mich und fuhr mit mir weg. Sie weigerte sich, meine Fragen zu beantworten. Irgendwann
hörte ich auf, welche zu stellen."
Ihre Augen faszinierten ihn. Das Grün wurde intensiver, wenn sich Gefühle auf ihrem
Gesicht zeigten. Plötzliches Verlangen ließ sein Herz hämmern.
Wütend auf sich selbst, weil er solche Regungen zuließ, sagte er scharf: „Hier ist nichts zu
holen."
Sie starrte ihn ungläubig an. „Was erlauben Sie sich, Mr. Chessman?"
„Lieutenant Chessman, Polizeirevier Comfort."
„Lieutenant", fuhr sie fort und ballte die Fäuste, „mich interessiert es nicht, ob Alyssa
Vermögen besitzt oder nicht. Nach vierundzwanzig Jahren wollte ich eigentlich nur meine
Schwester wiedersehen." Sie schaute auf die reglose Gestalt, und ihre Miene wurde weicher.
„Leider bin ich zu spät gekommen."
Er musterte Brooke eindringlich und versuchte, seine unerwünschte Reaktion auf diese
Frau zu unterdrücken. Sah er überall Feinde, nur weil er Alyssa nicht hatte beschützen
können? Ihre Angst, wenn auch recht lässig zum Ausdruck gebracht, war begründet gewesen.
Doch er hatte sie nicht ernst genommen.
Bis er das gerissene Kletterseil am Devil's Grin sah. Da musste er sich seinen
folgenschweren Irrtum eingestehen.
Nun lag sie im Koma.
Und weil die Forstpolizei Alyssas Sturz als Unglücksfall eingestuft hatte, würde niemand
mehr versuchen herauszubekommen, ob nicht einer ihrer Freunde sie hatte umbringen wollen.
Sie waren an jenem Tag bei der Klettertour dabeigewesen. Es kam nur einer von ihnen
infrage. Noch während man Alyssa mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus transportierte,
hatte Jack sich geschworen herauszufinden, von wem das Seil manipuliert worden war.
Er hielt die Versprechen, die er gab. Niemand würde ihr ein zweites Mal etwas antun.
Jack hatte Mühe, seinen Zorn in den Griff zu bekommen. Er hakte die Daumen in die
Gürtelschlaufen seiner Jeans, musterte Brooke, während er auf sie zuschritt. „Wirklich nur
schlechtes Timing?"
„Ist das so abwegig?"
Sie bewegten sich wie Tänzer. Er trat einen Schritt vor, sie einen zurück. Bald würde er sie
in die Enge getrieben haben. Sein Zorn verrauchte. Er hatte die Situation fast wieder im Griff.
„Alyssa bedeutet mir viel. Nun, da sie wehrlos ist, habe ich vor, sie zu beschützen."
„Ich verstehe." Sie atmete einmal tief durch. Ihre Schultern entspannten sich, als wäre eine
Last von ihr abgefallen.
Ihre Reaktion überraschte ihn. Er hatte erwartet, ihre Abwehrhaltung würde sich
verstärken. Stattdessen sah sie ihn an, als wären sie beide auf derselben Seite. Ihr Lächeln traf
ihn wie ein unerwarteter Schlag. Was war nur los mit ihm?
Sie ging an ihm vorbei, setzte sich auf den Sessel auf der anderen Seite des Betts und
musterte ihre Schwester besorgt. Das blonde Haar fiel schimmernd über ihre Schulter. Ein
erotisches Bild flammte in seinem Kopf auf, ehe er es verhindern konnte. Alyssa hatte eine
Zwillingsschwester. Warum hatte sie ihm das verheimlicht?
Und warum faszinierte diese Frau ihn so sehr? Für Alyssa, die genauso aussah, empfand er
nur brüderliche Gefühle.
Sie bedeutet Ärger. Er wusste es, spürte es förmlich in den Knochen, aber er konnte sich
nicht wappnen gegen die Sinnlichkeit, die sie bei jeder Bewegung ausstrahlte.
Von der Seite des Betts her, wo er noch immer stand, sagte er: „Sie hat ein Schädeltrauma.
Man hat ihr eine Drainage gelegt, um den Druck im Kopf zu mindern. Ihr rechter Arm ist
gebrochen. Sie hat Prellungen und Abschürfungen an der gesamten rechten Körperseite."
Brooke berührte vorsichtig den Verband an Alyssas Kopf. „Und wie kommt es dann, dass
sie ... in diesem Zustand hier liegt?"
„Ihr Gehirn muss erst abschwellen. So etwas ist normal."
„Dann wird sie also wieder aus dem Koma erwachen?"
„Beunruhigt Sie das?" fragte er sarkastisch.
Den Blick immer noch auf Alyssa gerichtet, ignorierte sie seine Bemerkung. Aber ihm
entging nicht das ärgerliche Aufblitzen in ihren Augen. „Was für ein Mensch ist sie?"
„Weswegen sind Sie hier?" konterte er mit einer Gegenfrage, entschlossen, den Grund
herauszufinden.
Brooke seufzte, als hätte sie es mit einem bockigen Kind zu tun. Dann blickte sie ihm fest
ins Gesicht. „Sie sind sehr darauf bedacht, sie zu beschützen."
„Ja."
„Ich bin nicht hier, um ihr ein Leid zuzufügen."
„Warum dann?" fragte er.
„Meine Mutter glaubte, sterben zu müssen, und wollte ein reines Gewissen haben, ehe sie
vor ihren Schöpfer trat."
Sie sprach gepresst, und er hatte den sicheren Eindruck, dass sie ihm etwas verschwieg.
„Ein Bekenntnis auf dem Totenbett?"
„Sie starb nicht, aber es war zu spät, das einmal Gesagte wieder zurückzunehmen."
Jack ärgerte sich. Diese junge Frau zog ihn in ihren Bann. Dabei wollte er sich doch auf
Alyssa konzentrieren, sie beschützen und herausfinden, wer ihr dies angetan hatte.
Müde fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. In Krankenhäusern hatte er sich nie wo hl
gefühlt. Sie bedeuteten Tod, bittere, schmerzliche Niederlagen. Das hatte er mit siebzehn
lernen müssen, als seine Mutter entschlossen gewesen war, sich das Leben zu nehmen. Es war
ihr gelungen.
„Wie ist es passiert?" fragte Brooke und schaute wieder auf Alyssa. „Die
Krankenschwester wusste es nicht genau."
„Kletterunfall."
„Waren Sie dabei?"
Er erstarrte bei dieser Frage, dann nickte er kurz.
Brooke blickte ihn erwartungsvoll an, wartete auf Details. Was sollte er ihr sagen? Dass er
verantwortlich dafür war, dass ihre Schwester jetzt im Koma lag? Weil er sie gegen besseres
Wissen hatte klettern lassen? Dass sie ihn überredet hatte, wie gewöhnlich, denn dieser Sport
war eine der wenigen Freuden in ihrem Leben? Weil er die Traurigkeit in ihren Augen nicht
ertrug? Weil er dachte, er sei ja dabei, um sie zu beschützen, auch wenn sie mit ihren
Gedanken ganz woanders war?
Jack griff nach Alyssas Hand und strich sachte über ihre kühlen Finger, wünschte sich, sie
würde die Augen öffnen, den Mund zu ihrem vertrauten ironischen Lächeln verziehen.
„Sie stürzte ab. Prallte gegen den Felsen."
Er glaubte wieder das dumpfe Geräusch zu hören, mit dem sie gegen den harten Granit
schlug, und dann das metallische Klimpern der Ausrüstung, als sie in ihrem Gurt hing wie
eine Puppe mit ausgerenkten Gliedern. Sekundenlang durchlebte er erneut das Entsetzen, als
er das eingerissene Seil sah und sie im allerletzten Moment noch fassen konnte.
Irgendjemand hatte das Seil mit Absicht beschädigt – ein Seil, das er mehrfach genau
geprüft hatte. Er würde nicht ruhen, bis er herausgefunden hatte, wer dafür verantwortlich
war. Und bestimmt würde er sich nicht von dieser wie aus dem Nichts aufgetauchten
Schwester davon ablenken lassen.
Er kniff die Augen halb zusammen. „Irgendjemand hat versucht, sie zu töten."
2. KAPITEL

„Aber Sie sagten, es sei ein Unfall gewesen!" Brooke schüttelte entsetzt den Kopf. Ihr entging
nicht die Abneigung in den harten Augen von Jack Chessman, mit denen er sie unerbittlich
musterte. Was habe ich dir getan? fragte sie sich irritiert. „Wer hätte sie umbringen wollen?
Aly war der netteste, liebenswerteste Mensch, den ich kannte."
„Sie hasst es, wenn man Aly zu ihr sagt."
„Ich habe sie so genannt. Sie nannte mich Brookie. Niemand außer mir durfte das." Auch
hatten sie mit keinem ihr Geheimnis geteilt, ihre stumme Zwiesprache, ihr gegenseitiges
Einfühlungsvermögen. „Wie kommen Sie darauf, dass es kein Unfall war?"
„Sie hat es mir gesagt, kurz bevor sie ins Koma fiel."
Schlagartig wurde Brooke übel. Explosionsartig breiteten sich Schmerz und Panik in ihr
aus – Alyssas Schmerz, Alyssas Todesangst. Eine Kälte, wie sie sie noch nie empfunden
hatte, kroch ihr in die Seele. Warum war diese erste Gefühlsverbindung in vierundzwanzig
Jahren zwischen ihnen so stark? Weil sie mit einem Mordversuch zu tun hatte? Sie massierte
sich instinktiv die Arme, um ihr Blut wieder zum Zirkulieren zu bringen. Die aufwühlenden
Empfindungen ebbten ab.
Was würde dieser abweisende Mann sagen, wenn ich ihm erklärte, dass ich genau weiß,
wie es sich angefühlt hat, als Alyssas Kopf gegen die Felswand schlug? fragte sie sich, als sie
wieder klar denken konnte. Was würde er sagen, wenn sie ihm erklärte, sie hätte den Aufprall
gespürt, so stark, dass sie das Gefühl gehabt hatte, ihr Kopf würde zerspringen – sie würde
sterben?
„Was genau ist geschehen?" fragte sie stattdessen.
„Das Seil klemmte. Sie verlor das Gleichgewicht, als sie versuchte, es zu lockern."
„Und schlug ..." Sie zuckte zusammen, durchlebte die Situation noch einmal. „... gegen den
Felsen. "
„Ja."
„Ein Mordversuch?"
„Jemand hatte sich an dem Seil zu schaffen gemacht."
Nun verstand sie, warum er ihre Schwester beschützen wollte. Praktisch jeder konnte der
Mörder sein und stellte nach dem misslungenen Anschlag weiterhin eine Bedrohung für
Alyssas Leben dar. Auch sie, die Schwester, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war und von
deren Existenz er keine Ahnung gehabt hatte.
Sie beugte sich vor, griff nach ihrer Handtasche und zog die Brieftasche heraus. „Wir
wurden hier in Boston geboren." Sie reichte ihm ihren Führerschein. „Dad zog mit uns nach
New Hampshire, als wir sechs waren. Alyssa ist meine Zwillingsschwester."
Er besah sich das Dokument.
„Mein Vater hatte damals einen großen Schnauzbart. Wir liebten das Spiel, wenn wir auf
seinen Knien sitzen und je ein Schnurrbartende wie Zügel fassen durften. Dann ließ er uns auf
seinen Knien reiten, bis wir vor Lachen herunterpurzelten. Kurz bevor wir umzogen, fiel
Alyssa dabei mit dem Kopf gegen den Couchtisch. Die Wunde musste genäht werden."
Brooke berührte eine Stelle unterhalb ihres Mundes. „Genau hier. Drei Stiche."
Sie folgte Jacks Blick mit den Augen, als er auf die kaum sichtbare Narbe an Alyssas Kinn
schaute, die Stirn runzelte.
„Sie war immer die Risikofreudigere von uns beiden", fuhr Brooke fort. „Dad schenkte ihr
nach dem Sturz einen runden Anhänger mit einem Schutzengel darauf."
Sie stand auf und zog eine feine Goldkette aus ihrem Ausschnitt. Der Anhänger hatte die
Form eines Halbkreises.
„Sie wollte, dass ich auch beschützt bin, also schnitt sie den Talisman in zwei Teile. Dad
versprach, mir auch einen zu kaufen, aber wir wollten nur diesen einen. Also ließ er die
scharfen Kanten polieren, jedes Stück mit einem Loch versehen und kaufte mir ebenfalls eine
Kette."
Sie hielt ihm den halben Anhä nger auf der offenen Hand hin. Seine Finger strichen über
das Gold, berührten dabei unabsichtlich ihre Handfläche. Ihr Puls jagte hoch.
„Wir haben aufeinander Acht gegeben."
Plötzlich ließ er den Talisman los und griff in die Tasche, holte Alyssas andere Hälfte des
Anhängers heraus. Vorsichtig nahm er Brookes und hielt die beiden Teile aneinander. Der
Schutzengel war wieder komplett.
Ein Tränenschleier nahm ihr die Sicht. Auch Alyssa hatte den Schutzengel behalten.
„Sie war die Starke", sagte Brooke.
Er schüttelte den Kopf. „Dann kennen Sie Alyssa nicht."
Seine Augen sind grau, nicht schwarz, fiel Brooke jetzt auf. Und sie blickten eindeutig
abweisend. Was war der Grund dafür? Alle Muskeln seines schlanken Körpers wirkten
angespannt. Er erinnerte sie an eine n Wachhund. Sie hatte Mühe, unter seinem scharfen Blick
einigermaßen klar zu denken.
„Nein, ich kenne sie nicht. Schon lange nicht mehr." Deswegen war sie ja auch hier. „Aber
sie hat mir immer gefehlt."
Sie rief sich ins Gedächtnis, dass ihre Schwester ihm am Herzen lag. Er machte sich
Sorgen um sie. Er würde nicht zulassen, dass jemand ihre Situation ausnutzte. Das sprach für
ihn.
So beschloss sie, ihm sein misstrauisches Verhalten nachzusehen. Schließlich war sie
völlig unvermutet hier aufgetaucht. Sie riss den Blick von seinem viel zu gut aussehenden
Gesicht los, setzte sich wieder und betrachtete Alyssa. „Überprüfen Sie mich, Lieutenant
Chessman. Sie werden sehen, ich bin genau die, für die ich mich ausgebe."
Er antwortete nicht. Brooke wünschte, er würde nicht so starr dastehen wie eine Statue und
versuchen, mit seinem Röntgenblick ihre Absichten zu erraten.
„Warum sollte jemand Alyssa umbringen wollen?" fragte sie, um ihn von seiner
unangenehmen Musterung abzubringen.
„Das ist die entscheidende Frage." Nun bewegte er sich endlich, lehnte sich gegen die
Fensterbank. Während er ihren Führerschein in seine Hemdtasche steckte, wanderte sein
Blick wieder zu Alyssa. „Sie ist ein sehr aufmerksamer Mensch. Ihr fallen Dinge auf, die den
meisten anderen Menschen entgehen. Leider behält sie ihre Beobachtungen nicht immer für
sich. Sie kann manchmal recht verletzend sein."
„Jemand hat sie wegen einer bissigen Bemerkung zu ermorden versucht?"
Jack runzelte die Stirn. „Vielleicht. Ich weiß, sie hatte Angst, aber sie wo llte nicht mit den
Einzelheiten herausrücken. Sie war..." Er sprach nicht weiter.
„Sie war was?"
Erneut blickte er sie an, zutiefst besorgt. Wie wäre es wohl, wenn ich einem Menschen so
wichtig wäre? fragte sie sich spontan. Aber Liebe hieß sich verstellen zu müssen, und sie war
es leid, den Erwartungen anderer zu entsprechen. Auch deswegen befand sie sich hier in
Boston.
„Sie war von innerer Unruhe erfüllt."
„Wie meinen Sie das?"
Lässig zuckte er mit den Schultern, betrachtete angelegentlich die Spitzen seiner
Schnürstiefel. „Als wäre sie auf der Suche nach etwas, das sie nicht finden konnte."
Brooke atmete tief durch. War es ihr nicht oft genug ebenso ergangen? Sie war getrieben
von etwas, wusste aber nicht, wovon. Waren sie beide unbewusst auf der Suche nach dem
anderen Zwilling? Nach der zweiten Hälfte des eigenen Ichs?
Oh, Alyssa, ich wusste nicht, dass du noch lebst, sonst hätte ich längst versucht, dich
aufzuspüren!
Und nun, da sie sie gefunden hatte...
Ein Gedanke keimte in ihr. Sie versuchte, ihn wieder zurückzudrängen. Umsonst. Brooke
sprang auf und wanderte rastlos im Raum auf und ab.
Sie lebte in einer wohlorganisierten Welt. Ihre Mutter hatte ihr Ordnung beigebracht. Alles
hatte seinen Platz. Alles verlief nach Plan. Risiken mussten so klein wie möglich gehalten
werden, und Brooke war fast niemals zu überraschen.
Aber im letzten Monat war alles um sie herum fast unwirklich gewesen. Sie hatte beinahe
ihre Mutter verloren. Sie hatte ihre Schwester gefunden – nur um zu entdecken, dass sie
unerreichbar geworden war. Ihre Welt war aus den Fugen geraten. Nichts befand sich mehr an
der richtigen Stelle.
Da sie Alyssa gefunden hatte, musste sie sie kennen lernen. Und wenn das bedeutete,
zuerst denjenigen ausfindig zu machen, der sie hatte umbringen wollen, dann würde sie es
tun.
Brooke blieb abrupt stehen und ballte die Fäuste. Sie blickte Jack fest ins ausdruckslose
Gesicht. Ihr Herz schlug heftig. Ihr schwirrte der Kopf. Schweiß rann ihr den Rücken hinab.
„Sie wollen denjenigen finden, der Alyssa dies ange tan hat." Es war eine Feststellung,
keine Frage.
„Ja."
„Ich kann Ihnen helfen."
Er richtete sich auf. „Sind Sie bei der Polizei?"
„Ich unterrichte in der Vorschule."
„Sie sind Lehrerin? Wie wollen Sie mir da helfen?"
Sie wandte sich ab. Und als sie das stille Gesicht ihrer Schwester sah, nahm ihr Gedanke
klare Formen an. Es war die richtige Idee. „Sie brauchen jemanden, der den Lockvogel
spielt."
Er blieb stumm.
„Ich gebe vor, Alyssa zu sein."
„Nein."
Brooke fuhr herum und starrte ihn an. „Ich werde vorgeben, Alyssa zu sein. Und derjenige,
der sie umbringen wollte, wird denken, er hätte es nicht geschafft und..."
„Bekommt eine zweite Gelegenheit, es diesmal richtig zu machen?" schnaubte er.
„Nein." Sie nahm ihre rastlose Wanderung wieder auf, während sie sich auf den Plan
konzentrierte, der sich in ihrem Kopf herauskristallisierte. „Nein, Sie werden die Gelegenheit
haben, ihn zu schnappen."
„Das funktioniert nicht."
„Aber natürlich."
„Sie wissen nichts über sie."
Sie tippte sich an die Stirn. „Da sie eine Kopfverletzung davontrug, wäre ein
Gedächtnisverlust durchaus glaubhaft. Niemand wird misstrauisch sein, wenn ich mich an
nichts erinnere."
Er stellte sich direkt vor sie hin, hinderte sie am Weitergehen. „Nein, ich lasse es nicht zu,
dass Sie sich in solche Gefahr begeben."
Brooke ließ sich nicht beirren. Die Gewissheit, das Richtige zu tun, verlieh ihr den Mut,
den sie brauchte. „Wie wollen Sie ihn sonst erwischen?"
„Es gibt Verdächtige."
„Wenn Sie auf ein Geständnis hoffen, können Sie lange warten."
Er verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Augen blitzten vor Wut. „Und woher
stammt Ihre profunde Kenntnis kriminalistischer Vernehmungsmethoden, wenn ich fragen
darf...?"
„Sie wären überrascht, wie skrupellos Fünfjährige sein können. Ich habe gelernt, dass die
einzige Methode zur Aufklärung eines Vergehens ist, den Täter zu veranlassen, sich selbst zu
verraten. Oder andere dazu zu bringen, es zu tun."
„Meine Arbeit spielt sich in der wirklichen Welt ab."
„Ich wette, bei den meisten Anrufen, die Sie bekommen, handelt es sich um häuslichen
Unfrieden oder dergleichen." Sie machte eine Pause, wartete auf eine Bestätigung. Als sie
keine bekam, fuhr sie fort: „Bei mir ist es ebenso."
Der Blick, mit dem er sie anstarrte, war knallhart, aber Brooke erahnte trotzdem hinter
seinem eisernen Schweigen beginnende Nachgiebigkeit.
„Und was wollen Sie mit Ihrer Schwester anfangen?", fragte er schließlich. „Jeder kann
hier hereinspazieren und sich überzeugen, dass sie immer noch hier ist."
Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter auf Alyssa. Das Wichtigste war, ihre
Sicherheit zu gewährleisten. Und das ging nur, wenn sie irgendwo war, wo ihr nichts
passieren konnte.
Ihre Mutter würde vielleicht wieder einen Lebenssinn finden, wenn sie am Bett ihrer
verlorenen Tochter saß und über sie wachte. „Ich lasse sie nach San Diego bringen. Mom
wird auf Alyssa aufpassen."
„Wie kommen Sie darauf, dass Ihre Mutter ihre Tochter nach so vielen Jahren noch sehen
will?"
„Weil sie ihr Handeln bedauert. Das hat sie ausdrücklich gesagt." Sag ihr, es tut mir so
Leid. Bitte sie, mir eine zweite Chance zu geben. Die Tränen in ihren Augen waren seit Jahren
die erste echte Gefühlsregung, die Brooke bei ihr gesehen hatte.
Er musste sich zwingen, sie weiter anzublicken. „Das wird teuer werden. Können Sie es
sich leisten?"
„Mom kann es."
Jack wollte die Hand nach ihr ausstrecken, fuhr sich stattdessen mit den Fingern durchs
Haar. „Sie kennen Alyssa nicht."
„Gedächtnisverlust..."
„Wird nur für eine gewisse Zeit glaubhaft sein."
Sie zuckte mit den Schultern. „Sie können mir beibringen, sie zu sein."
Vehement schüttelte er den Kopf, und sie meinte einen Anflug von Furcht in seinen Augen
zu erkennen. Aber es konnte auch eine Täuschung sein. Jack Chessman sah nicht so aus, als
würde er sich von etwas oder jema ndem Angst einjagen lassen.
„Sie sehen nicht aus wie sie."
„Wir sind eineiige Zwillinge." Sie griff nach ihrem Haar. „ Ich kann mein Haar so wie
ihres schneiden lassen."
Er musterte sie von oben bis unten. „Sie sind kleiner."
„Wie viel? Zwei Zentimeter? Wird das jemandem auffallen?"
Wieder dieser prüfende, bohrende Blick. „Sie sind Linkshänderin."
„Ich habe gelernt, meine rechte Hand zu benutzen, als ich mir auf der High School den
linken Arm gebrochen hatte."
Er nickte und deutete auf Alyssas Gips. „Der Arm."
„Das kommt doch genau hin. So gesehen ist es der richtige, und ich kann meine linke Hand
benutzen." Sie hob den rechten Arm. „Falscher Gips."
„Und was ist mit den Schrammen und Prellungen? Sie können ja nicht einfach über Nacht
verschwinden. Das glaubt niemand."
„Make-up."
„Man hat Sie hier im Krankenhaus gesehen."
„Ich bin erst seit einer Stunde hier."
„Woher wussten Sie, dass Alyssa hier liegt?"
„Ich habe bei ihr zu Hause angerufen. Eine Frau erzählte mir von ihrem Unfall."
„Sie haben mit Franny gesprochen."
„Aber ich habe meinen Namen nicht genannt."
„Ihr Vater wird den Unterschied bemerken."
„Nicht, wenn Sie mir helfen."
Er gab einen undeutlichen Laut von sich, der wie ein unterdrückter Fluch klang, und
schüttelte den Kopf. „Ich mache da nicht mit."
„Aber ich muss es tun."
„Warum?" Er kam einen Schritt näher, und ihr jagte ein Schauer über den Rücken. In
diesem Moment hätte sie alles darum gegeben, weit weg von Jack Chessman zu sein.
„Weil..." Sie breitete beide Hände aus. „Weil ich es versprochen habe."
„Ist Ihnen bewusst, wie gefährlich Ihr Vorhaben ist?"
Seine dunkle Stimme vibrierte leicht, und die feinen Härchen in ihrem Nacken richteten
sich auf.
„Sie werden mich nicht davon abhalten."
„Ich kann Sie auffliegen lassen."
Er stand viel zu dicht vor ihr, und ihr Herz raste wie verrückt. Sie schluckte trocken, wich
aber nicht zurück. Ihr Leben lang hatte sie anderen erlaubt, sie hin und her zu schubsen.
Diesmal würde sie es nicht zulassen.
„Nein. Schließlich wollen Sie herausfinden, wer es getan hat. Es frisst Sie innerlich auf.
Sonst hätten Sie mich nicht als Gefahr für Alyssa angesehen."
Aus einem Impuls heraus hob sie die Hand, berührte seine Wange mit den Fingerspitzen
und brachte das Argument an, von dem sie spürte, dass es ihn überzeugen würde. „Es ist die
einzige Chance, den Täter zu fassen und seiner gerechten Strafe zuzuführen."
Er fluchte unterdrückt und wandte sich ab. Als hätte sie ihn geschlagen, rieb er sich die
Wange und starrte Brooke dann an. „Das ist völlig ausgeschlossen. Sie bringen sich in
Lebensgefahr. Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie sich da einlassen."
„Aber Sie wissen es. Sie sagten, es gäbe Verdächtige."
Jack schüttelte den Kopf. „Ich wäre nie darauf gekommen, dass einer ihrer eigenen
Freunde sie umbringen wollte. Der Mordversuch an Alyssa ist offiziell ein Unfall."
„Aber Sie wissen, es war ein Mordversuch."
„Sie hat es mir gesagt."
„Und Sie glauben ihr."
„Ja."
„Umso mehr Grund für mich, ihre Rolle zu spielen."
„Umso mehr Grund für Sie, sich herauszuhalten. Dies hier ist keine Klassenfahrt."
Brooke nahm ihre Wanderung wieder auf. „Wird er es wieder versuchen?"
„Er hatte nicht den gewünschten Erfolg."
„Dann habe ich eine bessere Chance, einen zweiten Anschlag zu überleben als Alyssa, die
im Koma liegt."
„Hier gibt es Ärzte und Schwestern, die sie beschützen."
„Ärzte und Schwestern, die viel zu tun haben. Ich war eine halbe Stunde im Zimmer, ehe
sich jemand für mich interessierte." Fest blickte sie ihm ins Gesicht. „Wenn nicht Sie
beweisen, dass es ein Mordversuch war, wer sonst?"
„Niemand."
Sie nickte langsam. „In diesem Punkt sind wir einer Meinung."
„Es ist zu gefährlich."
„Ich werde es tun, Jack. Es könnte die einzige Chance sein, meine Schwester wieder
kennen zu lernen. Ein Teil von mir fehlt mir seit vierundzwanzig Jahren. Ich brauche ihn. Ich
muss ihn finden. Ich muss ihr helfen."
Zum ersten Mal meinte sie in seinen grauen Augen einen anderen, weicheren Ausdruck zu
sehen. „Sie liegt meinetwegen hier. Ich darf nicht riskieren, dass auch Ihnen etwas zustößt."
Ein kalter Schauer überlief Brooke. Das war es also. Er fühlte sich verantwortlich für das,
was Alyssa passiert war, wollte nicht nur den Täter ausfindig machen, der versucht hatte,
seine Freundin umzubringen. Oder war sie seine Geliebte? Wie nahe standen sich Alyssa und
Jack?
„Nicht Sie treffen diese Entscheidung", sagte sie leise.
„Sie sind in meiner Stadt, unter meiner Aufsicht. Ich trage die Verantwortung für Ihr
Wohlergehen."
„Wir leben in einem freien Land."
Er fluchte. Mehr über sich selbst, vermutete sie. „Sie haben Recht. Wenn Sie sich selbst in
Gefahr bringen wollen, warum sollte ich Sie davon abhalten..."
Sie lächelte dünn. „Ich wusste, Sie würden es einsehen."
„Als Gesetzesvertreter in Comfort bin ich immer noch für Ihre Unversehrtheit
verantwortlich." Sie wollte protestieren, aber er hob eine Hand. „So wie für die aller
Bewohner oder Besucher der Stadt. Bei Alyssa habe ich versagt. Ich schulde ihr Ihre
Sicherheit. Verstehen Sie, was ich meine?"
Brooke nickte. Der Mann hatte Ehre und Anstand im Leib, das gefiel ihr. Alyssa konnte
froh sein, einen derart loyalen Freund zu haben.
Jack schob die Hände in die Taschen. Er ging zum Fenster und sah hinaus. „Lassen Sie
mich nachdenken."
„Nehmen Sie sich Zeit." Stocksteif stand er da, doch sie vermutete, dass sich in seinem
Kopf die Gedanken drehten wie in einem Karussell.
Langsam wandte er sich wieder zu ihr um, mit grimmig entschlossener Miene. Er kam auf
sie zu, blieb einen Schritt vor ihr stehen.
In diesem Augenblick spürte sie das Verlangen. Er strahlte es aus, stark, sinnlich. Nein, das
hatte sie sich nicht eingebildet. Brooke war verwirrt. Vor ihr stand der Freund, vielleicht sogar
der Liebhaber ihrer Schwester, nicht ihrer! Diese Anziehung durfte nicht sein. Er war nicht
der Typ Mann, mit dem sie zusammen sein wollte. Sie wollte Wärme. Sie wollte emotionale
Ehrlichkeit. Sie wollte keinen Mann, der sich ständig zusammennahm. Dennoch pulsierte ihr
Blut schneller, ihr wurde warm.
„Sie wollen Alyssa spielen?" sagte er mit rauer Stimme dicht an ihrem Ohr. „Gut, ich helfe
Ihnen – zu meinen Bedingungen. Von diesem Augenblick an sind wir miteinander verlobt. Ich
ziehe zu Ihnen in Alyssas Haus und behalte Sie im Auge."
„Verlobt? Zusammenleben?" Ihr blieb der Mund offen stehen. Abwehrend schüttelte sie
den Kopf. Ausgeschlossen! Jack Chessman besaß eine dynamische, dominierende
Persönlichkeit. Er würde sie einengen, sie bevormunden. Das wäre das Letzte nach ihrer
herrschsüchtigen Mutter! „Treiben Sie es mit der Verantwortung nicht ein wenig zu weit?"
„Ist Ihnen denn noch immer nicht klar, dass es dort draußen jemanden gibt, der Alyssas
Tod will?"
„Ja, das sagten Sie bereits, aber das heißt doch noch nicht zwingend, dass ..."
Er packte ihre Schultern. Es durchzuckte sie heiß. „Ich will, dass Sie sicher sind!"
„Wir brauchen nicht so zu tun, als wären wir verlobt", begehrte sie auf.
Ein schiefes Lächeln hob seine Mundwinkel, dann lachte er heiser. Seine rechte Hand glitt
von ihrer Schulter zu ihrer linken Hand, hielt ihren Ringfinger mit Daumen und Zeigefinger
fest.
„Sie haben gerade bewiesen, wie unvorbereitet Sie auf die Rolle sind, die Sie spielen
wollen. Ihr Vater legt großen Wert auf Anstand. Wenn Alyssa im Comfort Pines Resort mit
einem Mann zusammenlebt, möchte Walter einen Ring an ihrer Hand sehen."
Sie schaute auf seine Finger, unter denen ihr eigener zu brennen schien. Sie war dabei, sich
auf etwas einzulassen, das sie nicht überblickte, eine Lage, die in mehrfacher Hinsicht
gefährlich werden konnte, wie sie jetzt begriff.
Aber ihr Unbehagen bedeutete nichts im Vergleich zu Alyssas Situation. Und um Alyssa
wieder zu finden, ihre zweite Hälfte, ihre Freiheit, musste sie es tun. Sie musste sich noch
einmal verstellen.
Bevor sie ihre Meinung wieder ändern konnte, holte sie tief Luft. „Okay, ich bin
einverstanden. Wie fangen wir an?"
Zwei Tage später standen sie auf dem kleinen Regionalflugplatz am Rand von Boston und
sahen dem Privatjet nach, der auf der Startbahn davonrollte.
Der Geruch nach verbranntem Kerosin hing in der Luft und reizte Jacks Atemwege. Das
schrille Sirren der Triebwerke attackierte seine Trommelfelle. Der Asphalt strahlte eine kaum
erträgliche Hitze aus, heiße Luft stieg flimmernd auf und umwaberte Brookes Gestalt, umgab
sie mit einer Aura der Unwirklichkeit.
In Alyssa hatte er stets ein Mädchen gesehen, die kleine Schwester, die er nie gehabt hatte.
Brooke hingegen ... Sie war eine begehrenswerte Frau, sanft, zerbrechlich. Kompliziert.
Ungewollt musste er wieder an einen Engel denken. Rasch schüttelte er dieses Bild ab.
Brooke Snowden war kein überirdisches Wesen. Sie bedeutete nur Ärger. Hatte sie nicht
bereits mit ihrer dickköpfigen Entschlossenheit erreicht, dass sie Alyssas Platz einnahm?
Rastlos trat er von einem Fuß auf den anderen, er brauchte Bewegung, um seine
wirbelnden Gedanken zur Ruhe zu zwingen.
„Wir sollten gehen", sagte er. Brooke starrte immer noch in den Himmel, auch wenn der
Jet mit ihrer Schwester längst in der unendlich blauen Weite verschwunden war.
„Ja." Sie wandte sich langsam um und rieb sich trotz der Junihitze fröstelnd die Arme. Das
purpurfarbene T-Shirt aus Seide klebte ihr auf der Haut.
Jack fluchte stumm, als er die Tränen in ihren Augen sah. Hastig schob er die Hände tief in
die Taschen seiner Cargohose, so stark war sein Bedürfnis, sie zu berühren, sie zu beruhigen.
„Eine Krankenschwester und ein Sanitäter sind bei ihr. Sie wird in Ordnung sein, denke ich."
Brooke wickelte eine blonde Locke um ihren Finger und versuchte zu lächeln. Es wurde
nur eine Grimasse. „Ich weiß. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, mich schon so schnell
wieder von ihr trennen zu müssen."
„Ihre Mutter weiß, dass sie nicht bei Alyssa zu Hause anrufen darf?" fragte er und
marschierte zu seinem Wagen zurück.
„Ja. Ich habe ihr gesagt, dass ich mich bei ihr melden werde." Brooke blickte noch einmal
wehmütig über die Schulter, dann beeilte sie sich, ihn einzuholen. „Mom denkt zwar, ich sei
ein wenig zu alt, um Doppeltes Lottchen zu spielen, aber es war die einzige Ausrede, die mir
einfiel."
„Doppeltes Lottchen?"
„Sie wissen doch, dieser Film, in dem Zwillingsschwestern ihre Identität tauschen, um ihre
geschiedenen Eltern zu versöhnen."
„Ihre Mutter hat Ihnen diese Story abgenommen?"
Brooke schaute hinüber zum westlichen Horizont. „Verzweifelte Menschen klammern sich
oft an die verrücktesten Hoffnungen. Mom will ihre Fehler um jeden Preis wieder
gutmachen." Brooke zuckte kurz mit den Schultern und runzelte die Stirn. „Es war nicht leicht
für sie."
Und für dich auch nicht, dachte Jack. Er schüttelte diesen mitfühlenden Gedanken aber
gleich wieder ab und öffnete die Wagentür. „Es fiel ihr aber anscheinend nicht schwer, Sie
und Ihre Schwester zu trennen und Ihnen weiszumachen, Alyssa sei tot. Und Ihnen dann,
viele Jahre später, die schockierende Wahrheit zu sagen."
Brooke stieg in den Wagen und warf ihm einen bittenden Blick zu. „Sie weiß, sie hat
Fehler begangen. Sie versucht, sie wieder gutzumachen."
„Wenn Sie es sagen ..."
„Wir müssen beide Verständnis haben. Es wird seine Zeit brauchen."
Jack schloss die Tür heftiger als notwendig. Diese zarte Blondine schwamm in einem Meer
von Gefühlen, und sie zog ihn mit sich hinunter. „Es ist noch immer nicht zu spät, falls Sie
Ihren Entschluss ändern wollen", meinte er, als er den Motor anließ.
Sie musterte ihn offen, ihre grünen Augen erinnerten ihn an Wälder, tief und unberührt. An
seine n verrückten Hunger nach ihr. „Es bleibt dabei."
Ihre unerschütterliche Entschlossenheit war alles, was er brauchte, um seine Beherrschung
wieder zu finden. Es war allein ihre Entscheidung. Er musste sich nicht näher darauf
einlassen, er musste nur für ihre Sicherheit sorgen.
„Gut, dann fahren wir kurz in Tilton vorbei."
„Was machen wir dort?"
Er legte den Gang ein und gab Gas. „Wir treffen uns mit einer Zauberkünstlerin für
Spezialeffekte."

Der Besuch schaute auf das leere Krankenhausbett. Eine junge Frau zog gerade die Laken
ab.
„Wo ist denn die Patientin geblieben, die hier gelegen hat? Was ist mit ihr geschehen?"
Die Stationshilfe warf das Bettzeug in den fahrbaren Wäschebeutel. „Sie ist fort."
Tot? Ein jähes Triumphgefühl jagte Herz und Puls hoch. „Ins Leichenschauhaus?"
Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist mit ihrem Freund weg."
Jack? Er hatte nichts davon gesagt, dass Alyssa das Bewusstsein wiedererlangt hatte. War
es möglich? „Wann?"
Die junge Frau warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, zuckte mit den Schultern. „Vor
ungefähr einer Stunde. Vielleicht auch zwei."
Wut brach sich Bahn. Finger verkrampften sich um das Fläschchen in der Jackentasche.
Lösten sich wieder. Ruhe bewahren.
Die Stationsschwester bestätigte, dass Alyssa entlassen worden war. Aber mehr war von
ihr nicht zu erfahren. Tüchtig. Knapp. Doch Fakten blieben Fakten.
Alyssa war fort. Entlassen.
Lebte.
An wie viel würde sie sich erinnern?
Es war nur ein kleiner Rückschlag, mehr nicht! Alyssa würde dafür büßen, dass sie andere
Mensche n quälte. Das hatte sie lange genug getan. Bald war endgültig Schluss damit!
3. KAPITEL

„Das Filmstudio liegt auf dem Gelände der alten Fabrik gleich außerhalb von Tilton. Das
Projekt ist allerdings noch in der Entwicklung", erklärte Jack ihr, während er von der
Schnellstraße herunterfuhr. Seit sie Boston hinter sich gelassen hatten, benahm er sich wie ein
Fremdenführer, und das ging ihr langsam auf die Nerven.
„Man will erreichen, dass Hollywood-Dollars anstatt nach Kanada hierher in die Lakes-
Region fließen. Die Film- und TV-Kommission von New Hampshire versucht..."
„Jack...!" unterbrach sie ihn und krallte die Finger in ihre weiche Lederhandtasche. Noch
nie hatte sie das Bedürfnis verspürt, jemandem eine Ohrfeige zu verpassen, aber nun war sie
nahe dran.
„Was?"
„Das ist alles hochinteressant, aber... nicht im Augenblick."
Sie beschäftigten viel wichtigere Dinge. Wie zum Beispiel ihre Nervosität. Oder die
nagenden Zweifel, die sich nicht unterdrücken lassen wollten. Oder die Erwartungen, die sie
eigentlich nicht haben sollte, die aber ihr Herz rasen ließen.
Er blickte sie an und nickte. Dann schwieg er, und das war fast ebenso unerträglich. Sie
konnte sich nicht konzentrieren. Brachte keinen einzigen vollständigen Satz zu Stande, um
eine Unterhaltung zu beginnen. Sie konnte nur dasitzen und zusehen, wie die Landschaft an
ihnen vorbeisauste. Mit jeder Meile standen die Bäume dichter, und ihre Befürchtungen
verstärkten sich mit jeder Drehung der Reifen.
Würde sie dies alles durchstehen?
Du bist wie dein Vater, überempfindlich und undiszipliniert, klang ihr der
Lieblingsvorwurf ihrer Mutter in den Ohren.
Herrgott noch mal, Brooke, reiß dich am Riemen!
Nur zu deutlich war der ungeduldige Ton, die Enttäuschung in ihren Augen gewesen. Sie
hatte immer und immer wieder versucht, ihrer Mutter die Tochter zu sein, die diese sich
wünschte. Aber im Lauf der Jahre akzeptierte sie schließlich, dass sie ihr nichts recht machen
konnte.
Brooke war an die Ostküste geflohen, um sie selbst werden zu können, und nun hatte sie
sich freiwillig in die Lage gebracht, erneut eine Rolle spielen zu müssen.
Wie kam sie darauf, als Alyssa durchgehen zu können? Die Identität eines Menschen
anzunehmen erforderte mehr als nur gleiches Aussehen. Alyssa war ein Mensch, der das
Risiko liebte. Sie hingegen pflegte ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Sie rauchte nicht.
Sie trank nicht. Sie fuhr kaum einmal schneller als erlaubt. Und niemals, niemals würde sie
eine Steilwand erklimmen. Ihre gefährlichste Tätigkeit bestand darin, morgens am Strand zu
joggen und die Klassenschlange mit toten Mäusen zu füttern. Und darin, an die zwanzig
fünfjährige Rabauken im Zaum zu halten. Wie war sie nur auf den verrückten Gedanken
gekommen, sie hätte das Zeug zu einem solchen Täuschungsmanöver?
Von Jack einmal abgesehen. Er brachte sie durcheinander. Sie verstand einfach nicht, dass
er sie allein mit einem Blick in Verwirrung stürzen konnte. Während der letzten beiden Tage
hatte er bewiesen, dass er ein tüchtiger, pragmatischer Mann war, genau der Typ, den sie in
ihrem Leben nicht haben wollte. Dennoch ... nie hatte ein Mann sie so unruhig gemacht.
Sie holte tief Luft, verlagerte ihr Gewicht auf die andere Seite und rückte ihre Handtasche
auf ihrem Schoß zurecht. Gedankenverloren kaute sie auf ihrem Daumennagel.
Und doch – was sie tat, war richtig.
Was Jack betraf, ihn würde sie einfach als den notwendigen Regisseur in diesem Spiel
ansehen. Sie würde von ihm lernen, aber sie würde nicht so dumm sein und sich in ihn
verlieben, nur weil er sie so kribbelig und überempfindsam machte. Dies alles geschah nur
Alyssas wegen.
Sie musste es sich nur immer wieder klar machen.
Jack bog auf eine holperige Straße ab und hielt bald darauf vor einem Gebäude, das eher
wie ein Lagerhaus als nach einem Filmstudio aussah.
Eine rote Sche une, ein traditionelles weißes Farmhaus und ein paar Nebengebäude waren
dahinter zu sehen und boten zusammen mit den Obstbäumen, Blumen- und Gemüsebeeten,
den Teichen, dem Wald und sogar einem Korral filmreife Kulissen.
„Im Augenblick suchen sie nach Geldgebern, um das Ganze erweitern zu können – mit
Filmvorführraum, schalldichtem Studio, Produktionsbüros." Er deutete auf das Lagerhaus.
„Noch steckt alles dort drüben drin, aber es ist reichlich eng, und sie brauchen mehr Platz."
Sie stiegen aus und betraten das Gebäude, das voller Menschen, Requisiten und
provisorischer Büros war. Immer wieder grüßten Leute, die ihnen entgegenkamen, Jack, was
sie neugierig machte. Woher kannte er sie? Am Ende des Ganges, durch den sie kamen,
öffnete er eine Tür, und der Geruch nach Farbe, Plastik und Puder stieg ihr in die Nase.
Eine Frau sah auf, als sie den Raum betraten. Ihr schmales, blasses Gesicht verzog sich zu
einem strahlenden Lächeln, sobald sie Jack erblickte. „Jack, wie geht es dir?"
Sie hatte ihr burgunderrotes Haar zu einem losen Knoten zusammengebunden, in dem zwei
schwarz lackierte Essstäbchen steckten, und trug ein schwarzes ärmelloses Top und eine
schwarze Caprihose. Sie war schlank, fast mager. Ihre Füße steckten in dicksohligen
Sneakers. Sie war gerade damit beschäftigt, Farbe auf eine Latexmaske, die nach einer Art
Alien ausschaute, zu applizieren.
„Hi, Meg", sagte Jack und zog Brooke in den Raum. „Ich hoffe, ich komme nicht
ungelegen."
„Nein, überhaupt nicht." Meg stellte ihren Pinsel in einen Becher und wischte sich die
Finger an einem ehemals weißen Handtuch ab, das nun schmutzig grün war. „Was genau soll
ich für dich tun? Du warst am Telefon ziemlich vage."
Er zog zwei Fotos aus der Brusttasche seines lachsroten Hemds. Beide zeigten Alyssa.
Eins davon war ein etwa zwei Monate alter Schnappschuss. Das andere ein Polaroidfoto,
aufgenommen, kurz bevor Alyssa nach San Diego transportiert worden war. „Kannst du
meine Freundin so schminken, dass sie wie die Frau auf diesen Fotos aussieht?"
Meg nahm die Bilder, betrachtete sie schweigend und blickte dann Brooke an. „Welche
Version?"
„Die mit den Verletzungen", erwiderte Jack.
Sie hob eine ihrer kunstvoll gestrichelten Augenbrauen. „Arbeitest du an einem neuen
Fall?"
„So könnte man es nennen."
Meg lehnte sich gege n die Kante des Make-up- Tisches, rückte ihre schwarz gerahmte
Brille zurecht und verschränkte die Arme vor den kaum vorhandenen Brüsten. „Details. Ich
brauche Einzelheiten."
„Ich kann dir keine nennen."
Beide Augenbrauen zuckten nach oben. „Was mich natürlich noch viel neugieriger macht.
Jack, Honey, du musst mir irgendetwas sagen."
„Glaub mir, es ist besser, wenn du nichts weißt."
„Du willst, dass ich das für dich tue, ohne Fragen zu stellen?" Meg drehte sich
kopfschüttelnd zu dem hell erleuchteten Spiegel und klemmte beide Bilder unter den Rahmen,
bevor sie Jack wieder ansah.
„Nimm es als eine Art Herausforderung." Jack warf Meg ein strahlendes Lächeln zu. Es
sollte wohl entwaffnend sein, aber für Brooke sah es ein wenig verzweifelt aus. Irgendwie
war es liebenswert, wenn ein selbstbewusster Mann wie er plötzlich unsicher wirkte. „Du hast
immer gesagt, du magst Herausforderungen."
„Das ist richtig – aber was mir nicht gefällt, ist der Gedanke, dass meine Fähigkeiten
missbraucht werden könnten." Sie zog die Augenbrauen zusammen und musterte ihn einen
Moment lang. „Außerdem wird es mir schwer fallen, in die richtige kreative Stimmung zu
kommen, wenn ich nicht weiß, was ich eigentlich herstellen soll."
Jack fuhr sich mit der Hand durchs Haar, atmete einmal durch und sprach dann, begleitet
von steifen, abgehackten Handbewegungen. „Stell es dir einfach als Film der Woche vor.
Terror in Tilton. Melissa Gilbert und Bruce Greenwood als Stars. Es ist eine dunkle,
stürmische Nacht. Melissas Wagen stürzt über einen Felsabhang. Sie kommt davon, leidet
aber unter totalem Gedächtnisschwund. Sie und Bruce wollen herausfinden, wer Melissas
Wagen von der Straße abgedrängt hat – bevor der ruchlose Verbrecher sie endgültig
umbringen kann."
„Hm ..." Meg schien zu überlegen. „Über welchen Zeitraum soll dieser Film denn gedreht
werden?"
„Eine Woche, vielleicht zwei."
„Mit täglich neuem Make-up?"
„Das ist Teil deiner Herausforderung, Meg. Ich brauche eine Maske, die eine Weile hält."
„Hm", sagte sie wieder und blies ihren Kaugummi auf. Sie stieß sich ab und bedeutete
Brooke, sich auf den Drehstuhl vor den großen Spiegel zu setzen. Dann strich sie ihr mit den
Fingern durchs Haar.
Brooke hielt sich an den Sessellehnen fest. Das Metall war kalt. Ihr Magen verknotete sich.
Es hatte sie Jahre gekostet, bis endlich dieser Fransenlook aus der Collegezeit
herausgewachsen war. Sie hatte ihn nie gemocht. Sie wollte keine Kurzhaarfrisur.
Meg betrachtete mit halb zusammengekniffenen Augen die Bilder und dann Brooke.
„Stimmen die Farben auf den Fotos?"
„Soweit ich weiß, ja", erwiderte Jack.
„Dann müssen wir ihr Haar aufhellen." Sie nahm eine Locke hoch, ließ sie wieder fallen
und schnalzte missbilligend mit der Zunge.
„Sind Sie sicher, dass Sie es abschneiden lassen wollen, Honey? Es wäre wirklich eine
Sünde."
Jack warf Brooke einen durchdringenden Blick zu, und sie begriff, er gab ihr eine letzte
Chance, aus der Sache auszusteigen. Sie brachte keinen Ton hervor.
„Sie ist sicher", sagte Jack und schaute zur Seite.
„Ich habe nicht mit dir gesprochen." Meg wandte sich an Brooke. „Haben Sie auch einen
Namen?"
„Keine Namen." Das war Jack.
„Ich fange langsam an zu glauben, dem Mädchen fehlt die Zunge. Drängt er Sie zu
irgendetwas, was Sie lieber nicht tun würden? Wenn dem so ist, brauchen Sie nur ein Wort zu
sagen ..."
„Nein, es war meine Idee."
Meg kaute knackend an ihrem Kaugummi und musterte sie skeptisch.
„Es ist in Ordnung, Meg ... Wirklich." Brooke musste schlucken, und ihre Worte klangen
leider nicht so überzeugend, wie sie gewollt hatte. Sie war sich überhaupt nicht sicher. Die
ganze Sache war völlig verrückt. Täuschungsmanöver lagen ihr nicht.
Meg zuckte mit den Schultern und blickte wieder Jack an. „Okay. Du willst mir wirklich
nicht einmal einen winzigen Tipp geben, worum es sich dreht?"
„Es ist besser, du weißt es nicht."
„Geheime Polizeisache?"
„Eher ein Freundschaftsdienst."
„Wenn alles vorbei ist, erzählst du es mir dann?"
„Versprochen."
Meg ließ noch einmal ihren Kaugummi knallen und machte sich an die Arbeit. Sie legte
Brooke einen Frisierumhang um. Nachdem sie ihr das Haar blondiert hatte, drehte sie es zu
dicken Strähnen, die sie mit Haarklemmen feststeckte.
„Neulich habe ich die Endfassung von Mountain Rescue gesehen. Beeindruckend." Meg
griff nach Schere und Kamm.
„Was ist Mountain Rescue?" fragte Brooke.
„Jacks Film."
„Sie haben einen Film gemacht?" Brooke wollte sich zu ihm umwenden, aber Meg drehte
ihren Kopf sofort wieder geradeaus.
„Hat er es Ihnen nicht erzählt?"
„Nein."
Meg schien nur zu gern bereit, Brookes Wissenslücke zu füllen. „Jack wurde im letzten
Winter als Berater zu Dreharbeiten herangezogen. Ein Film über eine dramatische
Rettungsaktion. Er hatte sogar eine kleine Rolle darin." Meg lächelte Jack im Spiegel zu.
„Und du hast gedacht, dein Auftritt würde am Schneidetisch sein Ende finden! Aber die
Kamera liebt dich, Jack. Es liegt an dieser wilden Männlichkeit in deinen Zügen. Allerdings
muss ich mir schmeicheln – das mit dem Blut habe ich hervorragend hingekriegt. Du hast
wirklich so ausgesehen, als wäre ein Bär über dich hergefallen."
Jedes Mal, wenn wieder eine lange Strähne zu Boden sank, zuckte Brooke zusammen. Da
sie es nicht länger aushielt, schloss sie die Augen. Sie spürte Jacks Blick. Woran dachte er?
Was fühlte er hinter der kühlen Fassade?
„So, das war's", sagte Meg, hörbar mit sich zufrieden, als sie das Haar gefönt hatte.
Langsam öffnete Brooke die Augen.
Meg hatte das, was von ihren Haaren noch übrig geblieben war, zerzaust und in eine
Windstoßfrisur verwandelt. Der Effekt war unglaublich. Sekundenlang erkannte sie sich nicht
wieder. Sie fühlte sich sogar anders. Irgendwie, sie wusste nicht zu sagen wieso, verschob
sich in ihr etwas.
„Na, was sagen Sie?" fragte Meg, sichtlich stolz auf ihre Leistung.
„Großartig." Jacks Stimme klang ein wenig heiser und hohl.
Brooke schaute von ihrem Spiegelbild fort und begegnete seinem Blick. Ein sehr intensiver
Blick.
Sie war Alyssa. Jacks Ausdruck bestätigte es ihr. Und plötzlich wünschte sie sich, jemand
würde sie so ansehen, wie Jack kurz ihre Version von Alyssa angesehen hatte. Sie schluckte.
Warum war sie auf einmal enttäuscht? Sie mochte ihn nicht einmal, konnte mit seiner kühlen
Distanziertheit nicht umgehen.
„Also, diesem Bild nach brauchen wir eine Verletzung an ihrer Schläfe", meinte Meg, als
sie das Polaroidfoto unter dem Spiegelrahmen hervorzog. „Das Aussehen sollte sich in zwei
Wochen nicht wesentlich verändern." Sie drückte einen Finger gegen die Stelle. „Hier muss
ich ein wenig rasieren, damit es aussieht, als wäre es im Krankenhaus geschehen."
Meg rollte einen Wagen heran und probierte ein paar künstliche Verletzungen aus, bevor
sie sich für eine entschied. Mittels winziger Pinsel, Klebstoff, Make- up und Kollodium legte
sie eine Wunde an, die so echt wirkte, dass Brooke sie ungläubig mit dem Finger berührte.
Meg schnalzte missbilligend. „Erst trocknen lassen, Honey." Dann lächelte sie. „Nicht
schlecht, was?"
„Jack hat Sie eine Zauberkünstlerin genannt. Sie sind wirklich eine."
Meg wurde rot. „Danke."
„Und es geht beim Duschen nicht wieder ab?"
„Also, schrubben sollten Sie sie nicht, aber wenn Sie sie sanft waschen, bleibt sie dran."
Sie runzelte die Stirn. „Ach, was diese Schrammen betrifft ... Es gibt nur ein Mittel, um sie
glaubwürdig und länger andauernd herzustellen."
„Wie denn?"
Meg wirbelte ihren Stuhl zu sich herum und sah Brooke ernst an. „Mit Schleifpapier."
„Nein!" Jack sprang auf. „Das kannst du nicht tun."
„Da stimme ich dir zu. Es ist ziemlich drastisch. Eine solch wunderschöne Haut möchte ich
wirklich nicht beschädigen. Das bedeutet allerdings, Sie müssten jeden Tag herkommen,
damit die Schrammen so aussehen, als würden sie heilen..." Meg zuckte mit der Schulter.
„Wenn es sein muss, muss es eben sein." Brooke fühlte förmlich schon den Schmerz, das
Blut auf ihrer Wange.
„Nein!" erklärte Jack autoritär. „Das lasse ich nicht zu."
Meg schaute von einem zum anderen. „Okay. Das war wohl mein Stichwort, mich zu
verdünnisieren. Besprecht es unter euch, und dann komme ich zurück."
„Sind Sie verrückt?" schimpfte Jack los, sobald die Tür hinter Meg ins Schloss gefallen
war. Er hatte beide Sessellehnen gepackt und beugte sich vor.
Brooke war gefangen, und wenn sie ihm auch nur das leiseste Anzeichen von Furcht
zeigte, würde sie gleich wieder auf dem Weg nach Boston sein. Und dort bleiben müssen. Sie
musste dies hier durchstehen. Also drückte sie den Rücken durch, nahm ihren Mut zusammen.
„Sie haben gehört, was Meg gesagt hat. Es ist am besten so."
„Und wenn Narben zurückbleiben?" Jacks Finger schwebte dicht über ihrer Wange.
Brooke hielt den Atem an.
„Vitamin- E-Öl wird sie glätten." Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen. Sie wünschte sich,
er würde noch näher kommen – oder aber zurücktreten.
Er schüttelte den Kopf. „Falsche Tatsachen vorzuspiegeln ist eine Sache, Verstümmelung
eine ganz andere."
„Wir können nicht jeden Tag hierher kommen." Sie beugte sich vor und schaute ihm direkt
in die Augen. Als sie sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen fuhr, blitzte etwas
in seinen Augen auf, verschwand aber sofort wieder. „Und was ist, wenn uns jemand hierher
folgt? Die Sache würde sofort auffliegen, Jack."
„Ich kann nicht..."
„Es ist meine Entscheidung. Ich muss es einfach tun, Jack. Machen Sie es mir nicht noch
schwerer."
„Warum?" Das kam gepresst heraus.
„Weil ich hier bin und Alyssa nicht. Und wenn Sie es tun könnten, würden Sie es auch
tun."
Er fuhr leicht zurück, als hätte sie mitten ins Schwarze getroffen. Vielleicht war er doch
nicht so kontrolliert, so gefühlsarm, wie er sich nach außen hin darstellte.
Bevor Jack antworten konnte, steckte Meg ihren roten Schopf zur Tür herein.
„Also, wie habt ihr euch entschieden?"
Es war so still im Raum, dass die Geräusche der Aktivitäten draußen deutlich zu hören
waren.
Brooke drehte sich mit dem Stuhl zum Spiegel zurück. Jack musste wohl oder übel die
Hände von den Lehnen nehmen. „W ir machen das, was Sie vorgeschlagen haben."
Jack fluchte unterdrückt und wandte sich halb ab.
Brooke griff nach seiner Hand, ihre Blicke begegneten sich. Seiner sprach Bände. In einer
fremden Sprache jedoch, nicht so einfach zu entziffern wie die zwischen Alyssa und ihr
früher. Sie war sich nicht sicher, was sie las, aber plötzlich war ihr nach Weinen zu Mute.
Natürlich, es fiel ihm schwer, ihre Entscheidung zu akzeptieren. Ich verstehe das, wollte sie
ihm sagen, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Stattdessen drückte sie seine
Finger.
„Jack?"
Er sagte nichts. Sie zog die Hand wieder zurück, empfand eine leichte Enttäuschung.
Brooke stählte sich insgeheim. Was hatte sie denn erwartet? Ermunterung? Dank?
Verständnis?
Nichts. Erwarte nichts, und du wirst nicht enttäuscht werden. Warum nur vergaß sie diese
Lektion ständig? Weil es ihr bei den widersprüchlichen Gefühlen, die in ihr tobten, so schwer
fiel, ruhig und gelassen zu bleiben.
Die Frauen blickten sich an. Meg ging zu einem Spind auf der anderen Seite des Raums
und nahm etwas Kleingeld aus ihrer Börse. Sie drückte es Jack in die Hand. „Bist du so lieb
und holst mir eine Cola?"
„Später." Jack setzte sich auf einen der Hocker.
„Ich habe Durst."
Jack schwieg. Brooke beobachtete, wie er Meg düster ansah. Er mochte es offenbar nicht,
wenn man sich ihm widersetzte. Wie hatte Alyssa es nur mit ihm ausgehalten?
Meg zuckte mit den Schultern. „Wie du willst."
Schmirgelpapier in der Hand, wandte sie sich zu Brooke um. „Bereit?"
„Bereit." Brooke atmete tief durch und packte die Armlehnen. Unwillkürlich suchte sie
Jacks Blick.
In seinen Augen las sie, dass sie jederzeit aufhören könnte. Ja, mehr noch, er würde ohne
Zögern ihren Platz einnehmen. Vielleicht gab es für ihn doch noch Hoffnung. "Der
ungewohnt sanfte Ausdruck in den grauen Tiefen stärkte ihren Mut weiterzumachen.
Meg umfasste ihr Kinn fest mit einer Hand, drehte das Gesicht leicht zur Seite und fuhr mit
dem Schmirgelpapier über ihre Wange. Brooke schloss die Augen. Es rauschte unerträglich
laut in ihren Ohren, während die Stelle zu brennen anfing.
Blut perlte aus der frischen Schürfwunde. Jacks Magen rebellierte. Das Schleifgeräusch
zerrte an seinen Nerven. Am liebsten hätte er Meg das Sandpapier aus den Händen gerissen,
Brooke zum nächsten Flughafen und von dort aus zurück nach San Diego verfrachtet. Seine
Finger krallten sich in den Rand des Hockers. Er mochte nicht hinsehen. Und zugleich konnte
er den Blick nicht losreißen.
Es ist ihre eigene Entscheidung, rief er sich in Erinnerung. Er hatte ihr einen Haufen
Gelegenheiten geboten, ihren Entschluss rückgängig zu machen. Er war nur für ihre
Sicherheit verantwortlich, für mehr nicht.
Weiß schimmerten ihre Fingerknöchel durch die Haut, so fest hielt sie die metallenen
Stuhllehnen umklammert. Die Lippen hatte sie zu einem schmalen Strich zusammengepresst.
Die Goldkette um ihren Hals zitterte, während Meg ihr das Gesicht verschandelte.
Brooke saß stocksteif da. Sie besiegte ihre Angst, blieb beharrlich bei ihrer Entscheidung.
Das Mädchen hatte Courage. Nein, nicht Mädchen. Sie war eine Frau. Eindeutig eine Frau.
Und wenn er es zuließ, dass sie ihm noch tiefer unter die Haut ging, würde er seine
Objektivität verlieren und sie in noch größere Gefahr bringen.
4. KAPITEL

Brooke warf Jack einen kurzen Seitenblick zu. Seit Meg ihre Arbeit beendet hatte, hatte er sie
kaum mehr angeschaut. Weil sie wie Alyssa aussah? Wieder einmal fragte sie sich, wie eng er
und Alyssa befreundet waren.
In dem niedrigen Sportwagen herrschte drückende Stille. Sie saßen so nah nebeneinander,
dass sie seine Körperwärme spürte. Voller Unbehagen rutschte sie ein wenig näher zur Tür
und zwang sich, auf die vorbeifliegende Landschaft hinauszuschauen.
„Erinnern Sie sich noch an irgendetwas in dieser Ferienanlage?" unterbrach Jack ihre
schweifenden Gedanken.
„Fahren wir dorthin?"
„Nein, zuerst müssen Ihre Schrammen verschorfen. Wir fahren kurz bei mir vorbei, dann
für ein paar Tage zur Hütte meines Großvaters in den Wäldern."
„Oh." Die Landschaft zog sie in ihren Bann, überlagerte ihr nagendes Missbehagen. Sie
war wieder ein kleines Mädchen, sah ihren streitenden Eltern am Seeufer zu. „Die
Ferienanlage existierte noch nicht, als ich damals hier war. Das Haus war ein wenig
heruntergekommen. Ich erinnere mich an den muffigen Geruch des so la nge unbewohnten
Gebäudes." Die unterdrückten Gefühle. Die unterschwellige Angst. „Alles kam mir so ...
düster vor."
Jack nickte nachdenklich, den Blick fest auf die Fahrbahn gerichtet. „Mittlerweile stehen
dort ungefähr dreißig Ferienhäuser, die meisten am Wasser. Es gibt Tennisplätze,
Picknicktische und Grillstellen. Tägliche Aktivitäten für die Gäste, und dazu einmal die
Woche ein Film. In einem Bootshaus liegen Kanus und Kajaks bereit, falls jemand Lust auf
eine Tour zu Wasser hat. Alyssa wohnt in einer Hütte, die es damals schon gab. Ihr Vater in
dem alten Haus. Dort befindet sich auch das Büro. Ich zeige Ihnen alles, wenn wir dort sind."
Brooke wusste, sie würde eine völlig neue Welt betreten. Alyssas Welt. Aufregung und
Angst drohten sie zu überwältigen.
Brooke, nimm dich zusammen! hörte sie wieder ihre Mutter zischen. Du machst dich vor
allen Leuten zum Gespött! Rasch zwinkerte sie die aufsteigenden Tränen fort und
konzentrierte sich wieder auf die Landschaft. Werde ich es wirklich schaffen, es lange genug
und auch überzeugend durchzuhalten? fragte sie sich beklommen und lehnte den Kopf gegen
die Seitenscheibe.
Jack starrte weiter mit unbewegter Miene geradeaus. Wie hatte Alyssa ihn gesehen? Was
verbarg sich unter dieser undurchschaubaren Maske? Sie musterte ihn verstohlen.
Und auf einmal entdeckte sie in den scharf geschnittenen Zügen auch etwas anderes:
Spuren von Wärme – ein Grübchen auf der Wange, Lachfältchen um die Augen ... ein
Ohrläppchen, rund, glatt, das zum Küssen einlud ...
„Erzählen Sie mir von ihren Freunden", bat sie ihn rasch und drehte sich entschlossen zu
ihm. Sie wollte sich nicht weiter mit Jack Chessmans weicheren Seiten befassen. „Ich meine,
da Sie ja annehmen, dass einer von ihnen Alyssa umzubringen versuchte."
„Was wollen Sie wissen?"
„Genug, um sie ohne Vorstellung erkennen zu können."
„Warum? Gedächtnisverlust..."
„Wie Sie selbst sagten, das reicht nicht aus."
Er nickte kurz und schaute weiter auf die Straße. „Da ist Tim Hogart. Er ist Herausgeber
der wöchentlich erscheinenden Lokalzeitung. Etwas über einen Meter achtzig. Kurzes blondes
Haar. Blaue Augen. Brille."
„Das könnte jedermann sein. Wie ist er?" Ablenkung. Sie wollte nicht an Jack denken.
Konzentrier dich auf deine Fragen. Auf Alyssa. Das war besser, als die Gefühle zu
analysieren, die ihr auf den Magen schlugen.
Er warf ihr einen Blick zu, runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?"
„Wenn ich Sie bitten würde, mir einen Wagen zu beschreiben, bekäme ich garantiert
dutzendweise Vergleiche und Details bis hinunter zur Radmutter."
Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht, vertiefte das anziehende Grübchen.
„Stellen Sie sich einen der Typen für Calvin-Klein-Produkte vor. Glatt, eifrig, wenig
redselig."
„Sehen Sie, es geht doch." Sie lächelte ebenfalls, und ihre Stimmung hob sich. „War es so
schwer?"
Er brummte nur undeutlich etwas vor sich hin.
„Warum sollte Tim Alyssas Tod wollen?"
Jack zuckte mit den Schultern. „Sie nennt ihn immer Meister Proper."
„Ist er das?"
„Alyssa findet, er sieht aus wie ein Chorknabe. So rein und sauber. Vielleicht hat sie eine
Dreckecke entdeckt. Ich werde nachforschen, aber das kostet Zeit."
„Könnte er...?"
„... versucht haben, sie umzubringen?"
Sie nickte.
„Unter den entsprechenden Umständen käme jeder infrage."
„Aber..."
„Ob etwas vorgefallen ist, das einen solchen Verdacht bestätigen würde?"
Sie nickte wieder und wusste nicht, ob es ihr gefiel, dass er ihre Fragen im Voraus erahnt
hatte. War sie so leicht zu durchschauen?
„Nicht wirklich. Einmal musste ich ihn einbuchten."
„Was hatte er ange stellt?"
„Er hat einem Senatskandidaten eins auf die Nase gegeben, weil ihm dessen Ansichten
nicht gefielen."
„Aber das ist noch lange kein Motiv für einen Mord." Brooke kaute auf ihrem
Daumennagel.
„Mehr weiß ich im Moment auch nicht."
„Okay, lassen wir Tim vorerst außen vor. Wen gibt es noch?"
„Stephanie Cash ist Alyssas beste Freundin. Mittelgroß. Braunes Haar. Braune Augen. Sie
arbeitet im Familiengeschäft. Propangasverleih. Sie hasst den Job, sieht aber keine
Alternative. Sie möchte so brennend gern Mutter werden, dass man fast meint, ihre
biologische Uhr ticken zu hören, wenn man neben ihr steht."
„Kein Mann in Sicht?"
„Keiner der Kandidaten hatte Lust, in Comfort zu bleiben, und Stephanie hängt an ihrer
Heimatstadt. Sie liebt das Wandern und Bergsteigen und den heimischen Herd."
„Nicht schlecht beschrieben. Sie werden besser."
Er lachte leise, und es überraschte sie, dass sie ebenfalls lachen musste.
„Irgendwelche dunklen Flecken in ihrer Vergangenheit?" fragte sie dann.
„Nein. Alyssa und sie sind sich ziemlich ähnlich, nur dass Alyssa andere Erwartungen ans
Leben hat. Für sie ist Comfort ein Gefängnis."
„Keine Streitereien, kein Kämpfe, keine Konkurrenz um Männer?"
„Nichts dergleichen."
„Keine Leichen im Keller?"
„Steph ist genau so, wie sie sich gibt. Vor dem Unglück hätte ich gesagt, sie wäre unfähig
zu lügen."
„Und jetzt?"
Jack zuckte mit den Schultern. „Jetzt ist jeder verdächtig, bis das Gegenteil bewiesen ist."
„Diese Regel haben Sie nicht auf der Polizeischule gelernt."
Er warf ihr einen eindringlichen Blick zu. „Es gibt eine Menge Dinge, die sie einem dort
nicht beibringen können."
Loyalität zum Beispiel. Oder Liebe, dachte sie unwillkürlich. Sie schluckte. „Der Nächste."
„Cullen Griswold hat ein Haus- und Grundstücksmaklerbüro im Ort. Keine einsachtzig
groß. Braune Augen. Braunes Haar. Er ist..." Jack nahm eine Hand vom Steuer und ließ sie
wieder sinken. „Er ist wie ein Bärenjunges. Verspielt und gutmütig, bis man ihm Unrecht tut.
Dann aber kämpft er mit Klauen und Zähnen, und es fließt immer Blut. Im Wortsinn. Er hat
unser nettes Gefängnis auch schon von innen kennen gelernt."
„Ein Teddy mit Biss. Hätte er einen Grund, Alyssa aus der Welt zu schaffen?"
„Er benutzt Menschen."
„Und?"
„Und nichts. Alyssa hat vielleicht etwas herausgefunden, was er lieber geheim gehalten
hätte. Was es ist, kann ich im Moment nicht sagen. Seine Finanzen scheinen in Ordnung zu
sein. Möglicherweise hat es mit einer Frau zu tun. Alyssa und er werfen sich gern gegenseitig
ihre Affären vor."
„Sie waren ein Liebespaar?" Brooke beugte sich vor, begehrlich wie eine
Klatschkolumnistin, und fand ihre Neugier gleichzeitig entsetzlich.
„Vielleicht wäre es dazu gekommen, wenn sie nicht beide so versessen darauf wären, den
anderen zu verletzen."
„Sagten Sie nicht, sie sind befreundet?"
„Das ist schwer zu erklären. Wir alle hier kennen uns seit Ewigkeiten. In einer Kleinstadt
sind die sozialen Möglichkeiten beschränkt. Er liebt das Bergsteigen. Sie auch. Es ist sicherer,
in einer Gruppe in die Berge zu gehen als allein."
„Oh." Sie kaute wieder nachdenklich auf ihrem Daumennagel. „Dann ist Cullen also ein
Frauenheld?"
„Eher ein lüsterner Satyr, dessen Appetit größer ist als seine Diskretion."
Das roch durchaus nach einer Möglichkeit für Erpressung. „Aber ständig scharf auf Sex zu
sein ist doch kein Grund für einen Mord, besonders nicht, wenn es allgemein bekannt ist."
„Kommt darauf an, mit wem man schläft."
Sie lehnte den Kopf wieder an die Scheibe. „Mit wem hat er denn geschlafen?"
„Ich weiß nur von Steph. Wenn es sonst noch jemand Brisanten gibt, hat er es für seine
Verhältnisse gut unter dem Deckel gehalten. Die Gerüchteküche gibt da nichts her. Ich habe
mich ein wenig an seine Fersen geheftet, bin aber bislang nicht fündig geworden."
„Er hört sich nicht an wie jemand, der unbedingt heiraten will. Weswegen lässt sich Steph
mit ihm ein, wenn sie so verzweifelt einen Ehemann sucht?"
„Sie scheint langsam zu Kompromissen bereit zu sein. Sie denkt wohl, Cullen will auch in
Comfort bleiben. So hat sie es auf einen Versuch ankommen lassen."
„Verstehe ... und wen gibt es sonst noch?"
„Trish Witchell. Sie hat sich mit Webseitengestaltung selbstständig gemacht. Vor drei
Jahren, mit ihrem Bruder zusammen. Fast einssiebzig. Hellbraune Haare. Blaugraue Augen."
Jack sah sie an. In seinen Augen blitzte es kurz auf. „Sie ist beharrlich. Ihr Bruder war in
unserem Alter. Sie ist ein Jahr jünger, war aber in unserer Klasse, weil sie eine übersprungen
hat. Damals hing sie uns ständig an den Hacken, egal was wir anstellten, sie loszuwerden.
Nach ein paar Jahren resignierten wir schließlich, und sie gehörte zur Clique."
„Fühlt sie sich immer noch ausgeschlossen?"
Er schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste. Ihr Bruder war mal in Alyssa verknallt,
aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Rick ist aus dem Rennen."
„Warum?"
„Er starb letztes Jahr."
„Wie?"
„Er hatte sich nicht richtig abgesichert und stürzte zu Tode."
„Oh ..." Das bot kein Motiv für einen Mord. „Hat Trish eurem Gefängnis auch schon einen
Besuch abgestattet?"
Er lächelte schwach. „Nein, aber in der Grundschule erhielt sie einen Verweis, weil sie
eine Demonstration gegen das Verbot von Judy Blumes Büchern angeführt hatte."
Aha, eine Frau, die an Gedankenfreiheit glaubte. Brooke hätte auch dafür gekämpft, das
lesen zu dürfen, was sie wollte. „Kein Blutvergießen?"
„Das nicht, aber Alyssa und sie gerieten sich ständig in die Haare. Wegen Jungen. Wegen
Auszeichnungen. Wegen allem und jedem. Beide mussten ständig beim Rektor antanzen." Er
grinste schief und schüttelte dabei den Kopf. „In der achten Klasse schnitt Trish Alyssa den
Pferdeschwanz ab."
Unwillkürlich fasste Brooke sich an die Haare.
„Während des Mittagessens." Er lachte leise bei der Erinnerung daran, und sein Gesicht
veränderte sich, bekam einen atemberaubend sanften Ausdruck. „Sie hätten die Prügelei sehen
müssen. Die ganze Klasse bekam eine Strafe."
„Ging es um einen Jungen?"
„Ja, Ryan Alden."
„Der Schulschönling?"
„Präsident des Nintendo-Clubs."
Sie musste lachen, stellte sich vor, wie Alyssa und Trish sich in der Schulkantine mit
Fleischklößchen und Kartoffelbrei bombardierten. „Dann sind Trish und Alyssa alte
Rivalinnen?"
„Auf freundschaftliche Weise. Dem armen Ryan gönnten sie nicht einen Blick, als sie eine
Woche später in einem Team zum Waldlauf antraten!"
„Ich nehme an, Sie haben auch Trish überprüft?"
„Abgesehen von ein paar Beschwerden bei der Handelskammer wegen angeblich windiger
Geschäftsmethoden liegt nichts gegen sie vor."
So wie es aussah, gab auch dies nichts her, was zur Klärung beitragen konnte. „Gibt es
weitere Verdächtige?"
„Das war's."
„Das war's schon? Aber ich sehe bei keinem Anhaltspunkte für einen Mordverdacht."
Jack setzte den Blinker, um abzubiegen. Die Straße wurde schmaler, die Bäume standen
dichter, schluckten das abendliche Sonnenlicht.
„Richtig", sagte er. „Außer ma n zieht in Betracht, dass kein Außenstehender die
Kletterausrüstung manipuliert haben kann. Niemand sonst hat sich am Tatort befunden."
„Hatte Alyssa Feinde?"
„Sind mir bislang nicht bekannt. Trotz ihrer Schroffheit mögen die Leute Alyssa."
Brooke stieß frustriert den Atem aus. „Aber es muss doch irgendetwas geben."
Sie kamen an einem Park vorbei, in dem Fußball gespielt wurde. Dann bogen sie in eine
Straße mit Häusern in allen möglichen Baustilen ein. Wenig später erreichten sie einen
hellblau gestrichenen Bungalow. Jack betätigte die Fernbedienung, und das Tor der Garage
öffnete sich.
Er fuhr hinein und hielt an, stellte aber den Motor nicht aus. „Eins muss ich Ihnen noch
erzählen. Es gibt etwas, das uns alle miteinander verbindet – der Adventure Club."
„Was ist das?"
„Eine Firma, die wir vor fünf Jahren zusammen gegründet haben. Wir bieten Kletter-,
Kajak- und Skilanglauftouren an."
„Und?"
„Und in der letzten Zeit gab es einige Differenzen zwischen uns."
„Welche?" Musste sie ihm wirklich alles mühsam aus der Nase ziehen?
„Zum Beispiel über das Thema Sicherheit versus Risiko. Oder darüber, dass wir zu schnell
wachsen. Auch über Geld."
Wieder sprach er nicht weiter, und am liebsten hätte sie ihn gepackt und kräftig geschüttelt.
„Und?"
„Bei unserem letzten Treffen liefen die Dinge ein wenig aus dem Ruder. Es wurde sogar
davon gesprochen, die Firma aufzulösen. Wir beschlossen, keine neuen Kunden anzunehmen,
bis wir eine endgültige Entscheidung getroffen hatten."
Brooke spürte, es steckte noch mehr dahinter. „Aber?"
Er drehte sich zu ihr herum. „Kurz danach wollte eine Gruppe Geschäftsleute, die ganz
versessen auf eine Klettertour waren, bei Alyssa buchen. Sie nahm an. Als sie es uns sagte,
war Cullen dafür, dass sie es machte. Tim dagegen. Steph war sauer, dass Alyssa die
Abmachung gebrochen hatte. Trish war unentschieden."
„Und Sie?"
Er schaute zur Seite. „Ich hätte sie am liebsten erwürgt."
„Drei gegen zwei, wobei Trishs Stimme den Ausschlag gegeben hätte. Was geschah?"
Er presste die Lippen zusammen. „Das bereits angezahlte Geld war spurlos verschwunden,
so waren wir gezwungen, die Tour durchzuführen." Mit einem Ruck zog er den Zündschlüssel
heraus, der Motor erstarb – und auch die Unterhaltung war damit beendet. „Ich bin sofort
wieder da."
Er stieg aus und kehr te fünf Minuten später mit einer kleinen Reisetasche, einer Kühltasche
und einem Schlüssel, befestigt an einem Schlüsselanhänger in Form einer Forelle, zurück. Er
warf alles auf den winzigen Rücksitz.
Ohne ein Wort ließ er den Motor wieder an und fuhr denselben Weg zurück. Die
Dämmerung war inzwischen hereingebrochen. Immer wieder warf er einen Blick in den
Rückspiegel.
„Stimmt etwas nicht?" fragte sie schließlich.
„Wir werden verfolgt."
Der schwarze Pick- up war hinter ihnen auf die Reservoir Road eingeboge n. Nichts
Ungewöhnliches an und für sich. Aber irgendetwas an dem Wagen hatte ihn sofort
argwöhnisch gemacht.
Der Fluch jeder Kleinstadt bestand darin, dass jeder alles über den anderen mitbekam.
Deswegen hatte er diese Strecke genommen, anstatt durch die Innenstadt zu fahren.
Der zweite Grund war noch wichtiger. Die kürzeste Route zur Hütte seines Großvaters
führte über die Reservoir Road.
Nun bereute er seinen Entschluss. Der Weg war nicht asphaltiert, und so nützten ihm all
die Pferdestärken unter der Motorhaube nichts. Auf einer geraden, asphaltierten Straße wäre
er dem Pick- up innerhalb kurzer Zeit davongefahren. Hier aber war das andere Auto sogar im
Vorteil.
Und er kannte niemanden, der einen schwarzen Pick- up fuhr. Reagierte er übertrieben?
War er vielleicht zu misstrauisch, weil er für Brookes Sicherheit verantwortlich war?
Er warf ihr einen Blick zu. Sie schaute ihn mit großen, fragenden Augen an.
„Keine Bange. Es wird alles gut gehen."
Warum nur hatte er ihrem idiotischen Plan zugestimmt? Die Antwo rt lautete: wegen
Alyssa. Er hatte ihr ein Versprechen gegeben. Und nun gefährdete er dadurch Brooke... Jetzt
war es allerdings zu spät, sich alles nochmals zu überlegen. Auch Brooke hatte er etwas
versprochen: Er würde für ihre Sicherheit sorgen.
Der Wage n hinter ihm hielt Abstand. Es gab keine Seitenstraßen, auf denen sie
verschwinden konnten. Es blieb ihnen nichts übrig als weiterzufahren, abgesehen von der
einen Möglichkeit, zu wenden und umzukehren.
Er ging vom Gas runter, gab dem anderen Fahrer die Möglichkeit, sie zu überholen.
Der schwarze Pick-up machte keine Anstalten, ihm den Gefallen zu tun. Gerade so weit
entfernt, dass sein Nummernschild nicht zu lesen war, hielt er Distanz.
Plötzlich kam der Motor des Pick- up jaulend auf Touren. Der Fahrer ble ndete auf, so dass
Jack einen Moment lang nichts sah. Bevor er das Gaspedal durchtreten konnte, wurden sie
von hinten gerammt. Brooke stieß einen leisen Schrei aus, als der Wagen ins Schlingern
geriet. Jack hatte Mühe, ihn wieder auf Spur zu bringen.
„Festhalten!" rief er.
Er gab Vollgas. Der Pick- up ebenfalls, näherte sich bedrohlich dem Heck ihres Autos.
Ein heftiger Stoß bei dieser Geschwindigkeit, und der leichtere Sportwagen würde von der
Straße fliegen und gegen die Bäume krachen.
Musste er damit rechnen, dass auf sie geschossen würde? Jack nahm eine Hand vom Steuer
und drückte Brookes Kopf tiefer. „Bleiben Sie unten."
„Dann wird mir schlecht."
„.Möchten Sie lieber sterben?"
Wieder röhrte der Motor des Verfolgers. Der Wagen tauchte neben ihnen auf, versuchte,
sie abzudrängen. Jack spielte das gleiche Spiel, bremste und gab Gas, immer abwechselnd,
um zu verhindern, dass der Angreifer sich vor sie setzen oder sie von hinten rammen konnte.
„Kommen Sie ans Autotelefon, ohne dass Sie sich aufrichten müssen?" rief er Brooke zu.
„Ja."
„Schalten Sie es ein."
„Es ist an."
„Revier anrufen."
Auf seinen Sprachbefehl hin wählte das Telefon die eingespeicherte Nummer. Schon nach
dem zweiten Klingeln wurde abgenommen.
„Serena, Jack Chessman hier!" brüllte er. „Ich fahre in westlicher Richtung auf der
Reservoir Road. Hinter mir ist ein Idiot in einem schwarzen Pick-up und versucht, mich von
der Straße zu drängen. Könnt ihr helfen?"
„Bleiben Sie dran." Kurz herrschte Stille. „Jack, ich habe zwei Wagen losgeschickt."
„Okay, verstanden. Wartet an der Mountain Road."
Serena schaltete ab.
„Gibt es eine Möglichkeit, diesen Mann zu stoppen?" fragte Brooke.
„Nicht, wenn es ihm gelingt, uns zu stoppen."
Der Pick- up lenkte nach rechts. Jack widerstand dem Impuls auszuweichen und lenkte
dagegen.
Metall schrammte gegen Metall. Jack hatte Schwierigkeiten, den Wagen auf der Straße zu
halten.
„Brooke, greifen Sie ins Handschuhfach und holen Sie meine Pistole heraus."
Sie öffnete das Fach, suchte darin herum und fand die Waffe.
„Hier!"
Jack bekam das Auto wieder unter Kontrolle. Mit dem linken Ellbogen drückte er den
Knopf für den Scheibenheber. Wieder rammte der Pick-up sie. Der Aufprall schob den Wagen
gefährlich dicht an die Bäume am Straßenrand. Jack wirbelte das Steuer herum. Kiesel
spritzten zur Seite. Schweiß rann ihm über die Stirn.
„Haben Sie jemals eine Waffe bedient?" fragte er.
„Nein."
Er fluchte, denn er wusste, nahm er die Hand vom Steuer, um zu schießen, würde der
andere Fahrer die Chance bekommen, die er brauchte, um sie end gültig von der Straße zu
drängen.
„Was ist in der Kühltasche?" fragte sie.
Er verstand ihre Frage nicht. „Verpflegung."
„Irgendwelche Dosen?"
„Cola."
„Das müsste gehen." Sie drehte sich herum und griff in die Kühltasche auf dem Rücksitz.
„Was soll das denn werden?"
Der Pick- up rammte sie das dritte Mal. Ihr Wagen schlingerte wild. Brooke umklammerte
die Cola-Dose mit der linken Hand. Mit dem eingegipsten Arm versuchte sie, sich am
Armaturenbrett festzuhalten. Sie rutschte ab. Schlug mit der Stirn dagegen.
„Brooke?" Blut tropfte aus einer Platzwunde. Er fluchte. Leider durfte er das Steuer keine
Sekunde loslassen, um ihr zu helfen.
„Schon gut." Ein wenig benommen setzte sie sich aufrecht hin. Als der Pick-up neben
ihnen auftauchte, rief sie: „Kopf weg!"
Er lehnte sich zurück. Brooke schleuderte die Dose. Sie traf die Scheibe der Beifahrertür
und platzte auf. Klebrige braune Flüssigkeit regnete auf Jack herab.
Erschreckt von dem unerwarteten Angriff, reagierte der Fahrer zu heftig. Sein Wagen
geriet ins Schleudern, er rutschte auf die Mountain Road, die sie in diesem Moment erreicht
hatten, und streifte einen Baumstamm. Jack raste auf der Reservoir Road weiter.
Sirenen gellten hinter ihnen auf.
Brooke drehte sich im Sitz um und schaute zurück. „Er folgt uns wieder!" rief sie.
„Hilfe ist direkt hinter uns. Wir brauchen uns keine Sorgen mehr zu machen." Jack zögerte
einen Moment, dann trat er das Gaspedal durch.
Nur zu gern hätte er angehalten und dem Kerl eins auf die Nase gegeben. Aber er musste
weiterfahren. Brookes Wohlergehen stand an erster Stelle. Seine Kollegen würden mit dem
Fahrer fertig werden.
Und wenn er Glück hatte, würde mit seiner Verhaftung auch der Fall gelöst sein. Der
Fahrer des Pick-ups musste auf ihn gewartet haben. Es gab keinen Zweifel, irgendjemand
wollte Alyssa töten. Der Betreffende wollte den Job zu Ende bringen.
„Das war nicht nur die rabiate Variante eines Straßenrennens, stimmt's?" fragte Brooke mit
bebender Stimme, während sie sich mit einem Taschentuch das Blut von der Stirn wischte.
Jack verfluchte sich, dass er sie in eine solche Gefahr gebracht hatte.
„Nein."
„Da hat jemand schnell reagiert."
Er schob das Kinn vor. „Offenbar war er schon im Krankenhaus und musste feststellen,
dass der Vogel ausgeflogen war."
„Dann haben wir einen Anhaltspunkt. Wir müssen herausfinden, wer sie heute besuchen
wollte."
Er konnte nicht fassen, dass sie immer noch weitermachen wollte. „Das kann warten. Jetzt
müssen wir Sie erst einmal an einen sicheren Ort bringen. Wie fühlen Sie sich? Benommen?"
„Nein, alles okay. Sie haben ihn davonkommen lassen", sagte sie in anklagendem Ton.
„An oberster Stelle steht Ihre Sicherheit."
Sie nickte und schaute zur Seite. „Danke."
„Ich denke, Sie sollten nach Hause fahren."
„Ich bleibe."
Eigentlich hätte sie die Verfolgungsjagd zur Besinnung bringen müssen. Aber sie schien
ihre Entschlossenheit nur noch verstärkt zu haben. Widerstrebend bewunderte er sie dafür.
„Ich werde ihn schnappen." Seine Fäuste umklammerten das Steuerrad fester. Er hatte zwei
Gründe, warum er den Verdächtigen hinter Gittern haben wollte.
„Ich weiß."
So viel Zuversicht schwang in diesen beiden Worten mit. Gefühle stiegen in ihm auf,
Gefühle, die beunruhigend und unakzeptabel waren. Er schob sie beiseite. Als Erstes musste
er Brooke an einen sicheren Ort bringen.
Natürlich nicht mehr in die Hütte seines Großvaters. Genau damit würde man rechnen. Die
Jagdhütte des Captains fiel ihm ein. Er war oft mit ihm zum Angeln dort gewesen. Bert würde
bestimmt nichts dagegen haben, wenn er Brooke dorthin brächte.
Dann würde er warten, bis sie das Ausmaß der Gefahr wirklich begriff und endlich bereit
war, nach Hause zu gehen. Es war sicherer für sie. Und besser für ihn.
„Das mit der Dose war eine Klasseidee" sagte er, um das drückende Schweigen zu
durchbrechen.
„Danke. Aber Sie sind auch nicht schlecht gefahren. Wir waren ein gutes Team." Sie
strahlte ihn an. Das löste eine Reihe ungehemmter Fantasien aus, denen er besser nicht
nachhing.
Nein, kein Team, dachte er. Ich arbeite allein. So war es immer, und so wird es auc h
bleiben.
Aber aus irgendeinem ihm unerfindlichen Grund fand er in diesem Gedanken nicht den
gewohnten Trost...
5. KAPITEL

Brooke wartete im Wagen, während Jack die Tür aufschloss und die Jagdhütte betrat. Das
kleine Holzhaus lag im Dunkeln. Der dichte Wald um sie herum kam ihr vor wie eine
schwarze Wand, und der wolkenbedeckte nächtliche Himmel spannte sich undurchdringlich
darüber.
Licht flammte auf und fiel durch die Tür und die beiden kleinen Fenster auf die Veranda.
Jack kehrte zum Wagen zurück und öffnete die Beifahrertür.
„Alles in Ordnung."
Noch immer ein wenig benommen von den dramatischen Ereignissen, nickte sie nur
stumm, stieg aus und folgte ihm. Auch wenn sie es nicht zugeben mochte, war sie froh, dass
Jack sie für die Nacht in Sicherheit gebracht hatte. Morgen früh würde sie dann wieder Mut
gesammelt haben.
Die Hütte war karg eingerichtet. Zwei Etagenbetten an der Rückwand, dazwischen ein
winziges Fenster. Ein grober Tisch mit zwei Bänken. Zur Linken ein gemütlicher Sessel und
ein Sofa vor dem Kamin, die beide schon bessere Tage gesehen hatten. Rechts befanden sich
eine Edelstahlspüle, Schränke und ein kleiner Kühlschrank, dazu ein Herd.
„Fühlen Sie sich wie zu Hause." Er schaltete eine Taschenlampe ein. „Ich schaue mich
kurz draußen um, dann rufe ich das Revier an."
„Sie meinen, man ist uns bis hierher gefolgt?" rief sie mit einem Anflug von Panik.
„Nein, aber es kann nicht schaden, wenn ich mich erkundige, ob der Fahrer verhaftet
wurde." Er deutete auf ein schnurloses Telefon auf der Arbeitsplatte neben der Spüle. „Ich
dachte, Sie wollten vielleicht auch Ihre Mutter anrufen."
„Danke."
War es wirklich erst heute Morgen gewesen, dass sie Alyssa zum Flughafen gebracht
hatten? Es kam ihr so viel länger vor. Sie nahm den Hörer und setzte sich in den weichen
Sessel.
Die Unterhaltung mit ihrer Mutter konnte ihre innere Unruhe nicht dämpfen. Obwohl
Alyssa im Koma lag, war Delia Snowdens überschwängliche Freude nicht zu überhören.
Natürlich, sie hat ihre andere Tochter schließlich vierundzwanzig Jahre nicht gesehen,
versuchte Brooke sich zu beruhigen.
Und dennoch, das vertraute Gefühl, nicht gut genug zu sein, war sofort wieder da. Der
Gedanke, dass ihre Mutter nicht so enttäuscht von ihr wäre, wenn sie eine bessere Tochter
sein könnte, hatte sich bei Brooke in früher Kindheit festgesetzt. Die Erklärungen, die sie im
Laufe des Telefonats abgab, verstärkten Brookes Verletztheit noch.
Delia hatte ihrem Mann nicht verzeihen können, dass ihm sein Traum wichtiger war als
ihre Wünsche. Dass er die gesamte Familie in ein heruntergekommenes altes Haus mitten in
der Wildnis verpflanzte. Sie hatte gedacht, ihn aus ihrem Leben streichen zu können, indem
sie sich am anderen Ende des Kontinents niederließ. Zwei Kinder überforderten sie, aber sie
konnte sich auch nicht von beiden trennen. Schweren Herzens traf sie die Entscheidung, das
eine Mädchen mitzunehmen, das andere bei seinem Vater zu lassen. Und dann hatte sie eine
unverzeihliche Lüge in die Welt gesetzt.
Anschließend saß Brooke fröstelnd da und dachte über das Gespräch nach.
„Frieren Sie?"
Jacks Stimme schreckte sie aus ihren traurigen Überlegungen auf. Er kam herein und ließ
einen Armvoll Holzscheite fallen. Sie polterten zu Boden. Erleichtert atmete sie auf. Er war
wieder zurück. Sie war in Sicherheit.
„Ein bisschen. Wer hätte gedacht, dass es im Juni so kalt sein kann?"
„In den Bergen kühlt es nachts immer ab. Hier." Er reichte ihr ein marineblaues Sweatshirt
aus seiner Reisetasche. Sie streifte es über. Es roch nach ihm, und sie sog den männlichen
Duft ein.
„Was macht Ihre Verletzung?" fragte er und hockte sich vor dem steinernen Kamin hin.
Sie berührte vorsichtig die kleine Platzwunde an der Stirn. „Es geht schon."
Brooke schaute zu, während er Feuer machte. Seine Bewegungen waren sicher und
geschickt. Sie war dankbar für die Wärme und das Licht, die die Flammen aussandten.
„Er ist entkommen." Jack stocherte im Kamin.
„Sie waren so sicher, dass Ihre Kollegen ihn stellen."
Jack hob die Schultern. „Er hat es geschafft, über eine der vielen Nebenstraßen zu
verschwinden. Sie fanden nur eine Hand voll Scherben von seinem beschädigten Rücklicht.
Inzwischen sind sie dabei, Hersteller und Verkäufer des Pick- ups per Computer ausfindig zu
machen, und morgen fragen sie in allen Werkstätten nach. Wir bekommen ihn schon noch."
Das klang nicht mehr besonders zuversichtlich.
„Wer kennt sich denn mit diesen Nebenstraßen gut aus?" fragte Brooke.
„Wir alle." Jack warf ein neues Scheit ins Feuer. Flammen leckten an dem trockenen Holz
empor, warfen goldenes Licht und dunkle Schatten auf sein Gesicht.
„Kann er von dieser Hütte wissen?" Eigentlich war es auch egal. Diese Nacht würde sie
wohl kaum schlafen können.
Jack schüttelte den Kopf: „Freunde und Arbeit halte ich streng voneinander getrennt."
Brooke sah es seinem Gesicht an, dass er es ernst meinte. Alles muss seine Ordnung haben.
Keine störenden Gefühle. Ob er es wirklich immer so hielt? Hör auf, das geht dich nichts an,
ermahnte sie sich.
Sie fror wieder, aber das hatte nichts mit der Raumtemperatur zu tun. Der Gedanke an
einen Mordversuch jagte jedem einen kalten Schauer über den Rücken. Sie hätte sich gern
dichter ans Feuer gesetzt, aber das würde bedeuten, nahe an Jack heranzurücken, und davor
scheute sie zurück.
„In der Schublade unter dem unteren Bett liegen saubere Laken", sagte er und schob ein
Scheit zurecht. „Sie dürfen zuerst ins Bad."
Rasch bezog sie das Bett und ging dann in das kleine Badezimmer.
Während sie sich wusch, betrachtete sie in dem halb blinden Spiegel die Abschürfungen in
ihrem Gesicht, die rötliche Platzwunde. Sie war zu Alyssa geworden.
„Wer bist du?" fragte sie das Gesicht, das ihr entgegenblickte, und war überrascht, wie
anders, fremd ihre Stimme klang.
„Brooke ... ist alles in Ordnung?"
Sie zog hastig ihr Nachthemd über, raffte Kleidung und Kulturtasche zusammen und
öffnete. „Ja, mir geht es gut."
Er stand in der Tür. Wieder einmal war sie überwältigt von seiner männlichen
Ausstrahlung, seinem düsteren Ausdruck, ihrer heftigen Reaktion auf diesen Mann, dem sie
normalerweise keinen zweiten Blick gönnen würde.
„Brooke ...", begann er, runzelte dann aber die Stirn. Er holte tief Luft, als wolle er etwas
sagen, aber es kam kein Wort über seine Lippen.
Stattdessen hob er die Hand und strich mit der Fingerspitze zart über ihre Wange, die
Schrammen. Sie erbebte, und eine dumpfe Sehnsucht ergriff sie. Verwirrt schaute sie ihm in
die dunklen Augen. Er senkte den Kopf, zögerte.
Ihr Herz machte einen Satz. Ihr wurde die Luft knapp. Dies hier passiert nicht wirklich,
sagte ihr Verstand. Aber das interessierte ihre Sinne nicht. Verlangen überrollte sie wie eine
Woge.
Dann berührten seine Lippen ihre. Mehr nicht. Hauchzart. Haut auf Haut. Eigentlich nichts
Weltbewegendes. Aber sie selber erbebte förmlich. Ihre Kleidung, die Tasche fielen ihr aus
den Händen. Wie durch Watte hörte sie sie zu Boden fallen. Alles um sie her schien sich zu
drehen. Das muss die Nachwirkung der Angst vorhin sein, dachte sie benommen, es ist ganz
normal. Sie brauchte nur ein wenig Wärme. Das war alles. Sie stellte sich auf die
Zehenspitzen, um me hr von seinem Mund zu schmecken.
Sie schlang ihm die Arme um den Hals. Seine Haut fühlte sich wundervoll an, samtig und
fest zugleich. Seine Bartstoppeln waren rau an ihrem Kinn. Unter den Fingern spürte sie sein
überraschend weiches Haar.
Mit beiden Händen packte er ihre Hüften, und für den Bruchteil einer Sekunde fühlte es
sich so an, als wolle er sie von sich stoßen. Aber dann legte er eine Hand an ihren Hinterkopf,
die andere auf ihren Po und presste sie an sich. Sie seufzte vor Lust und schmiegte sich an
ihn, fand es wundervoll, seine harten Muskeln zu spüren.
Mit einem dumpfen Stöhnen vertiefte er den Kuss, kostete ihre Lippen, wild und hungrig.
Sie brannte am ganzen Leib. Mehr. Sie wollte mehr.
„Halt mich fester", flehte sie leise, und ihre atemlose Stimme klang ihr fremd in den
Ohren.
Da hob er den Kopf. Sie protestierte unwillkürlich. Er stieß sie von sich.
„Jack...?"
„Es tut mir leid", sagte er. Er atmete schwer. „Es wird nicht wieder vorkommen."
„Nein", erwiderte sie, bückte sich nach ihren Sachen und versuchte zu verstehen, was
geschehen war. Sie richtete sich auf und drückte Kleidung und Tasche gegen die Brust.
„Brooke...", sagte er rau und berührte ihr Kinn mit der Fingerspitze. Seine grauen Augen
waren weit geöffnet, die Pupillen dunkel.
Sie schluckte, sehnte sich nach ihm, wagte aber nichts zu sagen.
„Ich werde auf dich aufpassen."
Sie nickte nur stumm.
Noch einmal berührte er sanft ihre Wange und trat dann zur Seite.
„Ich denke, du solltest jetzt schlafen gehen."
Steif ging sie an ihm vorbei zum Bett, brachte so viel Distanz wie möglich zwischen sie
beide. Aber sie konnte ihre Gedanken nicht ausschalten, musste sich fragen, wo für sie die
größere Gefahr lag, bei Alyssas gesichtslosem, potenziellen Mörder oder in Jack Chessmans
Armen.

Jack hatte das Gefühl gehabt, in einem Wirbelsturm geraten zu sein, als er sie gestern Abend
küsste. Selbst jetzt, nach einer ganzen Nacht, vibrierten seine Sinne noch, verspürte er
Verlangen nach ihr.
Sie hatte sich an ihn geschmiegt und leidenschaftlich auf ihn reagiert. Und er hatte sich
dem Sturm der Gefühle ergeben, die sie in ihm auslöste. Er wollte sie – so heftig und wild,
dass ihn allein der Gedanke an ihren weichen, willigen Körper erregte.
Und dabei hatte er sie nur beruhigen wollen.
„Zeit aufzustehen", sagte er gepresst, während er noch ein Ei in die Schüssel aufschlug. Es
sah nicht so aus, als würde es ein guter Tag werden. Er war mit Kopfschmerzen und einem
drängenden Verlangen erwacht, das er seitdem zu ignorieren versuchte. „Wir haben heute
einiges zu erledigen."
„Was denn zum Beispiel?"
Sie hörte sich schläfrig an, aber er drehte sich nicht um. Er hatte sich vor langer Zeit
geschworen, sich nie mit einer Frau einzulassen, die so emotional war. Und er würde seine
Meinung auch jetzt nicht ändern. „Wir müssen dich in Alyssa umändern."
„Oh."
Er rührte die Eier mit einer Gabel durch und goss sie in die heiße Pfanne. Seine Beziehung
zu Alyssa war nie so kompliziert gewesen. Schwierig, schwankend, ja – aber niemals
kompliziert. Sie brachte sich in Schwierigkeiten, er holte sie wieder heraus. Dafür brauchte
sie ihn. Doch sie hatte nie in gefühlsmäßiger Hinsicht Ansprüche an ihn gestellt.
Mit einem Pfannenheber gab er das Rührei auf zwei Teller und verstand nicht, was diesen
schwelenden Ärger in ihm hervorrief. Da er ihn nicht vertreiben konnte, ignorierte er ihn
einfach. Er stellte die beiden Teller auf den Tisch und machte sich auf die Suche nach
Toastbrot und Marmelade.
Brooke trug einen Rock und ein seidenes T-Shirt in changierenden Grüntönen, als sie sich
zu ihm an den Tisch setzte. Es ließ ihre Augen noch größer und ihre Farbe noch intensiver
erscheinen. Das Outfit war zu weiblich, zu sinnlich für Alyssa. Das musste geändert werden.
Es würde nicht einfach sein, Brooke diesen Touch von Härte zu verleihen.
„Was machen wir als Nächstes?" Brooke nahm sich eine Scheibe Toastbrot und strich
Erdbeermarmelade darauf.
Jack schenkte Kaffee ein und zwang sich, in neutralem, ruhigem Ton zu antworten. „Wir
versuchen das Unmögliche."
„Und das wäre?"
„Du und Alyssa, ihr verhaltet euch völlig unterschiedlich."
Sie betrachtete ihn mit ausdrucksloser Miene. Versuchte sie so zu tun, als hätte es den
Kuss gestern Abend gar nicht gegeben? Fiel es ihr ebenso schwer wie ihm?
„Nun, das ist nicht überraschend, da wir dreitausend Meilen voneinander entfernt groß
geworden sind."
„Das sollte kein Scherz sein. Wir müssen erreichen, dass jeder dich für Alyssa hält. Der
Gedächtnisverlust allein genügt nicht."
„Und?"
„Der Arzt meinte, sie würde sich sehr wahrscheinlich an ihre Fähigkeiten und ihr
Verhalten erinnern, vielleicht sogar an die Ereignisse der letzten Zeit." Er schob ihr einen
Becher zu. „Sie trinkt ihren Kaffee immer schwarz."
Brooke schnitt ein Gesicht. „Ich trinke nie welchen."
„Von nun an schon. Eine Tasse am Morgen, bevor du dic h in den Papierkrieg stürzt."
„Was für einen Papierkrieg?"
„Rechnungen für abreisende Gäste ausstellen. Buchungen neuer Gäste vornehmen. Dafür
sorgen, dass alles bereit ist, bevor sie ankommen."
Sie starrte angewidert auf die dampfende dunkle Flüssigkeit. „Könnte ich nicht stattdessen
Tee haben? Wer bekommt denn schon mit, was ich in meinen eigenen vier Wänden trinke?"
„Du wirst Kaffee trinken, weil Alyssa Kaffee trinkt. Sie trinkt Kaffee im Büro, weil sie ihn
trinken muss."
„Was meinst du mit ,muss'? Kein Mensch muss Kaffee trinken!"
Es war klar, dass irgendwann die Sprache auf Alyssas bislang sorgfältig geheim gehaltene
Schwäche kommen musste. Und doch fiel es ihm schwer. Selbst ihrer Zwillingsschwester
gegenüber. Er schob sein Rührei hin und her, nahm eine Gabel voll in den Mund und kaute,
während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. „Deine Schwester ist... unkonventionell."
„Unkonventionell?"
Wieder war da diese verdammte Neugier in ihren Augen. Die musste auch verschwinden.
„Sie hält sich nicht an Re geln."
Brooke legte langsam das Messer zurück und stützte das Kinn in den Händen auf.
„Eigentlich kommst du mir nicht vor wie jemand, der wie die Katze um den heißen Brei
herumschleicht. Also, heraus mit der Sprache."
Er legte seine Gabel auf den Teller und nahm den Becher in die Hand. „Alyssa besitzt eine
kreative Persönlichkeit."
„Ich glaube, das verstehe ich nicht."
„Stell dir einen zerstreuten Professor vor."
„Wie passt der Kaffee dazu?"
Er trank einen Schluck. „Er hilft ihr, sich zu konzentrieren, ohne das Einzige zu verlieren,
das sie an sich mag."
„Du meinst ihren ungewöhnlichen Blick für die Dinge?"
„Ja." Er war überrascht, dass sie sofort darauf kam. „Alyssa sieht die Welt völlig anders,
und das drückt sich in ihren Fotografien aus. Sie kann stundenlang dasitzen und auf das
richtige Licht warten, auf genau den richtigen Schlag eines Schmetterlingsflügels, auf die
richtige Perspektive. Koffein hilft ihr, das durchzuhalten." Abrupt wechselte er das Thema.
„Du sitzt völlig falsch."
Sie schaute auf ihre Füße. Sie saß aufrecht da, den Rücken durchgedrückt, brauchte keine
Stuhllehne. „Was ist daran falsch?"
„Du siehst aus, als kämst du aus einem Schweizer Mädchenpensionat." Wieder keimte
dieser Ärger in ihm auf, der Ärger darüber, dass er sie in der einen Minute küssen und der
anderen fortschicken wollte.
„Und?"
„Alyssa macht es sich gemütlich beim Sitzen. Streif dir die Schuhe ab – sie behält kaum je
Schuhe an den Füßen."
Zögernd folgte Brooke seiner Aufforderung.
„Und nun sitz locker."
Sie gab sich wirklich alle Mühe. Und was tat er? Fuhr sie an.
„Nein, die Schultern mehr nach vorn ... nein, nein."
Da reichte es ihr. Sie schleuderte ihre Serviette auf ihn. „Gut, Jack, dann zeig es mir."
Er sah sie scharf an und nickte. Er ließ die Schultern hängen, krümmte den Rücken, als
hätte er eine Wirbelsäule aus Gummi, entspannte sich. Ein anderer Teil seiner Anatomie nahm
dies als Aufforderung zu reagieren. Er war froh, dass der Tisch zwischen ihnen stand.
„Also, das sieht schrecklich ungemütlich aus." Sie versuchte, ihren Körper entsprechend zu
verdrehen.
„Hör auf, dich zu beschweren", sagte er barsch, als er sich wieder aufrichtete. Es war ihm
egal, ob sie seinen Ton mochte oder nicht. Sie musste auch ihn nicht mögen. Vielleicht war es
sogar besser so. „Das war deine Idee, hast du das etwa vergessen? Und hör auf, mich so
anzusehen."
„Wie denn?"
„Keine Ahnung. Mit so großen Augen." Viel zu begehrenswert. Hatte Alyssa eigentlich
auch grüne Augen? Spiegelten sich auch bei ihr die Gedanken darin, ihre Gefühle? Nein, sie
schien immer in ihrer eigenen kleinen Welt verloren zu sein, einer Welt, die er nicht verstand.
„Ich kann nichts dafür, wie meine Augen aussehen."
„Kneif sie ein wenig zusammen", wies er sie an. „Nein, nicht die Stirn runzeln. Versuch
misstrauisch auszusehe n."
„Misstrauisch?"
„Nein, das ist auch nicht richtig. Wie wäre es mit wachsam?"
Sie warf ihm einen verzweifelten Blick zu.
„Du gibst dir keine Mühe."
„Ich tue mein Bestes." Sie versuchte es noch einmal.
Sie sah nicht aus wie Alyssa. Und Jack begann zu begreifen, dass das Feuer in ihren Augen
niemals Alyssas abwesendem Blick Platz machen würde. Ihre sinnlichen, fließenden
Bewegungen nie Alyssas entschlossenen. Und er ihr würde ihr gegenüber niemals brüderliche
Gefühle empfinden können, da sein Körper ihn dermaßen im Stich ließ.
„Gut, es reicht vorerst." Er schaute auf ihren Teller. „Du isst zu langsam."
„Es ist auch ziemlich schwierig zu essen, wenn man unter dem Mikroskop liegt!" Sie griff
nach ihrer Gabel und widmete sich gehorsam der Aufgabe, die Eier zu vertilgen.
Er spürte, dass sie sich innerlich zurückzog, und doch konnte er seine Kritik nicht
unterlassen. Ich muss sie stärken, redete er sich ein und ignorierte die feine Stimme, die ihn
einen Lügner nannte. „Benutz die andere Hand. Alyssa ist Rechtshänderin."
Als Antwort hob sie den eingegipsten Arm an.
„Sie würde ihn dennoch benutzen. Sie ist ein Gewohnheitsmensch. Was ihre Fotos betrifft,
ist sie sehr spontan, ansonsten aber fallen ihr Änderungen schwer."
„Erzähl mir mehr über sie", bat Brooke und schob ihren leeren Teller von sich.
„Sie ist ungeduldig, rastlos – was mich an etwas erinnert. Wenn du einfach dasitzt, so wie
jetzt, musst du mit dem linken Fuß wippen. Sieh her, die Ferse anheben und wieder auf den
Boden fallen lassen." Er machte es vor. Sie imitierte es. „Gut so."
„Was sonst noch?"
„Sie hat gern Spaß, ist unermüdlich, freiheitsliebend, künstlerisch. Sie hat einen etwas
schrägen Humor." Er zuckte mit den Schultern.
„Es gibt nur eine Alyssa ..."
Brooke schaute zur Seite, aber er bekam den verletzten Ausdruck in ihren Augen noch mit.
„Und irgendwie muss ich so werden wie sie."
„Ja.“
„Gut, dann weiter im Text."

Drei Tage später, als Brooke während des Frühstücks versuchte, sich auf die folgenden
Stunden endloser Übungen und Belehrungen einzustellen, verkündete Jack, sie würden nach
Comfort fahren.
„Aber bevor wir dort ankommen, müssen wir uns noch über ein paar Dinge unterhalten",
meinte er, als sie losfuhren. Es klang unterschwellig autoritär. Rebellion regte sich in Brooke.
In den letzten Tage n hatte Jack es hervorragend verstanden, ihr zu vermitteln, dass sie
mehr oder weniger versagte, wenn es darum ging, Alyssas Rolle zu spielen. Und es gefiel ihr
gar nicht, von jemandem beurteilt zu werden, der sie so gut wie gar nicht kannte. Von jemand,
dessen Gefühlstemperatur kaum die eines Granitblocks im Winter überstieg – abgesehen
vielleicht von dem einen Moment, wo sein feuriger Kuss sie beinahe verbrannt hatte ... Hastig
vertrieb sie die Erinnerung daran und konzentrierte sich auf die Gegenwart.
Er nahm den Fuß vom Gas und bog in eine Schotterstraße ab. Sie war so holperig, dass sie
im Sitz auf und ab flog. Sie musste sich festhalten.
„Du gehst ohne mich nirgendwohin."
Steine klackerten gegen den Unterboden. „Musst du nicht wieder zurück zum Dienst?"
„Ich habe mir zwei Wochen Urlaub genommen."
Und bereits ein paar Tage davon vertan – ihretwegen. Zweige schrammten über das
Seitenfenster. „Und wenn wir in der Zeit nicht finden, wonach wir suchen?"
Er legte einen niedrigeren Gang ein. Der Motor heulte gequält auf. „Dann fährst du wieder
nach Hause."
„Nein."
Sein Blick ließ keinen Widerspruch zu. „Und ob, Brooke. Kein Wenn und Aber. Wenn ich
nicht rund um die Uhr auf dich aufpassen kann, fährst du nach Hause."
„Habe ich denn gar nichts zu sagen?"
Jack lenkte den Wagen durch eine Kurve. „Nein, ich habe sowieso schon viel zu sehr
nachgegeben."
„Sie ist meine Schwester. Ich habe ein Recht darauf herauszufinden, was wirklich mit ihr
geschehen ist."
„Nicht, wenn du mir dabei in meinem Job in die Quere kommst."
„Jack..."
Der Wagen schoss in den Sonnenschein hinaus. „Wir machen es so, wie ich es sage, oder
du fährst auf der Stelle."
„Aber..."
Er brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen. „Ich muss mich auf dich verlassen
können."
Und sie sah seinen Augen an, dass ihm das schwer fiel. Er war es gewohnt, das Ruder
selbst in der Hand zu haben. Und nun musste er es mit jemand teilen. Aber sie hatten dasselbe
Ziel. Ob es ihm nun gefiel oder nicht, sie waren bei dieser Sache Partner. Sie würde sich
einverstanden erklären – fürs Erste.
Jack stellte den Motor ab und stieg aus. Er schaute auf Brooke, die vor Alyssas Haus stand.
Ihr gelbes T-Shirt hob sich strahlend gegen das stumpfe Weiß der Wand ab. Ihr kurzes Haar
gab den Blick auf ihren Nacken frei. Seine Fantasie gaukelte ihm vor, wie er sich über sie
beugte, die Stelle sanft liebkoste und küsste, ihren lustvollen Schauer spürte...
Er ging an ihr vorbei, riss schwungvoll die Haustür auf und wunderte sich kaum, dass sie
nicht versperrt war. Wie oft hatte er Alyssa gesagt, sie solle sie abschließen? „Achte auf die
zweite Stufe. Sie ist ein wenig morsch."
Brooke folgte ihm langsam hinein, blieb im Wohnzimmer stehen und schaute sich
neugierig um.
Und er sah den Raum mit ihren Augen.
In allen Dingen war Alyssa zu erkennen: dem steinernen Kamin, mit seinem vom Alter
grauen Sims, den halb heruntergebrannten Kerzen, dem bunten Quilt auf dem Schaukelstuhl,
der zum Fenster hingewandt stand, nicht zum Raum. An den Keramiken, die eher fürs Auge
als zum Gebrauch ausgesucht worden schienen. Den Fotografien, die die Wände schmückten.
Und als er die Erinnerung an Alyssas Traurigkeit nicht mehr länger ertrug, durchbrach er
den Zauber. „Da ist noch eine Sache."
„Was denn?"
Brooke warf ihm einen Blick über die Schulter zu. Ein seltsames Leuc hten war in ihren
Augen, und es ging ihm durch und durch.
„Der Ring."
Er spielte mit der kleinen Samtschachtel auf seiner Handfläche, dann öffnete er zögernd
den Deckel. Der Diamant blitzte ihn an, als wäre alles nur ein Witz.
Das zusammengepresste Stück Kohle war das Einzige von Wert, das sein Vater seiner
Mutter je gegeben hatte. Glück hatte es ihr trotzdem nicht gebracht. Lange bevor Jack auf die
Welt kam, hatte Malcolm Chessman sie verlassen.
Jack hatte seinen Vater nur einmal gesehen, als er ihn im Gefängnis von Concord besucht
hatte, um ihm zu sagen, dass seine Mutter gestorben war. Aber weder seine tote Frau noch
sein Sohn schienen ihn sonderlich zu interessieren.
Jack griff nach Brookes Hand. Dabei fiel ihm auf, dass ihre Nägel nicht mehr pinkfarben
lackiert waren. Es war nur eine kleine Sache, nur ein Detail. Aber alles musste stimmig sein.
Als er ihr den Ring über den Finger schob, erneuerte er stumm sein Versprechen.
Ich werde auf dich aufpassen.
„Zieh dich um", sagte er dann, ließ Brookes Hand fallen und wandte sich abrupt zur Tür,
bevor er etwas tat, was er hinterher bereute. Zum Beispiel, sie wieder zu küssen. „Dann legen
wir los."
Sie schluckte. „Wie?"
„Wir besuchen deinen Vater."
6. KAPITEL

Das war knapp gewesen. Die Zeit hatte kaum gereicht, aus dem Cottage zu schlüpfen und sich
unsichtbar zu machen. Wie gut, dass der Motor von Jacks Wagen diesen unverkennbaren
Klang hatte. Hatte er den Pick- up erkannt? Sehr wahrscheinlich nicht. Außerdem stand das
Auto jetzt wieder sicher in seinem Versteck. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Zu wissen, dass Alyssa lebte, hatte allerdings nicht den Schock gemindert, sie mit eigenen
Augen zu sehen. Sie war schon immer hübscher gewesen, als ihr gut tat. Die Narben und
Schrammen im Gesicht änderten daran nicht viel, und der gebrochene Arm würde heilen.
Schon bald würde sie wieder ihre rücksichtslosen Tricks anwenden.
Und doch ... irgendwie wirkte sie verändert. War die Todesangst vielleicht der Grund? Und
Jack, was war mit dem los? Er klebte an ihr, als wäre sie völlig hilflos.
Ging es Alyssa doch nicht so gut, wie Jack behauptet hatte? Und wo waren die beiden die
letzten Tage gewesen? Nicht in Jacks Angelhütte. Nicht an Alyssas geheimen Campingplatz.
Egal. Zeit für eine neue Strategie. Zeit, Alyssa wissen zu lassen, dass die Vergangenheit
nicht vergessen war. Es war nur recht und billig, dass sie, bevor sie starb, die gleichen
Schmerzen empfand, die sie anderen zugefügt hatte.
Willkommen daheim, Prinzessin.

„Alyssa! Alyssa!"
Als Alyssa nach draußen trat, stürmten ein Mädchen und ein Beagle auf sie zu. Um nicht
mit ihnen zusammenzustoßen, hob Brooke ihren Gipsarm und fing mit dem anderen den
Aufprall des kleinen Körpers ab.
Sie blickte in zwei große, strahlende braune Augen. Das Mädchen, schätzungsweise sechs
Jahre alt, legte seine Arme um sie und drückte sie fest, und das kleine Hündchen sprang
aufgeregt an Brookes Beinen auf und ab.
„Du bist wieder da. Ich hab dich so vermisst!" rief die Kleine aufgeregt.
„Ich dich auch", sagte Brooke und tätschelte ihr die Schulter.
Ihr schwirrte der Kopf. Wer war dieses Mädchen, das sich so freute, Alyssa wieder zu
sehen? Jack hatte es nicht erwähnt, und sie hatte sich noch immer nicht ganz in Alyssas Rolle
gefunden, auch wenn sie jetzt ihre Kleidung trug. Die Khakishorts und das enge rote
Baumwolltop erschienen ihr so steif am Körper zu liegen wie ein neues Halloweenkostüm.
Mit den geliehenen Bootsschuhen, auch wenn sie passten, kam sie sich vor wie ein Kind, das
sich verkleidet hatte. Und wie eine Betrügerin.
Ihr Gegenüber runzelte die Stirn. „Du erinnerst dich nicht an mich."
Wie sollte ich auch? Ich kenne dich doch gar nicht ... Brooke warf einen Blick zur Tür.
Aber Jack war immer noch im Haus, auf der Jagd nach Alyssas Hauptschlüssel. Mit dieser
Situation musste sie allein fertig werden. Sie strich der Kleinen eine Haarsträhne, die an der
verschwitzten Wange klebte, zurück, und versuchte, die feuchten Liebesbeweise des Beagles
abzuwehren. Sie drehte den Kopf so, dass die Schrammen zu sehen waren.
„Ich bin mit dem Kopf ganz doll gegen die Felswand gestoßen, und nun kann ich mich an
einige Dinge nicht mehr erinnern – zum Beispiel an Namen."
„Oh. Ich bin Lauren." Das Mädchen wedelte ihr mit beiden Händen vor dem Gesicht
herum. „Fingerfarben. Erinnerst du dich?"
„Es tut mir Leid – nein."
Lauren machte eine ernste Miene und deutete auf die Wunde an Brookes Schläfe. „Tut es
weh?"
„Nur ein bisschen." Brooke zuckte innerlich zusammen. Sie hätte nicht gedacht, dass ihr
das Lügen so schwer fallen könnte.
„Wir haben immer so viel Spaß zusammen ge habt." Lauren lächelte verschwörerisch.
„Holly malt nicht so schön wie du", flüsterte sie.
„Weißt du was?" gab Brooke mit gesenkter Stimme zurück. „Morgen kommst du zu mir,
und dann überlegen wir uns etwas Besonderes, ja? Und das machen wir dann am
Wochene nde."
Lauren lachte glücklich. „Nur du und ich?"
„Nur du und ich."
„Und ich darf es mir aussuchen?"
„Du suchst aus."
„Ich komme, wenn du vom Kajakfahren zurück bist", erklärte die Kleine strahlend.
Kajakfahren? Das hörte sich nicht gut an. Mit Wasser hatte sie sich noch nie anfreunden
können. Noch ein Detail, das Jack vergessen hatte. Brooke blickte auf und entdeckte Jack in
der Tür. Er schien ihr Unbehagen zu genießen. Er testete sie, aber aus welchem Grund, war
ihr nicht klar. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, es hatte nicht nur mit der Rolle zu tun, die
sie spielen musste. Sie schluckte.
„Nach meiner Kajakfahrt..."
„Kann ich morgen das Muffin-Mädchen sein? Jessica durfte zweimal hintereinander."
Wieder einmal fühlte sich Brooke wie Alice im Wunderland und schaute Jack bittend an.
Er nickte und sagte: „Sicher."
Lauren juchzte laut. Der Hund bellte und tanzte um sie herum, bis sie alle ein einziges
Knäuel bildeten.
„Willst du es nicht Miss Franny sagen, damit sie Bescheid weiß?" Jack kam heran und
entwirrte die Leine mitsamt Hund.
„Oh ja, richtig. Bevor Jessica es tut." Lauren zerrte den Beagle fort. „Komm, Daisy. Also,
bis morgen dann", rief sie ihnen noch zu und winkte.
Brooke winkte zurück.
„Laurens Familie kommt regelmäßig hierher." Jack ging mit ihr den Weg entlang zur
Straße. Unter ihren Schuhen knirschte der Kies. Eine leichte Brise kam auf und machte
Brooke unangenehm bewusst, dass ihr das T-Shirt auf der feuchten Haut klebte. Jacks Nähe
setzte ihr genauso zu.
„Sie hat einen älteren Bruder, Robby", fuhr er fort. „Ein entsetzlicher Junge. Der Vater
kommt jedes Wochenende den ganzen Weg von Nashua her."
Brooke wollte gewohnheitsmäßig nach einer Haarsträhne greifen, um sie zu zwirbeln.
Dann bemerkte sie ihren Fehler und fuhr sich schnell mit den Fingern durchs kurze Haar.
„Ach so. Alyssa würde sie erkennen."
„Ja, aber du bist geschickt mit der Situation umgegangen."
„Das sehe ich anders."
Er blieb stehen und umfasste ihre Arme. „Du kannst nicht erwarten, keine Fehler zu
machen. Ich habe dir ein paar Tipps gegeben, aber du bist erst eine Stunde hier. Du weißt, du
kannst Alyssas Unfall immer als Ausrede vorschieben."
Sie schaute zu Boden, fort von seinem durchdringendem Blick. Aber es war zu spät. Sie
hatte genug gesehen. „Aber du willst, dass ich perfekt bin. Ging es nicht in den letzten Tagen
nur darum?"
Mit dem Zeigefinger hob Jack ihr Kinn an. Ein beunruhigendes Kribbeln lief ihr über den
Rücken. „Du musst nicht ständig perfekt sein."
Sie nickte. Perfektion, das war der wunde Punkt. Ihre Mutter warf ihr ständig vor, alles viel
zu ernst zu nehmen, aber Brooke konnte nicht anders. War Delias Leben nicht das beste
Beispiel dafür, wie viel man falsch machen konnte? Brooke unterdrückte einen Seufzer und
setzte sich wieder in Bewegung.
„Brooke..." Er fluchte leise und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, bevor er ihr folgte.
„Ich kann dich nicht Brooke nennen, aber auch nicht Alyssa."
„Weshalb nicht? Ähnele ich ihr nicht genug?"
„Das ist nicht das Problem."
„Was dann?"
„Du wirkst anders."
„Oh." Warum hatte sie nicht selber daran gedacht? Jedes Mal, wenn Jack sie anschaute,
musste sie ihn schmerzhaft an die Frau erinnern, die er an das Koma verloren hatte. Auch für
ihn war diese Täuschung bestimmt nicht einfach. Nicht, wenn er sich wahrscheinlich nach
Alyssa sehnte und glaubte, bei ihr, Brooke, bleiben zu müssen, um sie zu beschützen.
„Ein He, du tut's auch." Brooke warf ihm ein schwaches Lächeln zu, und er erwiderte es.
Schmetterlinge flatterten plötzlich in ihrem Bauch.
„Nein, das funktioniert nicht."
„Wir werden uns etwas ausdenken."
Er schob die Hände tief in die Taschen seiner Cargohose und marschierte weiter.
„Was hat es mit dem Muffin-Mädchen auf sich?"
„Franny backt Muffins, die die Kinder dann morgens verkaufen dürfen. Es ist eine Art
Tradition. Und sie reißen sich darum, den Korb zu tragen."
Sie schüttelte den Kopf. „Es gibt so viel, was ich noch wissen muss."
„Mach dir keine Sorgen. Ich finde, du schlägst dich tapfer."
Ja, noch. Aber würde sie ihren Vater und Alyssas Freundinnen und Freunde tatsächlich
täuschen können? „Alyssa fährt Kajak?"
„Jeden Morgen eine Runde um den ganzen See."
Brooke musste unwillkürlich schlucken. „Ich hasse Wasser."
„Aber du lebst am Meer...", sagte er ungläubig.
„Ich gehe nicht hinein. Ich schaue es mir nur an. Gott sei Dank habe ich mit dem Gipsarm
eine Ausrede."
Er lachte leise. „Du kennst Alyssa nicht."
Sie seufzte tief. „Ich wollte, du würdest es nicht ständig wiederholen. Es tut meinem
Selbstvertrauen nicht sonderlich gut."
„Du bist diejenige, die dieses Spiel spielen wollte", erinnerte er sie.
Und bringe dich dadurch in Schwierigkeiten, beendete sie seinen Satz stumm. „Es tut mir
Leid."
„Was?"
„Dass ich nicht sie bin. Dass ich alles so schwierig für dich mache."
Jack warf ihr einen seltsamen Blick zu und blieb dann stehen. „W ir sind da. Bereit?"
„Bleibt mir denn eine Wahl?"

Sie standen vor dem großen, braun gestrichenen Haus. Ein Wagen rollte knirschend langsam
über die kiesbestreute Straße. Kichernde Kinder hingen aus den Seitenfenstern. Der Geruch
nach Mückenspray und Mittagessen hing in der Luft.
Obwohl Efeu an der Wand emporrankte und ein Korb mit künstlichen Blumen an der
Haustür hing, wirkte das Gebäude mehr wie eine Schlafbaracke als wie ein Zuhause. Brooke
scharrte mit dem Fuß in der weichen Erde.
„Wie ist er?"
„Mürrisch."
Eine Ameisenriege marschierte am Rand des spärlichen Rasens entlang, folgte dem Pfad
und verschwand unter der Rampe, die um das Haus hinaufführte. „Sind Alyssa und Dad gut
miteinander ausgekommen?"
„Soweit die Umstände es gestatten."
„Wie meinst du das?"
„Du wirst es sehen."
„Solltest du es mir nicht sagen?"
„Man kann es nicht erklären."
Die Tür am anderen Ende des Gebäudes wurde mit Schwung aufgestoßen und Lauren, das
Hündchen auf dem Arm, rief einem anderen Mädchen, das gerade vorbeiging, zu: „Jessica,
Jessica, ich bin morgen das Muffin- Mädchen! Ich bin das Muffin-Mädchen!"
Eine ältere, mütterliche Frau mit rundlichen Formen kam heraus und entdeckte Brooke und
Jack. Ihr rotbraunes Haar war mit grauen Strähnen durchzogen. Ein freudiges, offenes
Lächeln, das Brookes Herz im Sturm eroberte, überzog ihr Gesicht. Sie schlug beide Hände
vor den Mund.
„Lieber Himmel, Alyssa, warum hast du uns nicht gesagt, dass du nach Hause kommst?"
„Sie wollte dich und Walter überraschen, Franny", erwiderte Jack an Brookes Stelle und
gab ihr damit einen Hinweis, wer die Frau war.
„Das ist dir gelungen! Komm her, Mädchen."
Franny breitete die Arme aus und drückte Brooke fest an sich. „Ich habe gewusst, dass du
wieder aus dem Koma erwachst. Ich habe den Ärzten nie geglaubt. Du bist viel zu dickköpfig,
um dich von einem kleinen Schlag gegen den Felsen aus dem Gleichgewicht bringen zu
lassen. Wie schön, dass du wieder da bist!"
„Ich freue mich auch." Brooke stand stocksteif da. Das elende Gefühl, eine Betrügerin zu
sein, wuchs.
Franny schaute ihr suchend ins Gesicht. Ihr Blick blieb an der Verletzung hängen. Sie
runzelte die Stirn. „Wie fühlst du dich?"
„Ein wenig wirr im Kopf", erwiderte Brooke der Wahrheit entsprechend. Sie löste sich aus
Frannys Umarmung und trat einen Schritt zurück.
„Ihre Erinnerung ist ein bisschen angekratzt." Jack legte ihr die Hand auf den Rücken, als
wolle er ihr Halt geben. Die Wirkung war alles andere als beruhigend. Ihre Haut begann zu
prickeln.
Franny sah einen Moment nachdenklich drein, machte dann aber eine wegwerfende
Handbewegung. „Ach, das ist doch normal, wenn man bewusstlos war. Es wird wohl ein
wenig dauern, bis du wieder die Alte bist."
Länger als du denkst. Wieder überfielen Brooke Schuldgefühle, als sie daran dachte, dass
Alyssa immer noch im Koma lag. Diese Frau war so nett, so besorgt.
Franny wandte sich an Jack. „Es geht ihr doch gut, oder?"
„So gut, wie man es erwarten kann." Er lächelte, aber seine Augen blieben ausdruckslos.
„Gut, dann komm, damit du deinem Vater Guten Tag sagen kannst." Sie ergriff Brookes
Hand und führte sie die Rampe empor.
„Wie geht es ihm?" fragte Brooke, versuchte damit, die Begegnung hinauszuzögern.
„Schlimmer als gewöhnlich. Du hast ihm gefehlt. Er hat sich Sorgen gemacht, du
könntest..." Franny zuckte mit den Schultern.
„Was?"
„Nicht zurückkehren."
Drinnen im Raum war es dämmrig. An der Decke rührte ein Ventilator im
Schneckentempo die abgestandene Luft. Das einzige Licht kam vom Fenster. Dort saß ein
Mann im Rollstuhl und starrte aufs Wasser hinaus. Ihr Vater? Natürlich, wer sonst. Ein
ungutes Gefühl erfasste sie. Diese zusammengesunkene Gestalt war nicht der Vater, den sie
gekannt hatte.
Walter Snowdon war nur noch ein Schatten des Mannes in ihrer Erinnerung. Alles Leben
schien ihn verlassen zu haben. Sein Rückgrat war gekrümmt wie unter einer ungeheuren Last.
Sein Schnauzbart war fort. Das Haar dünn und weiß. Seine Hände lagen kraftlos im Schoß.
„Walter, sie ist hier." Mit einem zu strahlenden Lächeln drehte Franny den Rollstuhl herum
und wurde mit einem säuerlichen Grunzen und einem scharfen Blick belohnt. „Alyssa. Deine
Tochter ist zu Hause, Walter. Heiß sie willkommen."
Lächelnd ging Brooke zu ihm und hockte sich neben ihn. Sie ergriff eine Hand. Er zog sie
gleich wieder zurück.
„Daddy, ich bin es. Ich bin wieder da." Sie hielt den Atem an, wartete auf ein Lächeln, als
ein Zeichen der Freude.
Ein kalter Blick voller Desinteresse traf sie und glitt zurück zum Fenster. Brooke richtete
sich auf, legte ihm den Arm um die Schulter, drückte ihn.
„Daddy..."
Schwach schüttelte er sie ab.
Brooke taumelte zurück. Ihr Lächeln erstarb. Daddy, bist du den nicht froh, mich zu sehen?
rief sie stumm. Sie versuchte, die Träne zurückzuhalten, hatte einen bitteren Geschmack im
Mund.
„Wie ... spät... ist... es?" fragte Walter mühsam.
Brooke versuchte, die schmerzliche Zurückweisung ganz tief in sich zu vergraben, und
schaute auf ihre – Alyssas – Uhr. „Fast neun", sagte sie stockend.
War Alyssa ihm egal? Liebte er seine Tochter nicht? Wollte er nicht wissen, wie es ihr
nach dem Unfall ging?
Denk nicht. Frag nicht. Schalte deine Gefühle aus. Es ist besser so. Je weniger du ihn
siehst, desto geringer die Chance, dass er den Unterschied erkennt.
Walters ausdruckslose blaue Augen richteten sich auf sie. „Und was... hast... du ... dann ...
hier... zu ... suchen? Hast du nichts... zu ... tun?"
Franny keuchte hörbar auf. „Walter, so kannst du nicht mit deiner Tochter reden! Sie hatte
einen schweren Unfall, hast du das vergessen? Sie war im Krankenhaus! Sie braucht jetzt
Ruhe und nicht, dass du sie antreibst."
„Sie drückt sich gern. Genau wie... ihre Mutter." Walter drehte seinen Rollstuhl wieder
zum Fenster.
Franny schüttelte langsam und traurig den Kopf. „Es tut mir Leid, Alyssa. Er hat wieder
einmal eine seiner Launen."
„Schon okay."
Aber es war nicht okay. Es war ein Albtraum. Niemals hätte sie sich ihren Vater so
abweisend und kalt vorgestellt. Was für ein Leben hatte Alyssa geführt? War er so geworden,
nachdem ihre Mutter ihn verlassen hatte oder erst nach seinem Schlaganfall?
„Sie hat sich nicht gedrückt, Walter", mischte sich da Jack ein. Seiner Stimme war
anzuhören, dass er sich nur mit Mühe beherrschte. „Du warst derjenige, der sich von ihr
abgewendet hat. Von nun an kümmere ich mich um sie."
Walter drehte ihm den Oberkörper zu und durchbohrte ihn förmlich mit seinem Blick.
„Was?"
„Wir sind verlobt. Ich werde bei ihr im Cottage wohnen, ihr helfen zu genesen."
„Ihr... wohnt nicht... zusammen. Nicht... solange... ich lebe."
„Das hast du nicht zu bestimmen."
Walter schlug kraftlos mit der Faust auf die Armlehne. Seine faltigen Wangen röteten sich
vor Zorn. „Dies hier ist... eine... Familienferienanlage. Hier gelten... gewisse... moralische...
Prinzipien."
„Sieh doch, wohin deine Prinzipien dich gebracht haben!"
Erschrocken griff Brooke nach Jacks Arm. Wieso schoss er so knallhart zurück? „Jack..."
„Nein, mein Schatz, er muss endlich begreifen, dass du nicht deine Mutter bist."
Schatz. Einen Moment lang dachte Brooke, Jack meinte es so, doch dann wurde ihr klar,
dass er lediglich versuchte, seine Position als Alyssas Verlobter klarzustellen.
„Verschwinde... von... meinem... Land. Auf... der Stelle."
Jack beugte sich vor und blickte Walter in die Augen. Zwei starke Charaktere steckten ihre
Grenzen ab. Aber ihr zusammengesunkener Vater war kein ebenbürtiger Gegner für Jack.
Walter wusste es und wich zurück. Was war nur geschehen, das seine Lebenskraft zerstört
hatte?
Franny versuchte, sich zwischen Jack und Walter zu stellen.
„Lass ihm Zeit, Jack." Ihre traurigen Augen verrieten, was sie für Walter empfand.
„Er hat bereits mehr als genug gehabt." Jack richtete sich wieder auf.
„Er leidet..."
„Alyssa auch. Sie hat die Hölle durchlebt, und er besitzt nicht einmal den Anstand, sich
nach ihrem Zustand zu erkundigen! Ein normaler Umgang ist nicht mehr möglich."
Franny senkte den Blick und nickte. „Ich weiß. Ich..."
„Es ist nicht deine Schuld. Du gibst dein Bestes." Jack ergriff Brookes Hand. „Komm."
Sein stählerner Griff machte ihr klar, dass er ihr einziger Anker in dieser fremden Welt
war. Und es gefiel ihr gar nicht, von jemandem abhängig zu sein. Spiel deine Rolle, ermahnte
sie sich sogleich.
„Lass uns nach Hause gehen." Nun war seine Stimme sanft, und ihr stiegen die bislang
zurückgehaltenen Tränen in die Augen. Sie schluckte und wandte sich von der Mitleid
erregenden Gestalt am Fenster ab.
„Mach dir keine Sorgen um deinen Vater, Alyssa", sagte Franny und tätschelte ihr die
Schulter. „Geh nach Hause und ruh dich aus. Ich kümmere mich um alles. Und herzlichen
Glückwunsch zu eurer Verlobung."
„Danke."
Jacks Griff wurde fester, und Brooke warf ihrem Vater einen Blick über die Schulter zu.
Würde es etwas ändern, wenn sie ihm sagte, dass sie Brooke war? Würde er so glücklich
sein wie ihre Mutter mit Alyssa?
Erst mussten sie denjenigen finden, der Alyssa ermorden wollte.
Das hatte Vorrang.
Da sah sie, dass die Schultern ihres Vaters zuckten.
„Daddy?"
„Lass ihn...", warnte Franny sanft. „Er braucht Zeit."
Wie viel Zeit mochte Franny ihm bereits gegeben haben? Wollte sie ihm noch mehr
geben?
Doch wenn es um Liebe ging, was bedeutete da lebenslanges Warten?
Brooke nickte und folgte Jack hinaus.
Sie würde ihrem Vater Zeit lassen.
Und wenn Alyssas Peiniger gefasst war, würde sie ihm das zurückgeben, was Delia ihm
genommen hatte.

Es tut mir Leid, mein Schatz.


Auf dem Weg zu Alyssas Cottage ließ Jack Brooke wieder los. Seine Hand fühlte sich
unangenehm leer an. Rasch steckte er sie in die Hosentasche.
Brooke tat ihm leid, weil sie die herzlose Zurückweisung durch ihren Vater hatte erleben
müssen.
In jenem Augenblick hätte er Walter erwürgen können, so wütend war er gewesen.
Deswegen auch seine so heftige Reaktion. Er wünschte, er hätte Walter schon früher einmal
deutlich die Meinung gesagt – und Alyssa aus dieser entwürdigenden Abhängigkeit befreit.
„Zwei sind abgehakt", sagte er und beschäftigte sich in Gedanken immer noch damit,
wieso er Brooke gegenüber solche Beschützergefühle entwickelte. Eigentlich sollte er doch
nur neutraler Beobachter sein.
Auch Brooke schob ihre freie Hand in die Hosentasche. „Was meinst du damit?"
„Ich habe unsere Verdächtigen zum Abendessen eingeladen."
Sie runzelte die Stirn. „Das finde ich für mich noch ein bisschen zu früh."
„Es hat wenig Sinn, das Unausweichliche hinauszuzögern."
Das Warten war das Allerschlimmste. Er wollte diese Farce so schnell wie möglich
beenden. Normalerweise war er ein recht geduldiger Mensch. Aber normalerweise arbeitete er
auch allein, bestimmte selbst, wo es langging. Er mochte es nicht, auf andere angewiesen sein,
um Erfolge zu erzielen. Das minderte seine Chancen. Nahm ihm die Kontrolle aus den
Händen. Überließ zu viel dem Zufall.
Aber er hatte Alyssa ein Versprechen gegeben, und er würde es halten. Genauso wie das
Versprechen Brooke gegenüber, sie zu beschützen.
Wieder warf er ihr einen Blick zu. Sie hatte sorgenvoll die Stirn gerunzelt. Ihre
bekümmerte Miene zog ihm das Herz zusammen.
„Du solltest wissen, dass ich nicht kochen kann", riss Brooke ihn aus seinen Gedanken.
„Ach, das macht nichts. Alyssa auch nicht. Comforts Pizzeria liefert frei Haus."
Brooke lächelte, dann lachte sie glockenhell, und ihm stockte der Atem. „Offenbar
ziemlich oft."
„Sie muss nicht einmal ihren Namen nennen. Sobald jemand Pizza mit Jalapenos bestellt,
wissen sie, wohin sie liefern sollen."
„Jalapeno-Pizza?" Wieder ließ sie dieses perlende Lachen hören. Jack wurde warm. „Sag
bloß, sie hält auch immer Ananasstückchen bereit, um die Schärfe zu mildern?"
Tat sie das etwa? „Bei Alyssa sind es Gurken. Magst du Jalapeno-Pizza?"
Er holte den Hauptschlüssel aus der Hosentasche.
„Sagen wir, sie gehört zu den Dingen, denen ich schwer widerstehen kann." Brooke setzte
ihren Fuß auf die Stufe, die er aus Gewohnheit mied. Krachend gab sie unter ihrem Fuß nach,
brach ein, und Brooke geriet ins Straucheln. Sie packte Halt suchend nach dem Geländer. Es
zersplitterte unter ihrer Hand, und sie griff ins Leere.
Jack ließ den Schlüssel fallen, hechtete vorwärts.
Sie stürzte. Außerhalb seiner Reichweite.
Genau wie Alyssa.
7. KAPITEL

Jack packte zu, bekam Brooke am T-Shirt zu fassen, und ihr Gewicht zog sie beide nach
unten. Trotzdem hielt er sie fest.
Sie umklammerte seinen Arm. In ihren Augen stand der gleiche Schrecken, wie er ihn in
Alyssas gesehen hatte, als sie am Devil's Grin abstürzte. Er durfte sie nicht fallen lassen.
Brookes T-Shirt begann zu reißen. Er fluchte. Sie rutschte auf die dornigen Zweige der
Rosenbüsche unter ihnen zu. Er verlagerte sein Gewicht und schlang einen Arm um ihren
Oberkörper. Ihre Fingernägel krallten sich in seine Haut.
„Ich habe dich."
Sie nickte, noch immer Furcht in den Augen. „Alles okay."
Wäre sie gefallen, hätten die Rosensträucher sie nicht aufgehalten. Die Dornen hätten ihre
Haut zerkratzt, sie wäre auf die steinerne Begrenzungsmauer gefallen und hätte sich verletzt.
Während er neben ihr gestanden hatte, für ihre Sic herheit verantwortlich war!
Jack warf einen Blick auf das zersplitterte Stück Geländer. Eigentlich nichts Unnormales.
Das Ergebnis jahrelanger Vernachlässigung.
Und doch – war es ein Unfall gewesen oder ein weiterer Anschlag? Es reichte nicht, sie
umzubringen, wohl aber, um ihr einen ordentlichen Schrecken einzujagen. Andererseits wäre
Alyssa ebenso wenig wie er auf die verrottete Stufe getreten. Wie oft hatte er ihr gesagt, sie
solle sie auswechseln. Er hätte es selbst machen sollen.
Für ihn war im Augenblick jeder und alles verdächtig. Selbst ein morsches Holzbrett.
Was hatte Alyssa getan? Wen hatte sie so sehr verletzt, dass er sich an ihr rächen wollte?
Warum hatte sie ihm in den letzten Monaten so viel vorenthalten?
Er schluckte seinen Ärger hinunter, den auf sich und auch den auf Alyssa, und half Brooke,
sich aus den dornigen Zweigen zu befreien.
Eins war sicher – um Brookes Sicherheit zu gewährleisten, musste er seine Wachsamkeit
erhöhen.

Brooke klammerte sich an seiner Schulter fest, während er sie aus den Fängen des
Rosenbusches befreite.
„Tut mir Leid um dein T-Shirt", sagte er, als er es endlich geschafft hatte und sie auf die
Veranda führte.
Ihr Sturz hatte keinen wirklichen Schaden angerichtet. Ein paar Schrammen an ihren
Beinen, ansonsten aber war sie unverletzt davongekommen.
„Schon gut. Mir ist nichts passiert. Wirklich."
Gerade als sie sich wünschte, er würde sie dichter an sich ziehen, ließ er sie los. Sie
wischte imaginäre Dornen von ihren Beinen und versuchte gleichzeitig, das Verlangen zu
vertreiben, sich an seine Brust zu lehnen und sich von dem starken Herzschlag beruhigen zu
lassen.
Jack besah sich die zerbrochene Stufe und schob die Splitter mit der Schuhspitze beiseite.
„Schon vor Monaten habe ich Alyssa gesagt, sie soll das reparieren lassen. Ich werde Tony
Bescheid geben, dass er es umgehend in Ordnung bringt."
„Tony?"
„Der Hausmeister, der sich um die Anlage kümmert."
Sobald sie die Schrammen versorgt und ein neues T-Shirt angezogen hatte, drängte er
darauf, wieder zu gehen. Er wollte, dass sie unter Leute kamen.
Brooke dagegen sehnte sich nur nach seiner Nähe. Schlimmer als das aber war für sie, dass
dieses unlogische Verlangen einfach nicht verschwinden wollte. Nahezu unwiderstehlich zog
es sie zu ihm hin.
Jack jedoch schien völlig unbeeindruckt zu sein, was sie betraf. Aber sie war ja auch nicht
Alyssa, sondern nur ein Ersatz – die Zwillingsschwester, die sich praktischerweise bereit
erklärt hatte, ihm zu helfen. Warum war sie so schrecklich niedergeschlagen, da ihr das doch
klar sein musste?
Sie brauchten den ganzen Nachmittag, bis Jack ihr die Anlage gezeigt hatte. Brooke lernte
Tony kennen und bat ihn, die Treppe und das Geländer zu reparieren. Jack stellte ihr eine
junge Frau vor, die Holly hieß und sich um die Freizeitangebote für die Gäste kümmerte.
Dann waren da noch April, die Buchhalterin, und Bryce, der die Boote in Schuss hielt. Sie
trafen ein paar von den Studentinnen, die die Ferienhäuschen reinigten und im Büro
aushalfen.
Als sie zu Alyssas Cottage zurückkehrten, schwirrte ihr von den vielen Namen und
Informationen der Kopf. Wie sollte sie das bloß alles behalten?
Jack bestellte Pizzas, dann half er ihr, einen Salat zuzubereiten.
Ihre Gäste kamen gleichzeitig mit dem Lieferanten. Jacks Beschreibungen erwiesen sich
als akkurat, und Brooke hatte keine Mühe, Alyssas Freunde einzuordnen.
Cullen nahm dem jungen Mann vom Lieferservice die beiden großen Kartons ab und sog
genießerisch den leckeren Duft ein, während Jack bezahlte.
„Also, mir gefällt es, wie du den Eingangsbereich neu gestaltet hast", spaßte Stephanie.
„Was ist passiert?"
„Ich habe die Sache wohl ein bisschen schleifen lassen." Brooke versuchte, einen lockeren
Ton anzuschlagen.
„Soll vorkommen."
„Sprichst du aus eigener Erfahrung?"
„Ach, sie ist heute wieder richtig in Form!" Stephanie drückte Brooke auf das Sofa und
steckte Kissen um sie herum fest, als stünde zu befürchten, das sie gleich umkippte.
„Du solltest Tony Treppe und Geländer sofort reparieren lassen, ehe sich jemand die
Knochen bricht und dich dann verklagt", meinte Tim, während er und Trish sich setzten.
Gemeinsam verteilten sie Teller, Besteck, Servietten, die Pizza und die Getränke und
begannen zu essen. Die Unterhaltung gestaltete sich zunächst ein wenig stockend, weil jeder
sich offensichtlich bemühte, das Thema von Alyssas wundersamer Genesung zu vermeiden.
Tim saß kauend in seinem Sessel und beobachtete Brooke aus halb zusammengekniffenen
Augen. Was sah er? Fielen ihm irgendwelche Unterschiede auf? Und wenn ja, würde er sie
für sich behalten? Sie nur seinen Freunden mitteilen?
Cullen hatte es sich in einem anderen Sessel bequem gemacht und beschrieb ausführlich
und mit viel Eigenlob gespickt, wie er heute eine überteuerte Villa am See geschickt an den
Mann gebracht hatte.
„Wo wir gerade vom Geschäft reden, Trish – wann wirst du endlich meine Webseite
aktualisieren?" wollte er dann wissen, während er sich noch ein Stück Pizza nahm. „Die
Informationen habe ich dir schon vor Wochen gegeben."
„Ich arbeite daran", erwiderte Trish knapp. „Ich kann mich schließlich nicht zerreißen."
Sie war aufgestanden und wanderte im Raum auf und ab, als wolle sie Brooke von allen
Seiten her in Augenschein nehmen. Kam ihr etwas komisch vor? Brooke widerstand nur mit
Mühe der Versuchung, an ihrem kurzen Haar herumzuzupfen.
„Wenn du so viel zu tun hast, solltest du jemanden einstellen", meinte Cullen
unbeeindruckt.
„Du kümmerst dich besser um deinen eigenen Laden. Vielleicht wäre es besser, du würdest
deine Nase weniger in anderer Leute Angelegenheiten stecken und dich stattdessen auf deine
konzentrieren. Dann hättest du sicher noch mehr Erfolg."
„Kinder, Kinder!" Stephanie schnalzte missbilligend mit der Zunge, als sie mit einem
neuen Glas Eistee aus der Küche kam.
„Dies ist doch eine Feier zu Alyssas Genesung. Müssen diese Sticheleien denn wirklich
sein?"
Alle murmelten zustimmend.
„Es gibt noch mehr zu feiern", meinte Trish. „Ich habe gehört, man darf gratulieren, Tim."
Tim wurde rot und wischte sich den Mund mit der Serviette ab. „Ja, das stimmt wohl.
Einer meiner Reporter hat eine begehrte Auszeichnung des Presseverbands von New
Hampshire erhalten."
Alle beglückwünschten ihn unter lautstarkem Gejohle.
„Na komm, Tim", drängte Trish. „Sei nicht so schüchtern. Erzähl ihnen, dass du dieses
Jahr für den Titel Bester Herausgeber vorgeschlagen worden bist."
Wieder gab es Lob und Gratulationen, dann wandte sich das Gespräch dem Adventure
Club zu.
Keiner der Anwesenden benahm sich im Mindesten verdächtig. Vielleicht hatte Jack sich
doch geirrt, und Alyssas Unfall war wirklich nur ein Unglück gewesen.
Zufällig fing Brooke Jacks bedeutungsvollen Blick auf. Er schaute betont auf ihre Hände
und schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie sah auf ihren Teller. Anscheinend aß Alyssa
Pizza nicht mit Messer und Gabel.
Unauffällig legte sie beides zurück und nahm das Pizzastück in die Hand – die rechte, wie
sie sich gerade noch erinnerte.
Jack nickte ihr anerkennend knapp zu, und eigentlich hätte sie sich darüber freuen sollen.
Stattdessen fühlte sie sich wie eine Marionette, an Fäden geführt, wie ihre Mutter es ständig
getan hatte. Ihr verging schlagartig der Appetit, sie legte die angebissene Pizza zurück und
schob den Teller von sich.
Sie konzentrierte sie sich wieder auf die Gruppe um sie herum. Konnte einer dieser
fröhlichen jungen Leute wirklich die Absicht haben, ihre Schwester umzubringen?
Stephanie spielte die Gastgeberin, füllte Teller und Gläser. Sie schob sich gerade eine
Gabel mit Salat in den Mund, als der Ring an Brookes Hand ihre Aufmerksamkeit erregte.
„Mein Gott, Alyssa!" Sie sprang auf, war mit zwei Schritten bei Brooke und zog sie von
der Couch hoch. „Seht euch diesen Stein an! Seit wann bist du verlobt?"
Alle schienen völlig überrascht.
„Verlobt? Mit wem?" rief Tim und richtete sich auf. Er rückte seine Brille zurecht, um den
Ring genauer betrachten zu können.
„Mit mir."
Cullen verschluckte sich fast an seiner Pizza. „Mit dir, Jack?"
„Ihr zwei habt euch verlobt?" Trish blickte fassungslos von einem zum anderen.
„Ich kann es nicht glauben!" Stephanie starrte immer noch auf Brookes Hand. „Wer hätte
das gedacht?"
„Dergleichen passiert." Jack stellte sich neben Brooke und legte ihr die Hand auf die
Schulter. Stand ihr bei. Sie war nicht allein.
„Doch nicht dir, Jack. Und nicht Alyssa." Cullen starrte sie. „Sie ist nicht dein Typ."
„Wie ist denn mein Typ?"
„Jetzt wird er richtig rot. Hör auf, Cullen, du machst Jack verlegen." Stephanie gab Cullen
einen Klaps auf den Arm. „Und Alyssa auch. Seht nur, sie ist rot wie eine Tomate."
„Also, spann uns nicht auf die Folter, Mann. Her mit den Einzelheiten", schaltete Tim sich
ein. Wahrscheinlich wollte er die Story gleich morgen früh in seiner Zeitung bringen, bevor
sich die Neuigkeit in der Stadt verbreitet hatte. „Wann ist es denn soweit mit der Hochzeit?"
Sobald Weihnachten und Ostern auf einen Tag fallen, hätte Brooke am liebsten gesagt,
musste sich aber etwas Besseres einfallen lassen.
„ Noch haben wir keinen Termin festgelegt", half Jack ihr aus der Klemme.
„Wir lassen uns Zeit." Bis einer von euch einen fatalen Fehler begeht, dachte sie dabei.
„Und wie seid ihr darauf gekommen?" Trish stellte ihren halb leeren Teller auf den
Couchtisch und musterte Brooke scharf.
Jack griff nach Brookes Hand und verschränkte seine Finger mit ihren, wie es Liebespaare
tun, und zog sie neben sich auf die Couch.
Er zuckte mit den Schultern. Noch immer waren seine Wangen ein wenig gerötet. Er
lächelte, beinahe verlegen. Meg hat Recht, dachte Brooke erstaunt, dieser Mann kann wirklich
schauspielern, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hat.
„Alyssa dem Tod so nahe zu sehen hat mir... meine Gefühle für sie deutlich gemacht."
„Gefühle? Das ist stark!" lästerte Cullen. Er stopfte sich den größeren Teil eines
Pizzastücks in den Mund.
„Warum darf er denn keine Gefühle haben?" verteidigte Stephanie Jack mit gerunzelter
Stirn. „Ich finde das wundervoll. Es ist doch unglaublich romantisch, die Liebe im Angesicht
des Todes zu finden." Sie wandte sich dem Paar mit einem Lächeln zu. „Herzlichen
Glückwunsch!"
Stephanies Gesicht zeigte eine Mischung aus aufrichtiger Freude und einem Hauch Neid.
Sie griff nach einem Stück Pizza, das vor geschmolzenem Käse triefte, und ließ sich wieder in
ihren Sessel sinken. Den Blick hielt sie auf Brookes Ringfinger geheftet.
Jack legte wieder den Arm um Brookes Schultern, und sofort fühlte sie sich beschützt. Sie
schmiegte sich an ihn, seufzte leise.
„ Ich ziehe hier ein, um während der Genesung für sie da zu sein." Jack strich ihr sanft mit
dem Daumen über die Wange. „ Ich möchte nicht, dass sie sich gleich wieder übernimmt."
Seine Stimme klang freundlich, sein Lächeln war warm, und doch klang es wie eine
Warnung. Warum wollte er den potenziellen Mörder wissen lassen, dass er nicht ohne
weiteres an sie herankommen würde? Gehörte es nicht zu ihrem Plan, dass der Täter sie für
leichte Beute hielt? Sie hätten sich eingehender darüber unterhalten sollen, bevor sie alles in
Gang gesetzt hatten. Im Improvisieren war sie nicht gut.
„Ach, das ist so lieb von dir." Stephanie lächelte verträumt. „Sie neigt dazu, sich zu
verausgaben."
Trish ließ sich in ihren Sessel fallen und schlug ein Bein über das andere. „Also, ich kann
es immer noch nicht glauben..."
Die vielen Bemerkungen begannen Brooke auf die Nerven zu gehen. Warum konnten sie
sich nicht einfach für Alyssa freuen? „Wieso ist es so schwer zu begreifen, dass Jack mich
heiraten will?"
Cullen warf seine Beine über die Sessellehne und schnaubte. „Du machst Spaß, stimmt's?"
„Nein. Sag du es mir." Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wippte ärgerlich mit
dem Fuß.
„Nun, zum einen, weil du nicht gerade viel Glück gehabt hast, was Männer betrifft. Dies
wäre ... Verlobung Nummer sechs, oder? Ich habe schon überlegt, die Leute vom
Guinnessbuch der Rekorde anzurufen und mich zu erkundigen, ob sie eine Kategorie: Die
Braut, die sich nicht traut haben."
„Menschen ändern sich." Alyssa war sechs Mal verlobt gewesen? Diese Information holte
sie für Sekunden aus der Deckung. Trish, Tim und Stephanie hatten ihr Erstaunen bemerkt.
Was war mit Cullen? Sie meinte, kurz Besorgnis in Jacks Augen aufblitzen zu sehen,
ignorierte es aber.
„Zweitens", zählte Trish an den Fingern ab. „Du und Jack, ihr wart mehr wie Hund und
Katze als wie zwei Turteltauben."
Hund und Katze? Was für eine Beziehung hatten Alyssa und Jack denn nun eigentlich?
Und Trish schien die Bissigkeit zwischen ihnen ein wenig zu sehr zu genießen. Vielleicht
sollte sie sie noch ein bisschen ermuntern?
„Etwas Pfeffer tut einer Beziehung nur gut." Brooke neigte den Kopf zur Seite und lächelte
Jack kokett an. Sie freute sich insgeheim, dass er so unbehaglich dreinblickte. „Nicht wahr,
Honey?"
„Ich habe es immer gern scharf gemocht."
„Ja, beim Essen", neckte ihn Cullen. „Aber nicht bei deinen Frauen."
„Cullen...", warnte Stephanie.
Cullen hob beide Hände. „Wieso, was habe ich denn gesagt?"
„Schärfe ist eine Sache, aber eine Ehe etwas ganz anderes", mischte Trish sich wieder ein.
Stephanie lehnte sich zu Jack hinüber. „Ist alles in Ordnung mit ihr? Du hattest von einem
Problem mit der... Erinnerung gesprochen."
„Warum fragst du sie nicht selbst?"
Stephanie wurde rot. Sie senkte den Blick und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
„Geht es dir nun wieder gut?" fragte sie Brooke.
„Bestens, danke." Brooke zuckte mit den Schultern. „Nur ein bisschen..."
„Durcheinander. Wegen des Schädeltraumas", half Jack ihr und wartete auf die Reaktionen
der anderen. Stephanie schien richtiggehend entsetzt. Tim lauerte auf weitere Details. Trish
wirkte nicht überzeugt. Und Cullen machte den Eindruck, als würde er jetzt gern über etwas
anderes sprechen. Sie sahen alle ein wenig betreten aus. Aber das machte sie doch nicht zu
Schuldigen, oder?
„So etwas ist normal", fuhr Jack fort, ohne mit der Wimper zu zucken. „Der Arzt meint,
wahrscheinlich wird sie irgendwann das Gedächtnis wiederhaben. Aber es kann gut sein, dass
sie sich an den Unfall selbst nie erinnern wird."
Der Köder war ausgelegt. Wer würde anbeißen?
„Du weißt nichts mehr von dem Unfall?" rief Stephanie entsetzt.
„Überhaupt nichts?" Trish runzelte die Stirn.
„Du erinnerst dich nicht, wie du zum Devil's Grin gepaddelt bist, nicht an das Picknick,
das Klettern?" Stephanie rang die Hände im Schoß.
Brooke schüttelte den Kopf. „Tut mir Leid."
„Also, stellt euch das vor! Alyssa ohne Erinnerung." Tim lehnte sich in seinem Sessel
zurück. „Kannst du trotzdem ab und an ein Foto für mich machen?"
„Ich sehe keinen Grund, warum nicht." Brooke blickte Jack an, ob er einverstanden war.
Aber seine ausdruckslosen Augen waren ihr keine Hilfe.
„Du erinnerst dich noch daran, wie du mit der Kamera umgehen musst?"
„Natürlich", erwiderte sie und hoffte, er würde sie jetzt nicht nach Belichtungszeit und
Blende fragen.
Tim beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Knien ab. „Trotz der Amnesie?"
„Solche Dinge sind unberührt davon", lenkte Jack Tims Aufmerksamkeit auf sich.
„Ereignisse, Gefühle sind beeinträchtigt, sonst nichts. Deswegen muss sie auch nicht lernen
zu gehen oder zu sprechen."
„Das bedeutet, sie kann wieder klettern und die Anlage hier leiten und jeden in den
Wahnsinn treiben", feixte Cullen.
„Richtig."
„Dann hat sich überhaupt nichts geändert. Sie ist die vergesslichste Frau, die ich kenne."
„Und an was erinnerst du dich als Letztes?" wollte Tim in nonchalantem Ton wissen, aber
Brooke spürte tieferes Interesse.
„Es waren nur Fetzen", erwiderte Brooke. „Nichts wirklich Deutliches, bis ich dann dieses
Haus wieder sah."
Beunruhigung zuckte über Jacks Gesicht. Er richtete sich auf und sein Griff wurde fester.
Ihre Nägel gruben sich in seine Haut.
Trish schüttelte den Kopf. „Unglaublich."
„Dann erinnerst du dich also an uns?" Stephanie machte ein Gesicht wie ein Welpe.
„Natürlich." Brooke griff nach Stephanies Hand und drückte sie. „Mir fehlen nur viele
Details. Aber meine beste Freundin würde ich doch nicht völlig vergessen können, oder?"
Stephanie lächelte schwach. „Wohl nicht. Aber wenn dein Gedächtnis so gelitten hat,
wieso willst du dann heiraten?"
Tim lachte. „Na, das ist wirklich eine seltsame Frage von einer Frau, die einen Mann sogar
dafür bezahlen würde, mit ihr zum Altar zu schreiten!"
„Halt die Klappe!"
„Weil ..." Brooke blickte anbetungsvoll Jack. Zumindest hoffte sie, dass es so aussah.
„Weil man gegen seine Gefühle nichts ausrichten kann, und was mir als reine Freundschaft
erschien, ist jetzt viel mehr."
Jack strich ihr mit dem Daumen über den Handrücken. Sie wusste nicht, sollte es eine
Warnung sein, oder war er nervös? Sie merkte nur, dass ihr schon bei dieser sparsamen
Liebkosung heiß wurde.
„Nun, zumindest lässt du dir Zeit, deine Sinne wieder zusammenzusuchen, und heiratest
nicht überstürzt", sagte Trish.
„Genau." Brooke schmiegte sich dichter an Jack. Ihr Kopf passte perfekt an seine Schulter.
Ihre Hand wanderte zu seinem Schenkel. „Wir lassen alles schön langsam angehen."
Jack legte seine Hand über ihre und zerquetschte ihr fast die Finger. Sie bemerkte, dass
ihre Berührung eine Reaktion bei ihm hervorgerufen hatte und wurde rot. Ändere das Thema,
befahl sie sich. Sofort.
„In den letzten Tagen hatten wir einiges an Aufregung", entschloss sie sich, gleich zur
Sache zu kommen. „Auf dem Weg vom Krankenhaus nach Hause hat jemand versucht, uns
von der Straße abzudrängen."
Jack verschluckte sich an seinem Eistee. Brooke klopfte ihm kräftig auf den Rücken.
„Ich habe das Gespräch zufällig auf meinem Funkgerät reinbekommen", meinte Tim, und
seine Augen schimmerten interessiert. „Da ich auf dem Heimweg war, beschloss ich,
umzudrehen und mich selbst um die Story zu kümmern. Aber als ich die Reservoir Road
erreichte, war nichts zu sehen."
„Das waren wir. Es war wirklich aufregend, kann ich euch sagen. Jack fuhr wie der
Teufel!"
„Du nennst das aufregend? Schließlich hättest du sterben können!" Trish schüttelte den
Kopf. „Was genau ist passiert?"
Brooke beugte sich vor, breitete theatralisch die Hände aus und legte Enthusiasmus in ihre
Stimme. „Ein Pick-up rammte uns zuerst von hinten, dann versuc hte er es von der Seite her."
„Wie entsetzlich!" rief Stephanie.
Cullen setzte seine Bierflasche an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck. „Dein
Wagen sah danach bestimmt gut aus, oder, Jack?"
„Ich bin nur froh, dass meine Versicherung den Schaden abdeckt."
„Und was ist mit dem anderen Auto?" fragte Tim. „Wer hat hinter dem Steuer gesessen?"
„Er konnte leider entkommen", erwiderte Jack. Ein Muskel zuckte an seinem Kinn.
Brooke schmiegte sich wieder an ihn, spielte perfekt die Rolle der anbetenden Verlobten.
„Wir befanden uns aber nie in wirklicher Gefahr. Jack ist ein toller Fahrer. Ich nehme an, der
andere hatte beim Fußballspiel ein paar Bier zu viel getrunken, nicht wahr, Liebling?"
Jack schoss ihr einen warnenden Blick zu. Sie trieb ihr Spiel langsam zu weit. Und zu ihrer
Überraschung merkte sie, dass es ihr Spaß machte – wie Alyssa.
„Oder seine Mannschaft hat eine ordentliche Packung bekommen." Cullen lachte leise und
zog Stephanie auf seinen Schoß, als sie gerade mit einem leeren Glas vorbeiging. „Ich habe
gesehen, wie rauh es bei diesen Spielen zugehen kann. Und Straßenrennen sind heutzutage ja
bei manchen Leuten zum Lieblingssport avanciert."
„Zu denen du wohl auch gehörst, oder?" spöttelte Tim. „Soweit ich weiß, fehlt dir nur noch
ein Punkt, dann musst du den Lappen abgeben."
Cullen zuckte nur mit den Schultern. „Es gibt eine Menge Typen, denen man das
Autofahren verbieten sollte. Ich hasse diese Sonntagsfahrer, die mit fünfundfünfzig über den
Asphalt schleichen, wenn achtzig erlaubt ist."
„Wir sind heil davongekommen, und nur das zählt wirklich", bemerkte Jack, sichtlich
bemüht, die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Ich finde, wir sollten langsam
die Sitzung aufheben, nicht wahr, Schatz?"
„Schatz? Was soll das denn?" beschwerte sich Cullen.
„Es ist ein Kosename, du Idiot!" sagte Stephanie und starrte ihn vorwurfsvoll an.
„Verliebte machen so etwas. Aber du hast natürlich nicht die blasseste Ahnung!"
„Jack hat Recht." Trish erhob sich und stellte ihren Teller auf den Couchtisch. „Alyssa ist
immer noch auf dem Weg der Genesung, wir sollten ihr ein wenig Ruhe gönnen."
Stephanie rutschte von Cullens Schoß und griff nach ihrem Teller. „Soll ich den Abwasch
machen?"
Brooke schüttelte den Kopf, stand auf und nahm Stephanie den Teller ab. „Ich kümmere
mich darum."
Sie bemerkte, dass Jack sie beobachtete. Unter seinem intensiven Blick lief es ihr heiß über
den Rücken.
„Dann trage ich die Sachen aber wenigstens mit in die Küche." Stephanie griff sich die
beiden Pizzakartons und folgte Brooke.
Brooke, plötzlich voll neuer Zuversicht, schritt auf einmal viel freier aus. Langsam gefiel
es ihr, in Alyssas Haut zu stecken.

Als Brooke den Raum verließ, strich Jack unwillkürlich mit der Handfläche über seine Hose.
Ihre Hand passte so natürlich in seine, als wäre sie ein Teil von ihr. Und er hatte Mühe gehabt,
sich auf seine Gedanken zu konzentrieren. Auf einmal überkam ihn das dringende Verlangen
nach Bewegung. Er musste diese Leute loswerden, damit er sich im Wald auslaufen konnte.
Trish zog einen Lippenstift aus ihrer Handtasche. Cullen war im Bad. Tim sammelte die
leeren Bierflaschen ein und stellte sie auf den Tisch.
War jemandem von ihnen aufgefallen, dass er Gefühle zeigte? Wenn seine Freunde ihm
abnahmen, dass er in Alyssa verliebt war, konnten sie die Farce weiterspielen. Wenn nicht,
würde es den Täter misstrauisch machen, und all ihre Bemühungen wären umsonst.
Andererseits – Gefühle waren gefährlich. Besonders solche Gefühle. Besonders jetzt. Sie
lenkten ab. Sie machten schwach und verletzlich.
Und man verriet sich leicht. In Brookes Gesicht konnte er lesen wie in einem
aufgeschlagenen Buch. Ihre amateurhaften Versuche hatten bislang nur geschadet, die
Situation schwieriger gemacht.
Gerade als er sich erhob, wurde an die Tür geklopft. Froh über die Ablenkung, ging Jack
hin und öffnete.
„Sind Sie der Manager?" Ein großer, glatzköpfiger Muskelprotz stand vor ihm. Sein
Oberkörper war nackt unter seiner schwarzen Lederweste, und auf der breiten Brust prangte
ein eintätowierter Adler mit ausgebreiteten Schwingen. Über der Jeans trug er Lederchaps,
und die Hosenbeine hatte er in halb hohe, fransenbesetzte Cowboystiefel gestopft. Er wirkte
ziemlich sauer.
Jack versperrte ihm den Zugang. „Nein. Die Managerin ist im Moment nicht zu sprechen."
Der Mann packte Jack am Hemd. „Ich will sie sprechen. Und zwar dalli!"
Jack umklammerte sein Handgelenk mit eisernem Griff, bis der Mann ihn wieder losließ.
„Was ist los? Ich werde mich darum kümmern."
„Gibt es ein Problem?" Tim tauchte neben ihm auf.
„Nein, dieser Gentleman wollte mir nur gerade erzählen, wie ich ihm helfen kann."
„Jemand ist in meine Hütte eingebrochen!" knurrte der Mann.
„Welche, Mr. ...?" fragte Jack ruhig.
„Herbie Johnson. Nummer sechzehn."
„Fehlt etwas?"
Der Mann starrte ihn mit gerötetem Gesicht an. „Ja, es fehlt tatsächlich etwas, und ich
schwöre, wenn Cuddles irgendetwas zustößt, kann sich der Besitzer dieser Anlage auf eine
saftige Schadensersatzklage gefasst machen!"
„Beruhigen Sie sich, Mr. Johnson."
„Dr. Johnson."
„Sie haben Glück, Dr. Johnson", verkündete Tim und schlug Jack kameradschaftlich auf
die Schulter. „Zufällig ist der Mann hier der fähigste Polizeibeamte dieser netten kleinen
Stadt."
Der Hüne ignorierte Tim und starrte Jack weiter wütend an. „Der Käfig stand offen. Das
hat jemand absichtlich getan. Und ich weiß, ich hatte die Haustür abgeschlossen. Jetzt kann
ich Cuddles nirgendwo finden."
„Gut, ich werde Ihnen bei der Suche helfen." Sehr wahrscheinlich ging es um einen Hund.
Zumindest schätzte er den guten Doktor so ein. Ein Boxer, vielleicht auch ein Pitbull. Die
Sonne würde wohl noch eine halbe Stunde Licht spenden. Zeit genug, den Köter zu finden,
bevor die Kojoten ihn sich schmecken ließen.
Ein schriller Schrei erklang aus der Küche. Dann krachte ein Stuhl auf den Boden.
„Oh Gott, oh Gott!" Stephanie kam zur Haustür gerast, stieß Jack und Dr. Johnson grob
beiseite und rannte nach draußen.
Jack wirbelte herum, um Brooke zu Hilfe zu eilen.
„Dr. Johnson?" ertönte da Brookes ruhige Stimme aus der Küche.
„Ja?"
„Was für ein Haustier ist Cuddles?"
„Eine knapp zwei Meter lange Boa constrictor. Fast noch ein Baby."
Bevor Jack die Küche erreichte, erschien Brooke auf der Bildfläche. Eine braune Schlange
mit unregelmäßigen dunklen Flecken lag um ihre Schultern drapiert. Brooke sah aus wie eine
heidnische Göttin. Und bei dem Bild, das sie bot, vergaß Jack fast, dass Alyssa Schlangen
fürchtete wie der Teufel das Weihwasser – seit ihrer Begegnung mit einer Klapperschlange
auf einer Wanderung, die sie alle zusammen in Connecticut gemacht hatten.
„Ich glaube, wir haben sie gefunden", meinte Brooke.
Trish stieß einen spitzen Schrei aus und verschanzte sich hinter Tim. Auch Tim hätte die
Schlange wohl lieber woanders gesehen. Niemandem fiel offenbar auf, dass ihre Freundin
Alyssa sich völlig untypisch verhielt.
Mit Dr. Johnson ging eine atemberaubende Veränderung vor. Vor ihren Augen
verwandelte sich der aggressive Muskelprotz in einem sanften Bernhardiner mit seelenvollem
Blick. „Cuddles, mein Liebling, komm zu Daddy", gurrte er.
Ganz vorsichtig und behutsam erleichterte er Brooke von ihrer schuppigen Last und wand
sich die Schlange um die eigenen Schultern. Cuddles bekam sogar einen zärtlichen Kuss.
„Wie ist sie hier hereingekommen?"
„Keine Ahnung", erwiderte Brooke. „Sie lag im Schrank unter der Spüle. Morgen früh
werden wir das Schloss Ihrer Hütte auswechseln, und selbstverständlich berechnen wir Ihnen
diesen Tag nicht. Ich verspreche Ihnen, so etwas wird nicht wieder vorkommen."
„Danke."
Der Schlüssel. Irgendjemand hatte sich ein Duplikat von Alyssas Hauptschlüssel
angefertigt. Deswegen hatte er ihn nicht wie normalerweise an der Kette an der Tür gefunden,
sondern in der Küche, halb verborgen hinter der Kaffeemaschine auf dem Arbeitstresen. Und
nicht Brooke hatte vergessen, die Haustür abzuschließen.
Dr. Johnson verließ sie glücklich, flüsterte dabei beruhigend auf Cuddles ein. Als Jack die
Tür schloss, starrten ihn die Augen des Reptils kalt an. Der Anblick seiner gespaltenen Zunge
und der langen, gebogenen Zähne jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
Gefahr. Er spürte förmlich, wie sie sie einschloss, sich enger um sie zog, wie die tödliche
Umarmung einer Boa.
Sein Waldlauf musste warten. Er konnte Brooke nicht allein lassen. Nicht jetzt. Nicht,
wenn der Hauch des Todes über die Türschwelle waberte.
8. KAPITEL

Jack schloss langsam die Tür hinter den letzten Gästen. Brooke räumte die Reste des
Abendessens ab. Sie versuchte, die Gereiztheit zu ignorieren, die sie an ihm wahrnahm.
„Alyssa hat Angst vor Schlangen", bemerkte er düster.
Brooke fuhr auf. „Woher sollte ich das denn wissen?"
„Wieso musstest du dir dieses Reptil unbedingt um den Nacken wickeln?"
Sie warf die Servietten in die leere Salatschüssel. Was war nur los mit ihm? Warum war er
so wütend? Doch bestimmt nicht nur wegen der Boa?
„Als ich meine Klasse übernahm, hatten die Kinder ein Terrarium mit einer Boa
constrictor. Sie lieben die Schlange, und ich musste lernen, keine Angst zu zeigen. Das
Schlimmste ist die Fütterung. Ich hole mir verendete Mäuse aus der Tierhandlung und schiebe
sie dann hin und her, damit Phoebe denkt, sie leben noch." Ein Schauer überlief sie, wie jedes
Mal, wenn sie die Boa fütterte.
„In Zukunft überlass die Ermittlungen bitte mir."
Sie wirbelte herum und starrte ihn an. „Ich bin Teil der ganzen Angelegenheit, ob es dir
passt oder nicht."
„Du bist keine ausgebildete Kriminalistin."
„Wie viele Mordfälle hast du denn schon untersucht und gelöst?" schoss sie zurück.
„Keinen, aber ich bin ein Fährtenleser und habe meine Zielobjekte noch immer
aufgespürt."
„Du jagst?"
Natürlich jagte er – Menschen, Tiere, Hinweise, egal was. Es war seine Natur. Sein
scharfer Blick, seine ganze Haltung verrieten es.
Er lachte trocken. „Nach Vermissten unter anderem. Suche und Rettung." Er seufzte
verzweifelt. Hatte er es nicht gewusst? Diese Frau bedeutete Ärger. „Details zu überprüfen ist
mühselig, aber unverzichtbar – bei jeder Untersuchung. Man braucht Geduld. Wenn man
unbesonnen vorgeht, läuft man Gefahr, wichtige Hinweise zu übersehen, und das könnte zum
Beispiel einen verirrten Wanderer das Leben kosten."
„Ich bin durchaus ein geduldiger Mensch, aber wir können doch nicht einfach herumsitzen
und darauf warten, dass etwas passiert! Ich bin hier, damit wir die Dinge in Gang bringen,
oder?" Für einen intelligenten Mann ist er manchmal ziemlich beschränkt, fand sie. Sie setzte
die Salatschüssel heftig auf dem Tisch ab und bückte sich nach einem leeren Glas.
„Wenn wir unbesonnen werden, vermasseln wir die Sache. Halt dich an das, was ich dir
sage, Brooke. Ich weiß, was das Beste für dich ist."
„Das weißt du nicht! Das kannst du gar nicht wissen. Du kennst mich ja überhaupt nicht."
Sie hatte sich zu ihrer vollen Größe aufgerichtet. „Alyssa würde dir ein solches
Neandertalerverhalten nicht durchgehen lassen."
„Du bist nicht Alyssa."
„Nein, das bin ich nicht. Aber ich bin auch keine Marionette! Du kannst nicht nach Lust
und Laune an den Fäden ziehen und mich dann in die Ecke werfen. So lasse ich nicht mit mir
umspringen!"
„Brooke..."
Hoch erhobenen Hauptes, die Schultern gestrafft, drückte sie ihm das schmutzige Glas in
die Hand. Ihm blieb nichts anderes übrig, als es zu nehmen. „Gute Nacht, Jack. Für heute bin
ich genug bevormundet worden."
Damit marschierte sie aus dem Zimmer. Jack stand da und starrte ihr hinterher.
Als sie jedoch wenige Minuten später unter der Dusche stand, konnte sie die Tränen nicht
mehr zurückhalten. Sie schloss die Augen und versuchte, nur das herabprasselnde Wasser auf
ihrer Haut zu spüren. Aber der schreckliche Schmerz in ihrem Herzen ließ sich nicht
ignorieren.
Welch ein interessanter Abend!
Alyssa litt also unter Gedächtnisverlust. Wie wundervoll! Und wie lange würde er wohl
anhalten? Offenbar hatte sie sogar ihre Schlangenphobie vergessen.
Das hatte den Spaß an der Willkommensüberraschung richtig verdorben.
Vom Bootshaus aus konnte man ungehindert zum Cottage hinübersehen.
Wieso schliefen die beiden in getrennten Schlafzimmern? Das passte gar nicht zu dem
verliebten Turteln vorhin. Hatte Alyssa vergessen, wie sie einen Mann so weit reizen konnte,
bis er fast den Verstand verlor? Bis er nur noch ihr Sirenenlächeln sah und sie ihm gerade
genug von ihrer schwarzen Seele offenbarte, dass sie ihn in die Hölle riss?
Das kaufe ich dir nicht ab, Prinzessin. Nicht einen Moment lang. Kein Mensch veränderte
sich so schnell, nicht so vollständig. Nein. Du führst etwas im Schilde.
Mein Erinnerungsvermögen ist nicht getrübt. Ich vergesse nicht so leicht.
Im Cottage wurde erst ein Licht gelöscht, dann das andere.
Da Jack sie beschützte, würde es schwerer werden, Alyssa ihre Lektionen zu ve rpassen.
Vielleicht war es Zeit, dass auch Jack etwas lernte.

Ein langer, anstrengender Tag lag hinter ihr. Eigentlich hatte Brooke erwartet, sie würde vor
Erschöpfung in einen tiefen Schlaf sinken. Sie irrte sich. Die Umgebung war fremd, und ihre
Gedanken hörten nicht auf, sich im Kreis zu drehen, die meisten davon betrafen Jack.
Silbriges Mondlicht fiel durch die dünnen Vorhänge vor dem offenen Fenster und
verwischte die Schatten. Es war viel zu hell, um zu schlafen.
Sie war die Geräusche der Großstadt gewohnt, Autos, Flugzeuge, die sie in den Schlaf
wiegten. Hier jedoch lieferten sich Grillen mit ihrem schrillen Gezirpe einen misstönenden
Wettstreit mit dem Quaken der Baumfrösche und dem Heulen entfernter Kojoten. Selbst das
Plätschern der Wellen am Seeufer zerrte an ihren Nerven.
Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte drei Uhr. Seufzend schlug sie die Bettdecke zurück
und stand auf. Wenn sie schon wach war, würde sie die Zeit nutzen und sich Alyssas
persönliche Dinge näher ansehen. Vielleicht fand sich ein Hinweis auf denjenigen, der
versucht hatte, sie umzubringen. Natürlich würde sie ihre Suche fortsetzen. Nur weil Jack
sauer war, gab sie nicht einfach auf.
Ohne Licht zu machen, ging sie hinüber ins Wohnzimmer. Ihr Blick fiel auf das
Zweisitzersofa, auf dem sie mit Jack gesessen hatte, und sie glaubte seine sanften
Berührungen wieder zu spüren.
Brooke schlang die Arme um sich und stellte sich ans Fenster. Wie geschmolzenes Silber
lag der See da. Der Wind strich ums Haus, und sie musste an die erste und einzige Nacht
denken, die sie damals auf diesem Gelände verbracht hatte. Anders als heute hatte kein Mond
am Himmel gestanden. In ihrem Zimmer war es stockfinster gewesen. Das Heulen des
Windes hatte sich gespenstisch angehört. Voller Furcht war sie zu ihrer Schwester ins Bett
geschlüpft.
„Angsthase", hatte Alyssa gekichert, aber Brooke hatte sich an sie geschmiegt, und so
waren sie in enger Umarmung eingeschlafen.
Der Wind fuhr wieder gegen das Haus, und über ihr knarrte ein Balken. Brookes Blick
wanderte hoch zur Decke.
Eine andere Erinnerung tauchte auf. Sie und Alyssa hockten auf dem dunklen, muffigen
Dachboden, lugten durch ein schmutziges Fenster hinunter zu ihren streitenden Eltern am See.
Sie hatte angefangen zu weinen. Alyssa hatte sie beruhigt.
Brooke wandte sich vom Fenster ab, tappte in die Küche und blickte zu der Klappe in der
Decke. Sie ergriff die herabhängende Schnur und zog daran. Leise knarrend glitt die Treppe
herunter. Nach einigem Suchen fand sie eine Taschenlampe. Derart ausgerüstet kletterte sie
die schmalen Stufen hinauf.
Eigentlich erwartete sie, Spinnenweben, Staub und alte Kartons vorzufinden, doch
stattdessen entdeckte sie einen gemütlichen Unterschlupf. Ein samtbezogener Sessel mit einer
roten Fleecedecke darüber. Ein ovaler Flickenteppich auf den rauen Dielen. Zwei Obstkisten
dienten als Tisch, auf dem eine bauchige kleine Lampe stand. Brooke schaltete sie ein.
Sanftes gelbes Licht breitete sich aus. Sie knipste die Taschenlampe aus, setzte sich in den
Sessel und machte es sich bequem.
Hübsches Plätzchen hast du hier, Schwesterherz.
Halb hohe Regale bedeckten die eine Wand. Am Boden lag zusätzlich ein Stapel Bücher.
Hier hatte Alyssa ihren Wissensdurst gestillt. Hatte sie ihn vor ihrem Vater geheimhalten
müssen? Brooke stand auf, kniete sich vor die Borde und las die Titel. Von Krimis über
Fotobände, Werken über Mythologie bis hin zu Kompendien war alles vertreten.
Eine Reihe schmaler Lederrücken zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie sahen aus wie
Tagebücher. Brooke zählte zwölf Stück. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und
nahm den ersten Band zu Hand. Doch dann zögerte sie. Würde sie darin finden, was sie
suchte? Was hatte Alyssa diesen Seiten anvertraut? Ihren Alltag? Einzelheiten über ihre
Fotografie? Seelengeheimnisse?
„Hi..." Beim Klang der rauen Stimme blickte sie auf. Jack hatte den Kopf durch die
Öffnung gesteckt. „Was machst du denn hier?"
„Ich schaue mich ein wenig um."
Er kletterte herein. Außer der Jeans hatte er nichts an. Brooke schluckte unwillkürlich. Es
juckte sie in den Fingern, die breite, muskulöse Brust, den Waschbrettbauch zu berühren, zu
liebkosen. Zu gern hätte sie ihm die Locke aus der Stirn gestrichen. Ihre Wange an seine
geschmiegt. Aber sie tat nichts dergleichen. Er sollte nicht wissen, dass er den Ärger, den sie
seinetwegen verspürte, mit einem einzigen schiefen Lächeln vertreiben konnte.
Er machte es sich neben ihr am Boden bequem. Verlangen und Furcht zugleich ergriffen
sie. Sie presste das Tagebuch gegen die Brust.
„Du solltest im Bett liegen", sagte sie.
„Du auch."
„Ich konnte nicht schlafen."
„Ich dachte, ich hätte Ratten auf dem Dachboden gehört." Er schaute sich in dem kleinen
Raum um. „Wie bist du darauf gekommen? Ich wusste gar nicht, dass es ihn gibt."
„Ich erinnerte mich an unseren ersten Tag hier auf dem Gelände, daran, wie Alyssa und ich
damals auf dem Dachboden des alten Hauses waren."
Er zog die Knie an und lehnte sich gegen das Bücherbord. Sie saßen nur noch wenige
Zentimeter voneinander entfernt. Sie musste gegen das Bedürfnis ankämpfen, ihren Kopf an
Jacks Schulter zu lehnen und den pochenden Puls an seinem Hals zu küssen.
„Es tut mir Leid", sagte er.
Sie wollte seine Entschuldigung nicht. Sie wollte weiter sauer auf ihn sein können. Dann
würde sie besser mit seiner überwältigenden männlichen Ausstrahlung zurechtkommen. Wie
konnte man jemanden küssen, auf den man wütend war?
„Was?"
„Dass ich so herrisch war. Es ist eine schlechte Angewohnheit von mir."
„Ja, stimmt, da könntest du was dran ändern."
„Was hast du da?" Er deutete auf das Tagebuch.
„Persönliche Aufzeichnungen von Alyssa. Vielleicht finden wir ein paar Antworten auf
unsere Fragen." Sie warf ihm einen Blick zu. „Ich werde nicht aufhören zu suchen."
„Das habe ich mir schon gedacht."
Brooke zögerte kurz, dann schlug sie die erste Seite auf. Die Jahreszahl hatte Alyssa
ornamental in Farbe gestaltet. Die zweite Seite enthielt, zusammen mit Bildern von
Luftballons, Champagnerflöten und Konfetti, acht Neujahrsvorsätze.

1. Cullen von seinen krummen Touren abbringen.


2. Negative v on Tim vernichten.
3. Mit Gary über Trish reden.
4. Einen netten Mann für Stephanie finden.
5. Jack freigeben.
6. Einen Manager für die Ferienanlage finden.
7. Nach Boston ziehen.
8. Fotostudio eröffnen.

„Dich freigeben? Wie meint sie das?" fragte Brooke neugierig. Hatte sie die Beziehung falsch
eingeschätzt? Wenn sie an die überraschten Reaktionen von Alyssas Freunden dachte...
Schluss mit solchen Gedanken, Brooke! ermahnte sie sich sofort streng. Er ist nichts für dich,
unter welchen Umständen auch immer.
„Alyssa grübelt viel. Manchmal ist sie förmlich abhängig von mir, dann wieder erklärt sie,
sie wäre eine Last für mich, und versucht, mich wegzuschicken."
Ein Verzicht aus Liebe? Oder etwas Tiefergehendes? „Hatte sie Depressionen?"
„Durchaus möglich, aber sie wollte sich nicht in Behandlung begeben."
Liebst du sie, Jack? Liebt sie dich? Wart ihr Geliebte? Brooke schüttelte die Gedanken ab
und konzentrierte sich auf die geschriebenen Worte vor sich. „Es sieht so aus, als versuche
sie, ein paar dränge nde Probleme zu lösen. Wusstest du, dass sie ein Studio eröffnen wollte?"
„Sie erwähnte es einmal, aber bei ihr wusste man nie, ob sie es ernst meinte oder einfach
nur daherredete."
„Wer ist Gary?"
„Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht Gary Dunning, ein ehemaliger Schulkamerad. Aber er
ist schon vor langer Zeit aus Comfort weggezogen."
„Was macht er beruflich?"
„Er hat eine Firma für Hardware- und Software-Support. Ich habe ihn selbst einmal in
Anspruch genommen, als mein Computer verrückt spielte."
„Du hattest Trishs geschäftliche Probleme erwähnt..."
„Es gab ein paar Beschwerden über sie, keine wirklichen Probleme."
Brooke zuckte mit den Schultern und berührte dabei unabsichtlich seine. „Vielleicht wollte
Alyssa ihr in dieser Angelegenheit helfen. Als ihre Freundin. Worüber haben sich ihre
Kunden denn beschwert?"
„Trish hielt ihre Terminzusagen für das Aktualisieren der Webseiten nicht ein. Aber das
war gleich nach dem Tod ihres Bruders. Inzwischen hat sie die meisten Aufträge
abgearbeitet."
„Cullens ausgenommen." Ihr Blick wanderte zu Jacks Füßen. Sie besaßen einen hohen
Spann, waren schlank, die Zehen klassisch geformt. Rasch rief sie sich zur Ordnung. „Diesen
Gary sollten wir überprüfen. Hast du etwas zu schreiben bei dir?"
Er klopfte auf eine imaginäre Brusttasche. „Nein, leider nicht. Ich bin natürlich nicht davon
ausgegangen, dass die Ratten sich eine Liste machen wollten."
Um endlich etwas dringend notwendigen Abstand zu schaffen, drehte sie sich um und fand
tatsächlich einen Kugelschreiber neben den Kisten. „Es sieht aus, als würde Alyssa nicht
sonderlich gut mit Cullen auskommen."
„ Es ist wohl eine Art Hassliebe. Sie flirtet mit ihm, würde aber niemals mit ihm ausgehen.
Und er kann es nicht ausstehen, wenn sie mit ihren zahlreichen Verlobungen angibt."
„Aber ... macht es dir denn nichts aus?" Brooke wurde immer verwirrter, was die
Beziehung zwischen Alyssa und Jack anging.
„Was?"
„Wenn sie mit anderen Männern flirtet."
Er zuckte mit den Schultern. „Es ist ohne Bedeutung."
Brooke wusste, sie wäre nicht so nachsichtig, wenn ihr Geliebter anderen Frauen schöne
Augen machte. Und wieso flirtete Alyssa überhaupt mit anderen, wenn sie Jack hatte? „ Ist sie
wirklich sechsmal verlobt gewesen?"
„Kommt darauf an, wen du fragst."
„Ich frage dich."
Er warf ihr eine n düsteren Blick zu, dann zuckte er wieder mit den Schultern. „Fünf- oder
sechsmal, ja. Sie wollte ausbrechen, aber noch mehr brauchte sie die Anerkennung ihres
Vaters."
„Und er gab ihr seinen Segen nicht?"
Jack schüttelte den Kopf. „Also löste sie die Verlobung jedes Mal wieder. Das musst du
verstehen. Er ist ihr einziger lebender Verwandter. Und sie sehnt sich verzweifelt nach seiner
Liebe."
Brooke verstand. Auch sie wollte immer die perfekte Tochter für ihre Mutter sein. Sie
seufzte. „Was tun wir nicht alles, um angenommen zu werden..."
Sie legte das Tagebuch in den Schoß, achtete auf genügend Abstand zu Jack.
„Welche Negative von Tim wollte sie wohl vernichten?"
Jack lachte leise auf. „ Unser Freund Tim ist ein wenig eitel. Sie hat möglicherweise ein
unvorteilhaftes Bild von ihm geschossen und es als Mittel benutzt, irgendetwas von ihm zu
bekommen."
„Du meinst so einen Schnappschuss, wo ihm Eis vom Kinn tropft oder er gerade in der
Nase bohrt?"
„Das würde schon reichen, ihn fuchsteufelswild zu machen."
„Wütend genug, um einen Mord zu begehen?"
„Darum kümmere ich mich, Brooke."
„Ich versuche, dir zu helfen."
„Ich weiß." Jack seufzte schwer. „Ich werde Tim nach diesen Negativen fragen."
Er riss ihr den Stift aus der Hand, fand ein Stück Papier und machte sic h Notizen. „Erstens,
mit Gary reden", kommentierte er dabei. „Zweitens, mit Tim reden."
Während er schrieb, besah sie sich wieder das Buch in ihren Händen. Sie hob es an, und
ein Blatt Papier flatterte heraus. Es war eine Zeichnung, Anfang Juli datiert. Alyssa musste sie
unmittelbar vor dem Unfall angefertigt haben.
„Oh." Brooke besah sich die Skizze genauer. Sie zeigte die kleine Lauren mit dem Beagle
daneben unter einem Baum. Beide schliefen friedlich. Jedes noch so winzige Detail stimmte.
„Ich wusste gar nicht, dass Alyssa zeichnen kann."
Jack beugte sich über das Blatt. Seine nackte Schulter streifte ihren nackten Arm. Es war,
als hätte sie sich verbrannt. Hitze durchströmte sie. „Es ist eines ihrer Talente."
„Das hat sie von Mutter geerbt. Ich bekomme kaum eine gerade Linie hin." Wieder einmal
fragte sich Brooke, ob Delia sich nicht das falsche Kind ausgesucht hatte.
„Ich bin sicher, du hast andere Begabungen."
Sie lächelte. „Bei Trivial Pursuit bin ich unschlagbar."
Jack lachte auf. „Ein ausgeprägtes Allgemeinwissen ist nie verkehrt."
Eingestreut zwischen den Seiten mit Zeichnungen von der Ferienanlage, Portraits oder
Stillleben, fanden sich immer wieder Alyssas Gedanken.
„Hör dir das an...", sagte Brooke. „.Gestern habe ich das perfekte Geburtstagsgeschenk für
Jack gefunden. Ich darf es nur nicht jetzt schon kaufen, sonst gebe ich es ihm bestimmt
vorher", las sie vor. „Wann hast du Geburtstag?"
„Im April."
„Dies hier hat sie im Februar geschrieben. Was hat sie dir geschenkt?"
„Ein Buch, nach dem ich scho n Ewigkeiten gesucht habe."
Etwas, das eine Geliebte wissen würde, dachte Brooke und war plötzlich eifersüchtig auf
ihre Schwester. Dann fiel ihr Alyssas Zustand wieder ein, und sie schämte sich. Sie durfte
sich nicht von einem Mann bezaubern lassen, der ihr nicht gehörte.
Brooke las weitere Einträge und gewann zunehmend mehr Einblick in Alyssas Alltag und
ihre Sicht des Lebens.
„Das hier hört sich an, als sei deine Party echt Spitze gewesen."
„Lass mich sehen." Er nahm ihr das Tagebuch aus den Händen, las den Abschnitt und
runzelte die Stirn. „Sie hat mir nicht erzählt, dass sie auf dem Heimweg einen Plattfuß hatte."
Er blätterte weiter. Brooke versuchte, sich auf das Mitlesen zu konzentrieren, anstatt auf
Jacks männlichen Duft und ihr Verlangen, sich an ihn zu schmiegen.
Alyssa berichtete über eine Reihe von Beinahe-Unfällen, von dem Gefühl, ständig
beobachtet zu werden. Auch wenn sie ihre wachsende Angst nicht offen ausgedrückt hatte, so
war sie doch immer wieder zwischen den Zeilen zu lesen. Zwei Tage vor ihrem Unfall
brachen die Einträge abrupt ab.
„Sieh mal, hier." Jack deutete auf die letzten Zeilen. „Da steht, dass irgendjemand Dateien
auf ihrem Computer gelöscht hat. Das will mir gar nicht gefallen. Und sie schreibt, dass
offenbar an ihren Bremsen manipuliert wurde. Wenn George in der Werkstatt den
Bremsflüssigkeitsverlust nicht bemerkt hätte, wäre sie verunglückt."
„Sie hat dir nichts von alldem erzählt?"
„Nein." Er runzelte die Stirn. „Und das passt überhaupt nicht zu ihr."
„Dann setzen wir George auch auf die Liste." Brooke kam noch ein anderer Gedanke. „Die
Vorauszahlung dieser Gruppe – was ist mit dem Geld passiert?"
„Der Mann, der bei ihr buchte, hatte einen Scheck geschickt, der nachweislich bei uns
einging. Der Scheck verschwand jedoch spurlos und ist bislang nirgendwo gutgeschrieben
worden."
„Dann hat das Geld also nichts mit dem Mordversuch zu tun."
„Wir sollten es nicht grundsätzlich ausschließen. Es hängt davon ab, ob jemand das
Geschäft weiterführen oder schließen will."
„Okay, Cullen würde es gern weiterführen, stimmt's?" Brooke nahm Jack Papier und Stift
ab, drehte das Blatt um, schrieb Cullens Namen darauf und malte schwungvoll einen Kreis
drumherum.
„Er würde gern anspruchsvollere Touren anbieten, aber die Finanzierung ist ein Problem.
Anspruchsvollere Touren bedeuten größere Sicherheitsrisiken, also auch höhere Ausgaben für
die Ausrüstung und so weiter."
„Aber wenn Alyssa ausfällt, läuft geschäftlich doch gar nichts."
„Oder es ist der geeignete Zeitpunkt für eine Schließung der Firma. Cullen erwähnte, er
würde gern unsere Anteile kaufen und das Geschäft allein weiterführen."
„Kann er nicht seine eigene Firma aufmachen?"
„Sicher", meinte Jack. „Aber der Adventure Club besitzt einen guten Ruf. Mit einer
eigenen Firma würde er bei Null anfangen müssen. Und Geduld war noch nie seine Stärke."
Brooke machte sich eine Notiz. „Was ist mit Stephanie? Du hast erzählt, sie setzt auf
Sicherheit. Könnte sie Cullen umstimmen?"
„Sie liebt das Bergsteigen, hatte aber nie richtiges Interesse am Geschäft. Ich denke, sie
hofft, dass Cullen bereit ist, eine Familie zu gründen, wenn die Firma nicht mehr existiert."
Auch um Stephanies Namen machte Brooke einen Kringel und verband ihn per Strich mit
dem Kreis um Cullens Namen. „Da Alyssa nun ausfällt und das Geschäft im Moment nicht
weiterläuft, wird ihr Wunsch wohl in Erfüllung gehen."
„Vermutlich."
„Und Trish?"
„Für Trish ist der Adventure Club in erster Linie eine Chance, mit Leuten
zusammenzusein. Sie klettert gern, hätte aber auch nichts dagegen, sich in der Pizzeria
treffen." Jack massierte sich den Nacken. „Auf der anderen Seite hat sie natürlich jetzt mehr
Zeit, sich ihren eigenen Geschäften zu widmen."
„Sie ist für das Marketing verantwortlich?"
Er nickte. „Und hatte große Mühe, schon mit ihren eigenen Aufträgen zeitlich
zurechtzukommen, vom Adventure Club gar nicht zu reden."
Alle Kreise auf ihrem Notizblatt waren mit Alyssa verbunden, aber Brooke war genauso
schlau wie vorher. Was war zwischen ihr und den anderen schief gelaufen?
Jack schien ebenso frustriert zu sein wie sie selbst. Er lehnte den Kopf gegen das
Bücherbord und schloss die Augen. Sein Gesicht wirkte weicher, verletzlicher. Ihr Blick fiel
auf seine Hände, und es überkam sie das Verlangen, sie zu streicheln ... sich von ihnen
liebkosen zu lassen. Sie schluckte und zog ihre Knie dichter an die Brust. Es war völlig
idiotisch, solche Gefühle zu haben. Sie kannte diesen Mann doch gar nicht. Woher kam diese
Sehnsucht? Deine Hormone, ermahnte sie sich, es ist Lust, pure körperliche Lust, mehr nicht.
„Am Abend, bevor wir den Devil's Grin erstiegen, hatte Alyssa einen kleinen Schwips und
erzählte mir, jemand wolle sie umbringen. Ich nahm es nicht ernst."
„Warum nicht?"
„Dies hier ist Comfort, New Hampshire." Er lachte kurz. Es klang grimmig. „Wir befinden
uns hier mitten in der Einöde. Die Touristen kommen her, weil sie Urlaub machen, Spaß und
Freude haben wollen. Manchmal kann Alyssa ein wenig dreist sein, trotzdem mögen sie alle.
Ich dachte, sie wollte nur Aufmerksamkeit."
„Hat sie so etwas früher schon einmal gemacht?"
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Weiches Haar, wie sie sich erinnerte. „Das ist
schwer zu erklären. Alyssa konnte nie um etwas bitten. Zumindest nicht direkt. Wenn sie
nicht allein sein wollte, lud sie einen zum Essen ein. Brauchte sie Hilfe, dann bat sie auf
Umwegen darum. Hatte sie Angst, machte sie Witze darüber."
„Aber an dem Abend nicht?"
„Sie war ungewöhnlich mürrisch." Er runzelte die Stirn. „Wenn ich es im Nachhinein
betrachte, wollte sie mir wohl indirekt etwas deutlich machen. Ich begriff es nur nicht. Ich
dachte, sie wäre ein wenig gestresst und brauchte ein paar Tage Urlaub. Euer Vater hatte ihr
ziemlich zugesetzt. Das macht er oft am Anfang der Saison."
Jack blätterte die restlichen Seiten des Tagebuchs durch. Sie waren alle unbeschrieben, bis
auf ein zweifach gefaltetes Stück Computerpapier, das zwischen die letzte Seite und den
Buchdeckel geklebt war. Vorsichtig legte er das Tagebuch auf den Fußboden und faltete das
Blatt auseinander.
Brooke hielt unwillkürlich die Luft an, als sie genauer hinschaute. Es sah aus, als hätte
jemand die Zeilen, die darauf standen, mit Blut geschrieben.

Ernte, was du gesät hast,


bezahl, was du schuldest.
Stöcke und Steine werden dir die Knochen brechen,
und wenn du stirbst,
kann ich nicht traurig sein.
Denk an mich, meine Freundin,
ich werde lächeln, wenn dein Ende kommt.
9. KARITEL

Jack fluchte, klappte das Tagebuch über dem bitterbösen Gedicht zusammen und schoss so
schnell hoch, dass er gegen einen der Dachbalken stieß. Er zog den Kopf ein, rieb sich die
schmerzende Stelle und wanderte auf und ab. Davon also hatte Alyssa vor dem Aufstieg
gesprochen...
Stöcke und Steine werden mir die Knochen brechen.
Es wird alles gut gehen, Alyssa. Wie immer.
Diesmal nicht.
Der seltsame Dialog fiel ihm in aller Deutlichkeit wieder ein.
Warum hatte sie sich ihm nicht anvertraut? Hatte sie angenommen, er könnte derjenige
sein, der es auf sie abgesehen hatte? Aber warum hatte sie dann darauf bestanden, mit ihm
zusammen in die Wand zu steigen?
Jack freigeben.
Sie hatte sich gerade in ihrer freiheitsliebenden Phase befunden. Hatte sie ernsthaft daran
gedacht, sich von ihm zu lösen, und ihn deshalb nicht ins Vertrauen gezogen? Alyssa, Alyssa,
was hattest du nur vor? dachte er. Wer hat dir das angetan? Warum hast du mich dir nicht
helfen lassen?
„Gibt es eine Möglichkeit herauszufinden, wer dies hier geschrieben hat?" fragte Brooke
vom Fußboden her.
Sie wirkte wie ein kleines Mädchen, weich und verletzlich, so wie Alyssa eigentlich all die
Jahre tief in ihrem Inneren gewesen war. Nur die Zehenspitzen lugten unter Brookes weitem
hellblauen T-Shirt hervor.
Da sie es über die Knie gezogen hatte, verbarg es all die aufregenden Rundungen, deren
Anblick ihn verlockt hatte, als er auf den Dachboden gestiegen war. Die festen Brüste, der
bezaubernde Schwung ihrer Taille. Wie sehr sehnte er sich danach, sie mit den Händen zu
erforschen, sie mit den Lippen zu kosten.
Die unterschwellig ständig vorhandene Erregung machte ihn unruhig wie einen
Silberlöwen, den es durch die Berge trieb. Er musste sich abreagieren. Ihm fehlte körperliche
Bewegung. Und nicht Brooke Snowdens verlockender Körper.
„Ich schicke das Blatt an das Polizeilabor in Concord. Aber ich kann nicht garantieren,
dass sie es schnell untersuchen. Und es kann gut sein, dass nicht viel dabei herauskommt.
Dieses Papier erhält man in jedem Schreibwarengeschäft. Die rote Tinte kann aus jedem
Tintenstrahldrucker stammen. Wenn derjenige, der das geschrieben hat, auch nur einen
Funken Verstand besitzt, wird er Handschuhe ge tragen haben. Und die sind ebenfalls überall
erhältlich – selbst in Comfort."
„Trish hat jeden Tag mit Computern zu tun."
„Tim, Cullen und Stephanie auch."
„Stimmt." Brooke runzelte die Stirn. „Irgendjemand wollte wirklich, dass Alyssa stirbt."
Er sah, wie sie erschauerte, und hätte sie am liebsten in die Arme gezogen, sie festgehalten
und ihre Sorgen fortgeküsst. Stattdessen ging er in die Hocke, öffnete das Tagebuch und
betrachtete noch einmal das Gedicht.
Dass er nicht einmal ahnte, wer es war, nagte heftig an ihm. Die, die er verdächtigte, hatten
in den letzten Jahren so vieles mit Alyssa und ihm geteilt. Welcher von ihnen hegte einen
solchen Hass auf sie?
„Und die Zwischenfälle mit dem Pick- up und der Schlange beweisen, dass derjenige das
noch immer will."
Jack drehte sich zu Brooke herum. „Es ist gefährlich für dich zu bleiben."
„Ich weiß."
„Ich glaube, dir ist nicht klar, was du zu verlieren hast."
Sie zog leicht die Augenbrauen nach oben. „Aber ich weiß, was ich gewinnen kann."
„Ich spreche von deinem Leben."
„Ich auch. Aber ich bin ja nicht allein. Du bist hier."
Entschlossenheit stand in ihren Augen. Und Vertrauen. In ihn. Diese Erkenntnis traf ihn
wie ein Schlag.
Jack schüttelte den Kopf. „Ich, konnte deine Schwester nicht beschützen. Wie kommst du
darauf, ich könnte dich vor Gefahr bewahren?"
„Weil du sie liebst."
Eigentlich sollte er sie in ihrer Fehleinschätzung bestärken. Sie in dem Glauben lassen,
dass Alyssa und er ein Liebespaar waren. Es würde die dringend notwendige Distanz
zwischen ihnen schaffen. In seinem Leben war kein Platz für verwirrende Gefühle.
„Oder... liebst du sie nicht?" fragte Brooke langsam, als er nicht gleich antwortete.
Er setzte sich wieder neben sie. Ohne nachzudenken legte er die Hand um ihre Schulter,
um sie an sich zu ziehen. Ein Fehler. Ein großer Fehler. Sein Puls begann zu rasen. Er atmete
einmal tief durch, schloss die Augen.
„Wir kennen uns seit ihrem ersten Schultag", begann er. „Sie war ein richtig süßer Fratz.
Als der Klassenstärkste sie ärgern wollte und sie es einfach ignorierte, machte es ihn so
wütend, dass er mit ihr rangelte und sie zu Boden warf. Er war drauf und dran, sie zu
verprügeln. Ich machte ihm klar, zuerst müsse er es mit mir aufnehmen."
„Und was geschah?"
„Er kniff." Alyssa hatte ihm nicht für seine Hilfe gedankt. Und als die Pausenglocke
schrillte, wusste sie nicht, wo das Klassenzimmer war. Sie stand da, stocksteif, hatte Angst zu
fragen, Angst, einen Fehler zu machen. Also hatte er die richtige Richtung eingeschlagen und
ihr bedeutet mitzukommen. Sie war ihm gefolgt wie ein kleines Hündchen, das sich verirrt
hatte.
„Sie hatte keine Mutter", fuhr Jack fort. „Ihr Vater war immer viel zu beschäftigt. Mein
Vater hatte uns verlassen. Und meine Mutter... nun, sagen wir, ich stand bei ihr nicht an erster
Stelle. Alyssa brauchte mich, und ich brauchte sie. Wir schufen uns sozusagen unsere eigene
kleine Familie. Sie kam zu meinen Baseballspielen. Ich zu ihren Fußballspielen. Wir feuerten
uns gegenseitig an."
„Oh." In dem darauf folgenden Schweigen konnte er fast hören, wie ihr Kopf versuchte,
diese jüngsten Informationen einzuordnen. „Ihr seid schon lange ein Team."
„Brooke..."
„Wir werden ihn finden." Wieder leuchteten Zuversicht und Vertrauen in ihren Augen auf.
Er hatte es falsch angefangen. Jetzt war sie regelrecht angestachelt. „Als Erstes müssen wir
bei jedem durchblicken lassen, dass wir sein Geheimnis entdeckt haben, und abwarten, wer
den Köder schluckt. Dann stellen wir ihm eine Falle und schnappen ihn."
„Und all diese gewieften Polizeitaktiken hast du während deiner Ausbildung als
Grundschullehrerin gelernt?" Jack schwankte zwischen Ärger und Belustigung.
„He, diese kleinen Rangen können manchmal ganz schön abgebrüht sein."
Sie lachte leise auf. Der glockenhelle Klang rührte etwas in ihm an, verstärkte gleichzeitig
diese verdammte Leidenschaft, erweckte Furcht und Verlangen und ein Kaleidoskop von
Gefühlen, die er nicht einzuordnen wusste.
„Brooke?"
Er fluchte stumm. Wie sollte er diese Gefühle erklären? Wie konnte er ihr sagen, dass er
mit ihr ins Bett wollte, sie nehmen wollte, wie er noch nie eine Frau genommen hatte? Was
würde sie denken, wenn sie von seinen Gedanken wüsste?
„Ja?"
Nein, sie durfte nichts davon erfahren. Das war zu riskant. Sie musste für ihn Alyssas
Schwester bleiben. Er zwang sich aufzustehen. „Es war ein langer Tag. Du solltest versuchen,
noch ein wenig zu schlafen."
Jack glaubte in ihrem Blick zu versinken. Diese grünen Augen blitzten, waren voller
Wärme und Versprechen, an die er nicht länger denken durfte.
Komm mit mir, Schatz. Teil mit mir das Bett, damit mich deine rastlosen Bewegungen auf
der anderen Seite der Wand nicht weiter quälen.
Nein, unmöglich. Sie war Alyssas Schwester. Er musste sie beschützen. Auch vor ihm
selbst.
Brooke schüttelte entschieden den Kopf und griff nach dem Tagebuch. „Geh du ruhig. Ich
komme gleich nach."
„Dein Tag beginnt in knapp drei Stunden mit einer Kajakfahrt", erinnerte er sie, als er
Richtung Leiter davonging. Die Stufen knackten unter seinem Gewicht. Er versuchte, sich
einzureden, all dies wäre nur ein Job, nur ein Job.
Sie schnitt eine Grimasse. „Bist du sicher, das ist notwendig?"
„Du betonst ständig, dass du den Lockvogel spielen willst, um unseren Freund aus der
Reserve zu locken. Alyssa würde es tun."
„Erinnere mich nicht daran."
Wollte sie aufgeben? „Niemand wird dir einen Vorwurf machen, wenn du aussteigen
willst."
„Nur ich mir selbst. Ich muss bleiben. Gerade erst habe ich etwas mehr über Alyssa
erfahren. Es gibt noch so vieles, das ich nicht weiß. Ich denke..." Sie zuckte mit den Schultern
und fingerte an dem Tagebuch in ihrem Schoß herum.
„Was?"
Sie blickte ihn traurig an. „Meine Mutter hat das falsche Mädchen mitgenommen."
„Daran kannst du jetzt nichts mehr ändern."
„Aber ich kann herausfinden, wer dafür verantwortlich ist, dass Alyssa im Koma liegt."
„Du musst nicht..."
„Doch. Ich schulde es ihr, weil ich so viel gehabt habe und sie so wenig."
„Willst du damit sagen, du wärst bislang auf Rosen gebettet gewesen?"
„Nicht unbedingt, aber..." Sie wechselte das Thema. „Du musst mir bei dieser
Kajakfahrerei helfen. Ich habe noch nie in einem solchen Ding gesessen und nicht die
geringste Ahnung, wie man damit umgeht."
Sie zog sich vor ihm zurück. Genau wie ihre Schwester. In Grübeleien? Es war ihm egal.
Er wollte nicht wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging, ihrem Herzen, ihrer Seele. Aus
Grübeleien kam nichts Gutes. Nur Kummer, und er hatte nie großen Wert darauf gelegt, die
Dämonen anderer Leute zu zähmen.
„Ich bin bei dir. Bei jedem Schritt, den du tust." Sie wirkte zerbrechlich, aber langsam
wurde ihm klar, welchen stählernen Willen sie unter der zarten Oberfläche besaß.
„Jack?"
Er blickte auf.
„Liebst du Alyssa?"
„Ja", sagte er, doch dann wurde ihm klar, er konnte diese Lüge nicht im Raum stehen
lassen. „Ich liebe sie wie eine Schwester."
Jack verschloss sich dem Ansturm der Gefühle in seinem Innern, wusste, es war eine feige
Flucht. Dann zwang er sich, die Leiter weiter hinunterzusteigen und ins Bett zu gehen –
allein.

Brooke schluckte, als sie am nächsten Morgen den Kajak sah, der sanft auf den Wellen
schaukelte. Sein Einstieg sah nicht so aus, als würde sie mühelos hineinschlüpfen können.
Der Himmel zeigte ein zartes Rosa. Ein Spaziergänger wanderte am Ufer entlang. Hinter
ihm trottete ein schwarzer Labrador dahin, schnüffelte hier und dort, dann beeilte er sich, sein
Herrchen wieder einzuholen. Die meisten Ferienhütten lagen im Morgendunst, ein zutiefst
friedlicher Anblick.
Das graue Wasser schwappte kalt gegen ihre Füße. Sie bekam eine Gänsehaut an Armen
und Beinen, obwohl sie über Alyssas schwarz-rotem Badeanzug einen windabweisenden
Overall trug.
„Meinst du nicht, ich könnte stattdessen eine Runde joggen?" War die Öffnung noch
kleiner geworden, die Wellen höher? Oder bildete sie sich das nur ein?
„Denk dran, wie wichtig das Bild ist, das du bietest." Jack besaß die Unverfrorenheit, auch
noch zu lächeln. „Vielleicht beobachtet dich irgendwer." Er lachte leise auf, und ihr
unvernünftiges Herz machte einen Satz. „Kajakfahren entspannt sie, gibt ihrem Tag einen
positiven Start."
„Glaub nur nicht, dass es die gleiche Wirkung auf mich haben wird."
Aber Brooke verstand Alyssas Bedürfnis. Sie selbst joggte aus dem gleichen Beweggrund
am Strand entlang. Die Mischung aus würziger Seeluft, Meeresrauschen, Sand unter ihren
Füßen und der aufgehenden Sonne tat wahre Wunder für ihre morgendliche Seelenlage. Selbst
wenn es regnete und die Sonne fehlte. Vielleicht würde sie nachher ein wenig laufen – falls
sie die Kajakfahrt überlebte. Zumindest erwartete er nicht, dass sie sich allein auf den See
wagte. Sein eigener Kajak lag am Strand.
„Kannst du mir versprechen, dass ich nicht nass werde?" fragte sie, erfüllt von nagendem
Zweifel.
Jack versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht so recht.
„Nein, die Möglichkeit besteht durchaus."
„Vielen Dank!"
Er zwickte sie in die Nase. „Glaub aber nicht, dass ich dich schon beim ersten Mal die
Eskimorolle machen lasse."
„Wie tröstlich! Wie geht es jetzt weiter?"
„Stell dich mit dem Gesicht zum Bug hin."
Er hielt das Boot fest und wartete darauf, dass sie es tat. „Greif nun über den Einstieg und
hake den Daumen deiner linken Hand – nein, halt dabei auch das Paddel fest."
Ihr Gips reichte nur bis zum Ellbogen, schränkte jedoch ihre Beweglichkeit ein. „Wofür
hältst du mich, für eine Akrobatin?"
Er stand dicht bei ihr. Zu dicht.
„So ist es richtig. Hake den Daumen nun unter den Einstiegsrand hinter dem Sitz. Okay ...
jetzt benutz das Paddel, um das Gleichgewicht zu halten und steig seitwärts ins Boot."
Das Boot kippelte noch mehr unter ihren unbeholfenen Bewegungen, und sie sah sich
schon mit dem Kopf nach unten hängen und Wasser schlucken. Ein Schauer überlief sie, und
sie vertrieb die aufsteigende Panik rasch mit einem Kopfschütteln.
Jack hielt das Boot mit einer Hand fest, mit der anderen sie. Ihr zitterten die Knie, und der
Kajak schaukelte wieder.
„Gar nicht so schlecht", machte er ihr Mut. „Nun lass dich auf den Sitz sinken. Streck die
Beine aus, bis sie die Fußstütze berühren. Fühlst du sie?"
Sie nickte, spürte seine Hand auf ihrem Rücken deutlicher als die Fußstützen unter der
Gummisohle.
„Drück die Knie gegen die Kniestützen. Und nun beweg das Paddel vor dir hin und her. Ab
geht die Post. Alles klar."
„Es bewegt sich!"
„Das soll es doch auch."
Sie packte das Paddel so fest sie konnte, rührte keinen Muskel mehr und flehte zum
Himmel, dass der Kajak nicht kenterte. „Oh Gott, ich kippe um!"
„Nein, das tust du nicht. Es ist ein sehr stabiles Boot. Du bist Expertin im Kajakfahren,
hast du das vergessen?"
Er stand bis zu den Knien im Wasser. In seinem grauen Neopren-Anzug ähnelte er einer in
Granit gehauenen Statue. Nichts blieb der Fantasie überlassen. Ein solcher Anzug hätte
gesetzlich verboten sein sollen.
Er massierte ihr den Nacken und beugte sich über sie, als wolle er ihr ein Geheimnis
verraten. Seine Augen blitzten spielerisch. Das war alles Teil des Spiels, der Show. Wenn
jemand zusah, würde er sie für das Liebespaar halten, für das sie sich ausgegeben hatten.
Sie ging auf sein Spiel ein und lächelte ihn an, obwohl ihr absolut nicht danach zu Mute
war. „Alyssa ist Expertin. Nun, ich nicht."
„Es ist wirklich nicht so schwer. Du wirst es schnell lernen. Und lächle, Schatz. Denk dran,
es macht dir Spaß."
„Und wie!" Brooke verzog kläglich das Gesicht.
Mit einer geschickten Bewegung saß Jack im Boot, und ebenso gekonnt paddelte er nun
neben ihr her. Seine Armmuskeln glänzten im weichen Morgenlicht.
„Halt dein Paddel so." Er zeigte es ihr. „Und nun tauchst du die eine Seite ein, dann die
andere."
„Für dich ist das leicht gesagt. Du hast keinen Gipsarm." Sie kam sich vor wie ein
gigantischer treibender Marshmallow, zudem noch behindert in ihren Bewegungen durch
ihren blöden Gipsarm.
Er ruderte davon, und beinahe hätte sie nach seinem Heck gegriffen, um sich daran
festzuhalten.
„Beug dich ein wenig vor", rief er leise und sah sich dann unauffällig um. Suchte er nach
etwas? „Gut. Aber nicht so krumm dahocken. Kopf hoch."
„Was siehst du?"
„Nichts. Sieh nicht auf das Paddel, schau geradeaus."
Das erwies sich als Fehler. Auf einmal tanzte der Horizont auf und ab, und ihr wurde leicht
übel.
Nicht an den Strand sehen, ermahnte sie sich. Schau aufs Wasser. Aber das half auch
nichts.
Das Wasser war nass und dunkel. Die von ihrem Paddel erzeugten Wellen sahen Furcht
einflößend aus ...
Schluss jetzt! riss sie sich zusammen. Du bist Alyssa. Du liebst das Wasser. Irgendjemand
dort draußen beobachtet dich. Jemand, der dich für Alyssa halten soll. Also streng dich an.
Sie ignorierte ihre Unbeholfenheit, ihre schweißfeuchten Hände und ihre trockene Kehle.
Konzentrierte sich auf Lächeln und Paddeln.
„Nicht so kräftig mit dem linken Arm paddeln, sonst kommst du vom Kurs ab ..."
Jack zeigte ihr, wie man wendete, seine Geschwindigkeit abbremste, rückwärts fuhr. Und
langsam wurden ihre Bewegungen sicherer. Brooke entspannte sich.
Sie legte das Paddel auf dem Boot ab. „Nun verstehe ich, warum es Alyssa so viel Spaß
macht", gestand sie ein.
„Du wirst auch noch Gefallen daran finden."
Die Strömung trieb sie langsam zurück. Die Sonne hatte den Morgendunst fast aufgelöst,
und die Ferienanlage erwachte zum Leben. „Stephanie erzählte, dass ihr alle zusammen zum
Devil's Grin gepaddelt seid."
„Devil's Grin ist über einen schmalen Seitenarm des Sees erreichbar. Aber ich glaube
nicht, dass du das schon schaffst."
Jack wirkte abgelenkt, als sei er mit seinen Gedanken woanders. Während er sprach,
schaute er zum Bootsanleger hinüber. Zwei Lastwagen und ein chromblitzender
Geländewagen parkten dort. Ein Mann angelte von einem Kanu aus. Zwei Teenager luden
Kajaks von einem der Lastwagen.
„Was ist los?" fragte sie.
„Das ist Cullens Kiste."
Der leuchtend rote Lack schimmerte in der Sonne. „Hübsches Gefährt."
„Wird seine Kunden beeindrucken."
„Ist es ungewöhnlich, ihn hier zu sehen?"
„So früh, ja."
„Wollen wir näher ran? Sehen und gesehen werden?"
„Wäre vielleicht nicht schlecht."
Sie paddelten in Richtung Ufer. Cullen saß auf einem Felsen und warf eine Angelleine aus.
Als er die beiden entdeckte, winkte er ihnen zu.
„So früh schon auf den Beinen?" rief Jack.
„Bin überhaupt nicht ins Bett gekommen."
„Harte Nacht?"
„Heißes Date." Cullen grinste anzüglich. „Muss mich etwas entspannen, bevor ich ins Büro
gehe. Wie ist das Wasser?"
„Großartig!" rief Brooke und war überrascht, dass sie es ernst meinte. „Wie beißen die
Fische?"
„Sie meiden mich." Cullen lachte und zuckte mit den Schultern. „Wohin wollt ihr?"
„Devil's Grin." Brooke bemerkte, dass er leicht eine Augenbraue hochzog.
„Noch einmal zurück an den Ort des Verbrechens?"
Ort des Verbrechens? Hatte er das einfach nur so dahergesagt, oder wusste er etwas? Allen
war gesagt worden, Alyssas Absturz wäre ein Unfall gewesen. „Ich will sehen, ob ich mich an
etwas erinnern kann."
„Vielleicht ist das gar keine so gute Idee." Cullen runzelte die Stirn und zupfte an seiner
Angelschnur.
Jacks Kajak stieß gegen ihren. „Genau das habe ich dir auch gesagt."
„Er hält mich noch für zu schwach." Brooke rümpfte mit gespielter Empörung die Nase.
„Er hat dich immer falsch eingeschätzt." Cullen wurde ernst. „Ich kenne niemanden, der
härter ist als du."
„Danke. Falls es ein Kompliment sein sollte."
Cullen schenkte ihr ein breites Lächeln und entblößte dabei ebenmäßige weiße Zähne.
„Sollte es. Aber damit hattest du ja immer schon Schwierigkeiten. Vor allem, wenn sie von
mir kommen." Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ich mach mich wohl besser auf
die Socken, wenn ich noch duschen will, bevor die Beils und ihre zwei Bälger in meinem
Büro einfallen."
„Laurens Eltern wollen ein Haus kaufen?" fragte Jack.
Nun war Cullen in seinem Element. „Naja, sie meinten, da sie sich seit Jahren hier
einmieten, könnten sie sich ebenso gut etwas Eigenes kaufen."
„Es wird nur ein Balg sein", sagte Brooke. „Lauren ist heute Morgen bei mir. Wir wollen
künstlerisches Brainstorming betreiben."
„Das ist ja immerhin eine gewisse Erleichterung." Er schulterte seine Angelrute und winkte
ihnen zu. „Bis später dann."
Als sie davonpaddelten, fragte Brooke: „Was meinst du?"
„Wegen was?"
„Cullen. Hat er uns beobachtet, oder angelte er wirklich?"
„Schwer zu sagen."
„Dann müssen wir es herausfinden."
„Zum Devil's Grin zu paddeln bringt uns auch nicht weiter."
„Wenn er der Täter ist, wird er uns folgen. Er wird wissen wollen, ob ich mich an etwas
erinnere."
Dies war die Gelegenheit zu beweisen, dass sie auf ihren eigenen Beinen stehen – oder
besser gesagt mit ihren eigenen Armen paddeln – konnte. Es würde zwar nicht gerade zu ihrer
morgendlichen Lieblingsbeschäftigung werden, aber Alyssa täte so etwas. Was blieb ihr also
anderes übrig? Entschlossen wendete sie den Kajak zur Einmündung des kleinen Seitenarms.
„Okay, das reicht für heute." Jack griff nach der Leine an ihrem Boot. „Du musst
niemandem etwas beweisen."
Außer mir selbst, dachte sie. „Alyssa würde den Unglücksort aufsuchen."
Er deutete auf ihren Gips. „Du bist verletzt."
„Das wäre Alyssa egal. Das hast du selbst gesagt."
„Du würdest gegen den Strom paddeln müssen."
Trotzig hob sie das Kinn. „Hast du nicht selbst behauptet, ich sei Expertin?"
„Hör zu..."
„Wenn Cullen uns jetzt beobachtet, wird er erwarten, dass wir hinpaddeln. Er kennt
Alyssa. Er weiß, sie würde es tun."
„An einem anderen Tag. Du bist heute das erste Mal hier draußen."
„Es ist unsere Chance, Cullen aus der Deckung zu locken. Ihn einen Fehler machen zu
lassen. Ihn denken zu lassen, dass ich mich an etwas erinnere, was er lieber nicht möchte."
„Die Strömung..."
„Heute ist es die Strömung. Morgen etwas anderes. Du willst mich beschützen. Es war
allein deine Entscheidung. Aber wenn du mich völlig abschirmst, werden wir den Verbrecher
nie finden. Also, gib mir Spielraum, Jack. Lass mich los."
Ohne auf seine Antwort zu warten, tauchte sie ihr Paddel ins Wasser und stieß sich von
seinem Kajak ab. Adrenalin schoss ihr heiß durch die Adern. Das Herz hämmerte ihr in der
Brust. Ihr Puls raste.
Alyssa würde es genauso machen.
Und im Moment, rief sie sich in Erinnerung, bin ich Alyssa.
10. KAPITEL

Fluchend folgte Jack Brooke in den Seitenarm. Ebenso wie ihre Schwester zog sie Ärger an
wie ein Magnet. Er sollte sie nach Hause schicken, ehe sie wirklich in Situationen geriet, die
sie nicht mehr im Griff hatte.
Gleichzeitig wusste er, er konnte es nicht. Nicht, wenn ihre Anwesenheit ihm die Chance
bot, den Verdächtigen dingfest zu machen. Er wollte sein Versprechen Alyssa gegenüber
halten.
Dennoch fiel es ihm von Tag zu Tag schwerer, innerlich den notwendige n Abstand zu
Brooke zu wahren. Er brauchte dringend einen Hinweis, einen Fehler des Täters, damit er
weiterkam in diesem Fall. Bislang hatte sich keine Spur gefunden. Er wartete auf den
Laborbericht über das Seil. Auch von der Untersuchung des Gedichts fehlten noch die
Ergebnisse.
Und bis dahin musste jemand Brooke vor sich selbst beschützen.
Aus dem Augenwinkel sah Jack, dass Cullen seinen Wagen vom Anleger zurücksetzte,
aber statt links in die Stadt abzubiegen, in Richtung Landstraße steuerte. Und zwar erstaunlich
langsam für einen Mann, der eine beeindruckende Knöllchen-Sammlung wegen
Geschwindigkeitsübertretungen vorweisen konnte.
Hatte Brooke Recht mit ihrem Verdacht gegen Cullen? War es womöglich Eifersucht
gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, diesen Anschlag auf sie zu verüben, der sie das Leben
kosten sollte? Aber andererseits erforderte ein solches Verbrechen Planung und Geduld –
beides nicht Cullens Stärken.
„Paddel langsamer", rief er Brooke zu und seufzte frustriert.
Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. „Willst du sonst etwa wieder mein Boot
festhalten?"
„Nein." Er holte sie ein und glitt neben ihr her. „Bist du immer so dickköpfig?"
Sie lächelte ihn an, und dieses bezaubernde Lächeln durchdrang wieder einmal seine
Schutzmauern, erfüllte ihn mit wundervoller Wärme.
„Um ehrlich zu sein, ich lerne es gerade."
„Na, großartig." Hätte sie sich nicht jemand anders aussuchen können, ihre neue
Unabhängigkeit zu erproben? Als das letzte Mal eine der Snowden-Schwestern ihre
Autonomie beweisen wollte, war sie im Koma geendet. Das musste er nicht noch einmal
haben.
Um den Strudeln auszuweichen, die der vom Berg herabstürzende Wasserfall verursachte,
lenkte Jack sein Boot weitläufig darum herum. Cullen blieb auf Abstand, schien zu glauben,
dass er durch die Büsche am Straßenrand nicht gesehen werden konnte. Hielt er ihn etwa für
blöd? Er musste sich doch denken können, dass er bemerkt werden würde.
Als sie um die Biegung glitten, in die relativ ruhige Bucht, erhob sich Devil's Grin vor
ihnen in seiner ganzen Erhabenheit. Der gebogene Felsgrat in der Mitte hatte der rund
fünfundvierzig Meter hohen Wand ihren Namen gegeben. Die durch Wind und Wetter
geschaffene Felslippe schien wahrhaftig warnend zu grinsen. Spalten, Risse und Erhebungen
auf dem dunklen Granit ließen den Eindruck entstehen, ein pockennarbiges, böses Gesicht
schaue auf den Betrachter herab.
Aber trotz seines bedrohlichen Aussehens war der Devil's Grin ein leichter Aufstieg –
besonders für ihn und die anderen fünf, die sie seit High-School- Zeiten in den Bergen New
Hampshires zusammen zu klettern pflegten.
Der einzige Unterschied zwischen jenem Tag und all den anderen war der, dass einer der
Freunde Böses im Sinn gehabt hatte. Einen Mord.
„Ist er das?" fragte Brooke und starrte den Felsen voller Ehrfurcht an. „Devil's Grin?"
„Das ist er." Ein kalter Schauer fuhr ihm über den Rücken.
„Wo?"
Jack musste nicht fragen, was sie meinte. „Genau unterhalb der Felslippe." Er deutete mit
schiefem Lächeln auf die Stelle. „Es war ein Übungsklettern für eine Gruppe von
Geschäftsleuten, die das darauf folgende Wochenende kommen wollten. Alyssa sollte bis zur
Lippe klettern und sich dann fallen lassen, um den Kunden zu zeigen, wie sie ihre Arme und
Beine im Fall eines Absturzes zu halten hätten."
„Aber so hoch kam sie gar nicht erst?"
Er schüttelte den Kopf. „Das Seil hakte sich fest. Beim Versuch, es freizubekommen,
verlor sie das Gleichgewicht. Sie schlug mit dem Kopf gegen den Felsen."
„Du bist hinaufgestiegen, um sie zu bergen."
„Ja." Er hatte die beschädigte Stelle am Seil bemerkt. Und vor allem, dass langsam einer
der Nylonfäden nach dem anderen riss. Sekunden später wäre Alyssa unrettbar in den Tod
gestürzt.
„Und in diesem Moment hat sie dir erzählt, dass jemand sie umbringen wollte."
„Ja."
Das Seil. Sie haben mich erwischt
Ich kümmere mich darum.
Ich wurde gewarnt, Stöcke und Steine würden mir die Knochen brechen.
Sie hatte versucht zu lachen, aber es kam nur ein rasselnder Laut heraus, ein Klang, der das
Entsetzen in ihren Augen und die blutenden Verletzungen auf schaurige Weise unterstrich.
Für weitere Fragen war keine Zeit gewesen. Wichtig war, sie heil zur Erde zurückzuschaffen.
Doch bevor er den Boden erreichte, war Alyssa ins Koma gefallen.
„Wussten die anderen von diesem geplanten Sturz?", riss ihn Brookes Stimme aus seinen
trüben Gedanken.
„Er ist fester Bestandteil des Übungskletterns."
Er konnte sich nicht mehr erinnern, wer dies vorgeschlagen hatte. Cullen nahm Sicherheit
stets auf die leichte Schulter. Tim lebte in der ständigen Angst, auf Schmerzensgeld verklagt
zu werden. Trish wollte immer alles gut abgesichert haben. Stephanie war diejenige, der die
Sicherheit und das Wohlergehen ihrer Kunden besonders am Herzen lagen.
„Wussten sie auch, dass Alyssa voransteigen würde?"
„Sie war an der Reihe."
Brooke nickte nachdenklich. „Was geschah vorher, als ihr hier ankamt?"
Jack richtete den Blick auf das mit Felsbrocken übersäte Ufer. Die Ereignisse liefen wie
ein Videofilm vor seinem inneren Auge ab.
Das übliche Geplänkel zwischen Cullen und Stephanie war ihm auf die Nerven gegangen,
da er sich Sorgen um Alyssa machte. Bedrückende Niedergeschlagenheit umgab sie wie eine
düstere Wolke, und sie hatte ihn an seine Mutter erinnert, an dem Tag, als sie starb. Alyssa
kam ihm ebenso hilflos, verwirrt und verschlossen vor.
„Wir machten ein Picknick, da wir das auch mit den Geschäftsleuten planten. Stephanie
hatte Sandwichs gemacht, Trish Obst und Karotten mitgebracht. Tim kümmerte sich um die
Servietten, Abfallsäcke und Wasser. Cullen hatte Wein dabei, obwohl er eigentlich
alkoholfreie Getränke hatte besorgen sollen. Ich war für die Kletterausrüstung verantwortlich.
Und Alyssa für die Kajaks."
„Trank sie Wein?"
„Nein, wenn sie klettert, trinkt sie nie."
Er schaute hinauf. Von dort oben hatte man einen atemberaubenden Ausblick auf eine
dichte grüne Walddecke, nur vereinzelt durchbrochen von winzigen Seen und verzweigten
Flussläufen. Im Norden sah man die White Mountains, Richtung Süden erstreckte sich ein
endloser Horizont.
„Sie liebte die Aussicht vom Gipfel. Sie hätte dort oben das Gefühl, fliegen zu können,
sagte sie oft."
Jack hatte ihr Seil überprüft – und ihr wegen ihrer trüben Stimmung geraten, heute nicht
die Führung zu übernehmen. Er war wirklich besorgt gewesen um sie.
Du bist ja bei mir.
Alyssa...
Bitte, Jack, ich muss hoch. Ich muss den Himmel berühren.
Als sie ihn mit großen traurigen Augen angeschaut hatte, wusste er, dass das Klettern ihr
gut tun würde, wie immer. Es half ihr, sich zu konzentrieren, ruhiger zu werden. Also gab er
sein Okay.
Fast hätte er sie damit für immer verloren.
„Dann hätte also jeder sich am Seil zu schaffen machen können?"
„Jeder." Aber er hatte nichts bemerkt. Wie nur war ihm so etwas entgangen?
„Wo befindet sich das Seil jetzt?"
„Im Labor. Ich warte immer noch auf den Bericht."
„Oh."
Nach dem Unfall war Jack mehrmals hier gewesen. Um seine Ausrüstung einzusammeln.
Um nach Spuren zu suchen. Um jeden Quadratzentimeter des Bodens und des Felsens zu
prüfen. Aber er hatte nichts gefunden. Und wieder wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er
kaum vorangekommen war. Irgendetwas war ihm entgangen – etwas, das der entscheidende
Hinweis sein konnte.
Seine einzige Hoffnung – und seine größte Furcht – war, dass der Attentäter noch einmal
zuschlagen würde. Nur dass er diesmal Brooke treffen wür de.
Jack schaute zu ihr herüber. Die leichte Brise spielte mit ihrem Haar, und die Sonne hatte
ihre Wangen sanft gerötet. Ihre grünen Augen funkelten. Mehr und mehr ging ihm diese Frau
unter die Haut.
Er begehrte sie wie keine andere je zuvor. Warum sollte er das länger leugnen?
Gleichzeitig wusste er, dass er sie nicht haben konnte. Nicht, solange sie sich in Lebensgefahr
befand. Nicht, solange er für sie verantwortlich war.
Und wenn irgendwann der Täter im Gefängnis saß, würde sie nach Hause fahren, zu ihrer
Mutter, ihrer Schwester.
Dieser Gedanke ernüchterte ihn, machte ihn zornig.
„Lass uns umkehren", sagte er. „Hier können wir nichts mehr tun."
Er wendete das Boot um hundertachtzig Grad und fuhr in die Mitte des Wasserlaufs.
Abgelenkt von Cullens Geländ ewagen, der noch immer auf der Straße entlangkroch, stach er
sein Paddel falsch ein, wurde von der Strömung gepackt und gegen einen Felsen geworfen. Es
gab ein unschönes knirschendes Geräusch.
Nur ein Stoß, sagte er sich. Mehr nicht. Er tauchte das Paddel ins Wasser, stieß sich von
dem Stein ab und beugte sich vor, um sich den Schaden genauer anzusehen.
Ein Stück der Außenhaut war aufgerissen, ein großer Flicken, der vor kurzem erst
aufgeklebt worden war. Der Kajak trieb seitwärts ab.
Noch bevor er das Paddel ein weiteres Mal eintauchen konnte, wurde er unter Wasser
gedrückt.

Hilflos sah Brooke zu, wie Jack im schäumenden Strudel zwischen den Felsen verschwand.
Hatte er sich verletzt? Drohte er zu ertrinken? Furcht lähmte sie für einen Moment. Übelkeit
stieg in ihr auf.
„Jack!"
Wie wild paddelte sie auf die Stelle zu, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte.
„Jack!"
Viel zu sehr darauf konzentriert, diesen Punkt nicht aus den Augen zu verlieren, entging
ihr, dass die Strömung rasend schnell zunahm.
„Jack!" schrie sie immer wieder.
Ein hoher Felsen kam auf sie zu. Sie versuchte, ihm mit hektischen Bewegungen
auszuweichen. Geriet ins Schlingern. Das Boot rollte herum, sie glitt aus der Öffnung, geriet
in den Sog des Wirbels.
Der blaue Himmel wurde plötzlich schwarz. Überall um sie herum rauschte Wasser. Es
zerrte an ihr, fesselte sie. Verzweifelt kämpfte sie mit Armen und Beinen gegen den Strudel
an.
Sie war der Gnade der Stromschnellen ausgeliefert. Trotz der Schwimmweste wurde sie
unter Wasser gezogen.
Entsetzt schrie sie auf. Schluckte eiskaltes Wasser. Ihre Lungen brannten.
Ich ertrinke! Ich ertrinke!
Nein! Kämpfe! Lebe! Wild schlug sie mit den Armen um sich, wollte nach irgendetwas
greifen, das ihr Halt bieten konnte. Je mehr sie sich bemühte, desto schneller schoss sie dahin.
Entspann dich. Entspann dich. Entspann dich!
Sie versuchte, gegen die Todesangst anzukämpfen, während das Wasser sie mit sich riss.
Plötzlich schlug ihre Hand gegen einen Felsen. Sie kämpfte verzweifelt, wollte sich
festhalten, rollte sich herum und versuchte, gegen die Strömung zu schwimmen, wurde aber
wieder mitgerissen. Sie versuchte es nochmals. Und nochmals. Mit jeder Sekunde wurde ihr
die Luft knapper.
Ich will nicht sterben, schluchzte sie stumm.
Entspann dich, Brooke. Entspann dich, meldete sich eine sanfte Stimme in ihrem Kopf.
Und auf einmal wurde sie ruhiger, konnte aufhören, wild um sich zu schlagen.
Als sie Grund berührte, stieß sie sich mit den Füßen ab und schwamm mit der Strömung
flussabwärts.
Sonnenlicht schimmerte auf dem Wasser, und sie strebte darauf zu. Mit fast platzenden
Lungen durchbrach sie die Oberfläche, spuckte und rang gierig nach Luft. Dann orientierte sie
sich und schwamm Richtung Ufer.
Es war nicht einfach, doch schließlich schaffte sie es trotz der Behinderung durch den
Gipsarm, an Land zu gelangen. Endlich fühlte sie festen Boden unter den Füßen.
Mit wackeligen Beinen stolperte sie durch das flache Wasser, bis sie groben Sand unter
den Füßen spürte. Aber sie durfte sich nicht ausruhen. Während ihr Herz wie verrückt
hämmerte, beschattete sie die Augen mit der Hand und suchte den Fluss nach Jack ab.
Da sah sie ihn! Er tauchte im funkelnden Wasser nicht weit von ihr auf, verschwand kurz,
wurde wieder sichtbar. Nie hatte sie einen schöneren Anblick gesehen.
„Jack!" schrie sie laut, sprang auf und ab, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Er wandte den Kopf in ihre Richtung und schwamm dann mit kraftvollen Stößen auf sie
zu. Als er das Ufer erreichte, stürzte sie sich auf ihn, warf sich ihm in die Arme und
klammerte sich an ihn, als wollte sie ihn nie wieder loslassen.
„Ich dachte, du wärst ertrunken", flüsterte sie. „Ich dachte, du wärst tot."
Jack schlang die Arme um sie. Schmiegte seinen Kopf an ihren. Keuchte atemlos.
„Ich dachte, du wärst tot", wiederholte sie, noch immer im Bann der schrecklichen Angst.
Dann tat sie das, was sie am meisten hasste. Sie fing an zu weinen. Tränen strömten ihr
über die Wangen.
„Ich dachte wirklich, du wärst ertrunken", schluchzte sie und klammerte sich noch fester
an ihn. Und verstand nicht, warum dieser Gedanke ihr fast das Herz zerriss.
„Pst..."
Sie küsste ihn. Küsste seinen Hals, sein Ohr, seine Wange. Ihre Finger schoben sich in sein
nasses Haar. Sie fand seinen Mund, seinen warmen, wundervollen, tröstenden Mund.
Ein sanftes Stöhnen entrang sich ihrer Kehle.
„Ich dachte, ich hätte dich verloren", murmelte sie an seinen Lippen und wusste, sie hatte
den dümmsten Fehler begangen, der überhaupt nur möglich war: Sie hatte sich in einen Mann
verliebt, der absolut der Falsche für sie war.
Fast hätte er sie verloren.
Als ihr leerer Kajak gegen ihn geworfen wurde, nachdem sein eigener gekentert war, war
er wie gelähmt gewesen, während schreckliche Bilder ihm durch den Kopf schossen: Brooke,
wie sie ertrank, gegen die Felsen geschmettert, ihr lebloser Körper ans Ufer geschwemmt
wurde. Dann hatte er in dem kalten, schäumenden Wasser hektisch nach ihr gesucht. Die
Vorstellung, ihr Leben aufs Spiel gesetzt zu haben, trieb ihn fast in den Wahnsinn.
Als er sie dann sicher am Ufer sah, war ihm vor Erleic hterung ganz flau geworden. Doch
er wollte zu ihr, sie in die Arme reißen. Sie anbrüllen, dass sie ihn zehn Jahre seines Lebens
gekostet habe.
Brooke zu küssen hatte er nicht vorgehabt. Doch konnte er weder seine Lippen noch die
Hände von ihr lassen. Sie streichelten, erkundeten, merkten sich jede Rundung ihres warmen,
weichen Körpers, bestätigten ihm mit jeder Liebkosung, dass sie lebte.
„Es tut mir so Leid", flüsterte sie leise. „So Leid. Ich hätte auf dich hören sollen. Ich war
noch nicht so weit. Ich hä tte nicht... Ich war... Ich habe versucht..."
„Es spielt keine Rolle." Wieder küsste er sie, hungrig, besitzergreifend. Sie schmiegte sich
an ihn. Sein Körper reagierte. Jack unterdrückte ein Stöhnen.
„Oh doch, Jack."
Sein Herz hämmerte wild, als er ihr Gesicht mit beiden Händen umfasste. „Nein, das
stimmt nicht. Wichtig ist nur, dass du lebst."
Sie nickte und lockerte den Griff um seine Schultern. Mit tränenschimmernden Augen
schaute sie das Ufer entlang hinüber zur Straße. „Cullen... ist uns gefolgt."
„Ja." Und warum, dafür musste er ihnen Rede und Antwort stehen. Aber nicht hier und
nicht jetzt. Sein Verlangen ebbte ab, und sein Verstand meldete sich wieder. Er musste
Brooke jetzt nach Hause, in Sicherheit bringen.
„Dann ist er derjenige, den wir suchen." Sie löste sich von ihm, ihre Augen blitzten
kampfeslustig. „Er muss es sein. Warum sonst sollte er uns gefolgt sein?"
„Zieh keine voreiligen Schlüsse."
Überzeugt schüttelte sie den Kopf. „Wir müssen ihm eine Falle stellen, ihn in die Enge
treiben, ihn zwingen zu handeln."
„Wir müssen die Situation analysieren. Wir können nicht einfach Anschuldigungen
erheben."
Sie nickte geistesabwesend. „Wir warten, bis er mit seinen Kunden unterwegs ist und
durchsuchen sein Haus."
„Das wäre ein Gesetzesverstoß."
„Ein Mordversuch ist das auch."
„Wir haben keinerlei Beweise."
„Er ist uns gefolgt."
Jack fluchte und fuhr sich mit der Hand durchs tropfnasse Haar. „Brooke..."
Sie blickte ihn mit großen Augen an, in denen ihre Gefühle offen zu lesen waren. Und
wieder lief er Gefahr, sich darin zu verlieren. „Du hättest sterben können, Jack. Du hättest
ertrinken können."
„Ich bin ein erfahrener Kajakfahrer. Ich war nicht eine Minute ernsthaft in Gefahr."
Das Leben hatte ihn mit harter Hand gelehrt, Gefühle zu verbergen. Und aufgrund dieser
Erfahrungen würde er die Empfindungen für Brooke unterdrücken müssen. Weil sie vielleicht
Recht hatte und ihre Liste der Verdächtigen gerade auf einen einzigen Namen
zusammengeschmolzen war.
Den eines Rabauken, der sich immer gern an Schwächeren abreagierte.
Und seine Schwäche waren jetzt seine Gefühle für Brooke. Sie machten ihn verwundbar.
Er benutzte immer denselben Kajak. Einen Kajak, den er sich gekauft und im Boothaus liegen
hatte, um jederzeit paddeln zu können. Cullen wusste davon und hätte in der Nacht den
Flicken lösen können.
Wer auch immer an seinem Boot herumgebastelt hatte, hatte hervorragende Arbeit
geleistet, denn ihm war nichts aufgefallen. Genauso wenig wie bei Alyssas Seil.
Damals in der ersten Klasse hatte er Cullen deutlich gesagt, er müsse es erst mit ihm
aufnehmen, ehe er seinen Ärger an ihr auslassen konnte. Wollte Cullen ihn wissen lassen,
dass er dazu bereit war?
11. KAPITEL

Als sie Alyssas Cottage erreichten, saß Lauren bereits auf der frisch reparierten Treppe und
wartete.
„Warum kommst du so spät?" fragte sie, und ihr Gesicht drückte Freude und Vorwurf
zugleich aus. Daisy fiepte und zerrte an der Leine, offenbar entschlossen, wieder ihre feuchten
Liebesbeweise zu verteilen.
„Wir hatten ein paar unvorhergesehene Probleme. Komm rein. Sind deine Eltern schon
unterwegs?"
„He, woher weißt du das?"
Brooke zwickte sie leicht in die Nase. „Zauberei."
Lauren erhob sich und holte hinter ihrem Rücken einen zerdrückten Muffin in einer
Serviette hervor. Sie hielt ihn Brooke hin.
„Für mich?" fragte Brooke lächelnd.
Lauren nickte. „Ich habe ihn aufbewahrt."
Brooke nahm den Muffin. „Mit Blaubeeren. Meine Lieblingssorte. Woher wusstest du
das?"
Lauren grinste breit. „Zauberei."
Jack schloss die Haustür auf und überprüfte die Räume. Brooke setzte unterdessen Lauren
mit einem Glas Saft und Malbüchern an den Küchentisch und begab sich in Alyssas
Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Jack kam wenig später herein, hielt aber auf Abstand. Ihr
fiel auf, wie angespannt er war, und sie konnte ein kleines, selbstzufriedenes Lächeln nicht
unterdrücken.
„Verlass das Haus nicht, ohne mir vorher Bescheid zu sagen", sagte er.
Sein Gesicht war ausdruckslos. Aber Brooke wusste nun um sein Geheimnis. Nach außen
hin mochte er seine Gefühle im Griff haben, aber sein Kuss, seine rastlosen Hände hatten ihr
gezeigt, was er für sie empfand. Emotionen machten ihm Angst. Und diese Angst, diese
Verletzlichkeit erweckte in ihr eine fast schmerzliche Zärtlichkeit für ihn. Wie gern würde sie
ihm beweisen, dass er nichts befürchten musste, wenn er sie in sein Herz blicken ließ.
Brooke beschloss, ihm Zeit zu lassen. Damit er sich selbst besser verstand. Er hätte sie
nicht so geküsst, wenn sie ihm nichts bedeutete. Der nächste Schritt musste jedoch von ihm
kommen. Außerdem stand Alyssa noch immer zwischen ihnen, bis das Geheimnis um ihren
Absturz gelöst war.
Im Augenblick reichte es ihr zu wissen, dass sie ihn so tief berührt hatte wie er sie.
„Ich hatte nicht vor, irgendwohin zu gehen."
Er nickte knapp. „Ich muss ein paar Anrufe erledigen."
„Ich bleibe hier." Sie lächelte.
Er runzelte die Stirn, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in Alyssas Zimmer.

Jack fluchte leise, während er in dem provisorischen Büro nach Papier suchte.
Wie konnte Alyssa nur so leben? Überall türmten sich Stapel, auf dem Schreibtisch, dem
Stuhl, dem Fußboden, dem Aktenschrank, unter dem Bettsofa, auf dem Regal – und alles
schien wild durcheinander zu liegen. Negative zwischen Abzügen, Quittungen zwischen
Bestellformularen, Bücher mit irgendwelchen Zetteln. Und ihr Wandkalender zeigte ein
Datum von vor drei Monaten. Wie fand sie hier überhaupt irgendetwas wieder?
Nach dem Schlaganfall ihres Vaters hatte er Stunden damit verbracht, mit ihr zusammen
Ordnung in den Papierkram zu bringen. Mittels farblich unterschiedlicher Aktendeckel sollte
sie ihre Aufgaben übersichtlich gestalten. Sie hatten den Schreibtisch aufgeräumt,
Ablagekörbe aufgestellt, um effizientes Arbeiten zu ermöglichen. Jack seufzte. Wie es aussah,
war alles umsonst gewesen.
Endlich entdeckte er einen Stoß Papier im Regal. Nachdem er sich auf dem Schreibtisch
Platz geschaffen hatte, begann er, zwei Listen zu erstellen. Eine mit den Erkenntnissen in
diesem Fall, die andere für Dinge, die erledigt werden mussten.
Freunde zu befragen, die zu Verdächtigen geworden waren, würde ihn nicht weiterführen.
Auch die Untersuchung der Absturzstelle hatte nichts ergeben. Das Seil hatte ihm gehört. Er
war dabei gewesen, als es passierte, hatte alles mit angesehen. Tatzeit, -ort und -waffe waren
ihm bekannt. Die Fingerabdrücke nützten ihm wenig. Jeder von ihnen hatte seine hinterlassen.
Er wusste nur, dass es ein Mordversuch gewesen war. Alyssas Worte und das makabre
Gedicht waren der Beweis.
Was ihm fehlte, war das Motiv.
Was ihn wieder zu seinen Verdächtigen brachte. Keiner hatte versucht zu fliehen. Keiner
hatte einen Fehler begangen – bislang.
Was konnte Alyssa getan haben? Was hatte sie gesehen? Was gehört?
Von draußen drang fröhliches Kichern herein. Jack stand auf und öffnete die Tür einen
Spalt. Um ein Auge auf sie zu haben, redete er sich ein.
Er warf einen Blick auf die andere Liste. Dann griff er zum Telefon. Zuerst würde er Rafe
Bates im Yachthafen von Comfort anrufen.
„Was meinst du, der Flicken hat sich gelöst? Ich habe das Ding selbst geklebt. Es hätte
einen Weltuntergang überstehen müssen!"
„Das hatte ich auch gedacht. Ich möchte, dass du es dir einmal ansiehst und mir deine
Meinung sagst."
„Wann kannst du hier sein?"
„Kurz nach Mittag."
„Ich bin gespannt."
Jack hörte Rafe fluchen, als er auflegte. Rafe war immer stolz auf seine Arbeit. Er
behandelte die Boote, die man in sein Geschäft brachte, meist mit mehr Sorgfalt als ihre
Besitzer. Wenn jemand in der Lage war herauszufinden, warum der Flicken sich gelöst hatte,
dann Rafe.
Jack hörte, wie Lauren und Alyssa miteinander sprachen. Er konnte zwar nicht genau
verstehen, was sie sagten, aber der Ton verriet, dass es eine warmherzige Unterhaltung war.
Er warf einen Blick zu ihnen hinüber. Die beiden saßen auf dem Wohnzimmerboden. Brooke
im Schneidersitz, Lauren auf den Fersen. Sie waren fleißig damit beschäftigt, Bilder aus
Katalogen auszuschneiden. Daisy lag lang ausgestreckt zwischen ihnen und schlief tief und
fest.
Das nächste Gespräch führte er mit George Stern, der die einzige Tankstelle mit Werkstatt
in Comfort betrieb. Mit ihm wollte er über Alyssas Bremsleitung sprechen.
„Also, das war ein glatter Schnitt, nichts anderes", erklärte George entschieden. „Nur
deswegen habe ich es ihr überhaupt gesagt. Du weißt, wie nachlässig Alyssa sein kann. Ihr
Jeep sieht aus, als hätte er den letzten Weltkrieg mitgemacht, dabei ist er erst ein paar Jahre
alt." Er lachte leise. „Ich sage immer, einige Leute sollten keinen Führerschein haben."
„Um auf die Bremsleitung zurückzukommen, George... Warum hast du mir nicht erzählt,
dass sie durchgeschnitten worden war?"
„Ehrlich gesagt, mir ist gar nicht ernsthaft der Gedanke gekommen, dass jemand das
absichtlich gemacht haben könnte. Ich meine, wenn ich wirklich den Verdacht gehabt hätte...
Sie ist ein liebes Mädel, das ist sie wirklich, und ich will doch nicht, dass ihr etwas passiert."
„George..."
„Sie meinte, sie wäre über unebenes Gelände gefahren, und dabei müsse es passiert sein.
Und ich sollte ihr versprechen, dir nichts von der Sache zu erzählen. Sie hatte Angst, du
würdest ihr auch die Leviten lesen, und ich hatte ihr doch gerade den Kopf gewaschen. Also
reparierte ich den Schaden."
„Hast du die Bremsleitung aufbewahrt?"
„Ja. Sie liegt noch hier."
„Heute Nachmittag sehe ich sie mir an."
Als er den Hörer auflegte, blickte Brooke auf und warf ihm ein strahlendes, unbeschwertes
Lächeln zu. Sein Herz schlug plötzlich schneller. Er drehte sich mit seinem Stuhl herum und
wandte sich wieder seinen Listen zu.
Nach einigen vergeblichen Versuchen erreichte er endlich Lieutenant O'Hara.
„Wie geht's Eddie?" fragte er. Eds Sohn hatte sich im letzten Herbst verirrt, und Jack hatte
den Jungen schließlich in einer tiefen, schmalen Felsspalte wieder gefunden. Eddie hatte sich
beim Sprung über den Spalt in der Entfernung verschätzt, war abgestürzt und hatte sich das
Bein gebrochen. Als Jack ihn barg, hatte er viel Blut verloren und litt an Unterkühlung. Ein
paar Tage lang stand das Leben des Jungen auf der Kippe.
„Das Bruch ist gut verheilt, Eddie läuft wieder wie vor dem Unfall." Es folgte eine Pause.
„Was kann ich für dich tun?"
„Ach, ich möchte nur wissen, was die Untersuchungen des Seils und der Karabinerhaken
ergeben haben."
„Sind noch immer im Labor."
„Wann rechnest du mit dem Bericht?"
„Gegen Ende Juli, vielleicht später. Kommt darauf an, wie schnell sie mit den
dringenderen Untersuchungen vorankommen."
Jack überlegte. Ein Unglücksfall wie bei Alyssa besaß keine Priorität. Es würde zu lange
dauern, bis die Ergebnisse vorlagen.
„Mit welchem Werkzeug könnte man das Seil so bearbeiten, dass es bei plötzlicher
Belastung reißt?"
Ed räusperte sich. „Die Stelle war ausgefranst, Jack. Alles deutet darauf hin, dass der Riss
des Seils natürliche Ursachen hatte."
„Du hast Recht, Ed." Jack trommelte mit dem Radiergummi an seinen Bleistift auf dem
Papierstapel herum. „Ich muss dich um einen Gefallen bitten."
„Sind neue Beweise aufgetaucht, von denen du mir noch nicht berichtet hast?" fragte Ed
zögernd.
Offenbar ahnte er, dass er sich Mehrarbeit einhandeln konnte. Papierkram war in jedem
Beruf ein Kreuz. Doch mehr als alles andere schätzte Ed die Wahrheit. Also baute Jack auf
seine moralischen Prinzipien.
„Einige Tage vor dem Absturz erhielt Alyssa Snowden einen Brief mit der Drohung, ihr
würden die Krochen gebrochen. Ich habe ihn ins Labor nach Concord geschickt, aber ich
wage kaum zu hoffen, dass er Fingerabdrücke hergibt."
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Jack wusste, um ein Ja von Ed zu bekommen,
durfte man ihn nicht drängen.
„Also gut." Ed stieß hörbar den Atem aus den Lungen. „Ich werde sehen, was ich tun
kann."
„Ich bin dir wirklich dankbar, Ed."
„Kann nichts versprechen, aber einer der Labortechniker schuldet mir etwas."
Nachdem er aufgelegt hatte, strich Jack Ed von seiner Liste und griff nach dem
Telefonbuch von Manchester, um Gary Dunning zu suchen, den Computerspezialisten, den
Alyssa wegen Trish hatte konsultieren wollen.
Laurens und Brookes Stimmen drangen wieder in sein Bewusstsein. Abermals richtete er
den Blick auf die beiden. Plötzlich wurde ihm klar, dass ihm die heimeligen Laute gefielen.
Frau und Kind im Haus zu haben... Es erschien ihm gar nicht mehr so abwegig, sich zu ihnen
zu setzen und so alberne Dinge zu tun wie Figuren aus Zeitschriften auszuschneiden,
getrockneten Klebstoff von den Fingern zu zupfen, Traubensaft aus Plastikbechern zu trinken.
Eine Erinnerung überschwemmte ihn. Da war seine Mutter. Eine Sandkiste. Ein gelber
Spielzeuglaster. Ein Bagger. Seine Mutter ahmte Motorengeräusche nach, während er selbst
den Bagger zum Laster bewegte und eine Ladung Sand hineinkippte. Die Füße seiner Mutter
waren nackt, ihre Jeans hochgerollt. Jetzt begleitete er geräuschvoll die nächste Fahrt des
Baggers, lachte schließlich. Sie stimmte fröhlich ein.
Wann war ihr Lachen verstummt?
Das Gespräch mit Gary brachte ihn auch nicht weiter. Ja, Alyssa hätte ihn angerufen, ihm
ein paar Fragen über seinen Betrieb gestellt und sich erkundigt, was eine Beratung koste.
„Wann war das?" fragte Jack.
„Vor ein paar Monaten. Sie hat gesagt, sie würde sich wieder melden, aber das war's dann
auch. Ich nehme an, ich war ihr zu teuer."
„Glauben Sie, sie wollte Sie für die Ferienanlage oder für ein anderes Projekt haben? Hat
sie jemand anderen erwähnt?"
„Es hörte sich mehr nach einer Privatangelegenheit an."
Jack bedankte sich und legte auf.
Wieder trommelte er mit dem Bleistift auf dem Papier herum, machte sich weitere Notizen,
dachte an das Bootsunglück heute Morgen, an Cullens Interesse an Brooke und wie
unvorbereitet sie darauf war, sich jemandem wie ihm gegenüber zu behaupten. Sie mochte
einen stahlharten Willen haben, aber gleichzeitig war sie zu vertrauensselig, zu offen,
emotional ohne Schwierigkeiten zu packen. Leute von Cullens Schlag, wenn sie Rache
wollten, hätten ein leichtes Spiel mit ihr.
Zögernd griff Jack zum Telefon, um Matt Brender anzurufen, einen Expolizisten, der sich
als Privatdetektiv selbstständig gemacht hatte. Er würde ihn auf Cullen ansetzen. Wenn er
während seiner Abwesenheit irgendetwas gegen Brooke vorhatte, würde Matt ihn davon
abhalten.

Jack kam ins Zimmer, als Brooke und Lauren gerade alles aufräumten. Sie hatten aus einem
leeren Kekskarton, den Brooke in der Speisekammer entdeckt hatte, eine Schatzkiste
gebastelt, Tiere und Blumen darauf geklebt, und als ersten Schatz den Rest von Daisys
Kauknochen darin untergebracht. Daisy streckte sich und gähnte, dann sprang sie auf und
raste mit wedelndem Schwanz auf Jack zu. Sie warf sich auf den Rücken, ließ sich von ihm
genüsslich den Bauch kraulen und grunzte dabei selig.
„Ich muss für ein paar Stunden fort", erklärte Jack mit ausdrucksloser Miene. Beim
Telefonieren hat er entspannter ausgesehen, fand Brooke. „Ich möchte dich bitten,
nirgendwohin zu gehen, bis ich zurück bin."
Sie stopfte die letzten Schnipsel in einen Papierkorb und drückte Lauren die Schere und die
Tube Klebstoff in die Hand. „Ich bringe Lauren in ein paar Minuten nach Hause."
„Das übernehme ich."
Brooke stand auf. „Es ist nicht weit von hier."
„Ich sagte, ich mache das."
Sie zog die Augenbrauen hoch. War irgendetwas geschehen, während er telefonierte?
„Was ist los?"
„Nichts. Ich möchte nur, dass du in Sicherheit bist."
Aufmerksam musterte sie sein Gesicht. Er wirkte erschöpft. Ständig auf sie aufzupassen
forderte langsam seinen Tribut, und sie wusste nicht, wie sie ihm seine Last erleichtern
konnte. „Okay. Ich suche schnell Daisys Leine, dann können die beiden losgehen."
„Ist Jack jetzt dein Boss?", wollte Lauren wissen, die ihr in die Küche folgte.
Brooke lachte. „Nein, ich lasse ihn nur glauben, dass er es ist!"
„Ich meine es ernst", sagte da Jack hinter ihr. „Ich möchte, dass du hier bleibst."
Sie schaute über die Schulter. „Ich weiß. Ich habe noch ein paar Sachen zu lesen. Mach dir
keine Sorgen um mich."
Fünf Minuten später war Daisys neongelbe Leine am Halsband befestigt, und die
Schatzkiste klemmte sicher unter Laurens Arm. So selbstverständlich, als hätte er es schon
hundert Mal getan, ergriff Jack die vertrauensvoll ausgestreckte Hand des Mädchens.
„Ich nehme AI... deinen Jeep. Um drei bin ich zurück", sagte er. „Wenn ich aufgehalten
werde, ruf ich an."
„Ich werde hier sein."
Sie sah ihnen nach, wie sie den Weg zum Ufer hinuntergingen: Mann, Kind und Hund. Er
war ein guter Mann. Übertrieben besorgt vielleicht, aber ein guter Mann. Irgendwann würde
er einen unglaublich guten Vater abgeben.
Brooke seufzte und trat vom Fenster zurück. Aber vielleicht war das alles auch eine
Illusion. Vielleicht hatte sie das Verlangen, die Hitze, die Verletzlichkeit in seinen Augen nur
gesehen, weil sie sie sehen wollte. Vielleicht sah sie gar nicht den Mann, der er war, sondern
den, den sie sich wünschte.
Brooke, Brooke, Brooke! Sie sah ihre Mutter vor sich, wie sie verständnislos den Kopf
schüttelte. Wie hast du dich nur in diese Lage gebracht?
„Ich weiß nicht, Mom", antwortete sie laut, als sie zur Küche ging. „Wahrscheinlich, weil
ich mich vor Gefühlen nicht verschließe."
Und egal, wie viele Male sie noch verletzt wurde, sie tat es immer und immer wieder.
Lernte sie denn niemals?
Brooke bereitete sich ein Sandwich und holte sich ein paar von Alyssas Tagebüchern vom
Dachboden. Dann machte sie es sich auf dem Zweisitzer gemütlich und las.
Je mehr sie erfuhr, umso stärker festigte sich ihr Eindruck, dass Alyssa Angst vor dem
Glücklichsein hatte. Als ob sie sich selbst bestrafen wollte, wenn ihr das Glück zu nahe kam.
Alyssa bestrafte sich, indem sie die Menschen verletzte, die ihr nahe standen. Brooke
hingegen versuchte alles, um zu gefallen. Alyssa suchte den Konflikt. Sie, Brooke, setzte auf
Harmonie.
Beide Strategien funktionierten nicht gut. Beide endeten in dem Gefühl, dass ihnen etwas
Wesentliches fehlte. Wäre das auch passiert, wenn sie einander gehabt hätten?
Während sie las, machte sich sich nebenher Notizen. Alyssa schrieb von Cullens biegsamer
Geschäftsethik, von einem pikanten Geheimnis bei Tim, von Trishs nervtötendem Bedürfnis,
immer besser sein zu wollen als sie, von Stephanies dummer Vernarrtheit in Cullen und von
Ricks – Trishs Bruder – hartnäckiger Vernarrtheit in sie, bevor er starb.
Und sie schrieb von Jack, vermittelte Brooke ein völlig neues Bild von dem Mann, für den
sie versuchte, nicht so viel zu empfinden.
Er war ein Mann, der Wort hielt. Gab er ein Versprechen, konnte man sich darauf
verlassen. Und langsam begann Brooke zu verstehen, warum Alyssa ihm ihre Ängste und
Befürchtungen nicht anvertraut hatte. Sie war emotional mehr auf ihn angewiesen, als Jack
sehr wahrscheinlich ahnte. Er war ihr Anker in einer Welt, die scheinbar hart und gemein zu
ihr war. Und wenn sie diesmal wirklich vorgehabt hatte, sich auf eigene Beine zu stellen,
hatte sie vielleicht versucht, diesem Mann gegenüber ihre Unabhängigkeit zu zeigen, um zu
sehen, ob sie es schaffte.
Genau, wie Brooke es auch gerade versuchte.
Vielleicht waren sie beide doch nicht so verschieden, wie sie gedacht hatte.
Ein Wagen hielt vor dem Haus. Trish stieg aus ihrem silbernen Trooper, einen mit Alufolie
abgedeckten Teller in der Hand.
„Ich habe einen Haufen Schokokekse gebacken und dachte, ich bringe dir einfach ein paar
vorbei", sagte sie, als Brooke die Tür öffnete. „Ich weiß doch, das sind deine Lieblingskekse."
„Das ist ja süß von dir."
Trish zuckte mit den Schultern. „Ehrlich gesagt, habe ich nur einen Grund gesucht
herzukommen. Ich wollte sehen, wie es dir geht."
Brooke bat sie herein. „Mir geht es großartig. Ich habe Eistee im Kühlschrank. Möchtest
du ein Glas?"
„Hast du Kaffee?"
Hatte sie? Wegen ihres Abenteuers heute Morgen hatte sie das Kaffeeritual ausfallen
lassen, aber sicher besaß Alyssa irgendwo in der Küche einen ausreichenden Vorrat. Die
Frage war nur, wo. „Sicher, ich koche schnell welche n."
Brooke füllte die Kaffeemaschine mit Wasser und suchte in den Schränken nach dem
Kaffee. „Was bringt dich mitten am Tag hierher?" fragte sie über die Schulter.
„Das ist das Gute, wenn man eine eigene Firma hat", antwortete Trish aus dem
Wohnzimmer, „man kann sich seine Arbeitszeit selbst einteilen. Außerdem musste ich einfach
einmal raus. Morgen ist Ricks Todestag, und Mom ist ganz verrückt vor Schmerz und
Verzweiflung. Sie weint sich noch die Augen aus. Ich habe sie ins Bett gebracht und
beschlossen, mich mit Süßigkeiten vollzustopfen."
„Das mit deiner Mutter tut mir Leid." Konnte Trish die Trauer ihrer Mutter nicht
aushalten? Erinnerte sie sie zu sehr an ihren eigenen Verlust?
„Das ist normal. Er war ihr Sohn."
„Du bist ihre Tochter."
Trish antwortete nicht, und Brooke fragte sich, was für ein Verhältnis Mutter und Tochter
wohl haben mochten.
„Während ich mich aufs Keksbacken stürzte, musste ich an dich denken. Du bist sicher
auch traurig", sagte Trish dann bekümmert. „Und da beschloss ich, dich zu besuchen, um zu
sehen, was du so treibst."
Das war nicht gut. Noch war Brooke in Alyssas Tagebüchern nicht sehr weit gekommen.
Sie wusste von Ricks Tod, von der Ursache. Aber sie wusste nicht, wie Alyssa für ihn
empfunden hatte, abgesehen von den wenigen Eintragungen über seine unerwünschten
romantischen Gefühle für sie. Aber Trishs Mitgefühl berührte sie.
Trish erschien in der Küchentür, als Brooke gerade eine ungeöffnete Dose Kaffee in der
Speisekammer entdeckte. „Du hast es nicht vergessen, stimmt's? Deswege n hast du auch in
die alten Tagebücher geschaut, oder?"
Brooke verfluchte stumm die Röte, die ihr in die Wangen schoss. Sie füllte Kaffee in den
Filter und schaltete die Kaffeemaschine ein, ehe sie sich zu Trish umdrehte. „Ich versuche
immer noch, alles wieder zusammenzubringen."
„Er liebte dich, weißt du."
Trish stand gegen den Rahmen gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, die Stirn
gerunzelt. Ein aufmerksamer Ausdruck lag in ihren blaugrauen Augen. Verhalte ich mich
nicht wie Alyssa?, dachte Brooke besorgt. Was ließ Trish möglicherweise misstrauisch
werden? Aber vielleicht versuchte Trish auch nur ihre eigenen Gefühle zu verbergen. Ihre
Augen waren gerötet. Vielleicht hatte sie zusammen mit ihrer Mutter geweint. Plötzlich
schämte sie sich für ihr Mis strauen.
„Ich weiß", sagte Brooke, schob die Hände in die Taschen ihrer Shorts und lehnte sich
gegen die Arbeitsplatte. „Es war auch für mich, als ob ein Familienmitglied stirbt. Ich habe
ihn gern gehabt."
„Er hätte nie versucht, Devil's Back zu besteigen, wenn du nicht gewesen wärst."
Die Anklage fuhr wie ein Messer in Brookes Herz. Sie riss unwillkürlich die Hände aus
den Taschen.
„Er hätte genau das getan, wozu er Lust hatte, und das weißt du auch!" Sie wunderte sich
über ihre heftige Reaktion. Hatte sie aus den Tagebüchern doch mehr über Rick
aufgenommen, als ihr bewusst war?
Trish lächelte wissend. „Dann erinnerst du dich also doch."
Dank dir, Alyssa, und dem Himmel sei gedankt, dass du Tagebuch geführt hast.
„Was weißt du noch?"
Brooke straffte die Schultern und starrte Trish geradewegs in die Augen. „Dass ich es nicht
mag, wenn man mich auf die Probe stellen oder mir Schuldgefühle einreden will, zum
Beispiel. Besonders nicht bei Dingen, für die ich nichts kann."
Trish lachte und fuhr sich mit den Fingern durchs lockere dunkelblonde Haar. „Du weißt,
ich habe mir Sorgen um dich gemacht, als ich von Jack erfuhr, dass du unter
Gedächtnisverlust leidest. Aber ich hätte es eigentlich besser wissen müssen. Dich macht
nichts nieder, oder?"
„Nein, nichts." Brooke schenkte Kaffee ein und reichte Trish den Becher.
Noch immer lächelnd, nahm Trish ihn ihr ab. „Gut. Ich könnte es auch nicht ertragen,
meine Lieblingsrivalin so kurz nach meinem Bruder zu verlieren."
Nach diesem Bekenntnis schien sich die Atmosphäre im Raum zu lockern. Sie unterhielten
sich wie richtige Freundinnen – über Rick, den Club, übers Leben im Allgemeinen. Sie aßen
Kekse und tranken Kaffee, und all das machte Brooke bewusst, wie sehr sie ihre Freundin
Crystal vermisste.
Erst als Trish gegangen war und Brooke nach einem der Tagebücher griff, bemerkte sie,
dass ihr Notizbuch fort war.
12. KAPITEL

Am nächsten Morgen brachte Brooke das Gespräch darauf, wie sie Cullen eine Falle stellen
sollten. Jacks lapidare Bemerkung, er habe alles unter Kontrolle, machte sie wütend. Die
kühle Distanziertheit, die er ihr gegenüber an den Tag legte, ärgerte sie maßlos. Sie stellte ihm
Fragen, aber ihr Drängen ließ ihn erst recht auf stur schalten.
Erst als sie zufällig einen Blick von ihm auffing, wurde ihr klar, dass er sich
zusammennahm. Sie sah das Feuer in seinen Augen und bekam weiche Knie. Doch schnell
wurde seine Miene wieder ausdruckslos. Obwohl es ihr schwer fiel, akzeptierte sie seinen
Wunsch nach Distanz.
Was allerdings nicht bedeutete, dass sie untätig herumhocken würde. Alyssa zu sein hatte
sie erfahren lassen, dass sie eine innere Stärke besaß, die sie nie erahnt hatte. Auch wenn sie
als Alyssa gezwungen war, zunehmend auf der Hut zu sein, empfand sie es als befreiend, so
viel mehr Wagemut zu besitzen.
Und sie wurde unruhiger, näherte sich offenbar tatsächlich dem Wesen ihrer
Zwillingsschwester an.
Jack war entschieden gegen ihren Vorschlag, zu Trish zu fahren und das Notizbuch
zurückzuholen. Aber Brooke gab die Idee nicht auf. Sie konnte immer noch den Teller
zurückbringen, und wenn Jack sie nur eine Minute lang allein lassen würde, würde sie sich
auf den Weg zu Trishs Haus am Maple Run machen.
Die Gelegenheit bot sich zwei Tage später, als Jack zu einem Rettungseinsatz bei der North
Bridge gerufen wurde. Sie wollte gerade losgehen, als Tim an der Tür erschien.
„Solltest du nicht bei dem Unglück an der Brücke sein?" fragte sie und versuchte, sich
ihren Unmut nicht anmerken zu lassen. Jede Minute war wichtig, denn sie wollte zurück sein,
bevor Jack wieder da war.
„Ich habe einen Reporter hingeschickt." Er schien sich unbehaglich zu fühlen. Sein Blick
wanderte unstet umher. Schaute er sich um, ob jemand in der Nähe war und ihn sehen konnte?
Wieso kam er ausgerechnet jetzt?
Sie war so überzeugt gewesen, dass Cullen der Gesuchte war, dass sie gar nicht an jemand
anderen gedacht hatte. Dann war nach Trishs Besuch ihr Notizbuch verschwunden. Und nun
tauchte Tim auf und druckste herum. Jetzt gab es wieder drei Verdächtige, und das
verbesserte ihre Laune nicht gerade.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Jack nicht da war, um sie zu beschützen. Hatte Tim sie
beobachtet, ungeduldig auf eine Chance gewartet zuzuschlagen? War er der Unbekannte, von
dem Alyssa sich ständig belauert gefühlt hatte?
„Kann ich hereinkommen?" Es kam fast barsch heraus.
„Ich wollte gerade gehen." Sie griff nach ihrer Handtasche. „Kann das nicht warten?"
„Nein ... das kann es nicht." Er mied ihren Blick. Verlagerte sein Gewicht von einem Fuß
auf den anderen. Räusperte sich. „Ich muss sie haben."
„Was musst du haben?"
„Komm, lass den Blödsinn, Alyssa. Wir wissen beide, dass diese Amnesie auch eins deiner
Spielchen ist." Er schüttelte den Kopf und sah sie mit halb zusammengekniffenen Augen an.
Sein sonst so jungenhaftes Gesicht wirkte auf einmal unge wohnt hart.
„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest."
Er rückte seine perfekt sitzende Brille zurecht. „Ich will die Negative."
„Welche Negative?"
Wieder blickte er sich verstohlen um. „Kann ich hereinkommen? Ich will das hier nicht vor
der Tür abhandeln."
Voller Ungeduld, weil sie aufgehalten wurde, seufzte Brooke nur stumm und öffnete die
Tür weiter. „Ich muss wirklich los."
Er kam herein. „Es wird nicht lange dauern." Er drehte sich zu ihr um. „Ich will die
Negative der Fotos, die du von dem Waldpfad hinter meinem Haus aus gemacht hast."
„Du musst schon etwas genauer werden." Sie behielt die Hand am Türknauf, für den Fall,
dass sie schnell hinausmusste. Ihr gefiel nicht, dass Tims Gesicht rot und fleckig wurde.
„Es macht dir Spaß, nicht wahr? Du genießt es, mich betteln zu sehen, stimmt's? Na schön,
du sollst deinen Willen haben. Ich bettele. Gib sie mir."
Es war etwas Jämmerliches daran, einen erwachsenen Mann zu Kreuze kriechen zu sehen.
Sie hatte bestimmt keinen Spaß daran und suchte einen Weg, die Spannung zwischen ihnen zu
mindern. „Okay, gehen wir in mein Büro und sehen wir meine Ordner durch."
Er wurde knallrot und räusperte sich.
„Aha, ich verstehe. Du hast dich schon selbst umgeschaut."
Tim blickte sie an, mit flehendem Ausdruck. „Ich musste es tun. Du warst im
Krankenhaus. Niemand hätte gedacht, dass du durchkommst. Ich durfte das Risiko nicht
eingehen, dass jemand anders sie findet." Er zog die Brauen hoch. „Du hast mir keine andere
Wahl gelassen."
„Wenn die Negative nicht bei den anderen sind, dann weiß ich nicht, so sie sein können."
„Dann lass uns woanders suchen. Wo versteckst du dein Erpressungsmaterial? Ich bin doch
bestimmt nicht der Einzige, dem du an der Gurgel sitzt."
„Mein Gedächtnisverlust ist nicht vorgetäuscht, Tim. Ich erinnere mich nicht."
Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, und er presste die Lippen zusammen. Man
musste kein Psychologe sein, um zu erkennen, wie tief seine Wut saß. Ein kalter Schauer lief
ihr über den Rücken. Wenn er ihr nun nicht glaubte? Würde er gewalttätig werden? Wie
konnte sie ihn beruhigen? Ihn dazu bringen, wieder zu verschwinden? Wie sollte sie aus
dieser Situation herauskommen?
„Ich weiß nicht, wo die Negative sind, Tim. Wenn ja, würde ich sie dir geben."
„Einfach so?" Er schnaubte ungläubig.
Verzweifelt versuchte Brooke, sich in Alyssa hineinzuversetzen. Wie würde ihre
Schwester mit ihm umgehen? Sie respektierte seine Arbeit und auch seine Kletterfähigkeiten,
aber sie hatte auch ein paar beißende Bemerkungen über seine wenig positiven menschlichen
Eigenschaften gemacht. Und vor ihr stand der Mensch, nicht der Journalist, nicht der Sportler.
„Warum nicht?" fragte Brooke und weihte ihn in Alyssas Pläne ein, um sich zu schützen.
„Ich habe keine Lust mehr, hierzubleiben. Ich will hier raus. Aber vorher mache ich reinen
Tisch. Ich lasse keine schlechten Erinnerungen zurück. Ich hatte vor, alles wieder in Ordnung
zu bringen."
„Wer's glaubt, wird selig."
„Es ist die Wahrheit."
„Mit der Wahrheit kenne ich mich aus – es ist mein Job. Ich erkenne sie, wenn ich sie
sehe." Tim verzog verächtlich den Mund und schüttelte den Kopf. „Fantastereien sind etwas
anderes. Du wirst niemals von hier fortgehen, weil du es einfach nicht bringst. Du brauchst
Jack, um zu funktionieren, und die Anerkennung deines Vaters so sehr, dass du einem nur
Leid tun kannst. Du wirst immer eine Provinzlerin bleiben. Du hast nicht den Mumm, aus
deinen Talenten etwas zu machen."
Sie schluckte ihren Groll herunter. Alles andere würde die Situation nur verschlimmern.
„Worum machst du dir dann Sorgen? Wenn ich so feige bin, warum sollte ich dann diese
verdammten Negative gegen dich einsetzen?"
„Aus Rache. In der letzten Zeit bist du eine regelrechte Hexe gewesen. Du sagst, du willst
alles wieder in Ordnung bringen. Also, mir kommt es eher so vor, dass du darauf aus bist,
alles und jeden kaputtzumachen, der dich je gemocht hat." Er fuhr sich mit den Händen
durchs Haar. „Die Auszeichnungen, Alyssa. Diese Bilder dürfen nicht auftauchen, jetzt, wo
sie so dicht bevorstehen. Sie würden alles ruinieren. Nicht nur für mich, sondern auch für
meine Mitarbeiter. Verstehst du das nicht? Sie haben so hart gearbeitet, und ich will nicht,
dass ihre Anerkennung von etwas so Kleingeistigem wie der Veröffentlichung
kompromittierender Fotos überschattet wird."
„Was genau tust du auf diesen Bildern?"
„Nichts", erwiderte er zu schnell und schaute zur Seite.
„Warum machst du dir dann solche Sorgen?"
Als er sie wieder anblickte, stand Traurigkeit in seinen Augen. „Weil ich gern hier lebe und
nicht fortgehen möchte."
Sie überdachte seine Antwort, dann nickte sie. „Und wenn ich dir verspreche, keinen
Gebrauch von den Negativen zu machen?"
Tim musterte sie eine Weile mit seinen blassblauen Augen. „Es fällt mir schwer, dir zu
glauben. Aber mir bleibt wohl keine andere Wahl." Er hastete an ihr vorbei durch die immer
noch offene Tür. Unten an der Treppe blieb er stehen. „Was immer du auch vorhast, Alyssa,
bitte zeig diese Bilder nicht vor der Verleihung. Nicht meinetwegen, sondern um meiner
Mitarbeiter willen."
„Ich verspreche es." Sie hielt sich an der Tür fest und hätte am liebsten geweint. Erpresste
Alyssa ihren Freund wirklich mit diesen Negativen? Warum? Was versprach sie sich davon?
Es kam ihr vor wie ein grausames Spiel, und sie wollte daran nicht teilhaben.

Brooke hatte keine Mühe, Trishs Haus zu finden. Das kleine viktorianische Gebäude stand auf
einem ausgedehnten Anwesen. Von drei Seiten war es durch Ahornbäume, Birken und Eichen
von den Nachbargrundstücken abgeschirmt. Bevor sie losgefahren war, hatte sie noch bei
Trish angerufen, aber niemand hatte abgenommen. Dennoch war sie erleichtert, als sie den
silbernen Trooper nicht auf der Auffahrt stehen sah. Brooke fuhr zweimal um den Block und
parkte dann um die Ecke an der Cemetery Street. Den Keksteller in der Hand, für den Fall der
Fälle, klingelte sie an der Haustür. Als niemand öffnete, drehte sie den Knauf. Die Tür war
unverschlossen. Sie holte tief Luft und ging hinein, als würde sie erwartet.
Alle Vorhänge waren vorgezogen, so dass im Wohnzimmer diffuses Dämmerlicht
herrschte. In der Luft hing der Duft nach Äpfeln und Zimt, und doch roch es seltsam stickig.
Die Einrichtung bestand aus dänischen Teakmöbeln mit schlichten, klaren Linien. Der
Teppich war sandbeige. Die wenigen Drucke an den Wänden waren
Schwarzweißzeichnungen mit neutralen Rahmen. Und der Raum war makellos sauber und
aufgeräumt – wie ein Ausstellungsraum, den niemand bewohnte.
Die Küche, das Arbeitszimmer und die beiden Schlafzimmer waren ähnlich steril und
farblos eingerichtet. Selbst das Büro war perfekt aufgeräumt. Computer standen auf zwei
Tischen, geometrische Muster wirbelten über die Bildschirme.
Das einzig Auffällige im Raum waren Zeitungsausschnitte über den Tod von Trishs
Bruder, die an der Wand hingen. Eins davon zeigte einen lächelnden jungen Mann mit
humorvollen Augen. Er glich Trish ungemein. Sie hätten durchaus als Zwillinge durchgehen
können.
Brooke begann eine systematische Durchsuchung des Büros. Sorgfältig legte sie alles
wieder an seinen Platz, wenn sie fertig war.
Sie hatte die Hälfte der Schubladen des ersten Schreibtisches durchsucht, als ihr etwas ins
Auge fiel. Ein Stück farbiges Papier, das ein Logo aus drei großen Buchstaben, RTC, aufwies
und aus einer schmalen Mappe hervorlugte . Als sie danach greifen wollte, spürte sie, sie war
nicht länger allein im Raum. Sie beherrschte sich, schob ruhig die Schublade wieder zu und
drehte sich langsam um. Trish stand da und starrte sie kalt an.
„Was tust du hier?"
Brooke schluckte. Es gab einfach keine glaubwürdige Ausrede für ihre Anwesenheit. Die
Wahrheit war ihre einzige Waffe. „Ich suche nach meinem Notizbuch, das du vorgestern hast
mitgehen lassen."
Trish wirkte völlig unbeeindruckt. „Warum sollte ich das tun?"
„Keine Ahnung. Sag du es mir."
„Du bist diejenige, die den Menschen etwas nimmt, Alyssa. Nicht ich. Im Gegensatz zu dir
kümmere ich mich nur um meine eigenen Angelegenheiten."
Der Hieb saß. Wie weit ging diese Abneigung? Brooke zuckte mit den Schultern, als wäre
ihr der Anwurf egal, aber sie verspürte einen dumpfen Druck im Magen. „Du warst vor drei
Tagen bei mir, und nachdem du fort warst, habe ich mein Notizbuch vermisst. Was sollte ich
sonst denken?"
„Dass du es vielleicht verlegt hast. Es wäre nicht das erste Mal, dass du dein Gehirn im
einen Raum und deinen Körper in einem anderen gelassen hast."
„Ich habe überall gesucht."
„Hast du es hier gefunden?"
Brooke senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Nein."
Trish machte ein Gesicht wie ein verletztes kleines Mädchen. Sie streckte den Arm aus und
wies den Flur entlang zur Haustür. „Verschwinde. Du bist hier nicht willkommen."
Brooke ging mit dem Gefühl, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben. Voller
Mitleid war Trish am Todestag ihres Bruders zu ihr gekommen, und sie lohnte es ihr nun
damit, dass sie sie verdächtigte und in ihrer Privatsphäre herumschnüffelte.
Zu Hause nahm sie ihre Suche wieder auf, durchblätterte Alyssas Tagebücher, schaute
unter der Lampe nach, hinter den Vorhängen, unter den Sofakissen. Schließlich schob sie ihre
Hand unters Sofa. Sie ertastete etwas Flaches, Festes. Sie zog es hervor.
Ihr Magen sank in ungeahnte Tiefen.
Es war ihr Notizbuch, voller Staubmäuse.

Irgendjemand beobachtete sie. Als er auf das Büro zuging, suchte Jack mit Blicken
unauffällig die nähere Umgebung ab, jeden Schatten, jede Ecke. Er sah niemanden, aber dass
unbehagliche Gefühl blieb.
Er wünschte, Brooke wäre zufrieden damit, im Haus zu bleiben. Ihr Bedürfnis nach
Bewegungsfreiheit machte ihm seine Arbeit noch schwerer. Doch sie behauptete, sich zu
langweilen, und beharrte deshalb darauf, bei ihrem Vater vorbeizuschauen, bevor sie am
Morgen ins Büro ging.
Jack unterstellte ihr keine Absicht. Sie wollte ihm sicher nicht zur Last fallen, aber ihre
Aktivitäten waren nicht gerade dazu angetan, die Verdächtigen in Sicherheit zu wiegen, damit
sie einen Fehler begingen.
Und dann war da noch Walter. Sie sprach mit ihm, als läge er ihr am Herzen, als mache ihr
sein Desinteresse nichts aus. Jack hatte die Verwunderung in Walters Augen bemerkt und sich
gefragt, wann Brookes Vater anfangen würde, Frage n zu stellen.
Brooke bemerkte anscheinend auch nicht, dass Alyssas verändertes Verhalten langsam
sogar den Mitarbeitern der Ferienanlage auffiel.
Sie hielt sich ständig im Büro auf. Was stellte sie nicht alles an, damit Besucher sich bei
ihr wohl fühlten, besonders Kinder, die zunehmend gern vorbeischauten, weil sie immer tolle
Ideen für ein neues Spiel parat hatte. Ihren Papierkram erledigte sie viel zu schnell und
effektiv. Noch schlimmer, sie benahm sich, als wäre sie hier geboren, kümmerte sich um die
täglich anfallenden Arbeiten und Probleme mit der gleichen Tüchtigkeit, immer dieses warme
Lächeln auf dem Gesicht.
Jack öffnete die Bürotür. Brooke saß am Computer und tippte fleißig.
„Mittagspause!"
Sie schrieb ihren Satz zu Ende, lächelte aber erfreut. Dann räumte sie mit wenigen
Handgriffen ihren Schreibtisch auf und pfiff dabei. Allmählich lief die Sache aus dem Ruder.
Ihm gefielen die Momente besser, wenn sie es schaffte, sich wie Alyssa zu benehmen. Das
war sicherer. Für ihn selbst. Dann vergaß er nicht so leicht, dass sie eigentlich nur eine Rolle
in einem Täuschungsmanöver spielte.
Beim Hinausgehen rief sie Franny zu, dass sie bald wieder da sei.

Jack schob die Hände in die Taschen seiner Shorts. Vom Wasser und dem Tennisplatz klang
das fröhliche Kreischen von Kindern herüber. Unterwegs kamen ihnen Feriengäste
entgegengeschlendert, die auf dem Weg zum Strand oder dem kleinen Souvenirladen waren.
Die ganze entspannte Atmosphäre ging ihm langsam auf die Nerven, auch wenn er nicht
wusste, warum.
„Hör auf, bei der Arbeit zu pfeifen", knurrte er, und es klang gereizter, als er es gewollt
hatte.
Ihr Kopf ruckte herum. Ihr Lächeln verblasste. „Was?"
„ Du sollst bei der Arbeit nicht so fröhlich pfeifen." Er runzelte die Stirn, wünschte sich ihr
Lächeln zurück. „Alyssa würde das nie tun. Sie murrt und schimpft."
„Oh."
„Und schwing nicht die Hüften." Jeder Schwung dieser hellroten Shorts heizte sein
Verlangen an, das besser unbefriedigt blieb.
Sie schaute an sich herab. „Wie bitte?"
„Alyssa geht wie jemand, der in den Krieg marschiert."
„Und ich nicht?"
„Nein", grummelte er.
Sie verzog leicht die Lippen. „Verstehe."
Jack presste die Zähne zusammen. „Und hör endlich auf, so verdammt fröhlich zu sein."
„Die Feriengäste mögen es."
„Aber es erregt viel zu sehr Frannys und Walters Neugier."
Tief im Innern wünschte er sich, dass er ihr sonniges Lächeln noch viel öfter zu sehen
bekäme, es genießen könnte. Und das ärgerte ihn ebenso so sehr wie die Tatsache, dass er
einfach nicht weiterkam in diesem Fall.
Er wusste nun mit Bestimmtheit, dass jemand sich an seinem Kajak zu schaffen gemacht
hatte. Aber leider konnte Rafe ihm nicht sagen, welches Werkzeug dafür benutzt worden war.
Jeder hätte es gewesen sein können. Auch die Untersuchung der Bremsleitung bei George
hatte ihn nicht weitergebracht. Sicher war nur, dass sie absichtlich durchtrennt worden war.
Bislang benahm sich Cullen wie Cullen, und Matt, der Privatdetektiv, hatte absolut nichts
Verdächtiges oder Ungewöhnliches zu berichten. Von Ed hatte er bislang auch kein Wort
gehört. Er würde ihm noch ein paar Tage geben.
Jack hatte immer noch das Gefühl, alles lief auf das Seil hinaus. Sein Seil.
„Und habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich von Trish fernhalten? " Als er von Matt über
Brookes Eindringen in Trishs Haus hörte, hätte er sie am liebsten eigenhändig erwürgt.
„Wer hat dir erzählt, dass ich dort war und mit ihr gesprochen habe?"
Sie versuchte, sich nonchalant zu geben, aber ihre Augen verrieten sie. Es war eine gewisse
Befriedigung für ihn, dass sie ihn nicht anlügen konnte.
„Ich habe überall meine Spione." Bei seinem Job war Kleinstadttratsch ein echter Vorteil.
Selbst wenn Matt Brooke nicht zu Trishs Haus gefolgt wäre, hätte er durch Mrs. Hastings von
Brookes Besuch erfahren. „Was ist geschehen?"
„Hat dir das dein Spion nicht verraten?" stichelte sie.
„Mrs. Hastings kann nicht durch Wände sehen."
Sie nickte und hakte sich bei ihm ein. Es war eine so natürliche Geste, dass er kurz aus
dem Tritt geriet. „Aha, die Nachbarin von gegenüber. Also, Trish erwischte mich und schickte
mich nach Hause. Ende der Geschichte."
„Es hätte auch ebenso gut dein Ende sein können", erinnerte er sie.
„Ich habe das Notizbuch gefunden. Cullen ..."
„Ist nur einer von vier Verdächtigen."
„Aber..."
„Aber nichts. Ich versuche, deine Sicherheit zu garantieren. Das kann ich nicht, wenn ich
nicht weiß, wo du gerade bist oder was du vorhast. Du musst den Schein wahren." Er runzelte
die Stirn. „Du musst Alyssa sein."
„Oh." Sie warf ihm wieder dieses geheimnisvolle halbe Lächeln zu und löste damit einen
wahren Gefühlssturm in ihm aus.
„Und sieh mich nicht so an."
Während Alyssas Augen traurig und kühl blickten, erweckten Brookes Verlangen und
Sehnsucht in ihm, weil sie Wärme und Verletzlichkeit bargen. Eine Sehnsucht, die allmählich
zu Marter wurde. Jede Nacht war es die reinste Qual, auf der anderen Wandseite ihr Bettzeug
rascheln zu hören, sich vorzustellen, wie sich das Laken um ihre langen Beine wand. Und er
stellte sich bildhaft vor, wie er ihr die Rastlosigkeit nahm, indem er sie langsam und ausgiebig
liebte. Danach würden sie erfüllt und befriedigt in den Armen des anderen einschlafen...
Sie hatten das Cottage erreicht, und Jack stöhnte stumm, als sein Körper spontan und heftig
auf seine Fantasien reagierte. Er wollte aufschließen, doch zu seiner Überraschung war nicht
abgesperrt.
„Ich habe dir doch schon tausendmal gesagt, du sollst die Tür abschließen, bevor du
weggehst", fuhr er Brooke an.
„Du warst der Letzte, der das Haus verlassen hat, Schlauberger." Sie lachte und hauchte
ihm im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange. Muss das sein? grollte er stumm. Ohne dass
sie es darauf anlegte, weckte sie Gefühle in ihm, die er nicht haben wollte.
„Was willst du zu Mittag?" fragte sie, als sie ihre Handtasche auf die Arbeitsfläche stellte.
„Aber bitte etwas Einfaches. Meine Kochkenntnisse sind ziemlich beschränkt, um es gelinde
auszudrücken."
Ich will dich – in jeder Stellung, die du mir anbietest. Auf dem Küchentisch. Gegen den
Tresen gelehnt. Auf dem Fußboden. Jack räusperte sich. „Ein Sandwich wäre nicht schlecht."
Egal, wie gut sie hierher passte, sie würde in weniger als einer Woche nach Kalifornien
zurückgehen. Er hatte sein Leben hier in Comfort. Er wollte nichts anderes sein als ein
Kleinstadtcop. Er hatte noch nie den Fehler begangen, Fantasien mit der Wirklichkeit zu
verwechseln. Und er würde auch jetzt nicht damit anfangen.
Als er die Haustür schloss, war er wieder sicher, dass jemand sie beobachtete.
Unwillkürlich richteten sich ihm die Nackenhärchen auf. Die Gefahr rückte näher.

Stephanie ha tte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag nach der Arbeit im Cottage
vorbeizuschauen. Jack verdrückte sich dann schnell in Alyssas Büro. Er entschuldigte sich mit
dringender Arbeit. Brooke wünschte, sie wüsste, welche Fährte er verfolgte, wünschte, er
würde offener über seinen Verdacht sprechen, über die Resultate seiner Ermittlungen. Auch
wenn sie die letzten Abende zusammen verbracht hatten, Trivial Pursuit spielten, Monopoly
oder Scrabble, ihre Unterhaltung bewegte sich streng auf sicherem Terrain und wurde von
Themen wie Wetter, Sport oder der Ferienanlage bestimmt.
Brooke war gern mit Stephanie zusammen. Stephanie hatte ziemlich respektlose Ansichten
über das Leben, gar nicht zu reden von dem täglichen Tratsch, der Brooke einen guten
Überblick über das Leben in Comfort verschaffte. Sie unterhielten sich niemals über den
Unfall oder ihre Amnesie, und trotzdem war etwas an Stephanie, das Brooke auf der Hut sein
ließ. So ganz konnte sie sich in ihrer Gegenwart nie entspannen. Durfte sie ihr trauen? Womit
erpresste Alyssa Stephanie?
Nachdem Jack die Bürotür hinter sich geschlossen hatte, beugte Stephanie sich vor. Ihre
braunen Augen funkelten verschmitzt.
„Wie hast du es nur geschafft, Jack zur Hochzeit zu überreden?"
Darüber wollte Brooke nicht so gern sprechen. Sie versuchte, ihr Erröten zu verbergen,
indem sie aufstand und das Fenster öffnete, während sie sich fieberhaft das Gehirn darüber
zermarterte, was sie antworten sollte. Draußen lachten Kinder in der warmen
Nachmittagsbrise. Das warnende Keckem eines Eichelhähers drang von einer nahen Fichte
herüber. Brooke atmete tief den würzigen Duft nach Wald und See ein. Etwas entspannter
drehte sie sich wieder zu Stephanie um.
„Der Unfall hat uns beide ein wenig auf den Boden der Realität zurückgebracht." Sie gab
sich lässig und zuckte mit den Schultern.
Stephanie runzelte die Stirn, als sie ihr Glas mit Eistee nahm. „Du bist irgendwie
verändert."
Brooke versuchte, ihre plötzliche Verunsicherung mit einem Lächeln zu überspielen. „Zum
Guten oder Schlechten?"
Stephanie trank einen Schluck Tee. „Ich weiß nicht. Du bist einfach ... anders."
„Vielleicht werde ich mit dem Alter weicher." Brooke lachte kurz und humorlos auf. „Oder
aber der Schlag gegen meinen Schädel hat mir eine völlig neue Sichtweise eröffnet."
„Ja ...", meinte Stephanie nachdenklich. „Vielleicht ist es so."
„Was ist mit dir?" lenkte Brooke von sich ab. „Warum bist du immer noch hinter Cullen
her, obwohl du weißt, dass das Ganze keine Zukunft hat?"
„Ich bin nicht dumm." Stephanie warf ihren Pferdeschwanz schwungvoll über die Schulter.
„Von ihm kann ich niemals das bekommen, was ich mir wünsche. Aber im Moment ist er
ausgesprochen aufmerksam, was mich betrifft, und das kann ich zurzeit gut gebrauchen."
„Es gibt bestimmt jemand Besseren."
„Hier?" Stephanie schnaubte abfällig. „Du machst Witze!"
Brooke tippte mit den Fingernägeln gegen ihre Zähne. „Gestern habe ich im Büro
jemanden kennengelernt, der dir bestimmt gefallen würde."
Stephanie schüttelte den Kopf, schnitt eine Grimasse und winkte ab. „Du weißt doch, mit
Feriengästen fange ich nichts an. Das ist nicht das, was ich will."
„Wäre es wirklich so schlecht?"
„Ich weiß, du willst fort von hier, Alyssa. Aber ich möchte bleiben. Auch wenn ich noch so
sehr über meine Familie fluche und stöhne, ich könnte einfach nicht von hier fortgehen."
„Das kann ich dir nicht verdenken." Alyssa hatte über Stephanies enge Familienbindung –
und ihren Neid darüber – geschrieben.
Brooke musste daran denken, wie sie und Alyssa in ihrer frühen Kindheit noch mit den
Eltern zusammen gelacht hatten. Und ihr ging der Gedanke durch den Kopf, was wohl aus
ihnen geworden wäre, wäre die Familie zusammengeblieben. Als sie heranwuchs, hatte sie
sich immer nach einem solchen familiären Aufgehobensein gesehnt. „Aber es schränkt deine
Möglichkeiten ein."
Stephanie seufzte und rührte ihren Tee um. „Das ist eine traurige Tatsache meines Lebens,
an der ich nichts ändern kann. Meine biologische Uhr tickt laut. Ich werde nicht jünger.
Cullen ist vielleicht meine letzte Chance."
„Was ist mit Tim?"
„Tim?" Sie rümpfte die Nase. „Er ist so romantisch wie ein Stein. Cullen ist trotz all seiner
Fehler wenigstens leidenschaftlich."
„Aber vielleicht sind Beständigkeit und Verlässlichkeit auf lange Sicht besser als
Leidenschaft, die aufflammt und gleich wieder verlöscht."
„Vielleicht aber auch nicht." Stephanie zuckte mit den Schultern, sprang auf, stellte ihr
Glas beiseite und griff nach ihrer Handtasche, die sie neben der Tischlampe abgelegt hatte, als
sie kam. „Ach, übrigens ... ich hab dir einen neue n Kranz für deine Tür mitgebracht. Deiner
beginnt langsam auszubleichen." Sie zog ein Gebinde aus Rainfarn, blauem und weißem
Schleierkraut und Goldrute hervor. „Es sind meine letzten Goldruten diesen Sommer."
Nachdem Stephanie den alten Kranz aus Rosen und Kräutern abgenommen hatte, hängte
sie den neuen vorsichtig an die Tür.
„Er ist wunderschön! Wie hast du neben deinem Job bloß noch die Zeit dazu, solche
Sachen zu machen?" rief Brooke begeistert.
Stephanie trat zurück, warf ihren Pferdeschwanz in den Nacken und rückte ihr Werk ein
wenig zurecht. „Das hält mich davon ab, zu lange und zu tief in das Loch des Selbstmitleids
zu fallen."
„Verkaufst du diese Kränze auch?"
Stephanie zuckte mit den Schultern und bedachte sie mit einem seltsamen Blick. „Du weißt
doch, ich mache sie nur für Freunde und für Moms Kirche."
„Das muss ich vergessen haben. Mein Gehirn kommt mir manchmal immer noch wie ein
Schweizer Käse vor. Auf Kunsthandwerkermessen würdest du mit diesen Arbeiten bestimmt
Erfolg haben."
Stephanie sah sie mit ungewohnter Schüchternheit an. „Meinst du wirklich?"
„Ich weiß es!"
„Du hast dich tatsächlich geändert." Stephanie lächelte. „Aber es gefällt mir."
„Das freut mich", sagte Brooke. Sie meinte es ernst.

Alyssa hatte sich nicht geändert. Sie würde sich niemals ändern. Dies war nur ein neues Spiel.
Sie machte ihr Ding, als hätten andere Menschen keine Gefühle. Aber vielleicht war gerade
das ihr Vergnügen, andere zu reizen, zu quälen, zu sehen, wie weit sie sie triezen konnte,
bevor ihre Opfer zusammenbrachen.
Die Zeit für das große Finale war gekommen. Die beiden waren wieder auf dem Wasser,
genossen die morgendliche Ruhe, bevor die Anlage zum Leben erwachte. Ein Seetaucher
stieß einen schrillen Warnschrei aus. Sie bemerkten ihn nicht einmal. Sie schienen sich sehr
miteinander zu amüsieren. Dabei sollten sie sich besser Sorgen machen.
Noch eine kleine Änderung, und die Überraschung wäre komplett. Das Ventil öffnen und
die Zeitschaltuhr auf Mitternacht stellen. Hexenstunde. Stunde der Wahrheit. Stunde der
Rache.
„Gute Nacht, Prinzessin. Schlaf schön."
Comfort würde das Feuerwerk nicht so schnell wieder vergessen.
13. KAPITEL

Der Albtraum war zurückgekehrt. Die düsteren Gestalten schlichen sich in seinen Schlaf, bis
er am Rand eines tiefen schwarzen Abgrunds balancierte. Scharfe Felskanten schnitten in
seine nackten Füße. Er versuchte, aus dem wabernden Nebel zu kommen, sich umzudrehen
und an das Seil zu klammern, das seine Rettung war. Plötzlich löste es sich unter seinen
Händen auf, und er schwankte hilflos über dem wirbelnden, unkontrollierbaren Chaos.
Nur durch seine reine Willenskraft konnte er den Absturz verhindern, während er sie
wieder fallen sah: erst seine Mutter, dann Alyssa, dann Brooke, sie taumelten hinab in den
Abgrund, wurden von der Dunkelheit verschluckt. Er bekam sie nicht zu fassen, konnte nichts
tun, sie nicht retten. Er begann zu klettern, hielt sich an den kleinen Spalten und Vorsprüngen
des Felsens fest, während eisiger Wind und kalte Regenschauer wütend auf ihn einprügelten.
Ein lautes Krachen hallte von der Felswand wider. Er blickte nach oben. Eine dunkle
Gestalt stand dort am Felsabbruch, ließ ein Tau herabbaumeln, gerade noch außer Jacks
Reichweite. Gelächter, kalt und abscheulich, das der Wind herantrieb, lockerte Jacks Griff.
Dann begann das Fallen wieder, als die Gestalt Menschen, die Jack liebte, nacheinander in
den Abgrund stieß. Nein! Ihm wurde schrecklich übel. Aufhören! Stopp!
Er streckte die Hand aus, versuchte die Fallenden zu packen, eine Hand, einen Ärmel,
irgendetwas, das diesem sinnlosen Töten ein Ende bereitete. Er bekam etwas zwischen die
Finger, etwas, das ihm den Arm hochriss und daran zog. Dann fiel auch er. Hinunter in die
dunkle, endlose Tiefe.
Jack erwachte von einem gewaltigen Donnerschlag. Regen fegte durch das offene Fenster
hinein auf das Fußende seines Betts. Ein rascher Blick zum Funkwecker auf dem Nachttisch
zeigte ihm, es war gerade erst elf Uhr – nicht einmal eine Stunde her, dass er schlafen
gegangen war. Er stand auf und schloss das Fenster. Ein Schwall kalter Luft ließ ihn frösteln.
Beim nächsten herabzuckenden Blitz sah er sein Spiegelbild im Glas.
Verzerrt.
Gequält.
Sie hatten darauf gebaut, dass er sie beschützte. Er hatte sie beide im Stich gelassen.
Und nun war da Brooke.
Sie war das nächste Opfer, sein Albtraum kam ihm vor wie die Warnung vor einem bösen
Ende.
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, versuchte, die Bilder zu vertreiben. Aber sie
würden immer da sein, solange er nicht eine Antwort auf seine Fragen erhielt. Bis er ganz
sicher sein konnte, dass Brooke nichts geschehen würde.
Noch drei Tage, dann würde er sie nach Hause schicken.
Um sich abzulenken, beschloss er, auch die anderen Fenster zu überprüfen. Er zog sich die
Jeans über und begab sich auf seinen Rundgang.
In der Küche blubberte ein Wasserkessel vor sich hin. Brooke stand vor dem Herd, in
einem von Alyssas weiten T-Shirts, eine weiße Strickjacke darüber. Aus dem offen stehenden
Kühlschrank fiel Licht auf sie, in dem sie fast unwirklich zu erglühen schien.
Sie war ein Engel.
Jack schüttelte den Kopf und vertrieb den Gedanken. Seit ihrer Ankunft hatte sie ihm nur
Ärger bereitet. Drei Tage noch, dann würde er sie nach Hause schicken. Drei Tage noch, dann
endete seine Verantwortung für sie. Er schluckte und empfand Bedauern.
Das Licht eines grellen Blitzes zuckte durch den Raum. Donner krachte … Brooke fuhr
zusammen, keuchte erschrocken auf. Die Kühlschrankbeleuchtung flackerte einmal kurz,
dann erstarb sie.
„Warte. Ich hole eine Taschenlampe." Er wusste, sie mochte die Dunkelheit nicht, fühlte
sich nicht von ihr getröstet wie Alyssa.
„Jack?"
„Hast du jemand anderen erwartet?" Er tastete nach der Schublade, berührte mit der Hand
ihre Hüfte und fühlte Erregung in sich hochschießen.
„Ich dachte, du schläfst." Ihre Stimme schwankte leicht. Am liebsten hätte er sie in die
Arme gezogen und ihr die Angst fortgeküsst.
„Das Gewitter hat mich geweckt." Heute Nacht würde er nicht mehr schlafen, nicht unter
dem Eindruck dieses Albtraums. Er nahm die Taschenlampe aus der Schublade, schaltete sie
ein und legte sie auf den Tresen. „Warum bist du wach?"
Brooke strebte wie eine Motte auf die Lampe zu. Ihre Haut nahm in dem dämmrigen Licht
einen sanften Goldton an. Es juckte ihn in den Fingern, sie zu berühren, seine Hand unter ihr
Hemd zu schieben und ihre verlockenden Brüste zu erkunden. Es war wohl – nach diesem
schrecklich morbiden Traum – das Verlangen, zu spüren, dass er lebte...
„Warum bist du auf?" fragte er wieder.
Mit einer nervösen Geste strich sie sich das kurze Haar hinters Ohr zurück. „Mir war kalt,
und ich wollte mir einen Tee machen, um mich aufzuwärmen." Sie ging zum Küchenschrank
und suchte nach Tee. „Hat irgendjemand vergessen, New Hampshire zu sagen, dass wir Juni
haben?"
Er lächelte. „Wir folgen dem Rhythmus unserer eigenen Trommel."
Sie lachte, nahm zwei Becher aus dem Schrank. „Schnee im Juni und T-Shirtwetter im
Dezember?"
„So ungefähr. Pass auf, ich mache Feuer im Kamin, dann wollen wir doch mal sehen, ob
wir die Kälte nicht vertreiben können."
Ihr Lächeln verblasste, und ein sehnsuchtsvoller Ausdruck trat in ihre Augen. Vorsichtig
wandte sie sich ab. Ihre Finger beschäftigten sich eifrig damit, das Zellophanpapier von der
Teebeutelpackung zu lösen, und es schien eine ungemein schwierige Aufgabe zu sein.
Es fiel ihm schwer, ins Wohnzimmer zu gehen, aber er schaffte es. Es würde ihnen beiden
nicht bekommen, wenn sie ihrem Verlangen nachgaben. Jack kniete sich vor den Kamin und
konzentrierte sich aufs Feueranzünden.
„Was willst du essen?"
„Essen?" Ihre Stimme klang ein wenig rau.
„Na ja, als ich hereinkam, standest du vor der offenen Kühlschranktür. Dann ging das Licht
aus."
„Ach, ja ... Also, viel ist nicht mehr drin. Ein paar Erdbeeren, die Lauren und ich heute
Morgen gepflückt haben. Orangensaft. Salat. Eine halbe Gurke. Ein kleines Stück Käse." Sie
lachte leise auf. „Und Bitterschokolade aus Alyssas Geheimfach."
„Sie hat ein Geheimfach?" Er versuchte, das schnellere Kreisen seines Bluts zu ignorieren,
baute eine Pyramide aus zusammengeknülltem Zeitungspapier und Spänen. Dann griff er
nach den langen Kaminzündhölzern auf dem kleinen Regal an der Wand.
„In einer Kaffeedose hinter dem Mehl."
Er lächelte. Das war typisch für Alyssa. „Gibt es auch noch irgendwelche Kräcker zum
Käse?"
„Ich sehe mal nach." Sie hörte sich etwas entspannter an.
Die Flammen leckten gierig an Papier und Holz empor, und mit Brookes geschäftigen
Geräuschen im Hintergrund verflüchtigten sich die Reste seines Albtraums und machten
einem Gefühl der Frustration Platz. Verlangen erfüllte ihn, rastlos und machtvoll.
Brooke kam herein. Sie nahm die Quiltdecke vom Schaukelstuhl und breitete sie vor dem
Kamin aus. Dann stellte sie einen Teller mit Käse und Kräckern, einen weiteren mit
Erdbeeren und Schokolade hin. Sie ging zurück in die Küche und kehrte gleich darauf mit
zwei Bechern Pfefferminztee zurück. Einen reichte sie Jack. Die häusliche Szene hätte ihn
eigentlich entspannen müssen, bewirkte aber genau das Gegenteil.
Er legte noch ein Scheit in die Flammen. Das Holz fing schnell Feuer und verströmte
Wärme und Licht.
„Fällt der Strom oft aus?" fragte sie, während sie sich auf die Decke setzte. Ihre Stimme
klang belegt, als versuche sie, ein sicheres Thema für ihre Unterhaltung zu finden.
Jack räusperte sich. „Ab und an schon. Ich vermute, der Blitz hat in einen Transformator
eingeschlagen. Da draußen tobt ein ganz schönes Unwetter. Aber ich bin sicher, das Licht
geht bald wieder an."
Brooke gab ihm einen Kräcker mit Käse. Dabei berührten sich ihre Finger. Sie zuckte
zusammen und rutschte ein Stück zur Seite.
Er spielte mit seinem Kräcker, rückte den Käse darauf zurecht und tat so, als hätte er nichts
von der Spannung zwischen ihnen bemerkt.
„Wieso bist du eigentlich Polizist geworden?" Brooke nippte an ihrem Tee und sah ihn
über den Rand des Bechers an.
Jack zuckte mit den Schultern. „Irgendwie erschien es mir das Richtige."
„Hat dein Vater deine Entscheidung beeinflusst?"
„So könnte man sagen." Dass Malcolm Chessman den größten Teil seines Lebens hinter
Gittern verbracht hatte, war für seine Berufsentscheidung in der Tat wichtig gewesen.
„Du sprichst nie über deine Eltern. Wo ist dein Vater jetzt?"
Allein schon der Gedanke daran ließ für den Augenblick alles unangebrachte Verlangen
nach Brooke in ihm ersterben. Jack stopfte sich den Kräcker mit dem Käse in den Mund,
schmeckte aber nichts. „Im Knast. Lebenslänglich."
„Oh."
Sein Vater hatte der Mutter das Herz gebrochen, dann ihr Bankkonto geräumt und war mit
all ihrem ererbten Schmuck verschwunden, bis auf den Ring, den sie am Finger trug. Sein
nächstes Opfer war zu seinem Pech nicht so leicht zu manipulieren gewesen. Es war kein
kaltblütig geplanter Mord, aber er hatte die Frau umgebracht. Und nun bezahlte er für seine
Tat.
„Was ist mit deiner Mutter?" fragte Brooke weiter.
Jack beging den Fehler, sie anzusehen. Draußen mochte ein Sturm toben, aber hier drinnen,
im Flackern der Flammen, existierten nur sie und das Strahlen, mit dem sie den Raum erfüllte.
Ihre Haut glühte im Licht des Kaminfeuers. Ihr Haar schimmerte weich. Ihre Augen waren
unergründlich. Er versuchte, das Verlangen zu ignorieren, das er in ihnen erblickte.
„Meine Mutter ist tot."
„Das tut mir Leid." Sie zog die Jacke enger um sich. „Was ist geschehen?"
„Du bist ziemlich neugierig, weißt du das?" Er drehte sich zum Kamin um, stocherte in der
Glut. Ein Funkenrege n sprühte auf.
„Das ist Teil meines besonderen Charmes."
Lily Haywood Chessman war eine schwermütige Frau gewesen. Ihr langes dunkles Haar,
die weiße Haut und die großen Augen erweckten in den meisten Menschen das Bedürfnis,
sich ihrer anzunehmen. Und sie war vertrauensselig und viel zu gutgläubig. Malcolms Betrug
hatte ihr mehr als nur Geld und Schmuck geraubt. Er nahm ihr auch den Lebensmut.
„Sie hat sich umgebracht."
„Oh Jack, das tut mir so leid."
Er umklammerte das Schüreisen fester, starrte in die Fla mmen und sah die Vergangenheit.
Er war von der Schule nach Hause geeilt und hatte seine Mutter regungslos auf dem Sofa
gefunden. Ihre Haut war eiskalt gewesen. Bläulich. Die Haut einer Toten. „Eine Überdosis
Schlafmittel und Psychopharmaka. Sie litt unter Depressionen und Schlaflosigkeit."
„Oh nein..." Brooke berührte seine Schulter. „Was für ein schreckliches Erlebnis."
Er wollte ihre sanfte Hand abschütteln, konnte es aber nicht. „Es wäre vermeidbar
gewesen."
„Wie alt warst du?" Brooke legte ihren Kopf an seinen und schlang ihm den Arm um die
Schulter. Eine wundervolle Wärme erfüllte ihn auf einmal.
„Siebzehn."
„Ein Heranwachsender."
„Ein Mann", gab er zurück und griff nach einem Scheit. „Alt genug, um die Zeichen zu
erkennen und Hilfe zu holen."
„Du warst fast noch ein Kind. Und nicht verantwortlich für sie."
„Wer denn sonst?"
Sie drückte ihn fester an sich. „Kümmerst du dich deswegen um Alyssa? Um dein
Versagen wieder gutzumachen?"
Jack schüttelte den Kopf, fühlte wie seine Bartstoppeln auf ihrer samtigen Haut kratzten.
„Als ich sie kennenlernte, tat sie unnahbar, aber ich sah die Traurigkeit in ihren Augen."
„Sie hatte gerade ihre Mutter und ihre Schwester verloren. Und du warst auch noch ein
Kind."
„Sie braucht immer noch Schutz."
„Warum?" Ihr Puls pochte an seiner Wange. Er beugte sich hinüber, bis ihre weichen
Lippen beim Sprechen seine Wange berührten. „Sie ist eine erwachsene Frau. Sie kann auf
sich selbst aufpassen."
„Alyssa ist nicht fähig, eine enge Beziehung aufzubauen. In ihr gibt es den unlösbaren
Widerspruch zwischen dem Wunsch, ihrem Gegenüber zu gefallen und ihn gleichzeitig
zurückzuweisen."
Er wollte Brooke auf seinen Schoß ziehen, wusste, er sollte sie von sich stoßen. Jack hielt
still, tat nichts gegen die zunehmende Hitze in seinen Adern.
„Alyssa gewinnt die Menschen mit ihrem Charme, dann verletzt sie sie. Sie geht Risiken
ein, um sich zu beweisen, dass sie es schafft. Aber ich glaube, ihr ist gar nicht bewusst, dass
sie sich eigentlich die Anerkennung eures Vaters verdienen will. Doch sie wird sie nie
bekommen. Er lebt, unerreichbar für sie, in seiner eigenen traurigen Welt. Ich habe versucht,
es ihr zu erklären, aber sie scheint sich nicht anders verhalten zu können. Zumeist handelt sie,
ohne nachzudenken. Wenn sie es bedauert, ist es zu spät. Irgendjemand muss ihr helfen, die
Scherben dann wieder zu kitten."
„Und diese Aufgabe hast du dir zugedacht?"
Jack antwortete nicht. Er spielte mit dem Schürhaken und schaute ins Feuer. „Sie hat sonst
niemanden."
„Dennoch, ich finde, es ist ziemlich arrogant zu glauben, du wärst für das Handeln deiner
Mutter oder Alyssas verantwortlich." Sie umfasste sein Gesicht mit einer Hand und drehte
seinen Kopf so, dass er sie ansehen musste. Er schluckte. „Wer macht sich Sorgen um dich?"
Er wandte den Kopf wieder ab und lachte rau auf. „All die netten Nachbarinnen, die
ständig Töpfe und Teller mit Essen, Kuchen und Keksen vorbeibringen – und Tratsch in Hülle
und Fülle."
„Wer macht sich um dich Sorgen?" wiederholte sie.
Er überging ihre Frage und griff nach einem Kräcker mit Käse. Sie schmeckten wie der
Talkumpuder, den er beim Klettern benutzte, und eigentlich war er hungrig auf etwas ganz
anderes.
Das Holzscheit im Feuer platzte mit einem scharfen Knacken. Blitze sandten ihr bläuliches
Licht durchs Fenster. Donnerschläge krachten vom Himmel.
„Ich sollte schlafen gehen", meinte Brooke und stand auf.
Jack umfasste ihr Fußgelenk. „Bleib."
Sie schüttelte den Kopf. „Ich ... ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist."
„Das Feuer spendet jetzt erst langsam Wärme."
„Ja..." Sie sah aus wie ein Reh in Fluchthaltung. Er sollte sie gehen lassen, konnte es aber
nicht.
Wieder prasselte der Regen aufs Dach. „Bitte bleib."
Sie setzte sich wieder hin, zog die Füße unter sich und schob den Teller mit den Erdbeeren
und der Schokolade zwischen sich und Jack.
„Was brauchst du an Beweisen, damit eine Anklage möglich ist?"
Brooke steckte ein Stück Schokolade und eine Erdbeere in den Mund, und er stellte sich
vor, wie die Schokolade auf ihrer Zunge schmolz, der Saft aus der Erdbeere spritzte. Hastig
stürzte er einen Schluck Tee herunter, der glücklicherweise inzwischen kalt geworden war.
„Ich muss belegen, dass der Verdächtige ein Motiv und die Gelegenheit hatte, die Tat
auszuführen. Dass er oder sie es mit Heimtücke tat."
„Genügt dieser Drohbrief nicht schon?" Sie hielt eine Erdbeere am grünen Stängel fest,
spielte damit. Die Erdbeere schwebte dicht vor ihrem Mund, während sie sprach.
„Nur wenn es einen Beweis gäbe, wer diesen Brief geschrieben hat."
Sie schob die Erdbeere in den Mund. Er stöhnte innerlich. „Und du meinst, im Labor wird
man sehr wahrscheinlich keine Fingerabdrücke finden."
„Nein. Unsere einzige Hoffnung ist das Seil."
Sie brach ein Stück Schokolade ab. Er packte sie am Handgelenk, zog sie zu sich herüber
und nahm ihr die Schokolade ab.
Brookes Hand zitterte, als sie sie ihm entzog. „Was ist mit einem Täterprofil?" Ihre
Stimme schwankte leicht. „Legt ihr so etwas nicht an? Würde das den Kreis der Verdächtigen
nicht einengen?"
Erregung schoss in ihm hoch, als sie sich bewegte und ihr T-Shirt den Schenkel hinaufglitt.
„Dazu haben wir zu wenig Leute. Die Polizei in Comfort besteht aus nur fünf Vollzeit- und
drei Teilzeitkräften."
„Aber du und ich, wir könnten doch ein Täterprofil erstellen, um vielleicht einen oder zwei
Verdächtige auszuschließen." Ihr T-Shirt rutschte noch höher, als sie erneut nach den
Erdbeeren griff. Jack wurde heiß.
„Ich habe lange über Alyssas Widersacher nachgedacht", versuchte er, sachlich zu bleiben.
„Meine Theorie ist, dass Rache eine wichtige Rolle spielt. Es sieht so aus, als hätte jeder der
vier einen Grund, heftigen Groll gegen Alyssa zu hegen, wenn man ihren
Tagebuchaufzeichnungen glauben kann. Dazu passt auch, dass der Täter die Befriedigung
seiner Rache miterleben wollte."
Sie zog das T-Shirt über die Knie zurück, seufzte und runzelte die Stirn. „Also sind sie alle
verdächtig."
Er starrte immer noch auf das Spiel der Flammen auf ihren Wangen, als sie aufblickte und
ihm eine Erdbeere hinhielt. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, begann dann zu rasen, als
sich ihre Finger berührten.
Jack fluchte leise, schob den Teller aus dem Weg und griff nach ihr, drängte sich an sie
und küsste sie, leidenschaftlich und hungrig. Er schob die Zunge in ihren Mund, schmeckte
Erdbeeren und Schokolade.
Seine Hand glitt über ihren Schenkel, die Hüfte hinauf, bis sie ihre Brüste erreichten, die
ihn lockten, sie zu erforschen und zu reizen. Es gefiel ihm, wie ihre Haut sich anfühlte, er
mochte ihren sommerlichen, blumigen Duft. Es erregte ihn, wie sie sich an ihn schmiegte,
reagierte, stöhnte. Er wusste, er war verloren, aber es war ihm egal. Er wollte mehr, noch viel
mehr.
Schwer atmend löste er sich von ihrem Mund und nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Ich
will dich."
„Ich dich auch." Brooke leckte sich die Lippen. Ihr Atem ging stoßweise. „Aber es ist nicht
klug."
„Nein, das ist es nicht." Sein Verstand verabschiedete sich trotzdem. Jack knöpfte ihr die
Jacke auf und streifte sie ihr ab.
„Du bist nicht die Art Mann, die ich brauche."
Seine Hand verharrte auf ihrem flachen Bauch, fühlte den Lustschauer, der sie überlief.
„Was für eine Art Mann brauchst du denn?"
„Jemanden, der mich so liebt, wie ich bin, der keine Angst hat, mir seine Gefühle zu
zeigen. Ich brauche einen Mann, der sich vor seiner Leidenschaft nicht fürchtet."
„Dann bist du wirklich an den Falschen geraten." Er ließ die Hand tiefer gleiten zum
Schritt ihres seidenen Höschens. „Aber du willst mich."
„Oh ja."
Er schob den feuchten Stoff beiseite. „Wir sind in jeder Hinsicht falsch füreinander."
Sie hielt den Atem an. Ihre Augen blickten verhangen. Ihre Finger krallten sich um seine
Schultern, versuchten, ihn näher heranzuziehen. „Das scheint keine große Rolle zu spielen."
„Nein, offensichtlich nicht." Er riss ihr das T-Shirt über den Kopf.
Es verhakte sich an ihrem Gips, und das erinnerte ihn daran, weswegen sie hier war. „In
drei Tagen fährst du."
„Ich bleibe, bis diese Sache abgeschlossen ist."
„Nein, das kannst du nicht." Beim Anblick ihrer nackten Brüste hielt er den Atem an. Der
halbierte Schutzengel- Anhänger ruhte zwischen ihnen. Er kostete eine der köstlichen Spitzen,
dann die andere. Sie seufzte lustvoll. „Ich muss wieder zurück an die Arbeit und kann es mir
nicht leisten, mir ständig Sorgen um dich machen zu müssen."
„Ich kann auf mich selbst aufpassen." Ihre Stimme klang träumerisch, weit fort. Er reizte
ihre Knospe mit dem Finger, sie wurde hart, und Brooke bog sich ihm entgegen. „Ich passe
schon lange Zeit selbst auf mich auf."
„Alyssa dachte auch, sie hätte die Situation im Griff. Nun liegt sie im Koma."
„Aber ich bin nicht Alyssa."
„Nein, das bist du nicht."
„Dann halt den Mund und schlaf mit mir."
Sein Herz begann zu rasen. „Bist du sicher?"
Sie führte seine Hand zwischen ihre Schenkel. „Ja..."

Sie hatte sich nicht getäuscht. Jack wusste genau, welche empfindsamen Punkte er berühren
musste. Seine schlanken, kräftigen Finger erweckten in ihr eine Leidenschaft, die sie bisher in
ihrem Leben nicht gekannt hatte. Brooke befand sich in Himmel und Hölle zugleich. Es war
atemberaubend.
Jacks Liebkosunge n schürten die feurige Hitze in ihrem Bauch. Sein muskulöser Körper
fühlte sich an wie die Sünde selbst. Brooke trieb der Verdammnis entgegen, aber es kümmerte
sie nicht. Hemmungslos nahm sie, was er ihr bot, und fühlte sich seltsam befreit.
„Ich habe etwas Dummes angestellt", flüsterte sie zwischen zwei heißen Küssen.
„Was denn?" Seine Hände setzten ihr betörendes Spiel fort.
„Ich bin dem falschen Mann verfallen."
Jack küsste sie wieder. Zögerte. Rollte sich von ihr fort, und der Abstand erschien ihr wie
ein unüberwindlicher Felsspalt. Mit jeder Faser ihres Körpers sehnte sie sich seine Berührung,
seine Nähe zurück. Ein Blick in seine dunklen Augen nahm ihr den Atem. Jack hob die Hand,
zog ihre Lippen mit einem Finger nach.
„Es gibt kein Zurück mehr", sagte er heiser und bedeckte ihren Mund erneut mit einem
verlangenden Kuss. Brooke griff nach dem Reißverschluss seiner Jeans, hörte Jack stöhnen,
als sie die Hand auf seine Erregung presste.
Sekunden später hatte er sich der Hose entledigt, ihr den Slip ausgezogen und sich
herumgerollt, bis Brooke auf ihm saß.
Sie beugte sich vor, liebkoste seine Brustwarzen, das kühle Metall ihres Schutzengels
streifte seine Haut. Mit einem tiefen Blick in seine Augen verschränkte sie die Finger mit
seinen, nahm ihn in sich auf, bewegte aufreizend die Hüften, bis Jack es nicht mehr aushielt.
Mit einer einzigen Bewegung brachte er sie unter sich. Sie wurden eins. Ein Strudel der
Lust baute sich in ihr auf, schickte sie auf einen wilden Ritt, bis sie keuchend glaubte zu
sterben. Dann barst die Spannung in einer erschütternden Explosion. Myriaden von Sternen
blitzten hinter ihren geschlossenen Augen auf. Brooke hielt den Himmel in Händen und
wollte ihn nie wieder hergeben.
„Ich liebe dich", hauchte sie, während Jack auf ihr zusammensank. Mein Körper, mein
Herz und meine Seele gehören dir, fügte sie stumm hinzu.
Sie wusste nur nicht, was er damit machen würde...

Ich liebe dich. Ihre von Leidenschaft erfüllte Stimme hallte in seinem Kopf nach, schien tief
in ihn einzudringen, etwas zu berühren, das er längst für tot gehalten hatte. Sie war so
elementar wie der Sturm, der draußen tobte. Und sie war sein, ganz allein sein.
Er lebte, mit jeder Faser seines Körpers. In seinen Armen hatte er die verlorene Hälfte
seines Ichs gehalten, und niemals wollte er sie wieder freigeben.
Ich liebe dich, hatte er sagen wollen, brachte die Worte aber nicht über die Lippen. Zum
ersten Mal verstand er den schrecklichen Schmerz, den seine Mutter empfunden haben
musste, als sein Vater sie verließ. „Bleib", sagte er stattdessen und zog sie dichter an sich. Für
jetzt. Für immer.
„Ich gehe nirgendwohin."
Im Nachhall ihrer Leidenschaft konnte er glauben, dass sein Albtraum zu Ende war. Sie
würde gehen, sicher. Das war die Realität. Aber für diese eine Nacht wollte er daran glauben,
dass sie bleiben würde, und einfach entspannt sein.
Doch dann richtete er sich kerzengerade auf. Lauschte angestrengt. Streifte sich seine Jeans
über und versuchte, den Grund für seine plötzliche Unruhe zu erkennen.
Bevor er die Lage analysieren konnte, wurde das Haus von einer gewaltigen Detonation
erschüttert.
14. KAPITEL

Jack rollte Brooke in die Decke, warf sie über die Schulter, griff nach ihrem Nachthemd und
raste mit ihr nach draußen. Nachdem er sie auf die Füße gestellt hatte, streifte er ihr das
Nachthemd über den Kopf. Benommen schob sie ihre Arme in die Ärmel. Er legte ihr wieder
die Decke um und hielt sie für einen Moment fest.
„Warte hier", sagte er. „Hier bist du sicher." Nach einem raschen Kuss auf ihre Stirn drehte
er sich herum und verschwand, ließ sie allein zurück.
„Jack!", schrie sie, aber er schien sie nicht zu hören. Furcht packte sie. Sie wollte
hinterherlaufen, aber ihre Beine waren bleischwer. Angst drückte ihr das Herz zusammen. Sie
durfte ihn nicht verlieren. Nicht jetzt. Nicht, wo sie wusste, sie liebte ihn.
Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Sie schluckte die aufsteigende Übelkeit herunter. Er
würde zurückkommen. Er musste es.
Mit aufgerissenen Augen starrte sie in die Flammen, die aus dem kleinen Cottage
hochschlugen. Ihre Finger umklammerten die Decke. Sie konnte sich nicht bewegen. Ihr Herz
pochte wie verrückt.
Es tut mir so leid, Alyssa. So leid. Sie presste die Faust gegen den Mund und versuchte, die
Tränen zurückzuhalten, die sich Bahn brechen wollten. Sie zitterte am ganzen Körper.
Es wiederholte sich. Noch immer hatte sich die Wunde nicht geschlossen, seit sie vor
vierundzwanzig Jahren ihre Schwester verloren hatte. Und nun, während sie hilflos zusehen
musste, wie das Cottage abbrannte, hatte sie das Gefühl, einen anderen Teil von sich zu
verlieren. Die Erinnerungen an Kinderlachen und Kindertränen lösten sich in Rauch auf.
Tränen rannen ihr die Wangen hinab.
Sie wollte fortrennen, dem fürchterlichen Schmerz entfliehen, aber die Beine versagten ihr
den Dienst. Bitte, komm zurück! Gefangen zwischen Vergangenheit und Zukunft, starrte sie
auf das Feuer, das das Cottage verschlang und mit ihm Alyssas persönliche Dinge, ihre
Ausrüstung, ihre Kameras, ihre Kunstwerke.
Und Jack war irgendwo dort drinnen, kämpfte gegen die Flammen.
Jack, wo bist du? Bitte, komm zurück!
Eine kleine Menschenmenge begann sich anzusammeln. Aufgeregtes Stimmengewirr
drang zu ihr herüber. Dann schrillten die Sirenen der Feuerwehr durch die Nacht, kamen
näher.
Feuerwehrleute schrien Befe hle. Schläuche wurden ausgerollt. Aber das Cottage brach in
sich zusammen. Und Brooke auch. Sie sank auf den kühlen, nassen Sand, während der Regen
ihre Haare, die Decke und das Nachthemd durchnässte.
„Alyssa, da bist du ja!" Eine hektische Franny in einem weiten purpurroten Jogginganzug
und neongelben Turnschuhen drückte sie voller Erleichterung an sich. „Ich habe mir solche
Sorgen gemacht, als ich dich nicht finden konnte. Wo ist Jack?"
„Beim Feuer." Und in jeder Sekunde, die sie ihn nicht sehen konnte, starb sie tausend
Tode. Wenn er verletzt war, vielleicht sogar tot...
„Was ist passiert?"
Brooke nahm den Blick nicht vom Haus. Hellrote Flammen schossen aus Türen und
Fenstern. Beißender schwarzer Rauch wirbelte zum Himmel hinauf. Holz splitterte.
Fensterscheiben barsten. Und das Feuer fauchte wie ein wütendes wildes Tier.
„Ich weiß nicht", erwiderte sie bebend. Noch benommen von Liebe und Erfüllung, hatte sie
nur mitbekommen, wie Jack sie vom Boden hochgerissen und mit ihr aus der Haustür gerannt
war. „ Eine Explosion. Wir sind gerade noch hinausgekommen, dann begann es zu brennen."
„Aber ihr habt es geschafft, und du bist in Sicherheit. Das allein zählt." Franny drückte sie
nochmals und zog sie hoch. „Komm mit. Du kannst vorerst bei uns bleiben."
Brooke schüttelte den Kopf. „Nein, nicht jetzt. Ich möchte auf Jack warten."
„Okay." Franny wischte Brooke die Tränen mit der Hand vom Gesicht. „Ich bleibe bei dir.
Du solltest jetzt nicht allein sein."
Sie hielten einander fest, setzten sich auf den Sand und warteten stumm, während um sie
herum das Chaos regierte.
Aus den düsteren Rauchschwaden tauchte eine gekrümmte Figur auf. Als sie sich näherte,
erkannte Brooke ihren Vater in seinem Rollstuhl.
Die Anstrengung, sich vorwärts zu bewegen, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Als er sie
endlich bemerkte, hielt er an. Seine Augen waren schreckgeweitet, sein Kinn zitterte. Tränen
liefen ihm über die faltigen Wangen.
Brooke erhob sich und ging zu ihm hinüber. „Daddy?"
„Ich dachte ... du wärst tot."
Sie hockte sich neben ihn nieder und schlang einen Arm um ihn. „Ich bin hier, Daddy. Ich
bin hier."
Franny kam heran, und zusammen sahen sie zu, wie das Haus niederbrannte. Irgendwann
ergriff Walter die Hand seiner Tochter und ließ sie nicht mehr los.

Das Feuer hatte ganze Arbeit geleistet. Außer den Grundmauern und dem steinernen Kamin
war nichts als Schutt und Asche von dem Cottage übrig geblieben. Die Fachleute der
Feuerwehr würden die Überreste genauer untersuchen müssen, aber die vorläufigen
Ergebnisse waren nicht gerade ermutigend.
Gegen Frannys und Walters Einwände beharrte Jack darauf, dass Brooke mit zu ihm fuhr.
Auf keinen Fall würde er sie aus den Augen lassen, bis er sie sicher in den Flieger nach San
Diego gesetzt hatte.
Noch nie in seinem Leben hatte er eine solche Angst gehabt. Der Brand hätte sie beide das
Leben kosten können. Wenn Brooke etwas passiert wäre...
Morgen früh würde er sie zum Flughafen nach Boston fahren und nach Hause schicken.
Sie konnte nicht länger bleiben. Es war zu gefährlich. Er durfte das Risiko nicht eingehen, sie
zu verlieren.
Wie eine Katze, die von einem Unwetter überrascht worden war, hockte Brooke wenig
später auf der Kante seines Gästebetts, während er seine Kletterausrüstung auf den Boden
legte, in einzelne Stapel aufgeteilt. Nach Alyssas Unfall hatte er die Ausrüstung achtlos
fortgelegt und seitdem keinen Blick mehr darauf geworfen.
„Weiß man, was das Feuer verursacht hat?" fragte Brooke, die Augen immer noch
riesengroß vom durchlittenen Schrecken. Sie zog die Decke enger um die Schultern, fröstelte
aber immer noch.
Jack sortierte die Karabinerhaken neben den Stuhl aus Ahornholz. „Man hat Teile einer
Zeitschaltuhr und von Propangasflaschen gefunden. Sie waren in Alyssas Dunkelkammer
deponiert worden, direkt unter deinem Schlafzimmer."
Sie begriff und keuchte entsetzt auf, presste die Hand aufs Herz. „Ich sollte sterben."
„Ja." Und irgendjemand würde dafür bezahlen.
Brooke sprang auf und wanderte rastlos auf und ab. „Tim – er kam gestern bei mir vorbei.
Er wollte irgendwelche Negative haben und war sauer, als ich sie ihm nicht geben konnte. Er
macht sich Sorgen um diese Auszeichnung." Sie unterbrach sich und wirbelte herum.
„Glaubst du ...?"
Möglich war alles. „Auf den Gasflaschen stand Cash Propane."
„Stephanie?"
Er wickelte eins der Seile auf und warf es dann auf den Boden. „Ich bezweifle, dass sie
ihre eigenen Flaschen nehmen würde, allerdings ist zu diesem Zeitpunkt natürlich nichts und
niemand auszuschließen. Ausgenommen Cullen."
„Dein Detektiv saß ihm auf den Fersen."
„Cullen ist seit ein paar Tagen nicht in der Stadt. Er nimmt irgendwo an einem Kurs teil."
Jack griff nach einem Seilbeutel, er rutschte ihm aus den Händen und fiel mit einem
dumpfen Laut zu Boden. Neugierig schaute er hinein und fand eine kleine automatische
Kamera darin.
„Deine?" fragte Brooke.
„Alyssas." Er betrachtete die Kamera von allen Seiten. „Sie hat vom Picknick am Devil's
Grin Bilder gemacht."
Brooke beugte sich hinüber, nahm ihm die Kamera ab und schaute auf das kleine Display.
Dann blickte sie ihn aufgeregt an. „Zwanzig Stück. Wir müssen sie entwickeln lassen. Sofort.
Vielleicht finden wir etwas darauf. Komm, lass uns gehen!"
Er packte ihr Handgelenk und zog sie zu sich. Legte die Arme um sie und küsste sie. „Das
muss warten, bis der Drogeriemarkt um neun Uhr aufmacht."
Sie schlang die Arme um seinen Hals und erwiderte seinen Kuss. „Bieten sie
Schnellentwicklung an?"
„Na hör mal, wir leben hier nicht hinterm Mond!"
„Gut, dann werden wir sie entwickeln lassen", sagte sie und lehnte ihren Kopf an seine
Schulter. Er massierte ihren Nacken mit dem Daumen und barg sein Gesicht in ihrem Haar.
Sie roch nach Rauch und Regen und Sommer. Zu ihrem eigenen Besten musste sie zurück
nach Hause.
Mit einer Hand schlug er die Bettdecke zurück. „Aber bis dahin wirst du schön duschen
und dich anschließend ein wenig hinlegen."
Brooke klammerte sich an ihn und schüttelte den Kopf.
„Du bist erschöpft. Im Moment können wir sowieso nichts tun. Im Lauf des Tages wird der
Feuerwehrchef mehr Informationen präsentieren können, ich werde die Verdächtigen
zusammenkommen lassen, und wir werden Alyssas Film entwickelt haben."
„Schlafen kann ich heute Nacht höchstens im selben Bett mit dir."
Als sie ihn mit ihren großen grünen Augen anschaute, setzte sein Herz einen Schlag aus,
dann hämmerte es wie verrückt. Auch wenn ich ihren Worten nach nicht der richtige Mann
für sie bin, sie liebt mich, rief er sich wieder in Erinnerung. Und sie war die Frau, die er
brauchte. In ihren Armen fühlte er sich ganz.
Morgen – heute – würde sie fort sein. Aber jetzt war sie noch hier, und sie wollte den Rest
der Nacht mit ihm verbringen, in seinem Bett. Schaden konnte das doch nichts, oder?
Mir geht es gut, Jack. Geh nur zur Schule. Es ist alles in Ordnung. Die Worte seiner
Mutter schossen ihm durch den Kopf
Bitte, Jack, lass mich klettern. Ich brauche es. Ich muss den Himmel berühren. Die Alyssas
hallten hinterher.
Diesmal, mit Brooke, hatte er die Kontrolle über die Situation. Er würde ihr gestatten, mit
ihm zu machen, was sie wollte – aus sehr eigensüchtigen Gründen. Denn er wollte sie noch
einmal fühlen, schmecken, bevor sie fort war.
Sanft zog er sie in die Arme. Als sie sich an ihn ankuschelte, gab er ihr einen Kuss auf die
Schläfe.
„Duschen. schlafen. Was immer die Lady befiehlt."

Wie hatte das nur schief gehen können? Alles war doch perfekt geplant gewesen. Wie waren
sie denn bloß unversehrt aus dem Cottage herausgekommen? Alyssa war wie eine verdammte
Katze, mit sieben Leben. Aber irgendwann waren auch die aufgebraucht. Früher oder später.
Der Regen trommelte aufs Blechdach des Bootshauses, sanft schwappten die Wellen ans
Ufer, und der Wind fuhr seufzend durch die Bäume.
„Ich hätte eher daran denken müssen."
Gab es einen Mann, dessen Verhalten so vorhersehbar war wie Jacks? Man konnte die
Rathausuhr nach seinen Gewohnheiten stellen. Zugegeben, nach Alyssas Unfall benahm er
sich anders als sonst, aber eigentlich war er immer noch der Alte. Und selbst Alyssas
sprunghaftes Verhalten enthielt immer noch Konstanten, auf die man sich verlassen konnte.
Endlich war alles klar.
Wem konnte Jack nicht widerstehen? Einem Menschen in Not.
In welcher Situation würde Alyssa ohne nachzudenken handeln? Bei einem kleinen
Mädchen, das verzweifelt nach seinem vermissten Hund sucht.

Jack brachte kaum die Geduld auf zu warten, bis der Film entwickelt worden war. Nach
dem Brandanschlag besaß er wenigstens einen dringenden Grund, all ihre Verdächtigen zur
Befragung zusammenzuholen. Der Captain persönlich kümmerte sich darum. In wenigen
Stunden würden ein paar von ihnen in Untersuchungshaft sitzen. Jack konnte es kaum
erwarten, Zeuge der Verhöre zu sein.
Zum bestimmt hundertsten Mal, seit sie den Drogeriemarkt betreten hatten, schaute er auf
die Uhr. Rastlos wanderten sie durch die Gänge, legten Sachen, die Brooke brauchte, in den
Korb und behielten dabei immer den Apparat in der einen Ecke im Blick, der irgendwann die
Bilder ausspucken musste.
„Heute Nachmittag geht ein Flug nach San Diego." Schmerz durchzuckte ihn bei diesem
Gedanken, aber jahrelange Übung half ihm, ihn zu ignorieren. Er reichte Brooke eine kleine
Tube Zahnpasta. „Das ist deine Maschine."
„Ich bleibe." Sie tauschte die kleine gegen eine normalgroße um.
„Nein, du fliegst."
Sie betrachtete prüfend zwei Haarbürsten, legte eine in den Korb und die andere zurück ins
Regal. „Du kannst mich nicht zwingen."
„Dann werde ich erzählen, wer du in Wirklichkeit bist."
„Ich bleibe trotzdem."
Er verwünschte ihre Dickköpfigkeit. Sie lächelte ihn nur an, und am liebsten hätte er sie
geküsst, bis sie wieder zu Verstand gekommen war. Aber wenn er sie berührte, sie küsste,
würde es mit seinem Verstand nicht mehr weit her sein.
Sie würde mit dieser Maschine abfliegen, und wenn er sie hinschleppen musste. Er durfte
kein Risiko mehr eingehen, was ihre Sicherheit betraf.
Da fielen die Abzüge aus dem Schlitz. Mit wenigen langen Schritten war er am Apparat.
„Und?" fragte Brooke und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm über die Schulter
schauen zu können. Ihr Duft stieg ihm verlockend in die Nase.
Jack blätterte die Fotos durch, einmal, zweimal, ein drittes Mal.
Dann seufzte er enttäuscht. Während er ihre Einkäufe an der Kasse bezahlte, besah sich
Brooke die Bilder.
„Diese Aufnahme von dir gefällt mir", sagte sie, während sie das Geschäft verließen, und
schaute auf ein Foto. „Wie kommt's, dass du da lächelst?"
„Sehr wahrscheinlich hatte Alyssa einen ihrer dummen Witze gerissen."
Brooke blieb abrupt stehen und hielt ihn am Arm fest. „Sieh mal!" rief sie aufgeregt und
deutete auf das Bild. „Dort! Was ist das?"
Jack nahm das Foto und versuchte, die Details im Hintergrund besser zu erkennen.
Irgendjemand hockte neben den ordentlich zusammengerollten Seilen, in einer weit nach vorn
gebeugten Haltung, so dass er wirkte, als habe er keinen Kopf. „Ich weiß nicht. Wir hatten an
dem Tag alle rote Kletterhosen und weiße T-Shirts an – das ist die Uniform des Adventure
Club."
„Wir brauchen eine Vergrößerung davon!"
„Dazu müssen die Bilder erst eingeschickt werden."
„Komm, lass uns zur Ferienanlage fahren. Der Computer dort im Büro hat ein
Grafikprogramm."
Hand in Hand rannten sie zum Wagen, und auf der Fahrt zur Ferienanlage übertrat Jack
eine ganze Reihe von Gesetzen.
Während Brooke das Bild einscannte, rief Jack Ed O'Hara von der Forstpolizei an.
„Ich habe gerade die Ergebnisse hereinbekommen." Jack hörte Ed mit irgendwelchen
Papieren rascheln. „Spuren von Werkzeugen sind nicht zu erkennen. Aber man hat
herausgefunden, dass der Seilkern förmlich mit DEET getränkt war."
„DEET?" Jack fuhr zurück, als hätte ihn jemand geschlagen. Vor ein paar Jahren, bei
einem Seminar für Such- und Bergungsexperten, hatten sie ein Experiment durchgeführt. Ein
Seil war mit DEET, einer in Insektenvernichtungsmitteln enthaltenen Chemikalie, getränkt
und dann auf Festigkeit geprüft worden. Das Seil war gerissen. Wer war sonst noch bei
diesem Seminar dabei gewesen? Tim? Trish? Stephanie nicht. Cullen?
„Richtig. DEET."
„Nur im Kern?" Dort, wo es gerissen war.
„Es sieht so aus, als hätte jemand es mit einer Spritze direkt ins Seil injiziert."
Und da sie sich alle mit einem Insektenspray eingesprüht hatten, um nicht von den Mücken
zerstochen zu werden, war niemandem der Geruch des DEET aufgefallen. Aber er konnte sich
nicht erinnern, dass das Seil ölig gewesen war. Die Markierung. Natürlich, das Plastikband
hatte die Durchfeuchtung verdeckt.
„Vorsatz", sagte Jack.
„Sieht so aus."
„Danke, Ed. Ich schulde dir was."
„Das hoffe ich doch."
Jack verabschiedete sich, stellte sich hinter Brooke und stützte sich mit der einen Hand auf
ihrer Sessellehne, mit der anderen auf der Schreibtischplatte ab. „Na, wie sieht es aus?"
„Fast fertig."
Auf dem Bildschirm baute sich langsam der Hintergrundausschnitt des Fotos auf.
„Trish."
Und sie tauschte gerade ein Seil gegen ein anderes aus.
Jack griff nach seinem Handy. Aber noch ehe er die Nummer eingetippt hatte, kam Mrs.
Bell ins Büro gerannt. Wirr standen ihr die dunklen Locken vom Kopf ab. Sie klammerte sich
atemlos am Türknauf fest.
„Alyssa, haben Sie Lauren gesehen?" rief sie mit hoher, angsterfüllter Stimme.
„Seit gestern nicht mehr." Brooke gab den Befehl ein, das Bild auszudrucken. „Stimmt
etwas nicht?"
„Ich hatte ihr gesagt, sie solle zu Hause bleiben", sprudelte Mrs. Bell hervor. „Und nun
kann ich sie nirgendwo finden. Ich dachte, sie wäre mit Robby zusammen, aber er hat sie seit
dem Frühstück nicht mehr gesehen."
Brooke erhob sich und kam um den Schreibtisch herum. „Wir werden sie sicher finden."
„Ich mache mir schreckliche Sorgen." Die aufgeregte Mutter hielt eine neongelbe
Hundeleine hoch und rang nach Luft. Sie bemühte sich sichtlich, nicht in Tränen
auszubrechen. „Die gehört Daisy. Ich habe sie auf dem Weg gefunden, der in den Wald führt.
Lauren ist diesem dummen Hund bestimmt hinterhergelaufen. Und wenn sie sich nun verirrt
hat?"
Brooke blickte Jack an. „Wir müssen sie suchen."
Jack fluchte stumm. Er rief im Polizeirevier an, erzählte dem Captain von dem Foto und
erkundigte sich nach den Verhaftungen der Verdächtigen. Stephanie und Tim befanden sich
bereits in Gewahrsam, aber Trish und Cullen fehlten noch. Er gab dem Captain Matt Brenders
Telefonnummer und bat darum, auf dem Laufenden gehalten zu werden.
Dann wandte er sich an Brooke. „Sie bleiben hier, Mrs. Bell. Ich suche Lauren."
„Danke", flüsterte sie mit Tränen in den Augen. „Ich gehe zurück ins Cottage ... für den
Fall, dass sie nach Hause kommt."
„Das ist eine gute Idee." Er gab ihr eine Visitenkarte. „Hier ist meine Nummer. Rufen Sie
mich an, falls sie kommt."
Gleich darauf fiel die Tür hinter Laurens Mutter ins Schloss.
„Ich möchte, dass du hier bleibst", befahl er Brooke.
„Ich komme mit dir. Ich kann nicht hier herumsitzen und abwarten", erwiderte sie mit
rauer Stimme. „Alyssa würde gehen, und ich bin immer noch Alyssa."
Er riss die Tür auf und hastete zu seinem Wagen. Trish würde bald festgesetzt sein.
Ihretwegen brauchte er sich also keine Sorgen zu machen. Und wenn Brooke sich in seiner
Nähe befand, konnte er auf sie achtgeben.
„Gut. Zieh festes Schuhwerk an, und dann bleib bei mir und tu, was ich sage."
Er holte einen Rucksack aus seinem Kofferraum und packte die Wasserflaschen hinein, die
er mitgenommen hatte. Dann zog er sich Wanderstiefel an. Zusammen machten sie sich auf
die Suche.
Je eher er Lauren fand, desto schneller würde er sich mit Trish befassen können.

Der Regen hatte am Morgen aufgehört, aber die Landschaft lag unter dichtem Nebel
versteckt. Obwohl es fast Mittag war, hatte er sich nicht aufgelöst, überzog Haut, Haare und
Kleidung mit einem feuchten Film. Die Sicht beschränkte sich auf wenige Meter.
Der Weg war schmal, und Brooke konnte ihn kaum ausmachen. Aber Jack schien sich
auszukennen, so folgte sie ihm vertrauensvoll.
Nach einer Stunde hatte sie keine Ahnung mehr, wo sie sich befanden. Der Wald schien
sich dichter um sie zu schließen, wie ein Gefängnis. Es ging ständig aufwärts. Brooke musste
an Lauren denken. Sicherlich hatte die Kleine eine schreckliche Angst. Aber bislang hatten sie
keine Spur von ihr gefunden.
Jack blieb stehen, runzelte die Stirn, nahm seinen Rucksack ab und ging langsam im Kreis
herum. „Warte."
Brooke nutzte die Gelegenheit, sich auszuruhen. Sie ließ sich auf den Boden sinken und
wischte sich mit dem T-Shirt den Schweiß von der Stirn. Es machte sie nervös, dass Jack
nicht mehr zu sehen war. Dann fiel ihr auf, dass der Wald viel zu still war. Kein Vogel
zwitscherte. Die Luft war drückend, das Atmen fiel schwer.
„Jack?" rief sie leise und stand auf.
„Hier bin ich." Lautlos tauchte er aus dem Nebel auf, und sie atmete erleichtert auf.
„Stimmt irgendetwas nicht?" Sein Gesicht war ausdruckslos, und sie wusste, ihre Ahnung
hatte sie nicht getrogen.
„Ich bin mir nicht sicher. Die Spuren ergeben keinen Sinn."
„Was meinst du?"
Er runzelte die Stirn. „Daisys und Laurens Spuren enden abrupt, als wären sie von Aliens
entführt worden."
„Wie kann das angehen?"
Er schüttelte den Kopf, setzte sich neben ihr hin und trank einen tiefen Schluck aus der
Wasserflasche. „Ich weiß es nicht."
„Was machen wir nun?"
„Lass mich überlegen."
Brooke ließ sich auf dem Boden nieder. Schließlich hielt sie das Schweigen nicht länger
aus. „Wir scheinen nicht weiterzukommen."
„Die Spuren führen dorthin." Er deutete auf eine kaum sichtbare Erhebung über den
Baumwipfeln. Die Felswand wirkte abweisend und düster, nahezu feindselig. „Devil's Back."
Der Name kam ihr bekannt vor, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, woher. „Wieso
ist Lauren so weit gelaufen? Sie ist doch noch ein kleines Mädchen."
„Sie wurde getragen."
„Trish hat sie!" Brooke sprang auf. Adrenalin schoss ihr durch die Adern. „Wie lange
weißt du das schon?"
„Seit eben. Das Haarbüschel an dem Baumstamm hängt zu hoch, als dass Daisy es dort
verloren haben könnte." Er stand auf und zeigte es ihr. „Es wurde angebracht." Er deutete auf
den Boden. „Siehst du, hier enden die Spuren, so, als wären sie mit Zweigen verwischt
worden."
Eigentlich sah sie gar nichts. Der Waldboden mit seinen verrottenden Blättern wies für sie
nichts Entzifferbares auf. Aber die Farben erinnerten sie an etwas. „Jack, wie heißt die Firma,
deren Vorauszahlung verschwunden ist?"
„RIAA TEK Corporation. Warum fragst du?"
„RTC. Die Firmenfarben sind Gold und Dunkelbraun? "
„Soweit ich weiß, ja. Wieso?"
Sie ergriff seine Arme. „Ich weiß, wo der Scheck ist. Trish hat ihn. Als ich bei ihr nach
meinem Notizbuch suchte, sah ich in einer Mappe ein Stück Papier mit den Buchstaben RTC.
Sie hatte den Scheck versteckt, so dass ihr klettern musstet." Ihre Finger umklammerten seine
Arme fast schmerzhaft. „Devil's Back. Ist dort nicht Rick zu Tode gekommen?"
„Ja."
Ihr fielen nun auch wieder die Zeitungsausschnitte ein. „Jack, vor einem Jahr, um diese
Zeit herum, ist Rick gestorben. In den Zeitungen steht, es war ein Unfall. Was ist damals
wirklich geschehen?"
Jack wandte sich von ihr ab, entzog ihr seine Arme. Er beschattete die Augen mit einer
Hand und starrte hinauf zu dem Berg.
„Rick und Alyssa hatten sich vor dem Aufstieg gestritten", sagte er dann. „Rick war so
sauer, dass er zurück nach Hause gehen wollte. Er seilte sich ab, ohne vorher den
Sicherheitscheck durchzuführen. Beim Abstieg rutschte er ab und stürzte. Das Seil war nicht
richtig befestigt. Es löste sich aus dem Karabinerhaken. Nichts konnte ihn mehr retten."
Brooke rieb sich fröstelnd die Arme. „Trish hat mir neulich Kekse vorbeigebracht. Weil sie
wüsste, wie traurig ich – Alyssa – sei. Sie hatte geweint. Sie versuchte, es zu verbergen, aber
ihre Augen waren rot und geschwo llen. Das Motiv ist Rache, Jack."
„Sie wollte Reue sehen."
„Und bekam sie nicht." Hätte Alyssa an ihrer Stelle anders gehandelt? Hätte sie Trishs
Schmerz verstanden, versucht, sie zu trösten, zu beruhigen?
„Trish hat lange Zeit nicht über das Unglück gesprochen", meinte Jack. „Wir alle dachten,
sie hätte es endlich als sinnlose Tragödie akzeptiert, würde niemandem mehr die Schuld
zuschieben."
„Über was hatten sich Rick und Alyssa an dem Tag gestritten?"
Jack warf ihr einen Blick über die Schulter zu. „Rick wollte, dass sie sich verloben, aber
Alyssa fand, damit hätte sie kein Glück. Sie verlangte Zeit, um darüber nachzudenken."
„Und Trish muss gedacht haben, es sei nur eine Ausrede, um Rick endgültig loszuwerden."
„Der Unfall hätte nicht unglücklicher kommen können, was den Zeitpunkt betrifft." Jack
schulterte seinen Rucksack. „Rick gehörte ein schwarzer Pick-up. Ich dachte, seine Mutter
hätte ihn nach seinem Tod verkauft."
Sie marschierten los. Jack zog sein Handy heraus und tippte eine Nummer ein. In kurzen
Worten gab er den Befehl, die alte Scheune auf der Witchell-Farm nach dem Pick-up zu
durchsuchen. Dann nannte er dem Rettungsteam ihre Position, ihr Ziel und beschrieb kurz
ihre Lage.
Brooke folgte ihm dichtauf. „Würde Trish Lauren etwas antun, nur um sich an Alyssa zu
rächen?"
Er steckte das Handy zurück in die Tasche. „Das kann ich nicht sagen."
Sie gingen weiter, bis er wieder abrupt stehenblieb.
„Hier." In der Hand hielt er wieder Haare von Laurens Hund, die er an der rauen Borke
einer Fichte entdeckt hatte. Selbst Brooke konnte sehen, dass sie viel zu hoch hingen. „Sie
will, dass wir ihr folgen."
Jack nickte. „Zum Devil's Back."
Eine Stunde später meinte Brooke ein Wimmern zu vernehmen. „Hast du das gehört?"
Jack eilte vorwärts, einen steilen Hang hinauf. Brooke stolperte hinterher, rutschte an den
bemoosten Felsen aus.
„Lauren!" Ihre Stimme hallte dumpf im Nebel wider.
„Sei still! Hör doch."
Wieder erklang dieser Laut, ein Wimmern, ein Jaulen, dann ein ängstliches Bellen.
„Es ist Daisy."
Sie erreichten den Kamm und befanden sich auf einem kleinen Plateau, von Felsen und
Bäumen gesäumt. Eine Seite fiel in einer Klippe steil ab, eine andere öffnete sich zu einem
schmalen Pfad, der an einer tiefen Felsspalte endete.
„Lauren!" rief Jack laut. Er legte die Hand ans Ohr, lauschte auf eine Antwort.
Als sie kam, blickten sie sich an. Der erbärmliche Ruf kam direkt aus der Felsspalte.

Jack verständigte das Rettungsteam, dass Lauren gefunden worden war. Dann begann er
systematisch mit der Bergung des Kindes. Die Spalte war zu schmal für ihn, und Brooke
beharrte darauf, hinunterzuklettern. Das Rettungsteam würde mindestens eine Stunde hierher
brauchen, und Lauren litt sicher entsetzliche Angst. Schließlich gab Jack nach.
Und dann erinnerte er sich, dass Trish letztes Jahr bei Eddie O'Haras Rettung nicht weit
von hier dabei gewesen war. Sie hatte von den engen, tiefen Spalten gewusst.
Laurens Anwesenheit war kein Zufall.
Brooke hatte sich auf den Bauch gelegt und sprach beruhigend auf das Mädchen ein,
während er ein Seil vorbereitete. Er überprüfte jeden Zentimeter mehrmals, jeden
Karabinerhaken, bis er sicher sein konnte, dass alles in Ordnung war. Beim Klettern war das
Abseilen der gefährlichste Moment. Brooke hinabzulassen würde all seine Konzentration
erfordern.
Während er ihr die Gurte umschnallte, redete sie weiter beruhigend auf Lauren ein. Als er
mit allem fertig war, nahm er sie in die Arme, drückte sie fest an sich und küsste sie.
Dann hielt er das Seil fest, bereit, sie hinunterzulassen. „Es wird schon alles gut gehen."
Sie lächelte ihn an. „Solange keine Spinne über mich herfällt."
Er schüttelte den Kopf. „Brooke, du hast dir freiwillig eine Schlange um die Schultern
gewickelt!"
„Das war ein Haustier."
„Das hast du da aber noch nicht gewusst."
„Wie sollte wohl eine Boa constrictor unter eine Spüle in New Hampshire kommen?"
Sie hatte Angst. Er sah es ihren Augen an, merkte es an den feuchten Händen, die sie an
ihrer Jeans abwischte, und an ihrem Versuch, Witze zu machen. Er schaute ihr tief in die
Augen.
„Dir wird nichts passieren."
„Ich weiß."
Lauren schluchzte auf.
„Es ist okay, Lauren", beruhigte Brooke sie sofort. „Ich bin schon auf dem Weg zu dir.
Halt nur noch ein wenig länger aus."
Sie holte Luft, nickte und trat über den Rand. Vorsichtig ließ Jack sie herab, leitete sie
Stück für Stück mit seinen Anweisungen. Als sie Lauren erreichte, atmete er erleichtert auf.
Aber in seiner Aufmerksamkeit ließ er keinen Augenblick nach. Er wusste, er durfte nichts
übereilen.
„Ich habe sie", rief Brooke triumphierend nach oben.
Freude breitete sich in ihm aus, aber rasch unterdrückte er sie. Er durfte in seiner
Konzentration nicht nachlassen, bis beide sicher wieder oben waren. „Binde sie an deinen
Gurten an, wie ich es dir gezeigt habe."
„Der Absatz ist wirklich winzig, Jack, und der Spalt fällt noch tief ab."
„Nicht nach unten sehen, sondern binde sie nur fest. Ich ziehe euch hoch, sobald du fertig
bist."
„Ich kann sie nicht beide mitnehmen, Jack." Er hörte ihr Zögern. „Daisy ist so zappelig.
Ich bin ... Jack ..."
Da erriet er ihr Dilemma. Wenn sie den Hund auch mitnahm, gefährdete sie das Leben des
Kindes. Aber wenn sie nur Lauren mitnahm, würde der Hund in Panik geraten und abstürzen.
„Kannst du Daisy irgendwo anbinden?"
„Hier ist ein schmaler, zersplitterter Baumstumpf, aber ich bin nicht sicher, ob er hält."
„Anders geht es nicht." Das Rettungsteam konnte hinuntergehen und das Tier holen. Am
wichtigsten war in erster Linie, Lauren und Brooke wohlbehalten nach oben zu bringen.
Brooke erklärte Lauren sorgfältig, was sie vorhatte, und versprach ihr, der Hund würde
auch gerettet werden. Schließlich signalisierte sie Jack, sie hochzuziehen.
„Ich habe dich."
In diesem Moment hörte er ein zischendes Geräusch hinter sich. Dann ein Knacken. Ein
scharfer Schmerz durchzuckte seinen Kopf. Um ihn herum wurde es schwarz.
„Brooke!"
15. KAPITEL

Brooke hörte Jacks Ruf und schaute nach oben. Das Seil schlängelte sich herab. Sie wollte
danach greifen, doch im nächsten Moment flog es wie eine Peitsche auf sie zu, traf ihren
Rücken und ließ sie fast über den schmalen Absatz in den Abgrund taumeln.
„Ups. Das Seil. So was Dummes."
Brookes Kopf ruckte nach oben. Es lief ihr eiskalt über den Rücken, als eine dunkle
Silhouette sich oben gegen den grauen Himmel abzeichnete. „Jack!" Irgendetwas
Schreckliches war geschehen. „Jack!"
„Er macht im Augenblick ein kleines Nickerchen."
Trish. Furcht packte sie. Trish war hier, nicht in Polizeigewahrsam, und sie hatte Jack
verletzt. Bitte, bitte, lass ihm nichts Ernstes geschehen sein! flehte sie den Himmel an. Brooke
hätte am liebsten losgeweint, aber sie musste einen klaren Kopf bewahren, bis Lauren in
Sicherheit war.
„Du musst mir helfen, die Kleine nach oben zu bringen."
„Ich wünschte, ich könnte es, aber mir ist das Seil aus der Hand geglitten. Kommt dir das
bekannt vor?"
„Mich umbringen zu wollen ist eine Sache, Trish, aber Lauren hat damit nichts zu tun", rief
sie scharf.
„Da hast du natürlich Recht. Und ich bin auch nicht völlig herzlos. Ich sag dir was... Du
wirfst mir das Seil hoch, und dann sehen wir, was ich tun kann."
Lauren, der Trishs schroffe Stimme Angst machte, begann zu weinen. Sie klammerte sich
an Brooke fest.
„Ich stell dich für einen Moment hin, damit ich das Seil für die Lady holen kann, ja?"
versuchte sie, das Mädchen zu beruhige n.
„Neeeeiiiiin! Lass mich nicht looooos!"
In dem Spalt war es eng und dunkel, man konnte sich kaum bewegen und kaum etwas
sehen. Brooke drückte sich flach gegen den Felsen. Dann hob sie Lauren auf die rechte Seite,
hielt sie mit dem Gipsarm fest, damit sie den linken Arm frei bekam. Daisy fiepte angstvoll
und stieß immer wieder gegen Brookes Beine.
Behutsam tastet Brooke nach dem Seil, zog es an ihrem Bein hoch und wickelte es auf.
„Ich werde es jetzt hinaufwerfen, Trish."
„Okay." Trish hörte sich an, als hätte sie viel Spaß.
„Eins. Zwei. Drei!" Mit aller Kraft schleuderte Brooke das Seil nach oben, sah es bis zum
Rand hochsteigen. Dann fiel es wieder auf sie herab. Sie beugte sich schützend über Lauren,
damit diese das zuckende Seil nicht ins Gesicht bekam.
„Ups!"
„Trish, das ist kein Spiel. Lauren hat entsetzliche Angst!"
„Okay, okay. Versuch's noch einmal."
Brooke hätte Trish am liebsten laut verwünscht und sie verprügelt. Zähneknirschend
wickelte sie das Seil wieder auf. Finger und Schultern schmerzten von der ungewohnten
Anstrengung. Schweiß lief ihr übers Gesicht, die Arme, den Nacken. Und allmählich wurde
Lauren immer schwerer.
„Eins. Zwei. Drei!" rief sie aus und schleuderte es nochmals.
„Ich habe es." Das Seil straffte sich. „Bereit?"
Ein ungutes Gefühl erfasste Brooke. Nein, dir traue ich keine Sekunde, dachte sie. Aber
welche Wahl blieb ihr? Und doch konnte sie sich nicht überwinden, Trish die absolute
Kontrolle über ihren Aufstieg in die Hände zu geben.
„Wart einen Moment."
Sie bückte sich und band Daisy los. Ein zweites Mal würde sie Trish nicht trauen. Sobald
sie oben war und Lauren freigemacht hatte, würde sie nur eine einzige Chance haben, sich
selbst zu retten. Sie quetschte den sich windenden Hund zwischen sich und Lauren. „Halte sie
schön fest."
Danach schloss sie die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Alyssa war ein
wagemutiger Mensch. Sie nicht.
Alyssa, hilf mir. Zeig mir, wie man hochklettert.
Sie atmete einmal tief durch, drängte die aufsteigende Panik zurück und konzentrierte sich
auf ihre Aufgabe. Sie schaute nach oben, musterte den Felsen. Ein Gedanke formte sich in
ihrem Kopf, sacht wie ein Wispern. Immer nur einen Schritt auf einmal.
Als sie das Signal zum Aufstieg gab, war sie auf einmal ganz ruhig. „Ich klettere jetzt
hoch."
„Tu das", kam Trishs Antwort.
„Halt dich gut fest, Lauren."
Brooke stellte den Fuß auf einen kleinen Absatz und griff mit der Hand nach einer Rille im
Felsen. Ihre angespannten Muskeln entspannten sich. Ihr Geist war klar. Wie von selbst
schienen Füße und Hände Halt zu finden.
Als sie sich dem Rand näherte, hielt sie inne und lockerte den Knoten, mit dem sie Lauren
gesichert hatte. „Wenn ich es dir sage, dann läufst du so schnell weg, wie du nur kannst. Wirst
du das schaffen?"
Lauren schüttelte stumm den Kopf.
„Sieh mich an." Langsam hob Lauren den Kopf. „Du bist ein sehr tapferes Mädchen, und
ich brauche unbedingt deine Hilfe. Wenn ich sage: ,Lauf', läufst du schnell wie der Wind. Es
ist ein Rettungsteam unterwegs, das nach dir sucht. Deine Mom macht sich große Sorgen um
dich. Also läufst du. Okay?"
Lauren nickte. „Okay."
„Was machst du da unten?", rief Trish.
„Ich suche nach einem Halt."
Zwei weitere Schritte, und Laurens Körper erreichte den Rand. Mit hämmerndem Herzen
löste Brooke rasch den Rest des Seils von ihr, schob das Kind aus dem Spalt und schrie:
„Lauf!"
Hund und Kind rasten den Pfad entlang.
Als Brooke Jack regungslos auf dem Boden liegen sah, mit blutender Kopfwunde, stieß sie
einen verzweifelten Schrei aus. „Nein, nein!"
Trishs höhnisches Lachen hallte durch die Luft. „So ist es richtig, Prinzessin. Wein nur um
deinen Geliebten. Du verdienst es, ebenso viel zu leiden, wie ich gelitten habe."
Genau in diesem Augenblick hob Jack den Kopf. Mit entschlossener Miene kroch er
langsam auf Trish zu. Ein Blick von ihm signalisierte ihr, worauf er es abgesehen hatte: zu
Trishs Füßen hatte das Seil eine Schlaufe gebildet.
Trish trat einen Schritt vor, und die Schlinge am Absatz ihres Wanderschuhs zog sich
fester.
„Du hattest schon immer eine Schwäche für kleine Kinder. Pech für dich, dass du deine
Freunde schlechter behandelt hast."
„Ricks Tod war ein Unfall." Brooke wich zur Seite aus, suchte nach einem besseren Halt
als dem kleinen Felsvorsprung, der unter ihrem Fuß zu bröckeln anfing.
„Du hast mir meinen Bruder genommen. Du hast dich immer wie eine hochnäsige
Prinzessin aufgespielt und uns wie dein Fußvolk hin- und hergescheucht. Rick war kein
Spielzeug. Er liebte dich. Er war mein Bruder, mein Geschäftspartner." In ihren Augen
glitzerte unbändiger Hass. „Jetzt ist endgültig Schluss. Du wirst nie wieder jemandem
irgendetwas wegnehmen!"
Trish richtete ihren Wanderstiefel auf Brookes Brust. „Leb wohl, Prinzessin!"
Brooke riss ihren Gipsarm hoch und hieb ihn auf Trishs Schienbein. Trish wankte, Jack
zog am Seil, und sie krachte zu Boden.
Die Wucht des Schlages kostete Brooke das Gleichgewicht. Sie fiel.
Immer wieder stieß ihr Körper an den Felsen. Sie versuchte, den Sturz aufzuhalten, stieß
sich jedoch nur die Hände blutig und zerfetzte ihre Jeans. Schließlich hob sie die Arme, um
wenigstens den Kopf zu schützen.
Nach einer Ewigkeit stoppte das Seil abrupt ihren Fall. Ein Entsetzensschrei drängte aus
ihrer Kehle, hallte von den Felswänden wider, Brooke schwang sachte hin und her.
„Brooke?"
Jacks Stimme klang wundervoll!
„Ich bin okay", erklärte sie zitternd. „Hol mich hier raus, ja?"
Fünf Minuten später griff Jack nach ihr, zog sie in Sicherheit. Er vergrub das Gesicht in
ihrem Haar und hielt sie so fest an sich gedrückt, dass sie kaum Luft bekam. Brooke spürte
seinen starken Herzschlag, hörte die Anspannung in seiner Stimme: „Ich dachte, ich hätte dich
verloren."
Sie wusste, er dachte an Alyssa und ihren Sturz am Devil's Grin. Die Hände in sein T-Shirt
gekrallt, küsste sie ihn immer wieder.
„Ich bin in Ordnung", flüsterte sie. In Jacks Armen war sie sicher. Der Adrenalinschub der
durchlittenen Todesangst ebbte ab, ihre Knie fühlten sich plötzlich an wie Gummi. Ein
unkontrollierbares Beben erfasste ihren ganzen Körper. „Solange du mich hältst, ist alles gut."
Auf dem Pfad ertönten Stimmen. Das Rettungsteam war im Anmarsch.

Drei Stunden später waren Brooke und Lauren untersucht und ihre Schrammen und
Schürfwunden verarztet worden. Jack hatte widerstrebend eingewilligt, sich die Kopfwunde
nähen und verbinden zu lassen.
Lauren und Daisy kehrten zu ihrer Familie zurück. Trish saß in Polizeigewahrsam, und
Jack war froh, dass jemand anders die Strafverfolgung übernehmen würde.
Er hatte sich große Mühe gegeben, Abstand zu halten, doch als er Brooke kämpfen, in die
Felsspalte stürzen sah, da war er mitten drin im Geschehen, nicht nur physisch und psychisch,
sondern mit jeder Faser seines Herzens. Allmächtiger, vor allem mit dem Herzen. Jeder noch
so kleine Kratzer auf ihrem Gesicht, an ihren Händen erinnerte ihn daran, dass er sie beinahe
für immer verloren hätte. Der Schock hielt ihn noch fest im Griff.
Jack wollte Brooke nicht eine Sekunde aus den Augen lassen. Irrationale Wünsche
schlichen sich in seine Gedanken: Am liebsten hätte er Brooke mit zu sich genommen, sie
eingeschlossen und nie wieder gehen lassen.
„Komm, wir fahren nach Hause", meinte er, als der Arzt sie entließ.
„Nein." Sie schwang sich von der Untersuchungsliege und zog die Wanderschuhe an. In
dem blutbefleckten T-Shirt und der zerrissenen Jeans sah sie zum Erbarmen aus. Sie hatte den
Arzt gebeten, ihr den falschen Gips zu entfernen, sich die künstliche Narbe von der Schläfe
gerissen und ihren richtigen Namen angegeben. „Zuerst muss ich telefonieren. Danach will
ich zu meinem Vater." Brooke schaute zu ihm auf, leichte Unsicherheit in den grünen Augen.
„Alyssa ist bei Bewusstsein."
„Was?"
„Sie ist aus dem Koma erwacht."
Jack runzelte die Stirn. „Woher weißt du das?"
„Als ich mit Lauren da draußen in der Felsspalte hing, habe ich sie gespürt." Brooke packte
mit beiden Händen sein Hemd. „So wie früher, als wir noch Kinder waren."
War das möglich? Hatte Alyssa sich aus dem Dämmerzustand lösen können? Freude
überschwemmte ihn, wurde im nächsten Moment vom Verstand gebremst. Wie konnte
Brooke davon wissen?
„Ich werde Mom anrufen."
Er drückte sie auf den nächsten Stuhl. „Hier, nimm mein Handy."
Jack sah zu, wie sie die Nummer eintippte. Wenn sie Recht hat, dachte er, kommt Alyssa
zurück, und Brooke wird fortgehen. Allein der Gedanke brach ihm fast das Herz, und er
klaubte zusammen, was von seinem Schutzpanzer übriggeblieben war, um sich zu wappnen.

Ihr Leben lang hatte Brooke sich nach Kräften bemüht, den Erwartungen anderer zu
entsprechen. Sie hatte alles getan, und doch war es nie genug gewesen. Alyssas Sturz und ihr
eigenes Abenteuer am Devil's Back ließen sie nun erkennen, dass das Leben von einer Minute
auf die nächste vorbei sein konnte. Es war ein viel zu kostbares Gut, um es nach den
Vorgaben anderer zu verbringen.
Sie bat Jack, sie allein zu lassen, und stürmte ins Haus ihres Vaters. Wie gewöhnlich saß er
am Fenster. Mitgefühl erfüllte sie, doch sie schob es beiseite.
Walter keuchte auf, als er seine Tochter sah. Brooke war jedoch nicht in der Stimmung,
diese verspätete Anteilnahme zu honorieren. Sie war wütend auf ihn, und sie würde es ihm
zeigen. Schwungvoll schnappte sie sich einen Stuhl und stellte ihn direkt vor ihn.
„Ich bin Brooke", sagte sie und setzte sich. „Die Tochter, die du, aus welchen Gründen
auch immer, vor vierundzwanzig Jahren für tot erklärt hast."
Er wurde blass, aber das hielt sie nicht auf. „Selbst nach Moms Erklärung ist es mir
schleierhaft, wie ihr euch so etwas Blödes ausdenken konntet. Doch darum geht es jetzt nicht.
Alyssa ist aus dem Koma erwacht, und ich finde, nach den harten Zeiten, die du ihr in den
letzten vierundzwanzig Jahren beschert hast, solltest du wenigstens nach Kalifornien fliegen
und ihr sagen, wie glücklich du bist, dass sie am Leben ist."
Eine Antwort wartete sie gar nicht erst ab, sondern erhob sich wieder. „Du kommst mit
mir, morgen früh. Ich kümmere mich um die Buchung. Sei rechtzeitig fertig."
Damit verließ sie den Raum. Erst als sie draußen war und die Tür hinter sich geschlossen
hatte, sank sie auf der Holzrampe zusammen und fing an zu weinen.
„Was für eine Rede!" Franny ließ sich neben ihr nieder.
Die fröhlichen Kinderstimmen vor dem Haus verstärkten ihr Gefühlschaos noch. Brooke
wusste nicht, was sie tun sollte. Liebe, Wut, Freude und Verzweiflung stürmten auf sie ein.
Sie stützte den Kopf in beide Hände. „Ich weiß immer noch nicht, warum sie das getan haben.
War ihnen denn nicht klar, welchen Preis wir alle dafür bezahlen müssen?"
„Mittlerweile schon. Walter hätte diesen Rollstuhl bereits vor Jahren verlassen können,
aber er hat es nicht getan, damit Alyssa bei ihm blieb."
„Er hat sie furchtbar mies behandelt."
„Als eure Mutter ihn verließ, hatte er nur noch seinen Traum. Den Traum von dieser
Ferienanlage. Er fand bald heraus, dass es nicht genug war." Franny drückte Brookes Hand.
„Nach dem zu urteilen, was mir euer Vater erzählte, ist Alyssa eurer Mutter sehr ähnlich.
Während er Alyssa im Grunde seines Herzens liebt, ließ er seine Wut und seine Enttäuschung
über eure Mutter an ihr aus."
„Warum hat Mom dann nicht Alyssa zu sich genommen und mich stattdessen bei sich
behalten?"
„Sie wusste genau, was sie tat. Eigentlich konnte sie ihren Mann nicht loslassen, aber zu
bleiben war unmöglich. Sie wollte nicht, dass er sie vergaß, und sie selbst wollte ihn nicht
vergessen." Franny verstärkte ihren Händedruck. „Begeh nicht den gleichen Fehler."
„Was meinst du damit?"
„Jack liegt sehr viel an dir."
„Das ist nicht genug." Brooke sah ihr in die Augen. „Du solltest das wissen. Warum bleibst
du hier bei Dad, obwohl seine Erinnerungen an Delia ständig zwischen euch stehen?"
Franny lächelte traurig. „Weil ich ihn liebe."
„Und du würdest ihn einfach zu ihr zurückgehen lassen?"
Franny stand auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung. „Er hat mir nie gehört."

Jack in Comfort zurückzulassen kam Brooke hart an. Doch sie musste erst Ordnung in ihre
Angelegenheiten bringen, ehe sie an die Zukunft denken konnte.
In San Diego erlebte sie endlich die lang ersehnte Wiedervereinigung mit der geliebten
Zwillingsschwester. Sie lagen sich in den Armen, vorsichtig, weil Alyssa noch sehr schwach
war. In den nächsten Tagen flossen oft Tränen, während sie versuchten, zwei Jahrzehnte
aufzuholen. Irgendwann hatte das Erzählen ein Ende, und sie lagen einfach da, aneinander
geschmiegt auf dem schmalen Krankenbett.
„Was glaubst du, Aly? Werden sie wieder zusammenkommen?" Brooke schaute auf ihren
Vater und ihre Mutter, die im angrenzenden Innenhof beieinander saßen. Die steife
Körperhaltung beider signalisierte, dass ein langer, steiniger Weg vor ihnen lag.
„Ich weiß es nicht. Ich glaube, Delia hat sich in einen der Ärzte verguckt."
Brooke hob die Augenbrauen. „Die Eiskönigin?"
„Wenn Dr. Dan in der Nähe ist, schmilzt das Eis." Alyssa legte kokett eine Hand an die
Wange und ahmte die Mutter nach: „Oh, Dr. Dan, wie nett von Ihnen, dass Sie bei mir
vorbeischa uen. Ich habe ein paar Fragen an Sie."
Die beiden fingen an zu kichern.
„Das verspricht interessant zu werden." Brooke lehnte den Kopf an Alyssas. „Dad hat sich
bei Franny entschuldigt, kurz bevor wir gefahren sind. Ich schätze, er hat endlich begriffen,
wie gut sie zu ihm war."
„Zu gut, wenn du mich fragst."
Die zerrissenen Familienbande würden nicht von heute auf morgen wieder zu kitten sein,
das wussten sie. Doch sie waren entschlossen, es zu versuchen. Vergebung war der erste
Schritt zur Heilung.
„Und, was hast du vor, wenn du hier rauskommst?"
„Fürs erste steht Krankengymnastik auf dem Programm. Die Ärzte meinen, es dauert eine
Weile, bis ich meinen Arm wieder uneingeschränkt nutzen kann." Alyssa zuckte mit den
Schultern. „Vielleicht bleibe ich eine Zeit lang in Kalifornien. Ich wollte ja schon lange von
zu Hause weg."
„Ich weiß."
„Jetzt habe ich die perfekte Gelegenheit, um flügge zu werden."
„Es tut mir leid, dass das Cottage abgebrannt ist. Deine Fotos waren Kunstwerke."
„Das meiste dort barg doch nur schlechte Erinnerungen. Ich bin froh, dass du nicht im Bett
gelegen hast, als der Brand ausbrach." Ein verschmitztes Lächeln erhellte ihr Gesicht. „Wo
warst du eigentlich?"
Brooke wurde rot, ignorierte die Frage jedoch. „Ich gehe zurück nach Comfort."
Das Risiko war groß. Wenn sie sich irrte und Jack nicht das für sie empfand, was sie sich
ersehnte, wartete eine schreckliche Enttäuschung auf sie.
„Das dachte ich mir." Alyssa umarmte die Schwester. „Jack braucht jemanden, der ihn von
Herzen liebt."
Eins hatte Brooke in den letzten Wochen gelernt: sie selbst zu sein. Sie würde sich die
Chance auf das große Glück nicht entgehen lassen, nur weil ihre Erwartungen sich mit der
Realität nicht deckten. Jack mochte nicht der Mann ihrer Träume sein, aber er hatte ihr Herz
gewonnen. Und sie liebte ihn.
Brooke legte den Kopf an Alyssas Schulter. „Was sollte diese Liste mit guten Vorsätzen
zum neuen Jahr?"
Alyssa seufzte. „Ich hatte beschlossen, Comfort den Rücken zu kehren, egal, ob mit oder
ohne Dads Segen. Mir war außerdem klar geworden, dass ich einer Menge Leute auf den
Zehen herumgetrampelt hatte. Ich wollte manches wieder gutmachen, mich in Frieden von
ihnen verabschieden."
„Worüber wolltest du mit Gary sprechen?"
„Trish hatte große Mühe, das Geschäft, das Rick und sie gegründet hatten, allein
weiterzuführen. Ich wollte Gary bitten, ihr unter die Arme zu greifen."
„Jetzt braucht sie vor allem einen tüchtigen Anwalt."
Alyssa zupfte an ihrer Bettdecke. „Sie ist kein guter Verlierer."
Brooke rüttelte sie sanft. „Du auc h nicht, wenn ich mich recht erinnere."
„Immerhin kann ich von Zeit zu Zeit eine Niederlage eingestehen", protestierte Alyssa.
„Stimmt. Manchmal hast du mich freiwillig gewinnen lassen." Sie lächelte. „Was ist mit
Cullen? Du wolltest, dass er seine krummen Touren sein lässt?"
„Cullen ist kein schlechter Kerl, aber ein Angeber. Er hasste es, wenn ihm ein
Grundstücksgeschäft durch die Lappen ging. Vor mir prahlte er damit, dass er einen Gutachter
sozusagen in der Tasche hätte. Ich sagte ihm, er sei ja wohl intelligent genug, seine Probleme
legal zu lösen. Er hat mich ausgelacht. Also filmte ich ihn bei seinem Bestechungsversuch
und erzählte ihm dann davon."
„Nein! Wie hat er reagiert?"
„Wie ich es erwartet hatte." Alyssa fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Er machte einen
Aufstand wie ein Zweijähriger, dem man das Spielzeug weggenommen hat, dann beruhigte er
sich nach und nach. Ich erklärte, ich würde ihm das Videoband erst aushändigen, wenn er
beweisen kann, dass er seine Geschäfte legal abwickelt."
„Deshalb hat er sich an mich und Jack gehängt. Er wollte herausfinden, ob ich mich an den
Film erinnere und was ich damit vorhabe."
„Mir gestand er, Stephanie habe ihn deswegen schon zusammengestaucht. Schlimmeres
könnte ihm von mir nicht passieren."
„Die Frau ist super!"
Alyssa kicherte vergnügt. „Ich hatte mir die beiden nie als Paar vorgestellt, aber ich glaube,
sie ist die Einzige, die sein Ego auf ein erträgliches Maß zurechtstutzen kann. Jetzt braucht er
nur noch einen kleinen Schubs, um seine Angst vor einer dauerhaften Bindung zu
überwinden. Das Video ist im Bürosafe. Warum gibst du es nicht einfach Stephanie?"
„Sehr schlau!" Brooke war begeistert. „Was ist mit den Negativen?"
„Die liegen daneben."
„Was hast du da fotografiert?"
Alyssa zuckte mit den Schultern. „Das ist Tims Geheimnis. Ich überlasse es ihm, davon zu
erzählen oder nicht."
„Du würdest es nicht einmal deiner lange entbehrten Schwester verraten?"
„Nein." Alyssa wandte ihr den Kopf zu. „Da fällt mir noch ein Punkt auf der Liste ein:
Wenn du dableib st, habe ich auch einen neuen Manager für die Ferienanlage gefunden! Einen,
mit dem Dad mehr als einverstanden wäre."
„Ich kann es kaum erwarten." Begeisterung und Beklommenheit erfassten Brooke
gleichzeitig. Sie wünschte sich einerseits, die Ferienanlage zu betreuen, hatte aber
andererseits Angst vor Jacks Reaktion, wenn sie zurückkehrte. „Weißt du noch, wie
unheimlich mir der Ort war, als wir damals dort ankamen?"
Alyssa nickte.
„Jetzt liebe ich ihn. Alles! Den Wald, die Menschen, sogar das Wasser."
„Besonders Jack."
„Vor allem Jack", bekräftigte sie, fragte sich, was er wohl gerade tat und ob er sie genauso
sehnsüchtig vermisste wie sie ihn. Sie berührte vorsichtig die Narbe an der Schläfe ihrer
Schwester.
„Ich musste erst einen kräftigen Schlag auf den Kopf kriegen, um zur Vernunft zu
kommen. Sobald ich hier raus bin, werde ich mir eine neue Ausrüstung zusammenstellen und
wieder anfangen zu fotografieren."
„Du bist endlich frei, dir deine Träume zu erfüllen."
„Ja." Alyssa blickte aus dem Fenster zum Horizont.
Brooke knuffte sie zärtlich. „Hast du etwa Angst?"
„Und wie!"
„Ich auch."
Arm in Arm sanken sie zurück auf die Kissen.
„Wir schaffen das schon", meinte Alyssa.
„Klar. Schließlich sind wir wieder zusammen."
EPILOG

Jack war noch nie so nervös gewesen. Er stand in der Ankunftshalle und wartete auf Brooke.
Der kleine Blumenstrauß aus Gänseblümchen und Vergissmeinnicht fühlte sich in seiner
Hand seltsam fremd an. Der Hemdkragen schien zu eng, feine Schweißtröpfchen bildeten sich
auf seiner Stirn.
Brooke hatte bewiesen, dass sie allein auf sich achtgeben konnte. Sie brauchte ihn nicht.
Hatte sie ihm nicht sogar gesagt, er sei der Falsche für sie? Trotzdem kam sie nach Comfort
zurück.
In wenigen Wochen war sie der Mittelpunkt seines Lebens geworden. Durch sie hatte er
gelernt zu lieben, an Träume zu glauben.
Seit ihrer Abreise hatte er viel nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass
Alyssa und auch seine Mutter verlorene Seelen gewesen waren, bevor er in ihr Leben getreten
war. Er hatte sein Bestes gegeben, sie zu beschützen. Sein einziges Versagen bestand darin,
sie nicht genug bestärkt zu haben, ihre Probleme aus eigener Kraft anzugehen und zu lösen.
In seiner Kindheit und Jugend hatte er erfahren, welche Last es war, jemanden zu lieben.
Brooke hingegen hatte ihm gezeigt, wie bereichernd es sein konnte.
Die ersten Passagiere erschienen auf der Gangway. Brooke war unter ihnen, strahlend wie
ein Sommertag in ihrer grünen Bluse und dem geblümten Rock. Sie sah ihn und lächelte ihm
zu.
Er konnte nicht anders, er erwiderte ihr bezauberndes Lächeln.
Im selben Moment schwanden seine Ängste. Jack breitete die Arme aus und hieß sie von
Herzen willkommen.
„Hi", flüsterte sie verlegen und schmiegte sich an ihn. „Was machst du denn hier?"
Ihre Stimme war Musik in seinen Ohren. Er drückte Brooke an sich, sog ihren Sommerduft
ein, ließ sich von ihrer femininen Wärme einhüllen. Jack wähnte sich im Himmel. „Ich hole
dich ab."
„Warum?" Hoffnung schimmerte in ihren Augen.
Sein Herz floss über. Sie war genau dort, wo sie hingehörte. Jack fühlte sich lebendig, voll
und ganz. „Weil ich dich liebe."
„Oh."
„Ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen."
Er las Zweifel und Zögern in ihrem Blick. Es gab nur einen Weg, sie zu überzeugen.
Mitten in der Menge vorbeihastender Fluggäste ließ er sich vor ihr auf ein Knie nieder.
„Jack?" Brooke errötete, zog an seinen Ärmeln. Er nahm ihre Hände in seine.
„Brooke Snowden", begann er laut und deutlich, legte dann all seine Liebe und Zärtlichkeit
in die nächsten Worte: „Willst du meine Frau werden?"
Um sie herum kam die Hektik zum Stillstand. Auf einmal schien es kaum mehr jemand
besonders eilig zu haben.
„Nun sag's schon, Mädchen", meinte einer der Passanten, „lass den armen Kerl nicht
warten. So schlimm wird's nicht werden!"
Rasch zog sie ihn hoch, schlang die Arme um ihn und lächelte ihn glücklich an. „Ja, Jack,
ich will dich heiraten!"
Hochrufe und Beifall ertönten ringsherum. Jack und Brooke schienen nichts davon
wahrzunehmen. Mit einem langen, innigen Kuss besiegelten sie ihre Liebe.

-ENDE-

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