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Stark, Richard - Fragen Sie Den Papagei

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RICHARD STARK

FRAGEN SIE DEN PAPAGEI


Roman

Aus dem Amerikanischen von


Dirk van Gunsteren

Paul Zsolnay Verlag


Die Originalausgabe erschien erstmals 2006 unter dem Titel
Ask the Parrot bei Mysterious Press/Warner Books in New York.

1 2 3 4 5 12 11 10 09 08

ISBN 978-3-552-05446-2
© Richard Stark 2006
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2008
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germany
TEIL EINS

EINS
Als der Hubschrauber nach Norden abdrehte und hinter der Hü gelkuppe
verschwand, trat Parker unter dem Baum hervor, wo er gewartet hatte, und stieg
weiter bergauf. Was immer auf der anderen Seite dieses Hü gels sein mochte, war
auf jeden Fall besser als die Hunde, die im Talgrund hinter ihm bellten, unruhig
herumrannten, an ihren Leinen zerrten, seinen Geruch aufnahmen und den Berg
hinaufwollten. Er konnte den Fuß des Hü gels mit den Polizeiwagen, die rings um
den gemieteten Dodge, den er an dem Schnellimbiss stehengelassen hatte, nicht
mehr sehen, aber das brauchte er auch nicht. Das aufgeregte Jaulen der Hunde
reichte vollkommen.
Wie hoch war dieser Hü gel? Parker war nicht fü r eine Wanderung an einem
Oktobermittag in bergigem Gelä nde gekleidet; seine Straßenschuhe rutschten
auf dem Laub, und sein Jackett bauschte sich, als er sich von Baumstamm zu
Baumstamm nach oben hangelte. Doch er musste den Vorsprung vor den
Hunden halten und darauf hoffen, dass er, wenn es irgendwann endlich wieder
bergab ging, ein gutes Versteck oder irgend etwas Brauchbares fand.
Wie weit noch bis zum Gipfel? Er hielt, an die rauhe Borke eines Baums
gelehnt, inne und hob den Blick, und fü nf Meter ü ber ihm stand zwischen den
dü nnen Stä mmen der nachwachsenden Bä ume ein Mann. Die Nachmittagssonne
hing links von Parker, der Himmel hinter dem Mann ein blasses Oktobergrau, der
Mann selbst nur eine Silhouette. Mit einem Gewehr.
Kein Bulle. Allein. Ein Mann, der da stand, auf Parker hinunterblickte, dieselben
Hunde hö rte wie Parker und das Gewehr entspannt und schrä g nach oben
gerichtet vor der Brust hielt. Parker senkte den Blick wieder, griff nach dem
nä chsten Baum und zog sich hinauf.
Es dauerte drei, vier Minuten, bis er auf gleicher Hö he mit dem Mann war. Der
trat einen Schritt zurü ck und sagte: »Das reicht. Genau da.«
»Ich muss weiter«, sagte Parker, blieb aber stehen und wü nschte, seine Schuhe
gä ben ihm auf dem dü rren Laub einen besseren Halt.
Der Mann sagte: »Sind Sie einer von diesen Bankrä ubern, von denen ich im
Fernsehen gehö rt hab? Die drü ben in Massachusetts die Bank leergerä umt
haben?«
Parker sagte nichts. Wenn das Gewehr sich bewegte, wü rde er reagieren
mü ssen.
Der Mann musterte ihn, und ein paar Sekunden lang betrachteten sie einander.
Der Mann war etwa fü nfzig und trug eine rote Jagdjacke aus Leder mit vielen
Taschen, ausgebleichte Blue Jeans und schwarze Stiefel. Der Schirm einer rot-
schwarzen Flanellmü tze beschattete die Augen. Neben ihm lag ein grauer,
halbgefü llter Segeltuchsack mit braunen Ledergriffen.
Bei nä herem Hinsehen erkannte man eine Anspannung in dem Mann, die ein
Teil von ihm zu sein schien und nicht daher stammte, dass er im Wald einem
Mann auf der Flucht begegnet war. Seine Hä nde umklammerten das Gewehr, und
in seinen Augen war eine Bitterkeit, als hä tte ihn einmal irgend etwas verletzt
und als wä re er entschlossen, so etwas nicht noch einmal hinzunehmen.
Er schü ttelte den Kopf und zog, ungeduldig angesichts des Schweigens, die
Mundwinkel nach unten. »Ich frage nur«, sagte er, »weil ich, als ich Sie und dann
die Hunde gehö rt hab, gedacht habe, wenn Sie einer von denen sind, will ich mit
Ihnen reden.« Er zuckte zutiefst pessimistisch die Schultern. »Wenn nicht,
kö nnen Sie hier stehenbleiben und die Hunde streicheln.«
»Ich hab’s nicht dabei«, sagte Parker.
Ü berrascht sagte der Mann: »Nein, wohl kaum. War ja auch ’ne
Lastwagenladung Geld, nicht?«
»So ungefä hr.«
Der Mann sah den Hü gel hinunter. Die Hunde waren noch nicht in Sicht, aber
man konnte sie hö ren, immer wilder und aufgeregter, nur zurü ckgehalten durch
die Unbeholfenheit ihrer Fü hrer, die sich bergauf mü hten. »Heute kö nnte Ihr
Glü ckstag sein«, sagte er, »und meiner auch.« Wieder eine verdrießliche Miene.
»Ich kö nnte mal einen gebrauchen.« Er bü ckte sich, hob den Segeltuchsack auf
und sagte: »Ich hab mir was fü r den Kochtopf geschossen. Mein Wagen steht
dahinten.«
Parker folgte ihm das kurze Stü ck bis zum Hü gelrü cken, wo der Wald sich
lichtete. In einer kleinen Baumgruppe stand auf einem kaum sichtbaren Weg
ein schwarzer Ford-Gelä ndewagen, »’n alter Forstweg«, sagte der Mann, ö ffnete
die Hecktü r des Wagens und legte den Sack und das Gewehr hinein. »Ist besser,
wenn Sie vorn sitzen.«
»Klar.«
Parker setzte sich auf den Beifahrersitz, wä hrend der Mann von der anderen
Seite einstieg. Der Schlü ssel steckte im Zü ndschloss. Er startete den Wagen und
fuhr den bewaldeten Nordhang auf einem Weg hinunter, der meist nur daran zu
erkennen war, dass dort keine Bä ume standen.
Ohne die Augen von dem Weg zu nehmen, der sich vor ihnen den Hü gel
hinunterwand, sagte der Mann: »Ich bin Tom Lindahl. Und wie soll ich Sie
nennen?«
»Ed«, beschloss Parker.
»Haben Sie irgendwelche Waffen dabei, Ed?«
»Nein.«
»Die haben hier ü berall Straßensperren errichtet.«
»Ich weiß.«
»Ich meine, wenn Sie glauben, Sie kö nnten mir eins ü berziehen und mir den
Wagen klauen, wä re Ihre Fahrt nach zehn Minuten zu Ende.«
»Kö nnen Sie die Straßensperren umgehen?« fragte Parker.
»Bis zu mir sind’s bloß ein paar Kilometer«, sagte Lindahl. »Wir werden
keinem begegnen. Ich kenne mich hier aus.«
»Gut.«
Parker blickte an Lindahls verdrießlichem Gesicht vorbei nach links. Zwischen
den Bä umen konnte er jetzt unterhalb von ihnen eine zweispurige asphaltierte
Straße sehen, die parallel zu dem Forstweg verlief. Dort unten fuhr ein roter
Pick-up, allerdings in die andere Richtung, nä mlich bergauf. Parker sagte:
»Kö nnen die uns von da unten sehen?«
»Spielt keine Rolle.«
»Die mit den Hunden werden in fü nf Minuten auf dem Kamm sein«, sagte
Parker. »Wenn sie den Weg sehen, werden sie sich zusammenreimen, dass ich
mit einem Wagen weggefahren bin.«
»Wir sind bald da«, sagte Lindahl und lachte unvermittelt. Es war ein rostiges
Gerä usch, als wü rde er sonst nicht oft lachen. »Wegen Ihnen bin ich ü berhaupt
hier rausgefahren«, sagte er.
»Ach ja?«

»Im Fernsehen reden sie bloß noch von diesem Bankraub, von dem ganzen
Geld, das weg ist – ich hab’s nicht mehr ausgehalten. Ich dachte: Diese Burschen
lassen sich nicht herumschubsen. Diese Burschen haben keine Angst vor ihrem
eigenen Schatten, die gehen hin und erledigen, was erledigt werden muss. Ich
hatte eine solche Wut auf mich selbst – ich bin ein Feigling, das sag ich Ihnen
lieber gleich –, dass ich einfach das Gewehr nehmen und hier rausfahren musste.
Die beiden Kaninchen dahinten kamen mir weiß Gott gelegen, aber wirklich
gebraucht hab ich sie im Moment eigentlich nicht. Ich bin wegen Ihnen hier
rausgefahren.«
Parker betrachtete sein Profil. Wenn er sprach, machte Lindahl einen etwas
weniger verbitterten Eindruck. Was immer an ihm nagte, tat offenbar mehr weh,
wenn er es fü r sich behielt.
Lindahl warf ihm einen kurzen Blick zu. Sein Gesichtsausdruck war jetzt
beinahe frö hlich. »Und da sind Sie«, sagte er. »Und aus der Nä he, muss ich sagen,
sehen Sie nicht gerade aus wie einer, der viel auf der Pfanne hat.«
Er lenkte nach links ein steiles Gefalle hinunter, an dessen Ende der Weg in die
Straße mü ndete.

ZWEI
Der Name auf dem Ortsschild lautete Pooley, und es war ein Nest. An einer
kleinen Kreuzung standen Blinklichter, die in zwei Richtungen gelb und in die
beiden anderen Richtungen rot leuchteten. An der Ecke befanden sich eine
Tankstelle, eine geschlossene Bankfiliale, eine geschlossene Kneipe und ein
geschlossenes Sportgeschä ft. Entlang der beiden schmalen Straßen der Stadt
standen etwa zwanzig Hä user – drei oder vier davon waren mit Brettern
vernagelt, die meisten anderen heruntergekommen. Auf einer Veranda saß ein
alter Mann in einem Schaukelstuhl und schlief, und ein Stü ck weiter kniete eine
alte Frau in ihrem Vorgarten.
Lindahl fuhr geradeaus ü ber die Kreuzung und bog kurz danach rechts in eine
gekieste Einfahrt neben einem der vernagelten Hä user ein. Hinter dem Haus
stand am Ende des Grundstü cks eine fü r drei Wagen vorgesehene und mit
braunen Schindeln verkleidete Garage, die zu einer Wohnung umgebaut worden
war. Lindahl hielt an.
»Gehen Sie rein«, sagte er. »Die Tü r ist offen. Ich kü mmere mich um die
Kaninchen.«
Parker stieg aus dem Ford und ging zu dem mittleren Garagentor, aus dem eine
behelfsmä ßige Haustü r konstruiert worden war. Daneben befand sich ein
Doppelschiebefenster, das von innen mit einer Jalousie verschlossen war.
Er stieß die Tü r auf und trat in das trü be beleuchtete Innere. Es roch ein wenig
wie in einer Hö hle: alter Schmutz, gemischt mit irgendeinem Tiergeruch. Dann
bemerkte er den Papagei in dem großen Kä fig auf dem Fernseher. Auch der
Papagei sah ihn und drehte den grü nen Kopf von einer Seite zur anderen, sagte
jedoch nichts, sondern gab nur einen leisen, gurgelnden Ton von sich und hob
wiegend die Fü ße von der Stange. Die Zeitung auf dem Boden des Kä figs war
nicht neu.
Der Rest des Wohnzimmers wirkte ziemlich normal, aber schä big – es war mit
alten, verschlissenen Mö beln ausgestattet. Der Fernseher lief mit abgeschaltetem
Ton und zeigte Werbung fü r ein Mittel gegen Sodbrennen.
Der Grund fü r Lindahls Wut war Geldmangel. Es war nicht gerecht, dass er
bedü rftig war, dass er in einer solchen Umgebung leben und Kaninchen schießen
musste, um etwas im Topf zu haben. Die Nachrichten von dem großen Bankraub
hatten ihn mit Wut, Depressionen und Selbsthass erfü llt; er hä tte etwas
unternehmen mü ssen, um an das Geld zu kommen, das ihm, wie er fand,
rechtmä ßig zustand, doch er hatte nichts unternommen. Und jetzt glaubte er,
dass es helfen wü rde, mit einem Bankrä uber zu reden.
Die nä chsten fü nf Minuten verbrachte Parker damit, sich ein wenig umzusehen:
Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad, Kü che, Abstellkammer mit Ö lofen. In einer
Wandhalterung im Schlafzimmer waren drei weitere Gewehre festgeschlossen,
doch Parker fand keine Pistolen. Lindahl lebte allein und schien nicht viel
Kontakt mit anderen zu haben. Er hatte ein Konto mit
zweihundertdreiundsiebzig Dollar, schrieb ausschließlich Schecks fü r laufende
Ausgaben wie Telefon und Strom aus und hob Geld am Automaten ab. Ein
monatlicher Zahlungseingang in Hö he von siebzehnhundertsechsundfü nfzig
Dollar trug den Vermerk »Ber.unf.«. Berufsunfä higkeitsrente?
Lindahl wü rde ihm sagen, warum er mit einem Bankrä uber lieber reden als ihn
der Polizei ausliefern wollte. Was auch immer der Grund sein mochte – im
Augenblick brauchte Parker ihn. Seine einzigen Papiere waren jetzt, da der
Wagen, den er damit gemietet hatte, der Polizei in die Hä nde gefallen war,
nutzlos. In den nä chsten Tagen wü rde es in dieser Gegend unmö glich sein,
irgendwohin zu fahren oder auch nur zu gehen, ohne hin und wieder einen
Ausweis vorzeigen zu mü ssen.
Als Lindahl mit dem Gewehr und zwei weißen Plastiktü ten in den Hä nden
eintrat, saß Parker in dem Sessel, der nicht dem Fernseher zugewandt war, und
blä tterte in dem ö rtlichen Kä seblatt von gestern. Nach den Ü berschriften zu
urteilen gab es hier keine großen Stä dte, nur kleinere Ortschaften.
Parker sah zur Tü r, und Lindahl sagte: »Ich rä ume nur schnell das hier weg und
wasche mir die Hä nde«, und ging weiter in die Kü che. Parker hö rte Wasser
laufen, dann kehrte Lindahl mit dem Gewehr zurü ck, das er locker in der Hand
hielt. »Nur das noch«, sagte er und ging ins Schlafzimmer. Parker hö rte das
Klicken, mit dem das Gewehr in der Wandhalterung festgeschlossen wurde.
Jetzt endlich kam Lindahl ins Wohnzimmer und setzte sich auf die linke Seite
des Sofas. »Ich hab nachgedacht, wie ich es Ihnen sagen soll«, begann er. »Ich
bin’s nicht mehr gewö hnt, mit Leuten zu reden.«
Er hielt inne und sah Parker an, als warte er auf eine Antwort, doch Parker
sagte nichts. Also verzog Lindahl das Gesicht zu seinem sä uerlichen Lä cheln und
sagte: »Bei Ihnen ist es wahrscheinlich genauso.«
»Sie wollen mir etwas sagen.«
»Ich bin ein Petzer«, sagte Lindahl, als hä tte er das ursprü nglich mit sehr viel
mehr Worten sagen wollen. »Meine Frau hat gesagt, ich sollte das nicht tun, sie
hat gesagt, ich wü rde alles verlieren, auch sie, und sie hat recht gehabt. Aber ich
bin eben stur.«
»Und wo haben Sie gepetzt?«
»Ich hab zweiundzwanzig Jahre auf einer Rennbahn in Richtung Syracuse
gearbeitet«, sagte Lindahl. »Das Ding hieß Gro-More – nach einer
Futtermittelfirma, die vor vierzig Jahren pleite gegangen ist. Den Namen haben
sie beibehalten.«
»Sie haben gepetzt.«
»Ich war Technischer Direktor, verantwortlich fü r die Infrastruktur, den
Zustand der Gebä ude, der Tribü ne und der Bahn. Ich hab Leute eingestellt,
Aufträ ge vergeben. Mit dem Geld hatte ich nichts zu tun.«
»Was war’s dann«, sagte Parker, »wovon Sie nichts wissen sollten?«
»Ich hä tte nicht davon wissen mü ssen.« Lindahl schü ttelte den Kopf und
begann zu erklä ren. »Es war eine saubere Rennbahn«, sagte er. »Wir alle, alle, die
da gearbeitet haben, waren froh, dass es eine saubere Rennbahn war. Eine
Rennbahn kann auf tausend Arten schmutzig sein, aber nur auf eine Art sauber,
und als ich rausfand, was die mit dem Geld angestellt haben, tat das richtig weh.
Es war, als hä tten sie einem aus meiner Familie was Schmutziges angetan.«
Das Bemü hen, seine Motive zu erklä ren, vertiefte die Falten in seinem Gesicht.
Er hielt inne, machte eine wegwischende Gebä rde und sagte: »Ich brauche ein
Bier. Ohne ein Bier kann ich Ihnen das nicht erzä hlen.« Er stand auf und fragte:
»Sie auch?«
»Nein, aber holen Sie sich ruhig eins.«
Das tat Lindahl, und als er wieder auf dem Sofa saß, fuhr er fort: »Die haben
also folgendes gemacht: Sie haben illegale Wahlkampfspenden fü r Politiker aus
diesem Bundesstaat versteckt und durch die Rennbahn geschleust. Gewaschen
sozusagen.«
»Wie hat das funktioniert?« fragte Parker.
»Einer geht zur Rennbahn und setzt bei jedem Rennen tausend Dollar auf einen
krassen Außenseiter. Auf die Art und Weise lä sst er an einem Tag achttausend
Dollar da. An einem Tag. Das Geld bleibt im System, weil er mit seiner
Kreditkarte bezahlt, aber ein ganzer Haufen kleiner Wetten, die andere Leute
gemacht haben, verschwindet. Wetten, die mit Bargeld bezahlt worden sind. Der
Typ hat die achttausend also nicht dem Politiker gegeben, sondern auf der Renn-
bahn verzockt, aber kurz darauf taucht das Geld in der Tasche von dem Politiker
auf.«
»Die Pferde haben’s ihm gespendet.«
»So ungefä hr«, nickte Lindahl. »Als ich das erfahren hab, war ich wie vor den
Kopf geschlagen. Bei uns gab’s kein Doping, keine Absprachen, keine
vertauschten Pferde, keine Mafia – und dann das. Ich hab mit einem der Chefs
gesprochen, aber der sah kein Problem. Man hilft doch nur ein paar Freunden,
keiner von der Rennbahn macht dabei einen Schnitt. Das Ganze dient bloß dazu,
ein paar von den idiotischen Bestimmungen zu umgehen, die sich die
Sesselfurzer in Washington ausgedacht haben.«
»Klingt gut«, sagte Parker.
»Ist aber nicht gut.« Lindahl nahm einen Schluck Bier. »Das ist Korruption.
Wo man auch hinsieht: die Politiker, die Rennbahn, alles, was mit Sport zu tun
hat. Ich hab mit meiner Frau darü ber gesprochen, monatelang, immer wieder,
und sie hat gesagt, das ginge mich nichts an, und ich wü rde meinen Job verlieren
und alles andere dazu. Wir hatten nie viel Geld, und sie hat gesagt, wenn ich
entschlossen wä re, mein Leben in den Sand zu setzen, wü rde sie nicht bleiben
und dabei zusehen. Aber ich konnte nicht anders, und darum bin ich schließlich
zur Staatspolizei gegangen.«
»Und die haben Sie verdrahtet?«
»Genau.« Lindahl machte ein gequä ltes Gesicht. »Das bereue ich wirklich«,
sagte er. »Wenn ich hingegangen wä re und gesagt hä tte: ›Da lä uft das und das‹,
wä re ich eben bloß irgendein Zeuge gewesen. Die Staatsanwaltschaft hat mir
Druck gemacht, damit ich ihnen helfe, den Fall vor Gericht zu bringen. Aber
letztlich waren die Politiker einfach zu stark. Es wurde alles unter den Teppich
gekehrt, und keinem ist was passiert. Nur mir.«
»Sie wussten, dass es so kommen wü rde.«
»Wahrscheinlich«, sagte Lindahl und nahm noch einen Schluck. »Die haben
mich ü berredet, aber im Grunde hab ich mich wahrscheinlich auch selbst
ü berredet. Ich hab gedacht, das wä re das Beste fü r die Rennbahn – kö nnen Sie
sich das vorstellen? Nicht das Beste fü r mich, sondern fü r eine verdammte
Rennbahn, die nach einem Viehfutter benannt ist. Ich sollte mal meinen Kopf
untersuchen lassen.«
»Zu spä t«, sagte Parker.
Lindahl seufzte. »Allerdings«, sagte er. »Alle haben gesagt, ich soll mir keine
Sorgen machen, es gibt Gesetze, die Zeugen schü tzen, und mir kann keiner was
anhaben.« Er machte, die Bierflasche in der Hand, eine Geste, die den ganzen
Raum einschloss. »Sie sehen ja, wo ich jetzt bin. Meine Frau hat Wort gehalten
und ist mit ihrer verwitweten Schwester abgehauen. Ich bin seit vier Jahren
arbeitslos. Ich kriege eine kleine Berufsunfä higkeitsrente, weil ich vor Jahren mal
unter ein Pferd gekommen bin. Ich hinke nicht mal mehr, aber in
meinem Alter, mit meiner Geschichte und in dieser Gegend finde ich niemanden,
der mir irgendeinen Job gibt. Nicht mal an der Hamburgertheke wollen die
einen, der so alt ist wie ich.«
»Stimmt«, sagte Parker. »Und darum haben Sie sich in den Hintern gebissen,
weil Sie sich nicht gerä cht haben. Denn Sie denken, das kö nnten Sie. Aber wie?«
»Ich hab die Gebä ude jahrelang in Schuss gehalten«, sagte Lindahl. »Ich habe
noch immer sä mtliche Schlü ssel. Ich fahre noch immer ab und zu hin, wenn kein
Rennen veranstaltet wird und das Ganze geschlossen ist wie ein Museum, und
dann laufe ich einfach ein bisschen herum. Manchmal finde ich eine Tü r mit
einem neuen Schloss, dann nehme ich einen Ersatzschlü ssel vom Brett und
kopiere ihn.«
»Sie kö nnen also rein- und rausspazieren.«
»Nicht nur das«, sagte Lindahl. »Ich weiß auch, wo man rein- und
rausspazieren kann. Ich weiß, wo das Geld aufbewahrt wird, wo es herumliegt,
wo es fü r den Transport in die Bank gesammelt und gelagert wird. Ich weiß, wo
alles ist und wie man drankommt. Wä hrend der Rennen wird alles rund um die
Uhr bewacht, aber ich weiß, wie man um drei Uhr morgens mit einem Lastwagen
reinkommt, ohne dass einer was merkt. Ich weiß, wie man reinkommt und eine
große Ladung wieder rausbringt.«
Lindahl hatte bereits einiges von dort mitgenommen, aber das war es nicht,
was er meinte. Parker sagte: »Die haben Sie also um Ihre Frau und Ihren Job
gebracht, und da haben Sie beschlossen, sie auszunehmen, dick abzusahnen, von
hier zu verschwinden und sich gemü tlich zur Ruhe zu setzen.«
»Genau«, sagte Lindahl. »Seit vier Jahren denke ich an nichts anderes.«
»Warum haben Sie’s nicht gemacht?«
»Weil ich ein jä mmerlicher Feigling ohne Rü ckgrat bin«, sagte Lindahl und
trank sein Bier aus.

DREI
»Kö nnte aber auch sein«, sagte Parker, »dass Sie gar nicht so blö d sind.«
Lindahl sah ihn stirnrunzelnd an. »Inwiefern?«
»Sie gehen da rein«, sagte Parker, »um drei Uhr morgens, mit Ihrem Lastwagen
und Ihren Schlü sseln und Ihrem Insiderwissen, und laden das ganze Geld auf
Ihren Lastwagen und verschwinden, und wenn die am nä chsten Morgen sehen,
dass das Geld weg ist und nirgendwo Einbruchspuren zu sehen sind, was ist
dann das erste, was sie sagen? Sie sagen: ›Gibt’s da vielleicht irgendwo einen
ehemaligen Mitarbeiter, der was gegen uns hat?‹«
»Ich weiß«, sagte Lindahl, lachte in sich hinein und schü ttelte den Kopf. »Das
gehö rt ja zum Plan. Mir geht’s ja nicht nur um das Geld, sondern auch um Rache.
Die sollen wissen, dass ich mich gerä cht hab und dass sie nichts dagegen tun
kö nnen.«
»Sie wollen einfach verschwinden.«
»So was ist schon vorgekommen.«
»In letzter Zeit seltener«, sagte Parker. »Im Augenblick sitze ich hier und hö re
Ihnen zu, anstatt von hier zu verschwinden, und das nur, weil ich keinen Ausweis
habe.«
»Tja, Sie haben sie aufgescheucht«, sagte Lindahl. »Sie haben ihre Bank
ausgeraubt.«
»Ihre Rennbahn auszurauben wird sie aber auch aufscheuchen.«
»Ich erzä hle Ihnen jetzt mal meinen Plan«, sagte Lindahl. »Bei den Wetten
bezahlen die Verlierer die Gewinner, also braucht man anfangs nur wenig
Bargeld. Beim ersten Rennen nimmt das Wettbü ro genug ein, um die Gewinner
zu bezahlen und einen Schnitt zu machen, und so geht’s dann weiter. Etwa
zwanzig Prozent vom Umsatz bleibt als Gewinn, und das ist das Geld, das ich
haben will. Am Ende des Tages werden das Bargeld und die
Kreditkartenquittungen in Kisten verpackt. Die Kisten kommen auf kleine
Wagen, und die werden mit dem Lastenaufzug in den Keller gefahren. Dann
geht’s durch einen Korridor in den sogenannten Saferaum, der hat Betonwä nde,
keine Fenster und nur eine Tü r, und die ist aus Stahl und immer verschlossen.
Neben dieser Tü r ist die Tü r zu der Rampe, die am Ende des Clubhauses zur
Oberflä che fü hrt. Auch diese Tü r ist verschlossen, und das Tor am oberen Ende
der Rampe ebenfalls. Von Montag bis Freitag kommt eine Stunde nach
Schließung der Rennbahn ein Geldtransporter, fä hrt rü ckwä rts die Rampe runter
und holt die Tageseinnahmen ab. Samstags und sonntags kommt er nicht,
sondern erst am Montag morgen um acht – dann holt er die
Wochenendeinnahmen ab.«
»Und Ihr Plan ist«, sagte Parker, »die Sache Sonntag nacht durchzuziehen.«
Lindahl schü ttelte den Kopf. »Samstag nacht«, sagte er. »Diese Kisten sind
schwer. Wenn die erst mal da stehen, rü hrt sie bis Montag morgen keiner mehr
an. Ich fahre also Samstag nacht dorthin, mit Kisten, die genauso aussehen wie
die von der Rennbahn. Ich nehme die vollen mit und lasse die leeren da. Dadurch
bleiben mir sechsunddreißig Stunden, bis irgendeiner was merkt. Wie weit kann
man in sechsunddreißig Stunden kommen, wenn man bar bezahlt und keine
Spuren hinterlä sst?«
Jeder hinterlä sst Spuren, aber es hatte keinen Zweck, das Lindahl zu erklä ren,
denn es war ja sowieso alles bloß Phantasie. Parker hä tte sich Lindahls Schlü ssel
und Ortskenntnisse zunutze machen kö nnen, wenn die Gegend ein wenig
ruhiger gewesen wä re und er ein, zwei zuverlä ssige Typen hä tte finden kö nnen,
aber Lindahl selbst konnte unmö glich in dieses Feuer greifen, ohne sich zu
verbrennen.
Es war nicht Parkers Aufgabe, einem Amateur zu sagen, dass er ein Amateur
war, und ihn an Fü hrerschein, Nummernschilder, Fingerabdrü cke und das
Misstrauen zu erinnern, das Barzahlung in einem Land erregt, in dem jeder
Kreditkarten verwendet. Also sagte er: »Und den Papagei nehmen Sie mit?«
Lindahl war von dem unvermittelten Themenwechsel ü berrascht, und dann
erst recht, als er begriff, dass es ü berhaupt kein Themenwechsel war. »Darü ber
hab ich noch nie nachgedacht«, sagte er und lachte wieder in sich hinein. »Halten
Sie nach einem Mann mit einem Papagei Ausschau.« Er wandte sich zu dem Vogel
um, als sä he er ihn zum erstenmal, und sagte: »Das bin ich in den letzten Jahren
doch gewesen, oder? Wer sonst wü rde sich einen Papagei zulegen, der nicht
spricht?«
»Kein Wort?«
»Kein Wort.«
Lindahl musterte den Papagei, und der Vogel legte den Kopf schief und
musterte seinerseits Lindahl, hö rte aber schließlich damit auf und wü hlte mit
dem Schnabel in seinen Federn. Seine Augen waren so groß und schimmernd wie
Knö pfe an einem Kommunionsanzug.
Wieder zu Parker gewandt, sagte Lindahl: »Da sehen Sie, wie wenig Lust zu
reden ich in den letzten Jahren hatte. Ich nehme ihn lieber nicht mit, aber das ist
kein Problem. Ich komme ganz gut allein zurecht. Ich werde nicht mit
irgendwelchen Leuten irgendwelche Gesprä che anfangen. Gehö rt der zu Ihnen?«
Er nickte in Richtung Fernseher. Parker beugte sich vor und sah auf den
Bildschirm, der ein altes Polizeifoto von Nick Dalesia zeigte. Nick war bis eben
einer seiner Partner gewesen. Unter dem Foto stand »Nicholas Leonard Dalesia«.
Sie hatten Nick also geschnappt. Das ä nderte alles.
»Soll ich den Ton einschalten?«
»Wir wissen, was sie sagen«, antwortete Parker.
Lindahl nickte. »Wahrscheinlich.«
Der Tä ter wurde vorgefü hrt. Dalesia ging in Handschellen, mit gesenktem Kopf
und sah ziemlich mitgenommen aus. Er lief in ruckartigen kleinen Schritten von
einem Wagen der Staatspolizei ü ber den breiten Betonbü rgersteig irgendeiner
Kreisstadt zum Seiteneingang eines Backsteingebä udes, das vorn das Gericht
und in einem Seitenflü gel das Gefä ngnis beherbergte. Es war die Polizei des
Staates New York, also war auch Nick nicht sehr weit gekommen. So viele
uniformierte Polizisten wie mö glich drä ngten sich ins Bild, um Nick vom Wagen
zum Gebä ude zu schieben.
Parker lehnte sich zurü ck und sah nicht mehr auf den Bildschirm. Sie hatten
das Ding zu dritt durchgezogen und die Beute versteckt, anstatt zu versuchen, sie
durch die Straßensperren zu bringen. Wenn man einen von ihnen schnappte,
dann wü rde er – das war klar – das Versteck verraten, um sich die Sache ein
wenig zu erleichtern. Er konnte auch seine Partner verraten, sofern er genug von
ihnen wusste. Wenn man der erste war, der geschnappt wurde, gab man so viel
wie mö glich preis. Und wenn man nicht der erste war, ließ man sich lieber
ü berhaupt nicht schnappen, denn dann gab es keine Verhandlungsmasse mehr.
Das Geld war also weg. Es war eine fette Beute gewesen, aber jetzt war sie weg,
bis auf die viertausend in Parkers Tasche, und er musste noch einen Weg durch
dieses Minenfeld finden. Er sagte: »Die Saison auf dieser Rennbahn von Ihnen
lä uft noch?«
»Noch zwei Wochen«, sagte Lindahl, »und dann ist sie bis Ende April
geschlossen.«
»Also noch drei Samstage – heute und die beiden kommenden.«
»Heute kö nnen wir’s nicht tun«, sagte Lindahl und machte ein erschrockenes
Gesicht.
»Wir kö nnen heute nacht hinfahren«, sagte Parker. »Ein Probelauf, um zu
sehen, ob es ü berhaupt mö glich ist.«
Lindahl wirkte eifrig und beunruhigt zugleich. »Sie meinen, Sie wü rden das mit
mir machen?«
»Mal sehen«, sagte Parker.

VIER
Parker stand auf, ging zur Tü r und zog die Jalousie vor dem Fenster daneben
hoch. Das mit Brettern vernagelte Haus zwischen der Garage und der Straße war
ein zweieinhalbstö ckiges Holzgebä ude, wahrscheinlich hundert Jahre alt, und die
ursprü ngliche Farbe war schon lä ngst zu einem Grau verbleicht. Bis auf ein
kleines rundes Dachbodenfenster waren alle Tü ren und Fenster mit großen
Sperrholzplatten verschlossen, die ebenfalls altersgrau waren. »Erzä hlen Sie mir
mal von dem Haus da«, sagte Parker.
Lindahl erhob sich, stellte sich neben ihn und sagte: »Da hat ewig eine Frau
namens Grothe gelebt. Sie war Pensionä rin, hatte irgendeine Beamtenstelle in
der Staatsregierung gehabt. Sie war allein, und als sie schließlich starb, war sie
ü ber neunzig.«
»Warum ist da alles verrammelt?«
»Irgendwelche Cousins haben das Ding geerbt, aber die wollen mit dieser
Gegend nichts zu tun haben und sind vor Jahren zu einem Makler gegangen,
damit er es fü r sie verkauft. Bloß kauft hier keiner mehr irgendwas, und nach
einer Weile hat die Gemeinde es zur Deckung der Grundsteuerschuld gepfä ndet
und die Fenster und Tü ren vernagelt, damit sich keine Penner darin einnisten.«
»Sind Sie schon mal drin gewesen?«
»Geht ja nicht. Ist alles fest verschlossen. Und warum auch? Da gibt’s bloß
Staub und Trockenfä ule.«
»Und von wem haben Sie dieses Haus hier gemietet?«
»Von der Gemeinde. Ist verdammt billig, und zwar mit Recht. Wer kommt da?«
Ein schwarzer Taurus war von der Straße abgebogen und fuhr an dem
verrammelten Haus vorbei auf sie zu. Lindahl warf Parker einen kurzen Blick zu.
»Sind Sie hier?«
Wenn man sich nicht verstecken kann, muss man bleiben, wo man ist. »Ich bin
Ed Smith«, sagte Parker. »Ich hab vor Jahren auf der Rennbahn gearbeitet und
bin dann nach Chicago gezogen. Jetzt besuche ich Sie.«
»Smith?«
»Es gibt Leute, die so heißen«, sagte Parker. Ein untersetzter Mann in einer
dunkelbraunen Windjacke stieg aus dem Wagen. »Wer ist das?«
»Ach, der«, sagte Lindahl, als der Mann die Wagentü r zuschlug, kurz zu
Lindahls daneben geparktem Ford sah und in Richtung Tü r ging. »Wie heißt der
noch mal? Fred, Fred Soundso.«
Fred sah die beiden durch das Fenster und winkte. Sein Gesicht unter dem
roten Mü tzenschirm war breit und dick und wurde beherrscht von einer Wulst
unmittelbar ü ber den Augen.
»Angel- und Jagdclub«, sagte Lindahl und ö ffnete die Tü r. »Fred! Mensch, wir
haben uns ja ewig nicht gesehen!«
»Du stehst immer noch in der Mitgliederkartei«, sagte Fred, grinste und nickte
Parker kurz zu.
»Komm rein, komm rein«, sagte Lindahl und trat zur Seite. »Das ist Ed Smith,
ist zu Besuch. Du willst doch wohl nicht den Mitgliedsbeitrag kassieren, oder?«
Fred lachte pflichtschuldig, streckte Parker die Hand hin und sagte: »Fred
Thiemann. Jagen Sie auch, Ed?«
»Manchmal.«
»Ich kö nnte dir ein Bier anbieten«, sagte Lindahl mit zweifelndem Unterton.
»Nein, nein, keinen Alkohol«, sagte Fred, »nicht jetzt. Du hast bestimmt von
diesen Bankrä ubern gehö rt, die von Massachusetts rü bergekommen sind.«
Parker konnte sehen, wie sich Lindahls Halsmuskeln spannten, als er sich nicht
zu Parker umdrehte, sondern sagte: »Einen von ihnen haben sie geschnappt,
oder?«
»Nicht weit von hier. Die Staatspolizei glaubt, dass die anderen beiden sich
noch irgendwo hier in der Gegend verstecken, und hat uns und die American
Legion und die Veteranenverbä nde und so weiter gebeten, dass wir uns mal im
Wald und in leerstehenden Hä usern umsehen und sie vielleicht aufstö bern. Es ist
Wochenende, und eine Menge Leute machen mit.« Er zuckte die Schultern und
grinste freudig und verlegen zugleich. »Wie kleine Jungs, die Rä uber und
Gendarm spielen.«
»Wie ein Suchtrupp seinerzeit im Wilden Westen«, sagte Lindahl.
»Genau«, sagte Fred. »Nur ohne Pferde. Jedenfalls, ein paar von uns treffen sich
in St. Stanislas und nehmen sich den Hickory Hill vor. Keiner rechnet damit, dass
wir irgendwas finden, aber vielleicht kö nnen wir dafü r sorgen, dass diese Typen
in Bewegung bleiben.«
»Wie haben sie den ersten gekriegt?« fragte Parker.
»Er hat Geld aus der Beute ausgegeben«, sagte Fred. »Und das waren
hauptsä chlich frisch gedruckte Scheine – die hatten die Seriennummern.«
Die viertausend Dollar in Parkers Tasche waren also neues Geld. Er sagte: »Der
Typ war ganz schö n leichtsinnig.«
»Hoffentlich sind die anderen genauso leichtsinnig«, sagte Fred. »Wir haben
deine Telefonnummer nicht, Tom, und darum hab ich gesagt, ich schaue mal bei
dir vorbei und frage dich, ob du mitmachen willst. Sie auch, Ed.«
Lindahl sah Parker an. »Hast du Lust?«
»Klar«, sagte Parker. »Der sicherste Platz weit und breit ist beim Suchtrupp.«

FÜNF
»Tom«, sagte Parker, »du musst mir ein Gewehr leihen. Ich hab keins dabei.«
Lindahl sah ihn erschrocken an, sagte dann aber: »Klar. Komm und such dir
eins aus.«
»Soll ich auf euch warten?« fragte Fred Thiemann.
»Nein, fahr schon mal vor«, sagte Lindahl. »Ich brauche noch ein paar Minuten.
Wir sehen uns dann in St. Stanislas.«
»Gut. Hat mich gefreut, Ed.«
»Mich auch.«
Thiemann ging und schloss hinter sich die Tü r, und Lindahl wandte sich zum
Schlafzimmer. Parker folgte ihm, und als er durch die Tü r trat, starrte Lindahl ihn
wü tend an. Sein Gesicht hatte mit einemmal rote Flecken.
»Sie mü ssen hier verschwinden!« Es war ein heiseres Flü stern, beinahe ein
erstickter Schrei. »Sobald Fred weg ist, hauen Sie ab!«
»Nein«, sagte Parker.
»Was?« Lindahl traute seinen Ohren nicht. »Sie kö nnen nicht hierbleiben. Sie
sind auf der Flucht!«
»Wir haben eine Abmachung«, sagte Parker, »und an die werden wir uns
halten.«
»Nein, werden wir nicht! Keine Sekunde mehr!«
Parker stand in der Schlafzimmertü r und sah durch das vordere Fenster. »Fred
ist gerade gefahren«, sagte er. »Was wollen Sie machen – schreien? Zu dem
leeren Haus da vorn? Wollen Sie ein Gewehr aus der Halterung nehmen anstatt
zwei?«
»Als Sie gesagt haben ... als Sie gesagt haben, dass ich Ihnen ein Gewehr leihen
muss ... Herrgott, da bin ich zur Besinnung gekommen, genau in diesem
Augenblick. Sie kö nnten jemanden umbringen, den ich kenne.«
»Wie sieht es aus, wenn ich der einzige ohne Gewehr bin?« sagte Parker. »Wozu
bin ich denn sonst dabei?«
Lindahl ließ sich schwer auf das Bett sinken, die Hä nde hingen schlaff zwischen
den Knien. »Ich muss verrü ckt gewesen sein«, sagte er zum Fußboden. »Ich hab
all die Jahre ü ber diese verdammte Rennbahn nachgedacht, und dann hab ich
ü ber Sie nachgedacht, und verdammt – auf einmal stehen Sie vor mir, und ich
hab die Gä ule mit mir durchgehen lassen. Ein Hirngespinst.« Er starrte Parker an
und versuchte, ein strenges Gesicht zu machen. »Ich werde einem Hirngespinst
kein Gewehr geben. Sie mü ssen verschwinden. Ich hab Sie bis hierher gebracht,
aber jetzt sind Sie auf sich selbst gestellt. Ich werde kein Wort ü ber Sie sagen.«
»Das funktioniert nicht«, sagte Parker. »Sie sind jetzt ein Komplize. Sie haben
mich auf dem Hü gel in Ihren Wagen steigen lassen, mich mit nach Hause
genommen und als Bekannten vorgestellt, der gerade zu Besuch ist. Wenn Sie
jetzt ohne mich in St. Dingsbums erscheinen, was sagen Sie dann Fred? Und
wenn ich geschnappt werde und Fred mein Gesicht im Fernsehen sieht? Was
sagen Sie dann zu den Bullen?«
»Ich muss verrü ckt gewesen sein«, flü sterte Lindahl wie zu sich selbst. »Ich
weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.«
»Sie haben an Rache gedacht. Ich werde keinen von Ihren Freunden
erschießen, jetzt, wo Sie plö tzlich so viele davon haben. Aber ich werde ein
Gewehr haben, weil alle anderen auch eins haben.«
Lindahl sah ihn an. »Was ist, wenn wir den anderen Typ aufstö bern? Was ist,
wenn Sie versuchen, ihm zu helfen?«
»Das wü rde ich nicht tun«, sagte Parker.
Lindahl sah ihn stirnrunzelnd an und versuchte zu verstehen, was Parker damit
meinte. Er sackte ein Stü ck zusammen. »Sie meinen, Sie wü rden ihn tö ten.«
Das wü rde Parker tun, um sich zu schü tzen, aber er wollte nicht, dass Lindahl
darü ber nachdachte. »Ich werde mich von ihm fernhalten«, sagte er. »Und er von
mir. Wahrscheinlich ist er sowieso schon ü ber alle Berge.«
Lindahl schien nicht imstande, sich in Bewegung zu setzen. Er blieb auf dem
Bett sitzen, starrte ins Leere und schü ttelte langsam den Kopf, wä hrend Parker
die vier Gewehre in der verschlossenen Wandhalterung begutachtete.
Die beiden oberen waren beinahe identisch: Remington, Modell 11oo,
einlä ufige Schrotflinten, die obere Kaliber .20, die zweite das etwas grö ßere und
schwerere Kaliber .16. Die anderen beiden waren Repetierbü chsen: eine Marlin
336Y fü r .30-30 Winchester-Patronen und eine Ruger 96 fü r .44 Magnum-
Patronen. Alle vier waren alt, aber gut gepflegt und vielleicht gebraucht gekauft
worden.
Parker wandte sich wieder zu Lindahl, der noch immer zusammengesunken
und reglos auf dem Bett saß. »Lindahl«, sagte er.
Lindahl hob den Blick. In seinen Augen war kaum eine Gefü hlsregung – er
grü belte, tief in Gedanken versunken, vor sich hin.
»Sie und ich gehen zu diesem Suchtrupp«, sagte Parker. »Wir nehmen die
beiden Repetiergewehre, aber ungeladen, so dass keiner von uns versehentlich
einen Schuss abgeben kann. Wir machen mit, bis die Sache abgeblasen wird,
dann gehen wir was essen und kommen wieder her.«
»Ich will Sie hier nicht haben«, sagte Lindahl dumpf, aber stur.
»Hö ren Sie zu. Wir reden von ein paar Stunden, die wir da draußen verbringen.
Was Sie wollten – oder geglaubt haben zu wollen –, war Rache. Sie haben jetzt
Zeit, darü ber nachzudenken. Wenn wir wieder hier sind, sagen Sie’s mir: Ent-
weder wollen Sie die Rennbahn dann immer noch ausrauben oder nicht. Wenn
Sie’s machen wollen, fahren wir hin und sehen es uns an. Wenn nicht,
verschwinde ich morgen frü h.«
»Ich will Sie hier nicht haben.«
»Sie haben mich aber. Sie haben mich hergebracht, und jetzt bin ich hier. Wenn
Ihr Freund Fred nicht wä re, kö nnte ich Sie in die Abstellkammer sperren und
vergessen. Aber wenn wir nicht bald in St. Soundso erscheinen, wird Fred an-
fangen, sich ü ber dies und das Gedanken zu machen. Also mü ssen wir dorthin.
Lassen Sie uns gehen.«
Lindahl schü ttelte langsam und benommen den Kopf. »Wie ist das nur
passiert?« wollte er wissen.
»Sie haben sich dazu entschieden, als Sie mich den Hü gel raufkommen sahen«,
sagte Parker. »Sie hä tten mich ü ber den Haufen schießen oder in Schach halten
kö nnen, bis die Hunde dagewesen wä ren, und Sie hä tten sich denken kö nnen,
dass es dafü r eine Belohnung geben wü rde. Aber Sie haben mich gesehen und
gedacht: ›Der Typ kann mir helfen.‹ Vielleicht kann er das auch. Vielleicht ä ndern
Sie aber auch Ihre Meinung. Das sehen wir dann, wenn wir zurü ckkommen.
Haben Sie eine Jacke ü brig? Irgendwas Passendes fü r den Wald?«
Lindahl blinzelte verwirrt. »Eine Jacke? Ja, ich hab ein paar Jacken.«
»Und Stiefel, wenn’s geht. Diese Schuhe taugen nicht fü rs Gelä nde. Haben Sie
ein Paar Stiefel fü r mich?«
Lindahl wollte nicht auf dieses Thema eingehen. »Ich habe Stiefel, ich habe
Stiefel«, murmelte er und schü ttelte den Kopf. »Aber... nein. Nehmen Sie meinen
Wagen. Fahren Sie einfach weg.«
»Und denen genau in die Arme«, sagte Parker. »Sehen Sie mich an, Tom.«
Widerwillig sah Lindahl auf.
»Wollen Sie, dass ich glaube, dass Sie ein Problem sind, Tom?« fragte Parker.
Lindahl sah ihn stirnrunzelnd an, wendete den Blick ab und schü ttelte den
Kopf. »Nein.«
»Dann leihen Sie mir eine Jacke und ein Paar Stiefel. Und wollen Sie die Ruger
oder die Marlin?«

SECHS
Die schwarz-rote Wolljacke war zu weit, aber die Schnü rstiefel passten. Parker
nahm die Marlin, eine fü nfundachtzig Zentimeter lange Bü chse, die knapp drei
Kilo wog und ein fü nfschü ssiges Rö hrenmagazin hatte. Sie legten die beiden
Gewehre auf den Boden hinter den Vordersitzen des Gelä ndewagens und
verließen Pooley auf einem anderen Weg als dem, den sie gekommen waren.
Nach etwa zehn Kilometern nä herten sie sich der ersten Straßensperre: Zwei
Wagen der Staatspolizei verengten die Straße auf eine einzige Spur, die
Fahrzeuge und die uniformierten Polizisten hoben sich in der
spä tnachmittä glichen Oktobersonne scharf vom Dunkel des Waldes ringsum ab.
Als Lindahl den Wagen abbremste, sagte Parker: »Sie ü bernehmen das Reden.«
»Ich weiß.«
Der Beamte, der sich zu Lindahls geö ffnetem Fenster hinunterbeugte, war
schon ä lter, recht korpulent und fü r diesen Sondereinsatz vom Innendienst
abkommandiert worden, was ihn mit Unmut erfü llte. Lindahl sagte ihm seinen
Namen und dass er Mitglied des Angel- und Jagdclubs Hickory sei. Sie seien
unterwegs nach St. Stanislas, um sich an der Suche zu beteiligen.
Der Beamte trat einen Schritt zur Seite, warf einen Blick auf die beiden
Gewehre auf dem Wagenboden und sagte: »Das ganze County ist auf einmal
voller unausgebildeter Mä nner mit Gewehren. Ich wü rd’s ja nicht so machen,
aber mich hat keiner gefragt. Haben Sie einen Mitgliedsausweis?«
»Fü r den Angel- und Jagdclub? Klar.« Lindahl zog seine Brieftasche hervor und
klang ein wenig verlegen, als er sagte: »Der ist nicht mehr so ganz aktuell.«
»Macht nichts«, sagte der Polizist. »Ist ja sowieso kein Foto drauf.« Er nickte,
als Lindahl ihm den Ausweis zeigte, und sagte: »Legen Sie ihn aufs
Armaturenbrett – wenn Sie noch mal angehalten werden, wissen die Kollegen
gleich, wer Sie sind.«
»Gute Idee.« Lindahl legte den Mitgliedsausweis so hin, dass man ihn durch die
Windschutzscheibe sehen konnte. Mü rrisch, aber resigniert trat der Polizist
einen Schritt zurü ck und sagte: »Okay, gute Fahrt.«
»Danke, Sir.«
Sie fuhren durch hü geliges, grö ßtenteils bewaldetes Gelä nde. Viele der Bä ume
verfä rbten sich herbstlich rot, rotbraun und golden. Es gab Apfelgä rten mit
Bä umen, deren Laub dunkelrot war, und stoppelige Wiesen, auf denen Kü he
gegrast hatten. Jetzt waren die meisten leer, doch hier und da konnte man Pferde,
Schafe und sogar Lamas sehen. Die wenigen Hä user waren alt und geduckt.
Eine Weile fuhren sie bergauf. Die Straße fü hrte in Serpentinen durch einen
teils bewirtschafteten Wald, und schließlich erreichten sie eine Ortschaft mit
einer steilen Hauptstraße und einem Schild, auf dem »St. Stanislas« stand. Ihr
Ziel war keine Kirche, sondern eine alte Versammlungshalle, deren
Holzverkleidung vor zu vielen Jahren mittelbraun gestrichen worden war. Davor
standen entlang der Straße Pfosten mit den metallenen Insignien von einem
halben Dutzend Clubs und Bruderschaften.
Auf dem Platz neben dem Gebä ude parkten bereits mehrere Wagen, und
Lindahl stellte seinen Ford dazu. Die beiden nahmen die Gewehre und gingen zu
der Gruppe von Mä nnern, die vor der verschlossenen Vordertü r des Hauses stan-
den. Die meisten waren ü ber fü nfzig, weich und ü bergewichtig, und sie bewegten
sich mit beherrschter Erregung.
Lindahl kannte jeden von ihnen, auch wenn klar war, dass er schon lä nger
nichts mit ihnen zu tun gehabt hatte. Sie freuten sich, ja waren geradezu
begeistert, ihn zu sehen, und sie freuten sich auch, Parker kennenzulernen, den
Lindahl als einen alten Freund vorstellte, der gerade zu Besuch war.
Parker schü ttelte den lä chelnden Mä nnern, die ihn aufstö bern wollten, die
Hä nde, und dann fuhr ein Wagen der Staatspolizei vor, und zwei Uniformierte
stiegen aus. Der jü ngere war ein einfacher Streifenpolizist, der ä ltere dagegen
hatte an Mü tze und Uniform zusä tzliche Kordeln und Abzeichen.
Dieser stieg die Stufen zum Eingang der Versammlungshalle hinauf, drehte sich
um und sagte: »Ich mö chte Ihnen fü r Ihr Kommen danken. In dieser Gegend
treiben sich zwei sehr gefä hrliche Mä nner herum, und es ist ein Zeichen von
Bü rgersinn, dass Sie uns helfen wollen, sie zu finden und in Gewahrsam zu
nehmen. Sie alle haben in den Fernsehnachrichten gehö rt, welches Verbrechen
diese Mä nner begangen haben. Sie haben niemanden getö tet, aber eine Menge
Sachschaden verursacht und drei Angestellte der Geldtransportfirma ins
Krankenhaus gebracht. Die Waffen, die sie dabei benutzt haben, sind in den
Vereinigten Staaten verboten. Wir wissen nicht, ob sie diese Waffen noch haben
oder ob sie vielleicht noch andere besitzen. Aber wir wissen, dass sie bewaffnet
waren und ä ußerst gefä hrlich sind. Wir bitten Sie, nicht allein loszugehen,
sondern immer in Sichtweite von mindestens einer Person Ihrer Gruppe zu
bleiben. Wenn Sie auf einen der Flü chtigen oder sogar alle beide stoßen, versu-
chen Sie nicht, ihn oder sie selbst festzunehmen. Wir haben es hier mit
Berufsverbrechern zu tun, mit skrupellosen Mä nnern, auf die sehr lange
Haftstrafen warten. Diese Mä nner haben keinen Grund, Sie nicht
niederzuschießen, wenn Sie sich ihnen in den Weg stellen. Wenn Sie glauben, sie
entdeckt zu haben, setzen Sie sich so schnell wie mö glich mit uns oder einer
anderen Polizeistelle in Verbindung. Versuchen Sie sie im Auge zu behalten, und
lassen Sie sich unter keinen Umstä nden auf ein Feuergefecht mit ihnen ein. Mein
Kollege Oskott wird Ihnen Phantombilder der Gesuchten geben, und Ben Weiser,
Ihr Clubvorsitzender, wird Ihnen das Gebiet beschreiben, das Sie durchsuchen
sollen. Ben?«
Ben Weiser war in den Sechzigern und so ü bergewichtig wie die meisten
anderen. Oben auf dem Kopf war er vollkommen kahl, doch an den Seiten und
hinten hatte er sehr lange graue Haare, die ihm ü ber die Ohren und den Kragen
fielen, so dass er aussah wie ein Kavallerie-Scout im Ruhestand. Wä hrend Oskott
Fotokopien der Phantombilder austeilte, sagte Weiser: »Freut mich, dass ihr fast
vollzä hlig gekommen seid. Wir haben sogar einen Freiwilligen dabei, Ed Smith,
den Tom Lindahl mitgebracht hat – das ist dann also ein Ausgleich fü r all die
Treffen, bei denen Tom nicht erschienen ist. Schö n, dass du da bist, Tom. Und
willkommen beim Angel- und Jagdclub Hickory, Ed.«
Parker nahm die beiden Kopien und betrachtete sie, wä hrend Weiser fortfuhr,
Leutseligkeiten von sich zu geben, und ein anderer Mann in das Gebä ude ging
und mit einer Staffelei zurü ckkehrte, die er auf die oberste Stufe stellte. Parker
hatte das Phantombild von sich selbst bereits gesehen, und zwar im Fernseher
des Schnellimbisses, bevor die Polizei seinen Mietwagen entdeckt hatte. Keiner
hatte vom Bildschirm zu diesem Gast an der Theke gesehen und gerufen:
»Da ist er!«, und auch vor dem Versammlungshaus drehte sich keiner zu ihm um
und sagte: »Ed? Bist das nicht du?«
Die andere Zeichnung sollte McWhitney darstellen, seinen vormaligen Partner,
und wenn man McWhitney kannte und gesagt bekam, dass er der Mann auf der
Zeichnung war, konnte man wohl gewisse Ä hnlichkeiten entdecken. Doch an
dieser Gruppe hä tte McWhitney vorbeigehen kö nnen, und nicht einer der
Mä nner hä tte sich nach ihm umgedreht.
Phantombilder kü mmerten Parker nicht. Sorge bereiteten ihm nur die
viertausend Dollar in numerierten Scheinen, die er in der Tasche hatte, und die
Tatsache, dass er keinen verwendbaren Ausweis besaß. Bis zur Lö sung dieser
beiden Probleme war er bei dem Suchtrupp am besten aufgehoben.
»Sehen ganz schö n hart aus, diese Burschen«, sagte einer. »Ich weiß nicht, ob
ich die ü berhaupt finden will.«
Dafü r bekam er ein paar Lacher, und dann sagte ein anderer: »Ach, ich glaube,
Cory und ich wü rden mit denen schon fertig werden, oder was meinst du, Cory?«
»Ich halte solange deine Jacke«, sagte der neben ihm, und wä hrend auch diese
Bemerkung belacht wurde, sah Parker sich die beiden an – Cory und den, dem er
die Jacke halten wollte.
Sie waren etwas jü nger und wirkten etwas rauher als die meisten anderen.
Beide trugen Jeans, Stiefel und dicke, dunkle Arbeitshemden. Vielleicht waren
sie Brü der, denn sie hatten dasselbe dichte, dunkelblonde Haar, das ihnen in
Strä hnen ü ber die Ohren hing, und dieselben hä ngenden Schultern. Der eine, der
gesagt hatte, Cory und er wü rden es mit den Flü chtigen aufnehmen, hatte eine
schwarze Klappe auf dem linken Auge, was ihn unvermeidlich wie einen Piraten
aussehen ließ – als wä re er der hartgesottenere der beiden Brü der. Mit dem
gesunden Auge sah er sich nun herausfordernd um, als suchte er jemanden, mit
dem er es außerdem aufnehmen kö nnte. Sein Blick streifte auch Parker, und der
wandte sich ab, denn er wollte nicht allzuviel Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Inzwischen sagte Ben Weiser: »Hier ist eine topographische Karte der Gegend.«
Jemand hatte sie auf der Staffelei ausgebreitet, musste sie jedoch festhalten,
damit die Brise sie nicht davonwehte. Weiser beschrieb, welches Gebiet sie
absuchen sollten, und sagte Sä tze wie: »Ihr kennt ja das Haus vom alten Heisler.«
Offenbar kannten es tatsä chlich alle.
Parker achtete nicht weiter auf die Einzelheiten – in diesem Teil des Landes
kannte er sich ohnehin nicht aus –, doch den Ansatz, den sie wä hlten, fand er
interessant. Sie nahmen an, dass die beiden Gesuchten die Haupt- und
wahrscheinlich auch die Nebenstraßen mieden; aber warum sie vermuteten,
dass die Bankrä uber sich in Waldlä ufer verwandelt hatten, wurde nicht deutlich.
Jedenfalls hatten diese Leute vor, Feldwege und Zufahrten zu kontrollieren, die
niemand mehr benutzte, und insbesondere wollten sie sich verlassene Gebä ude,
ehemalige Bauernhö fe und Scheunen vornehmen, ja sogar einen alten Bahnhof.
Die Siedlung, zu der er gehö rt hatte, gab es nicht mehr, denn die Eisenmine war
schon vor hundert Jahren geschlossen worden.
Und dort wü rde Parker zusammen mit Tom Lindahl und Fred Thiemann
suchen. Man hatte beschlossen, in Gruppen zu drei Mann loszuziehen, und
Weiser erklä rte den Grund dafü r. Falls eine Gruppe auf einen oder beide
Flü chtige stieß, konnte einer zurü cklaufen und Alarm schlagen, ohne dass ein
anderer allein zurü ckblieb, um den oder die Gesuchten im Auge zu behalten.
Die Mä nner, die einzeln oder zu zweit gekommen waren, fanden sich nun zu
Dreiergruppen zusammen und gingen zu den Wagen. Da Lindahls Gelä ndewagen
gerä umiger war als Thiemanns Taurus, entschieden sie sich fü r diesen. Lindahl
setzte sich ans Steuer, Parker nahm wie zuvor auf dem Beifahrersitz Platz, und
Thiemann saß hinten bei den Gewehren.
Sie schlossen sich der Kolonne an, die den Parkplatz vor dem
Versammlungshaus verließ, und folgten etwa eineinhalb Kilometer weit ein paar
anderen Wagen. »Dieser Ort, zu dem wir fahren«, erklä rte Lindahl, »heißt Wolf
Peak und war frü her mal eine Bergarbeitersiedlung.«
»Vor dem Bü rgerkrieg«, warf Thiemann von hinten ein. »Hier im Nordwesten
gab’s ü berall Eisenbergwerke, aber nach dem Bü rgerkrieg waren die alle
erschö pft.«
»In Wolf Peak haben sie noch bis zur Jahrhundertwende weitergemacht«, sagte
Lindahl, »haben Abraum verarbeitet und ein bisschen Holzfä llerei betrieben,
aber die Jungen sind alle weggezogen, und als um neunzehnhundert herum die
Eisenbahnlinie eingestellt worden ist, war’s dann vorbei.«
»Die Hä user waren alle aus Holz«, sagte Thiemann, »und sind abgebrannt oder
einfach verrottet, aber der Bahnhof ist aus dem Stein, den sie hier in der Gegend
gebrochen haben. Das Dach ist weg, aber die Mauern stehen noch. Ich hab da
selbst mal Unterschlupf gesucht, als ich auf der Jagd war und ein Gewitter kam.«
»Es gibt da oben vielleicht noch ein paar andere Verstecke«, sagte Lindahl,
»aber in erster Linie interessiert uns der Bahnhof.«
Thiemann streckte sich auf dem Rü cksitz aus und sagte: »Soll ich euch sagen,
was ich glaube? Ich glaube, diese Bankrä uber sind aus der Stadt und haben keine
Ahnung, was es heißt, sich in einer Gegend wie der hier zu verstecken.«
»Wie meinen Sie das?« fragte Parker.
»Leute wie Tom und ich«, sagte Thiemann, »stammen aus Familien, die schon
seit Generationen hier sind – es ist, als wä ren die Erinnerungen unserer
Großvä ter mit unseren eigenen vermischt. Wir kennen diesen Teil der Welt wie
unsere Westentasche. Kein Stadtmensch kennt seine Stadt so wie wir diese
Hü gel. Wenn ein Fremder hier durchkommt, wenn er versucht, sich zu
verstecken, dann sieht ihn einer und denkt: ›Der ist nicht von hier.‹ Hier kann
man sich nicht verstecken.«
»Ich verstehe«, sagte Parker.
Thiemann beugte sich vor und sagte: »Woher kommen Sie eigentlich, Ed?«
»Aus Chicago«, sagte Parker. »Aber ich kenne mich dort nicht besonders gut
aus.«
Thiemann grinste. »Dann wissen Sie ja, was ich meine«, sagte er und lehnte
sich wieder zurü ck.
Die Straße fü hrte meist bergauf und kreuzte nach ein paar Kilometern eine
Hauptstraße, auf der eine Straßensperre errichtet war. Einer der Polizisten,
jü nger als der erste, trat auf sie zu, sah dann Lindahls Mitgliedsausweis auf dem
Armaturenbrett, winkte sie durch und rief grinsend: »Weidmannsheil.«
Nach wenigen Kilometern bog Lindahl nach links auf eine steile zweispurige
Straße voller Risse und Schlaglö cher ab. »Da oben stehen noch ein paar Hä user«,
sagte er, »deswegen halten sie die Straße einigermaßen in Schuss. Danach gibt’s
nur noch Feldwege.«
»Die schü tteln einem glatt die Zä hne aus dem Kopf«, bemerkte Thiemann.
Er hatte beinahe recht. Nach dem zweiten kleinen bewohnten Haus rü ckte der
Wald nä her an den Weg heran, der jetzt auch noch steiler als zuvor bergauf
fü hrte und geriffelt war wie Wellblech. Lindahl fuhr langsam und wich den tief-
sten Schlaglö chern aus.
»War die Eisenbahnlinie in der Nä he der Straße?« fragte Parker. »Ich sehe
nichts davon.«
»Die haben die Gleise im Zweiten Weltkrieg abgebaut und eingeschmolzen«,
sagte Lindahl. »Es ist jetzt nicht mehr weit.«
Zuerst sah man zwischen den Bä umen rechts und links des Wegs
Kaminstü mpfe aus Feld- oder Backsteinen aufragen, dann Ruinen von
Holzhä usern, die zu einem Drittel ihrer ursprü nglichen Hö he
zusammengesunken waren, und schließlich tauchte rechts vor ihnen der
Bahnhof auf, flach und langgestreckt, ohne Dach, mit schmalen, hohen
Fensterhö hlen und umgeben von Ü berresten einer Betonflä che. Im Gebä ude
wuchsen Ahornbä ume und Wildkirschen, manche von ihnen ragten ü ber die
Dachkante hinaus. Der Wald war hier so dicht, dass das Sonnenlicht nur in
schmalen Streifen auf den Boden fiel – wie von Scheinwerfern, die den Schau-
spieler, dem sie eigentlich folgen sollten, verloren hatten.
Was frü her einmal ein Parkplatz gewesen sein mochte, war jetzt ü berwuchert.
Lindahl hielt einfach vor dem Gebä ude auf dem Weg an, und alle drei stiegen aus.
Thiemann hatte sein Gewehr, eine Winchester 70, Kaliber .30-06, schon in der
Hand, wä hrend Lindahl die linke hintere Tü r ö ffnete und die beiden anderen
Gewehre herausholte. Parker ging vorn um den Wagen herum und streckte die
Hand aus, und nach kurzem Zö gern reichte ihm Lindahl mit einem starken,
misstrauischen Stirnrunzeln die Marlin.
Die Front des Gebä udes war von Ranken ü berwachsen, die auch ü ber den
tü rlosen Eingang hingen. »Vorsicht«, sagte Thiemann und zeigte darauf, »das ist
Giftsumach.«
»Auf der Rü ckseite gibt’s wahrscheinlich breitere Tü ren«, vermutete Lindahl.
»Fü r Frachten.«
Sie gingen um das Gebä ude herum. Man konnte tatsä chlich nicht mehr
erkennen, wofü r es ursprü nglich gedient hatte: keine Bahnsteige, kein Gleisbett,
keine verrostenden Gepä ckkarren. Es hä tte ursprü nglich, vor langer Zeit,
ebensogut ein Tempel im Dschungel sein kö nnen.
Einer der Zugä nge an dieser Seite war breit und nicht halb zugewachsen. Sie
traten hindurch, und Thiemann zeigte nach links und sagte: »Da drü ben hab ich
damals Schutz gesucht und darauf gewartet, dass das Gewitter aufhö rt.« Er
spä hte in die Ecke und sagte: »Was ist das?«
Sie gingen zur linken Ecke des Gebä udes. Dort lag ein kleiner Haufen aus altem
Stoff, hauptsä chlich verschlissene Decken und Handtü cher. Es sah aus wie ein
Mä usenest, stammte jedoch offensichtlich von einem Menschen.
»Du bist nicht der einzige, der hier Schutz vor einem Gewitter gesucht hat«,
sagte Lindahl. Er hob den Blick und fuhr fort: »Mit den ü berhä ngenden Ä sten ist
das wahrscheinlich der geschü tzteste Ort.«
Thiemann stü tzte den Gewehrkolben auf den Boden, ging in die Hocke und
betastete den Stoffhaufen. Mit weit aufgerissenen Augen sah er zu ihnen auf und
flü sterte so leise, dass sie es gerade noch hö ren konnten: »Warm.«
Lindahl starrte Parker an. Seine Hä nde umklammerten das Gewehr wie zuvor,
als Parker, verfolgt von den Hunden, ihn auf dem Hü gel zum erstenmal gesehen
hatte.
»Hat den Wagen gehö rt«, sagte Parker.
Thiemann stand auf. »Dann ist er noch in der Nä he.« Er war aufgeregt, beinahe
aufgekratzt, bemü hte sich aber, es zu verbergen und einen erwachsenen,
professionellen Eindruck zu machen.
Lindahl sagte, hauptsä chlich zu Parker gewandt: »Glaubst du, er ist
bewaffnet?«
»Wenn er versuchen wollte, durch die Straßensperren zu kommen, wohl eher
nicht.«
»Einer, der sich hier oben versteckt«, sagte Thiemann, »versucht nicht, durch
die Straßensperren zu kommen.«
Parker wusste, dass der Mann, den sie aufgestö bert hatten, nicht McWhitney
sein konnte, sah aber keinen Grund, das den anderen mitzuteilen. »Kö nnte auch
ein anderer sein«, sagte er nur.
Thiemann schnaubte. »Hier oben, am Arsch der Welt?«
»Sie waren ja auch mal hier.«
Thiemann schü ttelte den Kopf, unwillig, weil man seine Phantasie in Frage
stellte. Er zeigte auf den Stoffhaufen und sagte: »Ich hab mir damals kein Lager
gemacht, und« – er hob den Finger zum Himmel – »es gibt kein Gewitter. Also
lasst uns sehen, was wir hier haben.«
Sie verließen den Bahnhof. Thiemann ging halb geduckt voraus, das Gewehr
mit beiden Hä nden gepackt. Draußen blieb er stehen und blickte ü ber die ebene
Flä che, wo die Gleise gewesen waren, zum Wald. Er war ganz still geworden,
ganz Auge und Ohr, und studierte das nach rechts steil abfallende Gelä nde.
Zwischen den dü nnen Stä mmen der nachwachsenden Bä ume wucherte niedriges
Gebü sch.
Parker und Lindahl warteten kurz hinter Thiemann, und nach einer langen
Minute trat dieser, ohne den Blick vom Waldrand zu wenden, einen Schritt
zurü ck. »Seht mal dahin, wohin ich sehe.«
Geradeaus und etwas nach rechts. Parker und Lindahl sahen hin. Parker
wusste nicht, ob Lindahl etwas bemerkte – er jedenfalls konnte nichts
entdecken. Da waren nur Bü sche und Bä ume.
»An dem Busch da vorn sind kleine Zweige abgebrochen«, murmelte
Thiemann. »Das Unterholz ist da sehr dicht. Seht ihr, wie er sich durchgezwä ngt
hat?«
»Stimmt«, sagte Lindahl. »Sehr gut, Fred.«
»Ist auch nicht viel anders als ’ne Hirschjagd.« Thiemann nickte zum Wald hin.
»Ihr beide bleibt rechts und links von mir. Ich gehe durch die Lü cke, die er
gerissen hat.«
Langsam setzten sie sich in Bewegung. Lindahl warf Parker hinter Thiemanns
Rü cken einen besorgten Blick zu, konzentrierte sich dann aber auf das Gelä nde.
Das Land war zerklü ftet, voller Felsen und Grä ben; sie kamen nur sehr langsam
voran. Es war unmö glich, dabei keine Gerä usche zu machen: Unter ihren Fü ßen
knirschten tote Ä ste und dü rres Laub, und sie mussten stä ndig Zweige beiseite
schieben. Als sie etwa zehn Meter zurü ckgelegt hatten, drehte Parker sich um.
Das Bahnhofsgebä ude war bereits grö ßtenteils vom Unterholz verborgen, nur
die unregelmä ßige Dachlinie war noch zu sehen. Sich hier zu verlaufen wü rde
nicht lange dauern.
»Stehenbleiben!«
Das war Thiemann, ein undeutlicher Schemen im Wald zu Parkers Linken.
Vor ihnen ertö nte plö tzlich lautes Rascheln und Knacken. Jemand rannte
verzweifelt durch den unbarmherzigen Wald.
»Fred, nicht!« Das war Lindahl, unsichtbar auf Thiemanns anderer Seite. Er
klang panisch.
»Stehenbleiben, verdammt!« rief Thiemann.
Der Schuss klang hell und flach, ohne jedes Echo, als hä tte man zwei
Holzblö cke zusammengeschlagen.
»Nicht, Fred!«
Zu spä t. Man hö rte einen heiseren Schrei und dann eine heftige Bewegung auf
dem Waldboden. Parker ging darauf zu. Zu seiner Linken rü ckte Thiemann vor,
vorsichtiger und tief geduckt.
Was immer da getroffen worden war, schlug nun lä rmend um sich und ließ die
Bü sche erzittern. Parker war rechtzeitig da, um das Blut aus dem Loch im
Rü cken des Manns quellen zu sehen, so rot wie Wein, so dick wie Motorö l. Er lag
mit dem Gesicht nach unten auf dem Laub und den Zweigen und zuckte mit den
Armen und Beinen, als wollte er durch den Wald schwimmen.
Und dann lag er still. Der pulsierende Blutstrom wurde schwä cher und
versiegte, als Thiemann hinzutrat. Er schnaufte, als wä re er zwei Kilometer
gerannt, und starrte den Mann auf dem Boden so gebannt an, als hä tte er ihn
soeben geboren. Seine Stimme war heiser, als er sagte: »Welcher ist es?«
»Keiner von beiden«, sagte Parker.
Lindahl kam von weiter links hinzu. »Was ist mit ihm?«
»Er ist tot«, sagte Parker.
Thiemann versuchte, die Phantombilder aus der Tasche zu ziehen, ohne sein
Gewehr loszulassen. »Verdammt«, sagte er. »Verdammt! Halt mal, Tom.«
Lindahl nahm Thiemanns Gewehr, und Thiemann holte die beiden Kopien
hervor, faltete sie auseinander und ließ sich neben dem Toten auf ein Knie nieder.
Er wollte den Leichnam offenbar nicht anfassen, musste aber den Kopf des
Mannes drehen, um das Gesicht sehen zu kö nnen.
»Er ist keiner von denen«, sagte Parker.
Doch Thiemann wollte es noch nicht glauben. Der Mann, der vor ihnen auf dem
Boden lag, war klein, mager und alt, mit dü nnem, grauem, verfilztem Haar und
einem dichten, grauen, ungepflegten Bart. Er trug eine zerrissene graue
Arbeitshose und einen blauen, alten, mottenzerfressenen Pullover mit zahllosen
Flecken. An den Fü ßen hatte er zu große schwarze Schnü rschuhe und keine
Socken. Die Knö chel waren schmutzig und voller alter Schnitte und
Schü rfwunden.
Thiemann musste den Kopf des Toten mit beiden Hä nden drehen. Das Gesicht
war knochendü rr, mit tiefen Falten und Schorf rings um den Mund und unter den
Augen, die entsetzt auf irgend etwas weit Entferntes starrten.
Thiemann wich zurü ck und wischte die Finger an Gras und Blä ttern ab. »Ein
alter Landstreicher«, sagte er. Seine Stimme klang so, wie die Augen des Toten
blickten.
»Fred?« sagte Lindahl. »Hast du ihn nicht genau erkennen kö nnen?«
»Er ist ... gerannt. Warum zum Teufel ist er weggerannt?«
»Weil Mä nner mit Gewehren hinter ihm her waren«, sagte Parker.
»Scheiße.« Thiemann suchte nach irgendeinem Halt, nach irgend etwas, das
ihm sein inneres Gleichgewicht zurü ckgeben wü rde. »Weiß er denn nicht, was
hier los ist? Alle hier in der Gegend wissen es. Gott und die Welt sind unterwegs
und suchen nach den Bankrä ubern. Keiner will was von ihm – warum,
verdammt, rennt er dann weg?« Er stand zusammengesunken und mit
hä ngenden Armen da, den Blick ins Leere gerichtet.
»Fred, der Typ wusste nichts davon«, sagte Lindahl sanft. »Er hat hier oben
gehaust, irgendein alter Penner, und ab und zu ist er hinunter ins Tal gegangen
und hat geschnorrt oder geklaut, aber fü r die Nachrichten hat er sich nicht
interessiert, Fred.«
Thiemann sagte: »Ich fü hle mich ... Ich kann nicht ... Ich muss ...«
Parker und Lindahl stü tzten ihn von beiden Seiten und halfen ihm, sich zu
setzen. Der Tote lag links neben ihm. Thiemann sah ihn nicht an und drehte sich
im Sitzen ein Stü ck, bis der Mann aus seinem Blickfeld verschwunden war.
»Meint ihr«, sagte er, kleinlauter als zuvor, »wir sollten das hier ... ihn ...
runterbringen? Oder einfach der Polizei sagen, wo er liegt?«
»Nein«, sagte Parker.
Thiemann sah auf. »Was?«
»Wir werden der Polizei nichts sagen. Wir werden niemandem was sagen.«
Lindahl hielt sein eigenes Gewehr in der rechten und Thiemanns in der linken
Hand. Er sah Parker argwö hnisch an, machte eine Bewegung, als wü nschte er, er
hä tte eine Hand frei, und sagte: »Wie meinst du das, Ed?«
»Die haben uns gesagt, wir sollen nicht schießen«, sagte Parker. »Selbst wenn
wir einen von ihnen gefunden hä tten, hä tten wir nicht schießen sollen. Und der
hier ist keiner von denen. Er war unbewaffnet und ist in den Rü cken geschossen
worden.« Parker sah Thiemann an. »Wenn Sie zur Polizei gehen, wandern Sie in
den Knast.«
»Aber ...« Thiemann sah auf der Suche nach einem Ausweg nach links und
rechts. »Aber das ist nicht recht. Wir sind so was wie Hilfssheriffs.«
»Wir sollten suchen«, sagte Parker. »Die Augen offenhalten. Nicht schießen.
Wenn Sie zur Polizei gehen, Fred, ist das schlecht fü r Sie und schlecht fü r uns.«
Das riss Thiemann aus seiner Erstarrung. »Schlecht fü r euch? Herrje, inwiefern
soll das schlecht fü r euch sein?«
Parker konnte nicht riskieren, dass sich die Polizei fü r dieses Trio von Jä gern
interessierte. Wenn man ihn genauer unter die Lupe nä hme, wü rde er innerhalb
von fü nf Minuten auffliegen. Doch Thiemann brauchte eine andere Begrü ndung.
»Sie haben einen unbewaffneten Mann in den Rü cken geschossen«, sagte er, um
noch ein wenig Salz in die Wunde zu reiben. »Einen Mann, der nicht zu denen
gehö rt hat, die wir suchen. Tom und ich waren dabei und haben Sie nicht daran
gehindert. Und das heißt, dass wir Komplizen sind.« Parker sah Lindahl an und
sagte, ohne sein Gewehr zu bewegen: »Du weißt, wie ich das meine, Tom. Fü r uns
ist das genauso wichtig. Das hier ist nicht passiert.«
Lindahl war bleich geworden. Er begriff, was Parker ihm und Thiemann
klarmachen wollte. »Mein Gott, Ed«, sagte er, »du meinst, wir sollen ihn hier
liegenlassen? Das kann man mit einem Menschen doch nicht machen.«
»Tom«, sagte Parker, »was dieser Typ mit sich selbst gemacht hat, war ganz
genauso schlimm, es ging nur langsamer. Er hatte kein großartiges Leben, und es
war nicht mehr viel davon ü brig. Was fü r einen Unterschied macht es, ob er da
drü ben, in der Ruine, erfriert oder verhungert oder im Delirium tremens an
Leberzirrhose stirbt oder hier im Wald durch Freds Kugel? Er ist tot, und die
Tiere werden sich ü ber seine Leiche hermachen.«
»Herrgott«, sagte Fred und hielt sich mit seiner zitternden linken Hand die
Augen zu.
»Ich kann so was nicht mal denken«, sagte Lindahl.
»Darum denke ich fü r euch«, sagte Parker. »Wir stecken in einer Klemme, und
der einzige Ausweg ist, dass das hier nie passiert ist.«
Lindahls hilfloser Blick wanderte von dem Toten zu Thiemanns
zusammengesunkener Gestalt und schließlich zu Parker. »Sollten wir ihn nicht
wenigstens ... begraben?«
Parker kratzte mit der Fußspitze ü ber den steinigen Boden. »Hier? Wie denn?
Selbst wenn wir drei Schaufeln hä tten – die wir nicht haben –, wü rde es Stunden
dauern, ein Loch zu graben. Und wozu? Fred, was fü r Tiere gibt’s hier oben außer
Hirsche?«
Thiemann schien ü berrascht, dass man ihn ansprach. Langsam ließ er die Hand
sinken und sah blinzelnd zu Parker auf, ohne ihm in die Augen zu blicken.
»Tiere?«
»Raubtiere. Aasfresser.«
Thiemann stieß einen tiefen, bebenden Seufzer aus, doch als er sprach, war
seine Stimme ruhig. »Tja«, sagte er, »wir haben Kojoten – nicht viele, aber ein
paar.«
»Luchse«, sagte Lindahl.
»Stimmt. Und einen Haufen Truthahngeier«, sagte Thiemann und deutete auf
den Himmel.
»Die werden kommen«, sagte Lindahl, »kaum dass wir weg sind.«
Thiemann schü ttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »so schnell nicht. Es wird
schon ein paar Stunden dauern, bis –« Er hielt inne, kniff die Augen fest
zusammen und schü ttelte den Kopf. »Verdammt!«
»Sie dachten, es wä re der richtige«, sagte Parker zu ihm. Jetzt, da Thiemann
keine Probleme mehr machen wü rde, war es am besten, wenn er sich nicht
allzusehr aufregte. »Es hä tte jedem von uns passieren kö nnen.«
»Das stimmt, Fred«, sagte Lindahl.
Thiemann breitete die Hä nde aus. »Es war einfach so ... Ich dachte: Mann, ich
hab ihn! Ich! Ich hab ihn!« Wieder schü ttelte er voller Selbstekel den Kopf. »Als
ich gesagt hab, dass wir uns auffü hren wie kleine Jungs, hab ich doch nicht so
was gemeint. Das sollte ein Witz sein. Aber es war kein Witz.« Er sah Lindahl um
Vergebung heischend an und sagte: »Ich hab noch nie jemanden getö tet. Einen
Menschen. Irgend jemanden. Wenn man einen Hirsch schießt, na ja, dann hat
man Wildbret, dann hat man ...«
»Einen Grund«, schlug Lindahl vor.
»Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich dazu noch imstande bin.« Thiemann
blickte sich um, vermied es aber, den Toten anzusehen. »Wü rdet ihr mir bitte
aufhelfen?«
Sie taten es. Er sagte: »Ich kann nicht mehr, ich muss nach Hause, ich muss ...
ich weiß nicht, ich muss allein sein. Fü r heute bin ich fertig.«
»Haben Sie eine Frau, Fred?« fragte Parker.
»Klar«, sagte Thiemann. »Und eine Tochter, die aufs College geht.«
»Kö nnen Sie mit Ihrer Frau reden? Kö nnen Sie ihr vertrauen?«
Thiemann sah ihn verwundert an. »Klar kann ich ihr vertrauen. Aber mit ihr
reden?« Er zeigte hinter sich auf den Leichnam. »Darü ber?«
»Sie mü ssen mit jemandem darü ber reden«, sagte Parker. »Sie kö nnen das
nicht irgendwohin schieben und dann nie mehr darü ber sprechen, denn dann
wird es Sie auffressen. Sie werden das nicht aushalten. Und mit jemand anders
kö nnen Sie nicht darü ber reden, nicht mal mit Tom hier. Sagen Sie es Ihrer Frau,
sprechen Sie mit ihr darü ber.«
»Er hat recht, Fred«, sagte Lindahl. »Jane wird dir helfen.«
Thiemann zuckte verlegen und unbehaglich mit den Schultern. »Bringt mich
zurü ck zum Wagen.«
Sie arbeiteten sich durch das dichte Unterholz zur Bahnhofsruine. Thiemann
hatte nicht um sein Gewehr gebeten und schien nichts davon wissen zu wollen,
dass es seins war, und so trug Lindahl beide Gewehre im rechten Arm und
bahnte sich mit dem linken einen Weg durch das Gebü sch.
Parker ging hinter den beiden, den Blick auf ihre Rü cken gerichtet, und
ü berlegte, was mit ihnen zu tun sei. Dass ü berall in dieser Gegend
Straßensperren errichtet waren und er keine brauchbaren Papiere und nicht
einmal brauchbares Bargeld besaß, bedeutete, dass er sich, wenigstens fü r den
Augenblick, mö glichst an Lindahl halten musste.
Aber wieviel Verlass war auf Thiemann? Wenn er mit seiner Frau sprach und
sie vernü nftig war und wusste, was zu tun war, um ihn vor Problemen zu
bewahren, war alles in Ordnung. Aber wenn Thiemann anfing, mit jemand
anders, irgend jemand anders zu reden, wü rde die Sache im Nu ans Licht
kommen. Und Parker wü rde erst wissen, dass es ein Problem gab, wenn Lindahls
Haus umstellt wü rde.
Die Alternative war, beide zu erschießen, Lindahls Ford zu nehmen und zu
verschwinden. In diesem County wü rde Lindahls Mitgliedsausweis fü r den
Angel- und Jagdclub Hickory ihn durch alle Straßensperren bringen, besonders
wenn er das Gewehr gut sichtbar auf den Rü cksitz legte. Nicht die Marlin,
sondern die Ruger – die einzige Waffe, die nicht abgefeuert worden war.
Aber das Problem beschrä nkte sich ja nicht auf dieses County, sondern
erstreckte sich hundert Kilometer in jede Richtung. Ein sicherer Unterschlupf
war im Augenblick das Wertvollste, worauf er hoffen konnte. Wenn Lindahl oder
Thiemann ihm so ä hnlich gesehen hä tten, dass er deren Papiere hä tte benutzen
kö nnen, dann wä re es anders gewesen.
Lindahl wandte plö tzlich den Kopf und sah ihn stirnrunzelnd und mit einem
fragenden Blick an, doch Parker schob sich wie die beiden anderen durchs
Unterholz, die Marlin locker im Arm, die Hand weder am Abzug noch am
Repetierhebel. Parker nickte ihm ausdruckslos zu, und Lindahl drehte sich
wieder zum Bahnhof um, der jetzt vor ihnen lag, und ging weiter.

SIEBEN
Sie saßen im Ford wie zuvor: Lindahl am Steuer, Parker neben ihm, Thiemann
mit den drei Gewehren auf dem Rü cksitz. Wä hrend der ersten Minuten, als sie
ü ber die Waschbrettpiste fuhren, schwiegen alle, doch dann sagte Thiemann, als
hä tte er lange darü ber gebrü tet: »Ihr habt mich jetzt echt in der Hand, stimmt’s?
Ihr beiden.«
Lindahl warf einen kurzen Blick in den Rü ckspiegel, musste sich aber wieder
auf den Weg konzentrieren. »In der Hand? Wie meinst du das: in der Hand?«
»Naja, du weißt schon – diese ... Sache. Ihr wisst, dass ich einen Mann
erschossen habe.«
Parker drehte sich halb um, so dass er Thiemann ansehen konnte, und legte
den Unterarm auf die Lehne. »Wir alle mü ssen einander vertrauen, Fred. Tom
und ich werden niemandem was davon sagen – also sitzen wir im selben Boot
wie Sie.«
»Nicht ganz«, sagte Thiemann, und er klang bitter. »Nicht ganz, Ed Smith.«
Mit einem abermaligen raschen Blick in den Rü ckspiegel sagte Lindahl: »Was
ist los, Fred? Du kennst mich. Wir kennen uns schon lange.«
»Nicht lange, Tom«, erwiderte Thiemann. »Nicht jahrelang. Du kommst nicht zu
den Treffen, du gehst nicht raus. Ich hab dein saures Gesicht seit drei Jahren
nicht gesehen. Du lebst wie ein Einsiedler.«
»So schlimm steht’s nun auch wieder nicht um mich«, sagte Lindahl, doch es
klang, als gä be er zu, dass es vielleicht doch so schlimm um ihn stand.
»Jeder weiß«, sagte Thiemann, »was fü r ein Miesepeter du geworden bist, seit
du deinen Job verloren hast.«
Das gefiel Lindahl nicht. »Ach ja? Jeder weiß das? Und alle reden darü ber, was,
Fred?«
»Darü ber braucht niemand zu reden«, sagte Thiemann. »Das wissen ja sowieso
alle. Du hast deinen Job verloren, du bist ein Miesepeter geworden, deine Frau ist
dir davongelaufen, und du verhä ltst dich nicht so, als wolltest du irgendwelche
Freunde haben. Ich kenne dich gar nicht mehr. Ich kenne dich fast so wenig wie
diesen Burschen hier, und von dem weiß ich immerhin, dass er schnell und gut
reden kann.«
»Fred«, sagte Parker, »erzä hlen Sie Ihrer Frau, was heute passiert ist, und
fragen Sie sie, ob Sie sich stellen sollen. Wenn sie will, dass Sie sich stellen, ist es
ganz egal, was ich sage.«
»Ach, ich weiß, was sie sagen wird«, antwortete Thiemann, als wä re er wü tend
ü ber dieses Wissen. »Mach dir keine Probleme, mach es nicht noch schlimmer,
du kannst den Mann nicht wieder lebendig machen, es ist vorbei.«
»Absolut richtig«, sagte Lindahl.
Thiemann beugte sich vor, so dass sein Gesicht dem Parkers nä her war und er
zu Lindahls Profil sprechen konnte, und sagte: »Das einzige, was sie mir nicht
sagen wird, ist: Vergiss es. Ich werde es nie vergessen.«
»Keiner von uns wird das je vergessen, Fred«, sagte Lindahl. »Das war fü r uns
alle ein schlimmer Augenblick.«
Parker sah, dass Thiemann fand, er mü sse bestraft werden, aber klug genug
war, um zu wissen, dass er sich selbst nicht bestrafen konnte, ohne auch
andere zu bestrafen. Zu-nä chst seine Frau und seine Tochter, die aufs College
ging. Aber dann auch Tom Lindahl.
Thiemann versuchte also, sich von den Leuten zu distanzieren, die zu leiden
haben wü rden. Tom Lindahl war fü r ihn ein Fremder, ein Einsiedler, ein
Miesepeter. Seine Frau wü rde ihn nicht verstehen, sondern nur irgendwelche
Standard-Ratschlä ge geben. An diese unwü rdigen Menschen konnte er nicht
denken – er konnte nur an sich selbst denken.
Mit der Tochter wü rde er mehr Mü he haben. Vielleicht wü rde sie ihn auf Kurs
halten. Die gefä hrlichste Zeitspanne war jedenfalls die zwischen jetzt und der
Ankunft bei Thiemanns Haus. Sofern seine Frau zu Hause war.
»Fred, ist Ihre Frau jetzt zu Hause?« fragte Parker.
»Ja«, sagte Thiemann ohne großes Interesse. »Sie arbeitet im Krankenhaus,
allerdings nicht samstags.«
»Das ist gut«, sagte Parker.
Schweigend fuhren sie weiter, bis sie wieder auf der Landstraße waren und an
die Straßensperre kamen, wo der lä chelnde Polizist sie erkannte und
durchwinkte. Lindahl und Parker winkten zurü ck, wä hrend Thiemann
zusammengesunken dasaß und auf die Lehne des Beifahrersitzes starrte. Kurz
darauf richtete er sich auf und sagte zu keinem von beiden im besonderen: »Ich
weiß nicht, ob ich fahren kann.«
Parker sah ihn an: Thiemann war bleich geworden. Seit dem Vorfall befand er
sich in einem Schockzustand, und jetzt zog sein Organismus das Blut aus jenen
Kö rperteilen ab, in denen es gebraucht wurde, zum Beispiel aus seinem Gehirn.
»Soll ich dich nach Hause fahren, Fred?« fragte Lindahl.
»Aber da ist ja noch mein Wagen«, sagte Thiemann. »Der steht immer noch in
St. Stanislas.«
Parker sagte: »Ich kö nnte Sie mit Ihrem Wagen fahren, Fred, und Tom kö nnte
uns folgen.«
Lindahl warf Parker einen scharfen Blick zu. »Du meinst, ich fahre euch nach?«
»Das ist die einzige Mö glichkeit, wie ich dann wieder zu deinem Haus komme,
Tom. Was meinen Sie, Fred – soll ich?«
Thiemann sah stirnrunzelnd von Parker zu Lindahls Hinterkopf und wieder zu
Parker. »Ich glaube schon«, sagte er. »So sollten wir’s machen. Danke.«

ACHT
Vor dem Versammlungshaus parkten mehrere Wagen von Leuten, die, wie
Thiemann, mit anderen zur Suche aufgebrochen waren. Wie es aussah, war sonst
noch niemand zurü ck. Zwischen den Fahrzeugen stand ein Wagen der Staatspoli-
zei. Parker sah ihn und sagte zu Lindahl: »Du redest mit dem Polizisten, und ich
bringe Fred zu seinem Wagen. Als wir den Bahnhof durchsucht haben, ist ihm
schlecht geworden. Wir haben da oben nichts gefunden.«
»Okay.«
Der Polizist stieg aus. Es war der ä ltere mit der Mü tzenkordel, der zuvor zu den
Mä nnern gesprochen hatte. Lindahl fuhr zu Thiemanns Taurus und hielt an, dann
stiegen sie aus.
Wä hrend Lindahl auf den Polizisten zuging, suchte Thiemann in seinen
Taschen nach dem Wagenschlü ssel und fand ihn schließlich, schaffte es mit
seinen zitternden Fingern jedoch nicht, den Knopf zu drü cken, der die Tü ren
entriegelte. »Verdammt. Ich kann dieses Ding nicht –«
»Geben Sie her.«
Thiemann sah Parker an und wollte ihm die Schlü ssel zunä chst nicht geben, tat
es dann aber schließlich doch. Parker drü ckte auf den Knopf und sah ü ber die
Kü hlerhaube des Gelä ndewagens zu Lindahl, der mit dem Polizisten sprach. Er
schien das ganz gut zu machen – es gab anscheinend keine Probleme.
Thiemann ö ffnete die Fahrertü r und machte ein verwirrtes Gesicht. »Ich sollte
auf der anderen Seite einsteigen«, sagte er.
»Ich hole Ihr Gewehr«, sagte Parker.
»Nein!«
Es war eine scharfe Antwort und so laut, dass Lindahl und der Polizist zu ihnen
herü bersahen. Ruhig und leise sagte Parker: »Wollen Sie es bei Tom lassen?«
Thiemann blinzelte und nickte. »Fü rs erste«, sagte er. »Ja, nur fü rs erste. Ich
hole es dann ab ... irgendwann.«
»Ich sag’s ihm. Setzen Sie sich schon mal rein, ich bin gleich wieder da.«
»Ja, okay.«
Thiemanns Wagenschlü ssel in der Hand ging Parker zu Lindahl und dem
Polizisten. Die beiden sahen noch immer zu Thiemann. »Tag«, sagte Parker zu
dem Polizisten.
»Tag. Alles in Ordnung?«
»Nein, Fred ist ganz schö n durch den Wind.«
»Wenn Sie mich fragen, ist es Borreliose«, sagte Lindahl.
»Ja, das kommt hier ziemlich hä ufig vor«, sagte der Polizist.
»Kopfschmerzen«, sagte Parker. »Und er ist ganz durcheinander. Ich fahre ihn
nach Hause.«
»Gut.«
»Tom, er will dass du sein Gewehr mitnimmst – er holt es dann spä ter ab.«
Parker zuckte die Schultern und sah den Polizisten mit einem schwachen
Grinsen an. »Deswegen hat er so laut ›Nein‹ gerufen«, sagte er. »Wahrscheinlich
denkt er, er kö nnte sich versehentlich erschießen.«
»Wenn man mit einem Gewehr in der Hand stolpert«, sagte der Polizist. »So
was ist schon vorgekommen.«
»Fä hrst du mir nach, Tom?«
»Ja. Okay, Captain?«
»Klar«, sagte der Polizist. »Danke fü r Ihre Hilfe.«
»Jederzeit«, sagte Lindahl.
Als sie zu den Wagen gingen, rief der Polizist ihnen nach: »Sagen Sie Ihrem
Freund, er soll eine Blutuntersuchung machen lassen. Mit Borreliose ist nicht zu
spaßen.«
»Ich sag’s ihm«, versprach Lindahl.
Sie gingen weiter, und Parker fragte leise: »Ist das so eine Art ö rtliche
Krankheit?«
»Sie wird von Zecken ü bertragen«, sagte Lindahl. »Es ist eine ziemlich ü ble
Sache. Aber ich wette, Fred hä tte lieber Borreliose als das, womit er sich jetzt
herumschlagen muss.«

NEUN
Parker setzte sich ans Steuer des Taurus, schob, weil er lä ngere Beine hatte, den
Sitz ein Stü ck zurü ck, ließ den Motor an und sah dann zu Thiemann, der reglos
neben ihm saß und tief in Gedanken versunken vor sich hin starrte. Parker
wartete und sagte schließlich: »Wohin?«
»Was? Ach so. Herrje, ich weiß nicht, was mit mir los ist.«
»Die Sache hat Sie mitgenommen«, sagte Parker. »Das ist nur natü rlich. Also,
wohin?«
»An der Ausfahrt vom Parkplatz links.«
Parker fuhr los und sah, dass Lindahls Gelä ndewagen ihnen folgte. »Geben Sie
mir rechtzeitig Bescheid, wenn ich abbiegen muss«, sagte er.
»Ja. Mir geht’s jetzt besser. Wird schon gehen.«
»Gut.«
Sie fuhren ein paar Kilometer, und Parker merkte, dass Thiemanns
Aufmerksamkeit sich nach und nach von seinen dü steren Gedanken auf Parkers
Profil richtete. Thiemann sah ihn mit gerunzelter Stirn fragend an, als versuchte
er, etwas zu verstehen. Parker sagte nichts, und Thiemann blickte wieder nach
vorn und sagte: »An dem Stoppschild da mü ssen wir rechts.«
»Gut.«
Sie bogen ab. Vor ihnen war eine weitere Straßensperre. Parker ließ das
Seitenfenster herunter, fuhr auf den Standstreifen und winkte Lindahl, er solle
sie ü berholen. Als Lindahl, der das Fenster der Beifahrertü r geö ffnet hatte, auf
gleicher Hö he mit ihnen war, rief Parker ihm zu: »Wir gehö ren zu dir – du hast
unsere Gewehre.«
Lindahl nickte und gab Gas. Parker folgte ihm. »Weiß Tom, wo Sie wohnen?«
fragte er.
»Klar.«
»Gut. Dann kann er vorausfahren, und Sie brauchen mir nicht den Weg zu
erklä ren.«
»Ist wahrscheinlich am besten.«
An der Sperre bremste Lindahl ab. Der Beamte gehö rte zur ö rtlichen Polizei. Er
sah Lindahls Mitgliedsausweis auf dem Armaturenbrett und winkte ihn durch,
doch Lindahl hielt kurz an und erklä rte die Sachlage. Der Mann warf einen Blick
auf die Gewehre, die auf dem Boden vor dem Rü cksitz lagen, nickte und winkte
Lindahl abermals durch, ebenso wie Parker. Er grinste nicht wie der an der
anderen Straßensperre, aber er hielt Parker auch nicht an.
Eine Weile fuhren sie schweigend hinter Lindahl her, dann sagte Thiemann:
»Sie mochten diese Straßensperre nicht.«
»Es ist immer leichter, wenn sie einen durchwinken. Und wir wollten ja, dass
Tom vorausfä hrt.«
»Aber Sie mochten diese Straßensperre nicht.«
»Stimmt, ich mag keine Straßensperren«, sagte Parker. »Die machen mich
nervö s. Die Leute sind angespannt, und manchmal passiert was.«
»Sie macht gar nichts nervö s«, sagte Thiemann.
Parker sah ihn an und blickte wieder auf die Straße und Lindahls Wagen.
»Was soll denn das heißen?«
»Als ich da oben den Mann erschossen hab, hat mich das vö llig fertiggemacht.«
»Ja, klar.«
»Und Tom auch. Nur Sie nicht.«
»Vielleicht merkt man mir so was einfach nicht an.«
»Kann sein. Aber Sie waren ganz schö n cool. Sie wussten, was wir tun sollten
und warum wir es tun sollten. Tom und ich, wir wä ren nie auf den Gedanken
gekommen, den armen Kerl fü r die Aasfresser liegenzulassen. Das war das erste,
das Sie mich gefragt haben: was fü r Aasfresser es hier in der Gegend gibt.«
»Weil Sie in Schwierigkeiten waren, Fred«, sagte Parker. »Das wissen Sie doch.
Und Tom weiß es ebenfalls.«
»In dem Augenblick, als Sie die Straßensperre gesehen haben«, sagte
Thiemann, »haben Sie das Fenster aufgemacht und sind rechts rangefahren. Sie
wussten genau, was Sie zu Tom sagen mussten.«
»Es war einfacher, ihn vorfahren zu lassen und durchgewunken zu werden,
anstatt anzuhalten und die ganze Prozedur mitmachen zu mü ssen.«
»Wir hä tten bloß die Fü hrerscheine zeigen mü ssen.«
»So war’s jedenfalls einfacher.«
Thiemann sah durch die Windschutzscheibe und sagte nichts mehr, aber er
dachte nach. Er hatte irgendeinen Verdacht, doch er wusste nicht, welchen. Er
hatte gespü rt, dass Parker anders war, doch er wusste nicht, was das bedeutete.
Ein ä lteres, offenes, knallrotes Cadillac-Cabriolet, so groß wie ein Schnellboot,
kam ihnen, unvermittelt laut hupend, entgegen. Die drei Mä nner mittleren Alters
mit leuchtendroten oder orangefarbenen Mü tzen, die darin saßen, winkten
Lindahl mit Bierdosen zu. Lindahl hupte ebenfalls und winkte zurü ck, hielt aber
nicht an. Auch der Cadillac fuhr weiter, und die drei Mä nner grinsten und riefen
auch Parker und Thiemann etwas zu. Sie waren frö hlich und ausgelassen. Parker
grü ßte mit einem Nicken, hupte aber nicht.
»Die gehö ren zu unserer Gruppe«, sagte Thiemann.
»Ich weiß.«
»Sie sollten lieber nicht trinken. Das ist das Schlimmste, was man tun kann.«
Thiemann verzog das Gesicht und wandte sich ab. »Beinahe das Schlimmste.«
Lindahl setzte den linken Blinker, und Parker tat dasselbe. »Wie weit ist es
noch?«
»Ein paar Kilometer.« Thiemann sah ihn wieder an. »Sie halten nicht viel von
uns, stimmt’s?«
»Wie meinen Sie das?«
»Nicht bloß von diesen Burschen mit dem Bier«, sagte Thiemann. »Von uns
allen, die wir hier herumrennen und Menschenjä ger spielen. Man konnte es in
den Augen der Polizisten sehen: Die fanden, wir sind ein Witz. Nutzlos und ein
Witz. Und in Ihren Augen hab ich’s auch gesehen. Sie denken dasselbe.«
Parker bog hinter Lindahl ab. Das Misstrauen, das Thiemanns Gespü r fü r
Parkers Andersartigkeit entsprang, hatte sich in Verlegenheit verwandelt: Parker
war nicht mehr ein außenstehender, unbekannter Fremder, dem man nicht
trauen konnte, sondern ein Richter, der ü ber ihnen stand und sie fü r schuldig
befunden hatte. Das war gut, denn es sorgte dafü r, dass Thiemann in der Spur
blieb und keine Probleme machte.
»Oder stimmt das etwa nicht, Ed? Sie denken doch auch so, oder?«
»Nein, kein Witz«, sagte Parker. »Aber Sie sind nicht dafü r ausgebildet. Mit der
richtigen Ausbildung hä tten Sie da oben im Wald vielleicht nicht ganz so schnell
geschossen.«
»Nicht ganz so schnell.« Thiemann stieß ein freudloses Lachen aus. »Einer, der
ausgebildet ist, wä re vielleicht noch schneller gewesen, sollte man meinen.«
»Einer, der ausgebildet ist, weiß, wann er schnell sein muss«, sagte Parker.
»Sind Sie ausgebildet?«
»Ein bisschen.«
»Dachte ich mir. Hier ist es.«
Es war eine eher vorstä dtische als lä ndliche Wohngegend mit in weiten Bö gen
verlaufenden Straßen und hü bschen kleinen Hä usern auf großen grü nen
Grundstü cken. Lindahl schaltete den rechten Blinker ein, bog jedoch nicht ab,
sondern hielt hinter einer Einfahrt, die zu einem hellbraunen Haus im Ranchstil
mit Doppelgarage fü hrte.
Parker fuhr in die Einfahrt und fragte: »Welche Garage?«
»Ist egal, sie sind beide voller Gerü mpel.«
Parker hielt an, schaltete den Motor aus und ö ffnete die Fahrertü r. Thiemann
blieb einfach sitzen. »Je eher Sie mit ihr sprechen, desto besser«, sagte Parker.
»Verdammt, was soll ich ihr denn sagen?«
»Schatz, ich habe einen Fehler gemacht.«
Thiemann machte ein verstö rtes Gesicht. »Das ist eine verdammt merkwü rdige
Art, es auszudrü cken.«
»Aber genau das ist passiert.«
»Ein Fehler.«
»Kommen Sie, steigen Sie aus.«
Sie stiegen aus und sahen einander ü ber das Wagendach hinweg an. »Ich denke
die ganze Zeit«, sagte Thiemann, »wie gut es ist, dass Sie nicht die Geduld mit mir
verloren haben. Ich weiß nicht, warum ich das denke.«
»Ich habe jede Menge Geduld«, sagte Parker. »Ich bin im Urlaub. Reden Sie mit
Ihrer Frau.«
»Mache ich. Vielleicht sehen wir uns noch, bevor Sie wieder fahren.«
»Vielleicht«, sagte Parker.

ZEHN
Parker stieg in den Ford, und Lindahl fuhr sogleich los. Er sah auf die leere, einen
Bogen beschreibende Vorortstraße und sagte: »Wie geht’s ihm?«
»Sie kennen ihn besser als ich.«
»Nicht in einer solchen Situation.« Lindahl warf Parker einen kurzen,
unbehaglichen Blick zu, als wisse er nicht, wie er es ausdrü cken sollte, und sah
wieder auf die Straße. »Das ist ja nichts, was einfach so passiert ist«, sagte er. »Er
hat einen Mann erschossen. Ich kann mir das nicht mal vorstellen.«
»Sie haben versucht, ihn davon abzuhalten.«
»Er war einfach zu ...« Lindahl hielt inne, wä hrend er aus dem Vorort auf die
Landstraße einbog. »Fred fü hrt gern das Kommando«, sagte er. »Er denkt gern,
dass er einer ist, der alles im Griff hat, egal, was es ist.«
»Hat er diese Sache auch im Griff?«
Wieder ein rascher Seitenblick. »Was meinen Sie damit?«
»Er steht unter Schock«, sagte Parker. »Darum kann er im Augenblick nicht klar
denken. Außerdem hat er tief drinnen die Vorstellung, dass er bestraft werden
sollte. Das kö nnte dazu fü hren, dass er zu den Bullen geht, und das wiederum
wä re schlecht fü r alle.«
»Besonders fü r Sie.«
»Nein, besonders fü r Fred. Er tut vielleicht so, als hä tte er alles im Griff, aber in
Wirklichkeit bewegt er sich auf unbekanntem Territorium. Die Erinnerungen
seines Großvaters werden ihm keine große Hilfe sein.«
Lindahl schnaubte. »Ich wette, es tut ihm leid, dass er das gesagt hat.«
»Vielleicht, spä ter.«
»Ich sag Ihnen was – das kö nnte ihm helfen, die Klappe zu halten«, sagte
Lindahl, »und es ist was, ü ber das er nie redet. Sein ä ltester Sohn sitzt im Knast.«
»Wie ist das denn passiert?«
»Er war in der Armee, und die haben ihn in den Nahen Osten geschickt, damit
er denen alles ü ber Demokratie beibringt. Dort hat er ein paar junge
Einheimische kennengelernt, die wiederum ihm einiges beigebracht haben.
Diese Burschen sind in irgendwelche Hä user gegangen und mit Sachen
rausspaziert, die sie vorher noch nicht hatten.«
»Aha.«
»Nicht wie Sie. Eher Kleinkram. George war trotzdem schwer beeindruckt. Als
er zurü ckkam, hat er allen davon erzä hlt. Die hatten sogar ein spezielles Wort
dafü r: Hawasim –das heißt Plü nderer.« Lindahl zuckte die Schultern. »Ist
wahrscheinlich nicht ganz einfach, in einem Kriegsgebiet ein Plü nderer zu sein.«
»Wahrscheinlich.«
»George dachte, er wä re auch ein Hawasim, und jetzt sitzt er drei bis fü nf Jahre
in Attica ab. Das letzte, was Fred will, ist, in der Nachbarzelle zu sitzen.«
»Gut.«
Sie fuhren schweigend weiter. Parker nahm an, dass der Schock darü ber, dass
sein Sohn im Gefä ngnis saß, fü r Thiemann beinahe so groß war wie der, den er
heute erlitten hatte. Wü rde dieser zweite Schlag es wahrscheinlicher machen,
dass er sich in sich selbst zurü ckzog, den Mund hielt und keine Probleme
machte? Oder wü rde er eher dafü r sorgen, dass Thiemann außer Kontrolle
geriet?
»Ich will es durchziehen«, sagte Lindahl.
Sie hatten etwa zehn Minuten lang geschwiegen, und nun brach dieser Satz so
unvermittelt aus ihm hervor, als wollte er nicht vergessen, ihn auszusprechen.
Oder als wollte er die Gelegenheit, seine Meinung zu ä ndern, nicht wahrnehmen.
Er hatte die Worte tonlos, aber mit Nachdruck gesagt, und sein Gesicht verriet
große Intensitä t.
»Die Rennbahn?« fragte Parker.
»Ich habe diese Leute drei Jahre nicht gesehen«, sagte Lindahl. »Was hat Fred
gesagt? Drei Jahre? Er hatte recht: Ich kenne sie nicht mehr, und sie kennen mich
nicht. Ich bin ihnen scheißegal.«
»Die haben Sie ebenfalls lange nicht gesehen.«
»Aber sie haben eine Meinung ü ber mich«, sagte Lindahl, »und mehr brauchen
sie gar nicht. Sie haben gehö rt, was Fred gesagt hat. Ich habe meinen Job
verloren, meine Frau ist mir davongelaufen, ich bin ein Miesepeter geworden –
Ende der Geschichte.«
»Sie haben ihnen ja auch keine andere gegeben.«
»Weil es so ist.« Lindahl nickte wie zustimmend der Straße vor ihnen zu.
»Solange ich hierbleibe«, sagte er, »bin ich das, wofü r sie mich halten. Ein
Einsiedler, hat Fred gesagt. Der sein Leben nicht bloß einmal zerstö rt hat,
sondern es jeden Tag aufs neue zerstö rt.« Wieder ein nachdrü ckliches Nicken,
diesmal mit einem nachdrü cklichen Blick auf Parker. »Und das bleibe ich«, sagte
er, »solange ich hier bin, es gibt keine Hoffnung, da je rauszukommen. Ich muss
die Rennbahn ausrauben, sonst bin ich wie ein Toter, wie ein wandelnder Toter,
ganz allein.« Er lachte – es klang bitter. »Mit einem Papagei, der nicht spricht.«
»Wir fahren nachher hin«, sagte Parker. »Wenn es dunkel ist.«
Lindahl atmete tief und bebend ein und dann wieder aus. »Ich bin ein neuer
Mensch«, sagte er. »Man sieht’s mir noch nicht an, aber ich bin ein neuer
Mensch.«

ELF
Mit ausgeschaltetem Ton schien der Fernseher nur mitzuteilen, dass nicht viel
Mitteilenswertes geschehen war. Parker gab Lindahl Jacke und Schuhe zurü ck,
und dann machte Lindahl sich auf, um etwas zu essen zu besorgen. »Sie wollen
bestimmt nichts von den Kaninchen«, sagte er. »Und ich auch nicht mehr.«
»Gut«, sagte Parker.
Lindahl schlü pfte in seine Jacke. »Hier in der Nä he gibt’s nichts«, sagte er. »Ich
werde wahrscheinlich eine Stunde weg sein.«
»Wenn irgendwas passiert, von dem ich erfahren sollte, rufen Sie an«, sagte
Parker.
Lindahl sah ihn ü berrascht an. »Sie wollen doch wohl nicht ans Telefon gehen.«
»Nein. Aber ich werde mir anhö ren, was Sie dem Anrufbeantworter zu
erzä hlen haben.«
»Oh. Ja, gut.«
Lindahl fuhr davon, und Parker ging in die Kü che, wo er beim erstenmal eine
Schublade voll Werkzeug gesehen hatte. Er zog die viertausend Dollar in
neuen Scheinen aus der Tasche und stopfte das Bü ndel tief in den
ü belriechenden Mü llsack unter der Spü le, wusch sich die Hä nde und wandte sich
der Schublade zu. Er nahm einen Hammer, einen Schlitz- und einen
Kreuzschlitzschraubenzieher, eine Handsä ge und eine Taschenlampe heraus. Aus
dem Schlafzimmer holte er einen rechten Handschuh aus schwarzem Leder.
Dann verließ er die umgebaute Garage und ging zur Rü ckseite des vernagelten
Hauses.
Es war inzwischen beinahe sieben Uhr und im abendlichen Zwielicht gerade
noch hell genug, um etwas erkennen zu kö nnen. Die wenigen Hä user, in denen
Licht brannte, wirkten dunkler als der Rest der Welt. Auf der Straße war kein
Verkehr, und außer dem Rascheln kleiner Tiere war kein Laut zu hö ren.
Parker untersuchte die Hintertü r des Hauses. Zwei Betonstufen mit verzierten
Eisengelä ndern fü hrten hinauf. Eine ein Zentimeter dicke Sperrholzplatte war
mit Aussparungen fü r die Gelä nder versehen und an beiden Seiten und oben am
Tü rrahmen festgeschraubt worden. Es waren insgesamt vierzehn
Kreuzschlitzschrauben, die vermutlich mit einem Akkuschrauber hineingedreht
worden waren, einem Werkzeug, das Parker nicht hatte.
Die große Frage war, wie lang diese Schrauben waren. Fü r eine ein Zentimeter
dicke Sperrholzplatte wä ren zweieinhalb Zentimeter lange Schrauben
vollkommen ausreichend, aber jemand mit einem Akkuschrauber wü rde auch
lä ngere verwenden, wenn sie gerade zur Hand waren.
Parker zog den Handschuh an und nahm den Kreuzschlitzschraubenzieher von
der Stufe, wo er das Werkzeug abgelegt hatte. Die Schrauben waren vor langer
Zeit eingedreht worden, und die erste saß ziemlich fest, doch Parker packte den
Schraubenzieher mit beiden Hä nden, und nach ein paar heftigen Rucken lö ste
sich die Schraube und glitt heraus, als wä re sie geö lt.
Zweieinhalb Zentimeter; gut. Parker steckte sie in die Tasche und wandte sich
der nä chsten zu.
Einige ließen sich leicht herausdrehen, andere leisteten mehr Widerstand, aber
insgesamt brauchte er nur eine Viertelstunde, um alle zu lö sen. Parker zog die
Sperrholzplatte zurü ck; dahinter war eine gewö hnliche Kü chentü r mit vier
kleinen Fensterscheiben in der oberen Hä lfte. Der Tü rgriff war entfernt worden,
denn er wä re der Holzplatte im Weg gewesen.
Der nä chste Schritt bestand darin, die Schrauben zu bearbeiten. Er drehte die
Platte seitlich und lehnte sie an ein Gelä nder, dann setzte er alle Schrauben bis
auf die in der linken unteren Ecke wieder ein, jedoch nur so weit, dass der Kopf
noch ein paar Millimeter herausstand. Die Spitzen, die ü ber die Innenseite der
Platte ragten, sä gte er ab. Anschließend drehte er die Schrauben bis zum
Anschlag hinein. Wenn die Sperrholzplatte vor der Tü r stand, wü rde alles aus-
sehen wie immer, doch ein leichter Ruck an der Oberkante wü rde genü gen, um
sie zu entfernen.
Die letzte Schraube drehte er von innen etwas oberhalb der Mitte in die Platte,
allerdings nur so weit, dass sie von außen nicht zu sehen war. Sie wü rde der Griff
sein, mit dem man die Platte von innen zuziehen konnte.
Dann kam die Tü r an die Reihe. Er zog den Handschuh aus, hielt ihn vor das
Fenster, das dem fehlenden Tü rgriff am nä chsten lag, und schlug mit dem
Hammer darauf. Das gedä mpfte Klirren des zerbrochenen Glases hallte
hauptsä chlich im Inneren des Hauses wider. Er entfernte die letzten Scherben
aus dem Rahmen, griff durch das Fenster, fand den Griff auf der Innenseite der
Tü r und drehte ihn. Die Tü r war nicht verschlossen – es gab ja auch keinen
Grund dafü r.
Er stieß die Tü r auf und ging hinein. Unter seinen Fü ßen knirschten Scherben.
Er drehte sich um und schob die Sperrholzplatte vor die Tü rö ffnung, wobei die
Aussparungen fü r die Gelä nder ihm halfen. Als er an der zuletzt angebrachten
Schraube zog, saß die Platte passgenau, und die gekü rzten Schrauben glitten
gerade so weit in die Lö cher, dass sie die Platte hielten.
Und jetzt also das Haus. Die Sperrholzplatten ü ber Tü ren und Fenstern sorgten
fü r vollstä ndige Finsternis. Parker schaltete die Taschenlampe ein und sah, dass
man nicht alles herausgerissen hatte. Als die Gemeinde das Haus hatte
verschließen lassen, hatte man gehofft, eines Tages einen Kä ufer dafü r zu finden,
und daher waren Gas-, Wasser- und Stromleitungen noch vorhanden, ebenso die
Spü le und ein dreißig Jahre alter Kü hlschrank, dessen Tü r von einem
Milchkanister aus Plastik offengehalten wurde. Wasser und Strom waren
allerdings abgestellt, aber das war ja nicht anders zu erwarten gewesen.
Parker ging durch die leeren, verstaubten Rä ume und fand nichts
Ungewö hnliches. Die Bodendielen waren grau lackiert, der Wandanstrich war zu
einer stumpfen Unfarbe verbleicht, in den Ecken und an den schmutzblinden
Fenstern hingen große Spinnweben. Seit die Sperrholzplatten angebracht
worden waren, hatte niemand das Haus betreten.
In der Kü che legte er die Taschenlampe auf einen Unterschrank neben der
Hintertü r; wenn er noch einmal hierherkommen musste, wü rde er keine Zeit
haben, nach einer anderen Lichtquelle zu suchen.
Hier gab es nichts mehr zu tun oder zu erforschen. Er verließ das Haus, zog die
Tü r nicht ganz zu und drü ckte die Holzplatte gegen den Tü rrahmen. Dann kehrte
er in die umgebaute Garage zurü ck und wartete auf das Essen.

ZWÖLF
»Wenn wir uns heute nacht Ihre Rennbahn ansehen wollen, gibt es ein Problem«,
sagte Parker.
Lindahl stellte seine Bierdose ab. »Und das wä re?«
Sie saßen im Wohnzimmer und aßen passable Pizzen. Lindahl trank Bier,
Parker Wasser. Draußen war es nun ganz dunkel. Der stumme Fernseher zeigte
Sitcoms – es gab also keine neuen Entwicklungen. Der Papagei in seinem Kä fig
schien meist zu schlafen, doch hin und wieder drehte er den Kopf, machte ein
gurgelndes Gerä usch und marschierte auf der Stelle.
»Die suchen nach zwei Mä nnern«, sagte Parker. »Sie wissen nicht, ob diese
Mä nner noch zusammen sind oder ob sie sich getrennt haben. Wenn wir
irgendwohin kommen, wo Ihr Mitgliedsausweis nicht mehr akzeptiert wird, und
da ist eine Straßensperre, und die Bullen sehen zwei Mä nner im Wagen, werden
sie unsere Papiere kontrollieren.«
»Und Sie haben keine.«
»Keine, die ich vorzeigen kö nnte.«
Lindahl kaute auf seiner Pizza und dachte nach. »Das Blö de ist«, sagte er,
»wenn wir erst mal an der Rennbahn sind, kö nnte ich was fü r Sie tun, aber
vorher nicht.«
Parker sah ihn stirnrunzelnd an. »Was fü r mich tun? Wie?«
»Jeder Angestellte hat einen Firmenausweis«, sagte Lin dahl. »Der ist in Plastik
eingeschweißt, und man hä ngt ihn sich um den Hals. Ich hab damals die
Maschine gekauft, ich hab sie ausgesucht und weiß, wie man sie bedient. Ich
kö nnte Ihren Fü hrerschein fotografieren, die Angaben mit Hilfe der Maschine
verä ndern und das Ganze ausdrucken und laminieren. Es wä re keine perfekte
Fä lschung, aber es hä tte ziemlich viel Ä hnlichkeit mit einem echten Fü hrer-
schein.«
»Aber das geht erst, wenn wir dort sind«, sagte Parker.
»Wenn mein Wagen einen Kofferraum hä tte –«
»Nein.«
»Naja, er hat ja auch keinen. Aber der Punkt ist: Wenn wir erst mal dort sind,
kö nnen wir dieses Problem lö sen.«
Parker dachte nach. Er wusste, was zu tun war, aber es gefiel ihm nicht. Lindahl
war so unsicher, und Parker musste ihn an der kurzen Leine halten, doch das war
jetzt nicht mö glich. Wenn Lindahl allein war und Zeit zum Nachdenken hatte,
dachte er womö glich: Ach, was soll’s – ich rufe die Bullen.
Aber ganz gleich, wie groß das Risiko war – Parker wü rde es eingehen mü ssen.
Er sagte: »Nein, Sie brauchen mich dabei eigentlich gar nicht. Diese Maschine
fü gt ein Passfoto auf dem Ausweis ein, oder?«
»Klar.«
»Auf meinem Fü hrerschein ist schon ein Foto. Lassen Sie alles unverä ndert, bis
auf den Namen und die Adresse. Dafü r brauchen Sie nicht mich, sondern nur den
Fü hrerschein.«
Lindahl runzelte die Stirn. »Sie meinen, ich soll das allein machen? Dann muss
ich heute nacht den ganzen Weg zweimal fahren.«
»Beim zweitenmal fahre ich«, sagte Parker. »Es ist die einzige Mö glichkeit, Tom.
Ohne Fü hrerschein kann ich hier nicht weg.«
»Es ist eine Stunde Fahrt.«
»Es liegt bei Ihnen«, sagte Parker. »Entweder wir machen’s so oder gar nicht.
Sie haben die Wahl.«
Lindahl betrachtete seine Bierdose. »Ich sollte lieber Kaffee trinken«, sagte er,
stand auf und ging in die Kü che.

DREIZEHN
Lindahl fuhr um kurz vor neun. Zehn Minuten spä ter klopfte es an der Tü r.
Parker saß im Wohnzimmer neben dem stummen Fernseher, ohne auf den
Apparat zu sehen. Er hatte noch ein wenig warten wollen, bevor er einen
Erkundungsgang machte, aber nun war jemand gekommen.
Parker wartete reglos. Die Tü r und das Fenster neben ihr waren so nachlä ssig
in die Ö ffnung des Garagentors eingepasst worden, dass man Gerä usche von
draußen hö ren konnte: zwei Leute, die leise miteinander sprachen, und das
Scharren von Fü ßen. Dann wurde noch einmal fester geklopft, und jemand rief:
»Ed! Ed, sind Sie da drin?« Es klang aggressiv, drä ngend.
Ed? Wer immer das war, wollte nicht zu Lindahl. Nein, es war jemand, der das
Haus beobachtet und darauf gewartet hatte, dass Lindahl wegfuhr; erst dann war
er gekommen und hatte geklopft, weil er mit Ed sprechen wollte.
Die Stimme kam Parker entfernt bekannt vor, er hatte sie vor kurzem irgendwo
gehö rt. Es war nicht Thiemann, sondern irgendjemand anders.
»Verdammt, Ed, wo sind Ihre Manieren? Machen Sie auf!« Jemand rü ttelte am
Tü rgriff, und da die Tü r nicht verschlossen war, taumelte er unversehens ins
Wohnzimmer, wobei er sich, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, am Griff
festhielt und ein ü berraschtes und verlegenes Lachen ausstieß.
Es war der Einä ugige mit der Augenklappe von dem Treffen in St. Stanislas, und
hinter ihm kam, wachsamer und vorsichtiger, sein Jackenhalter Cory. Sie sahen
Parker an, der im Sessel sitzen geblieben war.
»Was ist los, Ed?«, sagte der Einä ugige. »Warum machen Sie nicht auf?«
»Es ist nicht meine Tü r«, sagte Parker.
»Aber Sie kö nnen doch was sagen«, beharrte der Typ. »Wenn jemand einen
hö flichen Besuch macht, wenn jemand hö flich an die Tü r klopft und Ihren
Namen ruft, kö nnen Sie doch wohl antworten, oder?«
»Ich bin nicht in Stimmung fü r Besuch«, sagte Parker.
Der Einä ugige war sowohl ü berrascht als auch beleidigt. »Nicht in Stimmung!
Hast du das gehö rt, Cory?«
»Cal«, sagte Cory – eine leise Warnung.
Aber Cal war niemand, der auf Warnungen hö rte. Er sah sich finster um,
machte ein paar Schritte, ließ sich Parker gegenü ber rü cklings auf das Sofa fallen
und sagte: »Aber ich bin in Stimmung fü r einen Besuch.« Dann zwinkerte er
plö tzlich voll freudiger Ü berraschung, zeigte an Parker vorbei und rief: »Cory,
sieh dir das an!«
»Das ist ein Papagei«, sagte Cory.
»Verdammt, ein Papagei! So was sollte ich haben!« Er beugte sich zu Parker,
zeigte auf seine Augenklappe und sagte: »Sie sehen doch, wie der zu mir passen
wü rde, oder?«
»Er gehö rt aber Tom«, sagte Parker.
Cory trat einen Schritt vor und sagte: »Cal hat nicht gemeint, dass er ihn haben
will. Ihn reizt bloß die Vorstellung. Sie wissen schon, wegen der Augenklappe.«
»Ich will doch nicht so einen verdammten Vogel«, sagte Cal. Jetzt wirkte er
wieder unzufrieden. Er beugte sich noch weiter zu Parker. »Ich wette, Sie haben
nicht gemerkt, dass wir Zwillinge sind«, sagte er.
»Ich wusste, dass Sie Brü der sind«, sagte Parker.
»Ja, aber nicht, dass wir Zwillinge sind. Das liegt an dieser verdammten –« Er
zeigte wü tend auf die Augenklappe. »Wenn ich nur«, begann er, hielt aber inne,
machte eine wegwischende Handbewegung und lehnte sich zurü ck, um zu
zeigen, wie ruhig und vernü nftig er war. »Die Sache ist die«, sagte er, »mit einer
Operation und einem Glasauge kö nnte ich genauso aussehen wie dieser
attraktive Bursche hier.«
»Die Versicherung wollte nicht zahlen«, erklä rte Cory.
»Dabei war ich gar nicht so betrunken!« rief Cal, jetzt wieder wü tend. »Und
ü berhaupt war dieser andere Arsch schuld.« Er beugte sich abermals zu Parker
und sagte in vertraulichem Ton: »Ich brauche bloß ein bisschen Geld, Ed, das
verstehen Sie doch. Aber wo soll ich das herkriegen, Ed? Ich und Cory, wir
arbeiten als Schreiner in der Fertighausfabrik drü ben in LeForestville – wo sollen
wir fü nfzehn-, zwanzigtausend Dollar hernehmen?«
»Weiß ich auch nicht«, sagte Parker.
»Aber ich wette, Sie haben ein bisschen Geld, Ed«, sagte Cal, lä chelte mit
falscher Freundlichkeit und entblö ßte dabei schiefe Zä hne. »Ich wette, Sie
kö nnten mir aushelfen, wenn Sie nur wollten.«
»Eine Hand wä scht die andere«, sagte Cory erlä uternd.
Dann hatte das Phantombild also doch seinen Zweck erfü llt, jedenfalls bei
diesen beiden. Zu Cory gewandt sagte Parker: »Und welche Hand wü rde mir
dabei gewaschen?«
»Wir brauchen doch nicht in die Einzelheiten zu gehen«, sagte Cal ungeduldig,
lehnte sich zurü ck und wedelte mit der Hand. »Wir sind bloß freundlich, das ist
alles, ein paar freundliche Typen, die einander aushelfen. Cal und Cory Dennison
und der gute alte Ed ... wie war das noch mal? Smith?«
»Genau«, sagte Parker.
»Komischer Name: Smith«, sagte Cal und sprach ihn so aus, dass er ganz
fremdartig klang, wobei er seinem Bruder mit dem gesunden Auge zuzwinkerte.
»Hö rt man gar nicht oft. Jedenfalls nicht hier in der Gegend.«
»Zur Sache«, sagte Parker.
»Zur Sache?« Cal schien ü berrascht, als wä re er der Meinung, sie hä tten die
Sache lä ngst erö rtert. »Wir wollen bloß Kumpels sein, das ist alles«, sagte er. »Sie
wissen schon: uns gegenseitig helfen. Vielleicht kö nnten wir ja was fü r Sie tun.
Oder vielleicht haben Sie rein zufä llig irgendwo einen Haufen Geld rumliegen –
dann wü rden Sie doch wahrscheinlich einem Kumpel mit seinem verdammten
Auge helfen wollen.«
»Das ist Tom Lindahls Sofa, auf dem Sie da sitzen«, sagte Parker.
Cal grinste und zuckte die Schultern. »Na und?«
»Stehen Sie auf.«
»Ach, ich glaube nicht.« Cal streckte die Beine von sich und breitete die Arme
aus, um zu zeigen, wie gemü tlich das Sofa war. »Jeder muss doch irgendwo sein,
oder nicht? Sogar ein gesuchter –«
»Nein, muss er nicht«, sagte Parker.
Irritiert, weil er seine schlaue Bemerkung darü ber, dass sogar gesuchte
Bankrä uber irgendwo sein mussten, nicht hatte loswerden kö nnen, blinzelte Cal
mit seinem gesunden Auge Parker an und sagte: »Was?«
»Manche Leute«, sagte Parker, »mü ssen nirgendwo sein.« Er stand auf und
merkte, dass die beiden sich anspannten. Zu Cory sagte er: »Sie sind derjenige
mit Grips. Was machen Sie jetzt?«
»Hö ren Sie mal«, sagte Cal.
Aber Cory machte eine beschwichtigende Handbewegung in Richtung seines
Bruders, sah Parker an und sagte: »Vielleicht bereden wir die Sache morgen
noch einmal. Vielleicht wenn Tom da ist.«
»Fragen Sie ihn«, sagte Parker.
Cory nickte. »Das werden wir tun. Komm, Cal.«
Cal sah zu seinem Bruder auf und beschloss, den Mund zu halten. Er wollte sich
erheben, doch das Sofa war durchgesessen und machte es ihm nicht leicht. Als er
versuchte, auf die Beine zu kommen und dabei elegant auszusehen, machte
Parker eine schnelle, unscheinbare Bewegung mit den Hä nden, und Cal verlor
das Gleichgewicht und sackte zurü ck auf das Sofa.
»Sie mü ssen aufpassen«, sagte Parker.
»Komm schon, Cal«, sagte Cory und streckte eine Hand aus. Cal griff wü tend zu
und ließ sich hochziehen.
Sie gingen zur noch immer offenen Tü r. Parker folgte ihnen und sah draußen
ihren roten, verbeulten Dodge Ram mit der auf der Ladeflä che festgeschraubten
Werkzeugkiste. Die beiden traten hinaus, und Parker blieb in der Tü r stehen.
»Immer schö n vorsichtig«, sagte er zu Cal. »Sie wollen doch nicht, dass dem
anderen Auge auch noch was passiert.«
Wä hrend Cory ihn am Ellbogen zum Pick-up zog, sah Cal wü tend und mit
verzerrtem Gesicht zurü ck und rief: »Machen Sie sich darü ber mal keine Sorgen!
Aber was ist mit dem hier? Was ist mit dem kaputten Auge?«
Parker zuckte die Schultern. »Fragen Sie den Papagei.«

VIERZEHN
Cory fuhr, darum gab es kein Reifenquietschen, kein qualmendes Gummi. Parker
sah dem Ram nach, blieb noch fü nf Minuten in der offenen Tü r stehen und
lauschte in die absolut stille Nacht, bevor er hinaustrat, die Tü r schloss und
durch die Einfahrt zur Straße ging.
Links von ihm, an diagonal gegenü berliegenden Ecken der Kreuzung, standen
zwei hohe Straßenlaternen, doch im ü brigen lag die Straße im Dunkeln – nur
hier und da war ein Fenster trü be beleuchtet. Parker wandte sich zunä chst nach
rechts, vorbei an einem dunklen Haus, dann an einem weiteren, in dessen
hellerleuchtetem Wohnzimmer ein altes Ehepaar vor einem Brettspiel saß,
danach an dem nä chsten dunklen Haus sowie einem Haus, das mit Brettern
vernagelt war, und schließlich kam er an das letzte auf dieser Straßenseite, in
dem eine Frau, eingepackt in Schals und Decken, als fü hre sie Schlitten in
Sibirien, allein vor dem Fernseher saß.
Dieser erste Spaziergang durch den Ort diente nur dazu, die Atmosphä re
aufzunehmen. Es war, als gä be es hier nur noch den kü mmerlichen Rest, die paar
Figuren, die im Stadion sitzen bleiben, wenn das Spiel schon lä ngst vorbei ist.
Nirgends gab es Kinder vor einem Fernseher, nirgends lag Spielzeug auf einer
Veranda, nirgends waren mehr als zwei Menschen in einem Haus zu sehen. Dies
waren die anstä ndigen Armen, die im Ruhestand an dem einzigen Ort lebten, den
sie je gekannt hatten. Sie besaßen vermutlich nicht viel, was fü r Parker von
Nutzen gewesen wä re – mit einer Ausnahme vielleicht. Ä ltere, nicht vermö gende
Leute in einem abgelegenen Ort: Der eine oder andere hatte vielleicht eine
Pistole.
Auf der anderen Straßenseite kam Parker an der Tankstelle vorbei, die
allerdings bereits geschlossen hatte. Das Licht einer Sodamaschine im vorderen
Teil des Bü ros beleuchtete die Zapfsä ulen, und an der Wand hinter dem Tresen
glomm ein Nachtlicht.
Bis jetzt war kein einziger Wagen durch den Ort gefahren. Die Lichter an der
Kreuzung blinkten ganz umsonst. Doch als er kurz hinter der Tankstelle war, sah
Parker einen Wagen aus der Schwä rze jenseits der Ortsgrenze auftauchen. Er
ging weiter und betrachtete die Hä user, wä hrend der Wagen sich rasch nä herte,
bis das eingeschaltete Fernlicht Parker stö rte. Aber dann blendete der Fahrer es
ab, was bedeutete, dass er Parker gesehen hatte und rü cksichtsvoll war.
Beim Durchfahren des Orts verlangsamte der Wagen die Geschwindigkeit und
fuhr an Parker vorbei, der in gleichbleibendem Tempo weiterging. Ein paar
Sekunden spä ter hö rte er das Quietschen der Reifen, als der Wagen wendete und
neben ihm abbremste.
Kein Bulle. Ein alter, verbeulter, viertü riger Toyota in irgendeiner dunklen
Farbe. Das Fenster auf der rechten Seite glitt herunter, als der Wagen zum Stehen
kam, und die Fahrerin, die allein darin saß, beugte sich ü ber den Beifahrersitz
und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?«
Er hä tte weitergehen kö nnen, doch sie wä re einfach neben ihm hergefahren,
daher blieb er stehen und sagte: »Wobei?«
Diese Antwort schien sie zu verwirren. Sie wirkte jü nger als die anderen
Leute in diesem Ort – etwas ü ber dreißig –, und die Armaturenbeleuchtung
versah ihr Gesicht mit harten Linien von Licht und Schatten. Sie sagte: »Suchen
Sie eine bestimmte Adresse oder so?«
»Nein.«
»Ich dachte nur... Hier lä uft normalerweise niemand herum.«
»Ich schon.«
»Aber Sie sind nicht von hier.«
»Ich bin zu Besuch.«
»Aha.« Endlich fü hlte sie sich auf sicherem Boden. Sie setzte etwas auf, das
vermutlich ein freundliches Lä cheln sein sollte, und sagte: »Wen besuchen Sie
denn?«
Es war einfacher und erregte weniger Misstrauen, wenn er es ihr sagte. »Tom
Lindahl.«
»Tom! Da bin ich aber ü berrascht. Ich dachte, er wä re –« Ihr wurde bewusst,
dass sie im Begriff war, etwas wenig Schmeichelhaftes ü ber Lindahl zu diesem
Mann sagen, der ein Freund oder Verwandter von ihm war, und so lachte sie
verlegen und sagte: »Naja, Sie wissen schon, was ich meine.«
»Sie dachten, er wä re ein Einsiedler.«
»So ungefä hr, ja.«
»Er ist ein Einsiedler«, sagte Parker. »Aber ich bin bei ihm zu Besuch.«
»Tja, warum nicht?« Sie strich ü ber das Lenkrad, als tä te es ihr leid, dass sie
angehalten hatte. »Freut mich, dass er ... Freut mich, dass er Besuch hat.«
»Und im Augenblick«, sagte Parker, »mache ich meinen abendlichen
Verdauungsspaziergang.«
»Natü rlich. Tja, dann ...«
Im Gegensatz zu ihr wusste er, wie er diese Unterhaltung beenden konnte. Er
nickte ihr zu und ging weiter, ohne sich umzusehen. Nach einem langen
Augenblick der Stille heulte der Motor auf, die Reifen quietschten beim
abermaligen Wenden, und dann entfernte sich das Motorengerä usch und
verklang.
Ein paar Minuten spä ter, am anderen Ende des Orts, kam er an das Haus, wo
zuvor der alte Mann schlafend auf der Veranda gesessen hatte. Jetzt war das
einzige Licht, das von dort auf die Straße fiel, das hektische blaugraue Flimmern
eines Fernsehers, und als Parker durch das Fenster des Wohnzimmers spä hte,
saß derselbe Mann in denselben Kleidern schlafend auf einem Sofa, wä hrend das
Licht des Fernsehers auf ihm tanzte wie Reflexionen von einem Wasserfall.
Er konnte ebensogut hier anfangen. Als Parker sich umblickte, war der Toyota
mit der neugierigen Frau verschwunden. Er ging zur Rü ckseite des Hauses, die
ä hnlich aussah wie die des verschlossenen Hauses, in dem er vorhin gewesen
war. Auch hier fü hrten ein paar von verzierten Eisengelä ndern flankierte
Betonstufen zur Hintertü r.
Parker zog eine Kreditkarte aus der Tasche, die nur noch zu dem Zweck diente,
zu dem er sie jetzt einsetzen wollte, denn auf ihr stand derselbe Name wie auf
dem Fü hrerschein, den Lindahl mitgenommen hatte. Er schob sie in die Fuge
zwischen Tü r und Rahmen, drü ckte die Falle zurü ck und ö ffnete die Tü r. Sie
quietschte leise, doch vom anderen Ende des Hauses hö rte er das Jaulen von
Polizeisirenen und anschwellende Musik.
Dieses Gebä ude war kleiner als das verschlossene Haus, es hatte nur ein
Stockwerk und war nicht viel grö ßer als Lindahls umgebaute Garage. In der
unaufgerä umten Kü che brannte kein Licht, ebenso wie in dem daran
angrenzenden Esszimmer, das mit Mö beln vollgestellt war, als wä re der Besitzer
irgendwann aus einem grö ßeren Haus hierhergezogen. Der Raum neben dem
Esszimmer war offenbar ein selten benutztes Gä stezimmer, und so schlich Parker
wieder in die Kü che, ö ffnete dort eine andere Tü r und stand im Schlafzimmer.
Es gab zwei Orte, wo man normalerweise eine Pistole verwahrte, und beide
befanden sich im Schlafzimmer: entweder in einer verschlossenen Kiste auf der
Kommode oder in einer verschlossenen Schublade des Nachttischs. Auf der Kom-
mode lagen jedoch nur ein paar Mü nzen, Socken, Zeitschriften und eine sehr
dü nne Brieftasche, aber die untere der beiden Schubladen im Nachttisch war
abgeschlossen.
Parker zog die obere Schublade auf und fand in der beinahe vollstä ndigen
Dunkelheit tastend ein paar Pillenflä schchen, eine Taschenlampe, eine Brille, ein
Kartenspiel und schließlich einen Schlü ssel. Er schob die Schublade zu, schloss
die andere auf und holte einen Smith & Wesson Ranger, Kaliber .22, hervor, einen
blauschwarzen Revolver mit fü nf Zentimeter langem Lauf, der in einem
durchschnittlich großen Zimmer einigermaßen zielgenau schoss, auf grö ßere
Entfernungen aber nicht viel taugte. Er wü rde dennoch seinen Zweck erfü llen.
Parker steckte den Revolver ein, tastete noch etwas in der Schublade umher
und stieß auf eine kleine, schwere Pappschachtel. Sie enthielt Patronen und war
beinahe voll. War der Revolver noch nie abgefeuert worden? Mö glich.
Er steckte auch die Munitionsschachtel ein, schloss die Schublade ab und legte
den Schlü ssel wieder an seinen Platz. Begleitet von den Worten eines
Gerichtsmediziners, die aus dem Wohnzimmer drangen, schlich er zur Hintertü r
hinaus.
Als er durch die Einfahrt zur Straße ging, verstummte der Ton des Fernsehers
plö tzlich, und das Licht im Wohnzimmer wurde eingeschaltet und fiel durch die
Fenster. Parker machte einen Bogen um den Lichtschein, setzte seinen Weg zur
Straße fort und sah, dass der alte Mann in den rü ckwä rtigen Teil des Hauses
ging. Parker spazierte zurü ck zu Lindahls Haus.
Hatten die Leute, die hier wohnten, noch irgend etwas anderes, das ihm von
Nutzen sein konnte? Nein. Er brauchte einen schö nen Haufen Geld und einen
unbelasteten Wagen. Darum wü rde er sich kü mmern, sobald er den gefä lschten
Fü hrerschein hatte. Sofern er ihn je bekam.
In Lindahls Haus stellte er fest, dass keine Nachrichten auf dem
Anrufbeantworter waren. Mö glicherweise erledigte Lindahl also einfach das, was
sie besprochen hatten. Parker setzte sich und wartete.
Lindahl hatte gesagt, bis zur Rennbahn sei es etwas mehr als eine Stunde, und
er war kurz vor neun gefahren. Als im stummen Fernseher die Elf-Uhr-
Nachrichten begannen, stand Parker auf, vergewisserte sich mit einem Blick auf
den Bildschirm, dass es nichts Neues ü ber die Bankrä uber gab, und verließ dann
das Haus, in dem er alle Lichter brennen ließ. Er entfernte das Brett vor der
Hintertü r des Vorderhauses, schlü pfte hinein und zog das Sperrholz wieder an
seine Stelle. Mit Lindahls Taschenlampe ging er in den ersten Stock, fand die
ausfahrbare Leiter zum Speicher und kletterte hinauf.
Das runde Fenster, das als einziges nicht mit einer Holzplatte verschlossen war,
schimmerte undeutlich zu seiner Rechten. Er schaltete die Taschenlampe aus,
tastete sich zum Fenster und sah hinaus. Das Fenster befand sich in Kopfhö he. Es
ging nach hinten hinaus und hatte einen Durchmesser von etwa dreißig
Zentimetern. Parker konnte Lindahls Haus und ein Stü ck der Einfahrt sehen,
mehr nicht. Den Revolver in der einen und die Lampe in der anderen Tasche,
lehnte er sich an die Wand, spä hte durch das Fenster und wartete auf das, was da
kommen wü rde.

FÜNFZEHN
Um fü nf vor halb zwö lf erhellte ein Lichtschein die Vorderseite von Lindahls
Haus, und dann erschien sein schwarzer Gelä ndewagen, rollte langsam aus und
blieb an der ü blichen Stelle stehen. Lindahl stieg aus, gä hnte herzhaft und ging
ins Haus.
Parker beobachtete. Dort unten tat sich nichts. Nach zwei Minuten wurde die
Vordertü r wieder geö ffnet, Lindahl trat heraus und sah nach links und rechts.
Das Vorderhaus beachtete er nicht. Vielleicht rief er etwas, doch wenn es so war,
konnte Parker es nicht hö ren. Jedenfalls ging er, nachdem er sich noch einmal
umgesehen und verwundert den Kopf geschü ttelt hatte, wieder hinein.
Parker verließ seinen Platz am Fenster. Auf dem Dachboden war es
stockdunkel, und irgendwo war das rechteckige Loch mit der Leiter. Er zog die
Taschenlampe hervor, legte die Finger ü ber das Glas, schaltete die Lampe ein und
spreizte langsam die Finger, bis er den Boden und das obere Ende der Leiter
erkennen konnte.
Er machte sich nicht die Mü he, die Leiter wieder zusammenzuschieben. An der
Hintertü r schaltete er die Taschenlampe aus und legte sie auf die Arbeitsflä che
neben der Tü r, dann schlü pfte er hinaus, drü ckte die Sperrholzplatte gegen den
Tü rrahmen und ging die paar Schritte hinü ber zu Lindahls Haus.
Lindahl war im Schlafzimmer, kam jedoch sogleich heraus, als er die Tü r hö rte.
Auf seinem Gesicht war noch immer ein verwunderter Ausdruck. »Wo waren Sie
denn?«
»Hab mich in der Nachbarschaft umgesehen. Haben Sie den Fü hrerschein?«
Die Verwunderung wich einem stolzen Lä cheln, als Lindahl die laminierte
Karte aus der Hemdtasche zog und Parker reichte. »Sehen Sie ihn sich an.«
Er sah sehr gut aus. Es war derselbe Fü hrerschein wie zuvor, ausgestellt vom
Staat New York, in zarten Pastellfarben, mit Parkers Foto. Parker hieß jetzt
allerdings William G. Dodd und wohnte in 216 N. Sycamore Court, Troy. Die Karte
schien etwas dicker zu sein als das Original, aber das fiel nicht weiter auf.
»Sieht gut aus«, sagte Parker und steckte den Fü hrerschein in die Brieftasche.
»Woher haben Sie den Namen und die Adresse? Ausgedacht?«
»Nein. Bill Dodd hat vor Jahren auf der Rennbahn gearbeitet und ist dann in
den Ruhestand gegangen, und die Adresse ist die von Verwandten eines anderen
Angestellten. Hab ich aus den Personalakten.« Schulterzuckend, aber sehr zufrie-
den mit sich selbst sagte Lindahl: »Ich dachte, es wä re besser, wenn Sie nicht
allzu nah bei der Rennbahn leben.«
Parker konnte nicht erkennen, was fü r einen Unterschied das machen sollte,
ging aber nicht weiter darauf ein. »Soll ich fahren?« fragte er.
»Herrgott, ja, das wä re gut«, sagte Lindahl. »Ich bin auf dem Hinweg ü brigens
dreimal angehalten worden und zweimal auf dem Rü ckweg. Ich wä re froh, wenn
ich mal fü r eine Weile nicht fahren mü sste. Geben Sie mir fü nf Minuten.«
»Okay.«
Lindahl wandte sich zum Schlafzimmer, blieb aber stehen und drehte sich mit
einem strahlenden Lä cheln auf dem Gesicht um. »Ich werd’s wirklich tun«, sagte
er. »Als ich von hier losgefahren bin, war ich mir noch nicht sicher, aber als ich
dann die Rennbahn gesehen hab, war alles klar. Es war wie ein Stein an meinem
Hals, und jetzt werde ich ihn loswerden.«
»Gut.«
»Ja. Und es ist gut, dass wir uns getroffen haben«, sagte Lindahl. »Gut fü r uns
beide. Geben Sie mir fü nf Minuten.«
TEIL ZWEI

EINS
Auf der Plakatwand rechts der Straße stand:

GRO-MORE-RENNBAHN
Nä chste Ausfahrt

»Da geht’s zum Haupteingang«, sagte Lindahl, »aber da wollen wir nicht hin.
Fahren Sie weiter – nach fü nfhundert Metern kommt ein Feldweg.«
Die Uhr im Armaturenbrett zeigte 12:42. In der vergangenen Stunde war
William G. Dodds neuer Fü hrerschein an Straßensperren von zwei Polizisten
ü berprü ft und fü r gut befunden worden, was bei Nacht natü rlich leichter war als
bei Tag.
Unterwegs hatte Lindahls Gemü tsverfassung geschwankt zwischen Phasen
erregter Redseligkeit, in denen er Parker kleine Einblicke in seine Biographie
gegeben hatte, und einer tiefen Versunkenheit, in der er, so stumm wie sein
Papagei, seine neuerdings verä nderte innere Landschaft betrachtet hatte.
Der Haupteingang, an dem sie vorbeifuhren, bestand aus einem breiten Tor,
dahinter lagen ein Parkplatz, eine Reihe von Kassenhä uschen und jenseits davon
das langgestreckte Clubhaus. Das Tor selbst bestand aus geschwungenen
Eisenstangen, die an Pfeilern in Form stilisierter Bullen aufgehä ngt waren. Im
Clubhaus brannten hier und da einige trü be Lichter.
»Wer ist jetzt da drinnen?« fragte Parker.
»Zwei Wachen. Das Licht da ganz rechts ist der Wachraum. Frü her gab’s nachts
bloß einen Wachmann, aber sie sind dahintergekommen, dass er immer
geschlafen hat – darum sind’s jetzt zwei.«
»Gehen sie herum? Machen sie ihre Runden?«
»Nein, sie haben Monitore im Wachraum. Im Clubhaus und in den Stä llen
sind Kameras und Rauchmelder verteilt, und die Tü ren und Fenster im
Erdgeschoss sind alarmgesichert.«
»Sind die Wachen bewaffnet?«
»Na klar. Sie tragen einen Revolver im Holster. Sie sind in Uniform und arbeiten
fü r einen Sicherheitsdienst, mit dem die Rennbahn einen Vertrag hat. Hier
mü ssen wir abbiegen.«
Es war ein schmaler Feldweg, neben dem nur ein Schild stand, das eine
Sackgasse anzeigte. Parker fuhr langsam und spä hte nach rechts in die
Dunkelheit, wo die Rennbahn liegen musste. »Ist das eine Mauer?«
»Ein Holzzaun, zweieinhalb Meter hoch, rund um das ganze Gelä nde. Auf
diesem Weg werden die Pferde und die Lieferungen reingebracht. Und wenn sie
einen Rettungswagen brauchen, kommt der auch ü ber diesen Weg. Da vorn geht
es rechts ab bis zum Tor.«
»Kö nnen die unsere Scheinwerfer sehen?«
»Nein, es ist keiner da außer den Wachen im Wachraum. Die anderen Lichter
brennen nur wegen den feuerpolizeilichen Vorschriften.«
Das Tor war mit Maschendraht bespannt und zweieinhalb Meter hoch wie der
Zaun, der sich rechts und links davon erstreckte. Parker hielt kurz davor an, so
dass die Scheinwerfer durch den Maschendraht auf die weiße Bretterfassade der
Stirnseite des Clubhauses leuchteten. Von beiden Ecken des Hauses zogen sich
hohe weiße Bretterzä une im Bogen zum Begrenzungszaun, so dass ein großer,
umfriedeter Platz entstand, der teils asphaltiert war. Am Zaun zur Linken waren
einige Lastwagen, Pick-ups und Pferdetransporter geparkt, am Zaun rechts vom
Tor standen ein Feuerwehrwagen und eine Ambulanz.
Lindahl ö ffnete die Beifahrertü r und sagte: »Ich schalte den Alarm aus und
mache das Tor auf.«
»Gibt’s hier keine Ü berwachungskamera?«
»Nein«, sagte Lindahl. »Nur im Haus und in den Stä llen. Die haben mehr Angst
vor einem Feuer als vor einem Einbruch. Oder dass jemand den Pferden was tut.
Ich bin gleich wieder da.«
Parker wartete, wä hrend Lindahl einen Metallkasten neben dem Tor
aufklappte, auf einem Tastenfeld eine Nummer eingab, dann einen Schlü sselbund
aus der Tasche zog, einen Schlü ssel auswä hlte und das Vorhä ngeschloss am Tor
aufsperrte. Er stieß das Tor auf und bedeutete Parker, ihm zu folgen.
Zuversichtlich ging er im Scheinwerferlicht auf das Clubhaus zu, drehte sich um
und machte Parker ein Zeichen, vor einer Art dreiseitigem Kä fig aus
Maschendraht zu halten, der an die Mitte der Clubhausfassade angebaut war.
Lindahl kam zur Fahrertü r und sagte: »Lassen Sie den Motor laufen und das
Licht eingeschaltet – ich will Ihnen was zeigen.«
Parker stieg aus und ging mit Lindahl zu dem Kä fig. Die Vorderseite bestand
aus einem weiteren Tor, hinter dem eine betonierte Rampe zum Kellergeschoss
des Hauses fü hrte und nach etwa zweieinhalb Metern vor einem schmucklosen,
metallenen Garagentor endete.
»Hinter dem Tor da«, sagte Lindahl, »ist der Korridor, der nach links zum
Saferaum fü hrt. Der Geldtransporter fä hrt rü ckwä rts runter, die Leute machen
das Tor auf und laden die Kisten ein. Das Zeug fü r die Gastronomie und so weiter
wird ebenfalls hier angeliefert. Aber wir mü ssen auf einem anderen Weg hinein,
also stellen Sie jetzt den Motor ab. Wir gehen durch die Tü r da.«
Die Tü r befand sich an der vorderen Ecke des Clubhauses. Sie war aus
massivem Holz und mit einem Schild versehen, auf dem »Kein Zutritt« stand. Als
Parker den Motor des Fords abgestellt hatte und vor der Tü r stand, hatte Lindahl
bereits aufgeschlossen. »Kameras gibt’s erst im Hauptkorridor«, sagte er.
»Ich hatte mit mehr Sicherheitsmaßnahmen gerechnet«, sagte Parker.
»Tja, es ist eben eine kleine Rennbahn irgendwo in der Provinz«, sagte Lindahl
und ging voraus durch einen trü be beleuchteten Korridor, vorbei an
verschlossenen Tü ren. »Es gibt zweimal vierundzwanzig Tage, an denen Rennen
stattfinden, einmal im Frü hjahr und einmal im Herbst, und in den ü brigen
Monaten ist die Bahn geschlossen. Sie wollten sich an ein Ü bertragungssystem
anschließen lassen, damit die Leute in der restlichen Zeit auf andere Rennen
wetten kö nnen, aber das hat bis jetzt nicht geklappt. Ich glaube, es gibt hier in
der Gegend einfach zu wenige Kunden. Also wird hier nie das große Geld
gemacht, und in all den Jahren hat es keinen einzigen Einbruch gegeben. Ein
paarmal haben irgendwelche Verrü ckten versucht, an die Pferde ranzukommen,
aber sonst ist nie was passiert. Hier entlang – damit umgehen wir den
Hauptkorridor.«
Lindahl ö ffnete eine Tü r zu seiner Linken, und sie betraten einen breiten Raum
mit niedriger Decke, schwarzem Linoleumboden und acht in regelmä ßigen
Abstä nden platzierten Schreibtischen. Ein fluoreszierender Ring um eine große
Wanduhr sorgte fü r Beleuchtung. Auf den meisten Tischen lagen Papiere und
alles mö gliche andere Zeug – auf einem stand ein grü ner Plastikteller mit einem
Rest Omelett mit Speck.
»Das ist die Buchhaltung«, sagte Lindahl und zeigte auf eine weitere Tü r. »Und
da war mein Bü ro. Verdammt!«
Er war gegen einen Tisch gestoßen, und der Teller fiel auf den Boden. Lindahl
bü ckte sich, um ihn aufzuheben, doch das Omelett lag auf dem schwarzen
Linoleum, das sich in einen schwarzen Ozean verwandelt hatte, in dem das
Omelett die kleine, sandige Insel war, in der ein Speckstreifen steckte, leicht
gestaucht, aber tapfer, die perfekte Verkö rperung des gestrandeten Seemanns,
der nun einsam auf die Bildunterschrift wartete. Das Ganze sah aus wie etwas,
das die alten Griechen Acheiropoietoi nannten: eine nicht von Menschenhand
stammende bildliche Darstellung.
»Ich sollte das lieber aufrä umen«, sagte Lindahl und musterte zweifelnd und
mit gerunzelter Stirn die Insel.
»Das war eine Maus«, sagte Parker. »Legen Sie den Teller darauf und lassen Sie
uns weitergehen.«
»Na gut.«
Lindahl ging durch eine andere Tü r in einen Korridor, der genauso
aussah wie der erste. Sie wandten sich nach links. Lindahl ging voraus, und
Parker prä gte sich den Weg ein.
Am Ende des Korridors, wo dieser nach rechts in einen breiteren Flur abbog,
blieb Lindahl stehen. Er beugte sich vor, spä hte um die Ecke und sagte: »Da
– sehen Sie die Kamera?«
Parker beugte sich ebenfalls vor. In einiger Entfernung war in der linken
Wand des Flurs eine geschlossene Tü r mit einem kleinen Fenster aus
drahtarmiertem Glas und einem Stoßgriff. Darü ber war ein nach unten
gerichteter Scheinwerfer an die Wand geschraubt, der die Flä che vor der Tü r
beleuchtete und dessen Licht bis zu ihnen schien. Ü ber dem Scheinwerfer, knapp
unterhalb der abgehä ngten Decke, war an einem Metallarm eine Kamera
montiert. Sie zeigte im Augenblick auf das andere Ende des Flurs, bewegte sich
jedoch und richtete sich langsam nach links. Parker sah, dass sie innehielt und
nach einer kurzen Pause in die andere Richtung schwenkte.
Er fuhr zurü ck und lehnte sich an die Wand. »Erzä hlen Sie mir mehr davon.«
»Sie schwenkt in einer Minute von links nach rechts – immer hin und her. Wenn
sie hierherzeigt und sich dann in die andere Richtung bewegt, ist sie fü r ein paar
Sekunden auf diese Ecke gerichtet. Danach haben wir vierzig Sekunden, um den
Flur entlang und durch die Tü r da zu gehen. Dahinter ist das Treppenhaus –
keine Kameras. Wir gehen in den Keller. Da ist die Kamera.«
Lindahl wartete und schien in Gedanken Sekunden zu zä hlen. Dann spä hte er
um die Ecke und sagte: »Okay.«
Sie gingen durch den Flur, wä hrend die Kamera weiter von ihnen weg
schwenkte. Lindahl stieß die Tü r auf, und Parker folgte ihm in das Treppenhaus,
wo Betonstufen nach oben und unten fü hrten. Eine kleine Lampe ü ber der Tü r
beleuchtete den Absatz.
Sie gingen hinunter in das Kellergeschoss, wo die Treppe vor einer identischen
Tü r mit einer identischen Lampe endete. »Das ist jetzt ein bisschen heikel«, sagte
Lindahl, »denn wenn die Kamera genau geradeaus zeigt und ich die Tü r auf-
mache, kö nnen die Wachen die Lichtverä nderung auf dem Bildschirm sehen.
Warten Sie.«
Er beugte sich zu dem kleinen Fenster, legte die Wange an das Glas und spä hte
steil nach oben. »Ich kann sie so gerade eben sehen... So, gut. Jetzt.«
Er ö ffnete die Tü r und ging rasch nach rechts. Parker folgte ihm. Das Ende des
Korridors war hier nä her als im Erdgeschoss, und dort war eine Metalltü r. Im
Gehen wä hlte Lindahl einen Schlü ssel von seinem Bund aus. Mit einer schnellen
Drehung schloss er die Tü r auf und trat hindurch. Parker blickte sich um und sah,
dass die Kamera noch immer nach links schwenkte.
Als die Tü r wieder ins Schloss gefallen war, herrschte in dem Raum, in dem sie
sich nun befanden, vollkommene Dunkelheit. »Ich will hier lieber kein Licht
machen«, sagte Lindahl, »weil es mö glicherweise unter der Tü r durchschimmert
und die Kamera es sehen kö nnte. Ich bin mir da nicht sicher. Moment.«
Parker wartete und lehnte an der geschlossenen Tü r. Er hö rte, dass Lindahl ein
paar Schritte machte und einen Schlü ssel in ein Schloss steckte. Rechts von ihm
ö ffnete sich eine Tü r, und dann flammten im angrenzenden Raum an der Decke
montierte Neonrö hren auf.
Im Widerschein des Lichts sah er sich um. Der Raum, in dem er sich befand,
war leer und lä nger als breit. Er hatte einen Betonboden, die Wä nde bestanden
aus Betonblö cken, und am anderen Ende war ein fensterloses Garagentor,
bestimmt dasselbe, das er von draußen gesehen hatte.
Ein Gabelstapler stand in der Ecke rechts von Parker. Als er zu dem Raum ging,
in dem Lindahl das Licht angeschaltet hatte, stellte er fest, dass die Tü r hö her
und breiter als normal war, so dass der Stapler hindurchfahren konnte. Lindahl
sicherte die feuerfeste Tü r aus grauem Metall mit einem am Betonboden
befestigten Haken, damit sie nicht zufiel.
Das war also der Saferaum, ein fensterloser, quadratischer Raum mit niedriger
Decke und Wä nden aus Betonblö cken, die in einem stumpfen Grau gestrichen
waren. Links war ein halbes Dutzend flacher, lä nglicher Metallkä sten auf einer
Palette aufgestapelt. Jeder Kasten trug auf der Lä ngsseite in weißen Lettern das
Logo der Rennbahn. In einem Industrieregal aus Blech an der rechten Wand
standen noch mehr dieser Kä sten, außerdem Kasseneinsä tze mit
Hartgeldfä chern, ein Werkzeugkasten sowie verschiedene Dosen.
Lindahl sagte: »So sieht’s aus.«
»Ja.«
»Die Kä sten gehö ren der Rennbahn, darum werden die leeren immer wieder
hierher zurü ckgebracht. Ab und zu kriegt mal einer eine Beule oder ein
Scharnier geht kaputt –dann wird der Kasten weggeworfen. Die sind sehr
vorsichtig und packen diese Kä sten in schwarze Plastikbeutel, bevor sie sie in
den Mü llcontainer werfen.«
»Aber Sie wissen das«, sagte Parker, »und haben diese Kä sten nach Hause
mitgenommen.«
»Ich habe sieben.« Lindahls Stolz auf seine Weitsicht wich sogleich einem
Selbstekel. »Ich war so schlau«, sagte er. »Ich hab alles geplant bis ins letzte
Detail, aber ich hab’s nicht gebracht, herzufahren und es durchzuziehen.«
»Wollten Sie das Zeug mit Ihrem Ford abtransportieren?« fragte Parker.
»Nein, das wü rde nicht funktionieren, soviel ist sicher.« Lindahl zuckte die
Schultern. »Dafü r braucht man einen Kleintransporter, einen Lieferwagen.«
»Und haben Sie einen?«
»Nein, den wü rde ich mieten.« Lindahl grinste Parker beinahe trotzig an und
fuhr fort: »Ja, ich weiß – noch etwas, das die Polizei auf meine Spur bringen
wü rde. Aber mir ist egal, ob sie es wissen, weil ich dann nä mlich schon lä ngst
ü ber alle Berge bin. Ich wü rde den Wagen und die leeren Kä sten sogar bei mir zu
Hause stehenlassen – ich wü rde ja sowieso nie zurü ckkommen.«
Das stimmte. »Noch irgendwas, was Sie mir zeigen wollen?« fragte Parker.
»Nein, das ist alles. Wir mü ssen auf dem Weg zurü ckgehen, den wir gekommen
sind. Wenn man die Tü r zur Rampe ö ffnet, leuchtet im Wachraum ein Alarmlicht.
Man muss den Alarm von dieser Seite ausschalten und die Tü r dann ö ffnen. Und
wenn man sie schließt und den Alarm nicht wieder einschaltet, leuchtet das
Licht auch auf. Wenn wir es also am nä chsten Samstag machen ... also, falls wir es
machen ... jedenfalls, wenn wir es machen, mü ssen wir rein- und auf demselben
Weg wieder rausgehen, den Wagen rausfahren, zurü ckkommen, alles
abschließen, den Alarm wieder einschalten und auf dem Umweg wieder
raufgehen und verschwinden. Gibt’s noch was, was Sie sehen wollen?«
Parker zeigte auf die Kä sten, die auf der Palette standen. »Sind die
abgeschlossen?«
»Nicht nö tig.«
»Machen Sie mal einen auf.«
»Klar.«
Der Deckel bestand aus zwei langen Metallflü geln, die an den Lä ngsseiten der
Kä sten befestigt waren. Lindahl ließ sich vor der Palette auf ein Knie nieder und
klappte die beiden Deckelteile auf, die anscheinend recht schwer waren. In dem
Kasten lagen Kasseneinsä tze wie die in dem Regal ü bereinandergestapelt,
scheinbar drei ü bereinander, doch diese waren voller Bargeld; die Scheine waren
in den linken Fä chern, die Mü nzen in den rechten.
»Die Dinger sind ziemlich schwer«, sagte Lindahl, als er den Deckel zuklappte
und sich erhob.
»So sehen sie auch aus.«
»Noch was?«
»Wieviel liegt hier normalerweise in der Nacht von Samstag auf Sonntag?«
»Wahrscheinlich mehr als hunderttausend, weniger als hundertfü nfzig.«
Parker nickte. Genug, um von hier zu verschwinden.
»Also, was halten Sie davon?« fragte Lindahl stolz und gespannt.
»Sieht gut aus.«
Mit einem breiten, erleichterten Lä cheln sagte Lindahl: »Ich wusste, dass Sie
das sagen wü rden. Dann wollen Sie’s also machen?«
»Ja.«
Als sie auf dem Rü ckweg die Treppe zum Erdgeschoss hinaufgingen, sagte
Lindahl: »Ich weiß ü brigens, warum ich diesen Kasten aufmachen sollte. Sie
wollten nicht, dass Ihre Fingerabdrü cke darauf sind.«
»Genau«, sagte Parker.

ZWEI
Parker schwieg, bis sie ein gutes Stü ck von der Rennbahn entfernt waren und in
nö rdlicher Richtung fuhren. Dann sagte er: »Wenn wir es machen, mü ssen Sie
tun, was ich sage.«
»Sie meinen, weil Sie der Profi sind.«
»Mir ist es nicht egal, ob ich verhaftet werde oder nicht.«
»Mir auch nicht«, sagte Lindahl. »Verstehen Sie mich nicht falsch – ich hab nicht
so eine Art Todessehnsucht. Wenn die Schweine mich erwischen, haben sie mich
wieder mal geschlagen, und das will ich nicht. Glauben Sie mir, ich gehe nicht ins
Gefä ngnis – das wird nicht passieren.«
»Lieber wü rden Sie sterben.«
Lindahl verzog das Gesicht und versuchte, eine Antwort darauf zu finden.
Schließlich sagte er: »Wü rden Sie sich ergeben?«
»Ich will sie gar nicht erst im Genick sitzen haben«, sagte Parker. »Das ist es,
was zä hlt.«
»Aber sie haben Ihnen im Genick gesessen. Als ich Sie zum ersten Mal gesehen
hab, auf dem Hü gel da, waren sie Ihnen dicht auf den Fersen.«
»Ich kann mich gut erinnern«, versicherte Parker ihm. »Und darum werden wir
es, wenn wir es machen, auf meine Art machen, ohne Wenn und Aber.«
»Aber ich kann doch wohl nein sagen«, erwiderte Lindahl. »Ich kann sagen:
Nein, das will ich nicht, und dann tun wir’s nicht. Wenn Sie zum Beispiel sagen:
›Und jetzt legen wir die beiden Wachmä nner um‹, kann ich nein sagen, und dann
tun wir das nicht.«
»Ich bin nicht drauf aus, jemanden umzulegen«, sagte Parker. »Das macht die
Bullen immer nur wü tender.«
»Na ja, egal, was es ist«, sagte Lindahl. »Wenn ich nicht will, kann ich nein
sagen, und dann tun wir’s nicht.«
»Stimmt«, sagte Parker. »Sie kö nnen jederzeit nein sagen.«
»Gut. Dann verstehen wir uns.« Lindahl nickte zur Windschutzscheibe. »Da
vorn sind Lichter.«
Sie waren zu dieser Nachtzeit nur hin und wieder einem anderen Wagen
begegnet, doch vor ihnen sahen sie jetzt die unverkennbaren Lichter einer
weiteren Straßensperre. Diese Sperren wü rden die ganze Nacht dort sein und
vielleicht auch morgen nacht.
Die Polizei suchte nach zwei Mä nnern, die sich mö glicherweise getrennt hatten,
mö glicherweise aber auch noch zusammen waren, und daher erregte jeder
Wagen, der mitten in der Nacht mit zwei Mä nnern unterwegs war, ihre Auf-
merksamkeit. Zudem langweilten sich die Beamten, da hier, auf dieser
Landstraße, sehr wenig Verkehr herrschte. Zum erstenmal wurden Parker und
Lindahl gebeten auszusteigen, wä hrend die Polizisten das Innere des Fords mit
den Taschenlampen ableuchteten. Allerdings durchsuchte man die beiden nicht
nach Waffen, und wieder wurde Parkers Fü hrerschein ohne weiteres akzeptiert.
Ihr Wagen war der einzige an der Straßensperre, und als sie nach Norden in die
Dunkelheit davonfuhren, waren keine anderen Lichter zu sehen als die im
Rü ckspiegel kleiner werdenden Warnlampen. Lindahl drehte sich immer wieder
nach ihnen um, und erst als sie verschwunden waren, sprach er weiter. »Ich
nehme an, Sie haben einen Plan. Wegen der Rennbahn, meine ich.«
»Ja.«
»Er ist wahrscheinlich anders als meiner.«
»Zum Teil.«
»Zu welchem Teil?«
»Erstens«, sagte Parker, »werden wir diese Metallkä sten nicht mitnehmen. Es
gibt keinen Grund, sich mit diesem Gewicht abzuschleppen.«
»Aber in irgendwas mü ssen wir das Geld transportieren.«
»Gibt’s hier irgendwo ein Einkaufszentrum? Irgendwas, das am Sonntag
geö ffnet ist?«
»Ungefä hr sechzig Kilometer von mir«, sagte Lindahl, »in Richtung Albany.«
»Morgen fahren Sie dahin«, sagte Parker, »und kaufen zwei Reisetaschen. Sie
wissen schon – große Taschen aus Segeltuch.«
»Wie die von der Armee.«
»Genau.«
Lindahl schü ttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Sie haben doch
gesehen, wieviel Geld da herumliegt.«
»Wir nehmen nur die großen Scheine«, sagte Parker. »Nichts unter zehn Dollar.
Und kein Kleingeld.«
»Hm«, sagte Lindahl und nickte langsam. »Ja, das ist wohl vernü nftig.«
»Und wir brauchen zwei Paar Gummihandschuhe.«
»Wegen der Fingerabdrü cke. Okay. Noch was?«
»Nein, das ist alles. Und Sie mü ssen volltanken – Sie haben nicht mehr viel
Benzin.«
»Gut.« Lindahl schwieg eine Weile, dann runzelte er die Stirn und sagte:
»Warum mü ssen wir das alles morgen erledigen? Montag sind die Geschä fte in
der Nä he doch wieder geö ffnet.«
»Weil wir uns das Geld morgen nacht holen«, sagte Parker.

DREI
»Nein!« Lindahl war entsetzt. »Das ist nicht gut! Dann haben wir nicht genug
Zeit, um zu verschwinden!«
»Erstens«, sagte Parker, »wollen wir uns mal von Ihrer Sechsunddreißig-
Stunden-Phantasie verabschieden. Sie kö nnen nicht verschwinden, weil Sie kein
Versteck haben. Wo wollen Sie sechsunddreißig Stunden spä ter sein? In Oregon?
Wo wollen Sie schlafen? Wollen Sie in ein Motel gehen und bar bezahlen? Wenn
Sie mit Kreditkarte zahlen, wissen die sofort, wo Sie sind, denn Ihr Konto wird
ü berwacht werden. Also bezahlen Sie bar? Der Typ im Motel wird Ihr
Nummernschild sehen wollen. Oh, Sie sind aus New York?«
»Herrje.«
»Egal, wo Sie in diesem Land hingehen – alle hä ngen am selben Computer. Ob
Sie bloß die Straßenseite wechseln oder quer durchs Land reisen: Sobald Sie sich
irgendwohin bewegen, wissen die, wo Sie sind. Sie wollen das Land verlassen?
Haben Sie einen Pass?«
»Nein«, sagte Lindahl. Er klang kleinlaut. »Ich bin nie viel gereist.«
»Dann ist jetzt kein guter Augenblick, um damit anzufangen«, sagte Parker. »Sie
kö nnen nicht verschwinden, weil Sie die Regeln nicht kennen. Anstatt also der
Typ zu sein, der die Rennbahn ausgeraubt hat, und denen eine Nase zu drehen,
weil die Sie nie kriegen werden, sind Sie der Typ, der die Rennbahn nicht
ausgeraubt hat, und bleiben da, wo Sie im-mer sind, nä mlich zu Hause. Und Sie
lassen die Ihr Haus durchsuchen, und in der fraglichen Nacht haben Sie in Ihrem
Bett gelegen und geschlafen wie in jeder anderen Nacht, und das Geld rü hren Sie
ein Jahr lang nicht an. So mü ssen Sie’s machen, wenn Sie die Sache durchziehen
und nicht dafü r in den Knast wandern wollen.«
»Das ist ...« Lindahl schü ttelte den Kopf und machte mit einer Hand
unbestimmte Gebä rden, als wollte er einem Menschen, der noch nie einen
Elefanten gesehen hatte, einen beschreiben. »Das ist ganz anders, als ich es mir
vorgestellt hatte. Das ist einfach nicht mehr dasselbe.«
»Sie wollen zwei Dinge«, sagte Parker. »Oder jedenfalls haben Sie das gesagt.
Sie wollen Rache. Und Sie wollen das Geld.«
»Tja«, sagte Lindahl, und nun schien er etwas verlegen, etwas unbeholfen.
»Eigentlich sollten die wissen, dass ich es war.«
»Weil Sie verschwinden wollten.«
»Aber Sie sagen, dass ich das nicht kann.«
»Sie sind ein Leben als Krimineller nicht gewö hnt«, sagte Parker. »Es gibt
zuviel, was Sie nicht wissen, zu viele Fehler, die Sie machen kö nnen. Sie kö nnen
das Geld haben, und Sie kö nnen Rache nehmen, und vielleicht denken ein paar
Ihrer ehemaligen Bosse, dass Sie es waren, aber das werden die nicht beweisen
kö nnen, und Sie und Ihr Papagei leben einfach weiter wie zuvor.«
»So hatte ich mir das nicht vorgestellt«, sagte Lindahl noch einmal. »Ich hatte
mir vorgestellt, dass ich nicht mehr so leben wü rde wie jetzt. Dass ich nicht mehr
ein paar armselige Kaninchen fü rs Abendessen schießen muss. Dass ich mich
nicht mehr in dieser jä mmerlichen Bruchbude verkrieche und nie
jemanden sehe und alle denken, dass ich ein verrü ckter Einsiedler bin, und
keiner sich einen Dreck um mich kü mmert.«
»Das haben Sie vier Jahre lang gemacht«, erinnerte Parker ihn, »und Sie kö nnen
es noch ein Jahr lä nger machen. Oder vielleicht nicht ganz ein Jahr lä nger.
Nä chstes Jahr im Juli erzä hlen Sie ein paar Leuten, dass Sie Urlaub machen
wollen, dass Sie irgendwohin fahren. Dann nehmen Sie das Geld und fahren –«
»Irgendwohin, wo es warm ist.«
»Das liegt bei Ihnen. Wenn Sie dort sind, erö ffnen Sie ein Konto und zahlen alle
paar Wochen ein paar tausend Dollar ein. Sie mieten sich ein Haus, und dann
fahren Sie hierher zurü ck und sagen den Leuten, an die Sie Ihre Miete zahlen,
dass Sie beschlossen haben, sich in einer schö neren und wä rmeren Gegend zur
Ruhe zu setzen. Und dann haben Sie freie Bahn.«
Lindahl schwieg lange. Parker saß am Steuer, und die Scheinwerfer schoben
den bleichen Fä cher aus Licht vor ihnen her. Sie fuhren durch hü gelige
Landschaft und schlafende Kleinstä dte – hier und da war ein Licht zu sehen,
doch die meiste Zeit war es so dunkel wie damals, als der Kontinent noch
weitgehend unbewohnt gewesen war.
Schließlich seufzte Lindahl tief und sagte: »Ich glaube, das wü rde ich
hinkriegen.«
»Das glaube ich auch.«
»Es ist, als wü rde man auf die Jagd gehen. In mancher Hinsicht ist es, als wü rde
man auf die Jagd gehen. Das Wichtigste dabei ist Geduld. Wenn man Geduld hat,
kriegt man, was man haben will.«
»Stimmt.«
»Ich mü sste ... Wenn wir es machen, mü sste ich das Geld verstecken. Ich meine,
richtig gut verstecken, wo sie es nicht finden wü rden. Wo es keiner finden
wü rde.«
»Ich zeige Ihnen, wo.«
»Sie kennen schon ein Versteck?« sagte Lindahl ü ber rascht.
»Aber das andere, was Sie machen mü ssen«, sagte Parker, »ist, diese
Metallkä sten loszuwerden. Die werden wir nicht brauchen, und Sie wollen doch
nicht, dass irgendein Polizist sie findet, denn auf die Fragen, die dann kommen,
haben Sie keine Antworten.«
»Sie haben recht«, sagte Lindahl. »An die hab ich gar nicht gedacht. Sie stehen
in einer Ecke der Abstellkammer.«
»Wischen Sie Ihre Fingerabdrü cke ab.«
»Die Dinger sind noch in den Plastiksä cken, in denen sie weggeworfen worden
sind. Ich hab sie da drin gelassen.«
»Um so besser. Nehmen Sie sie morgen mit und werfen Sie sie in irgendeinen
anderen Mü llcontainer, vielleicht an dem Einkaufszentrum. Sorgen Sie dafü r,
dass sie nie wiederauftauchen.«
»Gut, das werde ich tun.« Lindahl wandte sich zu Parker und sagte neugierig:
»Und Sie wissen wirklich, wo ich das Geld verstecken soll?«
»In dem verrammelten Vorderhaus.«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Lindahl. »Ich glaube, es ist ganz schö n schwierig,
da reinzukommen. Nicht, ohne jede Menge Spuren zu hinterlassen.«
»Ich bin schon drinnen gewesen«, sagte Parker. »Es ist alles bereit. Morgen
zeige ich es Ihnen.«
»Sie waren da drinnen? Mein Gott.«
»Fü r den Fall, dass es sich als schlechte Idee erweisen wü rde, in Ihrem Haus zu
sein«, sagte Parker.
»Das muss ich sehen.«
Darauf erwiderte Parker nichts, und sie fuhren fü r eine Weile schweigend
weiter. Es war inzwischen nach vier Uhr morgens, und bis sie bei Lindahls Haus
anlangten, wü rde es nach fü nf sein. Und Lindahl hatte morgen eine Menge zu er-
ledigen.
»Wissen Sie«, sagte Lindahl nach ungefä hr einer Viertelstunde, »jetzt ist es real.
Als ich wieder an der Rennbahn war und mir alles angesehen habe, und als ich
dann gemerkt habe, dass ich noch immer scheißwü tend bin wegen all dem, was
passiert ist, und dass ich mich noch immer an denen rä chen will, da dachte ich:
Jetzt ist es endlich real. Aber es war nicht real. Es war noch immer eine
Phantasie, in der ich am Ende nach Westen reite wie einer in einem Film. Wie
vorhin, als Fred Thiemann gesagt hat, wir wä ren ein Suchtrupp wie im Wilden
Westen, nur ohne Pferde. Das war seine Phantasie, und die hat ihn am Ende in
den Hintern gebissen, nicht?«
»Ja«, sagte Parker.
»Und meine Phantasie hä tte dasselbe gemacht. Und darum ist diese Sache jetzt
zum erstenmal wirklich real.«
Lindahl sah hinaus in die Finsternis und lä chelte. Parker sagte nichts.

VIER
Als sie endlich nach Pooley kamen und an dem mit Brettern verschlossenen Haus
vorbeifuhren, runzelte Lindahl die Stirn und sagte: »Und Sie sind wirklich da
drin gewesen?«
»Wir sehen es uns spä ter an«, sagte Parker. »Jetzt mü ssen wir schlafen.«
Es war beinahe halb sechs. Zu ihrer Rechten zeigte sich das erste
Morgengrauen und ließ die Silhouetten von Hü geln erkennen. Die einzigen
Lichter im Ort waren die Straßenlaternen und die Blinklichter an der Kreuzung
sowie das Nachtlicht in der Tankstelle.
Parker stellte den Wagen an der ü blichen Stelle ab. Lindahl stieg aus und
gä hnte, Parker blieb neben dem Wagen stehen und horchte. Es war kein Laut zu
hö ren. Er folgte Lindahl ins Haus, wo der Fernseher zunä chst die einzige Licht-
quelle war, doch dann knipste Lindahl eine Stehlampe neben dem Sofa an,
schaltete den Fernseher aus und sagte: »Das Sofa ist nicht schlecht. Ich gebe
Ihnen eine Decke und einen Kissenbezug.«
»Haben Sie einen Wecker?«
»Klar. Aufweiche Uhrzeit soll ich ihn stellen?«
»Zehn.«
»Da bleibt uns nicht viel Zeit zum Schlafen«, sagte Lindahl ü berrascht.
»Wenn alles vorbei ist, kö nnen Sie schlafen, soviel Sie wollen«, versprach ihm
Parker.

FÜNF
Lindahl gä hnte, als sie zum Vorderhaus gingen. Es war halb elf Uhr morgens. Sie
waren vor einer halben Stunde aufgestanden und hatten schweigend
gefrü hstü ckt, bevor sie hinaus in die kalte, feuchte Luft gegangen waren. Der
Himmel war grä ulichweiß, als wä re er dabei, Schimmel anzusetzen. Parker ging
voraus zum Hintereingang des Hauses, wo er nach der Oberkante der
Sperrholzplatte griff und sie wegzog.
»Oh!« Lindahl hielt mitten im Gä hnen inne und machte große Augen. »War das
schon immer so?«
»Das hab ich gestern erledigt.«
Lindahl trat nä her, um die Platte zu untersuchen, und strich mit dem Finger
ü ber eine der gekü rzten Schrauben. »Sie haben sie abgesä gt.«
»Genau.«
»Und wofü r ist die in der Mitte?«
»Damit man die Platte von drinnen vor die Tü r ziehen kann. Kommen Sie.«
Parker stieß die Tü r auf und bedeutete Lindahl, vor ihm hineinzugehen. Als
Parker ihm folgte und die Holzplatte wieder in die richtige Position rü ckte, fragte
Lindahl: »Ist das meine Taschenlampe?«
»Ja. Wir brauchen sie. Schalten Sie sie ein.«
Das tat Lindahl, und Parker zog die Platte an den Tü rrahmen und sagte: »Geben
Sie mir die Lampe – ich hab mich hier schon umgesehen.«
»Gut.«
Sie gingen durch das dunkle Haus hinauf zum Dachboden, und Lindahl trat an
das runde Fenster. »Hier waren Sie gestern nacht, als ich nach Hause
gekommen bin«, sagte er. »Fü r den Fall, dass ich die Polizei mitbringen wü rde
oder so.«
»Stimmt.« Parker richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Stelle hinter
dem rechteckigen Loch fü r die Leiter, wo die Dachschrä ge dem Boden am
nä chsten kam und die Wand nur etwa einen Meter hoch war. Dort lagen ein alter,
verbeulter Pappkoffer sowie ein paar Vorhä nge und Vorhangstangen. »Legen Sie
Ihre Reisetasche zu dem Zeug da und lassen Sie sie dort liegen, bis Sie sich eine
warme Gegend ausgesucht haben. Und sobald sie da deponiert ist, ersetzen Sie
die abgesä gten Schrauben an der Hintertü r durch lange – nur fü r den Fall, dass
mal jemand kommt, um nachzusehen, ob noch alles gut verschlossen ist.«
»Und dann reibe ich sie mit ein bisschen Dreck ein.«
»Gut.«
Sie gingen wieder hinunter und verließen das Haus, und wä hrend Parker die
Sperrholzplatte an Ort und Stelle schob, sagte er: »Ich komme mit zu diesem
Einkaufszentrum – mal sehen, ob ich dort was finde, was ich brauchen kann. Wir
laden jetzt die Kä sten in Ihren Wagen.«
»Okay.«

Bevor sie sich auf den Weg machten, steckte Parker den Revolver in die
Jackentasche. Wieder war er derjenige, der fahren musste, denn vier Stunden
Schlaf waren fü r Lindahl zuwenig gewesen. Die sieben Kä sten in den schwarzen
Mü llsä cken waren so hoch auf dem Rü cksitz gestapelt, dass Parker nur die
Außenspiegel benutzen konnte.
Die erste Straßensperre, an die sie kamen, war mit demselben missmutigen
alten Polizisten besetzt wie gestern. »Sie beide hab ich doch schon mal gesehen«,
sagte er, als Parker ihm seinen neuen Fü hrerschein reichte.
»Unausgebildete Mä nner mit Gewehren«, sagte Parker. »Der Angel- und
Jagdclub Hickory. Heute allerdings ohne Gewehre.«
»Na, wenigstens ist gestern keiner erschossen worden«, sagte der Mann und
gab Parker den Fü hrerschein zurü ck.
»Irgendwas Neues von den beiden, die Sie suchen?«
»Kein Sterbenswö rtchen.« Die Unzufriedenheit zog das Gesicht des Beamten in
die Lä nge, als wirkte die Schwerkraft bei ihm doppelt. »Wenn Sie mich fragen,
sitzen die Vö gel lä ngst an irgendeinem Strand in Florida. Aber mich fragt ja
keiner.«
»Sie kö nnten doch Ihren Vorgesetzten bitten, dass er Sie hinschickt, damit Sie
sich dort mal umsehen«, schlug Parker vor.
»Sie kö nnen jetzt fahren«, sagte der Polizist.
Als sich der Wagen in Bewegung setzte, sagte Lindahl: »Sie werden wohl nie
nervö s, was?«
»Gibt ja keinen Grund. Halten Sie die Augen offen nach irgendwas, wo wir die
Kä sten loswerden kö nnen.«
Dreißig Kilometer weiter wurden sie fü ndig: Eine alte Bowlingbahn wurde
abgerissen, und am Rand der an diesem Sonntagmorgen menschenleeren und
unbewachten Baustelle standen zwei große, halb mit allerlei Schutt gefü llte
Container. Sie holten die sieben Kä sten aus dem Wagen und verteilten sie auf die
beiden Container, damit sie weniger auffielen. Dann fuhren sie weiter zum
Einkaufszentrum, das nicht besonders groß und bereits etwas ä lter war. Eines
der beiden Hauptgeschä fte war geschlossen worden. Die Namen der Lä den, die
zwischen der geö ffneten und der geschlossenen Kaufhausfiliale aufgereiht
waren, lasen sich wie eine Anthologie landesweit bekannter Firmen. Der
Parkplatz war zu einem Viertel gefü llt, so dass sie nahe dem Haupteingang
parken konnten, gleich neben den fü r Behinderte reservierten Stellflä chen.
Sie gingen hinein, und Parker sagte: »Sie kaufen jetzt die beiden Reisetaschen
und die Gummihandschuhe. Ich sehe mich mal ein bisschen um. Wir treffen uns
beim Hauptausgang.«
»Gut.«
Lindahl nahm einen Einkaufswagen und schob ihn in das mä ßig besuchte
Kaufhaus. Parker sah ihm nach, drehte sich um und spazierte draußen an den
kleineren Geschä ften entlang. Auf dem Hinweg hatte er sich bereits fü r das
vielversprechendste entschieden: ein Bekleidungsgeschä ft fü r junge Leute, wo
ü berweite Jeans, Baseballmü tzen und Sweatshirts mit dem Aufdruck
verschiedener Strafanstalten verkauft wurden.
Ja. Als er durch das Schaufenster spä hte, vorbei an Turnschuhen, die aussahen
wie Raumstationen, sah er keine Kunden, sondern nur den Verkä ufer, einen
mageren Oberschü ler, der Kleider trug, wie sie in diesem Laden verkauft wurden.
Er ging umher und ordnete halbherzig die Aus- lagen.
Parker betrat das Geschä ft. Der Junge blickte auf, erst hoffnungsvoll, dann
ausdruckslos, als er sah, dass dieser Kunde wahrscheinlich nichts kaufen wü rde.
»Guten Tag, Sir. Was kann ich fü r Sie tun?«
»Tja«, sagte Parker und zeigte ihm den Revolver, »du kö nntest zunä chst mal die
Kasse da drü ben aufmachen, und dann kö nntest du dich hinter der Theke auf
den Bauch legen.«
Der Junge starrte erst den Revolver und dann Parker an, als h ä tte er die
Fä higkeit, Englisch zu verstehen, verloren. Parker hob den Revolver, so dass er
aus einem halben Meter Entfernung auf die Nase des Jungen zielte. »Oder«, sagte
er, »ich kö nnte dir die Rü be wegpusten und die Kasse selbst aufmachen.«
»Nein, ich mach schon!«
Schlaksig und abrupt setzte er sich in Bewegung und stieß gegen Tische und
Regale, als er hinter die Theke lief und die Kasse ö ffnete. Er trat einen Schritt von
der geö ffneten Lade zurü ck und starrte Parker an. »Sie werden mich doch nicht
erschießen, oder?«
»Nicht, wenn du dich auf den Bauch legst.«
Der Junge ließ sich fallen, als wä re er getroffen, und am Boden legte er die
gefalteten, zitternden Hä nde auf den Hinterkopf.
Parker griff ü ber die Theke hinweg in die Kasse und nahm die Zehner und
Zwanziger heraus, wobei er darauf achtete, nur das Geld zu berü hren. Dann sah
er hinab auf den Jungen und sagte: »Sieh auf deine Uhr.«
Die gefalteten Hä nde trennten sich, und der Junge legte den Kopf in den Nacken
und blickte auf die große runde Uhr an seinem linken Handgelenk.
»Ich werde draußen fü nf Minuten warten. Wenn ich durch das Schaufenster
sehe, dass du aufgestanden bist, schieße ich. Fü nf Minuten. Verstanden?«
»Ja, Sir.« Der Junge starrte unverwandt und mit durchgebogenem Genick auf
seine Uhr.
Parker verließ das Geschä ft und kehrte zurü ck zum Kaufhaus. Drinnen fand er
Lindahl, der an der Kasse stand. Vor ihm war nur noch ein anderer Kunde. Im
Einkaufswagen lagen zwei dunkelbraune, in durchsichtiges Plastik
eingeschweißte Reisetaschen und zwei Paar gelbe, in einer Klarsichtpackung auf
Pappe montierte Gummihandschuhe. Lin-dahl nickte Parker zu. »Ich hab alles.
Haben Sie auch was gekauft?«
»Nein, ich hab mich nur umgesehen.«
Lindahl war an der Reihe. Er bezahlte und steckte seine Einkä ufe in eine große
Plastiktü te, auf der ü ber einem Smiley-Gesicht der Name des Kaufhauses stand.
Sie gingen hinaus. Lindahl trug die Tü te und sagte: »Soll ich fahren?«
»Ja, okay.«
Parker gab ihm die Wagenschlü ssel. An der Ausfahrt des Parkplatzes mussten
sie warten, weil ein Polizeiwagen mit blinkenden Lichtern und jaulender Sirene
vorbeifuhr. Lindahl sah ihm ü berrascht nach. »Was ist denn da passiert?«
»Hat nichts mit uns zu tun«, sagte Parker.
SECHS
Auf dem Rü ckweg hielten sie an einem heruntergekommenen Schnellimbiss, um
etwas zu Mittag zu essen. Sie setzten sich an einen Tisch an dem großen
Fenster, durch das man den sehr spä rlichen Sonntagsverkehr auf dieser kleinen
Landstraße sehen konnte, und nachdem sie bei der Kellnerin ihre Bestellung
aufgegeben hatten, sagte Parker: »Erzä hlen Sie mir von den Dennisons.«
»Von wem? Ach so, Cory und Cal. Warum wollen Sie denn von denen was
wissen?«
»Die kamen gestern abend, um mit mir zu reden. Gleich nachdem Sie gefahren
waren.«
»Die kamen ... Die waren bei mir zu Hause?«
»Sie denken, ich kö nnte einer der gesuchten Bankrä uber sein.«
»O Gott!« Lindahl sah aus, als wü rde er gleich aus dem Fenster springen, die
Straße entlangrennen und erst nach hundert Kilometern stehenbleiben. »Was
haben die vor?«
»Wenn ich einer von den Bankrä ubern bin«, sagte Parker, »dann habe ich eine
Menge Geld.«
»Aber Sie haben keine Menge Geld.«
»Wenn ich einer von den Bankrä ubern wä re und eine Menge Geld hä tte, dann
kö nnte ich Cal etwas davon abgeben, und dann kö nnte er sich eine Operation
und ein Glasauge leisten.«
»Verstehe.« Lindahl war nicht mehr panisch, sondern machte ein Gesicht, als
hä tte er noch nie etwas so Dä mliches gehö rt. »Das haben sie gesagt? Sie sind der
Rä uber, geben Sie uns was von dem Geld ab?«
»Das Wort Rä uber fiel nicht.«
»Aber darum ging es? Wenn Sie ihnen Geld geben, gehen sie nicht zur Polizei?
So ungefä hr haben die sich das vorgestellt?«
»Ich glaube schon.«
»Das ist eine typische Cal-Idee«, sagte Lindahl. »Er ist schon als Kind gern von
Scheunendä chern gesprungen.«
»Cory ist der Schlauere von beiden«, stimmte Parker ihm zu. »Aber er tut, was
Cal ihm sagt. Sie haben gesagt, sie wollen heute noch mal kommen und mit Ihnen
reden.«
Lindahl war wieder verwundert. »Mit mir? Warum denn?«
»Um rauszufinden, ob ich wirklich Ihr alter Kumpel Ed Smith bin.«
Lindahl lehnte sich zurü ck und breitete die Hä nde aus. »Klar sind Sie das. Sollte
ich doch wohl wissen.«
»Richtig«, sagte Parker. Als die Kellnerin ihr Essen brachte, fuhr er fort: »Die
Einzelheiten kö nnen wir gleich jetzt, beim Essen, besprechen. Fü r den Fall, dass
jemand mit Ihnen und dann mit mir redet.«
»Gut, machen wir.«
»Wir mü ssen uns nur noch heute vorsehen«, sagte Parker, »und dann haben
wir’s hinter uns.«
Mit einem ü berraschten Lachen sagte Lindahl: »Stimmt! Nur noch heute. Die
Sache ist beinahe gelaufen.«

SIEBEN
Um kurz vor zwei waren sie wieder bei Lindahls Haus. Der Wagen, der davor
parkte, war nicht der Dodge Ram der Dennisons, sondern ein schwarzer Taurus,
den Parker als Fred Thiemanns Wagen erkannte. Die Fahrertü r wurde geö ffnet,
und eine Frau in den Fü nfzigern stieg aus. Sie trug Jeans und eine Windjacke.
Offenbar hatte sie auf Lindahls und Parkers Rü ckkehr gewartet.
»Die Frau?« sagte Parker.
»Jane«, antwortete Lindahl und machte ein besorgtes Gesicht. »Was mag da
schiefgegangen sein?«
»Sie wird’s uns gleich sagen.«
Lindahl hielt neben dem Taurus an, wä hrend Jane Thiemann stirnrunzelnd an
der Haustü r stand und auf sie wartete. Parker musterte sie durch die
Windschutzscheibe und sah eine Frau, die von irgend etwas niedergedrü ckt war.
Nicht wü tend und auch nicht verä ngstigt, aber doch so besorgt, dass sie sich
ü ber ihr ä ußeres Erscheinungsbild keine Gedanken machte. Sie war einfach
hinausgefahren in die Welt, gefasst auf schlechte Nachrichten, ganz gleich, wie
diese aussehen mochten.
Parker und Lindahl stiegen aus dem Gelä ndewagen. Lindahl sagte: »Hallo, Jane.
Wie geht’s Fred?«
»Er ist kurz davor durchzudrehen.« Sie sah Parker mit einem dü steren Blick an.
»Sie sind wahrscheinlich Ed Smith.«
»Stimmt.«
»Fred hat Angst vor Ihnen«, sagte sie. »Ich weiß nicht genau, warum.«
Parker zuckte die Schultern. »Ich auch nicht.«
»Willst du nicht reinkommen?« fragte Lindahl.
»Ich soll Freds Gewehr holen.«
»Natü rlich. Ich hab’s in der Halterung im Schlafzimmer festgeschlossen. Komm
mit.«
Sie traten ins Wohnzimmer, wo der Papagei den Kopf wandte und Jane
Thiemann voller Interesse betrachtete. Sie sah auf den Fernseher. »Lä sst du den
die ganze Zeit laufen?«
»Dann bewegt sich wenigstens irgendwas. Ich bin gleich wieder da.«
Lindahl ging ins Schlafzimmer, und Parker sagte: »Wieso ist das so dringend?
Braucht Fred das Gewehr etwa?«
Sie sah ihn scharf an. »Um sich zu erschießen, meinen Sie?«
»Fü r irgendwas. Er will doch wohl keinen Hirsch schießen.«
Lindahl, der mit Thiemanns Gewehr aus dem Schlafzimmer kam, sagte: »Die
Jagdsaison fü r Hirsche fä ngt erst nä chsten Monat an.«
Sie sah das Gewehr ihres Mannes an und sagte: »Ich wü rde mich gern kurz
setzen.«
»Na klar«, sagte Lindahl ü berrascht und verlegen. Sie ließ sich auf das Sofa
fallen, als wä ren ihre Muskeln unvermittelt erschlafft, und er trat einen Schritt
zurü ck und lehnte das Gewehr an die Wand. »Tut mir leid, Jane, ich vergesse
meine Manieren. Mö chtest du etwas trinken? Wasser? Ich glaube, ich habe auch
Cola.«
»Soll ich den Fernseher abstellen?« fragte Parker.
»Ja, bitte«, sagte sie, und zu Lindahl: »Ein Glas Wasser, bitte.«
Lindahl ging hinaus, und Parker schaltete den Fernseher aus und setzte sich in
den Sessel neben dem Apparat, gegenü ber dem Sofa. »Fred steht wohl noch
immer unter Schock«, sagte er.
»Wir stehen beide unter Schock«, sagte sie. »Aber er mehr als ich. Er ist
wü tend, er hat Angst, und er hat das Gefü hl, er mü sste etwas tun, aber er weiß
nicht, was. Danke, Tom.«
Lindahl war zurü ckgekehrt und reichte ihr ein Glas Wasser mit Eiswü rfeln. Er
stand verlegen da und wollte sich nicht neben sie auf das Sofa setzen. Schließlich
nahm er einen Kü chenstuhl, der in der Ecke stand, stellte ihn in die Mitte des
Zimmers, zwischen Parker und Jane Thiemann, und setzte sich.
»Was sagt er denn so?« fragte Parker.
»Alles mö gliche. Er redet viel von Ihnen.«
»Von mir?«
»Er versteht Sie nicht, aber irgendwie hat er das Gefü hl, er mü sste Sie
verstehen. Er weiß nur: Wenn Sie nicht gewesen wä ren, dann wä re jetzt alles
anders.«
»Aber dieser Mann da oben wä re immer noch tot.«
»Ja, das weiß ich, wir beide wissen das. Er gibt Ihnen ja auch keine Schuld. Er
sagt, schuld ist das, was er ›meine eigene Blö dheit« nennt. Aber wenn nur er und
Tom da oben gewesen wä ren, dann wä ren sie zur Polizei gegangen, und wer
weiß, was dann passiert wä re?«
»Nichts Gutes«, sagte Parker.
»Vielleicht.« Sie nahm einen Schluck Wasser und hielt das Glas mit beiden
Hä nden im Schoß. »Aber vielleicht hä tte man auch festgestellt, dass es ein Unfall
war«, sagte sie, »und dass dieser Mann ... dass er nur ... dass er keine Verwandten
oder so hatte...«
»Er war Abfall«, sagte Parker. »Ein Mensch, aber Abfall.«
»Es klingt hart, wenn Sie es so ausdrü cken«, sagte sie, »aber es stimmt. Die
Polizei hä tte die Sache vielleicht untersucht, hä tte vielleicht gesehen, wer Fred
ist und wer der andere war, und gesagt: ›Na ja, das war ein Unfall – wir wollen
keine große Sache daraus machen.‹ Aber jetzt geht das natü rlich nicht mehr.«
»Es wä re nie gegangen«, sagte Parker. »Der Typ hatte eine Identitä t. Sie hä tten
sie rausgefunden, ü ber die Fingerabdrü cke oder einen Gentest oder das
Zahnschema oder irgendwas anderes. Er hatte Verwandte, und die hä tten Auf-
klä rung verlangt. Zu wissen, dass ein Cousin sich zu Tode sä uft, ist eine Sache,
aber zu wissen, dass er eine Kugel in den Rü cken gekriegt hat, ist was ganz
anderes.«
»Oh!«
»Fred hä tte keine hohe Strafe gekriegt«, sagte Parker, »aber er hä tte fü r einige
Zeit ins Gefä ngnis gemusst.«
»Und das ist es, was ihm angst macht«, sagte sie, und nun sah sie aus, als wü rde
sie gleich in Trä nen ausbrechen, doch sie schü ttelte den Kopf und sprach weiter.
»Eine von den Sachen, die ihm angst machen. Die Vorstellung, ins Gefä ngnis ...
Wir kö nnen nicht .. Unser Sohn ist –«
»Das hat Tom mir erzä hlt«, sagte Parker. »Danach. Er musste es mir sagen.«
»Ich hab’s niemandem sonst erzä hlt, Jane«, sagte Lindahl. »Ehrenwort.«
»Ach, ich glaub’s dir ja.« Sie sah Parker wieder mit diesem dü steren Blick an
und fuhr fort: »Die ganze Sache hat Fred schlimmer mitgenommen als George. Er
muss Schlaftabletten nehmen, sonst liegt er die ganze Nacht wach und denkt an
diese Gefä ngniszelle. Er stellt sich diese Gefä ngniszelle vor. Er ist mehr in der
Zelle als George.«
»Wie lange muss George sitzen?« fragte Parker.
»Ach, noch hö chstens ein Jahr«, sagte sie mit einer wegwerfenden
Handbewegung. »Allerhö chstens. Jeder weiß, dass er ein posttraumatisches
Syndrom hatte. Seine dienstliche Beurteilung kö nnte nicht besser sein, das sagen
alle. Hat Tom Ihnen gesagt, dass er verwundet war?«
»Nein.«
»Ich hab keine Geschichten erzä hlt, Jane«, sagte Lindahl.
»Ich weiß.« Zu Parker gewandt sagte sie: »Ja, er war verwundet. Eine
Sprengmine neben der Straße.« Sie fuhr mit der Hand ü ber ihre linke Hü fte. »Er
hatte hier schwere Verbrennungen, und das Gelenk war zertrü mmert. Er hat
jetzt ein kü nstliches Hü ftgelenk.«
»Dann werden sie ihn so bald wie mö glich rauslassen«, sagte Parker.
»In hö chstens einem Jahr.«
Parker nickte. »Haben Sie Fred gesagt, dass George sich freuen wird, ihn zu
sehen, wenn er rauskommt?«
Sie sah ihn blinzelnd an. »Na ja, das weiß er doch. Wie meinen Sie das?«
Parker nickte zu dem Gewehr, das an der Wand lehnte, und sagte: »Er macht im
Augenblick einiges durch. Vielleicht kommt er zu dem Schluss, dass das Ding da
besser ist als Schlaftabletten.«
Ihre Augen wurden groß, und sie legte eine zitternde Hand an den Mund, sagte
aber nichts. Sie hatte dieselbe Wahrheit gedacht, sie aber verdrä ngt.
»Wenn Sie ihm das Gewehr geben«, sagte Parker, »dann erinnern Sie ihn daran,
dass George, nach allem, was er hinter sich gebracht hat, sehr enttä uscht sein
wird, wenn sein Vater nicht da ist, um ihn am Gefä ngnistor zu begrü ßen.«
»Das werde ich«, sagte sie. »Vielleicht wird das ...« Sie sah sich suchend um.
»Ich brauche kein Wasser mehr.«
Lindahl sprang auf, um ihr das Glas abzunehmen. »Es tut uns leid, Jane«, sagte
er. »Keiner von uns wollte, dass das passiert.«
»Es liegt ja nicht an euch beiden, sondern an ihm. Das Schlimmste ist, dass er
das weiß.« Sie stand unsicher auf. »Ich sollte nicht zu lange wegbleiben.«
Parker erhob sich ebenfalls und sagte: »Wenn Sie zu ihm halten, wird er das
durchstehen.«
»Ich hoffe, Sie haben recht.«
Lindahl reichte ihr das Gewehr. »Es ist gesichert.«
»Gut.« Sie schwankte etwas unter dem ungewohnten Gewicht, was bedeutete,
dass ihr Mann sie nie auf die Jagd mitgenommen hatte. »Ich werde es Fred
sagen.« Sie sah Parker an. »Dass George wollen wird, dass sein Vater da ist, wenn
er rauskommt.«
»Gut.«
»Ich bring dich zum Wagen«, sagte Lindahl. Parker wartete, und Lindahl kam
zurü ck und sagte: »Sie waren sehr mitfü hlend.« Er klang erstaunt. »Ich hä tte
nicht gedacht, dass Sie so mitfü hlend sein kö nnen.« Er schaltete den Fernseher
wieder ein.
»Musste ich ja«, sagte Parker. »Sie wissen genau, dass Thiemann mit dem
Gedanken spielt, sich umzubringen. Wenn er das tut, werden die Bullen mit
seiner Frau sprechen, und dann dauert es drei Minuten, bis sie rausgefunden ha-
ben, was passiert ist, und zehn Minuten spä ter stehen sie hier vor der Tü r.«
Parker schü ttelte den Kopf. »Ich bin so mitfü hlend, wie ich sein muss. Wir wollen
schließlich keine Schießerei mit der Polizei.«

ACHT
Drei Minuten nachdem Jane Thiemann gegangen war, schwang die Tü r auf, und
Cal Dennison schlenderte herein. »Die Frau hatte ein Gewehr«, sagte er.
»Sie ist auf der Suche nach den Bankrä ubern«, sagte Parker.
Wä hrend Cory eintrat, die Tü r hinter sich schloss und Lindahl vorsichtig
zunickte, lachte Cal und sagte: »Na, da war sie ja hier genau richtig.«
»Nein, da war sie hier genau falsch«, sagte Parker.
»Cal, du quatscht mal wieder, ohne nachzudenken«, sagte Lindahl.
»Glaub ich nicht«, sagte Cal und zog ein zerknittertes Stü ck Papier aus der
Tasche. Er strich es, so gut es ging, auf seiner dunkelgrauen Hemdbrust glatt,
hielt es Lindahl unter die Nase und sagte: »Jetzt sag was, Tom. Sag einfach, was
du davon hä ltst.«
Ohne es zu berü hren, sah Lindahl widerwillig auf das Blatt Papier mit dem
mittlerweile vertrauten Phantombild und sagte missmutig: »Na ja, da gibt’s so
was wie eine Ä hnlichkeit. Eine sehr entfernte Ä hnlichkeit.«
»Eine sehr entfernte Ä hnlichkeit?« Cal hielt das Papier mit ausgestreckten
Armen an den beiden seitlichen Kanten, drehte sich zu Parker und sagte: »Was
meinen Sie, Ed? Mal angenommen, dieser Bursche wü rde auf der Straße auf Sie
zukommen, wü rden Sie dann nicht sagen: ›Sieht so aus, als hä tte ich einen
Zwillingsbruder, von dem ich gar nichts weiß‹? Oder was?«
»Das kö nnten tausend andere genausogut sagen.«
»Nicht tausend andere.«
»Cal«, sagte Lindahl, »wenn der Typ auf diesem Bild so viel Ä hnlichkeit mit Ed
hat und alle da oben in St. Stanislas eine Kopie davon hatten und Ed mitten unter
uns stand, wie kommt’s dann, dass keiner das gemerkt hat? Wie kommt’s, dass
sich auf dem verdammten Parkplatz keiner auf Ed gestü rzt und ihn verhaftet
hat?«
»Das war wie in dieser Geschichte, die wir in der Schule gelesen haben«, sagte
Cal stirnrunzelnd und reichte Cory das Blatt Papier. »Von diesem Schriftsteller,
den wir lesen mussten, all das unheimliche Zeug. Poe. Irgendwas mit einem Brief.
Wo es darum ging, dass alle einen Brief suchen, ihn aber nicht finden, und zwar,
weil er die ganze Zeit offen herumliegt, an einer Stelle, wo man ihn nie vermuten
wü rde. Und hier haben wir’s mit einem Typ zu tun, den alle suchen, und wo ist
der beste Ort, um sich zu verstecken? Genau unter den Leuten, die ihn suchen,
denn das ist der einzige Ort im ganzen County, wo keiner mit ihm rechnet.«
Mit einer Stimme, die von Sarkasmus triefte, sagte Lindahl: »Und du, Cal, bist
der einzige, der dahintergekommen ist.«
»Kö nnte doch sein«, sagte Cal selbstzufrieden. »Kö nnte doch sein.«
»Diesmal nicht«, sagte Parker, und Cory sagte: »Seht euch das an.«
Sie wandten sich zum Fernseher, der ebenfalls das Phantombild zeigte, und
darunter stand: FLÜ CHTIGER VERBRECHER SCHL Ä GT WIEDER Z U.
»Mann!« sagte Cal. »Mach mal den Ton an.«
Lindahl nahm rasch die Fernbedienung, die auf dem Apparat lag, und schaltete
den Ton ein. Eine weibliche Stimme sagte aus dem Off: »... mö glicherweise noch
immer zusammen.« Auf dem Bildschirm erschien jetzt eine Gesamtansicht des
Einkaufszentrums, in dem Parker und Lindahl am Morgen gewesen waren. »Es
war ein ruhiger Morgen in dem Bekleidungsgeschä ft The Rad im Willoughby
Hills Center – doch dann kamen der oder die Rä uber.«
Nun zeigte man die Vorderseite des Ladens, den Parker ausgeraubt hatte, und
uniformierte Polizisten, die hinein- und hinausgingen. Parker spü rte, dass
Lindahl neben ihm aufs hö chste angespannt war – Schock und Wut arbeiteten in
ihm, fanden aber noch keinen sprachlichen Ausdruck. Parker schob die rechte
Hand in die Tasche und berü hrte den Revolver. Wenn es jetzt losging, wü rde er
alle drei erledigen mü ssen.
»Der Verkä ufer Edwin Kislamski war um elf Uhr fü nfundvierzig allein im
Geschä ft, als ein Mann eintrat, Mr. Kislamski mit einer Pistole bedrohte und mehr
als dreitausend Dollar aus der Ladenkasse raubte.«
Der Verkä ufer war zu sehen. Er saß auf einer Holzbank vor einer grü nen Wand,
augenscheinlich im Wachraum eines Polizeireviers. Aus irgendeinem Grund war
er in eine dicke, cremefarbene Decke gewickelt, als hä tte man ihn vor dem
Ertrinken gerettet. Er hielt die Decke mit beiden Hä nden fest. Der entsetzte
Anflug eines Lä chelns huschte wie das flackernde Licht eines entfernten
Scheinwerfers ü ber sein Gesicht, als er sagte: »Ich hab ihn gleich erkannt.« Ein
Schnitt, und dann fuhr er fort: »Ja, ich konnte ihn gut sehen. Besser, als mir lieb
war.«
»Ha!« rief Cal. »Das glaube ich! Hast du schon die Hosen gewechselt, Kleiner?«
»Halt’s Maul, Cal«, sagte Cory.
Nun sah man, wie eine Reporterin vor dem Geschä ft irgendeinen hö heren
Polizeibeamten mit Kordeln an der Mü tze interviewte, doch der Ton kam noch
immer aus dem Off. »Wie Captain Andrew Oldrum von der Staatspolizei sagte,
besteht einiger Grund zu der Annahme, dass der andere an dem Bankü berfall in
Massachusetts beteiligte flü chtige Tä ter der Fahrer des Fluchtwagens war.«
Lindahl starrte Parker an, der den Blick nicht erwiderte, sondern nur den Kopf
schü ttelte. Er musste Lindahl daran erinnern, in Anwesenheit der Dennisons
keine Szene zu machen.
Man hö rte den Interviewton oder jedenfalls einen Teil dessen, was Captain
Oldrum zu sagen hatte: »Wenn man bedenkt, wo die beiden zuletzt gesehen
wurden, sieht es so aus, als wä ren sie umgekehrt, was recht schlau von ihnen
wä re, denn das hieße, dass sie sich in einem Gebiet befinden, das wir bereits
durchsucht haben.«
»Captain Oldrum, warum begehen diese Mä nner einen so vergleichsweise
kleinen Raub, wenn sie in Massachusetts doch mehrere hunderttausend Dollar
erbeutet haben?«
»Tja, nach dem, was der eine, den wir festgenommen haben, ausgesagt hat,
haben wir Grund zu der Annahme, dass sie das Geld nicht mehr haben. Und
selbst wenn sie noch einen Teil davon haben, wissen sie inzwischen, dass es zu
gefä hrlich ist, dieses Geld auszugeben, weil wir die Seriennummern kennen. Sie
brauchen also Bargeld, das sie verwenden kö nnen, ohne Verdacht zu erregen.
Trotzdem zeigt dieser Ü berfall, dass sie vermutlich ziemlich verzweifelt sind – es
sieht also so aus, als wä ren wir ihnen dichter auf den Fersen, als wir heute
morgen noch angenommen haben.«
Als nä chstes sah man das Studio, wo dieselbe Reporterin in die Kamera
lä chelte und sagte: »Die Polizei bittet alle, die zur Zeit des Ü berfalls im
Willoughby Hills Center waren und die Flü chtigen, ihren Wagen oder sonst etwas
Verdä chtiges gesehen haben, die unten eingeblendete Telefonnummer anzurufen
–«
»Los, rufen wir an«, sagte Cal. »Wir haben ihn ja hier.« Lachend und an Lindahl
gewandt fü gte er hinzu: »Und du warst wahrscheinlich der Fahrer!«
»Halt’s Maul, Cal«, sagte Parker. »Tom, mach den Fernseher aus.«
Cal wurde unvermittelt wü tend. »Mein Bruder kann mir sagen, dass ich das
Maul halten soll – Sie nicht!«
Wä hrend Lindahl den Ton des Fernsehers abstellte, machte Parker einen
Schritt auf Cal zu und schlug ihn mit der offenen Hand knapp unterhalb der
Augenklappe hart auf die Wange. Ü berrascht und empö rt fuhr dieser zurü ck.
Parker stand mit locker hä ngenden Armen da und musterte ihn, wä hrend Cal
fuchtelnd und mit weit aufgerissenem Auge ü berlegte, was er tun kö nnte.
»Okay«, sagte Cory und trat vor. Allerdings stellte er sich nicht zwischen die
beiden, sondern blieb ein wenig seitlich stehen, als wä re er ein Ringrichter.
»Okay, das reicht. Noch mal so was, und Sie haben’s auch mit mir zu tun.«
Parker wandte sich zu ihm. »Die sagen, es war eindeutig einer von denen, die
sie suchen, und sie sagen, er war in diesem Einkaufszentrum, wo ich ü brigens
nicht war. Aber nehmen wir mal an, Ihr Bruder hat recht. Gerade haben wir ge-
hö rt, dass die beiden das Geld nicht mehr haben oder wenn doch, dann kö nnen
sie nichts damit anfangen, weil die Polizei die Seriennummern hat. Wenn ich also
einer der Rä uber bin, dann habe ich das Geld entweder nicht mehr, oder
ich habe Geld, mit dem keiner was anfangen kann. Und wenn ich einer der
Rä uber bin, wie kommt’s dann, dass ich Sie beide gestern nacht nicht ü ber den
Haufen geschossen hab?«
Cory hatte zugehö rt und dabei nachdenklich genickt, und nun sagte er: »Weiß
ich nicht.«
»Was wissen Sie denn?«
»Irgendwas ist hier faul.« Cory nickte zu seinem Bruder, sah aber weiterhin
Parker an. »Cal und ich haben es beide gemerkt, und wir haben darü ber
gesprochen.«
Cal war offenbar zu dem Schluss gekommen, der Schlag ins Gesicht sei
inzwischen so lange her, dass er darauf nicht mehr reagieren musste, und sagte
auf seine ü bliche aggressive Art: »Was machen Sie eigentlich hier, das ist doch
der Punkt. Ob Sie nun einer der Rä uber sind oder nicht, und ich weiß ganz genau,
dass Sie einer von denen sind – aber selbst wenn nicht: Wie kommt’s, dass Sie
hier sind? Was machen Sie hier?«
»Ich besuche meinen alten Freund Tom.«
»Quatsch«, sagte Cal. »Das haben Ihnen vielleicht die alten Sä cke vom Jagdclub
abgekauft, aber wir nicht. Ich hab Sie da oben in St. Stanislas gesehen und sofort
gedacht: ›Was ist denn das fü r ein Typ?‹ Und das war, bevor ich dieses
Phantombild kannte.«
Lindahl trat einen Schritt vor. Er war blasser als sonst, und Parker konnte
sehen, dass er das, was er gerade aus dem Fernseher erfahren hatte, noch nicht
ganz verarbeitet hatte, doch sein Gesichtsausdruck war entschlossen. »Cal«,
sagte er, »du hast mich noch nie einen Lü gner genannt.«
Cal drehte sich um und starrte ihn finster an. »Und? Willst du mir jetzt auch
eine reinhauen? Lieber nicht, Tom.«
»Dann nenn mich nicht Lü gner.«
»Cal«, sagte Cory und unterbrach das, was Cal hatte sagen wollen, »wir sind
hier fertig.«
Cal hatte nun Grund, alle finster anzusehen. »Fertig? Was soll das heißen:
fertig? Jetzt raubt dieser Typ auch noch Einkaufszentren aus!«
»Das geht uns nichts an«, sagte Cory. »Komm schon, Cal. Entschuldige, dass wir
hier so reingeplatzt sind, Tom.«
»Jederzeit«, sagte Lindahl, klang aber noch immer wü tend. »Das nä chste Mal
klopft ihr vorher an.«
»Machen wir. Komm, Cal. Tut mir leid, wenn wir Sie genervt haben, Ed.«
»Haben Sie nicht«, sagte Parker.
»Na, dann...« Cory schob Cal zur Tü r. Cal wollte sich noch ü ber irgend etwas
ereifern, aber Cory bugsierte ihn mit Kopfnicken und Gesten hinaus, und dann
waren die beiden endlich vor der Tü r, die Cory schloss, ohne sich noch einmal
umzusehen.
Parker stand da und betrachtete die Tü r mit gerunzelter Stirn. Nach einer
Weile sah Lindahl ihn verwundert an und sagte: »Was ist?«
Parker nickte in Richtung Tü r. »Cory plant etwas.«

NEUN
Sechs Stunden. In sechs Stunden wü rden Parker und Lindahl Pooley verlassen
und nach Sü den zur Rennbahn fahren, die, wenn sie dort ankamen, leer und
dunkel auf sie warten wü rde. Das war nicht das Problem; das Problem waren die
sechs Stunden.
Zum einen: Irgendwo dort draußen war Cory Dennison und plante etwas. Er
war zu dem Schluss gekommen, dass Parker, ganz gleich, wer er war, irgend
etwas vorhatte, das fü r die Dennisons von erheblichem Interesse sein wü rde und
das sie deshalb in Erfahrung bringen mussten. Was wü rden die beiden also
vermutlich tun? In der Nä he warten? Lindahls Haus und den Gelä ndewagen im
Auge behalten und ihnen folgen, wenn sie wegfuhren? Den ganzen Weg bis zur
Rennbahn?
Also gut – er wü rde die Brü der irgendwann in nä chster Zeit neutralisieren
mü ssen. Dabei waren sie auf ihre Art weniger gefä hrlich als Fred Thiemann,
denn sie waren wenigstens zurechnungsfä hig und einigermaßen bei Verstand
und wussten, was sie wollten, was man von Thiemann nicht behaupten konnte.
Er war wie eine ungesicherte Kanone und hatte sich nicht in der Gewalt, und
auch seine Frau hatte ihn nur teilweise im Griff. Parker konnte nichts tun, was es
nicht noch schlimmer machen wü rde. Wenn Thiemann starb –durch Parker oder
durch eigene Hand oder durch die irgendeines anderen –, musste Parker die
Rennbahn vergessen und so schnell wie mö glich aus dieser Gegend
verschwinden, bevor die Polizei zur Stelle war.
Denn sobald sich die Polizei fü r Thiemann interessierte, wü rde sie sich auch
fü r seine Partner bei der Suche nach den Rä ubern interessieren. Seine Frau
wü rde Lindahls Namen nennen, und das war dann das Ende.
Welche Optionen hatte er? Er konnte Lindahl fesseln oder ihn erschießen,
wenn er irgendwelchen Ä rger machte, und mit dem Gelä ndewagen
verschwinden. Er wü rde die Wagenpapiere und einen neuen Fü hrerschein auf
den Namen William G. Dodd haben, und wenn man ihn anhielt, wü rde er sagen,
sein Freund Tom Lindahl habe ihm den Wagen geliehen.
Aber wenn er das tat und Fred Thiemann sich die Kugel gab, wü rde
Parker, ohne es zu wissen, in einem heißen Wagen unterwegs sein. Oder er
konnte die sechs Stunden abwarten, die Dennisons ignorieren und darauf
vertrauen, dass Jane Thiemann ihren Mann bei der Stange hielt – dann
konnte ihn die Katastrophe hier ereilen, in Tom Lindahls Wohnzimmer,
gemü tlich zurü ckgelehnt und mit hochgelegten Beinen.
Einen anderen Wagen. Er brauchte einen Wagen, mit dem er herumfahren
konnte, einen Wagen, mit dem er an Straßensperren keine Schwierigkeiten
bekommen wü rde. Einen Wagen mit einwandfreien Papieren, der keinen
Verdacht erregen wü rde, ganz gleich, was hier in der Nachbarschaft passiert war.
Als die Dennisons fort waren, sagte Parker: »Ich fahre mal zur Tankstelle an der
Ecke und tanke den Wagen voll.«
Mit bitterem Unterton sagte Lindahl: »Und Sie bezahlen mit dem Geld, das Sie
dem Jungen abgenommen haben?«
Parker sah ihn an. »Sie haben da was falsch verstanden, Tom«, sagte er. »Ich
hab dem Jungen nichts abgenommen. Ich hab das Geld einer Firma
abgenommen, die neunhundert Geschä fte unterhä lt. Ich brauchte das Geld. Das
wissen Sie.«
»Hatten Sie den Revolver schon die ganze Zeit?«
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Parker und wandte sich zur Tü r.
»Nein, warten Sie.«
Parker drehte sich um und sah, dass Lindahl versuchte, sein Denken neu
auszurichten. Er wartete, bis Lindahl nickte und sagte: »Schon gut. Ich weiß, wer
Sie sind. Das wusste ich ja schon die ganze Zeit. Ich sollte nicht so tun, als ginge
mich das irgendwas an.«
»Stimmt.«
»Es ist nicht leicht«, sagte Lindahl. »Es ist nicht leicht, wenn man mit ...«
Er ließ den Satz in der Luft hä ngen, aber Parker hatte schon verstanden. Es ist
nicht leicht, wenn man mit einem Raubtier zusammen ist. »Es ist ja nicht fü r
lange«, sagte er.
»Nein, ich weiß. Aber ich wollte Ihnen noch sagen« – Lindahl war offenbar
bestrebt, schnell das Thema zu wechseln –, »dass Sie lieber nicht zu der
Tankstelle an der Ecke fahren sollten. Wenn Sie an der Straße nach rechts
abbiegen, kommt nach ungefä hr zwö lf Kilometern eine Getty-Tankstelle. Immer
geradeaus.«
»Aber die hier ist praktisch vor der Haustü r. Und sie ist sonntags geö ffnet. Ich
hab das Schild gesehen.«
»Nein, da sollten Sie nicht hingehen«, beharrte Lindahl. »Da kostet der Sprit
drei, vier Cent mehr als irgendwo sonst.«
»Woher kriegt der Typ dann seine Kunden?«
»Er hat ja keine«, sagte Lindahl. »Die einzigen, die bei ihm tanken, sind Fremde
oder irgendwelche Leute, die sich verfahren haben.«
»Und wie kommt er ü ber die Runden?«
»Er kriegt Sozialhilfe«, sagte Lindahl. »Und er verkauft Lotterielose, das ist
eigentlich der Hauptgrund, warum irgend jemand dorthin geht. Viele hier sind
ganz verrü ckt auf Lotterielose. Und außerdem hat er eine Reparaturwerkstatt.«
»Ich hab ein paar Wagen da herumstehen sehen, aber ich wusste nicht, ob er
sie repariert oder verkauft.«
»Er repariert sie, er ist Mechaniker«, sagte Lindahl. »Das war frü her sein
Hauptberuf, irgendwo in Pennsylvania. Er hat da fü r einen großen Autohä ndler
gearbeitet. Dann ist er in Pension gegangen, ist hierhergezogen und hat die Tank-
stelle gekauft, weil seine Frau hier irgendwo aus der Gegend stammt.«
»Aber warum verkauft er das Benzin so teuer?«
»Er ist einfach ein komischer Kauz«, sagte Lindahl. »Ein Einzelgä nger. Er bastelt
gern an Motoren und so herum, und sonst sitzt er in der Tankstelle und hö rt
Radio.«
»Ist er ein guter Mechaniker?«
»Ja.« Lindahl nickte nachdrü cklich. »Er macht gute Reparaturen und bescheißt
einen nicht – in der Hinsicht ist er fair. Darauf ist er stolz. Ich hab meinen Wagen
mal zu ihm gebracht, und das hat er gut gemacht. So ist er eben: Er repariert
Autos, aber er hat keine Lust, mit einem zu reden. Ich glaube, er mag Autos lieber
als Menschen.«
»Wie heißt er?«
»Brian Hopwood. Aber Sie sollten nicht zu ihm gehen.«
»Nein, tue ich nicht«, sagte Parker. »Ich stehe nicht auf komische Kä uze, die
zuviel Geld verlangen. Also die Getty-Tankstelle, sagen Sie? Rechts ab und dann
zwö lf Kilometer?«
»Genau«, sagte Lindahl.

ZEHN
Der rote Ram der Denisons war nirgends zu sehen, als Parker aus dem Ort fuhr,
nach einem Kilometer wendete, an Lindahls hinter dem verlassenen Haus
versteckter Wohngarage vorbeifuhr und an der Tankstelle hielt, die, wie die
meisten Tankstellen, auch bei Tageslicht hell erleuchtet, aber dennoch von einer
Atmosphä re der Verlassenheit umgeben war.
Drei von beiden Seiten zu bedienende Zapfsä ulen standen in einer Reihe.
Dahinter war ein niedriges, breites, mit weißen Brettern verkleidetes Gebä ude,
dessen Fassade von mehreren großen Garagenkipptoren eingenommen wurde.
Nur am rechten Ende befand sich ein kleines Bü ro. Das große Fenster sowie die
kleineren Fenster in der Tü r waren mit Werbeplakaten fü r Treibstoffzusä tze
verklebt. Rechts von dem Gebä ude, am Rand des asphaltierten Parkplatzes, stand
ein halbes Dutzend ä lterer Wagen, allesamt mit Nummernschildern, was
bedeutete, dass sie nicht zu verkaufen waren, sondern repariert werden sollten.
Parker stieg aus dem Ford und las die handgeschriebenen Schilder, die an den
Zapfsä ulen hingen: VOR DEM TANKEN IM B Ü RO BEZAHLEN . Er zog die
ersten beiden Zwanziger der Beute aus dem Einkaufszentrum hervor und ging zu
der Tü r, wo ein zweites handgeschriebenes Schild mit den Ö ffnungszeiten hing,
unter anderem SO 10-16.
Er ö ffnete die Tü r und hö rte das Klingeln einer Glocke, gefolgt von klassischer
Musik – ziemlich laut, mit vielen Streichinstrumenten –, die die Glocke kurz
ü bertö nt hatte. Nach Lindahls Beschreibung von Brian Hopwood hatte Parker
eine andere Musik erwartet – aber das war ja schließlich der Grund, warum er
hier war: Er wollte sich einen Eindruck von dem Mann und seinem Geschä ft
verschaffen.
Das Bü ro war klein, dunkel und eng und wirkte, als wä re alles mit einem
dü nnen Ö lfilm ü berzogen. Der Schreibtisch war aus dunklem Metall und bedeckt
mit Reparaturhandbü chern, Tabellen mit technischen Daten und Terminplä nen.
Außerdem stand dort ein altes schwarzes Telefon. Der Drehstuhl aus dunklem
Holz war sehr niedrig gestellt, und ü ber Sitz und Lehne hatte man alte Decken
und ein paar braune Fensterleder gehä ngt. An der hinteren Wand befand sich ein
Regal mit einer alten Registrierkasse, und daneben hingen an einem Brett
diverse Schlü ssel mit Anhä ngern aus Pappe.
In der linken Wand war ein offener Durchgang zum Werkstattbereich. Von dort
trat jetzt ein Mann ein, der die Stirn runzelte, als hä tte er nicht erwartet,
unterbrochen zu werden. Er war klein und dü rr und im Pensionsalter. Er trug
eine Armeesonnenbrille mit wellenfö rmig verbogenen Bü geln und
ö lverschmierte Arbeitskleidung, wischte sich die Hä nde an einem kleinen
Handtuch ab, dessen Zipfel er unter dem Gü rtel hindurchgezogen hatte, und
sagte: »Tag.«
»Tag.« Parker hielt ihm die beiden Zwanziger hin und sagte: »Ich bin mir nicht
sicher, ob ich soviel brauche. Wenn nicht, komme ich noch mal und hole mir das
Wechselgeld.«
Hopwood war offenbar nicht sonderlich erfreut: Wegen einer Tankfü llung
wü rde er zweimal mit diesem Kunden zu tun haben. Dennoch nahm er die
Zwanziger, legte sie auf das Regalbrett vor der Kasse und sagte: »Welche Sä ule?«
Parker spä hte durch einen Spalt zwischen den Werbeplakaten und sagte:
»Drei.«
Hopwood bü ckte sich und schaltete die Pumpe ein. »Ich kassiere dann, wenn
Sie fertig sind.«
»Gut.«
Hopwood war schon wieder in der Werkstatt, bevor Parker die Klinke in der
Hand hielt. Der Mann war nicht neugierig und wü rde Parker nicht beobachten,
also ging er zuerst zu den Wagen, die am Ende des Parkplatzes standen. Sie
waren alle abgeschlossen – die Schlü ssel hingen vermutlich an dem Brett im
Bü ro. In einigen lagen irgendwelche persö nlichen Gegenstä nde: eine Decke, eine
Thermosflasche.
Laut Gesetz waren Halter verpflichtet, die Wagenpapiere in ihrer Brieftasche
aufzubewahren, aber die meisten legten sie zum Versicherungsschein ins
Handschuhfach, also waren vermutlich ein paar der hier abgestellten Wagen fü r
Parker geeignet. Sollte sich die Notwendigkeit ergeben.
Parker ging zurü ck zum Ford und tankte fü r achtunddreißig Dollar fü nfzig. Es
hä tte noch mehr in den Tank gepasst, zumal Hopwood ja recht teuer war, aber
Parker wollte noch ein zweites Mal mit ihm reden.
Hopwood kam aus der Werkstatt, als die Glocke klingelte, und Parker sagte:
»Tut mir leid, mehr ging nicht rein.«
»Kein Problem.« Hopwood bü ckte sich, um den Betrag abzulesen.
»Ich bin bei Tom Lindahl zu Besuch«, sagte Parker.
»Achtunddreißig fü nfzig. Ich hab den Wagen erkannt.«
»Ich mache einen kleinen Urlaub.«
»Tatsä chlich?« Hopwood tippte den Betrag ein und gab Parker einen Dollar und
zwei Fü nfundzwanzigcentstü cke.
»Da steht, dass Sie heute um vier zumachen«, sagte Parker.
»Stimmt.« Hopwood sah blinzelnd auf die runde weiße Wanduhr neben dem
Durchgang zur Werkstatt und sagte: »Ist noch ’ne Stunde. Sie hä tten sich nicht
beeilen mü ssen.«
»Wenn Sie schließen«, sagte Parker, »ist dann wirklich geschlossen? Oder sind
Sie noch ein bisschen da, fü r den Fall, dass noch jemand kommt? Arbeiten
vielleicht noch an der einen oder anderen Reparatur?«
»Auf keinen Fall«, sagte Hopwood und klang fast so empö rt, als hä tte jemand
vorgeschlagen, er solle einen Meineid schwö ren. »Um vier mach ich den Laden
dicht, geh nach Hause, sag meiner Frau hallo, dusche und lese die
Sonntagsbeilage, bis es Abendessen gibt. Ich weiß nicht, was Tom Lindahl Ihnen
erzä hlt hat, aber so blö d bin ich auch wieder nicht.«
»Tom hat gesagt, Sie sind ein guter Mechaniker.«
»Oh, schö nen Dank.« Er nickte zu dem Ford an den Zapfsä ulen und sagte: »Ich
hab’s immerhin geschafft, das Ding am Laufen zu halten. Fä hrt ganz gut, oder?«
»Ja«, stimmte Parker ihm zu. Er steckte das Wechselgeld ein, sagte: »Viel Spaß
mit der Sonntagsbeilage«, und wandte sich zum Gehen.

ELF
»Einen Moment«, sagte Hopwood, und als Parker sich umdrehte, die Hand nur
Zentimeter vom Tü rgriff entfernt, hatte Hopwood die Schublade seines
unaufgerä umten Schreibtischs herausgezogen und hielt jetzt eine winzige Pistole
in der Hand, deren Auge auf Parker gerichtet war. In der noch offenen Schublade
lag eine schmutzige Kopie des Phantombilds.
»Vielleicht legen Sie lieber die Hä nde auf den Kopf«, sagte Hopwood.
Das tat Parker nicht. Statt dessen zeigte er auf das Bild in der Schublade. »Sie
denken doch wohl nicht, das bin ich, oder? Das ist nicht mal mehr ein Witz.«
»Ich mache keine Scherze, Mister«, sagte Hopwood. Die Pistole verschwand fast
in seiner Faust, sie war klein, aber kein Spielzeug, eine Seecamp LWS32 mit
einem Magazin, das sechs .32er Patronen enthielt. Der Lauf war nur zweieinhalb
Zentimeter lang – wenn man damit auf die andere Straßenseite schoss, wü rde
man nicht viel ausrichten, aber hier, in diesem kleinen Raum, erfü llte sie
vollkommen ihren Zweck.
Hopwoods Hand beschrieb einen kleinen Bogen nach rechts unten, so
dass die Pistole jetzt auf Parkers linkes Bein zielte. »Wenn ich Ihnen ins Knie
schießen muss, werd ich’s tun.«
»Ich hab Ihnen doch gesagt: Ich bin zu Besuch bei Tom Lindahl. Rufen Sie ihn
an. Das da ist sein Wagen –«
»Zum letzten Mal: Hä nde auf den Kopf.«
Parker blieb nichts anderes ü brig. Als er die Arme hob, wurde die Tü r direkt
hinter ihm geö ffnet, und jemand trat ein. Hopwood war fü r einen Augenblick
abgelenkt, und Parker machte einen raschen Schritt nach links und drehte sich
dabei. Er sah, dass in seinem Rü cken die neugierige Frau stand, die gestern nacht
an ihm vorbeigefahren war und angehalten hatte, um ihn zu fragen, ob sie helfen
kö nne.
Sie war verwirrt von der Szene, in die sie hereingeplatzt war, und reagierte auf
die Anspannung, die in der Luft lag, ohne die kleine Automatik in Hopwoods
Hand zu bemerken. »Tut mir leid, wenn ich –«
Parker packte sie mit beiden Hä nden am linken Ellbogen und schleuderte sie
mit aller Kraft quer durch den Raum auf Hopwood zu, der zu spä t versuchte
auszuweichen, gegen die Ecke des Schreibtischs stieß und das Gleichgewicht
verlor. Die Frau prallte gegen ihn, und die beiden fielen schrä g ü bereinander vom
Tisch auf den Boden. Als sie sich voneinander gelö st hatten und zu Parker
aufsahen, hatte dieser den Revolver in der Hand.
»Bleibt, wo ihr seid«, sagte er und zeigte Hopwood den Ranger. »Ich schieße
nicht bloß ins Knie.«
»Was ...? Was ist ...?« Die Frau war noch immer in erster Linie verwirrt, doch
dann sah sie den Ranger in Parkers Hand. Ihre Augen weiteten sich, und sie rief:
»Sie! Sie haben Jacks Revolver gestohlen!«
TEIL DREI

EINS
Von den drei Mä nnern, die den Bankraub in Massachusetts durchgezogen hatten,
war Nelson McWhitney der einzige, der den Tatort mit einem sauberen
Fü hrerschein und seinem eigenen, amtlich zugelassenen Pick-up verlassen hatte.
Die Polizisten, die ihn an den Straßensperren angehalten hatten, um seinen
Wagen zu durchsuchen, hatten ihn davor gewarnt, in sü dlicher Richtung zur
Schnellstraße zu fahren, weil die zahlreichen Kontrollen dort zu endlosen
Verkehrsstaus fü hrten, und so war McWhitney, dessen Ziel eigentlich Long Island
gewesen war, stundenlang weiter nach Westen gefahren und schließlich in der
Gegend gelandet, in der Parker gestrandet und Nick Dalesia geschnappt worden
war.
Er hö rte die Nachricht im Radio seines Wagens und reagierte mit einem
ironischen Nicken, einem lä ssigen Salutieren und den Worten: »Tja, das war’s
dann wohl, Nick.« Ein paar Kilometer weiter nickte er, nachdem er ein bisschen
nachgedacht hatte, noch einmal und sagte: »Und das war’s dann wohl auch mit
dem Geld.« Denn nur damit konnte Nick Punkte machen, oder?
Hinter Syracuse bog McWhitney nach Sü den ab und hielt sich dabei an die
kleineren Straßen, weil es dort weniger Staus gab. Trotzdem kam er nur
langsam voran. Schließlich gab er es auf, ü bernachtete bei Binghamton in einem
Motel, stand am Sonntag frü h auf und nahm in einer noch immer von Polizisten
bevö lkerten Welt Kurs nach Sü dosten in Richtung Long Island, wo er wohnte, wo
die kleine Bar war, die ihm gehö rte, und wo er demnä chst eine Verabredung mit
einer Frau namens Sharon hatte.
An einem normalen Tag hä tte er Besseres zu tun gehabt, als durch New York
City nach Long Island zu fahren, aber dieser Tag war alles andere als normal. Es
war erstaunlich, fü r wieviel Aufregung drei Mä nner mit einem simplen Bank-
ü berfall sorgen konnten. Und nachdem die Bullen Nick Dalesia geschnappt
hatten, waren sie natü rlich um so erpichter darauf, die anderen beiden auch
noch zu kriegen.
Wä hrend er durch den Staat New York fuhr, kam ihm der Gedanke, er selbst
kö nnte mö glicherweise ebenfalls ein Punktelieferant fü r Nick sein. Er ü berlegte
und kam zu dem Schluss, Nick und er hä tten nicht so viele private Informationen
ausgetauscht, dass sein Kumpel den Polizisten hä tte verraten kö nnen,
McWhitney lebe auf Long Island. Hoffte er jedenfalls.
Wenn er schließlich dort war, wü rde er sich erst mal in der Nachbarschaft
umsehen. Sollte Nick tatsä chlich genug ü ber ihn wissen und genaue Angaben
gemacht haben, dann wü rden rings um die Wohnung und die Bar so viele Bullen
herumhä ngen, dass er sie bemerken wü rde. Also hinfahren und nachsehen.
In Westchester hielt er an einem Schnellimbiss und aß etwas zu Mittag, dann
fuhr er weiter in Richtung Sü den zur Throgs-Neck-Brü cke, die nach Long Island
fü hrte. Die Kontrolle an der Brü cke war die grü ndlichste und intensivste bisher,
doch sobald er auf der Insel war, wurde alles plö tzlich ganz beschaulich. Es gab
nur eine begrenzte Anzahl von Mö glichkeiten, auf die Insel zu kommen, und
offenbar glaubte die Polizei, dass bis jetzt keiner der Bankrä uber
durchgeschlü pft sei.
In der Gegend, wo er wohnte, war es so friedlich wie an jedem anderen
Sonntagnachmittag. Auch in der Bar, die er fü r die Zeit seines kleinen »Urlaubs«
einem Typ, den er kannte, anvertraut hatte, war es sehr ruhig. Sie war beinahe
leer, was fü r einen Sonntagnachmittag ebenfalls normal war.
McWhitney parkte den Pick-up in der Gasse hinter dem Haus, in dem er
wohnte, ging in seine leere Wohnung, in der die Luft abgestanden war, ö ffnete
ein paar Fenster und eine Bierdose und schaltete CNN ein. Nichts Neues vom
Bankraub.
Er fragte sich, wie es Parker wohl unter den braven Bü rgern erging.

ZWEI
Brian Hopwood lag rü cklings auf dem schmutzigen Boden seines Bü ros. In der
linken Seite, wo sein Brustkorb gegen die spitze Ecke des Tischs gestoßen war,
verspü rte er einen stechenden Schmerz, und in der Faust hielt er noch immer die
nutzlose kleine Spielzeugpistole. Er starrte an der Masse von Suzanne Gilberts
welligem, kastanienbraunem Haar vorbei hinauf zu dem harten Burschen, dem
er dä mlicherweise eine Pistole unter die Nase gehalten hatte, und dachte: Na,
Gott sei Dank bin ich noch nicht tot – das ist schon mal gut.
Ja, das war gut. Wenn dieser harte Bursche, dieser Bankrä uber, einfach zwei
stö rende Elemente aus dem Weg hä tte rä umen wollen, dann hä tte er sie schlicht
ü ber den Haufen geschossen, ohne Kommentar, ohne eine Warnung wie: »Ich
schieße nicht bloß ins Knie.« Also wollte er sie nicht erschießen, oder jedenfalls
nur, wenn es unumgä nglich war.
Brian Hopwood hatte das Rentenalter zum Teil deshalb erreicht, weil er es nie
fü r irgend jemanden unumgä nglich gemacht hatte, ihn zu erschießen, und so
wollte er es auch fü r den Rest seines Lebens halten. Was bedeutete, dass er
Suzanne zum Schweigen bringen musste. Sie war schwerer, als sie wirkte, und
lag halb auf dem Bauch ü ber ihm wie ein auf eine Kü hlerhaube gebundener toter
Hirsch, den Oberkö rper auf den Ellbogen gestü tzt, der sich in Hopwoods Magen
bohrte. Empö rt und entgeistert starrte sie den Kerl an, der ihrer beider Leben in
der Hand hielt, und schrie: »Sie! Sie haben Jacks Revolver gestohlen!« Als wä re
sie in irgendeiner Quizshow.
Jack Riley? Sie musste wohl Jack Riley meinen – aber was zum Teufel sollte Jack
Riley mit einem Revolver anfangen? Er wischte die Frage beiseite, kä mpfte gegen
seine Angewohnheit an, die Gedanken abschweifen zu lassen – und das war es ja,
was ihn zu dem erstklassigen, aber eigenbrö tlerischen Mechaniker gemacht
hatte, der er war, in diesem Beruf, in dem er seine Gedanken jederzeit
Spazierengehen lassen konnte, wä hrend die Hä nde und irgendein anderer Teil
seines Gehirns sich mit dem speziellen Problem eines speziellen Wagens
befassten –, und er rief oder versuchte es mit dem heiseren Krä chzen, das
offenbar alles war, was er zustande brachte: »Halt den Mund, Suzanne, und geh
von mir runter! Ich lege die Pistole hin, Mister – sehen Sie? Ich leg sie hier auf
den Boden, und ich kann sie zu Ihnen rü berschieben, wenn Sie ... Suzanne, geh
runter, verdammt!«
Das tat sie dann schließlich auch. Sie wä lzte sich nach rechts von ihm herunter,
mit wirbelnden Beinen und fliegendem Haar. Sie trug eine schwarze Hose und
einen grauen Wollpullover, so dass sie dabei nichts entblö ßte, und doch
registrierte Brians zu Abschweifungen stets bereites Hirn, dass dieser Kö rper in
Bewegung etwas sehr angenehm Weibliches hatte.
Der harte Bursche hatte sich nicht gerü hrt, doch jetzt zeigte er, wä hrend
er mit dem Revolver noch immer auf Brian zielte, mit der Linken auf
Suzanne und sagte: »Das reicht.«
Suzanne saß mit gestreckten, gespreizten Beinen da, bewegte sich aber
trotzdem noch ein bisschen: Sie kreuzte die Beine zu einer Art lockerer
Lotoshaltung und starrte ihn wü tend an, aber wenigstens hielt sie den Mund.
Als hä tte er sie damit in einen Kä fig gesperrt und aus dem Spiel genommen, sah
der harte Bursche Brian an und sagte: »Erzä hlen Sie mir was von ihr.«
Erzä hlen Sie mir was von ihr? Sie sitzt doch hier; warum fragt er sie nicht
selbst?
Er ist der Typ mit der Pistole, Brian, und darf tun, was er will. Also sagte Brian:
»Sie heißt Suzanne Gilbert. Sie arbeitet nachts in der Notaufnahme vom Holy
Mary Hospital. Ihr Großvater wohnt ein paar Hä user entfernt von hier.«
»Jack?«
»Jack Riley. Das ist ihr Großvater.«
Und jetzt ö ffnete Suzanne wieder den Mund; kapierte sie denn nicht, was hier
los war? Offenbar nicht, denn sie sagte mit beleidigter Stimme: »Warum haben
Sie Jacks Revolver gestohlen?«
Der Kerl sah sie an, und obgleich sein Gesicht sich nicht zu etwas verzog, das
man ein Lä cheln hä tte nennen kö nnen, schien ihn die Frage irgendwie zu
amü sieren. »Nur fü r den Fall«, sagte er zu ihr, »dass Brian seine Kanone rausholt.
Sie haben gestern nacht nicht nach Ihrem Großvater gesehen.«
Gestern nacht? Brian sah von dem harten Burschen zu Suzanne, die nicht
sonderlich besorgt, geschweige denn verä ngstigt wirkte, und dachte: Was war
denn gestern nacht? Es schien da irgendeine Geschichte zu geben, die er
nicht kannte.
Sie sagte: »Nein, ich bin bloß auf dem Heimweg vorbeigefahren. Manchmal
kann er nicht schlafen und sitzt auf der Veranda und lä sst das Licht brennen.
Dann gehe ich zu ihm, und wir reden ein bisschen. Er weiß, dass ich komme, und
das macht es leichter fü r ihn – deswegen schlä ft er in letzter Zeit besser als
frü her. Als ich gestern nacht vorbeifuhr, war er vor dem Fernseher eingeschlafen
– das war okay, also bin ich weitergefahren. Ich nehme an, kurz danach sind Sie
eingebrochen und haben ihm den Revolver gestohlen.«
Herrgott, Suzanne, dachte Brian, lass gut sein. Doch den harten Burschen
schien das nicht zu stö ren. Er zuckte bloß die Schultern und sagte: »Er schien ihn
nicht dringend zu brauchen.« Dann richtete er seine kalten Augen auf Brian,
musterte ihn eine Weile, als kö nnte er doch noch zu dem Schluss kommen, Brian
sei ein stö rendes Element, das er einfach ü ber den Haufen schießen sollte, und
sagte dann: »Wann haben Sie den Entschluss gefasst?«
»Ein Held zu sein?« Brian war inzwischen jenseits jeder Peinlichkeit. Er zuckte
die Schultern und wendete den Blick ab. »Erst als ich es getan hab.«
In Wirklichkeit war der Gedanke langsam in ihm entstanden. Dieser Mann war
hereingekommen, hatte ihm zwei Zwanziger gegeben und gesagt, er nehme die
Zapfsä ule Nummer drei, und dann war er rausgegangen. Brian hatte sich wieder
mit der Bremstrommel beschä ftigt, mit der er um vier, wenn er die Tankstelle
schloss, fertig sein wollte, und beim Arbeiten hatte er in Gedanken das Gesicht
des Kunden ü ber eines der beiden Phantombilder gelegt, die er in die Schublade
getan hatte, weil ihm widerstrebte, etwas wegzuwerfen, das die Polizei ihm
gegeben hatte. Andererseits hatte er aber die beiden Bilder nicht an die Wand
hä ngen wollen, wo sie ihn nur stä ndig irritieren und ablenken wü rden. In kurzer
Zeit waren die beiden Gesichter miteinander verschmolzen, und er hatte
gewusst, dass der Kunde, der da draußen tankte, einer der Bankrä uber war, nach
denen alle suchten. Und dass er mit Tom Lindahls Wagen unterwegs war, dem
Gott weiß was passiert war.
Was sollte er tun? Er beschloss, das Schicksal entscheiden zu lassen. Wenn der
Typ fü r vierzig Dollar tankte und wegfuhr, wü rde Brian das nä chste Mal, wenn er
in sein Bü ro kä me, die Polizei anrufen und sagen, er glaube, er habe gerade einen
der Bankrä uber in Tom Lindahls Wagen gesehen – dann sollten die sich darum
kü mmern. Aber wenn der Typ zurü ckkam, um sein Wechselgeld zu holen, wü rde
Brian das als Wink des Schicksals auffassen, ihn selbst festzunehmen. Er hatte in
der Schublade eine kleine Pistole, und die Sache schien ganz einfach zu sein:
Pistole rausholen, den Rä uber in Schach halten, die Polizei anrufen und warten.
Das hatte ja prima geklappt, nicht?
Der harte Bursche schien in etwa dasselbe zu denken, denn er sagte: »Sie
hä tten besser gewartet, bis ich weg gewesen wä re, und dann die Polizei
angerufen.«
»Ja, ich weiß«, sagte Brian. »Wenn Sie fü r vierzig Dollar getankt hä tten und
nicht mehr reingekommen wä ren, hä tte ich das auch getan.«
»Tja, Brian«, sagte der harte Bursche, »ich wü rde sagen, fü r einen Tag war das
genug Dummheit.«
»Ich hoffe es.«
»Wenn ich Ihnen also sage, Sie sollen Ihre Frau anrufen und ihr sagen,
dass Sie heute spä ter kommen, sie soll nicht mit dem Essen warten, es kö nnte
neun oder zehn Uhr werden, dann werden Sie keine weiteren Dummheiten
machen, oder?«
»Ich mache nie Ü berstunden«, sagte Brian. Er fü hlte sich relativ sicher und
wollte es bleiben. »Wenn ich ihr das sage«, erklä rte er, »weiß sie sofort, dass
irgendwas nicht stimmt. Dazu brauche ich gar keine Dummheiten zu machen.«
Der harte Bursche winkte ab, schü ttelte den Kopf und wedelte mit dem
Revolver, um Brians ungeteilte Aufmerksamkeit zu erhalten. »Sie haben einen
wichtigen Kunden«, sagte er. »Oder ein guter Freund ist gekommen. Es gibt
irgendeinen Notfall, jemand muss morgen zu einer Hochzeit, und Sie mü ssen den
Wagen unbedingt noch fertigmachen.«
Zu beider Ü berraschung meldete Suzanne sich zu Wort. »Dr. Hertzberg«, sagte
sie.
Der harte Bursche sah sie an. »Wer ist das?«
»Er behandelt eine Menge Leute hier in der Gegend«, sagte sie. »Meinen
Großvater zum Beispiel.« Sie sah Brian an. »Und dich auch.«
»Stimmt«, sagte Brian. Ihm wurde bewusst, dass sie recht hatte: Das wä re
plausibel.
Der harte Bursche musterte ihn und dachte nach. »Wenn Ihre Frau Ihnen das
nicht abkauft«, sagte er, »kann ich Sie hier nicht allein lassen.«
»Ich weiß«, sagte Brian. »Aber Suzanne hat recht: Dr. Hertzberg ist der einzige,
fü r den ich Ü berstunden machen wü rde. Also gut, ich rufe sie an.«
»Gut. Suzanne, Sie bleiben, wo Sie sind. Und Sie, Brian, stehen auf und setzen
sich an den Schreibtisch. Und bewegen Sie sich schö n langsam und so, dass ich
Ihre Hä nde sehen kann.«
»Mach ich«, versprach Brian. Und er hielt sein Versprechen. Er spü rte ein paar
heftige Stiche in den Rippen, als er aufstand und sich dabei auf dieselbe
Schreibtischecke stü tzte, gegen die er zuvor gestolpert war, und als er endlich auf
den Beinen stand, keuchte er, als wä re er gerannt. Auch die tiefen Atemzü ge
taten weh, und so drehte er sich langsam um und ließ sich auf den Stuhl sinken.
Der Schmerz ließ nach, und das Atmen fiel ihm leichter.
»Lassen Sie mir ein bisschen Zeit zum Verschnaufen«, sagte er. »Und ich muss
mir ü berlegen, was ich sage.«
»Nur zu.«
Brian sah zu Suzanne, und sie erwiderte seinen Blick mit einem Stirnrunzeln,
doch die Frage, die darin lag, blieb ihm unverstä ndlich. Suzanne war eine nette,
wenn auch etwas rechthaberische Frau, die Enkelin eines Nachbarn, er kannte
sie seit Jahren, wenn auch eigentlich nicht besonders gut. Er gehö rte nicht zu den
Mä nnern, die mit geschiedenen, seit einiger Zeit allein lebenden Frauen
plauderten, und darum hatte er, als sie ihn stirnrunzelnd und mit fragendem
Blick ansah, keine Ahnung, was sie dachte, was sie wissen wollte.
»Los jetzt.«
»Oh.« Brian sah das Telefon an. »Ja.«
Er nahm den Hö rer in die Hand und bemerkte zum erstenmal, dass einige der
Tasten viel schmutziger waren als die anderen. Da seine Hä nde immer
ö lverschmiert waren, wenn er hier arbeitete, musste es ja auch so sein, denn die
Nummer, die er am hä ufigsten wä hlte, war seine eigene, wenn er mit Edna
sprechen wollte.
Ja; er tippte die Ziffernfolge auf den schmutzigen Tasten ein, und beim zweiten
Klingeln meldete sich Edna: »Drei sieben fü nf zwei.«
»Edna, ich bin’s. Bei mir wird’s heute spä ter, ich muss noch was fertigmachen.«
»Was? Hast du eine Geliebte?«
»Ja. Wir fahren zusammen nach Miami Beach.«
»Ohne dein Abendessen? Glaub ich nicht.«
»Die Sache ist die: Dr. Hertzberg, du weißt schon, muss morgen zu einer
Hochzeit in Pennsylvania, und der Kü hler seiner Klapperkiste ist ziemlich
hinü ber. Ich hab ihm versprochen, dass das Ding morgen frü h fertig ist.«
»Ich mache Hä hnchencurry.«
»Das kann man auch aufwä rmen.«
»Ach, Mä nner. Wann kommst du denn dann?«
»Neun, vielleicht zehn.«
»Warum hast du ihm nicht gleich einen neuen Wagen verkauft?«
»Weil ich mit Dr. Hertzberg nicht lange herumdiskutiere. Er will zu dieser
Hochzeit.«
Sie seufzte tief und ehrlich. »Und der Mann ist ein Heiliger, ich weiß, ich weiß.
Ich werde dir das Hä hnchencurry nicht aufwä rmen. Ich werd’s essen, wenn es
fertig ist und schmeckt.«
Er wusste, dass sie das nicht tun wü rde, dass sie auf ihn warten wü rde, und
hoffte mit aller Kraft, dass sie nicht ewig wü rde warten mü ssen. Er wü rde
einfach tun, was der harte Bursche sagte, er war dankbar, dass dieser Typ Profi
genug war, um nicht gleich loszuballern, sobald er einen Amateur mit einer
Pistole sah, und nachher wü rde das Hä hnchencurry, aufgewä rmt oder kalt, das
Leckerste sein, was er je gegessen hatte.
»Ich komme so bald wie mö glich«, sagte er.
»Grü ß den Doktor von mir.«
»Mach ich.«
Erst als er aufgelegt hatte, begannen seine Hä nde zu zittern, und zwar so, dass
er sie gar nicht mehr stillhalten konnte. Er war hier in dieser Glaskugel, in der es
plö tzlich gar keine Luft mehr gab, und hatte Kontakt mit der normalen Welt
außerhalb gehabt, und das hatte ihn mehr erschü ttert, als er es fü r mö glich
gehalten hä tte.
Der harte Bursche stand an der Tü r und sagte: »Gut, das haben Sie sehr gut
gemacht.«
»Danke.«
»Jetzt brauche ich Ihre Schnü rsenkel.«
»Klar«, sagte Brian und wusste, was das bedeutete. Sofern nicht irgendwas
ganz Neues schiefging, wü rde er diese Sache ü berleben.
Weil er in der Werkstatt von großen, schweren, schmutzigen Dingen umgeben
war, die sich bewegten und obendrein manchmal scharfe Kanten hatte, trug er
dort hohe Schnü rstiefel mit Stahlkappen. Er beugte sich hinunter und zog die
Schnü rsenkel heraus. Der harte Bursche sagte: »Haben Sie ein ›Geschlossen‹-
Schild?«
»Ja, es klemmt da drü ben, hinter dem Schrank.«
Er fuhr fort, die Schnü rsenkel aus den Ö sen zu ziehen, und der harte Bursche
sagte: »Und hä ngen Sie’s ins Fenster?«
»Jeden Abend.«
»Auf der einen Seite steht ›Geö ffnet‹, auf der anderen ›Geschlossen‹. Wieso
benutzen Sie’s nicht, wenn Sie geö ffnet haben?«
»Die Leute wissen, wann ich da bin.« In Wirklichkeit war es so, dass Brian das
Schild nicht benutzte, weil er fand, es sei eine Einladung an alle mö glichen Leute,
einfach hereinzuspazieren, ihn vollzuquatschen und ihm die Zeit zu stehlen. Wer
wollte das schon?
Der harte Bursche sagte: »Und wo hä ngen Sie’s hin? Tü r oder Fenster?«
»Ich stelle es immer in die untere rechte Ecke des Fensters. Zwischen Glas und
Rahmen ist ein kleiner Spalt. Hier sind die Schnü rsenkel.«
»Legen Sie sie auf den Tisch. Stehen Sie auf, Suzanne. Aber langsam! Kommen
Sie her und nehmen Sie einen der Schnü rsenkel. Und Sie, Brian, legen die Hä nde
auf den Rü cken. Suzanne, Sie binden ihm jetzt die Hä nde zusammen und dann an
die Querstrebe der Stuhllehne. Na los.«
»Ich weiß nicht, warum Sie –«
»Jetzt.«
Brian spü rte die rauhen Schnü rsenkel an den Handgelenken. Der harte Bursche
sagte: »Nicht so fest, dass es ihm das Blut abschnü rt, aber auch nicht zu
locker. Wenn Sie fertig sind, werde ich den Knoten kontrollieren.«
»Ich war bei den Pfadfindern«, sagte sie. »Ich kann Knoten.«
Brian hatte das Gefü hl, dass sie die Schnü rsenkel ziemlich fest anzog. Hatte er
nicht irgendwo gelesen, dass man sich spä ter befreien konnte, wenn man in dem
Augenblick, da man gefesselt wurde, bestimmte Muskelpartien anspannte? Naja,
vielleicht gab es Leute, die das konnten.
»Gut. Und jetzt stellen Sie sich hin, Suzanne, und legen auch die Hä nde auf den
Rü cken.«
»Ich will nicht gefesselt werden.«
»Entweder ich fessle Sie, oder ich erschieße Sie. Sie zu erschießen wä re fü r uns
beide leichter, weil Sie dann nicht mehr so angespannt sind. Ich tu’s nur nicht,
weil die Bullen dann so motiviert sind.«
Die Stille, die nun eintrat, erschien Brian endlos. Wenn der Typ Suzanne
erschoss, wü rde er dann nicht auch Brian erschießen mü ssen? Die Bullen wä ren
ja sowieso schon motiviert.
Wach auf, Suzanne! Kapierst du denn nicht, was hier los ist?
Doch dann verä nderte sich die Stille in seinem Rü cken, und Brian meinte, das
Schaben der Schnü rsenkel auf Suzannes Haut zu hö ren. Es gab keine Diskussion,
keine Widerrede, und das war auch gut so.
»Gut, Suzanne. Sie setzen sich jetzt an die Wand hier –warten Sie, ich helfe
Ihnen. Sehr schö n. Strecken Sie die Beine aus.«
Brians Stuhl hatte Rollen, die nicht sehr gut liefen, aber es gelang ihm, sich vom
Tisch abzustoßen und gerade so weit zu drehen, dass er Suzanne auf dem Boden
sitzen sehen konnte, den Rü cken an die Seitenwand gelehnt, und der harte Bur-
sche hatte sich vor ihr auf ein Knie niedergelassen und fesselte ihre Beine mit
einem nagelneuen Starterkabel. Als er fertig war, sah er zu Brian und sagte: »Der
Stuhl hat Rollen. Das gefä llt mir nicht.«
»Tut mir leid«, sagte Brian.
Der harte Bursche stand auf und ging in die Werkstatt. Sie hö rten, wie er dort
herumkramte. Als er zurü ckkam, hatte er ein paar Werkzeuge und eine dicke
Rolle schwarzes Klebeband dabei. Wortlos legte er alles auf den Tisch, dann
schob er den Stuhl mitsamt Brian in die rechte Ecke des Raums, zwischen der
Eingangstü r und der auf dem Boden sitzenden Suzanne. Niemand, der draußen
bei den Zapfsä ulen stand, wü rde die beiden sehen kö nnen.
Er warf einen prü fenden Blick auf Brians Handgelenke und schien zufrieden,
denn als nä chstes band er Brians weißbestrumpfte Knö chel mit dem Klebeband
an den Stuhlbeinen fest und blockierte die Stuhlrollen mit Schraubenziehern, die
er auf dem Boden festklebte. Schließlich umwickelte er auch die Rollen mit dem
Band.
Offenbar hatte er alles gesagt, was er hatte sagen wollen, und wü rdigte sie,
wä hrend er all dies tat, auch kaum noch eines Blickes. Er trat einen Schritt
zurü ck, um sein Werk zu begutachten, wä hrend die beiden ihn stumm ansahen.
Dann trat er zu dem Schlü sselbrett an der Rü ckwand, musterte die Schlü ssel, las
die Anhä nger und wä hlte schließlich einen aus. Brian glaubte zu erkennen, dass
er sich fü r Jeff Egglestons Infiniti entschieden hatte, den besten Wagen, der
gerade da war.
Das war alles. Der harte Bursche ging zur Tü r, prü fte das Schloss, das auf
Knopfdruck funktionierte, und trat, ohne sie noch einmal anzusehen, hinaus.
Brian konnte nicht erkennen, ob er in dem Infiniti oder mit Tom Lindahls
Gelä ndewagen wegfuhr.
»Diese Arroganz!« rief Suzanne. »Wie man vollkommen Fremden so etwas
antun kann, ohne Entschuldigung, ohne jeden Grund, ohne ... Ich hab noch nie
einen so schrecklichen, schrecklichen ...« Anscheinend wusste sie nicht, wie sie
diesen Satz zu Ende bringen sollte.
»Suzanne«, sagte Brian und versuchte, freundlich zu sein und sie zu beruhigen,
»wenn man das ist, was er ist, und in der Situation ist, in der er ist, kann man so
ziemlich alles machen, was man will.«
Suzanne richtete ihre Empö rung gegen Brian, als wä re das alles seine Schuld
(was ja auch beinahe stimmte). Ihre Stimme triefte vor Verachtung und
Sarkasmus, als sie sagte: »Ach ja? Warum? Ist er vielleicht irgendeine
Berü hmtheit?«
Brian sah sie an und dachte: Das wird eine lange Nacht.

DREI
Cal starrte finster durch die Windschutzscheibe. Cory saß am Steuer des
Pick-ups. »Wenn ich einer der Rä uber bin, wie kommt’s dann, dass ich Sie beide
gestern nacht nicht ü ber den Haufen geschossen hab?‹« sagte er, und es klang,
als wollte er ausspucken. »Der reißt das Maul ganz schö n auf, Cory. Wir hä tten
seinen Bluff gleich auffliegen lassen sollen.«
»Das hä tte uns auch nichts gebracht.«
»Aber mir hä tte es was gebracht.« Cal sah sich um. Sie waren auf der
Landstraße, Pooley lag weit hinter ihnen. »Wo fahren wir hin?«
»Zu Judy.«
Das war ihre jü ngere Schwester, die allein lebte, seit der Typ, von dem sie
gedacht hatte, er wü rde sie heiraten, lieber zur Marine gegangen war. »Warum?«
»Damit sie uns ihren Wagen leiht.«
Cal schnaubte. »Die leiht uns ihren Wagen nicht.«
Cory sah auf die Straße und sagte: »Dir nicht. Mir schon.«
»Warum? Was sollen wir mit ihrer kleinen Blechkiste?«
»Wir mü ssen einen anderen Wagen haben«, sagte Cory, »weil Tom und der
andere Typ diesen Pick-up kennen. Wenn die ihn in ihrem Rü ckspiegel sehen,
wissen sie gleich, was los ist.«
»Ach so. Ja, klar, natü rlich«, sagte Cal und tat, als hä tte er selbst bereits daran
gedacht oder jedenfalls denken kö nnen. Um zu beweisen, dass auch er auf
Einzelheiten achten konnte, sagte er: »Aber wie willst du sie dazu bringen, dass
sie dir den Wagen leiht? Wenn du mit dieser Karre da erscheinst, hast du ja
schon einen Wagen, und wenn du dann sagst: ›Leih mir deinen Wagens was
willst du als Begrü ndung angeben? Weil wir einen Bankrä uber zur Strecke
bringen wollen?«
»Ich hab ein Bewerbungsgesprä ch«, sagte Cory.
Cal sah ihn skeptisch an. »Was fü r ein Bewerbungsgesprä ch?«
»Ich sage, ich hab ein Bewerbungsgesprä ch. In der Computerabteilung vom
Community College.«
»Die haben dich doch schon abgelehnt.«
»Das weiß ich, und Judy weiß es auch.« Cory nickte der Straße vor ihnen
zustimmend zu. »Aber ich erzä hle Judy, dass ich noch ein zweites
Bewerbungsgesprä ch habe, und diesmal ziehe ich mich nicht an wie ein Bauer
und fahre nicht in einem Pick-up vor. Diesmal ziehe ich mich an wie einer, der
Computerzeug unterrichtet, und fahre in Judys hü bschem Volkswagen Jetta vor.
Das werde ich ihr erzä hlen, und es ist die reine Wahrheit. Ich fahr das Ding sogar
durch die Waschanlage.«
»Judy hat was gegen mich«, erklä rte Cal. »Wenn sie mich sieht, wird sie sagen:
›Wozu willst du den Sä ufer da mitnehmen zum College?‹«
Cory lachte. »Du hast recht«, sagte er. »Wenn ich zu ihr fahre, darfst du nicht
dabeisein. Ich muss mit Judy allein reden.«
»Und wo soll ich sein, wenn du Judy was vorsü lzt?«
»Ungefä hr einen Kilometer vorher ist ein Schnellimbiss«, erinnerte ihn Cory.
»Randall.«
»Genau. Da setz ich dich ab, dann kannst du einen Kaffee trinken –«
»Oder ein Bier.«
»Lieber einen Kaffee. Heute nacht mü ssen wir auf Draht sein.«
»Okay, okay, also einen Kaffee. Und dann fä hrst du allein zu Judy.«
»Und komme mit dem Jetta und hole dich ab.«
»Und dieser sogenannte schwere Junge hat keine Ahnung, dass wir ihm im
Genick sitzen.«
»Genau.«
Cal runzelte die Stirn. Ihm kam plö tzlich ein Gedanke.
»Und was ist, wenn wir zurü ckkommen und sie sind schon weg?«
»Was immer die vorhaben – die machen es erst, wenn es dunkel ist«,
versicherte ihm Cory.
Das klang vernü nftig. Cal nickte, starrte auf die Straße, dachte nach und sagte
dann: »Und was, glaubst du, haben die vor?«
»Das werden wir sehen, wenn sie’s machen«, sagte Cory, und dann schwiegen
sie, bis er vor dem Schnellimbiss anhielt, der ursprü nglich aus einem einzigen
Eisenbahnspeisewagen bestanden hatte, aber im Lauf der Zeit mit zusä tzlichen
Gasträ umen und Kü chen und grö ßeren Neonzeichen versehen worden war, bis
er schließlich eher wie ein von Indianern betriebenes Kasino aussah als wie ein
Laden, wo man etwas zu essen bekommen konnte. Er stand da, wo die
Landstraße, auf der sie fuhren, und eine der grö ßeren Schnellstraßen sich
kreuzten, und war immer recht voll, auch wenn das Essen nicht besonders war.
Cory hielt in der Nä he des Eingangs und sagte: »Dauert vielleicht ’ne halbe
Stunde.«
»Ich setze mich ans Fenster«, sagte Cal und ö ffnete die Beifahrertü r.
»Und nur Kaffee, Cal, okay?«
»Ja, ja. Mach dir keine Sorgen.«
Er stieg aus, Cory fuhr weiter, und Cal ging hinein und bestellte einen
Cheeseburger, gebratene Zwiebelringe und ein Bier.

VIER
Gewö hnlich verbrachte Fred die Sonntagnachmittage im Herbst und im Winter
damit, sich allein im Wohnzimmer die Footballspiele anzusehen, wä hrend Jane
lesend auf der verglasten Hinterveranda saß, die im Sommer ein Treibhaus war
und im Winter den besten Blick auf die Welt dort draußen bot. Doch als sie mit
dem Gewehr von Tom Lindahl zurü ckkehrte, saß Fred zwar in seinem
Lieblingssessel im Wohnzimmer, aber der Fernseher war nicht eingeschaltet,
und Fred hockte zusammengesunken da und starrte brü tend zwischen den
Knien hindurch auf den Teppich. Er hob kaum den Kopf, als sie eintrat und, in
dem Versuch, munter zu klingen, sagte: »Ich wusste gar nicht, dass das Ding so
schwer ist.«
»Ah, du hast es«, sagte er beinahe teilnahmslos. »Gut.«
»Soll ich es in den Schrank stellen?«
»Ja. Okay.«
Sie wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um und fragte: »Kein
Football?«
»Ach, ist doch immer dasselbe«, sagte er, zuckte die Schultern und sah ihr nicht
in die Augen.
Sie war seit jeher der Meinung gewesen, dass Football spiele im Grunde immer
dasselbe waren – jeden Sonntag dieselben Spielzü ge, es war wie rituelles
japanisches Theater, nur die Kostü me wechselten –, doch diese Einschä tzung aus
Freds Mund zu hö ren, fand sie beunruhigend. Aber sie nickte nur, ging ins
Schlafzimmer und stellte das Gewehr an seinen Platz in der hinteren linken Ecke
des Schranks. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurü ck, wo Fred sich nicht
gerü hrt hatte, und sagte: »Ich hab diesen Mann gesehen.«
Er richtete sich ein bisschen auf. »Wen? Ach so, den.«
»Er ist sehr seltsam, Fred.«
»Er weiß, was er will«, sagte Fred, und das schien ihr ebenfalls eine seltsame
Bemerkung zu sein.
»Er hat etwas gesagt«, fuhr sie fort, »das ich im ersten Augenblick eigenartig
fand, aber vielleicht war es ja gut.«
Keine Reaktion. Sie wartete darauf, dass Fred fragte, was dieser seltsame Mann
gesagt hatte, aber er sah sie nicht einmal an, und so musste sie ohne ein
Stichwort weitersprechen. »Er hat gesagt, dass George dich sehen will, wenn er
nach Hause kommt.«
»George?« Es klang nicht so, als kö nnte er sich an seinen Sohn nicht erinnern –
eher, als verstü nde er nicht, warum er ü berhaupt zur Sprache kam.
»Tom hat es ihm erzä hlt«, sagte sie. »Und er hat gesagt, dass George dich wird
sehen wollen, wenn er nach Hause kommt.«
»Natü rlich wird er mich sehen«, sagte Fred, und jetzt hatte er einen gereizten
Unterton. »Was meinst du damit?«
»Naja, nur dass wir wieder Zusammensein werden.«
Er runzelte die Stirn und versuchte zu verstehen, und dann wurde sein Gesicht
plö tzlich wü tend, und er sagte: »Weil ich mein Gewehr zurü ckhaben wollte? Es
ist doch meins.«
»Das weiß ich, Fred.«
»Es steht im Schrank. Du hast mich gefragt, und ich habe gesagt, du sollst es in
den Schrank stellen. Fü r was halten mich die Leute eigentlich?«
»Ich hab doch gesagt, es war etwas, was ich eigenartig fand, das ist alles, Fred.«
»Das wü rde ihm gefallen, oder?« sagte Fred und machte ein dü steres Gesicht.
»Das wü rde alle seine Probleme lö sen, oder?«
»Was fü r Probleme, Fred? Jetzt weiß ich nicht, wovon du redest.«
»Nichts«, sagte er, wandte sich ab und machte eine wegwischende Gebä rde. »Es
ist gar nichts. Danke, dass du es geholt hast.«
Das war ein klares Zeichen, dass er das Gesprä ch als beendet betrachtete, und
so ging sie wieder hinaus, goss in der Kü che eine Tasse Pulverkaffee auf
und setzte sich dann auf die Veranda, wo das Buch, das sie gerade las, auf ihrem
Sessel lag.
Jane las gern. Das Lesen trug sie stets hinaus aus ihrer Welt, fort von dieser
verglasten Veranda und dem Ausblick auf den Wechsel der Jahreszeiten, und
versetzte sie in eine andere Welt mit anderen Ausblicken, anderen Menschen
und anderen Jahreszeiten. Sonst stets; heute aber nicht.
Jane kaufte gewö hnlich Bestseller, doch erst, wenn sie als Taschenbuch
erschienen waren, wenn das aufgeregte Gesumm, das die Verö ffentlichung
begleitet hatte, verstummt war und sie die Geschichte sehen konnte, wie sie war,
mit all ihren Einsichten und Mä ngeln. Sie war eine nachsichtige Leserin, selbst
wenn sie Passagen las, die nicht ganz stimmig waren. Gab es nicht auch im
wirklichen Leben hin und wieder Dinge, die nicht stimmig waren?
Wie dieser Smith, der bei Tom Lindahl zu Besuch war. Was konnte die beiden
zusammengebracht haben? Und wie kam es, dass Tom, den sie seit ungefä hr
dreißig Jahren kannte, plö tzlich einen »alten Freund« hatte, von dem noch nie
jemand gehö rt hatte?
Nein – das war das wirkliche Leben. Sie versuchte sich auf das Leben in diesem
Buch zu konzentrieren, und als ihr das nach mehreren Anlä ufen gelang, tauchte
sie schließlich in die Charaktere und ihre Geschichte ein. Sie konzentrierte sich
auf die Probleme dieser anderen Beziehungen und ihrer ineinander verwobenen
Geschichten, bis es so dunkel geworden war, dass sie nicht mehr weiterlesen
konnte.
Sie schaltete die Stehlampe zu ihrer Linken ein, warf einen Blick auf die Uhr
und sah, dass es bereits nach sieben war. Oje, und sie hatten noch nicht mal ü ber
das Abendessen nachgedacht.
Normalerweise wä re Fred inzwischen gekommen, um ihr zu sagen, das Spiel
sei vorbei. Er hä tte sich zu ihr gesetzt, und dann hä tten sie besprochen, was es
zum Abendessen geben sollte –jetzt, da Jodie auf die Penn State ging, war viel
weniger Zeitdruck als frü her. Aber heute gab es keinen Football, kein Spielende
und keinen Fred.
Wollte er denn ewig im Wohnzimmer sitzen und vor sich hin brü ten? Da
drinnen musste es doch noch viel dunkler sein als hier auf der Veranda, doch als
Jane sich zur Tü r umdrehte, konnte sie nirgends im Haus einen Lichtschimmer
sehen.
War dort im Dunkeln irgend etwas Beä ngstigendes? War da drinnen irgend
etwas Fremdes, etwas wie ein ungelesenes Buch, aber eines, das sie nicht gern
lesen wü rde? Irgendwo war etwas Beä ngstigendes, dessen war sie sicher, etwas,
das ihr ü berhaupt nicht gefallen wü rde, wie der Augenblick in einem Horrorfilm,
da man weiß, dass gleich etwas Schreckliches passieren wird.
Aber da war nichts – sie war nur nervö s. Das war ihr Haus.
War er eingenickt? Das war vielleicht ganz gut so, erst recht, wenn er sich dann,
nach dem Aufwachen, besser fü hlte. Aber sie sollte lieber nachsehen, also legte
sie einb Lesezeichen in das Buch, stand auf, ging durch das Haus und schaltete
dabei die Lichter an.
Das Wohnzimmer war leer. Sie sah zum Schlafzimmer und rief: »Fred?« Keine
Antwort.
Plö tzlich bekam sie wirklich Angst, eine schrecklichere Angst, als sie je beim
Lesen eines Buches oder Sehen eines Horrorfilms verspü rt hatte. Sie ging zur
Haustü r und sah hinaus. Ihre Garage war voller Gerü mpel, und darum stand der
Taurus immer in der Einfahrt. Draußen war es jetzt sehr dunkel, und der Taurus
war schwarz. Sie musste die Außenbeleuchtung einschalten, um sicher sein zu
kö nnen, dass der Wagen fort war.
Wo war Fred? Was hatte er getan? Jane bekam immer mehr Angst. Beinahe
wollte sie die Antworten auf die Fragen, die ihr durch den Kopf schö ssen, gar
nicht wissen. Sie eilte ins Schlafzimmer und ö ffnete den Schrank.
Das Gewehr war verschwunden.

FÜNF
»Es ist dunkel«, sagte Tom. Er stand am Fenster und drehte sich zu dem Mann
um, den er in Gedanken Ed zu nennen sich angewö hnt hatte, obwohl er wusste,
dass das auf keinen Fall sein Name sein konnte. »Wann wollen Sie losfahren?«
Ed stand auf, kam zu ihm und warf einen Blick nach draußen. »Der Plan hat
sich ein bisschen geä ndert«, sagte er.
Das gefiel Tom nicht. Es war sehr schwer, mit den Ereignissen Schritt zu halten,
seit er die Bü chse der Pandora geö ffnet hatte, als er Ed auf der Flucht vor den
Hunden den Hü gel hatte hinaufsteigen sehen und beschlossen hatte, ihn nicht
der Polizei auszuliefern, sondern zu benutzen. Dieser aus dem Augenblick, aus
Frustration und Selbstverachtung geborene Entschluss hatte nicht enden
wollende Konsequenzen, und Tom hatte beinahe das Gefü hl, dass er, ohne es zu
wollen, zu einem Rodeoreiter geworden war, der zum erstenmal in seinem Leben
auf einem wildbockenden Bronco saß, und dass ein Sturz eine unglaubliche
Katastrophe nach sich ziehen wü rde.
Er fragte sich, ob seine Stimme bebte, als er sagte: »Ist es nicht ein bisschen
spä t fü r einen neuen Plan? Wollen Sie es doch nicht heute nacht machen?«
»Nein, wir machen es heute nacht. Der neue Plan ist, dass Sie allein hinfahren.«
»Allein?« Beunruhigt sagte Tom: »Ich dachte, wir ziehen das zusammen durch.«
»Tun wir auch. Wenn Sie an dem ersten Tor sind, das Sie gestern
aufgeschlossen haben, warten Sie. Wenn ich noch nicht da bin, komme ich ein
bisschen spä ter.«
»Aber –« Tom versuchte zu verstehen, was hier vor sich ging. Ed hatte keinen
Wagen. Er kannte hier niemanden, den er um Hilfe bitten konnte. Wie sollte er
zur Rennbahn kommen?
»Wie kommen Sie zur Rennbahn?«
»Ich komme schon«, sagte Ed. »Sie brauchen nicht zu wissen, was ich vorhabe.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte Tom. Er war nicht bloß verwirrt, sondern auch
sehr nervö s, als stü nde er am Rand einer hohen Klippe. Eine Ü belkeit erregende
Angst stieg in ihm auf – er hatte den ekelhaften Geschmack von Galle in der
Kehle. »Ich verstehe nicht, wieso wir den Plan ä ndern sollen.«
»Sie werden’s verstehen, wenn alles vorbei ist. Hö ren Sie zu, Tom.«
Widerwillig sagte Tom: »Okay, ich hö re.«
»Sie fahren zur Rennbahn. Wenn Sie irgendwann Corys Pick-up sehen, machen
Sie sich keine Gedanken.«
»Warum? Wollen Sie damit fahren?«
»Nein. Machen Sie sich einfach keine Gedanken. Fahren Sie weiter. Wenn Sie
dort sind, warten Sie. Wenn ich nicht innerhalb von einer halben Stunde da bin,
kö nnen Sie die Sache allein durchziehen oder umkehren und wieder zu-
rü ckfahren. Ganz wie Sie wollen. Aber ich werde kommen.«
»Haben Sie noch was anderes laufen?«
Ed sah ihn genervt an. »Wir funktionieren nach verschiedenen Regeln, Tom.
Das wissen Sie doch.«
»Ja.«
Wieso habe ich bloß geglaubt, dass ich ihn kontrollieren kann? dachte Tom und
erinnerte sich an den Anblick des Mannes, der mü hsam den Hü gel
hinaufgestiegen war. Weil er auf der Flucht war? Das hat ihn nicht zu jemandem
gemacht, den man kontrollieren kann, sondern zu jemandem, den man nie und
nimmer kontrollieren kann.
»Jetzt wä re der richtige Augenblick, um loszufahren«, sagte Ed.
Erschrocken dachte Tom: Ich soll noch immer fahren! Ich soll das noch immer
tun. Herrgott, Tom, du bist hier doch nicht der Helfer – das ist dein Raubzug. Du
bist derjenige, der sich diese Sache ausgedacht hat, du bist derjenige, der diesen
Scheißkerlen von der Rennbahn weh tun wollte, und du bist derjenige, der
diesen anderen Mann dazugeholt hat. Und es noch immer deine Sache.
Sehr nervö s, aber in dem Wissen, dass ihm nichts anderes ü brigblieb, sah Tom
sich in seinem kleinen Wohnzimmer um und sagte: »Schalten Sie dann das Licht
aus?«
»Gehen Sie jetzt, Tom.«
»Na gut.« Tom warf einen Blick auf den Papagei und merkte, dass dieser ihn
direkt ansah. Warum hab ich ihm nie einen Namen gegeben? dachte er. Ich
werd’s jetzt tun. Wenn ich zurü ckkomme. Nein, ich werde mir auf der Fahrt
dorthin einen Namen ausdenken.

SECHS
Als es begann, dunkel zu werden, schaltete Jack Riley das Licht auf der Veranda
an. Das war das Zeichen fü r Suzanne, dass sie reinkommen sollte, aber heute
abend kam sie nicht. Wo war sie?
Vor vier Stunden. Vor etwas ü ber vier Stunden war sie da-gewesen, und sie
hatten darü ber spekuliert, wer hier in der Gegend wohl imstande wä re, sich in
das Haus eines Mannes zu schleichen und seinen Revolver zu stehlen. Sie hatte
gesagt, sie wolle noch eben tanken und etwas fü r das gemeinsame Abendessen
einkaufen, und dann war sie weggefahren.
Jack hatte gedacht, sie wü rde eine Stunde brauchen. Er hatte nicht gesehen, in
welche Richtung sie gefahren war – vielleicht zu Brian Hopwoods Tankstelle hier
im Ort, mö glicherweise aber auch zu der Getty-Tankstelle, je nachdem, wo sie
was zu essen kaufen wollte. Also eine halbe, vielleicht auch eine Stunde, aber
jedenfalls nicht lä nger.
Um kurz nach sechs wachte er vor dem Fernseher auf –schon wieder! Er
verfluchte sich. Wie oft hatte er sich vorgenommen, nicht mehr vor dem
Fernseher einzuschlafen? Er wusste doch, was er tun musste: beim
ersten Anzeichen von Schlä frigkeit aufstehen und herumlaufen. Vielleicht
hinausgehen. Das Licht einschalten. Einfach irgendwas tun, anstatt wieder mal
vor dem verdammten Fernseher einzuschlafen.
Aber er brachte es nicht fertig. Er saß da, sah sich hellwach irgendeine blö de
Sendung an, und das nä chste, was ihm bewusst wurde, war, dass zwei, drei, vier
Stunden vergangen waren und er wieder vor dem Apparat aufwachte, mit
trockenem Mund, drö hnendem Kopf und steifen Gliedern.
Verdammt, wie konnte er damit aufhö ren? Vielleicht, indem er sich einfach
nicht mehr setzte? Nie mehr im Sitzen fernsehen, nur noch im Stehen? Oder
wü rde er dann im Stehen einschlafen und sich die Nase brechen, wenn er umfiel?
Frauen lebten doch angeblich lä nger als Mä nner. Sie sollten dasein und einem
einen Rippenstoß geben, wenn sie merkten, dass man einschlief. Noch so etwas,
was einem das Leben schwermachte, seit Eileen nicht mehr da war.
Jack Riley war seit neun Jahren Witwer. Die letzten sieben Jahre hatte er in
diesem Haus gelebt. Irgendwann hatte er begriffen, dass das alte zu groß war, um
es allein in Ordnung zu halten, und dass er das Geld, das er dafü r kriegte, besser
in Blue-Chip-Aktien angelegt war. Seit seinem Umzug war Suzanne die einzige
Frau, mit der er nä heren Kontakt hatte –allerdings war sie ziemlich anders als
Eileen, und einer der Unterschiede war, dass in ihrer Jobbeschreibung nirgends
stand, sie mü sse die ganze Zeit neben ihm sitzen und ihm einen Rippenstoß
geben, wenn er mal wieder dabei war, vor dem verdammten Fernseher
einzuschlafen.
Wo war Suzanne? Wie weit konnte sie gefahren sein, um zu tanken und etwas
zu essen zu kaufen? Sie hatte doch keinen Unfall gehabt?
Wenn er aus dem Fenster gesehen hä tte, als sie losgefahren war, hä tte er jetzt
eine ungefä hre Vorstellung davon haben kö nnen, wo sie gerade war. In Brian
Hopwoods Tankstelle? Es war nach sechs, und er wusste, dass Brian
lä ngst Feierabend gemacht hatte, doch er rief trotzdem dort an, nur fü r den Fall,
aber natü rlich lä utete und lä utete das Telefon in dem leeren Bü ro, und Brian war
der letzte, der sich einen Anrufbeantworter anschaffen wü rde.
Oder vielleicht in die andere Richtung? Jack kannte niemanden, der in der
Getty-Tankstelle arbeitete – außerdem musste Suzanne schon lä ngst dort
gewesen sein. So wie sie schon lä ngst wieder hä tte zurü ck sein mü ssen, wenn
nichts dazwischengekommen wä re.
Jack schaltete den Fernseher aus, bevor er sich setzte, denn er wollte nicht
wieder einnicken, verdammt – er wollte hellwach sein, wenn sie kam, und in der
Zwischenzeit wollte er hellwach sein, um sich Sorgen zu machen.
Das alles hatte gestern nacht angefangen, als er wieder mal vor dem laufenden
Fernseher aufgewacht war und sich aus dem Sessel gehievt hatte, um zu Bett zu
gehen. Seit er allein in diesem Haus lebte, war er ein Gewohnheitsmensch ge-
worden, und eine dieser Gewohnheiten war, dass er jeden Abend, wenn er zu
Bett ging, als letztes die Schublade in seinem Nachttisch auf schloss und einen
Blick auf den Revolver darin warf.
Wenn man allein in einem abgelegenen Ort wie diesem wohnte, war es
beruhigend zu wissen, dass dieser kleine Beschü tzer da war. Jack hatte nie einen
Schuss abgegeben; er hatte die Waffe nur wegen des Gefü hls der Sicherheit ge-
kauft, das sie ihm vermittelte, aber dieses Gefü hl der Sicherheit war sehr
real – es ließ ihn ruhig schlafen –, und so war dieses abendliche Ritual
entstanden, bei dem er vor dem Schlafengehen kurz nach dem Revolver sah. Wie
nach einem Haustier, dem man gute Nacht sagte.
Und gestern nacht war das Ding plö tzlich fort. Das war ein echter Schock. Jack
lag halb zurü ckgesunken im Bett und ö ffnete die Schublade, doch als er sah, dass
dort, wo der Revolver hä tte sein sollen, nichts war, fuhr er wieder hoch. Er sah
sich entsetzt im Zimmer um, suchte nach einer Erklä rung, versuchte sich an
einen Augenblick zu erinnern, in dem er die Waffe selbst irgendwo anders
hingelegt hatte – wohin? –, doch er fand keinen solchen Augenblick und auch
keinen Grund dafü r.
Als nä chstes ging er durch das ganze Haus und ü berprü fte, ob alle Tü ren und
Fenster fest verschlossen waren – sie waren es. Dann war der Revolver also
irgendwann tagsü ber gestohlen worden? Aber wer wusste, dass er einen besaß
und wo er ihn aufbewahrte und wo der Schlü ssel war?
Jack kannte die wenigen Leute, die hier wohnten, und keinem von ihnen traute
er auch nur im entferntesten zu, dass er sich in sein Haus schlich und ihm seinen
Revolver klaute. Aber wer dann? Ein Landstreicher? Hier gab es keine
Landstreicher. Hier ging ü berhaupt niemand zu Fuß. Und jemand, der in einem
Wagen vorbeifuhr, wü rde nicht plö tzlich anhalten, in Jack Rileys Haus gehen und
es mit seiner Waffe wieder verlassen. Wie man es auch drehte und wendete: Es
ergab einfach keinen Sinn.
Die Sache war ihm sehr unheimlich. Er schaltete das Licht auf der vorderen
Veranda ein, als kö nnte das zu dieser spä ten Stunde noch Suzanne herbeirufen,
schaltete es aber gleich wieder aus, weil er wusste, dass es Suzanne nicht mitten
in der Nacht herbeirufen wü rde, und gar nicht daran denken wollte, wen es statt
ihrer anlocken kö nnte. Also ließ er das Licht im Badezimmer und in der Kü che
brennen und konnte dann doch noch ein bisschen schlafen, und am nä chsten
Morgen rief er Suzanne an, um es ihr zu erzä hlen.
Natü rlich war sie genauso verwundert wie er. Sie hatte am Sonntag morgen
noch andere Dinge zu erledigen, konnte aber am Nachmittag vorbeikommen,
und das tat sie dann auch. Als sie da war, erzä hlte er ihr die Geschichte noch
einmal. Sie kontrollierte alle Tü ren und Fenster, half ihm, in allen anderen
Schubladen zu suchen, setzte sich schließlich hin und ü berlegte, wer die Waffe
gestohlen haben kö nnte.
Ihnen fiel niemand ein. Schließlich sagte Suzanne, sie werde jetzt tanken und
etwas zu essen besorgen, und Jack schlief wieder vor dem verdammten
Fernseher ein. Und nun?
Suzanne war seit Stunden fort. Draußen war es dunkel. Kein Revolver, keine
Suzanne. Irgendwann nach sieben Uhr gestand er sich ein, dass es keine
Alternative gab: Er musste die Polizei anrufen.
Er wollte nicht. Wenn sich herausstellte, dass es eine einfache, vernü nftige
Erklä rung fü r das Verschwinden – sowohl Suzannes als auch des Revolvers – gab,
wü rde er sich wie ein Idiot vorkommen, wie ein alter Zausel, der seinen Verstand
nicht mehr beisammenhatte. Aber der Revolver war wirklich verschwunden, und
Suzanne war wirklich nicht zurü ckgekehrt, und so blieb ihm letztlich nichts
anderes ü brig.
Jack hatte alle Notfallnummern auf ein Stü ck Pappe geschrieben, das er mit
Reißzwecken an der Wand ü ber dem Telefon in der Kü che befestigt hatte. Darauf
stand auch die Nummer der nahe gelegenen Kaserne der Staatspolizei, die fü r
Pooley und Umgebung zustä ndig war. Zö gernd, aber in dem Bewusstsein, dass es
wohl unumgä nglich war, wä hlte Jack die Nummer und hö rte kurz darauf eine
Stimme, die sagte: »Staatspolizei, Trooper London.«
»Hallo«, sagte Jack. »Ich mö chte etwas melden – eigentlich zwei Dinge.«
»Ja, Sir. Ihr Name, Sir?« sagte Trooper London.
»Erstens ... Ach so. Riley. John Edward Riley.«
»Und Ihre Adresse, Sir?«
»Route 34, Pooley«, sagte er und gab auch die Hausnummer an. Schließlich
wollte der Polizist noch seine Telefonnummer wissen, und erst dann zeigte er so
etwas wie Interesse fü r den Grund des Anrufs. »Sie wollten etwas melden, Sir?«
»Eine Vermisstenmeldung«, sagte Jack. »Eigentlich zwei.«
»Familienmitglieder, Sir?«
»Tja, also ... Der erste Zwischenfall war gestern nacht. Mein Revolver ist weg.«
»Ihr Revolver, Sir?«
»Ich habe ... ich hatte ... also, als ich hierhergezogen bin, habe ich mir einen
kleinen Revolver gekauft, einen Ranger. Ich habe die Waffenkarte und alles – das
war nur zur Selbstverteidigung.«
»Ja, Sir. Und der ist verschwunden?«
»Ja, gestern nacht. Ich bewahre ihn in einer abgeschlossenen Schublade auf,
und als ich gestern nacht vor dem Zubettgehen nachgesehen hab, ob alles okay
ist, war er weg.«
»Hatten Sie denn Grund zu der Annahme, es kö nnte nicht alles okay sein, Sir?«
»Erst als ich sah, dass der Revolver weg war.«
»Hatten Sie denn einen Grund, nach dem Revolver zu sehen?«
»Das tue ich immer. Jeden Abend – einfach, um mich zu vergewissern.«
»Ich verstehe, Sir. Kö nnten Sie mir sagen, wer sonst noch bei Ihnen wohnt?«
»Nur ich. Ich lebe allein.«
»Hatten Sie gestern Gä ste, Sir?«
»Nein, ich war allein. Deswegen verstehe ich das ja auch nicht.«
»Haben Sie das Verschwinden gemeldet, Sir?«
»Nein, erst jetzt. Ich meine, der Polizei. Heute morgen habe ich meine
Enkelin Suzanne angerufen, und sie ist heute nachmittag vorbeigekommen, und
wir haben gemeinsam gesucht, aber der Revolver ist weg. Gegen drei Uhr ist sie
weggefahren, sie wollte tanken und etwas zu essen fü r uns besorgen, aber sie ist
nicht zurü ckgekommen.«
»Ihre Enkelin, Sir?«
»Suzanne. Suzanne Gilbert.«
Und dann musste er dem Trooper alle mö glichen Angaben ü ber Suzanne
machen, ihr Aussehen beschreiben, ihr Alter, ihr Gewicht und ihren Beruf und
eine Menge anderes Zeug, das, wie es Jack schien, ü berhaupt nichts zur Sache tat,
doch er dachte: Das ist sein Job, soll er ihn tun. Danach kamen viele Fragen zu
Suzannes Wagen, und dann wollte Trooper London noch alles mö gliche andere
ü ber sie wissen: War sie verheiratet, hatte sie einen Freund, lebte sie allein, war
sie frü her schon einmal allein weggefahren? Die ganze Zeit konnte Jack dem
neutralen, nü chternen Ton des Mannes nicht entnehmen, ob dieser ihn ernst
nahm oder von oben herab behandelte. Denn wenn es nur ein winziges
Anzeichen dafü r gab, dass man ihn von oben herab behandelte, wü rde er ein
Riesentheater veranstalten. Der Revolver war nicht so wichtig – hier ging es um
Suzanne!
Doch dann sagte der Trooper endlich: »Wir schicken Ihnen einen
Streifenwagen, Sir. Er wird in spä testens einer halben Stunde dasein.«
Herrgott, dachte Jack, hoffentlich ist Suzanne bis dahin zurü ck. Andererseits:
Hoffentlich ist sie bis dahin nicht zurü ck. Ihr soll nichts Schlimmes passieren –
sie soll nur noch nicht dasein, wenn die Polizisten kommen.
»Danke«, sagte er. »Ich lasse das Licht auf der Veranda brennen.«

SIEBEN
Was Fred auf dem toten Fernsehbildschirm sah, war nicht Football, sondern die
Zelle. Die Allzweckzelle, manchmal die, in die er selbst wandern wü rde,
manchmal die, in der George jetzt saß – was ist bloß aus unserer Familie gewor-
den? –, und manchmal die Zelle, das Grab, in dem der Mann lag, den er getö tet
hatte und der noch im Tod zuckte.
Er hatte Georges Zelle natü rlich nie gesehen, und so existierte diese sich
stä ndig verä ndernde Zelle nur in seiner Phantasie, die sich hauptsä chlich aus
alten, in schlaflosen Nä chten gesehenen Schwarzweißfilmen nä hrte. Es war ein
kleiner Raum, lä nger als breit, mit hoher Decke und harten Gitterstä ben an der
Schmalseite und einem kleinen Fenster weit oben in der gegenü berliegenden
Wand, durch das man nur eine graue Flä che sah. In der Zelle roch es nach
Feuchtigkeit und Moder. Dort lag er zusammengekrü mmt auf dem Boden – oder
es war George, der dort lag, und manchmal auch der arme Kerl vom Wolf Peak,
dem das letzte dickflü ssige Blut aus dem Rü cken sickerte.
Vor den Wohnzimmerfenstern wurde es langsam dunkel. Seine Phantasie hatte
Fred bisher nie sehr zugesetzt, doch nun fü llte sie ihn ganz aus, eine von
blankliegenden Nerven befeuerte Phantasie: Er stellte sich die Zelle
vor, die Schande und jetzt, da der Abend sich herabsenkte, die Z ä hne. Die
den Leichnam zerrissen. Es wird immer dunkler, und all die raschelnden Wesen
des Waldes finden sich ein und schlagen ihre Zä hne in das Fleisch und
knurren einander an und reißen und reißen.
An seinem Kö rper. So wie er manchmal George in dieser schrecklichen
Gefä ngniszelle war, so war er jetzt manchmal auch der tote Mann am Wolf Peak
und spü rte die Bisse, spü rte die Reißzä hne.
Ich halte das nicht aus, dachte er, ich muss da raus, und damit meinte er, dass er
seinen Geist nicht mehr ertragen konnte, dass er seinen Geist abstellen musste,
und natü rlich wusste er, was das bedeutete.
Aber was hielt ihn davon ab? Nicht der Gedanke an seine Familie, seine Frau,
seinen Sohn, seine Tochter – die wü rden nach einer Weile darü ber
hinwegkommen; jeder kam irgendwann ü ber jeden hinweg. Auch nicht Feigheit.
Er hatte keine Angst davor, den Lauf in den Mund zu stecken und abzudrü cken;
er wusste, der Schrecken wü rde kurz und der Schmerz beinahe nicht existent
sein.
Was ihn abhielt, war der Gedanke an diesen Smith. Ed Smith oder wie der hieß.
Ihm durch Jane eine Nachricht zu schicken, wieder eins von diesen
psychologischen Spielchen zu spielen, genau wie dort oben im Wald, genau wie
auf der Fahrt hierher. Ihn zu manipulieren. Jane mit einer verschlü sselten
Nachricht zu ihm zu schicken: Bring dich nicht um. Verschlü sselt, weil der
eigentliche Zweck dieser Nachricht war, ihm den Gedanken einzugeben, es sei
das Beste, sich umzubringen.
Das war es, was Ed Smith vorschwebte – es war so offensichtlich. Er heuchelte
Sympathie – als wü rde dieser Mann die Bedeutung des Wortes »Sympathie«
ü berhaupt kennen –, um ihm diesen kleinen Wurm in den Kopf zu setzen: Wä re
nicht alles leichter, wenn du tot wä rst?
Herrgott, ja, das wä re es. Fü r diese Erkenntnis brauchte er doch nicht Ed Smith.
Aber es war ein Ding der Unmö glichkeit, solange dieser Smith ü berall prä sent
war. Ganz gleich, welche Schmerzen er litt, ganz gleich, wie hoffnungslos alles
war – er konnte sich nicht umbringen, er konnte es einfach nicht, und zwar aus
dem einfachen Grund, dass er einem Scheißkerl wie Ed Smith diese Genugtuung
nicht gö nnte.
Die Zeit verging, und seine Gedanken kreisten immer um dasselbe, doch
langsam verschob sich etwas, und er kam nach und nach zu einer anderen
Perspektive. Wenn Ed Smith weg wä re. Er wü rde aus diesem Loch herausfinden
kö nnen, er wü rde mit seinem Leben weitermachen kö nnen, wenn Ed Smith ...
Nein. Wenn es Ed Smith nicht mehr gä be.
Dann wä re alles anders. Die Bü rde des toten Mannes am Wolf Peak wü rde
weniger schwer auf ihm lasten, die Angst vor der Entdeckung wä re von ihm
genommen. Fred wusste, dass Tom Lindahl nie ein Sterbenswö rtchen ü ber das,
was dort oben passiert war, verraten wü rde. Tom war nicht das Problem. Aber
wie sollten sie Ed Smith vertrauen, wie konnten sie wissen, was er als nä chstes
tun wü rde?
Das Problem war nicht Freds Phantasie – die war nur momentan ü berreizt
durch die Ereignisse. Das Problem war auch nicht George, der natü rlich in einem
Jahr, in nicht mal einem Jahr zurü ckkehren wü rde, und natü rlich wü rde Fred
dasein, um ihn in die Arme zu schließen. Das Problem war nicht Fred, nicht
George, nicht Tom, nicht der arme alte Penner da oben am Wolf Peak.
Das einzige Problem war Ed Smith.
Als Fred nach all diesen Gedanken endlich aufstand und ins Schlafzimmer ging,
tat er das beinahe ohne zu denken. Wenn man sich sicher war, gab es nichts mehr
zu bedenken, und Fred war sich sicher.
Er hielt das Gewehr locker in der Rechten, umfasste mit der Hand das warme
Holz des Schaftes und freute sich wie stets ü ber das gute Gefü hl, das ihn dabei
ü berkam. Er hatte lange Zeit sehr gute Erinnerungen mit diesem Gewehr ver-
bunden, Erinnerungen an erfolgreiche Jagden, und bald wü rden sie wieder gut
sein.
Er wusste, dass Jane, die auf der hinteren Veranda in ihr Buch vertieft war,
nicht hö ren wü rde, wie er wegfuhr, doch er ließ den Taurus trotzdem die
Einfahrt hinunterrollen und drehte den Zü ndschlü ssel erst, als der Wagen auf
der leeren Straße stand. Die Hä user ringsum waren warm erleuchtet –dort
hatten sich die Familien zum Sonntagabend zusammengefunden. Sehr bald
wü rde es bei den Thiemanns auch so sein. Er legte das Gewehr auf den
Beifahrersitz und fuhr zu Tom Lindahls Haus.

ACHT
Der Papagei sah die Welt schwarzweiß. Er kannte die Welt, in der er lebte, und
wusste, dass sie sehr stark war und dass er selbst darin ebenfalls sehr stark war
und dass er immer, wenn er glaubte, Hunger zu haben, Futter in seinem Napf
finden wü rde. Er war sauber und saß lieber auf der Schaukelstange als auf dem
Boden der Welt, selbst wenn dieser, selten genug, erneuert war, beinahe
blendendweiß, mit schwarzen Punkten, laut knisternd, wenn er sie berü hrte, bis
er wieder seinen Kot darauffallen ließ.
Wenn er sich Bewegung verschaffen wollte, kletterte er an der Schaukel und
den senkrechten Gitterstä ben des Kä figs hinauf und hinunter. Manchmal auch an
einer Seite hinauf und kopfü ber auf der anderen Seite hinunter, ohne besonderen
Grund. Seine starken Klauen packten die oberen Gitterstä be, so dass er, wenn er
den Kopf in den Nacken legte und die Welt, diese Welt, mit einem runden,
schwarzweißen Auge betrachtete, eine ganz neue Perspektive gewann.
Es gab nicht viel in dieser Welt, aber er brauchte ja auch nicht viel. Mit seinen
starken Klauen und seinem krä ftigen Schnabel, mit dem er auf die Gitterstä be
biss, so dass er auf der Zunge einen Geschmack wie vom Inneren des Gehirns
hatte, konnte er sich hier bewegen und hatte alles im Griff, was er im Griff haben
musste.
Außerhalb des Kä figs und diesen umhü llend war ein anderer Kä fig, der ihn
jedoch nicht sonderlich interessierte. Unter seinem Kä fig glü hte auf der einen
Seite ein gedä mpftes Licht, das den grö ßeren Kä fig mit sanften, stä ndig wech-
selnden Schemen erfü llte. Manchmal ertö nten von dort auch kratzende
Gerä usche. Weiter entfernt erschien hin und wieder ganz kurz eine grö ßere,
hö here, blassere rechteckige Helligkeit, wenn die anderen Wesen den ä ußeren
Kä fig betraten oder verließen. Zuweilen erzeugten sie dieses Rechteck und
bewegten sich hindurch, ohne dass das dazugehö rige Licht erschien.
Diese Wesen erregten seine Neugier, aber nur ein wenig. Er studierte sie, wenn
sie da waren, musterte sie gewö hnlich mit einem Auge und wartete darauf, dass
sie etwas taten, das sie erklä rte. Bislang hatte er vergeblich gewartet.
Manchmal schlief der Papagei. Er schlief auf der Schaukel, die seine Klauen
umklammerten, die großen Knopfaugen waren geschlossen und die steifen
grü nen Federn leicht aufgeplustert. Wenn er erwachte, wusste er stets, dass er
geschlafen hatte und nichts geschehen war und dass es jetzt, da er wieder wach
war, an der Zeit war zu essen und zu scheißen, zu trinken und zu pissen, und das
tat er dann auch.
Jetzt war jetzt. Die Wesen gingen hinaus, ohne dass viel Helligkeit durch das
Rechteck gefallen wä re, und es waren keine Wesen mehr da. Das flackernde Licht
von unten flackerte gerä uschlos weiter. Die Zeit verging, und der Papagei schlief
ein und wurde unvermittelt durch einen Lä rm geweckt.
Ein anderes Wesen war hereingekommen, mit knallenden und schreienden
Gerä uschen. Es ging vor dem hellen Viereck vorbei, verschwand in anderen
Dunkelheiten und kehrte zurü ck. Es schrie und schrie, und dann beugte es sich
zu dem Papagei und starrte ihn an, starrte sein linkes Auge an, mit dem er es
beobachtete, und schrie immer wieder dasselbe.
Der Papagei hatte nie gesprochen. Er war nie in einer Situation gewesen, in der
es ihm angebracht erschienen wä re zu sprechen. Das Wesen, das in dem Kä fig
außerhalb seines Kä figs wohnte, sagte fast nie etwas. Es war dem Papagei nie
eingefallen zu sprechen.
Doch nun schrie dieses Wesen, dieses unbekannte, fremde Wesen, immer
wieder dasselbe, und dem Papagei kam der Gedanke, er kö nnte dieselben Laute
hervorbringen. Es wä re vielleicht schö n, diese Laute hervorzubringen. Er und
das Wesen kö nnten gemeinsam diese Laute hervorbringen.
Also ö ffnete er den Schnabel, zum erstenmal nicht, um einen Gitterstab zu
packen, und der erste Laut, den er hervorbrachte, war ein heiseres Krä chzen,
was ja nur verstä ndlich war. Doch dann gelang es ihm besser: »O isser? O isser? O
isser?«
Das Wesen fuhr zurü ck. Es kreischte. Es schrie viele verschiedene Laute, zu
viele, zu schnell und durcheinander, als dass der Papagei sie hä tte nachsprechen
kö nnen. Dann schob es ein Metallrohr in den Kä fig und wollte es gegen die Brust
des Papageis stoßen, doch dieser wich auf seiner Schaukel mit Leichtigkeit aus
und packte das Ende des Rohrs mit dem linken Fuß.
Das Wesen schrie noch immer, und jetzt fiel der Papagei mit ein: »O isser? O
isser?«
Der Papagei beugte den Kopf und neigte sich zur Seite. Er sah mit dem linken
Auge in den langen runden Tunnel in dem Rohr. »O isser? O isser?«
Die gleißendweiße Flamme kam so schnell.

NEUN
Trooper James Duckbundy war ein Gesundheitsfanatiker, und darum liebte er es,
mit offenem Fenster zu fahren. Trooper Roger Ellis hä tte sich gern mit General-
Motors-Luft zufriedengegeben, aber diesmal saß Duckbundy am Steuer, also
hatte er zu bestimmen.
Sie fuhren nach Pooley, weil irgendein alter Knacker angerufen und gesagt
hatte, er habe seine Pistole verlegt. Beide Trooper wussten, dass jeder Bü rger
das Recht hatte, eine Waffe zu tragen und so weiter, doch sie waren der festen
Ü berzeugung, dass es in der Welt sicherer zugehen wü rde, wenn Idioten nicht
bewaffnet wä ren. Sie konnten verstehen, dass jemand – ganz gleich, welchen
Alters – mal seine Wagenschlü ssel oder seine Uhr verlegte, aber seine Waffe? Das
war genau die Sorte von Leuten, die ihrer Meinung nach besser gar keine Waffe
haben sollten.
Von allen verschlafenen Ortschaften dieser Welt musste Pooley eine der
verschlafensten sein. Als sie dort ankamen, sahen sie wenige Lichter und gar
keinen Verkehr, und Duckbundy parkte vor der angegebenen Adresse, einem
kleinen Haus, das beleuchtet war wie ein Weihnachtsbaum, dem einzigen Haus
in ganz Pooley, in dem drinnen wie draußen anscheinend jedes einzelne Licht
angeschaltet worden war. Dass er seine Pistole nicht mehr fand, schien den
Besitzer nervö s gemacht zu haben.
Weil Duckbundy ein Gesundheitsfanatiker war und sein Fenster geö ffnet hatte,
hö rten sie, noch bevor er den Motor abgestellt hatte, den flachen, humorlosen
Knall eines Schusses. Er kam von weiter vorn, auf der anderen Straßenseite.
Sie sahen einander an. »Das war keine Pistole«, sagte Ellis.
»Und Applaus war’s auch nicht«, sagte Duckbundy und stellte die Automatik
wieder auf Fahrt.
Wä hrend sie langsam die Straße entlangfuhren, hö rten sie keine weiteren
Schü sse, aber das machte nichts. Eine Schusswaffe im Abstand von weniger als
hundertfü nfzig Metern von einem Haus abzufeuern, ist ein Verbrechen, und ein
Schuss reicht.
Sie fuhren im Schrittempo und musterten die Hä user zu ihrer Linken, bis Ellis
sagte: »Da drü ben bewegt sich was.«
Dort stand ein mit Brettern vernageltes Haus, daneben war eine Einfahrt, an
deren Ende ein Gebä ude lag, das wie eine Garage aussah. Duckbundy bremste,
drehte den Suchscheinwerfer nach links und schaltete ihn ein. In dem plö tzlichen
gleißenden Licht sahen sie einen Mann vor der Garage. Er hielt ein Gewehr in der
Hand und stieg gerade in einen schwarzen Taurus. Auf dem Gewehrlauf glä nzte
etwas Feuchtes, als der Mann herumfuhr und in das Scheinwerferlicht starrte. Er
umklammerte das Gewehr jetzt mit beiden Hä nden.
Ellis hatte das Mikrofon in der Hand, als er ausstieg. »Polizei«, drö hnte es aus
dem Lautsprecher auf dem Dach des Streifenwagens. »Bleiben Sie stehen, und
legen Sie die Waffe auf den Boden.«
Der Mann tat nichts dergleichen. Er schrie etwas, irgend etwas
Unzusammenhä ngendes, und dann hob er das Gewehr.
Die beiden Polizisten feuerten elf Schü sse ab. Drei hä tten gereicht.

ZEHN
Was fü r einen Namen gibt man einem Papagei? Muss er mit einem P anfangen?
Polly Papagei. Papageno Papagei. Pistolero Papagei – nicht gut. Piepen Papagei.
An diesem Abend herrschte weniger Verkehr, und es gab weniger
Straßensperren. Tom hatte den Eindruck, dass die Polizei nicht mehr glaubte, die
Flü chtigen eingekreist zu haben, und nur noch den Schein wahrte.
Wie wollte Ed zur Rennbahn kommen, ohne Wagen oder Komplizen? Oder
hatte er, wä hrend Tom fort gewesen war, mit jemandem telefoniert und sich
verabredet, womö glich mit einem anderen Profi, einem anderen hartgesottenen
Kerl, der mit ihm zur Rennbahn fahren und bei dem Raub helfen wü rde? Um
dabei was einzusacken?
Toms Anteil natü rlich.
Er konnte noch immer an irgendeiner geö ffneten Tankstelle halten, die Polizei
anrufen und ihnen sagen, wo sie einen der Gesuchten finden wü rden. Es sei
denn, Ed hä tte unmittelbar nach Tom das Haus verlassen.
Aber das spielte keine Rolle; er wü rde nicht halten. Es war zu spä t, um irgend
etwas zu ä ndern, zu spä t, um sich fü r etwas anderes als dies zu entscheiden.
Im Rü ckspiegel tauchten verschiedene Wagen auf, und einige ü berholten ihn,
weil er wegen all dieser sorgenvollen Gedanken nicht mit seiner normalen
Geschwindigkeit fuhr, sondern etwa zehn bis zwanzig Stundenkilometer
langsamer. Eine Zeitlang folgte ihm ein grauer Volkswagen Jetta – irgend jemand,
der genauso dahintrottelte wie er –, doch dann kam eine der wenigen
Straßensperren, und nach diesem Halt war der Jetta verschwunden, und ein paar
Kilometer lang blieb der Rü ckspiegel schwarz.
Auf den Verkehr wurde er erst wieder aufmerksam, als ein Stü ck hinter ihm
andere Scheinwerfer auftauchten, die sich rasch nä herten. Der Fahrer war
offenbar ein Raser, der fü r etwa einen Kilometer dicht auffuhr und dann, sobald
die durchgezogene Mittellinie endete, mit aufheulendem Motor ü berholte. Im
Scheinwerferlicht konnte Tom erkennen, dass es ein schwarzer Infiniti war, ein
schnellerer, stä rkerer Wagen als seiner, der bald außer Sicht war.
Perry Papagei? Ed Papagei? Madonna Papagei? William G. Dodd Papagei?
Und wenn er nun nicht kommt? Wenn ich, nach all den Vorbereitungen, dort
warte und Ed Smith sich nie mehr sehen lä sst? Wenn er so plö tzlich aus meinem
Leben verschwindet, wie er gekommen ist?
Das wä re eine gewisse Erleichterung, aber Tom wusste, dass dies die falsche
Frage war. Die richtige lautete: Wenn Ed Smith verschwunden blieb, konnte Tom
es dann allein schaffen, konnte er mit beiden Reisetaschen nach Hause zurü ck-
kehren, konnte er die Rennbahn ganz allein ausrauben und die Beute in dem
verlassenen Haus verstecken?
Tom glaubte nicht daran. Er wusste genau, was er tun wü rde, wenn er an der
Rennbahn lä nger als eine halbe Stunde warten und Ed nicht auftauchen
wü rde. Er wü rde abhauen. Er war noch immer der Feigling, der er sein Leben
lang gewesen war. Er brauchte Ed Smith, damit der ihm so was wie ein Rü ckgrat
gab. Er hasste den Gedanken, dass er diesen Mann brauchte, doch er wusste, dass
es die Wahrheit war. Nicht einmal nach all dem, was gewesen war, wü rde er
imstande sein, die Rennbahn allein auszurauben.
Will ich, dass er kommt? Will ich, dass es jetzt Wirklichkeit wird, oder will ich
bloß eine Ausrede, damit ich zurü ck zu meiner miesen kleinen Hü tte fahren
kann, um dort den Rest meines Lebens vor mich hin zu vegetieren? Was will ich,
was will ich wirklich?
Er wusste es ebenso wenig, wie er einen Namen fü r den Papagei wusste.

ELF
Suzanne erwachte davon, dass Steinchen an ihr Fenster prasselten. Sie war
verä rgert, sie wollte nicht aufwachen und dachte: Herrgott, wer will denn was
von mir, um diese Uhrzeit? Wie spä t ist es ü berhaupt?
Nein, das sind keine Steinchen, da wird geschossen! Gewehre, Pistolen – da
wird geschossen!
Suzanne schlug die Augen auf und befand sich mitten in einem Albtraum.
Anstatt in der stillen Dunkelheit ihres friedlichen Zimmers zu liegen, saß sie
aufrecht in einem Raum voller strenger Winkel und Kanten, in dem Streifen
grellen Lichts eine mit gedrä ngten Schemen angefü llte Schwä rze durchschnitten.
Oben Licht, unten Dunkel, Schwä rze ringsum – ein Fenster?
»Oh! Mein Gott, was ist –«
»Still!«
Ein weiterer Schock. Das war eine mä nnliche Stimme, leise, intensiv, guttural
und keineswegs freundlich. Sie ließ Suzanne verstummen, als hä tte ihr jemand
den Mund zugehalten, jedenfalls so lange, bis der scharfe Biss des Schnü rsenkels
in ihre Handgelenke die Erinnerung an den Schrecken und die Demü tigung
zurü ckbrachte.
Wieso hatte sie nicht gleich gemerkt, dass der Mann der gesuchte Bankrä uber
war? Seit vielen Jahren nahm sie ganz selbstverstä ndlich an, dass sie, wä hrend
sie sich durch diese Welt bewegte, einfach ignoriert und schlecht oder unfair
behandelt wü rde, so dass es ihr, als plö tzlich ein Mann vor ihr stand, mit einer
Pistole herumfuchtelte und andere Menschen fesselte, als wä ren sie politische
Gefangene, um dann ohne ein Wort der Erklä rung davonzumarschieren, irgend-
wie ganz normal vorkam – es war in gewisser Weise genau das, was sie ohnehin
die ganze Zeit erwartete, auch wenn meistens nichts geschah, was auch nur
entfernte Ä hnlichkeit mit dieser Situation hatte.
Und jetzt, da es geschehen war? Sie war ganz eingesponnen gewesen in ihr
Gefü hl, dass sie mal wieder schlecht behandelt worden war, dass ihre
Erwartungen sich erfü llt hatten, und es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen,
sich zu fragen, wer dieser Mann sein mochte oder warum er solche Dinge tat.
In der ganzen Gegend wurde nach Bankrä ubern gesucht, aber hatte Suzanne,
als es geschehen war, gedacht: Bankrä uber? Nein, sie hatte gedacht: Siehst du,
was sie mal wieder mit dir machen?, und ausgerechnet Brian Hopwood musste
ihr sagen – und zwar mit nicht gerade sanften, einfü hlsamen Worten –, dass es
diesmal nicht um sie ging, sondern um ihn, den Mann, der sie beide gefesselt
hatte und dann verschwunden war.
Sobald Brian ihr erklä rt hatte, was eigentlich los war, ü berfiel sie – etwas
verspä tet – ein Entsetzen, vermischt mit einem solchen Gefü hl der Demü tigung,
dass die Anspannung sie in stundenlanges Schweigen verfallen ließ, weil sie
fü rchtete, sie kö nnte sich irgendwie noch mehr blamieren. Brian, der sowieso nie
ein Wort sagte, schwieg ebenfalls, bis irgendwann, nach einer Gott weiß wie
langen Zeit, das Telefon lä utete und lä utete und Brian schließlich sagte: »Ich
hoffe bloß, das ist Edna, und ich hoffe, sie merkt, dass hier was faul ist.«
Doch dann hö rte das Telefon auf zu lä uten, und Brian sagte nichts mehr, und
trotz ihrer unbequemen Lage, trotz ihrer Angst und Scham schlief Suzanne ein.
Ja, tatsä chlich! Und wachte irgendwann auf, weil draußen Schü sse fielen.
Schluss jetzt. Wer schoss dort? War der Bankrä uber zurü ck, hatte er
beschlossen, sie doch noch zu tö ten? Aber es war so lange her, dass er
gegangen war – da war es noch hell gewesen. Musste er, wä hrend Suzanne auf
dem Boden von Brian Hopwoods schmutziger Tankstelle geschlafen hatte, nicht
schon ü ber alle Berge geflohen sein, musste er nicht schon lä ngst tief in
irgendeiner anderen Ü beltat stecken?
Sie versuchte es mit einem Flü stern. »Brian?«
»Ja.« Barsch, aber nicht unfreundlich.
»Brian, was passiert jetzt?«
Sein Lachen klang bitter und ganz und gar nicht freundlich. »Tja, wir sind hier
verschnü rt wie zwei Weihnachtsgä nse. Wir kö nnen ü berhaupt nichts machen,
solange keiner beschließt, mal nach uns zu sehen.«
»Aber da draußen wird geschossen. Brian? Wer schießt da?«
»Woher soll ich das wissen?« Er klang jetzt regelrecht genervt.
Sie suchte nach einer Mö glichkeit, ihn zu beschwichtigen, und zugleich nach
einem Ausweg aus ihrer misslichen Lage. »Wird Edna vielleicht kommen?«
»Ich glaube nicht, dass sie vorhin angerufen hat.«
Suzanne kam plö tzlich ein Gedanke. »Es kö nnte Jack gewesen sein. Sie wissen
schon, mein Großvater.«
»Ich weiß, wer Jack ist«, sagte Brian recht gereizt. »Wird er kommen und Sie
suchen?«
»Nicht, wenn es dunkel ist.«
»Na prima.«
Die Stille, die jetzt draußen herrschte, war schlimmer als die Schü sse – man
wusste nicht, wo jemand war. Von plö tzlicher Panik ü berkommen, flü sterte
Suzanne schrill: »Brian, wir mü ssen hier raus!«
»Nur zu!« Das klang sarkastisch, defä tistisch und ohne ein Fü nkchen Mitgefü hl
– unter anderen Umstä nden hä tte sie Brian grob gefunden.
Sie ignorierte es. »Nein, wirklich«, flü sterte sie. »Ich weiß, dass Sie sich mit dem
Stuhl da nicht bewegen kö nnen –«
»Allerdings.«
»Aber ich kann mich bewegen.«
»Sie sind an Hä nden und Fü ßen gefesselt.«
»Aber ich kann mich bewegen. Wenn ich jetzt zu Ihnen kä me und –«
»Wie denn?«
»Ich weiß nicht – kriechend oder robbend. Ist doch egal.«
»Na gut«, sagte er. »Nehmen wir mal an, Sie wä ren hier.«
»Ich hab die Knoten gemacht. Ich weiß, wie ich sie ge macht habe. Und ich
glaube, ich kö nnte sie auch wieder aufmachen.«
»Und wie wollen Sie an die Knoten rankommen?«
Sie dachte nach. Jetzt, da sie wach war und wusste, wo sie sich befand, konnte
sie das Bü ro klarer erkennen, auch wenn nur wenig Licht von draußen
hereinschien, von den Zapfsä ulen, dem Geträ nkeautomaten und den
Straßenlaternen. Suzanne und Brian waren in der vorderen linken Ecke des
Raums, wo niemand sie von draußen durch das Fenster sehen konnte. Der Stuhl,
auf dem Brian saß, war mit Klebeband am Boden befestigt, und sonst gab es in
ihrer unmittelbaren Nä he keine Mö belstü cke. Jenseits des dunklen Durchgangs
zur Werkstatt stand der Schreibtisch wie das soeben gerä umte Hauptquartier
einer geschlagenen Armee. Nein, keiner geschlagenen Armee, eher schon einer
versprengten Kompanie. Ein Kü chenstuhl ohne Armlehnen stand an der
gegenü berliegenden Wand – ein widerwilliges Zugestä ndnis an die Tatsache,
dass eines Tages doch mal ein Kunde kommen kö nnte, der sich setzen wollte.
»Hat der Stuhl da drü ben Rollen?«
»Nein, warum sollte er?«
»Nur so eine Frage.«
»Lassen Sie’s gut sein, Suzanne. Morgen frü h werden sie –«
»Ich kann nicht bis morgen warten«, sagte sie und merkte, dass das die
Wahrheit war. Jetzt, da sie ganz wach war, musste sie auf die Toilette, und zwar
bald. »Lassen Sie mich was probieren«, sagte sie, obwohl das Bedü rfnis mit jeder
Bewegung dringender wurde.
»Was machen Sie denn?«, fragte er, gereizt wie immer, als sie sich ü ber den
Boden zu ihm schob.
»Ich will bloß versuchen ...«
Mit gefesselten Hä nden und Fü ßen konnte sie sich nur mit seltsamen kleinen
Hü pfern fortbewegen, doch schon bald war sie, wo sie sein wollte: Sie saß mit
dem Rü cken zu Brian da, ihre gefesselten Hä nde waren an seinen Knö cheln und
ihre gebeugten Schultern an seinen Schienbeinen. Erschö pft ruhte sie sich kurz
aus, bis ihr bewusst wurde, dass ihr Kopf an Brians Oberschenkel lag und dass
ihm das gar nicht gefiel. Also hob sie den Kopf, tastete hinter sich umher und
fand schließlich ein Stü ck Klebeband, mit dem einer der Schraubenzieher
befestigt war, die verhinderten, dass der Stuhl bewegt werden konnte.
Brian schwieg wieder, und sie merkte, dass er den Kopf nach vorn beugte, um
zu erkennen, was sie da machte und ob ihnen das irgend etwas helfen wü rde.
Das Klebeband haftete fest an dem Holzboden, doch Suzanne ertastete
schließlich ein Ende, und es gelang ihr, es ein wenig abzulö sen. Jetzt konnte sie
das Band abziehen, und der Schraubenzieher gab ihr zusä tzlich einen Hebel.
Endlich flü sterte sie triumphierend: »Ich hab’s!«
»Es ist mehr als eins«, sagte er. »Aber wenn alle weg sind, kann ich helfen.«
Diese Verwandlung von jemandem, der sich ihr gegenü ber gereizt, spö ttisch
und ungeduldig verhielt, in jemanden, der zu helfen versprach, war unvermittelt
und blieb unkommentiert. Sie nahm das Angebot mit einem schlichten Nicken an
und rutschte ein wenig rü ckwä rts, bis sie ein weiteres Stü ck Klebeband ertasten
konnte.
Nun, da sie wusste, wie sie vorgehen musste, war der zweite Schraubenzieher
leichter zu entfernen, und dann konnte Brian seinen Stuhl bewegen, wenn auch
nur in winzigen Rucken, da seine Fü ße noch immer mit Klebeband gefesselt und
an den Fuß des Stuhls gebunden waren. »Und jetzt?« fragte er. »Ich glaube nicht,
dass ich mit dem Ding durch die Tü r komme.«
»Ich hole den anderen Stuhl her«, sagte sie. »Wenn ich es schaffe, mich darauf
zu setzen, komme ich vielleicht an den Knoten an Ihren Handgelenken.«
»Wozu soll das gut sein? Der sitzt schö n fest, Suzanne, das kann ich Ihnen
versichern.«
»Ich hab ihn selbst gemacht«, sagte sie. »Wir wollen mal sehen, was ich tun
kann.«
»Wie Sie wollen«, antwortete er, klang aber nicht ü ber-zeugt.
Das war ihr gleichgü ltig. Sie hatte sich in Bewegung gesetzt, sie war in
Bewegung. Sie wä lzte sich ü ber den Boden, ihr wurde schwindlig,
doch schließlich stieß sie gegen den anderen Stuhl. Ihre mit dem Starterkabel
gefesselten Beine waren lediglich zu wenig differenzierten Bewegungen
imstande, aber es gelang ihr, den Stuhl mit den Fü ßen von der Wand und um den
Schreibtisch herum zu bugsieren und in Brians Richtung zu schieben, der sich
erstaunlicherweise große Mü he gab, ihr entgegenzukommen: Er wippte mit dem
Oberkö rper nach vorn, drü ckte die weißbestrumpften Zehen gegen den Boden
und schob so den Stuhl auf seinen Rollen Zentimeter fü r Zentimeter aus der
Ecke, so dass Suzanne ihn leichter erreichen konnte.
Es war nicht schwer, die Stü hle so in Position zu schieben, dass Brian ihr den
Rü cken zuwandte und Suzanne, wenn sie seitlich auf dem anderen Stuhl saß, mit
den gefesselten Hä nden Brians Handgelenke erreichen konnte. Nein, die eigent-
liche Schwierigkeit bestand darin, irgendwie auf den Stuhl zu klettern. Sie
schaffte es zwar, sich bä uchlings ü ber die Sitzflä che zu legen, doch dann ging es
nicht weiter, weil sie sich nirgends abstü tzen konnte. Schließlich stieß sie hervor:
»Brian, Sie mü ssen mir helfen.«
»Gern. Wie?«
»Ich muss meinen Fuß zwischen Ihre Beine legen, und Sie mü ssen ihn
festhalten. Ich kann mich auf diesem Stuhl nur aufrichten, wenn ich irgendwo
einen Halt finde.«
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber von mir
aus ... versuchen wir’s. Seien Sie nur um Gottes willen vorsichtig, Suzanne.«
»Es wird ganz schnell gehen«, versprach sie.
Es ging nicht schnell, und es tat ihr leid, ihn ä chzen zu hö ren, als sie ihre rechte
Ferse in seinen Schoß bohrte, doch sie brauchte diesen Hebel, um sich auf der
Sitzflä che herumdrehen zu kö nnen, bis sie erst auf der Seite und dann auf dem
Rü cken lag. Schließlich konnte sie mit den Hä nden die Streben der Stuhllehne
packen und sich langsam in eine sitzende Position ziehen.
»Geschafft!«
»Herrje.«
»Es tut mir leid, Brian. Kö nnen Sie sich ein bisschen von mir weg drehen?«
»Kann ich.«
Sie tastete, bis sie seine Hä nde mit den dicken Fingern, dann die Handgelenke
und endlich den dü nnen, festverknoteten Schnü rsenkel fü hlte.
Ja, das war der Knoten, den sie gemacht hatte – ein guter Knoten, aber leicht zu
ö ffnen, wenn man wusste, wie. Hier war eine Schlaufe, da war das lose Ende, und
da...
Brian fuhr zusammen, als hä tte er einen elektrischen Schlag bekommen. »Was
ist das? Moment mal! Meine Hä nde sind frei!«
»Brian, bitte, bitte, machen Sie mir die Hä nde los, bitte, schnell!«
»Ja, klar, ich muss nur erst ... Er hat’s uns nicht gerade leichtgemacht, dieser
miese ... Da, na bitte!«
»Gott sei Dank!« rief sie und beugte sich hinunter, um das Starterkabel
abzuwickeln.
Er mü hte sich noch mit dem Klebeband ab, mit dem seine Fü ße gefesselt
waren. Suzanne sprang auf und strich mit den Hä nden ü ber die Wand. »Wo ist
der Lichtschalter?«
»Wir mü ssen vorsichtig sein, wenn wir rausgehen, Suzanne – wir wissen
schließlich nicht, was da –«
»Ich will ja gar nicht raus«, sagte sie und eilte durch den Durchgang in Richtung
Werkstatt. »Ich will zur Toilette!«
»Sie brauchen den Schlü ssel!« rief er ihr nach.

ZWÖLF
Wo wollte Tom hin? Das ergab keinen Sinn.
Gegen halb acht war der Gelä ndewagen von der kleinen, umgebauten Garage,
in der Tom wohnte, weggefahren, und zwar in sü dlicher Richtung. Cory und Cal
waren ihm mit dem Volkswagen Jetta in einigem Abstand gefolgt, und eine
Stunde spä ter waren alle noch immer unterwegs, in sü dwestlicher Richtung quer
durch den Bundesstaat New York, fort von Pooley und Massachusetts, wo der
Bankü berfall stattgefunden hatte, aus dem wohl Ed Smith’ Geld stammte.
Wollten Tom und Smith das Geld holen? Was konnten sie sonst vorhaben? Cory
wunderte sich immer mehr, was hier eigentlich los war, doch er sprach die
Fragen, die ihm durch den Kopf gingen, lieber nicht aus, denn sonst wü rde Cal
womö glich darauf dringen, irgend etwas Ü bereiltes zu tun, zum Beispiel den
Wagen vor ihnen einfach zu rammen, nur um zu sehen, was dann passierte. Also
behielt Cory seine Zweifel fü r sich und fuhr weiter, in der Hoffnung, dass diese
Fahrt bald zu Ende sein wü rde.
Cory hatte tatsä chlich keine Mü he gehabt, sich den Jetta von seiner Schwester
zu leihen. Sie hatte sich so gefreut, dass Cory vielleicht einen richtigen Job
bekommen wü rde – womit sie einen Bü rojob meinte, nicht die Fabrikarbeit, die
Cory und Cal sonst immer machten –, dass er wegen seiner Lü gengeschichte
regelrecht Schuldgefü hle hatte. Aber er redete sich ein, dass alles prima laufen
und sie die Wahrheit nie erfahren werde, also brauchte er sich darü ber auch
nicht den Kopf zu zerbrechen.
Ein bisschen besorgniserregend war – wenigstens anfangs, als Cory zu dem
Schnellimbiss zurü ckgekehrt war –, dass Cal sich offenbar nicht, wie
versprochen, auf Kaffee beschrä nkt hatte. Sein Bieratem war nicht so deutlich zu
riechen, wie wenn sie nebeneinander im Pick-up gesessen hä tten, aber dennoch
unverkennbar. Cory hä tte eine Bemerkung machen kö nnen, aber wozu? Cal hä tte
es einfach abgestritten, er hä tte rundheraus gelogen und gewartet, bis die Frage
sich irgendwie erledigt hä tte.
Das war Cals Art der Problemlö sung. Und dabei war er nicht mal ein
guter Lü gner – er war im Grunde sogar ein verdammt schlechter, im Gegensatz
zu Cory, dem es immer gelang, eine geschmeidige Plausibilitä t zu erzeugen –,
aber wenn Cal seine Lü ge erst mal ausgesprochen hatte, hielt er
unbeirrbar daran fest, also wozu seinen Atem verschwenden?
Anfangs, als sie in einer Einfahrt neben einem der verlassenen Hä user von
Pooley Posten bezogen hatten – ein Stü ck von Toms Haus entfernt, weil es noch
hell war –, war Cal angespannt und gereizt gewesen, weil er angetrunken war
und wollte, dass jetzt gleich etwas passierte. Sein linkes, von der Augenklappe
verdecktes Auge war untä tig, aber das rechte starrte erregt, als wollte er durch
Mauern und um Ecken spä hen. »Wann setzen die denn endlich ihren Arsch in
Bewegung?«
»Wir warten’s einfach ab, dann sehen wir’s ja.«
»Vielleicht sollte ich mal eine Peilung vornehmen.«
»Nein, wir warten hier. Wenn sie irgendwohin fahren, kriegen wir es mit.«
Dann musste Cal aussteigen und pinkeln, und das beruhigte ihn ein bisschen,
wenn auch nur fü r eine Weile. Noch dreimal wollte er hinü bergehen und einen
Blick durch Toms Fenster werfen, um zu sehen, was dort drinnen vor sich ging,
und dreimal musste Cory ihn daran erinnern, dass die beiden frü her oder spä ter
das Haus verlassen und auf die Straße einbiegen mussten. Wollte Cal vielleicht
gerade mitten in Toms Einfahrt stehen, wenn sie herauskamen? Natü rlich nicht.
Wollte er, dass sie ihn sahen, wenn er durch das Fenster lugte? Absolut nicht.
Ihre Theorie ü ber die Plä ne der beiden hatten sie schon mehrmals erö rtert,
doch Cal, der gelangweilt und zappelig im Wagen saß und darauf wartete, dass
sich etwas tat, musste alles unbedingt noch einmal durchkauen. »Es geht
jedenfalls um Geld, soviel ist sicher«, sagte er. »Alles andere wä re Quatsch. Tom
wü rde sich nicht mit so einem Typ abgeben, ihn schü tzen und ü berall erzä hlen,
dass er ein ehemaliger Kollege von ihm ist, wenn da nicht irgendwas fü r ihn
rausspringen wü rde.«
Cory nickte. »Das denken wir jedenfalls.«
»Damit rechnen wir fest«, sagte Cal. »Irgendwo muss noch was von dieser
Beute rumliegen, sonst wü rde Tom den Typ nicht verstecken. Ich meine, da geht
er doch ein ganz schö nes Risiko ein, Cory.«
»Stimmt.«
»Das ist der einzige Grund, warum er das macht: fü r die Kohle.« Cal lachte laut.
»Ich weiß ja nicht, wie’s mit dir ist, Cory, aber ich kö nnte sie gut gebrauchen. War
mir jedenfalls lieber als ein Job in dem College.«
»Obwohl ich den auch ganz gern hä tte«, gab Cory zu.
Cal grinste ihn an und tä tschelte ihm den Arm. »Du schaffst das schon«,
sagte er. »Du bist der Schlaue von uns beiden.«
»Und du bist der Komische.«
»Absolut. Ich kö nnte doch zur Telefonzelle gehen und mal da drü ben anrufen,
nur um zu sehen, was sie dann machen.«
»Nein«, sagte Cory. »Ich will nicht, dass sie auch nur einen einzigen Gedanken
an uns verschwenden oder denken, dass irgend jemand sich fü r sie interessiert,
denn das kö nnte sie von dem abhalten, was sie tun wollen.«
»Ja, kann sein.«
»Denk dran: Ich bin der Schlaue von uns beiden.«
Darü ber musste Cal lachen, und das entspannte ihn ein wenig. Sie warteten in
einträ chtigem Schweigen. Nach und nach senkte sich der Abend herab, und
genau als jenes trü gerische Zwielicht herrschte, in dem man nur sehr schwer et-
was erkennen kann, weil es weder Tag noch Nacht ist, schob sich Tom Lindahls
Ford aus der Einfahrt, bog nach Sü den ab und entfernte sich.
»Da sind sie!«
»Seh ich doch, Cal. Immer mit der Ruhe.«
Cory wartete, bis der Ford beinahe außer Sichtweite war, dann ließ er den
Motor des Jetta an und folgte ihm in gehö rigem Abstand. Auf dem Beifahrersitz
atmete Cal vernehmlich durch den Mund, zog das Hemd aus der Hose, griff
darunter und holte eine recht kleine Pistole hervor, das High-Standard-GI-
Modell, Kaliber .45.
Cory starrte ihn an. »Was willst du denn damit?«
Cal lachte. »Ohne so was sollte man nie aus dem Haus gehen.« Zuvor hatte er
keinen betrunkenen Eindruck gemacht, doch jetzt, Stunden nachdem er das Bier
getrunken hatte, umgab ihn, als er dasaß und in beiden Hä nden die Pistole hielt,
plö tzlich eine verschwommene Aggressivitä t.
»Jetzt komm schon, Cal«, sagte Cory. »Du hast keinen Ton davon gesagt, dass du
das Ding mitbringen willst.« Vor ihnen fuhr Tom Lindahls Ford in einem stetigen,
gemä chlichen Tempo. Er war leicht zu verfolgen.
»Tja, ich wusste genau, dass du was dagegen haben wü rdest, wenn ich es dir
sage. Also hab ich beschlossen, sie einfach mitzunehmen und nichts zu sagen,
damit’s keinen Streit gibt.«
»Wenn die Bullen uns anhalten –«
»Warum sollten die uns anhalten? Wir fahren« – Cal lehnte den Kopf an Corys
Oberarm, so dass er mit dem rechten Auge den Tacho sehen konnte – »genau
sechzig. Wer sollte uns anhalten?«
»Cal, ich will das Ding nicht sehen.«
»Du siehst es ja gar nicht.« Cal beugte sich vor, legte die Pistole auf den Boden
und stellte den rechten Fuß darauf. »Siehst du? Sie ist einfach nur da.«
»Ist sie wenigstens gesichert?«
»Na klar. Was denkst du denn?«
»Wenn wir mit den beiden reden«, sagte Cory, »dann fang bitte nicht an, damit
herumzufuchteln.«
»Er ist doch derjenige, der den Mund so vollnimmt, oder? ›Dann wä rt ihr jetzt
tot.‹ Ach ja, war ich das? Nein, wir haben unseren kleinen Freund hier, auf dem
Boden, wo ihn keiner sieht und keiner an ihn denkt, und wenn es irgendwann
heute abend nö tig ist, eine Ü berraschung aus dem Hut zu zaubern, dann haben
wir eine.«
»Lass sie einfach da liegen«, sagte Cory.
»Tu ich ja.«
Irgendwie machte das Wissen um die Pistole seines Bruders im Wagen seiner
Schwester Cory nervö s, als hä tte er irgendeinen schweren Fehler begangen. Cal
hatte das verdammte Ding vor Jahren in einer Pfandleihe in Buffalo gekauft, ohne
dass er hä tte sagen kö nnen, warum eigentlich. Er hatte die Pistole gesehen und
haben wollen, das war alles. Im ersten Jahr hatte er sie ab und zu hervorgeholt,
war in den Wald gegangen und hatte geü bt, indem er auf Bä ume oder
Zaunpfosten geschossen hatte, aber dann hatte sie eigentlich nur noch in seinem
Zimmer in irgendeiner Schublade gelegen und war praktisch vergessen gewesen.
Cory hatte so lange nicht an sie gedacht, dass sie ihm, als Cal sie hier im Wagen
plö tzlich in der Hand hatte, wie etwas ganz Neues vorkam, wie eine Gila-Echse
oder so.
Na gut, sollte sie auf dem Boden liegen. Wenn Cal sich damit sicherer fü hlte.
Aber wenn es an der Zeit war auszusteigen, wü rde Cory dafü r sorgen, dass die
Pistole nicht ebenfalls ausstieg.
Ein paar Kilometer weiter sahen sie die hellen roten und weißen Warnlichter
der ersten Straßensperre an diesem Abend. Cory verlangsamte die Fahrt und
sagte: »Schieb das Scheißding unter den Sitz.«
»Okay.«
Sogar Cal schien ein bisschen kleinlaut, als er sich vorbeugte und die Pistole
versteckte. Cory fuhr so langsam, wie er es wagte, damit Tom die Straßensperre
passieren konnte. Er kam neben dem wartenden Polizisten zum Stehen und griff
nach seiner Brieftasche.
Der Polizist hatte eine lange Taschenlampe, die er zunä chst auf Cory und dann
auf Cal richtete, ohne sie mit dem Strahl zu blenden. Er war der gelangweilteste
Polizist, mit dem sie es bisher zu tun gehabt hatten, und studierte wortlos Corys
Fü hrerschein. Cal hatte das Handschuhfach geö ffnet, doch der Beamte fragte
nicht mal nach den Wagenpapieren, sondern reichte den Fü hrerschein zurü ck
und winkte sie mit der Taschenlampe weiter.
Der Ford hatte keinen großen Vorsprung gewonnen und fuhr noch immer
gemä chlich dahin, als hä tte Tom es nicht besonders eilig, irgendwohin zu
kommen. Als Cory ein wenig aufgeholt hatte und das Tempo verlangsamte, um
denselben Abstand wie zuvor einzuhalten, sagte Cal: »Was ist da los, Cory? Macht
er bloß eine kleine Spazierfahrt?«
»Ich weiß auch nicht«, gab Cory zu. »Aber mir ist gerade eingefallen, in welche
Richtung er fä hrt.«
»Ach ja? Und zwar?«
»In Richtung der Rennbahn, wo er mal gearbeitet hat.«
»Was? Tom?«
»Er hat da jahrelang gearbeitet, und dann haben sie ihn wegen irgendwas
rausgeschmissen.«
»Und warum sollte er jetzt da hinfahren?«
»Ich weiß nicht, was die vorhaben«, sagte Cory. »Ich meine, da sind sie
losgefahren, genau wie wir es uns gedacht haben, aber jetzt kapiere ich nicht,
was das soll. Die fü hren uns jedenfalls nicht zu irgendwelchem Geld.«
»Vielleicht hilft Tom dem Typ, von hier zu verschwinden.«
»Mit sechzig Stundenkilometern? Außerdem hä tte er das schon gestern nacht
tun kö nnen. Oder heute.«
»Fahr nä her ran«, sagte Cal. »Mal sehen, was sie machen.«
»Sie fahren«, sagte Cory.
»Na los, Cory, fahr nä her ran.«
»Man kann nachts nicht in einen anderen Wagen sehen.«
»Fahr nä her ran, verdammt.«
Cory verringerte den Abstand, ohne zu dicht aufzufahren, und so fuhren sie
eine Weile dahin und dachten nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Dann
sah Cory weiter vorn die Warnlichter der nä chsten Straßensperre und sagte:
»Wir mü ssen mehr Abstand halten«, und im selben Augenblick rief Cal:
»Verdammt!«
»Was?« Cory hatte den Fuß vom Gas genommen. Der Jetta wurde langsamer,
wä hrend der Ford sich auf die Sperre zubewegte. Die Bremslichter leuchteten
noch nicht auf.
»Er ist allein da drin!«
»Was?«
»Fahr rechts ran, fahr rechts ran, verdammt!«
Rechts der Straße war eine geschlossene Tankstelle. Cory bog ab und ließ den
Wagen an den Zapfsä ulen vorbeirollen. »Wie meinst du das: ›Er ist allein da
drin‹?«
»Tom! Ich hab die Lichter der Straßensperre durch seine Windschutzscheibe
gesehen, und er sitzt allein in der Scheißkarre! Hakan!«
Cory bremste. »Wo ist er denn dann? Vielleicht liegt er auf der Rü ckbank.«
»An einer Straßensperre? Er ist nicht da drin«, beharrte Cal. In diesem
Augenblick fuhr plö tzlich ein schwarzer Wagen dicht an ihnen vorbei und kam
schrä g vor dem Jetta zum Stehen. Cal starrte ihn mit einem Auge an. »Was ist das
denn?«
Der Fahrer stieg aus und sah sie ü ber das Dach des Wagens hinweg an, und
natü rlich war es Ed Smith. Reflexartig legte Cory den Rü ckwä rtsgang ein, als
Smith einen Schritt zur Seite machte, als wollte er um seinen Wagen herum zu
ihnen kommen und mit ihnen reden.
Cal gab ihm keine Gelegenheit dazu. Er sprang aus dem Jetta, und als Cory sich
nach rechts wandte, sah er, dass Cal die Pistole in der Hand hatte. Cory rief:
»Nicht!«, aber Cal schrie Smith irgendeine Beschimpfung zu und hob die Hand,
als wollte er auf ihn schießen, doch im selben Augenblick legte Smith die Hand,
in der er etwas Kleines, Schwarzes hatte, auf das Wagendach, und das Ding
hustete eine punktgroße rote Flamme hervor, und Cal stü rzte hintenü ber. Seine
Pistole fiel auf den Betonboden der Tankstelle.
Cory schrie und trat auf das Gaspedal. Der Jetta raste rü ckwä rts an den
Zapfsä ulen vorbei. Die offene Beifahrertü r streifte sie beinahe und wedelte wild,
als wü rde sie im nä chsten Augenblick aus den Angeln reißen, bis Cory scharf
bremste und die Tü r zuschlug.
Smith kam, die Hand mit der Waffe locker hä ngend, auf ihn zu. Cory riss das
Lenkrad herum, schaltete in den Vorwä rtsgang und raste in Richtung Norden
davon, bis Cal und Smith und der Ford und die Straßensperre und alles andere
im Rü ckspiegel immer kleiner wurden und schließlich verschwanden.
Absolute Panik ließ ihn auf der leeren Straße vier oder fü nf Minuten
dahinrasen, bis vor ihm ein langsamerer Pick-up auftauchte und er vom Gas ging.
Die Panik legte sich, er konnte wieder klarer denken. Er wusste, dass er
umkehren und sich um Cal kü mmern musste. Er war der jü ngere, aber er war
schon immer der gewesen, der seinen Kopf benutzte und Cals Blö dsinn zwar
mitmachte, ihnen beiden aber – manchmal – aus den Schwierigkeiten heraushalf,
wenn die Dinge aus dem Ruder liefen.
Cal war verletzt. Getroffen. Wie schlimm getroffen?
Cory wendete und fuhr wieder nach Sü den und hä tte die Tankstelle verpasst,
wenn er nicht die Straßensperre weiter vorn gesehen hä tte. Aber da war sie, und
Cory bog ein, fuhr an den Zapfsä ulen vorbei, wo er vorhin gehalten hatte, und
bremste. Smith und der schwarze Wagen waren verschwunden.
Cory hatte Angst vor dem, was er finden wü rde. Er stieg aus dem Jetta und sah
rechts vom Wagen nach. Cals Pistole lag dort, wo sie auf den Boden gefallen war,
aber sonst war nichts zu sehen. Keine Spur von Cal.
Cory stieg wieder ein, legte die Pistole auf den Beifahrersitz und fuhr hierhin
und dorthin, so dass er mit Hilfe der Scheinwerfer das ganze
Tankstellengelä nde absuchen konnte. Er fand nichts.
Im Bü ro brannte ein Nachtlicht. Cory stieg abermals aus und spä hte durch die
Fenster. Er suchte ü berall. Cal war verschwunden.

DREIZEHN
Robert Modale, Captain der Staatspolizei, betrachtete das Phantombild des
Bankrä ubers, das, weil es in Brians Hopwoods Tankstelle in der Schublade
gelegen hatte, ö lverschmiert und zerknittert war, und jetzt, da er die Wahrheit
kannte, sah er es: Das war das Gesicht des Mannes, mit dem er gestern erst auf
dem Parkplatz in St. Stanislas gesprochen hatte. Sie hatten sich ü ber Borreliose
unterhalten, aber wer hä tte geahnt, dass das der Gesuchte gewesen war? Die
Verbrecher, mit denen man es gewö hnlich zu tun hatte, waren nicht so dreist.
Captain Modale war ein ruhiger Mensch, der nicht zu Tem-
peramentsausbrü chen neigte, aber selbst fü r ihn war dies ein
außergewö hnlicher Augenblick. Ein unbeherrschterer Mann hä tte vielleicht
geflucht oder mit der Faust gegen die Wand geschlagen, doch Captain Modale
biss sich lediglich auf die Lippen, blä hte die Nasenflü gel ein wenig, nickte dem
Bild, das er in der ruhigen linken Hand hielt, zu und dachte: Nä chstes Mal
erkenne ich dich.
In diesem Augenblick – um zehn vor neun am Sonntag abend – stand der
Captain im hellerleuchteten Wohnzimmer eines alten Mannes namens Jack Riley,
der seinen Revolver, einen Smith & Wesson Ranger, Kaliber .22, als gestohlen ge-
meldet und damit diese ganze Kette von Ereignissen in Gang gesetzt hatte. Riley
hockte eifrig und mit glä nzenden Augen auf der Kante seines Sessels, in dem er
offenbar sonst immer saß und das Programm in dem Fernsehapparat da drü ben
verfolgte. Seine Enkelin Suzanne Gilbert, eine gutaussehende, wenn auch etwas
hemdsä rmelig wirkende Frau, der es anscheinend nicht viel ausgemacht hatte,
von dem Bankrä uber recht grob angefasst und gefesselt worden zu sein, saß auf
der Armlehne des Sessels und hatte ihrem Großvater beschü tzend den Arm um
die Schultern gelegt. Brian Hopwood, der noch immer seine schmutzige
Arbeitskleidung trug, stand neben dem Sofa und sprach durch Rileys Telefon mit
seiner Frau, erklä rte ihr, was geschehen war, und versicherte ihr womö glich, dass
jetzt alles in Ordnung sei. Trooper Oskott hielt an der Haustü r Wache.
Alle warteten darauf, dass Captain Modale sich einen Ü berblick verschaffte und
dann entschied, was als nä chstes zu geschehen habe, aber bei Gott, hier war ein
Haufen Zeug, ü ber das er sich einen Ü berblick verschaffen musste. An dieser
Sache waren, wie es dem Captain schien, zu viele Menschen beteiligt, und alle
standen in Beziehung zueinander.
Zunä chst mal dieser Bankrä uber, den alle hier als Ed Smith kannten – ein
Name, der, nachdem der Captain ihn in den Computer im Streifenwagen
eingegeben hatte, Tausende von Ergebnissen gebracht hatte, die allesamt kein
Stü ck weiterzufü hren schienen. Zunä chst also mal dieser Mr. Ed Smith, der ganz
gewiss nicht so hieß, aus praktischen Grü nden aber fü rs erste so heißen sollte.
Welcher Art waren die Beziehungen zwischen Smith und den anderen Leuten in
Pooley – nicht zu vergessen Fred Thiemann, diesem Burschen, den die Leute des
Captains vorhin auf der anderen Straßenseite erschossen hatten – und wie fest
waren sie, wie lange mochten sie schon bestehen?
Trooper Oskott hatte ihn von der Kaserne nach Pooley gefahren, und er war in
dieses Wohnzimmer gegangen, wo ihn die Leute erwarteten, die von den beiden
anderen Beamten, die Mr. Riley gerufen hatte, hierhergebeten worden waren.
Der Captain hatte den gelben Notizblock auf den dunklen Sofatisch geworfen, um
das Phantombild entgegenzunehmen, das Hopwood ihm unbedingt zeigen
wollte, und jetzt saß er auf dem Sofa – vor ihm lag der Notizblock, Riley und
diese Frau namens Gilbert saßen zu seiner Rechten, der Fernseher war zu seiner
Linken, Hopwood stand ebenfalls links von ihm am Ende des Sofas – und zog
einen Kugelschreiber aus der Tasche. Nachdem er das Phantombild unter den
Block geschoben hatte, drü ckte er auf den Knopf, der die Mine ausfahren ließ,
und sagte: »Ich mö chte erst mal auf diesen Smith zu sprechen kommen und auf
die Beziehung, in der sie alle zu ihm stehen.«
Suzanne Gilbert sagte in einem Ton, als sei sie im Begriff, sich ü ber diese Frage
zu empö ren: »Beziehung? Keiner von uns stand in irgendeiner Beziehung zu
ihm.«
»Ich hab den Kerl ja nicht mal zu sehen gekriegt«, sagte Riley.
Brian Hopwood, der soeben den Hö rer aufgelegt hatte, zog den kleinen Stuhl
heran, der neben dem Fernseher stand, und ließ sich so vorsichtig darauf nieder,
als befü rchte er, ihn schmutzig zu machen. »Ich hab ihn nur ein einziges Mal ge-
sehen, nä mlich heute nachmittag, als er bei mir getankt hat.«
»Aber Sie haben ihn gleich erkannt.«
»Nicht gleich. Aber ich hab darü ber nachgedacht, und als er das zweite Mal
reinkam, um sein Wechselgeld zu holen – er hatte das Geld, das er mir gegeben
hatte, nicht ganz aufgebraucht –, da wusste ich, wer er war, und dann hab ich das
Blö deste gemacht, was ich in meinem ganzen Leben gemacht hab.«
»Sie haben genau das getan, was ein guter Bü rger unter diesen Umstä nden tun
sollte«, sagte der Captain, obwohl er es selbst nicht glaubte.
Hopwood glaubte es ebenfalls nicht. »Ein guter Bü rger, der Sehnsucht hat zu
sterben«, lautete seine Vermutung.
Der Captain beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. An die anderen
gewandt sagte er: »Dann hatte bis heute also niemand von Ihnen mit diesem
Mann zu tun.«
Widerwillig, wie es schien, als nä hme sie noch immer Anstoß an dem Wort
»Beziehung«, sagte Suzanne Gilbert: »Na ja ... ich hab ihn gestern nacht gesehen.«
»Aha«, sagte der Captain und verbarg seine Ü berraschung. »Und wo haben Sie
ihn gesehen?«
»Da draußen«, sagte sie und nickte in Richtung des Fensters zur Straße. »Ich
bin vorbeigefahren, und er ging an der Straße entlang. Hier sieht man
normalerweise keine Leute herumlaufen.«
»Nein«, stimmte der Captain ihr zu. »Und Sie waren zufä llig hier?«
»Nein, ich fahre oft nach der Arbeit hier vorbei«, sagte sie, als hä tte er ihr etwas
vorgeworfen, das sie entschieden zurü ckweisen musste. »Wenn Jack mit mir
sprechen will, schaltet er das Verandalicht ein.«
»Aha. Und war das Verandalicht eingeschaltet?«
»Nein, war es nicht.«
»Ich war vor dem verdammten Fernseher eingeschlafen«, sagte Riley. »Wieder
mal.«
»Und da haben Sie also diesen Mann gesehen«, sagte der Captain. »Er ging
einfach die Straße entlang, sagen Sie.«
»Ja. Das fand ich seltsam, also hab ich angehalten und ihn gefragt, ob ich ihm
helfen kann, und er sagte, er sei bei Tom Lindahl zu Besuch –«
»Dem Mann, dessen Papagei erschossen worden ist.«
Sie sah ihn ausdruckslos an. »Wie bitte?«
Diese Leute wussten also noch nichts davon. »Nichts«, sagte der Captain, um
nicht abzulenken.
Aber Hopwood sagte: »Jemand hat einen Papagei erschossen?«
»Tom Lindahls Papagei.«
»Ich wusste gar nicht, dass er einen hatte«, sagte Hopwood. »Warum sollte
einer einen Papagei erschießen?«
»Damit er nicht redet«, sagte Riley und lachte gackernd.
»Jack!« sagte seine Enkelin tadelnd und rü ttelte ihn zurechtweisend an der
Schulter.
»Zurü ck zu Ihnen«, sagte der Captain zu ihr. »Der Mann, mit dem Sie gestern
nacht gesprochen haben, sagte also, er sei bei Tom Lindahl zu Besuch.«
»Ja.« Sie machte ein verwirrtes Gesicht und fü gte hinzu: »Da dachte ich, es ist
alles in Ordnung.«
»An der Tankstelle hatte er Toms Wagen«, sagte Hopwood. »Den kenne ich.«
Suzanne Gilbert sagte: »Hat er Tom auch was getan?«
»Das wissen wir nicht, Ma’am«, sagte der Captain. »Lindahl ist nicht zu Hause,
und sein Wagen ist auch weg.«
»Der Kerl hat Jeff Egglestons Wagen geklaut«, sagte Hopwood. »Der stand bei
mir, an der Tankstelle.«
»Den schwarzen Infiniti«, sagte der Captain. »Ja, ich weiß –wir fahnden nach
ihm.«
»Ich will damit sagen«, warf Hopwood ein, »wenn er Jeffs Wagen hat, kann er
nicht Toms Wagen haben. Man kann schließlich nur einen Wagen fahren.«
»Dann mü ssen wir also annehmen«, sagte der Captain, »dass Lindahl mit
seinem eigenen Wagen unterwegs ist. Hat irgendjemand eine Ahnung, wohin er
gefahren sein kö nnte?«
»Nirgendwohin«, sagte Hopwood, und Suzanne Gilbert sagte: »Als ich gestern
mit dem Mann gesprochen habe, hat er gesagt, dass Tom Lindahl ein Einsiedler
ist. Und ich glaube, das stimmt.«
Der Captain hielt inne und ü berlegte, welche Frage ihn in diesem Problem
weiterbringen wü rde, und in der kurzen Stille, die eintrat, lä utete die Tü rglocke
und ließ alle zusammenzucken. Der Captain sagte: »Trooper Oskott, bitte sehen
Sie mal nach.«
Der Trooper ging zur Tü r, ö ffnete sie und sprach kurz mit jemandem auf der
Veranda. Dann drehte er sich um und sagte: »Jemand fü r Sie, Captain.«
»Danke.« Der Captain erhob sich und sagte zu den anderen: »Ich glaube, wir
sind gleich fertig. Lassen Sie mich nachsehen, was es gibt.«
»Ich wü rde gern nach Hause gehen«, sagte Hopwood.
»Kann ich mir vorstellen«, sagte der Captain und trat auf die Veranda, wo ein in
Zivil gekleideter Inspektor der Staatspolizei namens Harrison ihn erwartete und
fragte: »Wie lä uft’s?«
»Ziemlich verwirrend.«
»Vielleicht hilft das hier ein bisschen: Mrs. Thiemann hat eine Aussage
gemacht.«
»Ja?«
»Sie sagt, ihr Mann war einer von denen, die gestern nach den flü chtigen
Bankrä ubern gesucht haben.«
»Ich hab sie gesehen«, sagte der Captain. »Er war mit dem verschwundenen
Lindahl und dem Burschen zusammen, den alle Smith nennen.«
»Sie sagt, ihr Mann hat gesagt, dass sie rauf zum Wolf Peak gefahren sind.«
»Stimmt.«
»Und dass ihr Mann dort oben einen Mann erschossen hat.«
Der Captain konnte seine Verblü ffung nicht verbergen. »Er hat was?«
»Irgendeinen alten Sä ufer, einen Penner oder so.« Harrison zuckte die
Schultern. »Thiemann war aufgeregt – er dachte, es wä re einer der Bankrä uber,
und dann hat er ihn erschossen.«
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte der Captain. »Der eine ist ein Bankrä uber,
der andere erschießt plö tzlich einen Menschen – und einen Papagei –, und der
dritte, der sein Leben lang ein ganz normaler, unauffä lliger Mensch war, ist auf
einmal verschwunden.«
»Die Sache ist die«, sagte Harrison. »Thiemann wollte sich stellen, aber Smith
hat es ihm ausgeredet. Er hat gesagt, das wä re das Beste fü r ihn.«
»Es war das Beste fü r Smith.«
»Ja, klar. Aber Thiemann hat es nicht ausgehalten. Seine Frau sagt, es hat ihn
wahnsinnig gemacht.«
Der Captain sah ü ber die Straße. »Also ist er hergefahren, um mit Smith
abzurechnen. Aber es war keiner da.«
»Da hat Lindahl Schwein gehabt«, sagte Harrison und korrigierte sich: »Da hat
irgendwer Schwein gehabt.«
»Dieser Smith«, sagte der Captain, »raubt in Massachusetts eine Bank aus, kann
fliehen, schafft es bis hierher, tut sich mit zwei anderen Leuten zusammen, mit
ganz normalen Leuten, und plö tzlich spielen alle verrü ckt.«
»Glauben Sie, er hat irgendwas mit ihnen angestellt?«
»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte der Captain und sah von der beleuchteten
Veranda auf die dunkle Straße. »Und wir werden erst erfahren, was hier wirklich
los war«, fuhr er fort, »wenn Tom Lindahl es uns erzä hlt. Ich wollte, wir hä tten
ihn hier.« Er nickte in die Dunkelheit. »Ja, Lindahl«, sagte er, »ich wü rde wirklich
zu gern wissen, wo Sie sind.«

VIERZEHN
Gegen halb zehn gä hnte Bill Henry, reckte sich und schob den Stuhl von dem
Schreibtisch zurü ck, auf dem die neueste Ausgabe von Angeln und Jagen schon
seit einiger Zeit aufgeschlagen, aber ungelesen lag. Er stand auf, gä hnte noch ein-
mal und sagte: »Ich glaube, ich werde mal ein bisschen herumlaufen.«
Max Evanson, mit dem er gewö hnlich die Nachtschicht hatte, sah etwas
ü berrascht von seiner Zeitschrift auf und fragte: »Herumlaufen? Wo denn?«
»Auf der Rennbahn. Im Gebä ude. Einfach ein paar Schritte machen.«
Max verstand noch immer nicht. Er war ein eher konservativer Typ, der, wie er
mehr als einmal gesagt hatte, nur an Dinge glaubte, die »Hand und Fuß« hatten.
Er sah keinen Grund, warum Bill oder er selbst oder sonst jemand, der auf der
Gro-More-Rennbahn Nachtdienst machte, vor Ablauf der Schicht von seinem
bequemen Stuhl im Wachraum aufstehen sollte. »Du willst auf der Rennbahn
herumlaufen?« sagte er. »Die ist zweieinhalb, drei Kilometer lang.«
»Ich will doch nicht auf der Bahn laufen«, sagte Bill. »Das meine ich nicht.
Schau mal, Max, Mitte nä chsten Monats bin ich hier raus, gerade rechtzeitig zu
Thanksgiving, und da sehe ich diesen Laden eben mit anderen Augen, verstehst
du?«
»Nein«, sagte Max.
»Ich arbeite jetzt seit siebenunddreißig Jahren hier«, sagte Bill. »Die letzten
fü nf davon in diesem blö den Wachraum, und ziemlich bald werde ich ü berhaupt
nicht mehr hier arbeiten.«
»Ich bin vierzehn Monate nach dir dran«, sagte Max. Es klang wie ein Gebet.
»Na, dann wird’s dir in vierzehn Monaten genauso gehen wie mir«, versicherte
ihm Bill.
»Und zwar wie?« Die Skepsis in Max’ Stimme war nicht zu ü berhö ren.
»Du wirst dich nicht direkt danach sehnen, aber –«
»Sehnen? Nach diesem Ding hier? Die Leute, denen der Laden gehö rt –«
»Nein, nicht sehnen«, beharrte Bill. »Es ist nur ... Wenn man so viel Zeit seines
Lebens an einem bestimmten Ort verbracht hat und weiß, dass man bald nicht
mehr dort sein wird, dann heißt das nicht unbedingt, dass einem was fehlen
wird, aber man will sich doch alles genau einprä gen.«
»Ich hab’s mir eingeprä gt«, versicherte ihm Max.
»Tja, ich werde also mal ein bisschen herumlaufen«, sagte Bill. »Pass schö n
auf.«
»Mhh«, sagte Max.

Um die behö rdlichen Auflagen und die Bedingungen der Versicherungen zu


erfü llen, war seit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine externe Firma fü r den
Schutz der Gro-More-Rennbahn zustä ndig. Die Rennbahn hatte einen Vertrag
ü ber sä mtliche Sicherheitsmaßnahmen – vom Aufsichtspersonal bis hin zu
Ü berwachungskameras – mit der Firma abgeschlossen, deren Angestellte in den
Genuss derselben, nicht besonders guten Kranken- und Rentenversicherung
kamen wie die Angestellten der Rennbahn.
Den grö ßten Teil seiner siebenunddreißig Jahre hatte Bill Henry als Aufsicht
am Eingang gearbeitet, und das hatte ihm gefallen. Es war angenehm, an der
frischen Luft zu sein, und außerdem interessanter, als, wie es gelegentlich
vorkam, in Uniform vor den Schaltern des Wettbü ros stehen zu mü ssen, mit dem
Revolver im Halfter und strengem Gesicht – als bestü nde auch nur entfernt die
Gefahr, dass einer der Wetter plö tzlich eine Waffe hervorzog und einen Ü berfall
versuchte. So was kam nicht vor.
Wenn ein Wachmann sich dem Rentenalter nä herte und trotz der braunen
Uniform und des Revolvers nicht mehr abschreckend genug wirkte, versetzte
man ihn zum Nachtdienst. Es war ein einfacher, leichter Job, sofern man, wie die
meisten Wachleute, gern las. Eine kurze Arbeitswoche mit reduziertem Lohn,
aber die Rente war in Sicht, und darum war das eigentlich kein Problem.
Teile des Gebä udes waren nachts verschlossen, zum Beispiel der Saferaum im
Keller und die Kasse im ersten Stock, aber sonst war fast alles
innerhalb des Begrenzungszauns zugä nglich und mit der feuerpolizeilich
vorgeschriebenen Notbeleuchtung versehen. Bill verließ den Wachraum und
ging erst durch den Korridor, vorbei an anderen Bü ro rä umen, und schließlich
hinaus und nach rechts zu der Absperrung nahe der Ziellinie. Die Hauptbahn war
ein langes, sich nach links und rechts erstreckendes und von trü ben Lichtern
beleuchtetes Oval, innerhalb dessen die etwas kleinere Grasbahn wie ein grü ner
Fluss lag, der den in einem anderen Grü nton schimmernden Kern des Ovals
umschloss. Dieser war mit einem verzierten Brunnen und mehrjä hrigen Blumen
geschmü ckt, die um diese Jahreszeit langsam verblü hten.
Nachts, wenn alles menschenleer war, wirkte die Bahn viel grö ßer als bei
Tag, als kö nnte man sie wahrscheinlich sogar vom Mond aus sehen, obwohl das,
wie Bill wusste, unmö glich war. Ihm gefiel diese Grö ße und Leere und die
Tatsache, dass es hier, trotz all dieser Weite, nie ein Echo gab. Es war, als saugte
die Bahn alle Gerä usche auf, so dass die ganze Szenerie ruhig und zeitlos und
auch ein bisschen unheimlich wirkte.
Er wandte sich nach links und ging an der Absperrung entlang in Richtung
Kurve, wo er den Weg zu den Stä llen einschlagen konnte, wenn ihm danach war,
doch das wü rde er heute wohl nicht tun. Es waren immer ein paar Pferdeknechte
und Trainerassistenten da, die dort auf Feldbetten oder in Schlafsä cken
ü bernachteten, weil es mit dem einen oder anderen Pferd irgendein Problem
gab, und diese Leute sahen es nicht gern, wenn man dort herumging und die
Tiere nervö s machte.
Bill spazierte zum Ende des Clubhauses und der Tribü ne, die beide ein einziges
Gebä ude bildeten, und bemerkte dabei den Lichtschimmer von Scheinwerfern,
die ü ber den weißen, das ganze Gelä nde umgebenden Holzzaun strichen.
Scheinwerfer? Sie waren außerhalb, so dass er nur einen Widerschein ü ber
dem Zaun sehen konnte, und als er stehenblieb und diese unerwartete
Erscheinung stirnrunzelnd musterte, erlosch das Licht.
Was hatte dort ein Licht zu suchen? Nachts sollte in dem Bereich jenseits des
Zauns eigentlich niemand sein. Es war etwa da, wo der Zufahrtsweg fü r die
Lieferanten endete, an der Stirnseite des Clubhauses, und wenn die Rennbahn
geschlossen war, gab es ü berhaupt keinen Grund fü r irgendwelchen Autoverkehr
auf diesem Weg.
Es sei denn, irgendjemand wollte den Pferden was tun.
Wie es so was geben konnte, hatte Bill noch nie verstanden, aber es gab eben
kranke Menschen, die gern Pferde verstü mmelten. Die sie mit Ä xten, Messern
oder Flaschen voller Sä ure angriffen.
Warum taten Menschen so etwas? Sie wurden doch jedesmal geschnappt,
blutverschmiert und sabbernd, und jedesmal in eine Klapsmü hle gesperrt, und
nie gab es irgendeine Erklä rung. Was immer schiefgelaufen war in einem solchen
Leben, in einem solchen Kopf – warum ließen diese Leute es an Pferden aus?
War es heute nacht mal wieder soweit? Bill wusste, dass es in erster Linie diese
Verrü ckten waren, die seinen Job als Nachtwä chter auf der Rennbahn notwendig
machten – sie und das stä ndige Risiko, dass ein Feuer ausbrach. War es also das,
was er hier entdeckt hatte: irgendeinen Verrü ckten mit einer Motorsä ge? War er
im Begriff, ein Held zu werden, ob er es nun wollte oder nicht?
Es wü rde wohl das beste sein, ins Clubhaus zurü ckzukehren und ein Fenster zu
suchen, durch das er einen Blick auf den Zufahrtsweg werfen konnte. Mal sehen,
was dort draußen war. Konnte ja nicht schaden.

FÜNFZEHN
Tom Lindahl fuhr nicht nur am Haupteingang der Rennbahn mit den stilisierten
Bullen rechts und links des Tors vorbei, sondern auch an dem Zufahrtsweg, der
nur an dem Sackgassenschild zu erkennen war und dem er bis zur Stirnseite des
Clubhauses hä tte folgen sollen. Er fuhr einfach weiter.
Ein, zwei Kilometer lang dachte er nicht einmal darü ber nach, was er eigentlich
tat, sondern fuhr, als wä re das seine einzige Absicht: endlos, ziellos
dahinzufahren. Es war leicht, es war trö stlich, und es war vollkommen sinnlos.
Nach ein paar Kilometern kam er ein wenig zur Besinnung, genug, um zu
begreifen, dass die Sache nicht funktionieren wü rde. Wä hrend der langen Fahrt
hierher hatte er Ed Smith nirgends gesehen. Er war zu der Ü berzeugung
gekommen, dass er ihn nie Wiedersehen wü rde, aber das bedeutete nicht, dass
er einfach immer weiterfahren konnte. Wohin denn? Wozu denn?
Ich kann nicht zurü ck, dachte er zum allererstenmal.
Es war ein beä ngstigender Gedanke. Er war auf einer dunklen Landstraße und
fuhr auf eine Kreuzung zu, an der ein hellerleuchteter Schnellimbiss stand. Er
weigerte sich, etwas zu denken, biss die Zä hne zusammen, um den Ansturm
der Gedanken zurü ckzuhalten, und fuhr, bis er den Schnellimbiss erreicht hatte,
wo er auf den Parkplatz einbog, im Halbdunkel hinter dem Gebä ude anhielt, das
Fenster ö ffnete und den Motor abstellte. Dann sank er auf dem Sitz zusammen
und starrte auf die Rü ckseite des Hauses, den Mü llcontainer und die mit
Fliegengitter bespannte Tü r, hinter der das blendendhelle Kü chenlicht brannte.
Ich kann nicht dorthin zurü ck. Er meinte Pooley, er meinte die kleine,
umgebaute Garage, in der er gewohnt hatte, er meinte sein ganzes Leben.
Er dachte nicht: Ich kann nicht zurü ck nach Hause. Das war kein
Zuhause, er hatte seit Jahren kein Zuhause mehr. Nein, es war der Ort, wo er
kampiert hatte, wo er darauf gewartet hatte, dass etwas passierte, obwohl dort,
bis Smith aufgetaucht war, nie irgend etwas passiert wä re, außer dass er eines
Tages aufgehö rt hä tte zu warten.
Aber Smith war aufgetaucht und hatte die Dinge ins Rollen gebracht. Tom war
ihm begegnet, hatte sich mit ihm zusammengetan, hatte ihm von der Rennbahn
erzä hlt, weil er gedacht hatte, er wolle Geld und Rache – aber da hatte er sich ge-
tä uscht. Was er in Wirklichkeit gewollt hatte, war eine Handgranate, die er
mitten in sein leeres, unerträ gliches Leben werfen konnte, und die hatte er ja
nun weiß Gott gefunden.
Er konnte nicht zurü ck, weil zu viele Leute ihn mit Smith gesehen hatten, und
wer Smith war, wü rde so oder so herauskommen. Wenn sie diesen Raub
durchzogen, wü rde die Aufmerksamkeit der Polizei sich automatisch auf Tom
Lindahl richten, und zwar einfach deshalb, weil er ein ehemaliger Mitarbeiter mit
einem Hass auf die Geschä ftsleitung war, und was wü rde sie dann finden? Den
mysteriö sen Ed Smith, der genau im rechten Augenblick aufgetaucht und wieder
verschwunden war.
Aber selbst ohne den Raub – wie lange wü rde Ed Smith’ Identitä t verborgen
bleiben? Fred Thiemann hatte einen Verdacht und wusste nur noch nicht so
recht, welchen. Jane, Freds Frau, war schlauer und hartnä ckiger als Fred, und
wenn sie erst einmal anfing, sich Gedanken ü ber Smith zu machen, wü rde das
Versteckspiel bald vorbei sein. Und steckten nicht auch Cal und Cory Dennison
ihre Nasen in alles mö gliche?
Tom blieb also nichts anderes ü brig, als zu tun, was er instinktiv tun wollte:
einfach weiterfahren, immer Richtung Sü den, und versuchen, jemand anders zu
werden, jemand anders an einem anderen Ort. Smith hatte gesagt, heutzutage sei
es unmö glich, einfach so zu verschwinden, aber das konnte nicht stimmen.
Immer wieder verschwanden Leute. Und weiß Gott, es gab nichts, was Tom
Lindahl sich sehnlicher wü nschte, als zu verschwinden.
Die einzige Frage war: Sollte er zurü ck zur Rennbahn fahren, um zu sehen, ob
Smith dort auftauchte? Er wusste, ohne Smith wü rde er heute abend keinen
Raub durchziehen – er wü rde das Clubhaus nicht betreten, er wü rde nicht mal
aus dem Wagen steigen. Aber er sollte wenigstens zurü ckfahren und einen
letzten Blick auf die Rennbahn werfen, bevor er mit diesem Teil seines Lebens
abschloss. Er wü rde Smith eine halbe Stunde geben, und dann wü rde er
davonfahren und nie mehr Tom Lindahl sein.
Sobald er diesen Entschluss gefasst hatte, war es ganz leicht – als wä re es
immer schon leicht gewesen; er war einfach zu nah dran gewesen, um den Weg
zu erkennen. Jetzt sah er ihn. Er ließ den Motor an und fuhr zurü ck bis zu dem
Zufahrtsweg mit dem Sackgassenschild, und diesmal bog er ein. Er folgte dem
Weg um die Rechtskurve zum Maschendrahtzaun, blieb vor dem Tor stehen, stieg
aber nicht aus, sondern sah durch den Zaun zum Clubhaus und schaltete nach
einer Weile die Scheinwerfer aus. Er brauchte sie nicht – er wusste ja, wo er war.
Im Dunkeln neben Toms offenem Fenster sagte Smith: »Na, dann wollen wir
mal.«
TEIL VIER

EINS
Parker sah, dass der graue Volkswagen Jetta Pooley hinter Toms Gelä ndewagen
verließ, und folgte ihm in dem Infiniti von Brian Hopwoods Tankstelle. Die beste
Gelegenheit, sich mit dem Jetta und den beiden darin zu befassen, kam kurz vor
der zweiten Straßensperre, als der Volkswagen zu einer geschlossenen
Tankstelle abbog. Parker hielt neben dem Wagen. Er wollte mit den Brü dern
reden und sehen, was er tun musste, um sie loszuwerden – vielleicht die Reifen
zerschießen oder die Zü ndung lahmlegen, irgendwas jedenfalls, das ihnen genug
Angst machte –, aber bevor er ein Wort sagen konnte, sprang dieser Idiot Cal aus
dem Jetta und schwenkte eine Kanone, und Parker legte ihn um.
Der andere hatte dann auch die Hosen voll und zischte davon wie ein
Wassertropfen in einer heißen Bratpfanne, aber Parker wusste, dass er
zurü ckkommen wü rde. Es war Corys Lebensaufgabe, seinem blö deren,
verrü ckteren Bruder zu helfen, und darum wü rde er, sobald seine Angst
nachgelassen hatte, zur Tankstelle zurü ckkehren.
Das einzige Problem war die Leiche. Ohne die Leiche w ü rde Cory die
Polizisten, die an der Straßensperre standen, zu weit entfernt, um den trockenen
Knall des Schusses zu hö ren, nicht alarmieren kö nnen. Die Polizisten langweilten
sich, sie waren weniger ü berzeugt denn je, dass sie hier irgend etwas Hilfreiches
finden wü rden, und sie durchsuchten auch keine Wagen mehr, nicht mal
Wagen, in denen zwei Mä nner saßen, und so lud Parker die Leiche in den
Kofferraum und passierte ohne Probleme die Straßensperre, indem er die
Wagenpapiere, die er in der Mappe mit der Betriebsanleitung gefunden hatte,
und William G. Dodds Fü hrerschein vorzeigte. Er warf die Leiche ein paar
Kilometer weiter, wo die Straße still, dunkel und leer dalag und weit und breit
kein Haus zu sehen war, die Bö schung hinunter, an deren Fuß er einen
unsichtbaren Bach munter plä tschern hö rte.
Kurz darauf hatte er Toms Gelä ndewagen, der noch immer zwanzig Kilometer
unter der erlaubten Hö chstgeschwindigkeit dahintrottelte, eingeholt. Er
ü berholte ihn, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot, und fuhr zur Rennbahn, wo
er den Infiniti links des Weges vor dem Zaun parkte, und zwar so, dass die
Schnauze zum Tor zeigte. Dann stellte er den Motor ab, schaltete die
Innenraumbeleuchtung aus, so dass sie auch dann nicht aufleuchtete, wenn er
die Tü r ö ffnete, und wartete.
Tom brauchte lä nger, als er hä tte brauchen dü rfen. Hatte er die Nerven
verloren? Wenn er einfach weitergefahren war, zu durchgedreht, um zu
erkennen, was das Beste fü r ihn war, wü rde Parker nichts anderes ü brigbleiben,
als wegzufahren und die Sache mit der Rennbahn zu vergessen. Ohne Toms
Schlü ssel und Ortskenntnisse wü rde er es nicht schaffen, hineinzukommen.
In diesem Fall wü rde er einfach die Nacht hindurch nach Sü den fahren. Kein
Geld von der Bank in Massachusetts und jetzt auch kein Geld von der Rennbahn.
Am Morgen wü rde er von dort, wo immer er dann war, Ciaire anrufen, damit sie
mit dem Wagen kam und ihn holte, und das wä r’s dann. Er hatte sie schon zu
lange nicht gesehen.
Doch da kam Tom. Parker sah die Scheinwerfer, die sich auf dem Zufahrtsweg
nä herten, und stieg aus dem Infiniti. Er ging langsam zu dem Tor, vor dem der
Gelä ndewagen zum Stehen kam, und sah im schwachen Licht der
Armaturenbeleuchtung Toms Gesicht. Parker nä herte sich der Fahrertü r, deren
Fenster geö ffnet war.
Tom saß einfach da und bemerkte Parker nicht, doch dann stellte er endlich
den Motor ab, und in der Dunkelheit sagte Parker: »Na, dann wollen wir mal.«

ZWEI
Parker trug die Reisetaschen, die noch immer in ihren Plastikhü llen steckten,
und folgte Lindahl, der dasselbe tat wie bei ihrem ersten Besuch: Er gab den
Code in die Alarmanlage neben dem Tor ein, schloss auf und fuhr den Wagen vor
die Tü r des Kä figs an der Rampe, die hinunter zum Saferaum fü hrte. Parker trat
an den Wagen, als Lindahl ausstieg, zum Zaun sah und fragte: »Haben Sie da
draußen einen Wagen?«
»Dazu kommen wir spä ter. Wir wollen jetzt schnell rein und wieder raus.«
»Gut. Okay.«
Wieder schloss Lindahl die Holztü r auf und fü hrte Parker auf demselben Weg
wie zuvor durch das Gebä ude. Diesmal stand in der Buchhaltung kein Teller mit
Essensresten, den er vom Tisch hä tte stoßen kö nnen, und von dem Schmutz, den
sie beim erstenmal hinterlassen hatten, war keine Spur mehr zu sehen. Lindahl
wartete, bis die Kamera im Korridor in die andere Richtung schwenkte, und dann
gingen sie zu der Tü r, die zum Treppenhaus fü hrte. Im Keller drü ckte Lindahl das
Gesicht an das kleine Fenster in der Tü r, um zu sehen, in welche Richtung die
Kamera gerade zeigte, und ging, den Schlü ssel bereits in der Hand, zur Tü r am
Ende des Korridors.
Wieder war es vollkommen dunkel, als sich die Tü r hinter ihnen schloss. Parker
wusste, dass Lindahl fü rchtete, die Kamera draußen kö nnte das Licht unter der
Tü r durchschimmern sehen, und so wartete er im Dunkeln, die Reisetaschen in
der Hand und einen Ellbogen gegen die geschlossene Tü r gedrü ckt, um nicht die
Orientierung zu verlieren.
Er hö rte das Schlurfen von Lindahls Fü ßen, als dieser sich vorsichtig auf die
Tü r zum Saferaum zubewegte. Es trat eine kleine Stille ein, dann wurde ein
Schlü ssel ins Schloss gesteckt und die Tü r geö ffnet, und schließlich flammte im
Saferaum die Deckenbeleuchtung auf, so dass Parker den Vorraum, in dem er
sich befand, sehen konnte: In der Ecke stand der Gabelstapler, und am anderen
Ende sah er das fensterlose Garagentor.
An diesem Abend standen zwei Paletten mit Geldkä sten auf dem Boden. Ein
nervö ses Grinsen flackerte ü ber Lindahls verä ngstigt wirkendes Gesicht, und er
sagte: »Wir haben unser Geld verdoppelt, hm?«
»Genau. Hier.«
Parker reichte Lindahl eine der Taschen. Lindahl nahm sie und sagte: »Und wie
sollen wir das jetzt machen?«
»Wir ö ffnen die Kä sten und packen das Geld in die Taschen. Lassen Sie die
Einer und Fü nfer liegen.«
»Nein, ich habe gemeint: Wie teilen wir es auf?«
Parker schü ttelte den Kopf. »Wir teilen es nicht auf. Was in Ihrer Tasche ist,
nehmen Sie mit.«
»Gut.«
Sie streiften die Plastikumhü llungen von den Taschen, als im Nachbarraum
blendendhelles Licht aufflammte. Sie erstarrten und sahen einander an, und von
nebenan ertö nte eine Stimme: »Ist hier jemand?« Die Stimme sollte ruhig und
fest klingen, doch sie zitterte ein wenig.
Parker gab Lindahl seine Tasche und zeigte auf den Winkel hinter der offenen
Tü r, wä hrend er auf die Tü rö ffnung zuging und rief: »Hallo? Wie komme ich hier
raus?«
Hinter ihm ging Lindahl auf Zehenspitzen und mit kalkweißem Gesicht in die
Ecke, und Parker trat in den Vorraum, wo er an der Tü r, durch die sie gekommen
waren, einen Mann in einer braunen Uniform sah. Er war groß, etwa eins
fü nfundneunzig, und frü her war er sicher muskulö s gewesen, doch jetzt war er
ä lter, hatte seine Form verloren und zu lange ein bequemes Leben gefü hrt. Im
hellen Licht der Neonrö hren verrieten die Augen und Wangenknochen Angst. Er
trug einen Revolver, doch der war nicht in seiner Hand, sondern steckte im
Halfter an der rechten Hü fte, und seine rechte Hand lag noch auf dem
Lichtschalter neben der Tü r.
Er sah Parker an und legte die Hand auf den Revolvergriff, lö ste aber nicht den
Sicherungsriemen. Ein tiefes Stirnrunzeln sollte seine Angst verbergen, als er
sagte: »Was zum Teufel machen Sie denn hier?«
»Ich suche den Ausgang.« Parker sah ü ber die Schulter zum Saferaum. »Wo bin
ich eigentlich?«
»Was soll das heißen: ›Ich suche den Ausgang«?« Der Wachmann spü rte, dass
keine Gefahr drohte, und entschied sich fü r jene distanzierte Barschheit, die im
Umgang mit Zivilisten vermutlich schon immer seine Taktik gewesen war.
Parker breitete die Hä nde aus. »Hier ist alles zu. Ich komme nicht raus aus
diesem verdammten Kasten.«
»Die Tü r da ist immer abgeschlossen«, sagte der Wachmann und wies mit dem
Kinn auf den Saferaum.
»Nein, die war nicht abgeschlossen«, sagte Parker. »Ich hab Licht gesehen und
dachte, da ist vielleicht ein Ausgang.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte der Wachmann. »Was machen Sie ü berhaupt
hier? Jeden Tag, wenn wir schließen, sehen wir ü berall nach, damit keiner mehr
im Haus ist.«
»Ich bin eingeschlafen«, sagte Parker. »Auf der Toilette, in einer Kabine.«
Er versuchte nicht, den Anschein zu er wecken, als wä re ihm das peinlich,
sondern stellte es sachlich fest. »Dabei hab ich gar nicht so viel getrunken. Aber
seit einiger Zeit arbeite ich Doppelschichten ...« Er zuckte die Schultern. »Kö nnen
Sie mich rausbringen?«
Der Wachmann war misstrauisch, wusste aber nicht recht, warum. Er nickte in
Richtung Saferaum und sagte: »Die Tü r ist immer abgeschlossen.«
»Sie war aber offen, so wie jetzt.« Parker zeigte auf die Tü rö ffnung. »Die Tü r
war eingehä ngt, und das Licht war an. Meinen Sie vielleicht, ich habe Schlü ssel?
Sehen Sie sich die Tü r an – ich hab sie nicht aufgebrochen, sie war offen. Es tut
mir leid. Wenn Sie die Polizei rufen wollen, nur zu, aber bringen Sie mich bitte
hier raus.«
Der Wachmann musterte ihn. »Wir gehen jetzt erst mal zum Wachraum«,
beschloss er.
»Nichts dagegen«, sagte Parker. »Wenn’s da einen Ausgang gibt.«
»Sie gehen voraus.«
»Okay. Aber Sie mü ssen mir sagen, wo es langgeht.«
Die rechte Hand des Wachmanns wanderte vom Revolvergriff zum Tü rknauf
hinter ihm. Er ö ffnete die Tü r, trat zur Seite und sagte: »Hier raus und dann den
Korridor entlang.«
»Okay.«
Als Parker an ihm vorbeiging, sah der Wachmann die Tü r mit einem
Stirnrunzeln an. »War die hier auch nicht abgeschlossen?«
»Nein, die war nicht mal zu.«
»Die ist aber immer zu.«
Parker wartete, wä hrend der Wachmann durch die Tü r trat und sie hinter sich
schloss. »War sie aber nicht«, sagte Parker. »Sie war nur angelehnt, ich konnte sie
einfach aufstoßen. Und dann hab ich da drin das Licht gesehen.«
»Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte der Wachmann und wies mit einer
Kopfbewegung zum Ende des Korridors. »Da entlang.«
»Okay.«
Sie gingen an der Tü r vorbei, die zu der Treppe fü hrte, ü ber die Lindahl und
Parker gekommen waren. Parker wandte nicht den Kopf, sondern sah geradeaus,
und der Wachmann sagte, er solle nach links in einen anderen Korridor ab-
biegen. Es war ein ganz anderer Weg als der, den Parker zuvor mit Lindahl
gegangen war, und er fü hrte zu einem Aufzug. Der Wachmann stieg also nicht
gern Treppen hinauf.
Er stand auch nicht gern allein mit Parker in der kleinen Metallkabine des
Aufzugs, denn er drü ckte sich an die Rü ckwand und sah Parker von der Seite an.
Die Hand hatte er wieder auf den Revolvergriff gelegt, und diesmal spielten die
Finger mit dem Sicherungsriemen.
Oben war der Korridor mit Teppich ausgelegt. »Nach links.«
Parker ging wieder voraus. »Rechts durch die offene Tü r«, sagte der
Wachmann.
Parker trat in den Raum. Es war der Wachraum: Reihen von Monitoren, in
Wandgestellen festgeschlossene Schrotflinten und diverse Tische, von denen
allerdings nur einer besetzt war, und zwar von einer etwas kleineren Version des
ersten Wachmanns, ebenso außer Form wie sein Kollege.
Bei Parkers Anblick wollte er sich erheben, setzte sich jedoch wieder, als der
andere eintrat. Mit einem Blick auf seinen Kollegen sagte er: »Bill? Wen hast du
denn da?«
»Er war im Saferaum.«
»Was?« Jetzt stand er auf und musterte Parker stirnrunzelnd, sprach aber
weiter zu dem anderen Wachmann. »Was macht er hier?«
»Er sagt, er sucht den Ausgang. Er sagt, er ist auf dem Klo eingeschlafen.« Er
zeigte auf die Bildschirme und sagte: »Hast du ihn auf einem der Monitore
gesehen?«
»Ich hab nur dich gesehen, sonst nichts.« Er wandte sich zu Parker. »Wie sind
Sie hier reingekommen?«
»Zu Fuß.«
Das gefiel ihm nicht. »Nicht frech werden.«
»Ich hab dem da« – Parker zeigte auf Bill – »schon erzä hlt: Ich bin
eingeschlafen, dann bin ich aufgewacht und hab versucht, den Ausgang zu
finden, aber alles war abgeschlossen.«
»Außer dem Saferaum«, sagte Bill. »Wie findest du das?«
»Nicht sehr komisch«, sagte der andere und fragte Parker: »Haben Sie noch
jemanden dabei?«
»Ich hab keinen gesehen«, sagte Bill.
»Wenn ich auf dem Klo einschlafe«, sagte Parker, »dann meistens allein.«
Der zweite Wachmann wurde langsam wü tend. Er musterte Parker lange mit
einem scharfen Blick und sagte dann: »Vielleicht sollte ich Sie ein bisschen
weichklopfen.«
»Lass uns die Polizei anrufen«, sagte Bill.
»Das kö nnen wir spä ter machen«, sagte sein Kollege. Er sah Parker noch immer
wü tend an, wies auf den Tisch und sagte: »Machen Sie die Taschen leer.«
»Okay.« Parker zog die Pistole aus der Tasche, zeigte sie ihnen und trat einen
Schritt nach links, damit er beide Mä nner im Auge hatte. »Reicht das?«
»Oh, du verdammter –« Der zweite war jetzt rot im Gesicht und noch wü tender
als zuvor. Er machte eine Bewegung, als wollte er um den Tisch herumkommen.
»Max! Mensch, Max, vierzehn Monate, denk dran!«
Das ließ Max innehalten oder jedenfalls langsamer werden. »Was hast du uns
denn da angeschleppt?« stö hnte er.
»Auf den Boden«, sagte Parker, »alle beide, da drü ben. Gesicht nach unten.«
Keiner bewegte sich. »Wir sind zu zweit«, sagte Max.
»Gleich seid ihr nicht mal mehr allein. Ihr legt euch auf den Boden, egal, ob mit
Loch im Kopf oder ohne. Jetzt.«
»Vierzehn Monate, Max«, sagte Bill und ging steif in die Knie. Er hatte Mü he,
sich zu setzen, und noch mehr Mü he, sich auf den Bauch zu legen.
Max sah ihm angespannt zu. Er wollte sich von diesem bewaffneten Fremden
nicht demü tigen lassen, doch schließlich wurde ihm klar, dass ihm nichts
anderes ü brigblieb. Er versuchte, sich eleganter zu setzen als sein Kollege, doch
das misslang ihm, und schließlich verlor er das Gleichgewicht und landete mit
einem dumpfen Plumps auf seinem Hintern. Er legte sich rasch auf den Bauch
und wendete das Gesicht ab.
»Wo bewahrt ihr die Handschellen auf?« fragte Parker.
»Leck mich«, sagte Max zum Teppich.
»Vielleicht sollte ich Sie ein bisschen weichklopfen«, sagte Parker.
»Sie sind in dem Tisch, auf dem der Blumentopf steht«, sagte Bill. »In der
untersten Schublade.«
Parker holte sie hervor und warf sie zwischen den beiden Wachmä nnern auf
den Boden. »Bill, Sie legen sie Max an.«
Max murmelte: »Verdammt, verdammt, verdammt«, verstummte aber, als er
hö rte, dass Bill sich auf die Knie erhob. Alle warteten, was Bill tun wü rde. Ein
paar Sekunden lang tat er gar nichts.
»Das reicht jetzt, Bill«, sagte Parker. »Tun Sie’s.«
Bill war verlegen. »Tut mir leid, Max«, sagte er, als er ihm mit den Handschellen
die Hä nde auf den Rü cken fesselte.
»Verdammt, warum lassen wir uns das gefallen?«
»Weil er eine Pistole hat, Max.«
»Wir doch auch!«
»Aber er hat seine in der Hand.«
»Auf den Bauch, Bill«, sagte Parker, legte ihm das zweite Paar Handschellen an
und stellte Stü hle zwischen die Beine der Mä nner, damit sie sich nicht auf den
Rü cken drehen oder herumwä lzen konnten. Nach einem letzten Blick auf die
Monitore, die leere Rä ume und Korridore zeigten, ging er mit schnellen Schritten
zum Aufzug.

DREI
Lindahl saß auf den beiden gefü llten Reisetaschen. Die Kasseneinsä tze lagen,
noch voller Mü nzen und kleiner Scheine, verstreut zwischen den geö ffneten
Kä sten. Lindahl schien angestrengt nachzudenken, und es dauerte einen Augen-
blick, bis er merkte, dass Parker zurü ck war. Er schrak zusammen, sprang auf
und sagte: »Bin jetzt ich dran?«
Parker sah ihn an. »Womit?«
»Ich kenne den Mann«, sagte Lindahl. »Ich hab seine Stimme erkannt. Er heißt
Bill und arbeitet schon ewig hier.«
»Stimmt, er heißt Bill.«
»Ein ziemlicher Schrank. Mir fä llt sein Nachname nicht ein.«
»Sie haben die Taschen vollgepackt«, sagte Parker. »Gut.«
Lindahl musterte sie und sagte: »Ich hab es mö glichst gleich aufgeteilt. Wenn
das jetzt noch eine Rolle spielt.«
»Dann lassen Sie uns mal raus hier.«
Lindahl rü hrte sich nicht. Er hielt den Blick auf die Reisetaschen gerichtet, als
ü berlegte er noch immer, wie Bills Nachname lautete, sah Parker dann von der
Seite an und sagte: »Sie haben ihn umgebracht, stimmt’s?«
»Nein«, sagte Parker. »Warum hä tte ich das tun sollen?«
»Ich hab Sie hierhergebracht, ich hab Sie in diese Sache hineingezogen. Aber
Sie gehö ren hier nicht hin – zu diesen Leuten. Ich muss immer an Fred denken.«
Parker wollte so schnell wie mö glich verschwinden, aber Lindahl machte
offenbar eine Art Krise durch und brauchte Zeit. »Was ist mit Fred?«
»Er dreht durch. Er hat einen Menschen getö tet, und jetzt dreht er durch.«
»Ich glaube, er war vorher schon ein bisschen verrü ckt«, sagte Parker.
»Vielleicht wegen seinem Sohn oder was weiß ich. Er hat einen Mann
erschossen, der weder fü r ihn noch fü r sonst jemanden eine Gefahr war.«
»Er hä tte sich stellen sollen. Er hat’s nur wegen Ihnen nicht getan.«
»Es wä re schlecht fü r ihn gewesen, sich zu stellen. Im Knast wä re er nicht
weniger verrü ckt geworden.«
»Aber er hä tte es jetzt nicht auf dem Gewissen«, sagte Lindahl. »Und dieser
Mann wä re jetzt nicht mehr da oben ... Sie wü rden seine Familie ausfindig
machen. Er wü rde eine Beerdigung bekommen.«
»Kann sein. Tom, wir mü ssen jetzt diese Taschen hier rausschaffen, und dann
ist alles vorbei.«
»Wenn Sie Bill umgebracht haben«, sagte Lindahl, »werden Sie mich jetzt
ebenfalls umbringen.«
»Tom«, sagte Parker, »man legt nur dann einen um, wenn es absolut
unumgä nglich ist. Es bringt die Bullen dermaßen gegen einen auf- die werden
noch wilder, als sie jetzt schon sind.«
»Wo ist er?«
Parker runzelte die Stirn. Das dauerte zu lange. »Bill hat Handschellen an und
liegt mit dem anderen – Max – auf dem Boden im Wachraum.«
»Sie hatten Handschellen dabei?«
»Die waren im Wachraum. Tom, hö ren Sie auf damit. Wir mü ssen hier raus.«
Lindahl sah zur Tü r, als wollte er zum Wachraum gehen und sich davon
ü berzeugen, dass seine alten Freunde Bill und Max noch am Leben waren,
doch dann schü ttelte er den Kopf und sagte: »Man stellt es sich immer anders
vor. Man stellt sich vor, wie es anders laufen kö nnte.«
»So wie es jetzt gelaufen ist«, sagte Parker, »mü ssen wir hier verschwinden.«
Lindahl holte tief Luft. »Sie haben recht«, sagte er, ging zur Tü r und zog die
Schlü ssel aus der Tasche.

VIER
Parker wartete in der Tü r, wä hrend Lindahl mit den Schlü sseln zum Kasten der
Alarmanlage am Ende des Korridors ging. Mit einem Schlü ssel schloß er den
Kasten auf, mit einem zweiten schaltete er die Alarmanlage aus.
Dies war die Alarmanlage, die es erforderlich gemacht hä tte, wieder
hierherzukommen, nachdem sie das Geld rausgebracht hatten. Sie hä tten das Tor
von innen geschlossen und die Alarmanlage wieder eingeschaltet, und dann
wä ren sie auf dem anderen Weg wieder hinausgegangen – alles nur, damit das
Warnlicht im Wachraum nicht zu blinken begann. Jetzt, da Parker die beiden
Wachmä nner gefesselt hatte, spielte es keine Rolle, ob das Licht blinkte oder
nicht. So ging es einfacher und schneller.
Lindahl ö ffnete das Garagentor, und sie sahen die Rampe, die hinauf zum
Parkplatz fü hrte, wo hinter dem Maschendrahtkä fig der Ford-Gelä ndewagen
stand. Parker sah Lindahl nach, der die Rampe hinaufging, drehte sich dann um
und holte eine der Reisetaschen aus dem Saferaum. Als er wieder im Korridor
war, kam ihm Lindahl entgegen – zu frü h und ohne den Wagen. Er sah
beunruhigt aus.
»Irgendwas stimmt da nicht«, flü sterte er.
Parker stellte die Tasche ab. »Was?«
»Da oben ist noch ein Wagen«, sagte Lindahl. »Ein grauer Wagen. Er steht
direkt hinter meinem Ford. Ich habe niemanden darin sitzen sehen.«
»Nein, es sitzt keiner drin«, sagte Parker. »Wenn er seinen Wagen direkt hinter
Ihrem geparkt hat, dann darum, damit er die Fahrerseite sehen kann. Er ist
irgendwo links, im Dunkeln, an einer Stelle, wo er sowohl die Tü r, durch die wir
gegangen sind, als auch die Fahrerseite seines Wagens sehen kann. Wir mü ssen
auf dem einen oder anderen Weg hinaus, und das weiß er.«
»Aber wer?« Lindahl sah Parker mit zusammengekniffenen Augen an, als wä re
es schwieriger geworden, ihn zu erkennen. »Wissen Sie, wer das ist?«
»Cory Dennison.«
»Cory! Was zum Teufel will der denn hier?«
»Unser Geld.« Parker machte einen Schritt in Richtung Rampe, ging aber nicht
hinauf.
»Ist Cal nicht dabei?« fragte Lindahl.
»Nein, es ist nur Cory, aber das reicht ja.«
Lindahl schü ttelte den Kopf. »Cory und Cal sind immer zusammen, sie machen
nichts allein.«
»Diesmal«, sagte Parker, »ist es nur Cory.«
Lindahl starrte ihn an und versuchte, eine Frage zu formulieren. Parker wartete
und sagte dann: »Gibt es was, was Sie wissen mö chten?«
Lindahl dachte nach. Er sah besorgter aus denn je. Schließlich sagte er: »Vorhin
war eine Weile ein Wagen hinter mir – es kö nnte der da draußen gewesen sein.
Waren das Cal und Cory?«
»Ja.«
»Da waren sie zu zweit, und jetzt ist es nur noch Cory. Wartet Cal irgendwo?«
»Nein.«
Lindahl nickte und wendete den Blick ab. »Unser Problem ist«, sagte Parker,
»dass er uns hier in der Falle hat. Wir dü rfen nicht viel Zeit verschwenden.
Vielleicht hat einer der Wachmä nner eine Frau, die ihn gern spä t in der Nacht an-
ruft, und was passiert, wenn keiner ans Telefon geht?«
Lindahl hö rte auf, sich Gedanken ü ber Cal zu machen, und drehte sich zu der
Rampe um. »Sie haben recht. Wenn ich raufgehen und seinen Wagen mit meinem
wegschieben wü rde...«
»Er hat den Gang eingelegt und die Handbremse angezogen. Kö nnen Sie sich
doch vorstellen. Und sobald Sie in Ihren Wagen steigen und den Motor anlassen,
erschießt er Sie.«
»Aber wir mü ssen hier raus.«
»Wir kommen schon hier raus. Ist das Tor in dem Maschendrahtkä fig
aufgeschlossen?«
»Ja, das Schloss ist offen, aber das Tor ist noch zu. Ich hab beim Aufschließen
den anderen Wagen gesehen.«
»Schalten Sie hier unten die Lichter aus«, sagte Parker, »und verhalten Sie sich
ruhig.«
Er ging zur Rampe, aber Lindahl sagte: »Warten Sie.«
»Was ist?«
»Und wenn ...« Lindahl wies mit einer unbestimmten Geste auf die Rampe.
»Wenn Cory anstatt mir herunterkommt?« fragte Parker.
»Ja.«
Parker nickte zu der Tü r, die zum Korridor fü hrte. »Gehen Sie da entlang. Sie
haben die Schlü ssel – schließen Sie hinter sich ab.«
»Mein Wagen.«
»Die Wachmä nner haben Pistolen«, sagte Parker. »Holen Sie sich eine und tun
Sie Ihr Bestes. Und Licht aus.«
»Okay.«
Wä hrend Lindahl die Lichter ausschaltete, sah er zum Garagentor.
FÜNF
Die Pistole in der Hand, ging Parker im Dunkeln die Rampe hinauf, blieb vor dem
geschlossenen Tor stehen und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit
gewö hnt hatten. Im Moment stand kein Mond am Himmel, aber viele helle Sterne
gaben der Welt einen leichten samtiggrauen Schimmer. Auf der anderen Seite des
Maschendrahttors sah er die dunklen Umrisse von Lindahls schwarzem
Gelä ndewagen und dahinter den grauen Jetta. Weiter links, an dem Zaun, der am
Clubhaus endete, standen, undeutlich auszumachen, ein paar Wagen, die zur
Rennbahn gehö rten. Links und rechts verschwanden die Zä une, die diesen Platz
einfassten, im Bogen in der Dunkelheit.
Parker wusste, dass der Platz die Form eines großen Trapezes hatte, an dessen
kurzer Seite das Clubhaus stand. Von dort fü hrten zwei zweieinhalb Meter hohe
Bretterzä une zum Begrenzungszaun, der das ganze Gelä nde umgab. Hier drinnen
gab es nur nackten Boden und kurzes Gras, lediglich dort drü ben, links von ihm,
standen ein paar Wagen. Dort musste Cory sein.
Es war unmö glich, das Tor des Maschendrahtvorbaus lautlos zu ö ffnen. Der
Riegel bestand aus einer Metallstange mit U-Profil, die angehoben werden
musste. Das Gerä usch, das dabei entstand, war leise, aber scharf; Cory hatte es
bestimmt gehö rt.
Das Tor hatte zwei Flü gel. Parker zog den rechten gerade so weit auf, dass er
durch die Ö ffnung schlü pfen konnte, kauerte sich vor Lindahls Gelä ndewagen
nieder und kroch, die Pistole in der Hand, links an dem Ford vorbei und auf die
geparkten Wagen zu. Wenn er sich nach links oder rechts bewegte, wü rde Cory
ihn als Silhouette vor dem weißen Clubhaus oder dem weißen Zaun ausmachen
kö nnen, doch wenn er vor den beiden dunklen Wagen und dem Vorbau blieb,
wü rde er allenfalls als undeutlicher Schemen zu sehen sein.
Es war absolut still, bis auf das fast unhö rbare Scharren seiner Bewegungen auf
dem von Unkraut ü berwucherten Boden. Dann vernahm er von weiter vorn ein
metallisches Klicken, und im nä chsten Augenblick flammten zwei Scheinwerfer
auf.
Es waren die eines großen Lastwagens. Sie waren hö her angebracht als bei
einem Personenwagen und etwas nach rechts gerichtet, doch in dem Streulicht
war deutlich zu sehen, dass Parker auf dem Boden lag, auf halbem Weg zwischen
dem Tor und den geparkten Wagen.
Parker zerschoss den Scheinwerfer, der ihm nä her war, und rollte sich nach
rechts, auf den Lastwagen zu. Im selben Augenblick hö rte er von vorn einen
Schuss und hinter sich das Klirren eines Autofensters. Er lag wieder auf dem
Bauch, zerschoss auch den zweiten Scheinwerfer und wä lzte sich erneut nach
links, wä hrend Cory zweimal feuerte und dabei noch immer zu hoch zielte, wie
die meisten, die auf etwas schießen, das sich unterhalb von ihnen befindet.
Cory verschwendete nicht noch mehr Munition. Parker stü tzte sich auf die
Ellbogen, richtete sich halb auf und rannte geduckt los. Das Scheinwerferlicht
hatte ihn geblendet, so dass er nicht viel sehen konnte, aber Cory ging es ver-
mutlich nicht anders.
Die Hecktü r eines Rettungswagens. Der Lastwagen, dessen Scheinwerfer Cory
eingeschaltet hatte, stand weiter rechts. Parker lief hinter dem Rettungswagen
bis zum Zaun. Er spä hte in beiden Richtungen daran entlang, doch es war
niemand zu sehen. Er wartete und lauschte.
Stille. Cory war noch immer irgendwo hier, bei den Wagen. Wenn er schlau war,
rü hrte er sich nicht und wartete darauf, dass Parker etwas unternahm, denn
Parker musste etwas unternehmen – er konnte nicht bei Tagesanbruch noch
immer hier herumlaufen.
Cory war wahrscheinlich nicht in dem Wagen mit den Scheinwerfern, sondern
hatte sicher durch das Seitenfenster gegriffen, um sie einzuschalten. Vermutlich
war er dazu auf das Trittbrett gestiegen, was auch erklä rte, warum es bis zu den
Schü ssen einen Augenblick gedauert hatte: Er hatte erst heruntersteigen
mü ssen.
Ob er wohl noch dort drü ben war, in der Nä he des Wagens? Hatte er Parker
rennen sehen? Hatte er eine Vermutung, wo Parker jetzt war?
Zeit fü r einen Ortswechsel. Den Rü cken an den Zaun gedrü ckt, schob Parker
sich nach links. Neben dem Rettungswagen stand, ebenfalls mit der Schnauze
zum Zaun, ein Pick-up, dann kamen ein einachsiger, nach vorn gekippter Pferde-
transporter und ein kleiner Feuerwehrwagen, der rü ckwä rts eingeparkt worden
war.
War das der Wagen gewesen, dessen Scheinwerfer aufgeleuchtet hatten? Das
nä chste Fahrzeug war wieder ein Pick-up, der ebenfalls mit dem Heck zum Zaun
stand, doch er war zu klein und kam nicht in Frage.
Parker legte sich hinter dem Feuerwehrwagen auf den Boden und sp ä hte
unter den Wagen hindurch, ob er Corys Fü ße sehen kö nnte. Nein – Cory war
nicht in unmittelbarer Nä he des Feuerwehrwagens, und alles, was weiter
entfernt war, konnte Parker nicht erkennen.
Gerade als er sich wieder erhob, leuchtete weiter links erneut ein
Scheinwerferpaar auf. Er drehte sich danach um, doch beinahe im selben
Augenblick erloschen die Lichter wieder, und die Dunkelheit war noch finsterer
als zuvor.
Cory wusste also nicht, wo Parker war, und konnte sich nun denken, dass er
irgendwo zwischen den Wagen umherschlich. Parker bewegte sich vorsichtig auf
die Stelle zu, wo die Scheinwerfer aufgeleuchtet hatten, als er plö tzlich jemanden
rennen hö rte.
Das Fenster auf der Fahrerseite des Pick-ups war geschlossen, aber die Tü r ließ
sich ö ffnen, worauf die Innenbeleuchtung aufflammte. Parker schaltete die
Scheinwerfer ein: Cory rannte, so schnell er konnte, auf das Tor und die Rampe
zu. Er verschwand hinter dem Ford, als Parker, einen Sekundenbruchteil zu spä t,
feuerte.
Parker schaltete die Scheinwerfer aus, knallte die Tü r des Pick-ups zu und
rannte Cory nach. »Tom!« rief er. »Bleiben Sie in Deckung!«
Als er das Tor erreicht hatte, hielt er inne und lauschte. Von unten war kein
Laut zu hö ren. War Lindahl ins Clubhaus gegangen und hatte die Tü ren hinter
sich abgeschlossen, oder schlich Cory nun dort herum? Oder wartete er in der
Dunkelheit dort unten darauf, dass Parker ihn verfolgte?
Parker duckte sich und kroch vor den Ford, vor dessen dunkler Silhouette er
fü r jeden am Fuß der Rampe unsichtbar war. Er wartete und hö rte keinen Ton,
und langsam merkte er, dass im Keller keine absolute Dunkelheit herrschte. Im
Korridor, der zum Vorraum fü hrte, brannte noch immer das Licht – ein gelber
Schimmer, der durch das dicke Glas des kleinen Fensters in der Tü r fiel.
Das Tor stand ein wenig offen, wie er es vorhin verlassen hatte. Er schob sich
seitlich hindurch, wartete und kroch langsam vorwä rts. Zentimeter fü r
Zentimeter schlich er tiefgeduckt die Rampe hinunter, die linke Hand auf dem
geneigten Betonboden hinter sich, in der Rechten den Revolver. Er ließ das trü be
leuchtende Rechteck des Fensters nicht aus den Augen und hoffte, dass sich
irgendjemand daran vorbeibewegte.
Wä hrend er sich voranarbeitete, atmete er flach und lautlos durch den Mund.
Er lauschte auf irgendwelche Gerä usche, die ihm verraten wü rden, wo Cory war,
hö rte aber nichts.
Am Fuß der Rampe angekommen, blieb er in der Hocke und stü tzte sich nun
mit der linken Hand nach vorn ab. Die Reisetasche, die er aus dem Saferaum
hierhergebracht hatte, musste irgendwo links vor ihm liegen; er bewegte sich in
diese Richtung, ohne das beleuchtete Fenster aus den Augen zu lassen.
Da war die Tasche. Er drehte sich langsam und ließ sich darauf nieder, die Knie
gespreizt, die Unterarme auf die Beine gelegt, so dass die Hä nde locker und
entspannt hingen. Es war nicht viel Zeit zu verlieren, doch hierfü r war noch ge-
nug Zeit. Er wü rde warten, Cory wü rde sich verraten, und Parker wü rde ihn
umlegen. Er wü rde warten, Lindahl wü rde zurü ckkommen und irgendein
Gerä usch machen, das Cory aus der Deckung treiben wü rde, und Parker wü rde
ihn umlegen.
Das kleine, gelbleuchtende Rechteck dort oben in der Tü r sah aus wie das
Fenster einer Burg auf einem Berg. Ruhig atmend beobachtete Parker es. Er
erlaubte seinem Kö rper, sich zu entspannen, und wartete.

SECHS
»Ed! Ed! Sind Sie da unten?«
Vielleicht zehn Minuten waren vergangen, auf keinen Fall mehr. Die beiden
warteten lautlos im Dunkeln, und mit einemmal ertö nte dieser halblaute Ruf
vom oberen Ende der Rampe. Lindahl war also doch nicht im Clubhaus, sondern
dort oben, draußen, beim Tor und den beiden Wagen.
Parker behielt das gelbe Fenster in der Tü r im Auge und setzte sich auf. Die
Hand mit dem Revolver ruhte jetzt auf seinem rechten Knie. Wenn Lindahl
draußen war, hatte er den Weg bis zu der Tü r, durch die sie ins Haus gegangen
waren, zurü ckverfolgt. Und wenn er das getan hatte, war er doch bestimmt bei
den Wachmä nnern gewesen, um nachzusehen, ob sie noch lebten, und ihnen die
Waffen abzunehmen. Wenn das stimmte, dann hatte er diesen Raum nicht
verlassen, als Parker ihm die Warnung zugerufen hatte, sondern schon frü her,
nä mlich in dem Augenblick, als Parker die Rampe hinaufgegangen und
verschwunden war. Und zwar, weil er zu diesem Zeitpunkt schon den Plan
gehabt hatte, sich die Revolver der Wachmä nner zu holen.
Um sich zu verteidigen oder um Parker aufs Kreuz zu legen?
»Ed! Wo zum Teufel stecken Sie?«
»Kommen Sie runter.« Das war Cory, von der anderen Seite des dunklen Raums.
Er hatte versucht, seine Stimme rauh und undeutlich klingen zu lassen.
Aber er hatte nicht wie Parker geklungen, denn Lindahl antwortete vom oberen
Ende der Rampe mit einem leichten Beben in der Stimme: »Wer ist da? Cory, bist
du das?«
Es trat eine lange Stille ein, und dann sagte Cory mit seiner eigenen Stimme:
»Ja. Komm runter.«
Parker zielte auf die Stelle, wo die Stimme herkam, doch sie verstummte zu
schnell. Solange er nicht sicher sein konnte, dass er treffen wü rde, schoss er
lieber nicht.
Lindahl machte keine Anstalten herunterzukommen. Er fragte: »Wo ist Ed?«
»Er hat meinen Bruder umgebracht.« Wieder zu kurz, um sicher zielen zu
kö nnen.
»Ich weiß«, sagte Lindahl. »Hast du ihn getö tet, Cory?«
Eine weitere lange Pause. »Ja.«
»Hö r zu, Cory«, sagte Lindahl. »Mit mir hast du doch keine Rechnung offen,
oder?«
»Nein.«
»Ich hatte nichts mit dem zu tun, was er mit Cal gemacht hat. Als er’s mir
erzä hlt hat, hä tte ich kotzen kö nnen.«
Cory gab keine Antwort – was hä tte er auch antworten sollen?
»Komm, Cory«, sagte Lindahl, »mach das Licht da unten an und lass uns
beraten, was wir jetzt tun sollen.«
»Wo ist der Schalter?«
»Siehst du das Fenster in der Tü r links von dir? Der Schalter ist gleich links von
der Tü r.«
»Okay.«
Parker hob die Pistole. Cory wü rde vor dem Fenster vorbeigehen.
Aber Lindahl am oberen Ende der Rampe hatte einen anderen Blickwinkel und
sah Cory frü her vor der Tü r und dem erleuchteten Fenster vorbeigehen, und
daher war es Lindahl, der einen der Revolver der Wachmä nner abfeuerte. Und
danebenschoss.
Parker rollte auf den Boden neben der Reisetasche, als Cory schrie, die Tü r
aufriss und aus dem Raum rannte, wä hrend Lindahl noch zwei Kugeln
verschwendete.
Es war nur einen Augenblick hell gewesen, als die Tü r geö ffnet war – danach
herrschte wieder Dunkelheit. Hatte Lindahl in diesem Augenblick Parker auf
dem Boden neben der Tasche gesehen? Parker wartete und lauschte, hö rte Lin-
dahl aber nicht herunterkommen, und so stand er auf, ging zur Tü r und spä hte
rasch durch das Fenster. Er sah nur den leeren Korridor. Cory war schnell
verschwunden.
Was wü rde er jetzt tun? Hö chstwahrscheinlich wü rde er einen Ort suchen, wo
er Rü ckendeckung hatte und er auf eine Gelegenheit hoffen konnte, Lindahl zu
erledigen, bevor dieser ihn erledigte. Und warum hatte Lindahl geschossen? Weil
er, wie Parker, begriffen hatte, dass Cory sich fü r den Tod seines Bruders an
ihnen beiden rä chen wollte.
Und was hatte Lindahl nun vor? Parker ging die Rampe hinauf und hö rte, als er
oben angekommen war, leise Gerä usche. Er trat neben den Ford und sah, dass
der Jetta leicht schwankte. Lindahl machte sich darin zu schaffen.
Es dauerte eine Weile, bis Parker sich zusammengereimt hatte, was geschehen
war. Corys erster Schuss auf Parker hatte das hintere Seitenfenster auf der
Fahrerseite des Jetta durchschlagen. Der Wagen war natü rlich abgeschlossen,
aber Lindahl hatte durch das Loch im Fenster gegriffen und die Tü r entriegelt.
Von draußen hatte er jedoch die Verriegelung der Fahrertü r nicht erreichen
kö nnen, und daher war er in den Wagen gestiegen und kletterte nun unbeholfen
und hastig und vor Anstrengung grunzend vom Rü cksitz nach vorn.
Sollten Cory und Lindahl sich miteinander beschä ftigen. Lindahl war zu sehr in
Anspruch genommen, um irgend etwas zu bemerken, und so ging Parker am
Clubhaus entlang, vorbei an der Tü r, durch die sie zuvor ins Haus gelangt waren,
und folgte dem Zaun zu den geparkten Wagen. Bei dem ersten, einem großen
Pferdetransporter mit Kastenaufbau, blieb er stehen.
Inzwischen stieg Lindahl aus dem Jetta – offenbar hatte er erledigt, was er dort
hatte erledigen wollen. Cory hatte sicher die Schlü ssel mitgenommen, also hatte
Lindahl nur den Leerlauf einlegen und die Handbremse lö sen kö nnen.
Ja. Lindahls Ford stand mit der Schnauze zur Rampe, die hintere Stoßstange
berü hrte die hintere Stoßstange des Jetta. Lindahl setzte sich ans Steuer des
Fords, legte den Rü ckwä rtsgang ein und schob den Jetta fort. Nach einigen
Metern wendete er, setzte zurü ck ans obere Ende der Rampe und stieg aus.
Wollte er nichts gegen Cory unternehmen? Oder hatte er begriffen, dass er jetzt
ohnehin nicht mehr in sein altes Leben zurü ckkehren konnte und es daher keine
Rolle spielte, ob ihm jemand, den er aus jener Zeit kannte, nach dem Leben
trachtete? Glaubte er, mit zwei Taschen voller Geld stü nden seine Chancen auf
eine erfolgreiche Flucht besser als mit einer? Oder hatte er Cory geglaubt, als
dieser behauptet hatte, Parker sei tot – obwohl Cory das nur gesagt hatte, um
Parker hervorzulocken oder Lindahl davon zu ü berzeugen, dass die Schießerei
vorü ber sei.
Lindahl ö ffnete beide Flü gel des Tors, fuhr rü ckwä rts die Rampe hinunter und
verschwand. Im nä chsten Augenblick ging dort unten das Licht an, und eine
Sekunde spä ter schwang die Tü r zum Clubhaus auf, und Cory trat heraus.

SIEBEN
Es war hier oben praktisch genauso dunkel wie zuvor. Anscheinend hatte Lindahl
nur die Lampen im Saferaum angeschaltet – er befü rchtete wohl, mehr Licht
kö nnte draußen Aufmerksamkeit erregen. Doch der Widerschein war immerhin
so ausreichend, dass Parker sehen konnte, wie Cory, die Pistole in der Hand, aus
der Tü r trat, innehielt und zunä chst in Richtung des Lichts und dann zu den
geparkten Wagen schaute.
Parker konnte Corys Gedanken hö ren, als sprä che der sie laut aus. Er war sich
nicht sicher, ob eine seiner Kugeln Parker getroffen hatte. Solange er nicht
wusste, wo Parker – oder seine Leiche – war, wagte er es nicht, sich zu zeigen. Er
wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb, bis Lindahl mit dem Geld die Rampe
hinauffuhr, doch zunä chst musste er sich um Parker kü mmern.
Wä hrend Cory dies alles durch den Kopf ging und er in der Tü r zum Clubhaus
stand, als bestü nde die Mö glichkeit, dass er umkehrte und wieder hineinging,
beschloss Parker zu handeln. Am Rettungswagen waren neben der Hecktü r Lei-
tersprossen angebracht. Parker kletterte hinauf und legte sich auf den Bauch,
den Kopf zur Seite gewendet, um Cory zu beobachten. Dieser war schließlich zu
dem Schluss gekommen, dass er zwischen den geparkten Wagen nach Parker su-
chen und dabei schnell und vorsichtig vorgehen musste.
Das alles machte ihn nervö s und schwä chte seine Wut. Als er unten, in der
Dunkelheit, gewartet hatte, war er ebenso still gewesen wie Parker – sonst wä re
er nicht mehr am Leben. Doch als er jetzt zwischen den Wagen umherschlich,
keuchte er – ein hektisches, rasselndes Schnaufen, anhand dessen man seinen
Weg durch das Dunkel verfolgen konnte, als hä tte er eine Karte gezeichnet.
Es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um auf Cory zu schießen, denn ein
Schuss wü rde Lindahl irgendwohin fliehen lassen, und Parker wollte, dass
Lindahl sich, fü r den Augenblick jedenfalls, nicht von der Stelle rü hrte. Also blieb
er auf dem Rettungswagen liegen, wä hrend Cory unten in die Fü hrerhä user
spä hte und unter den Wagen nachsah, immer noch keuchend und die Hand mit
der Pistole ausgestreckt.
Parker wartete. Das Keuchen bog um die Front des Rettungswagens und
bewegte sich an ihm entlang. Parker packte seinen Revolver am Laufund
schlug den Kolben krä ftig auf den bebenden Hinterkopf. Cory stü rzte vornü ber
und fiel mit dem Gesicht auf den Boden. Er kam so unvermittelt zum
Stillstand wie ein Filmprojektor, der noch das letzte Bild zeigt.
Parker kletterte vom Rettungswagen und machte sich nicht die Mü he, nach
Cory zu sehen. Wenn er tot war, war er tot. Wenn er noch lebte, wü rde er fü r eine
Weile außer Gefecht sein.
Als Parker das offene Tor am oberen Ende der Rampe erreichte, war Lindahl
gerade dabei, die zweite Tasche im Kofferraum hinter den Rü cksitzen des
Gelä ndewagens zu verstauen. Parker ließ ihn weitermachen und ging zu dem Tor
in dem Begrenzungszaun, das sie geschlossen, aber nicht verriegelt hatten. Er
trat durch die Ö ffnung, als am Clubhaus die hellen Scheinwerfer des Fords in den
Himmel leuchteten und sich dann senkten, als der Wagen von der Rampe auf den
Parkplatz fuhr. Parker wandte sich nach rechts und stellte sich hinter den
Holzzaun.
Am Tor musste Lindahl anhalten, um es zu ö ffnen, und als er ausgestiegen war,
trat Parker ins Scheinwerferlicht und sagte: »Sie haben unser Geld.«
Lindahl strauchelte. Er versuchte, sich an einem der Torflü gel festzuhalten,
doch der schwang auf, und Lindahl wä re beinahe gestü rzt. »Ed! Herrgott!«
Lindahl hatte keine Waffe in der Hand, also steckte Parker den Revolver ein, als
er um den Torflü gel herumging, und sagte: »Helfen Sie mir, meine Tasche
umzuladen.«
»Klar ... Sie ... Er hat gesagt, Sie sind tot.«
»Er hat sich geirrt. Kommen Sie, Tom, bringen wir’s hinter uns.«
Parker ö ffnete die Heckklappe und sah die beiden lä nglichen Taschen, die an
Leichensä cke erinnerten. Lindahl stellte sich neben ihn. Auch er betrachtete die
Taschen. »Ich hab’s getan«, sagte er, und seine Stimme war leise, aber stolz. »Ich
weiß, wir haben’s gemeinsam durchgezogen, aber ich hab’s getan. Nach all den
Jahren.«
»Wir legen sie einfach draußen auf den Boden«, sagte Parker und griff nach der
oberen Tasche. »Da drü ben am Zaun.«
»Ich soll Ihren Wagen nicht sehen.«
»Sie brauchen meinen Wagen nicht zu sehen. Kommen Sie, Tom.«
Sie packten die Tasche an den Enden, trugen sie um den Wagen herum durch
das Tor und legten sie am Zaun auf den Boden. Lindahl sah sie an und sagte: »Die
meiste Zeit war ich sicher, wenn wir es je schaffen wü rden – und ich hab eigent-
lich nicht geglaubt, dass wir es schaffen wü rden –, dann wü rden Sie ...« Er sprach
den Satz nicht zu Ende und machte eine unbestimmte Geste.
»Sie waren sicher, dass ich Sie umlegen wü rde«, sagte Parker. »Ich weiß.«
»Sie hä tten es jederzeit tun kö nnen.«
»Sie haben mir diesen Job vorgeschlagen«, sagte Parker, »Sie haben ihn mit mir
durchgezogen, und das hier gehö rt Ihnen.«
Lindahl kicherte – hier draußen war das ein seltsames Gerä usch. »Sie meinen«,
sagte er, »da gilt so was wie Ganovenehre?«
»Nein«, sagte Parker, »ich meine, ein Profi ist ein Profi. Fahren Sie los, Tom, und
meiden Sie Straßensperren. Dieser Wagen ist inzwischen vielleicht heiß.«
»Ich werd’s schon schaffen«, sagte Lindahl. Das Kichern hatte in ihm eine
Leichtigkeit, ein Selbstvertrauen geweckt – es war, als hä tte er etwas getrunken.
»Bis dann«, sagte er und setzte sich ans Steuer des Fords. Das Fenster der
Fahrertü r war offen. Er sah hinaus und wollte vielleicht noch etwas sagen, doch
Parker schü ttelte den Kopf, und so legte Lindahl einfach den Gang ein und fuhr
davon.
Als Lindahl die Zufahrtsstraße erreicht hatte, die zur Landstraße fü hrte, ging
Parker zu dem Infiniti, um ihn zu der Stelle zu fahren, wo die Tasche lag. Als er
ausstieg, war Lindahl nicht mehr zu sehen. Parker fragte sich, wie weit er wohl
kommen wü rde.

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