Manfred Krebernik
GÖTTER UND MYTHEN
DES ALTEN ORIENTS
Verlag C.H.Beck
Zum Buch
Manfred Krebernik bietet in diesem Band einen konzisen Über-
blick über die altorientalische Götterwelt und über die Mythen,
die sich die Bevölkerung in Mesopotamien von ihren Gottheiten
erzählte. Er skizziert den Kulturraum, in dem Göttervorstellun-
gen und Mythen entstanden sind, und erläutert die Quellen, aus
denen wir von ihnen hören. Dann stellt er die Göttinnen und
Götter vor, beschreibt ihre Aufgabenbereiche, skizziert Formen
der Verehrung, Kulte und Kulthandlungen, Rituale und Gebete,
magische Praktiken sowie Grundzüge der Weissagungstechnik.
Über den Autor
Manfred Krebernik lehrt als Professor für Altorientalistik an der
Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet dort die Hilprecht-
Sammlung Vorderasiatischer Altertümer.
Mit 4 Abbildungen und 2 Karten
Bildzitatnachweis
Abb. 1: Aus L. W. King, Babylonian Boundary Stones, London 1912 (The
British Museum), Tafel 1 | Abb. 2: Aus A. Parrot, Sumer, München 1960, S.
72, Abb. 89. | Abb. 3: Aus B. Hrouda (Hg.), Der alte Orient, Gütersloh 1991,
S. 222 | Abb. 4: Aus P. O. Harper u. a. (Hgg.), The Royal City of Susa, New
York 1992 (The Metropolitan Museum), S. 138, Abb. 87. | Karten auf den
Umschlaginnenseiten: Peter Palm, Berlin
Ein Register und eine ausführliche Bibliographie
zu diesem Buch finden Sie im Internet unter
www.chbeck.de/go/Krebernik-Götter-und-Mythen
1. Auflage. 2015
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2012
Umschlaggestaltung: Uwe Göbel, München
Umschlagabbildung: Sphinx, nordsyrisch, Elfenbein (Arslan-Tash)
um 900, Aleppo, Nationalmuseum, © akg-images/Erich Lessing
ISBN Buch 978 3 406 60522 2
ISBN eBook 978 3 406 61228 2
Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel
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Informationen.
Inhalt
Hinweise zum Gebrauch 6
1. Der geographische und historische Rahmen 9
2. Die Quellen 25
3. Allgemeines zu den Gottheiten des
altorientalischen Polytheismus 43
4. Hauptgestalten der altorientalischen Götterwelt 57
5. Die wichtigsten Mythen 79
6. Religiöses Leben 96
Abbildungen 122
Genealogische Übersicht über die Hauptgestalten
des mesopotamischen Pantheon 124
Chronologische Übersicht 126
Bibliographische Hinweise 128
Hinweise zum Gebrauch
Abkürzungen
Geschichtliche Perioden
Bei Datierungen ohne den Zusatz «n. Chr.» ist immer «v. Chr.»
zu ergänzen. Da sich viele Objekte, Personen, Regierungszeiten
oder Ereignisse nur ungenau datieren lassen, werden oft Perio-
denbezeichnungen benutzt, die wie folgt abgekürzt sind:
altbab. altbabylonisch (ca. 2000 – 1500)
mittelbab. mittelbabylonisch (ca. 1500 – 1000)
neuassyr. neuassyrisch (ca. 1000 – 600)
neubab. neubabylonisch (ca. 1000 – 500)
spätbab. spätbabylonisch (ca. 500 – 1. Jh. n. Chr.)
Sprachen
akk. akkadisch (babylonisch-assyrisch)
arab. arabisch
aram. aramäisch
dt. deutsch
engl. englisch
hatt. hattisch
hebr. hebräisch
heth. hethitisch
hurr. hurritisch
griech. griechisch
lat. lateinisch
sum. sumerisch
ugar. ugaritisch
Sonstiges
GN Göttername
PN Personenname
Hinweise zum Gebrauch 7
Zur Umschrift
Für altorientalische und andere fremdsprachliche Namen und
Wörter wird die jeweils übliche wissenschaftliche Transkription
verwendet. Die hierbei vorkommenden Sonderzeichen und ihre
konventionelle Aussprache sind:
ā, â, ī, î etc. lange Vokale
ʾ Stimmabsatz wie zwischen e und a in beantwor-
ten
ʿ wie arab. ʿ (stimmhafter pharyngaler Reibelaut)
ḏ wie th in engl. this (stimmhafter Interdental)
ĝ wie ng in lang
ḥ wie arab. ḥ (stimmloser pharyngaler Reibelaut,
«heiserer» h-Laut)
ḫ wie ch in Bach
q wie arab. q (weit hinten artikulierter k-Laut)
š wie sch in scharf
ṣ wie z in zu oder wie arab. ṣ («emphatischer»
s-Laut)
ṭ wie arab. ṭ («emphatisches» t)
ṯ wie th in engl. thing (stimmloser Interdental)
z wie in engl. zero (stimmhafter s-Laut); in heth.
Wörtern wie dt. z
Alle Namen von Gottheiten und mythischen Wesen sind der
leichteren Auffindbarkeit wegen kursiv gesetzt. Kursiv gesetzt
sind ferner fremdsprachliche Wörter und Zitate.
Transliterationen (d. h. Zeichen-für-Zeichen-Umschriften)
keilschriftlicher Wörter und Namen sind unterstrichen. Index-
zahlen dienen hier zur Unterscheidung gleichwertiger Keil-
schriftzeichen; die zu einem Wort gehörigen Zeichen sind durch
Bindestrich oder Punkt voneinander abgesetzt; hochgestellte
Buchstaben geben als Determinative (semantische Klassifika-
toren) gebrauchte Keilschriftzeichen wieder (zum Gottesdeter-
minativ s. S. 44).
Für das Sumerische existiert keine ganz einheitliche Tran-
skription. Die Schwankungen betreffen: (1) bestimmte Laute
8 Hinweise zum Gebrauch
und Wörter, die heute anders rekonstruiert werden als früher
wie z. B. Mardu statt Martu, Ur-Namma statt Ur-Nammu; (2)
Auslautkonsonanten, die im Sumerischen (ähnlich wie im Fran-
zösischen) nur vor folgendem Vokal ausgeprochen wurden und
in Umschriften teils berücksichtigt werden, teils nicht, wie z. B.
in dem Ortsnamen Eridu(g) oder im Namen der Göttin Inanna,
dessen auslautendes -k (sum. Genitivendung) gewöhnlich nicht
wiedergegeben wird; (3) die in der sumerischen Orthographie
begründete Doppelsetzung von Konsonanten, die heute in Um-
schriften oft ignoriert wird. So wird der keilschriftlich E2-an-na-
tum2 notierte Personenname heute oft Eanatum umschrieben.
In diesen Fällen wird, um die Benutzung älterer Literatur zu
erleichtern, die konventionelle Umschrift verwendet, also Ur-
Nammu, Martu bzw. Eannatum.
Akk. Nomina werden in der Regel ohne das auslautende -m
(«Mimation») der älteren Sprache zitiert, das um die Mitte
des 2. Jt.s schwand, aber noch oft geschrieben wurde, also
z. B. ilu statt ilum «Gott». Bei ugar. Wörtern und Namen sind
die Kasusendungen weggelassen, also z. B. Baʿl statt Baʿlu
(Nominativ).
Die meisten altorientalischen Personen- und Götternamen
sind aus mehreren Wörtern zusammengesetzt. Diese werden in
der Umschrift oft durch Bindestrich getrennt, doch ist der Ge-
brauch nicht einheitlich. In diesem Buch werden lediglich Göt-
ternamen als Bestandteile von Personennamen abgetrennt, also
z. B. Narām-Sîn oder Amar-Su’ena.
Gleichbedeutende Götternamen sind durch Schrägstrich ge-
trennt, der erste ist in der Regel sumerisch, der zweite akka-
disch. Antike und moderne Ortsnamen sind ebenfalls durch
Schrägstrich getrennt, ersterer steht voran.
Wenn eingedeutschte Formen (die bei Eigennamen oft aus der
biblischen Tradition stammen) gebräuchlich sind, werden diese
benutzt, z. B. Assur statt Aššur, Asarhaddon statt Aššur-aḫa-id-
dina, Nebukadnezar statt Nabû-kudurra-uṣur, Zikkurrat statt
ziqqurratu.
1. Der geographische und historische Rahmen
Der Kulturraum «Alter Orient». Der Begriff «Alter Orient»,
wie er hier verwendet wird, bezeichnet einen historischen Kul-
turraum, der durch Gebrauch und Verbreitung der Keilschrift
definiert ist. Diese – neben der ägyptischen – älteste Schrift der
Menschheit entstand um 3300 v. Chr. im Süden des heutigen
Irak (wahrscheinlich in der Stadt Uruk) und wurde bis ins 1. Jh.
n. Chr. als Medium mehrerer verschiedener Sprachen benutzt.
Es handelt sich um eine Weiterentwicklung früherer Zählsym-
bole und Zahlnotationen, die für administrative Zwecke ge-
schaffen und lange ausschließlich für solche verwendet wurde.
Das gewöhnliche Medium der Keilschrift war die Tontafel; das
Eindrücken der Zeichenelemente mit einem dreikantigen Griffel
in feuchten Ton ergab das typische Erscheinungsbild, dem sie
ihren Namen verdankt. Das auf dem Boden der heutigen Staa-
ten Irak und Syrien gelegene Kerngebiet der Keilschriftkultur
wird mit einem antiken griechischen Terminus, der sich ur-
sprünglich nur auf dessen nördlichen, syrischen Teil bezog, Me-
sopotamien genannt, frei übersetzt das «Land zwischen den
Strömen» – nämlich Euphrat und Tigris. Der südlichste Teil
wird nach seinen ältesten bekannten Bewohnern «Sumer» ge-
nannt. Fast deckungsgleich, aber etwas weiter nach Norden bis
in die Gegend des heutigen Bagdad ausgreifend, wird der Be-
griff «Babylonien» gebraucht. Zur Zeit ihrer größten Ausdeh-
nung (ca. 1400–1200 v. Chr.) erstreckte sich die Keilschriftkul-
tur vom Persischen Golf bis ans Mittelmeer und von Anatolien
bis nach Ägypten.
Ungefähr in dieselbe Zeit wie die archaischen Keilschrifttexte
aus Uruk datieren die ältesten ägyptischen Schriftdenkmäler.
Ein Zusammenhang zwischen beiden Schriftschöpfungen ist
nicht auszuschließen. Keilschrift und ägyptische Schrift ähneln
sich strukturell, insofern ihre Zeichen als Wortzeichen (Logo-
10 Geographischer und historischer Rahmen
gramme), semantische Klassifikatoren (Determinative) und
Lautzeichen (Phonogramme) gebraucht werden können. Erste-
res war die ursprüngliche Verwendung. Durch rebusartigen Ge-
brauch erhielten die Wortzeichen auch abstrakte Lautwerte. Im
Falle der Keilschrift waren dies Silben, im Falle der ägyptischen
Schrift Konsonanten(gruppen). Letztere blieb im Unterschied
zur Keilschrift fast gänzlich auf eine einzige Sprache, nämlich
das Ägyptische, beschränkt. Auf ihr Modell geht jedoch die Al-
phabetschrift zurück, die um 1800 erfunden wurde und später
in ihren verschiedenen Ausprägungen die älteren Schriftsysteme
verdrängen sollte. Die Schriftsysteme Ägyptens und Mesopota-
miens dürften auch die weniger langlebigen Schriftschöpfungen
des 2. Jt.s im ägäisch-kleinasiatischen Raum angeregt haben wie
die kretische und hethitische Hieroglyphenschrift sowie die «Li-
near»-Schriften Kretas, Zyperns und Griechenlands. Auf keil-
schriftlichen Impulsen beruhen die «protoelamische» Schrift
(Anfang 3. Jt.) im heutigen Iran und vielleicht auch die Schrift
der Indus-Kultur (ca. 2600–1900).
Gebrauch und Verbreitung der Keilschrift definieren nur
einen Ausschnitt aus einem weiteren kulturhistorischen Kon-
tinuum. Dieser Ausschnitt mag ziemlich willkürlich erschei-
nen. Man kann ihm jedoch aus zwei Gründen eine gewisse
Berechtigung zuerkennen: (1) Die keilschriftlichen Quellen
sind den anderen frühen Schriftcorpora – von denen einige
wie die Indus-Schrift noch gar nicht entziffert sind – überle-
gen an Umfang und Vielfalt, aber auch an sprachlicher Präzi-
sion, da die Keilschrift im Unterschied zur ägyptischen und
zur frühen Alphabetschrift, die nur Konsonanten notieren,
auch Vokale wiedergeben kann. Der durch keilschriftliche
Quellen beleuchtete Kulturraum hebt sich somit für den mo-
dernen Betrachter von seiner Umgebung ab. (2) Die Keil-
schrift ist als kulturelles Band nicht zu unterschätzen. Aufgrund
ihrer Genese und Frühgeschichte eng mit den Hauptspra-
chen Mesopotamiens, Sumerisch und Akkadisch, verwoben,
vermittelte sie im Zuge ihrer Verbreitung nicht nur diese
Sprachen, sondern auch kulturelle Inhalte, Texte, Wörter und
Namen. Da der keilschriftliche Kulturraum ethnisch, sprach-
Geographischer und historischer Rahmen 11
lich, kulturell und historisch heterogen ist, scheint es ange-
bracht, ihn zunächst im Rahmen eines historischen Streifzuges
vorzustellen.
Historischer Überblick. Die Vorstellungen und Werte des alt-
orientalischen Kulturraumes waren in seßhafter Lebensweise,
Ackerbau und Viehzucht verwurzelt. Gegen 12 000 v. Chr., nicht
lange nach dem Abklingen der letzten Eiszeit, wurde der Vorde-
re Orient zum Schauplatz kulturgeschichtlicher Neuerungen,
die man häufig mit einem von dem britischen Historiker G. Chil-
de geprägten Ausdruck als «neolithische Revolution» bezeich-
net. Die wichtigsten Errungenschaften des Neolithikums (Jung-
steinzeit) waren dörfliche Siedlungen, die Domestizierung von
Pflanzen (besonders der im Nahen Osten beheimateten Getrei-
dearten Weizen und Gerste) und Tieren (Ziege, Schaf, Rind und
Schwein) sowie die Herstellung von Gefäßen aus gebranntem
Ton (ab ca. 7000 v. Chr.). Noch während des Neolithikums kam
der Gebrauch des Kupfers auf, der sich um 3000 allgemein
durchsetzte (Bronzezeit). Gegen 1200 begann die Eisenzeit. Die
Kernzone der Neolithisierung, der «Fruchtbare Halbmond»,
erstreckte sich von der Levante über Südostanatolien und die
Abhänge des Zagros-Gebirges bis zum Persischen Golf. Die
südmesopotamische Tiefebene wurde relativ spät von neoli-
thischen Siedlern erschlossen, da dort die Niederschlagsmenge
für den Regenfeldbau zu gering war. Zwecks landwirtschaft-
licher Nutzung mußten sie das an sich fruchtbare Schwemm-
land künstlich bewässern. Trotz oder auch aufgrund dieser
Herausforderung wurde Südmesopotamien zu einem Zentrum
der kulturellen Entwicklung. Die dort gegen 6000 entstandene
Obed-Kultur (benannt nach einem in Obed zuerst beobachteten
Keramikstil) expandierte im 5. Jt. weit nach Nordwesten (wo
sie die Halaf-Kultur überlagerte) und den Persischen Golf ent-
lang nach Südosten. Um 3500 bildete sich in Südmesopotamien
die ersten Stadtstaaten heraus, deren Gesellschaft und Kultur
auf hochgradiger Spezialisierung und Arbeitsteilung sowie auf
überregionalen Handelsbeziehungen beruhte. An der Spitze die-
ser Entwicklung stand die Stadt Uruk /Warka, wo wohl auch die
12 Geographischer und historischer Rahmen
Keilschrift geschaffen wurde (um 3300). Die nach ihr benannte
Uruk-Kultur breitete sich noch weiter als die Obed-Kultur nach
Nordwesten, aber auch nach Osten in das iranische Hochland
aus, bis die expansive Phase um 3000 aus ungeklärten Gründen
abrupt endete.
Die ersten Keilschrifttexte enthalten zwar, da sie lediglich
Begriffszeichen verwenden, noch keine klaren Hinweise auf
die zugrundeliegende Sprache, doch dürfte Südmesopotamien
schon zur Zeit der Schrifterfindung von Sumérern bewohnt ge-
wesen sein. Ihr Name ist von der erst Jahrhunderte später be-
zeugten akkadischen (s. u.) Landes- und Volksbezeichnung māt
Šumerim «Land Súmer» abgeleitet, wofür die Sumerer selbst
Ki-engi(r) sagten; ihre Sprache, für die bislang keine Verwandt-
schaft sicher nachgewiesen wurde, tritt uns erst in etwas jün-
geren Schriftfunden aus Uruk, Ğemdet Naṣr (um 3000) und Ur
(um 2700) deutlich entgegen. In Südmesopotamien existierten
damals verschiedene sum. Stadtstaaten, zwischen denen z. T.
engere Beziehungen bestanden. Den Schriftfunden aus Šuruppag /
Fāra (um 2600) und Abū Ṣalābīḫ (etwas jünger) lassen sich
zwar noch keine Herrscherabfolgen und Datierungen entneh-
men, doch sind sie von gößter Bedeutung für die altorientalische
Kulturgeschichte, denn sie umfassen neben den üblichen Ver-
waltungstexten zum ersten Mal und in großem Umfang auch
«literarische» Gattungen: Hymnen auf Gottheiten und Tempel,
Mythen und Beschwörungen. Gesicherten historischen Boden
erreichen wir um ca. 2500 im Stadtstaat Lagaš (mit den Haupt-
orten Lagaš und Ĝirsu). Von den Stadtfürsten der dort re-
gierenden Dynastie (ca. 2500–2350) haben sich zahlreiche In-
schriften und datierte Wirtschaftstexte erhalten, aus denen sich
zum ersten Mal ein abgerundetes Bild von den religiösen Ver-
hältnissen in einem frühen Staatsgebilde gewinnen läßt. Die
Stadtfürsten von Lagaš berufen sich in ihrem Grenzkonflikt mit
dem benachbarten Stadtstaat Umma auf den König von Kiš als
Schiedsrichter, der im späten Frühdynastikum die Oberherr-
schaft über mehrere südmesopotamische Stadtstaaten ausübte.
Kiš liegt in Nordbabylonien, das damals schon überwiegend
von einer semitischsprachigen Bevölkerung besiedelt war, den
Geographischer und historischer Rahmen 13
Akkadern. Ihr Name ist von der bei Bagdad zu lokalisieren-
den Stadt Akkad(e) abgeleitet, der Hauptstadt des ersten meso-
potamischen Großreiches, das König Šarrukīn bzw. Sargon
(so die biblische Form des Namens, den auch zwei späte-
re assyrische Herrscher trugen) um 2340 gründete, nachdem
er einer späteren Legende zufolge seine Karriere als Mund-
schenk des Königs von Kiš begonnen hatte. Das Akkadische
(mit seinen Hauptdialekten Babylonisch und Assyrisch) bildete
den (heute ausgestorbenen) östlichen Zweig der semitischen
Sprachfamilie.
Als Sargon auf seinen Eroberungszügen nach Syrien vorstieß,
war die Keilschrift dort bereits verbreitet, wie Textfunde aus
Mari, Beydar und vor allem die 1974 / 5 entdeckten Archive von
Ebla (24. Jh.) bezeugen. Diese umfassen neben Tausenden von
administrativen Texten auch «literarische» und «lexikalische».
Zu ersteren gehören sum. Beschwörungen, deren Wortlaut
man schon durch ca. 200 Jahre ältere, im südmesopotamischen
Šuruppag ausgegrabene Tontafeln kannte. Aus Mesopotamien
hatten die Schreiber von Ebla auch eine akk. Hymne auf den
Sonnengott Šamaš und sein in Sippar gelegenes Heiligtum im-
portiert; eine ältere Tontafel mit derselben Dichtung war bereits
in Abū Ṣalābīḫ ausgegraben worden. Es handelt sich um das
bislang älteste Literaturwerk in einer semitischen Sprache. Un-
ter den «lexikalischen» Texten fand sich das bislang älteste
zweisprachige «Wörterbuch»; es enthält u. a. einen Abschnitt
mit den Namen mesopotamischer Gottheiten, die z. T. mit Aus-
spracheangaben versehen und durch eblaitische Gottheiten «er-
klärt», d. h. mit ihnen gleichgesetzt, wurden.
Sumerer und Akkader hatten, wie Wechselwirkungen zwi-
schen ihren recht unterschiedlichen Sprachen zeigen, bereits
während des Frühdynastikums in engem Kontakt miteinander
gestanden. Die Herrscher der Dynastie von Akkad (und ihrem
Beispiel folgend auch spätere) bezogen sich in ihrer Titulatur
«König von Sumer und Akkad» ausdrücklich auf diese beiden
Landesteile bzw. Bevölkerungsgruppen. Sargon erhob das Ak-
kadische neben dem traditionellen Sumerisch zur offiziellen
Verwaltungssprache. Von seiner Tochter, die unter dem Namen
14 Geographischer und historischer Rahmen
Enḫeduanna als Hohe Priesterin des Mondgottes Nanna in Ur
amtierte, sind sum. Dichtungen über Inanna / Ištar, die Schutz-
und Reichsgöttin der Herrscher von Akkad, sowie ein Hymnen-
zyklus auf die Tempel von Sumer und Akkad überliefert. Unter
dem Enkel Sargons, Narām-Sîn, kam es zu Aufständen, an de-
nen der sum. Süden maßgeblich beteiligt war. Nachdem er sie
niedergeschlagen hatte, legte er sich als erster altorientalischer
Herrscher den Gottestitel zu. Eine Originalinschrift, in der er
diesen Schritt begründet, ist erhalten (s. S. 44). Unter seinen
Nachfolgern brach das Reich zusammen, Gutäer, ein Gebirgs-
volk aus dem mittleren Zagros, und Elamer besetzten Teile Süd-
mesopotamiens.
Elam war eine östlich von Sumer und Akkad gelegene Kul-
turlandschaft und politische Größe mit den beiden Zentren
Susa und Anšan. Die elamische Sprache war vielleicht weitläu-
fig mit den indischen Drawida-Sprachen verwandt. Seit dem
23. Jh. v. Chr. benutzte man in Elam die mesopotamische Keil-
schrift, als Schriftsprache gebrauchte man bis ins 15. Jh. jedoch
überwiegend das Akkadische. Die Könige von Akkade und Ur
brachten große Teile Elams unter ihre Kontrolle; seit Beginn des
2. Jt.s war Elam ein mächtiger Staat, aus dem im 6. Jh. das Per-
serreich hervorging.
Gegen 2120 v. Chr. besiegte König Utu-ḫeĝal von Uruk die
Gutäer. Sein Feldherr und Bruder Ur-Nammu vertrieb die
Elamer und gründete das ca. 100 Jahre währende Reich der
III. Dynastie von Ur (der sum. Name dieser Stadt lautete Urim,
er wurde im Akk. zu Ur(u) verkürzt). Ur-Nammus Nachfolger
Šulgi(r), der 48 Jahre lang regierte, nahm wie einst Narām-Sîn
den Gottestitel an; die restlichen Herrscher seiner Dynastie so-
wie die Könige der Dynastie von Isin folgten ihm darin. Das
Reich der III. Dynastie von Ur ist dank ca. 100 000 bislang be-
kannter Verwaltungstexte eine der am besten dokumentierten
Perioden der altorientalischen Geschichte. Am Hof der Ur III-
Herrscher entstanden als neue Gattung Königshymnen, die
z. T. Fürbitten an eine Gottheit enthalten und reichhaltige Quel-
len für die religiös fundierte Königsideologie darstellen. Die Kö-
nige der III. Dynastie von Ur dürften auch die größtenteils nur
Geographischer und historischer Rahmen 15
auf jüngeren Manuskripten erhaltenen Epen über frühe Köni-
ge von Uruk – Enmerkar, Lugalbanda und Bilgameš (jünger
Gilgameš) – angeregt haben, da sie sich als deren Nachkommen
betrachteten. Unter dem letzten König Ibbi-Sîn kam es aus noch
unklaren Gründen zu einer Hungersnot, mit welcher der Zu-
sammenbruch des Reiches einherging. Um 2000 plünderten
und zerstörten die Elamer die Hauptstadt Ur mitsamt ihren
Heiligtümern. Die Katastrophe wurde in zwei umfangreichen
sum. Klageliedern reflektiert, darüberhinaus scheint sie prägend
auf die Tempelliturgie des 2. und 1. Jt.s eingewirkt zu haben, in
der sum. Klagelieder über zerstörte, von ihren Göttern verlas-
sene Tempel eine zentrale Rolle spielten. Die Zerstörung von Ur
wäre somit in ihrer religionsgeschichtlichen Tragweite mit den
Zerstörungen Jerusalems durch Nebukadnezar II. (587 / 6) und
Titus (70 n. Chr.) zu vergleichen.
Hatte das Sumerische unter der III. Dynastie von Ur noch
eine Blütezeit als Verwaltungs- und Literatursprache erlebt, so
wurde es bald darauf als Umgangssprache vom Akkadischen
abgelöst. Als Urkunden- und Literatursprache, vor allem aber
als Sakralsprache im Tempelkult und in magischen Ritualen
blieb es jedoch in Gebrauch und spielte somit für die altorienta-
lische Kultur des 2. und 1. Jt.s eine ähnliche Rolle wie das Latei-
nische für die europäischen Kultur des Mittelalters und der frü-
hen Neuzeit.
Das Reich der III. Dynastie von Ur zerfiel in rivalisierende
Stadtstaaten, deren bedeutendste auf babylonischem Boden Isin
und Larsa(m) waren. Erst im 18. Jh. gelang es Ḫammurapi von
Babylon (1792–1750), einen Großteil Mesopotamiens wieder
zu einem Reich zu vereinigen, womit der Grundstein für die
künftige überregionale Bedeutung Babylons und seines Stadt-
gottes Marduk gelegt war. Die Stadt Babylon hatte vorher poli-
tisch keine Rolle gespielt. Ihr Name Babil(im) wurde von den
Schreibern akkadisch als bāb ilim «Tor des Gottes» gedeutet
und entsprechend geschrieben. Statt der originalen Namens-
form bzw. der darauf fußenden biblischen (Babel) hat sich die
griechische (Babylon) eingebürgert. Ḫammurapi entstammte,
wie viele Herrscher der altbabylonischen Zeit, einer amurri-
16 Geographischer und historischer Rahmen
tischen Dynastie. Die Amurriter, sum. Martu, akk. Amurru,
waren semitische Nomadenstämme aus Syrien, die sich schon
in der Ur III-Zeit bis nach Babylonien ausgebreitet hatten,
wo sie sich sprachlich und kulturell weitgehend assimilierten.
Ḫammurapis Reich begann bereits unter seinem Nachfolger
Samsu-iluna zu zerfallen, im 16. Jh. versetzte ihm ein Kriegszug
des Hethiterkönigs Muršili I. den Todesstoß.
Die Hethiter gehörten einer indoeuropäischen Bevölkerungs-
schicht an, die wohl im 3. Jt. nach Kleinasien eingewandert
war. Muršilis Vater Ḫattušili I. hatte gegen 1600 das Hethiter-
reich (Ḫatti) mit der Hauptstadt Ḫattuša (moderner Name:
Boğazköy) gegründet. Um 1350 stieg es zu einer Großmacht
auf, deren Expansionsbestrebungen in Syrien mit denen des
Neuägyptischen Reiches kollidierten. Der Kampf um die Vor-
herrschaft wurde um 1250 durch einen Friedensvertrag zwi-
schen Ḫattušili III. und Pharao Ramses II. beigelegt. Das Hethi-
terreich ging kurz nach 1200 unter, die noch im unklaren
liegenden Ursachen hängen vielleicht mit dem Auftauchen der
Seevölker im östlichen Mittelmeer zusammen. Die Hethiter hat-
ten die Keilschrift übernommen und ihrer indoeuropäischen
Sprache angepaßt. Sie zeichneten – meist im Rahmen von Kul-
tritualen – auch Texte in anderen Sprachen auf: Hattisch, der
Sprache ihrer nichtindoeuropäischen Vorgänger; Luwisch und
Palaisch, zwei mit dem Hethitischen verwandten Sprachen; und
Hurritisch.
Die Hurriter spielten eine wichtige Rolle als Vermittler meso-
potamischer Literatur an die Hethiter. Sprachlich sind ihre ein-
zig gesicherten Verwandten die Urartäer, die im 9. Jh. das Reich
Urartu im armenischen Hochland gründeten. Aus dieser Region
drangen die Hurriter seit Ende des 3. Jt.s nach Nordmesopota-
mien, Syrien und Südostanatolien ein. Im 16. Jh. gründete eine
hurritische Dynastie in Nordmesopotamien das Reich Mittani,
unter dessen Oberhoheit auch Assur geriet. Teile der Hurriter
müssen mit Vorfahren der Indoarier in Berührung gekommen
sein, die um diese Zeit nach Nordindien einwanderten, denn die
Mittani-Dynastie benutzte altindische Personennamen und ver-
ehrte Gottheiten, die wir aus dem Veda kennen: Ein um 1330
Geographischer und historischer Rahmen 17
zwischen dem Hethiter-König Šuppiluliuma I. und Šattiwaza
von Mittani geschlossener Vertrag nennt in der Liste der
Schwurgottheiten (in hurritisierter Form) Mitra, Varuna, Indra
und die Nāsatya-Zwillinge. Wie das Hethiterreich, so stand
auch Mittani in Kontakt mit Ägypten. Zwei Könige sandten
sogar das Kultbild Ištar (hurr. Šauška) von Ninive nach Ägyp-
ten, um den kranken Pharao Amenophis III. zu heilen. Infolge
von Thronfolgestreitigkeiten wurde Mittani zum Zankapfel
zwischen dem Hethiterreich und Assur, das sich aus der Ober-
herrschaft Mittanis befreite und den mittanischen Reststaat im
13. Jh. annektierte.
Der Stadtstaat Assur hatte im 3. Jt. zeitweise unter der Herr-
schaft von Akkad und Ur gestanden. Zu Beginn des 18. Jh.s
konnte der aus Babylonien stammende Usurpator Šamšī-Addu
das Königreich Mari annektieren; es wurde jedoch bald von
Zimrīlīm, einem Abkömmling der einheimischen Dynastie,
zurückgewonnen (der 1762 Ḫammurapi von Babylon unter-
lag). Im 14. Jh. etablierte sich das mittelassyrische Reich zu
Lasten Mittanis als gleichberechtigter Partner und Rivale der
Großmächte Ḫatti und Ägypten. König Tukulti-Ninurta I.
(1233–1197) besetzte kurzzeitig Babylon (1215) und ließ un-
ter anderen Beutestücken Keilschrifttexe abtransportieren, was
zur Rezeption babylonischer Kultur und Religion in Assyrien
beitrug.
In Babylon gelangte nach Muršilis Kriegszug die Dynastie der
Kassiten auf den Thron. Angehörige dieses Volkes waren schon
seit etwa 200 Jahren aus dem iranischen Bergland nach Meso-
potamien eingedrungen und hatten sich, wie zuvor die Amur-
riter, weitgehend assimiliert. Von ihrer Sprache kennen wir
fast nur Personen- und Götternamen, darunter Šukamuna und
Ši / umalija, die Namen der Schutzgottheiten der Dynastie. Wie
die Mittani-Hurriter, so hatten anscheinend auch die Kassiten
vor ihrer Einwanderung Kontakt zu frühen Indoariern, denn
die Namen ihrer Götter Šurijaš und Maruttaš, die mit dem Son-
nengott Šamaš bzw. Ninurta gleichgesetzt wurden, dürften
mit vedisch Sūryas (Sonnengott) bzw. Marutas (Windgötter) zu
identifizieren sein. Das Ende der Kassiten-Dynastie führten um
18 Geographischer und historischer Rahmen
1157 Einfälle der Elamer herbei. Das elamische Reich erlebte
seit dem 14. Jh. eine Blütezeit, von der u. a. der gut erhaltene
Stufentempel von Chogha Zambil (um 1300) zeugt. Die Elamer
verschleppten zahlreiche erbeutete Denkmäler in ihre Haupt-
stadt Susa, darunter auch das Kultbild Marduks, des Stadtgot-
tes von Babylon. Wenn man einer späteren Inschrift glauben
darf, war es bereits von Muršili I. deportiert und von dem kas-
sitischen König Agum heimgeholt worden. Seine Rückführung
aus Elam gelang erst Nebukadnezar I. (1126–1105), dem be-
deutendsten Herrscher der in Babylon auf die Kassiten-Könige
folgenden II. Dynastie von Isin. Die Rückkehr des Gottes trug
wohl entscheidend zu seiner Popularität und Bedeutung bei.
Im 14. und 13. Jh., zur Zeit der größten Ausdehnung der
Keilschriftkultur, benutzten zahlreiche Herrscher der nahöst-
lichen Staatenwelt die Keilschrift, um – meist in babylonisch-
akkadischer Sprache – miteinander zu korrespondieren oder
Verträge abzuschließen. Sogar im ägyptischen Amarna, der Re-
sidenz Amenophis IV. (Echnaton), gab es ein Keilschriftarchiv,
dessen Reste 1887 zutage kamen. Besonders vielfältige Schrift-
zeugnisse wurden in dem Kleinkönigtum Ugarit ausgegraben:
sumerische, akkadische und hurritische (in Keilschrift), hethi-
tische (in Keilschrift und hethitischen Hieroglyphen), ugari-
tische (in ugaritischer Schrift, einer Frühform des Alphabets),
ägyptische (in Hieroglyphenschrift) und kyprominoische (in un-
entzifferter Schrift). Sie dokumentieren neben anderen Formen
des Kulturkontakts auch das Zusammentreffen verschiedener
religiöser Traditionen: So erweiterten ugaritische Schreiber die
aus Mesopotamien stammende «Weidner’schen Götterliste»
(s. S. 41) um hurritische und ugaritische «Übersetzungen» der
einzelnen Götternamen.
In den letzten beiden Jahrhunderten des 2. Jt.s erlebte die vor-
derorientalische Staatenwelt gravierende Umbrüche: Gegen
1200 v. Chr. fallen an der Mittelmeerküste die «Seevölker» ein,
die Ugarit zerstören und bis Ägypten vordringen, wo sie Ram-
ses III. 1176 besiegt. Bald nach 1200 geht das Hethiterreich zu-
grunde, worauf die Keilschrift in Kleinasien aufgegeben wird.
In Ägypten endet mit der 20. Dynastie um 1069 das Neue
Geographischer und historischer Rahmen 19
Reich. In den vormals von Ḫatti und Ägypten kontrollierten
Gebieten Syropalästinas bildet sich eine neue Staatenwelt he-
raus: sie umfaßt Relikte des hethitischen Reiches (Karkemiš am
Euphrat), Seevölkeransiedlungen wie die der Philister (nach
denen «Palästina» benannt ist) und nordwestsemitische Klein-
königtümer wie Israel und Aram-Damaskus. Aramäische Klein-
staaten dehnen sich auf ehemals assyrische Gebiete aus. Zu Be-
ginn des 1. Jt.s dringen aramäische Stämme auch in Babylonien
ein, etwa zur selben Zeit lassen sich dort die Chaldäer, semi-
tische Zuwanderer unklarer Herkunft, nieder. Die Folge sind
instabile Verhältnisse unter rasch wechselnden Dynastien. Im
benachbarten Elam verstummen nach dem babylonischen Ge-
genangriff Nebukadnezars I. die einheimischen Schriftquellen
fast gänzlich, im iranischen Hochland siedeln sich Meder und
Perser an.
Die ersten vier Jahrhunderte des 1. Jt.s sind vom Aufstieg des
neuassyrischen Reiches geprägt, der unter den «Sargoniden»
(Sargon II., Sanherib, Asarhaddon, Assurbanipal) kulminier-
te. Anfangs richteten sich die Feldzüge gegen die aramäischen
Kleinstaaten in Nordmesopotamien. Tiglatpileser III. (744–727)
unterwarf Babylonien (728) und die meisten syropalästinischen
Kleinstaaten, darunter Israel (722 / 1 Zerstörung von Samaria);
Juda kaufte sich 701 gegen hohe Tributzahlungen los. Asarhad-
don (680–669) eroberte schließlich sogar Teile Ägyptens, die
aber unter Assurbanipal (668–631) wieder verloren gingen. Im
Norden setzte sich Assur erfolgreich gegen das Reich Urartu (9.
bis 7. Jh.) durch. In Babylonien kam es zu Aufständen, die von
Elam unterstützt wurden. Als Reaktion zerstörte Sanherib 689
Babylon, was von vielen, auch seinem Sohn und Nachfolger
Asarhaddon, als Frevel empfunden wurde. Asarhaddon und As-
surbanipal ließen die Stadt wiederaufbauen. Gegen Assurbani-
pal rebellierte sein in Babylon als Vizekönig eingesetzter Bruder,
bei der Niederschlagung dieses Aufstandes wurde Babylon er-
neut in Mitleidenschaft gezogen (648) und die elamische Haupt-
stadt Susa zerstört. Hauptstädte des neuassyrischen Reiches
waren Assur, das von Asurnasirpal II. (884–858) ausgebaute
Kalḫu / Kalaḫ und (seit Sanherib) Ninive.
20 Geographischer und historischer Rahmen
Nicht lange nach Assurbanipals Tod fiel das neuassyri-
sche Reich in babylonische Hände. Anführer des babyloni-
schen Befreiungskrieges und Begründer des neubabylonischen
oder chaldäischen Reiches war der Chaldäer Nabopolassar
(626–605). Er nahm 612 im Verbund mit medischen Truppen
Ninive ein. 605 besiegte sein Sohn und Nachfolger Nebukadne-
zar II. (604–562) die den Assyrern zu Hilfe gekommenen Ägyp-
ter. 597 eroberte er das unbotmäßige Kleinkönigtum Juda,
587 / 6 zerstörten seine Truppen nach biblischer Überlieferung
die Stadt und den Tempel und deportierten Teile der Bevölke-
rung ins «Babylonische Exil». Unter Nebukadnezar erlebte Ba-
bylonien eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit. Nach
seinem Tod kam es zu Thronwirren. Nabonid (555–539), der
letzte König von Babylon, war der Sohn eines hohen Offiziers
und einer Priesterin des Mondgottes Sîn von Harran. Er machte
sich die babylonische Priesterschaft zum Feind, da er den Kult
jenes Gottes propagierte und während eines mehrjährigen Auf-
enthalts in der arab. Oase Teima seine zeremoniellen Pflichten
vernachlässigte.
539 eroberte der Perserkönig Kyros Babylon und konnte sich
dabei als Restaurator der alten Ordnung inszenieren. Seine Dy-
nastie hatte sich in den vorangehenden Jahrzehnten in Elam
etabliert, die Stämme der Meder und Perser vereint und ihre
Herrschaft bis Kleinasien ausgedehnt. Mesopotamien ging nun
in dem von Kyros und seinen Nachfolgern Kambyses (II.) (530–
522) und Dareios I. (522–486) geschaffenen «Weltreich» der
Achämeniden auf. In Babylonien wurde dies zunächst nicht als
Bruch wahrgenommen, da die einheimischen Traditionen wei-
terlebten, auch blieb die Stadt Babylon neben den Residenzstäd-
ten Susa und Persepolis eine wichtige Metropole. Als Alexander
der Große das Achämenidenreich erobert hatte, plante er, Baby-
lon zur Hauptstadt seines Weltreiches zu machen; er starb dort
323. In hellenistischer und parthischer Zeit (seit 141) nehmen
die Keilschriftfunde deutlich ab und konzentrieren sich schließ-
lich auf wenige Zentren, darunter Babylon, woher der bislang
jüngste Keilschrifttext stammt, ein astronomischer Almanach
des Jahres 74 / 75 n. Chr. Die Verehrung altorientalischer Gott-
Geographischer und historischer Rahmen 21
heiten ist in Mesopotamien und angrenzenden Gebieten durch
aramäische, griechische und arabische Quellen noch bis in die
islamische Zeit hinein bezeugt.
Im Gegensatz zu früheren Einwanderern hatten die Aramäer
ihre Sprache in Mesopotamien beibehalten und schrieben sie
mittels des Alphabets. Schon ein Wandrelief aus dem Palast
Assurnaṣirpals II. in Kalḫu (um 864) zeigt nebeneinander einen
Keilschrift- und einen Alphabetschreiber mit Tontafel bzw. Le-
derrolle. Im Achämenidenreich diente das Aramäische als inter-
nationale Verkehrs- und Verwaltungssprache. Das Aramäische
und das wesentlich einfacher als die Keilschrift zu erlernende
Alphabet ersetzten schließlich das Akkadische und die Keil-
schrift. Auch auf dem Boden der Königreiche von Israel und
Juda setzte sich das Aramäische durch, die althebräische Form
des Alphabets wurde dort zugunsten einer aramäischen aufge-
geben, die wir heute als «hebräische» Quadratschrift bezeich-
nen. Das Aramäische wiederum wurde nach dem Siegeszug
des Islam im 7. Jh. n. Chr. weitgehend vom Arabischen ver-
drängt. Es hielt sich jedoch bis in die Gegenwart in Gestalt des
als Schrift- und Kirchensprache konservierten (Alt-)Syrischen
(mit einer reichen, bis ins 3. Jh. n. Chr. zurückgehenden Litera-
tur), und in Form verschiedener neuaramäischer Dialekte (Sy-
rien, Türkei, Irak, Iran). Seit dem 19. Jh. n. Chr. bezeichnen An-
gehörige der ostsyrischen oder nestorianischen Kirche, die oft
auch Sprecher neuaramäischer Dialekte sind, ihre Glaubensge-
meinschaft als «assyrisch» und sich selbst als «Assyrer».
Strukturen und Veränderungen der religiösen Landkarte.
Neben der sprachübergreifenden Keilschrift gab es viele weitere
Gemeinsamkeiten, die den Alten Orient kulturell prägten, aber
auch über ihn hinausreichten. In Hinblick auf die religiösen
Verhältnisse ist hier in erster Linie eine polytheistische, also eine
Vielzahl von Gottheiten umfassende, Vorstellungswelt zu nen-
nen. In dieser spielten weithin ähnliche Polaritäten wie «gött-
lich» und «profan», «rein» und «unrein», «Ordnung» und
«Chaos» eine wichtige Rolle, was sich in ähnlichen Instituti-
onen und Praktiken manifestierte. Auf der religiösen Landkarte
22 Geographischer und historischer Rahmen
des Alten Orients lassen sich mehr oder weniger scharf abgrenz-
bare Areale unterscheiden, deren Eigenheiten sich z. T. mit den
jeweiligen naturräumlichen Gegebenheiten verbinden lassen.
Betrachtet man die höchsten Gottheiten, so springt ins Auge,
daß in den gebirgigen Regionen der nordwestlichen Peripherie
(Palästina, Libanon, Nordsyrien, Anatolien), wo Regenfeldbau
betrieben werden konnte und Gewitter nicht selten waren, Wet-
tergottgestalten dominierten, die oft mit bestimmten Bergen as-
soziiert waren. Östlich davon, in Obermesopotamien, hatte der
Gott Dagan eine beherrschende Stellung inne. Er wurde mit En-
lil identifiziert, der in der südmesopotamischen Tiefebene an der
Spitze des Pantheons stand, einer Region, wo der Ackerbau auf
künstlicher Bewässerung und fortgeschrittenen Agrartechniken
beruhte. Enlil und wohl auch Dagan scheinen seit jeher mit der
Erde assoziierte Ackerbaugötter gewesen zu sein. Enlils Frau ist
eine Tochter der Getreidegöttin, sein Sohn Ninurta ist für den
Pflug zuständig, in seinem Namen steckt wohl ein altes Wort für
«Erde». Euphrat und Tigris, die das Land bewässern, strömten
ganz im Süden durch riesige Sumpfgebiete und Marschen in
den Persischen Golf, in dem mancherorts Süßwasserquellen an
die Oberfläche sprudelten. Diese Region war die Heimat des
fruchtbaren und erfindungsreichen Wassergottes Enki / Ea, der
im sum. Pantheon einen ähnlich hohen Rang wie Enlil einnahm.
Weitere Areale ergeben sich z. B. aufgrund des Geschlechts
mancher Gottheiten. So wird die Sonne in den zuerst skizzierten
Gegenden überwiegend als weibliche Gottheit angesehen, wäh-
rend sie in Mesopotamien als männlich gilt.
Die religiöse Landkarte des Alten Orients erschließt sich un-
serem Blick in der durch aussagekräftige Schriftquellen gege-
benen Schärfe sukzessive von Südmesopotamien aus seit etwa
2600, ihre maximale Ausdehnung erreicht sie im 14. Jh. Sie war
stets mikro- und makroskopischen Veränderungen unterwor-
fen, die durch lokale oder externe – zuweilen auf eine Person
zurückführbare – Impulse bewirkt wurden. Die wenigsten von
ihnen lassen sich allerdings detailliert nachzeichnen. Als Beispiel
einer externen, individuell bewirkten mikroskopischen Verän-
derung sei die Einführung der Göttinnen Bēlat-Suḫnir und
Geographischer und historischer Rahmen 23
Bēlat-Terrabān in den Staatskult der III. Dynastie von Ur her-
ausgegriffen: Die beiden Göttinnen wurden von einer aus der
nordöstlichen Peripherie des Reiches stammenden Gemahlin
des Königs Šulgi als persönliche Schutzgottheiten importiert
und gerieten nach ihrem Tod wieder in Vergessenheit; ihre Na-
men wurden in die zeitgenössische «Weidner’sche Götterliste»
aufgenommen, erscheinen aber in jüngeren Abschriften zuneh-
mend verballhornt. Zahlreiche mikroskopische Auswirkungen
dürfte die Umsiedelungspolitik neuassyrischer Herrscher zur
Folge gehabt haben, von der auch das Alte Testament berichtet
(2 Könige 17, 24–33): «Und der König von Assur brachte Leute
aus Babel, Kutha, Awa, Hamat und Sefarwajim in das Land und
siedelte sie anstelle der Israeliten in den Städten Samariens an.
[…] Jedes Volk aber schuf sich seine eigenen Götter(bilder) und
stellte sie in den Höhentempeln auf, die von den Samariern er-
baut worden waren. […] Die Leute aus Babel machten sich Bil-
der Sukkot-Benots [unklar, Überlieferung verderbt], die Ansied-
ler aus Kutha stellten Bilder Nergals her …». Eine bedeutende
makroskopische Veränderung war der Aufstieg des babylo-
nischen Stadtgottes Marduk zum Oberhaupt des babylonischen
Pantheons. Seine Stellung wurde bereits von König Ḫammurapi
(1792–1750), unter dem das altbab. Reich seine größte Macht
und Ausdehnung erreichte, als politische Theologie in mytholo-
gischem Gewande propagiert: Im Prolog zu seiner berühmten
Gesetzessammlung, dem Codex Ḫammurapi, heißt es, die ober-
sten Götter Anum und Enlil hätten Marduk, dem erstgeborenen
Sohn des Ea, «die Enlilschaft», d. h. den Rang des obersten
Gottes Enlil, bestimmt. Tatsächlich vollzog sich der Aufstieg
Marduks im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte, in deren
Verlauf das altbabylonische Reich unterging und in Babylon
die Kassiten-Dynastie regierte. Tiefgreifende religiöse Verän-
derungen sind auch in Kleinasien zu erkennen: Zu Beginn der
Großreichszeit (ca. 1360), deren Könige vielfach hurritische
Zweitnamen trugen, überlagerten Gottheiten hurritisch-syri-
scher und mesopotamischer Herkunft das ältere Pantheon, an
seine Spitze trat nun der hurritische Wettergott Teššub. In Ägyp-
ten bestieg damals Pharao Amenophis IV. (1351–1334) den
24 Geographischer und historischer Rahmen
Thron, den man als ersten historischen «Religionsstifter» be-
zeichnen kann: Mit seiner ausschließlichen Verehrung des Son-
nengottes Aton (auf den sich sein programmatischer Name Ech-
naton bezieht) suchte er den ägyptischen Polytheismus in einen
Monotheismus umzuwandeln – eine Reform, die nach seinem
Tod allerdings sofort rückgängig gemacht wurde. Eine wesent-
lich folgenreichere Entwicklung bahnte sich einige Jahrhunderte
später in Palästina an: Dort entwickelte sich Jahwe, der Reichs-
gott des um 1000 entstandenen Königtums Israel, zum allei-
nigen Gott. Altorientalische und ägyptische Schriftquellen so-
wie die redaktionsgeschichtliche Analyse der alttestamentlichen
Schriften ermöglichen es, die Herausbildung des jüdischen Mo-
notheismus in einem weiteren historischen und kulturgeschicht-
lichen Kontext zu betrachten. In jüngster Zeit viel diskutiert
wurde beispielsweise die Frage, inwieweit darauf der Kult des
assyrischen Reichsgottes Assur als Modell eingewirkt haben
könnte. Auch monotheistische Zuspitzungen, die sich in einem
polytheistischen Umfeld beobachten lassen, können als Erklä-
rungsmodelle herangezogen werden: gemeint sind damit Ten-
denzen einzelner, sich situationsbedingt auf eine Gottheit zu fi-
xieren (Henotheismus), diese langfristig besonders zu verehren
(Monolathrie) und über die anderen zu erhöhen. So sind aus der
ersten Hälfte des 1. Jt.s Keilschrifttexte überliefert, welche die
Hauptgestalten des traditionellen Pantheons als Aspekte des
Gottes Marduk bzw. als Körperteile des Gottes Ninurta erklä-
ren. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich bei hebr. malʾak
ab: Es wurde durch griech. ángelos «Bote» wiedergegeben, was
über lat. angelus zu dt. Engel führte. Eine monotheistische Re-
ligionspolitik scheint wenigstens zeitweise der letzte Herrscher
des neubabylonischen Reiches, Nabonid (555–539), verfolgt zu
haben, indem er den Mondgott Sîn als einzige Gottheit propa-
gierte – und zwar in einer den Babyloniern fremden Erschei-
nungsform, wie er sie aus Harran kannte, wo seine Mutter Prie-
sterin war. In einem Gebet sagt er von Sîn, dieser besitze die
Herrschaft der großen Götter Anu, Enlil und Ea, in einem an-
deren spricht er die Tempel der Götter Marduk (in Babylon)
und Nabû (in Borsippa) als Tempel des Sîn an. Es scheint nicht
Die Quellen 25
ausgeschlossen, daß er die vielen Götter als Aspekte eines ein-
zigen verstand. Der Nachwelt erscheint der König, der aus un-
geklärten Gründen mindestens 10 Jahre fern von Babylon in der
arabischen Oase Taima verbrachte und deswegen nicht an
den staatstragenden Neujahrsfeierlichkeiten teilnahm, als rät-
selhafte und widersprüchliche Gestalt, deren Bild zudem durch
die Gegenpropaganda babylonischer Priester und seines Nach-
folgers Kyros verzerrt wurde.
Bei aller regionalen und lokalen Differenziertheit wurde die
religiöse Landkarte des Alten Orients mehr oder weniger stark
vom südmesopotamischen Zentrum der Keilschriftkultur her
geprägt. Als frühes Beispiel keilschriftlichen Kulturtransfers von
Sumer nach Syrien wurden bereits die Schriftfunde von Ebla
erwähnt. Viele sum.-bab. Gottheiten waren im gesamten Alten
Orient bekannt und wurden mit lokalen Gottheiten gleichge-
setzt. Da man auf der Schriftebene die sum.-bab. Namen ver-
wendete, wissen wir in außermesopotamischen Texten oft nicht,
wie diese tatsächlich hießen. In ganz Mesopotamien und zuwei-
len noch darüber hinaus war es üblich, sakralen Bauten sum.
Namen zu geben. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß
auch das hebr. Wort für «Tempel» sum. Ursprungs ist: Aus sum.
e-gal «Palast» (wörtlich «großes Haus») stammen akk. ēkallum
«Palast», aram. haykelā «Palast, Tempel», ugar. hēka(l)lu und
hebr. hēkal «Tempel». Angesichts der kulturgeschichtlichen Be-
deutung Südmesopotamiens für den gesamten keilschriftlichen
Kulturraum liegt es daher nahe, das sum.-babylonische Panthe-
on als Grundlage der Darstellung zu wählen.
2. Die Quellen
Unser Wissen über Götter und Mythen des Alten Orients beruht
hauptsächlich auf den keilschriftlichen Quellen. Als weitere
Schriftquellen sind vor allem Texte in ugaritischer Schrift und
Sprache (14. / 13. Jh.) zu nennen, ferner nordwestsemitische In-
26 Die Quellen
schriften (seit dem 10. Jh.), das Alte Testament (dessen vor-
liegende Gestalt das Ergebnis eines längeren bis ins 1. Jh. wäh-
renden Redaktionsprozesses ist) sowie griechische Inschriften
und Literaturwerke wie das Geschichtswerk Herodots, die «Ba-
bylonische Geschichte» des Berossos, eines babylonischen Prie-
sters und Zeitgenossen Alexanders des Großen und die «Phö-
nizische Geschichte» des Philon von Byblos (beide nur durch
Zitate überliefert). Die Schriftquellen werden ergänzt durch ar-
chäologische Zeugnisse: Kultbauten (von denen in Mesopota-
mien wegen der dort üblichen Lehmziegelbauweise meist nur
Grundrisse erhalten blieben), Statu(ett)en von Betern und Gott-
heiten, Reliefs (auf Gefäßen, Stelen, Wandverkleidungen, Tor-
beschlägen, Schilden), Siegel mit bildlichen Darstellungen und
Legenden oder auch Wandgemälde, um nur die wichtigsten zu
nennen.
Das keilschriftliche Textcorpus umfaßt eine Vielzahl von
Textsorten und -gattungen, die fast alle auch religionsgeschicht-
lichen Quellenwert besitzen. Es muß allerdings betont werden,
daß die Schriftquellen geographisch, chronologisch und hin-
sichtlich der einzelnen Sprachen ungleich verteilt sind: beispiels-
weise umfaßt das hethitische Schrifttum, das sich über einen
relativ kurzen Zeitraum erstreckt (16.–13. Jh.), zahlreiche Ri-
tualtexte und Mythen, während diese im elamischen Schrifttum,
das sich in unterschiedlicher Dichte über fast 2000 Jahre er-
streckt (23. Jh. bis 5. Jh.), fehlen. Der folgende Überblick stellt
die wichtigsten keilschriftlichen Quellengattungen vor.
Wirtschaftstexte und Urkunden. Die Keilschrift wurde für
administrative Zwecke geschaffen und zunächst ausschließlich
dafür eingesetzt. Die vielfältigen «Wirtschaftstexte» übertrafen
zahlenmäßig auch später alle anderen Textsorten bei weitem.
Sie beleuchten die materiellen und praktischen Aspekte der Re-
ligion, indem sie Auskunft über Personal, Inventar und Landbe-
sitz von Tempeln geben oder festhalten, welche Gottheiten dort
verehrt wurden, welche Opfer sie erhielten, wann die Opfer und
Feste stattfanden, und was man für bestimmte Rituale benötig-
te. Seit dem Beginn des 3. Jt.s treten Rechtsurkunden (z. B.
Die Quellen 27
über Kauf, Heirat, Erbschaft) in Erscheinung, seit dem 24. Jh.
Staatsverträge. Eine besondere Urkunden- und gleichzeitig
Denkmalsgattung sind die unter den kassitischen Herrschern
Babylons im 13. Jh. eingeführten kudurru (akk.): auf diesen
Steinmonumenten, die königliche Landschenkungen doku-
mentieren, wurden die Embleme der Götter dargestellt, welche
den dauerhaften Bestand der Schenkung garantieren sollten
(Abb. 1).
Bau- und Weihinschriften. Um 2700 kam die Sitte auf, ver-
schiedene Objekte zu beschriften, darunter vor allem Weihega-
ben (Gefäße, Waffen u. a.) und Sakralbauten. Das Grundsche-
ma der «Bau- und Weihinschriften» ist: «Für die Gottheit GN
hat PN (meist ein Herrscher oder eine andere hochgestellte Per-
sönlichkeit) … gebaut / geweiht». Sie enthalten oft genauere An-
gaben über die Gottheit sowie den Anlaß und das Objekt der
Stiftung.
Fluch- und Segensformeln. Urkunden, insbesondere die ku-
durrus, Verträge und zahlreiche Monumentalinschriften enthal-
ten Fluchformeln, die göttliche Strafen auf diejenigen herabru-
fen, die gegen Vertragsbestimmungen verstoßen oder dem
beschrifteten Objekt in irgendeiner Weise schaden. In der Regel
stehen die Flüche am Textende als litaneiartige Sequenz, wobei
jeweils eine oder mehrere Gottheiten als Verursacher spezi-
fischer Strafen genannt sind; so heißt es z. B. in einem kudurru
des bab. Königs Meli-Šiḫu (ca. 1186-1172): «Marduk, der große
Herr, dessen Befehl kein Gott ändern kann, möge ihm (dem po-
tentiellen Übeltäter) Hunger, seine große Strafe, auferlegen, so
daß er seine Hand austreckt und keine Speise erhält unter den
Augen seines Feindes, und (vergebens) durch die Straßen seiner
Stadt irrt». Seltener finden sich daneben auch Segensformeln für
den Fall künftigen Wohlverhaltens.
Jahresnamen, Königslisten, Annalen, Chroniken. Im 24. Jh.
entstanden in Südmesopotamien absolute Datierungssysteme:
Jedem Jahr wurde ein Name beigelegt, der sich auf ein mar-
28 Die Quellen
kantes Ereignis bezog, die sukzessiven Jahresnamen wurden in
Listen verzeichnet. Die namengebenden Ereignisse waren oft
kultischer Art: wie z. B. die Einsetzung von Hohen Pries-
ter(inne)n, die Renovierung oder Errichtung von Tempeln, die
Anfertigung von Kultbildern und Weihegaben. Mit den Jahres-
namenlisten war ein Grundstein für die späteren Königslisten,
Annalen und Chroniken gelegt. Letztere thematisierten Ge-
schichte unter bestimmten Aspekten politischer oder religiöser
Natur. So fokussiert die (nach ihrem Erstherausgeber so ge-
nannte) «Weidner-Chronik» das Wohl- oder Fehlverhalten der
Könige gegen Marduk, den Stadtgott von Babylon. Ähnliches
ist in den alttestamentlichen Königsbüchern zu beobachten: sie
beurteilen die Herrscher Israels und Judas nach dem Maßstab
des zentralisierten Jahwe-Kultes.
Monatsnamen, Kultkalender, Festbeschreibungen. Für die
Rekonstruktion der jährlichen Kult- und Festzyklen stehen zu-
nächst Wirtschaftstexte (insbesondere Opferlisten) und Mo-
natsnamen zur Verfügung, die sich meist auf ein in dem be-
treffenden Monat gefeiertes Fest beziehen. Erst aus späterer
Zeit und nur fragmentarisch sind Kultkalender für Babylon und
Assur erhalten. Für einzelne Kultfeste sind ausführliche Be-
schreibungen überliefert; sie schildern den Verlauf der Hand-
lungen und zitieren nach ihren Anfangsworten die dabei
gesprochenen und gesungenen Texte. Die ältesten Beispiele
stammen aus Ebla (24. Jh.) und Mari (Anfang 18. Jh.). In Emar
gefundene Texte beschreiben mehrtägige Riten zur Einsetzung
einer Hohen Priesterin des Wettergottes (13. Jh.). Die meisten
und ausführlichsten Festbeschreibungen stammen aus der He-
thiterhauptstadt Ḫattuša (16.–13. Jh.), weitere kennnen wir aus
Ugarit (14. / 13. Jh.), Assur (2. / 1. Jt.) und dem hellenistischen
Uruk (3. / 2. Jh.).
Briefe. Etwa um 2400 begann man sich der Schrift als Fern-
kommunikationsmittel zu bedienen, d. h. Briefe zu schreiben.
Ihre Form gestaltete sich nach Zeit und Region unterschiedlich.
Seit dem Beginn des 2. Jt.s werden akk. Briefe vor allem in Ba-
Die Quellen 29
bylonien häufig mit Segensformeln eingeleitet wie z. B. «Mar-
duk und Zarpānītum mögen Dich am Leben erhalten!». Man-
che Briefe beziehen sich auf religiöse Themen. So enthalten alt-
bab. Briefe, vor allem aus Mari, die ersten Nachrichten über
Prophetie, eine Institution, die man lange Zeit nur aus der Bibel
kannte und mit dem Alten Israel verband. 1000 Jahre spä-
ter liefern Briefe vom neuassyrischen Königshof sogar zeitge-
nössisches Vergleichsmaterial zur biblischen Prophetie. Neben
den zur menschlichen Kommunikation dienenden Briefen gab
es auch an Gottheiten gerichtete Briefe. Sie enthielten gewöhn-
lich Bitten an eine Gottheit und wurden vermutlich in deren
Tempel hinterlegt. Assyrische Könige berichteten dem Reichs-
gott Assur in Briefform über ihre Feldzüge, denn als seine
Vizeregenten sahen sie sich verpflichtet, das Reich zu bewahren
und zu erweitern.
Beschwörungen und Gebete. Zu den Zeugnissen der alltäg-
lichen Lebenspraxis zählen auch Beschwörungen. Sie waren Be-
standteile magischer Rituale, die man in allen möglichen kri-
tischen Lebenssituationen anwandte. Entsprechend vielfältig
sind die Themen: Krankheit(sdämonen) und Totengeister, Skor-
pionstich und Schlangenbiß, Liebe und Potenz, Geburt, Beruhi-
gung von Säuglingen, kultische Reinigung u. a. Bereits unter den
ältesten «literarischen» Texten aus Šuruppag und Abū Ṣalābīḫ
finden sich Beschwörungen in sum. Sprache. Formal sind sie an
der charakteristischen Einleitungsformel erkenntlich, die etwa
en(e)nur(u) lautete und wohl schon zur Zeit ihrer ersten schrift-
lichen Fixierung nicht mehr recht verständlich war. Von der
Magie unterscheiden wir ein anderes «indirektes» Verfahren,
um die Dinge in erwünschte Bahnen zu lenken: das Gebet. Be-
schwörung und Gebet stehen im Alten Orient nicht im Wider-
spruch zueinander, die Grenzen zwischen «Beschwörung» und
«Gebet» sind fließend. Für Magie sind bestimmte Gottheiten
zuständig (in älterer Zeit vor allem die Göttin Ningirima, später
Asalluḫi / Marduk), an die man sich in der Beschwörung wendet
oder auf die man sich darin beruft. Gebete sind in der Regel mit
rituellen Handlungen verbunden. Bis ins 2. Jt. hinein scheinen
30 Die Quellen
Beschwörungen – zumindest in Sumer – das gewöhnliche Mittel
gewesen zu sein, individuelle Nöte mit übernatürlicher Hilfe zu
bewältigen, erst dann treten – neben dem kollektiven Klagen um
Städte und Heiligtümer (s. S. 33) – auch individuelle, an be-
stimmte Gottheiten gerichtete Klagen und Gebete in Erschei-
nung. Ersteren steht die «Herzberuhigungsklage (sum. eršaḫuĝa)
nahe; sie dürfte sich im 2. Jt. entwickelt haben, doch stammt die
Masse der Texte aus dem 1. Jt. Zu den frühesten akk. Gebeten
zählen altbab. Gottesbriefe (s. S. 29) und Opferschaugebete, in
denen vor allem die Götter Šamaš und Adad, aber z. B. auch die
nächtlichen Gestirne (s. S. 51), gebeten werden, gute und ver-
läßliche Vorzeichen in die Eingeweide des Opferschafes zu le-
gen. Um die Mitte des 2. Jt.s kamen kurze Gebete als Siegelle-
genden in Gebrauch. Im späten 2. Jt. bildete sich eine relativ
homogene Gattung individueller Bittgebete heraus. Die meisten
beginnen mit der sum. Beschwörungsformel en(enuru) und / oder
werden im Subskript als «Handerhebungsbeschwörungen»
(sum. šu-illa) bezeichnet; für sie hat sich daher der moderne Ter-
minus «Gebetsbeschwörungen» eingebürgert. Je nach Anlaß
und Zweck des Gebets lassen sich Untergliederungen vorneh-
men, denen z. T. auch altorientalische Gattungsbezeichnungen
entsprechen: neben allgemeinen Notsituationen, für die das šu-
illa gedacht war, sind etwa zu nennen: durch Dämonen oder
Schadenszauber bewirktes Unheil, Reinigung von eigener Sün-
de, Besänftigung des erzürnten Schutzgottes, Abwendung eines
durch schlechte Vorzeichen angedrohten Unheils, Bitte um be-
stimmte Vorzeichen, Bitte um Segen für das Haus, Abwehr von
Feldschädlingen. Im späten 2. und im 1. Jt. wurden die in den
einzelnen Ritualen verwendeten (Gebets-)Beschwörungen zu
«Tafelserien» zusammengefaßt wie z. B. Utukkū lemnūtu gegen
«böse Totengeister», Lamaštu gegen die gleichnamige Kindbett-
fieberdämonin, Maqlû («Verbrennung») zur Abwehr von Scha-
denszauber (wobei Ersatzfiguren der Hexe verbrannt wurden)
oder Šurpu («Verbrennung») gegen selbstverschuldeten «Fluch»
(wobei kontaminierte Gegenstände verbrannt wurden).
Außerhalb Mesopotamiens sind Beschwörungen und Be-
schwörungsrituale aus Ebla (24. Jh., sum. und eblaitisch), aus
Die Quellen 31
der Hethiterhauptstadt Ḫattuša (16.–13. Jh., heth. und hurr.)
und aus Ugarit (sum., akk., ugar., hurr.) überliefert. In Mesopo-
tamien verwendete man auch fremdsprachige Beschwörungen,
die z. T. im Laufe der Zeit zu unverständlichen «Abrakadabra-
Formeln» entstellt wurden.
Divination (Wahrsagung), Astrologie und Astronomie. Die
Wahrsagung ist ein Charakteristikum der altorientalischen Kul-
tur und Lebenspraxis. Sie hat sich in einer Vielzahl von Texten
in fast ausschließlich akk. Sprache niedergeschlagen. Die üb-
lichste Methode, um Vorzeichen herbeizuführen, war die Leber-
schau, d. h. die Inspektion der Leber eines geopferten Schafes.
Die ältesten Leberomina sind auf Tonlebern aus Mari erhalten,
die den ominösen Befund auch plastisch darstellen (um 2000).
Omina desselben Typs wurden im Laufe des 2. Jt.s zu Kompen-
dien zusammengefasst, die teils über 100 Tafeln umfaßten:
Iškār bārûti (Opferschau), Enūma Anu Enlil (Vorzeichen am
Himmel: Mond, Sonne, Wetter, Sterne), Šumma ālu (Vorzeichen
im Lebensumfeld des Menschen), Iqqur īpuš (ominöse Bedeu-
tung der Zeit, zu der bestimmte Tätigkeiten stattfinden), Šumma
izbu (Mißgeburten), Sakikkū (Krankheitsymptome am Körper
des Menschen), Alamdimmû (Aussehen des Menschen, Physio-
gnomie); nur fragmentarisch erhalten ist die Sammlung der
Traumomina. Omina sind (wie Gesetze) als Kondizionalgefüge
formuliert; so lautet z. B. ein altbab. Leberomen: «Wenn sich
die rechte «Waffe» in der «Hürde» der Leber befindet und zum
«Stadttor» blickt, wird die Göttin Nanaja eine Haremsdame,
die der König liebt, aus dem Harem hinausgehen lassen». Die
mesopotamische Omenliteratur wurde auch in Elam (Susa) und
Ḫatti rezipiert, wo manche Texte ins Hethitische übersetzt wur-
den. In Ugarit fand man Omentexte (darunter beschriftete Ton-
lebern) in ugaritischer Schrift und Sprache.
Vor dem Hintergrund der Divination ist auch die Herausbil-
dung von Astrologie und Astronomie zu sehen. Seit etwa dem
18. Jh. sind Sternkataloge überliefert. Gestirnbeobachtungen
gingen in die erwähnte Omensammlung Enūma Anu Enlil ein.
Aus langjährigen Beobachtungen wurden Verfahren zur Vor-
32 Die Quellen
ausberechnung von Gestirnbewegungen und Eklipsen abstra-
hiert und in Tabellenform niedergelegt. Die vom 7. bis 1. Jh.
reichenden «Astronomical Diaries» verbinden tägliche Him-
melsbeobachtungen mit Aufzeichnungen irdischer Ereignisse
und Vorgänge. Seit dem späten 5. Jh. sind Geburtshoroskope
belegt.
Medizin. Zahlreiche keilschriftliche Quellen beziehen sich auf
den Wissens- und Anwendungsbereich, den wir Medizin nen-
nen. Nach modernen Kriterien lassen sich eine naturwis-
senschaftliche und eine magische Behandlungsmethode unter-
scheiden. Für beide waren verschiedene, in der Praxis jedoch
zusammenwirkende Spezialisten zuständig: der «Arzt» (sum.
azu > akk. asû) und der «Beschwörer» (sum. mašmaš u. a., akk.
(w)āšipu). Medizinische Inhalte (Namen von Körperteilen und
Krankheiten, Beschreibung anatomischer Befunde, Rezepturen)
finden sich größtenteils in lexikalischen (s. S. 40), magischen
und divinatorischen Texten; rein medizinische Texte, die ledig-
lich Symptome mit Diagnosen und / oder Rezepturen auflisten,
sind selten. Eine häufige Diagnose lautet «Hand der Gottheit
GN», denn Krankheiten wurden auf das Wirken von Gottheiten
und Dämonen zurückgeführt. Diese Vorstellung ist auch noch
im Neuen Testament greifbar: Nach Matthäus 8,28–34 (paral-
lel: Markus 5,1–20 und Lukas 8,26–39) heilt Jesus «Besesse-
ne», indem er deren Dämonen auf eine Schweineherde über-
trägt, die sich dann ins Meer stürzt.
Hymnen auf Gottheiten, Tempel und Könige. Sumerische
Hymnen auf Gottheiten und Tempel finden sich bereits unter
den Texten aus Šuruppag und Abū Ṣalābīḫ (ca. 2600). Eine der
ältesten, die bis ins 2. Jt. tradiert wurde, preist die Muttergöttin
und ihr Heiligtum in Keš («Keš-Hymne»); sie ist bereits in Abū
Ṣalābīḫ bezeugt. Dort wurden auch mehrere Manuskripte einer
sumerischen Dichtung entdeckt, deren 70 unterschiedlich lange
«Strophen» jeweils einen Kultort mit seiner Gottheit nennen,
deren Name am Strophenende in Kombination mit zame «Preis»
erscheint. Die erste «Strophe» ist Enlil, dem Oberhaupt des
Die Quellen 33
sum. Pantheons, und seiner Stadt Nippur gewidmet. Aufgrund
der archaischen, z. T. wohl abkürzenden Notation ist zwar noch
manches unsicher (z. B. ob der «Preis» den einzelnen Gottheiten
gilt oder diese Enlil preisen), doch darf man in dem Werk wohl
einen Vorläufer des Hymnenzyklus auf die Heiligtümer von Su-
mer und Akkad sehen, den um 2300 Enḫeduanna, die Tochter
Sargons von Akkad, dichtete. Hymnen auf Gottheiten und sel-
tener Tempel sind bis in die Spätzeit der Keilschriftkultur be-
zeugt. Unter den Königen der III. Dynastie von Ur wurden
Hymnen auf die regierenden Könige, z. T. mit Bitten an eine
Gottheit, eingeführt. Nach ihrem Muster wurden auch an den
Höfen der nachfolgenden Dynastien von Isin, Larsa und Baby-
lon Königshymnen gedichtet.
Klagelieder. Von den Klageliedern, die anläßlich der Zerstö-
rung Urs entstanden, war schon die Rede (s. S. 15). Ähnliche
«Städteklagen» wurden auch über Nippur, Uruk und Eridu ver-
faßt, doch erscheint in ihnen der historische Hintergrund un-
scharf und abstrahiert. Das Trauma der Stadt- und Tempelzer-
störung bildete den Hintergrund der als balaĝ und eršemma,
bezeichneten kanonischen Tempellieder, die etwa seit dem
18. Jh. bis in hellenistische Zeit bezeugt sind. Sie wurden ur-
sprünglich vielleicht angestimmt, wenn Götterbilder ihre Tem-
pel verlassen mußten (etwa bei Baumaßnahmen oder Festumzü-
gen), doch scheinen sie später zum regelmäßigen Gottesdienst
gehört zu haben. Ihre Bezeichnungen rühren von der Auffüh-
rungspraxis her: balaĝ bedeutet «Leier» (oder vielleicht «Trom-
mel»), eršemma heißt etwa «Paukenklage». Beide Gattungen
gehörten zusammen, einem balaĝ war in der Regel ein eršemma
zugeordnet, manche ihrer kirugu, etwa «Verbeugung», genann-
ten Abschnitte sind in beiden belegt. Neben den kollektiven
Klageliedern entwickelte sich eine formal eng verwandte Gat-
tung eher individuellen Inhalts namens eršaḫuĝa «Herzberuhi-
gungsklage». Die Klagelieder waren in einem besonderen, Eme-
sal genannten Dialekt des Sumerischen abgefaßt, der in anderen
Literaturwerken Göttinnen und Frauen in den Mund gelegt
wird. Ihre Aufführung oblag speziellen «Klagepriestern» (sum.
34 Die Quellen
gala, akk. kalû). Außer den um Stadt und Tempel kreisenden
Klageliedern finden wir seit dem Beginn des 2. Jt.s auch Klagen
um verschwundene Gottheiten wie z. B. Lil, einen Sohn der
Muttergöttin, dessen Mythos wir nicht kennen, vor allem aber
um Dumuzi /Tammuz, den Geliebten der Inanna / Ištar, den sie
als Ersatz für sich selbst der Unterwelt auslieferte. Auch einige
individuelle Klagelieder um verstorbene Angehörige («Elegien»
genannt) sind überliefert.
Liebes- und andere Lieder. Die Sexualität besaß in der altori-
entalischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Sie steht denn
auch im Mittelpunkt der meisten sum. und akk. Liebeslieder.
Protagonisten der oft dialogisch aufgebauten Dichtungen, die
manche Ähnlichkeiten mit dem «Hohen Lied» des Alten Tes-
taments aufweisen, sind in erster Linie die Liebesgöttin Inanna /
Ištar und der als Hirt porträtierte Dumuzi /Tammuz, später
auch andere göttliche Paare wie Muati (= Nabû) und Nanaja,
Nabû und Tašmētu. Als «Sitz im Leben» ist die «Heilige Hoch-
zeit» (s. S. 114) der betreffenden Gottheiten anzunehmen, die
üblicherweise zum Jahresbeginn gefeiert wurde. Sie steht auch
im Mittelpunkt einiger Königshymnen, in denen der König in
der Rolle des Dumuzi als Geliebter Inannas erscheint («Šulgi
X», «Šū-Sîn B», «Iddin-Dagan A»). Nur durch wenige oder sin-
guläre Beispiele vertreten sind Gattungen wie Wiegen-, Arbeits-
oder Trinklied.
«Weisheitsliteratur». Unter diesem Begriff werden traditionell
recht unterschiedliche Werke zusammengefaßt: Sammlungen
von Redewendungen (auch pejorativen Charakters), Sprich-
wörtern, Lebensweisheiten (z. B. der «Rat des Šuruppag») und
Rätseln, die alle schon in frühdynastischer Zeit belegt sind;
sum. Lehrgedichte, die gleichzeitig der Realienkunde und der
Wortkunde dienten («Sumerische Georgika», «Preis der Ha-
cke»); lehrhafte, z. T. humoristische Geschichten und Fabeln;
Dialoge verschiedener Art, darunter Streitgespräche zwischen
Schreibern und Rangstreitgespräche (z. B. zwischen «Hacke
und Pflug», «Silber und Kupfer», «Sommer und Winter»), die
Die Quellen 35
durch eine Gottheit entschieden werden. Von großem religions-
geschichtlichem Interesse sind einige Werke, die sich mit dem
Verhältnis «Mensch – Gott» und insbesondere dem Problem
der göttlichen Gerechtigkeit auseinandersetzen. Aus altbab.
Zeit stammen zwei verschiedene Dichtungen in sum. bzw. akk.
Sprache, die beide als «Ein Mann und sein Gott» o. ä. betitelt
wurden (ersterer auch als sum. «Hiob-Text»); formal handelt es
sich um klagende bzw. hymnische Gebete mit narrativen Passa-
gen. Gegen Ende des 2. Jt. entstand die «Babylonische Theodi-
zee» (akk.), die nicht nur inhaltlich, sondern auch in ihrem dia-
logischen Aufbau dem alttestamentlichen Hiob-Buch ähnelt.
Ihr steht die nach dem Inzipit Ludul (bēl nēmeqi) «Preisen will
ich (den Herrn der Weisheit)» genannte Dichtung nahe (akk.,
Anfang 1. Jt.). Inhaltlich singulär ist der vielleicht im 8. Jh. ent-
standene «Pessimistische Dialog» (akk., s. S. 122).
Mythen und Epen. Die beiden aus der griechischen Antike
stammenden Gattungsbegriffe wurden auf erzählende altorien-
talische Dichtungen übertragen, die ausschließlich von Göt-
tern oder von Göttern und Menschen handeln. Manche wur-
den auch als «Legende» oder «Märchen» bezeichnet. Häufig
schwanken die modernen Titel zwischen «Mythos» und «Epos».
Die menschlichen Protagonisten dieser Erzählungen sind Ge-
stalten der Urzeit wie z. B. der Held der Sintflutgeschichte, sa-
genhafte Herrscher einer (als historisch erachteten) Vergan-
genheit wie z. B. Gilgameš oder Etana, und zeitgenössische
Herrscher. Der folgende Überblick trennt zwischen Dichtungen,
die von Göttern und urzeitlichen Menschen handeln, und sol-
chen die von historischen Gestalten handeln, wobei jedoch die
traditionellen Titel beibehalten sind.
Die ältesten Göttererzählungen finden sich unter den Texten
aus Šuruppag und Abū Ṣalābīḫ (ca. 2600). Unser Verständnis
dieser Dichtungen ist noch sehr beschränkt. Das liegt einmal am
archaischen Schriftsystem, in dem z. B. die Zeichenverteilung
innerhalb einer Zeile noch frei, d. h. unabhängig von der Lese-
folge, ist. Erschwerend kommt ein besonderer, damals offen-
bar für mythische Dichtungen typischer Zeichengebrauch hin-
36 Die Quellen
zu, die «UD.GAL.NUN-Orthographie» (so benannt nach einer
häufigen Zeichengruppe, die den Namen des Gottes Enlil reprä-
sentiert); sie besteht darin, daß Zeichen aufgrund lautlicher, se-
mantischer oder graphischer Assoziationen durch andere ersetzt
werden (allerdings nicht konsequent). Ob es engere Zusammen-
hänge zwischen der UD. GAL.NUN-Orthographie und dem In-
halt der UD. GAL.NUN-Texte gibt, muß noch näher untersucht
werden. Etwa 200 Jahre jünger als die Dichtungen aus Šurup-
pag und Abū Ṣalābīḫ ist ein in «Normalorthographie» notierter,
ebenfalls erst teilweise verständlicher Schöpfungs- und Urzeit-
mythos auf einem Tonzylinder aus Nippur, der mit der «kos-
mischen Hochzeit» Enlils und der Muttergöttin Ninḫursaĝa
einsetzt. Leider wurden die Dichtungen der frühdynastischen
Zeit bis auf wenige Ausnahmen nicht weitertradiert und dabei
in jüngere Schreibweise übertragen, so daß diese Interpretati-
onshilfe entfällt.
Die meisten sum. Mythen sind auf Manuskripten der altbab.
Zeit überliefert (hauptsächlich 18. und 17. Jh.), doch wurden
viele von ihnen bereits in der Ur III-Zeit (ca. 2100–2000) ver-
faßt. Seit altbab. Zeit sind auch Mythen in akk. Sprache über-
liefert. Manche sum. Mythen wurden später mit akk. Überset-
zungen versehen oder auf Akkadisch nachgedichtet. Es folgt
eine Übersicht über die wichtigsten und am besten erhaltenen
sum.-babylonischen Mythen, geordnet nach ihren Hauptge-
stalten. Wenn nicht anders vermerkt, handelt es sich um sum.
Texte aus der Ur III- und altbab. Zeit. Zum Inhalt s. S. 79 ff.
Enki: «Enki und die Weltordnung»; «Enki und Ninḫursaĝa»
(älter und irreführend auch «Sumerischer Paradiesmythos»);
«Enki und Ninmaḫ»; s. a. Inanna, Ninurta.
Enlil: «Enlil und Ninlil»; «Enlil und Sud».
Erra: «Erra-Epos» (auch: «Išum und Erra»; akk., Anfang
1. Jt.)
Ḫarab: «Ḫarab-Mythos» (akk., späte Kopie, Entstehungszeit
unsicher).
Inanna / Ištar: «Inanna raubt den großen Himmel»; «Inanna
und Enki» (auch «Inanna raubt die me»); «Inanna und Ebiḫ»;
Die Quellen 37
«Inanna und Šukalletuda»; «Inannas Gang zur Unterwelt» mit
akk. Nachdichtung «Ištars Höllenfahrt» (Ende 2. Jt.).
Marduk: Enūma eliš (auch «Babylonisches Schöpfungsepos»,
akk., Ende 2. Jt.).
Martu: «Martus Hochzeit».
Nergal: «Nergal und Ereškigal» (akk., Mitte 2. Jt.).
Ninĝišzida: «Ninĝišzidas Fahrt zur Unterwelt», «Ninĝišzida
und Ninazimua».
Ninurta: Lugale und Angim (die beiden sum. Dichtungen
über N.s Kampf gegen das Ungeheuer Asag /Asakku und seine
triumphale Heimkehr nach Nippur wurden später mit akk.
Übersetzungen versehen); «Anzu-Mythos» (akk., altbab.); «Ni-
nurta und die Schildkröte».
Die «großen Götter» sind Protagonisten eines zweisprachigen
(sum.-akk.) Menschenschöpfungsmythos, der nach der Abkür-
zung der Erstpublikation als «KAR 4-Mythos» bezeichnet wird.
Der wohl aus dem 2. Jt. stammende Text ist in einem neuassyr.
Manuskript bezeichnenderweise mit einer im Schulunterricht
benutzten Liste elementarer Keilschriftzeichen kombiniert.
Die Sintflutgeschichte ist durch die unvollständig erhalte-
ne «Sumerische Sintfluterzählung», das großenteils erhaltene
«Atraḫasīs-Epos» (akk., altbab.) und die daraus geschöpfte
XI. Tafel des Gilgameš-Epos (akk., Ende 2. Jt.) überliefert.
Die sum. Epik beginnt für uns mit einer Schülertafel aus
Abū Ṣalābīḫ (26. Jh.), die eine nur teilweise verständliche Erzäh-
lung von Lugalbanda, dem sagenhaften König von Uruk und
Vorgänger des Gilgameš, und seiner Gemahlin Ninsu(mu)n ent-
hält. Auf den Untergang des Reiches von Akkade reagiert die
sum. Dichtung «Fluch über Akkad» (um 2150). Sie schildert
den Einfall der Gutäer als Folge der Hybris des Königs Narām-
Sîn: Er forderte den Zorn Enlils heraus, indem er dessen Heilig-
tum in Nippur zerstörte, da Enlil ihm die Zustimmung zum Bau
eines Tempels für die Reichsgöttin Inanna in Akkad verweigert
hatte. Ein sum. Kurzepos erzählt, wie König Utu-ḫeĝal von
Uruk mit Hilfe Enlils und anderer Götter über den letzten
Gutäer-Herrscher Tirigan (um 2120) siegt. Die auf zwei ori-
38 Die Quellen
ginalen Tonzylindern überlieferte «Tempelbau-Hymne» des
Stadtfürsten Gudea von Lagaš (um 2010) ist eigentlich ein
episch ausgestalteter Baubericht. Auch die Dichtung «Ur-Nam-
mus Tod» könnte man trotz Affinitäten zu Hymnus und Kla-
gelied als Epos bezeichnen; sie erzählt, wie Ur-Nammu, der
Begründer der III. Dynastie von Ur, nach seinem Tod in der
Unterwelt eintrifft und zum Totenrichter erhöht wird. Die mei-
sten sum. Epen kreisen um legendäre Könige von Uruk. Ob-
gleich die erhaltenen Manuskripte fast alle jünger sind, ent-
standen diese Werke wenigstens teilweise schon unter den
Königen der III. Dynastie von Ur, denn diese betrachteten sich
als Nachkommen jener legendären Herrscher. «Enmerkar und
der Herr von Aratta», «Enmerkar und Suḫkešdanna (moderner:
Suḫgiranna)», «Lugalbanda I» (auch: «L. im Finstersten des
Gebirges») und «Lugalbanda II» (auch: «L. und Anzu») han-
deln von Auseinandersetzungen zwischen Uruk und einer sa-
genhaften Stadt Aratta, die im östlichen Bergland lokalisiert
wird, woher Sumer wichtige Rohstoffe (Edelsteine, Metalle) be-
zog. Beide sind Kultorte der Inanna, die natürlich Uruk und
seine (mit ihr verwandten) Herrscher favorisiert. Leben, Taten
und Tod des Königs Gilgameš und seines Dieners und Gefähr-
ten Enkidu sind Gegenstand der Epen «Gilgameš und Akka»,
«G. und Ḫuwawa» (2 Fassungen), «G. und der Himmelsstier»,
«G., Enkidu und die Unterwelt» und «Der Tod des G.». Die
sum. Gilgameš-Epen dienten größtenteils als Vorlagen für akk.
Werke. Die akk. Gilgameš-Epik setzt in altbab. Zeit ein und
kulminiert gegen Ende des 2. Jt.s in der 12-Tafel-Version des
gelehrten Dichters Sîn-lēqi-unnīni. In altbab. Zeit entstand auch
das «Etana-Epos» um den sagenhaften ersten König von Kiš.
Den Königshymnen vergleichbare historische Epen über zeit-
genössische Herrscher in akk. Sprache sind u. a. für Zimrīlīm
von Mari (ca. 1774–1762) und Tukulti-Ninurta I. von Assur
(1233–1197) überliefert. Weitere historische Dichtungen, die
teils als Epen gelten können, teils autobiographisch stilisiert
sind, handeln von den Akkad-Königen Sargon und Naram-Sîn.
Die hethitischen Mythen haben teils altanatolischen, teils
hurritisch-mesopotamischen und teils nordwestsemitischen
Die Quellen 39
Hintergrund. Zur ersten Gruppe gehören der Mythos vom See-
ungeheuer Illujanka und dem Wettergott, der sich mit Hilfe der
Göttin Inara und eines Menschen aus seiner Gewalt befreit, so-
wie Mythen über das Verschwinden und Wiederauffinden des
Vegetationsgottes Telipinu, des Wettergottes, des Sonnengottes
und anderer Gottheiten. Auf hurritischen und mesopotamischen
Traditionen beruht der «Kumarbi-Zyklus», der von den ersten
Göttergenerationen und den Kämpfen um die Vorherrschaft
zwischen Kumarbi und dem Wettergott Teššub erzählt. 1983
wurde in Ḫattuša eine Gruppe zweisprachiger, hurritisch-hethi-
tischer Tontafeln gefunden. Sie überliefern eine als «Lied von
der Freilassung» betitelte epische Dichtung und eine Sammlung
von Parabeln, die wohl nicht – wie von einigen Forschern ange-
nommen – in erstere integriert waren. Ihr Schauplatz ist die
Stadt Ebla, deren Herrscher vom Wettergott Teššub aufgefor-
dert wird, die Bewohner einer unterjochten Stadt freizulas-
sen. Auf syrische Vorbilder geht der fragmentarisch erhaltene
«Elkunirša-Mythos» zurück; hinter dem hethitisierten Namen
der Hauptgestalt verbirgt sich der aus ugar. Mythen bekannte
Göttervater Il mit dem Epitheton «Schöpfer der Erde».
In Ugarit wurden neben Keilschriftliteratur aus mesopota-
mischer Tradition auch einheimische Mythen und Epen in ugar.
Schrift und Sprache gefunden. Ihre wichtigsten göttlichen Pro-
tagonisten sind der Wettergott Baʿl (Baal), seine Gefährtin (auch
«Schwester» genannt) ʿAnat-Aṯtart und der Göttervater Il mit
Gemahlin Aṯirat (Aschera). Die umfangreichste Komposition
ist der 6 Tafeln umfassende «Baal-Zyklus» mit den Episoden
«Baal und Jamm» (Baals Kampf mit dem Meeresgott), «Baals
Palast» und «Baal und Mōt» (Baals Kampf mit dem Todesgott).
«Jariḫ und Nikkal» handelt von der Hochzeit des Mondgottes
und enthält einen Hymnus auf die göttlichen Geburtshelfe-
rinnen Kōṯarāt. «Šaḥar und Šalim» erzählt, eingebunden in ein
Ritual, wie Il mit zwei Frauen die «Lieblichen Götter» des Mor-
gen- und Abendrots, Šaḥar und Šalim, zeugt (nach letzterem ist
die Stadt Jerusalem benannt, deren Name etwa «Gründung des
Šalim» bedeutet). Primär menschliche Protagonisten haben das
«Keret(Aussprache unsicher)-Epos» und das «ʿAqhat-Epos».
40 Die Quellen
Lexikalische Texte. Zeichen- und Wortlisten, in der Altorienta-
listik als «lexikalische Texte» bezeichnet, wurden schon mit der
Schrift selbst, als Mittel zu ihrer Standardisierung und Weiter-
vermittlung, geschaffen. Die ältesten Listen sind Kompilationen
sinnverwandter Lemmata, die oft auch graphische Gemeinsam-
keiten aufweisen: Amts- und Berufsbezeichnungen, Vögel, Fi-
sche, Bäume und Holzgeräte, Metalle und Metallobjekte, Ge-
fäße, Orte und Gewässer. Neben diesen monothematischen
Listen entwickelten sich komplexere, in verschiedene Sinnab-
schnitte unterteilte Kompilationen. Bereits im 24. Jh. finden wir
in Ebla eine partiell zweisprachige Liste dieser Art. Im 2.Jt.,
wohl bedingt durch das Aussterben des gesprochenen Sume-
risch, wurde die einspaltige Form erweitert: spaltenweise ne-
beneinander stehen eine «phonetische» Umschrift des sum.
Lemmas, die Namen der zu seiner gewöhnlichen Schreibung
verwendeten Keilschriftzeichen, das Lemma selbst und seine
akk. Übersetzung. Außerhalb des akk. Sprachgebiets konnten
weitere Übersetzungsspalten hinzutreten, im polyglotten Ugarit
fanden sich sogar Fragmente einer viersprachigen Liste (sume-
risch-akkadisch-hurritisch-ugaritisch).
Götterlisten: So konnte es kaum ausbleiben, daß man auch die
Götterwelt lexikalisch zu erfassen suchte. Auffälligerweise ge-
schah dies erst gegen 2600, viele Jahrhunderte nach Entstehung
der Schrift und der ersten lexikalischen Listen. Dies stimmt mit
der Beobachtung überein, daß in den ältesten Wirtschaftstexten
die aus späterer Zeit bekannten Namen von Gottheiten weitest-
gehend fehlen. Erst in den archaischen Wirtschaftstexten aus Ur
(ca. 2700) sind sie – meist als Bestandteile von Personenna-
men – in größerer Zahl präsent. Die ältesten Götterlisten stam-
men Šuruppag, die weitaus umfangreichste von ihnen ist auf
einer beschädigten Tontafel erhalten, die in unversehrtem Zu-
stand ca. 560 Namen umfaßte, wovon etwa 450 ganz oder teil-
weise erhalten sind. Zwei kleinere Tafeln, vielleicht Schul-
übungen, zählen Gottheiten auf, die als «51 (bzw. 28) Gottheiten,
die Fisch essen» resümiert werden. Etwas jünger ist wohl die
Götterliste aus Abū Ṣalābiḫ. Sie umfaßte über 400 Einträge,
Die Quellen 41
die sich größtenteils rekonstruieren lassen, da mehrere unter-
schiedlich gut erhaltene Textzeugen gefunden wurden. Soweit
sich Ordnungsprinzipien erkennen lassen, sind die Gottheiten
in diesen frühen Listen teils nach inhaltlichen, teils nach geogra-
phischen und teils nach formalen Gesichtspunkten angeordnet,
d. h. nach ihren Kultorten, ihren Beziehungen zueinander oder
aufgrund von Ähnlichkeiten der Namen und ihrer Schreibungen.
Jüngere Manuskripte der Götterlisten aus Šuruppag und Abū
Ṣalābīḫ sind nicht bekannt.
Gegen Ende des 3. Jt.s, in der Ur III-Zeit, wurde eine neue
Götterliste verfaßt, die weitestgehend nach inhaltlichen Ge-
sichtspunkten komponiert war und damit erstmals ein theolo-
gisch strukturiertes Gesamtbild des Pantheons entwarf. Die
nach ihrem Erstbearbeiter benannte «Weidner’sche Götterliste»
fand weite Verbreitung in Mesopotamien und darüber hinaus
(auch im ägyptischen Amarna wurde ein Fragment gefunden).
Sie wurde über 1500 Jahre lang studiert und abgeschrieben,
wobei die Schreiber zusätzliche Namen einschoben. Insgesamt
umfaßte sie etwa 270 Einträge. Im syrischen Emar entstand
eine zweispaltige Fassung mit hurr. Entsprechungen der einzel-
nen Namen, in Ugarit sind Fragmente einer dreispaltigen Fas-
sung belegt, die den Originaleinträgen hurr. und ugar. Entspre-
chungen beigesellt. Eine spätere Rezension aus Assur erweitert
die Originaleinträge (2. Spalte) jeweils um eine Ausspracheglos-
se (1. Spalte), die Namen der verwendeten Keilschriftzeichen
(3. Spalte) und einen weiteren Götternamen (4. Spalte), der den
Originaleintrag erklärt, da viele Gottheiten mehrere, z. T. wenig
gebräuchliche Namen hatten (s. S. 44).
Etwas später als die «Weidner-Liste» – vielleicht im Babylon
der Ḫammurapi-Zeit (18. Jh.) – entstand die Götterliste «An =
Anum» (so benannt nach der Anfangszeile der jüngeren zwei-
spaltigen Fassung). «An = Anum» ist wie die Weidner-Liste
nach inhaltlichen Prinzipien aufgebaut. Der älteste publizierte
Textzeuge enthält 473 Einträge. Die ältere Fassung wurde spä-
ter durch einige Umstellungen verändert und durch Einschübe
und einen Anhang mit Namen des Gottes Marduk erwei-
tert. Außerdem wurde eine zweite Spalte hinzugefügt, in der
42 Die Quellen
die Einträge der ersten Spalte durch andere Götternamen, gene-
alogische Angaben oder Funktionsbezeichnungen erklärt sind.
Am Ende einzelner Abschnitte wurden resümierende Rubri-
ken eingeschoben wie etwa «2 Töchter des (Mondgottes) Sîn»
oder «5 Schutzgottheiten des (Tempels) Egalmaḫ». Einzelne
Namen wurden mit Ausspracheglossen – gewöhnlich in
kleinerer Schrift – versehen, eine eigene Spalte war dafür nicht
vorgesehen. In ihrer «kanonischen» Form, die sich um 1200
herausbildete, umfaßte «An = Anum» etwa 2000 Einträge und
war damit zur umfangreichsten altorientalischen Götterliste
geworden.
Neben der frühen Fassung von An = Anum sind in altbab.
Zeit durch Texfunde aus Isin, Nippur und Mari verschiedene
lokale Götterlisten bezeugt. Die gegen Ende des 2. Jt.s entstan-
dene Liste An = Anum ša amēli zählt 152 Götternamen auf,
die alle als Erscheinungsformen von 19 Hauptgottheiten erklärt
werden nach dem Muster «Enbilulu = Marduk (als Gott)
der Bewässerungskanäle». Spezifisch assyrische Züge trägt eine
hauptsächlich durch Textfunde aus dem südosttürkischen Sul-
tantepe (dem assyrischen Ḫuzirina) bezeugte Liste, an deren
Spitze der assyrische Stadt- und Reichsgott Assur steht; sie um-
faßte in vollständigem Zustand etwa 200 Einträge. Die «Emesal-
Liste» schließlich ist ein lexikalisch-grammatisches Kom-
pendium zum Erlernen des in Kultliedern verwendeten sum.
«Emesal-Dialekts» (s. S. 33); der erste Abschnitt besteht aus
über 100 Götternamen in Normal- und Emesal-Form, die in
einer dritten Spalte erklärt sind. Emesal-Formen von Götterna-
men sind z. B. Mullil für Enlil, Umunmersi für Ninĝirsu oder
Gašananna für Inanna.
Kulttopographische Listen: Zu den lexikalischen Texten zählen
auch geographische und kulttopographische Listen. Letztere
zählen Orte und Heiligtümer auf, erklären deren üblicherweise
sum. Namen auf Akkadisch und nennen die dort verehrten
Gottheiten. Kulttopographische Listen sind uns für Nippur, Ba-
bylon und Assur überliefert (letztere unter der modernen Be-
zeichnung «Götteradreßbuch von Assur»).
Allgemeines zu den Gottheiten 43
Kommentare. Im 1. Jt. wurden zu verschiedenen älteren Wer-
ken Kommentare verfaßt. Es handelt sich dabei überwiegend
um Worterklärungen, doch gab es auch «Kultkommentare».
Diese stellen den in einem Ritual verwendeten Materialien und
Gerätschaften jeweils einen Götternamen gegenüber, ohne die
Beziehung näher zu erläutern. Möglicherweise steht im Hinter-
grund eine allegorische Auslegung des Ritualgeschehens.
Onomastikon. Altorientalische Personen- und Götternamen
sind in aller Regel bedeutungsvoll. Sie wurden von den Schrei-
bern semantisch analysiert und dementsprechend geschrieben,
z. B. indem die einzelnen Namensbestandteile durch Wortzei-
chen dargestellt wurden. Für längere Personennamen benutzte
man oft familiäre Kurzformen (Hypokoristika). In vollständiger
Form bestehen die meisten Personennamen entweder aus einer
genitivischen Wortverbindung wie z. B. akk. Warad-Sîn «Diener
des «(Mondgottes) Sîn», oder aus ganzen Sätzen wie z. B. akk.
Sîn-iddinam «Sîn hat mir (einen Sohn) gegeben», Sîn-aḫḫē-erība
«Sîn hat mir (die verstorbenen) Brüder ersetzt» (in biblischer
Überlieferung «Sanherib»). Da Personennamen gewöhnlich ein
«theophores Element» – d. h. den Namen einer Gottheit, eines
Kultortes oder auch Kultgegenstandes – enthalten, kann ihre
inhaltliche Analyse und statistische Auswertung zur Religions-
geschichte beitragen.
3. Allgemeines zu den Gottheiten des
altorientalischen Polytheismus
Götter und Menschen. Kult und Ritual kennen zwar scharfe
Grenzen zwischen sakraler und profaner Sphäre, doch sind
Götter und Menschen komplementäre Wesen, Überschnei-
dungen und Übergänge möglich. Einer zuerst im altbab. «Atra-
ḫasīs-Epos» überlieferten Vorstellung zufolge wurde der Mensch
aus Lehm erschaffen, der mit Fleisch und Blut eines geschlach-
44 Allgemeines zu den Gottheiten
teten Gottes vermengt worden war. Der Mensch hat somit teil
am Göttlichen. Sein in der Unterwelt fortlebender Totengeist
ist ein quasi-göttliches Wesen. «Gott werden» ist im Hethi-
tischen ein (allerdings nur für Könige belegter) Ausdruck für
«sterben». König Gilgameš von Uruk, der – falls historisch – im
30. Jh. regiert haben könnte, wurde um 2600 als Gott verehrt,
denn sein Name erscheint in der Großen Götterliste von
Šuruppag. In den Epen gilt die Göttin Ninsu(mu)n als seine
Mutter; er ist, wie es dort heißt, «zu zwei Dritteln Gott und
zu einem Drittel Mensch». König Narām-Sîn von Akkade
(ca. 2254–2200) ließ sich zu Lebzeiten als Gott verehren, spä-
tere Könige folgten ihm darin. Nördlich von Mosul kam 1975
bei Straßenbauarbeiten eine Originalinschrift Narām-Sîns zu
Tage, in der er seine Vergöttlichung wie folgt darstellt: «Narām-
Sîn, der Mächtige – als die vier Weltufer ihn gemeinsam be-
fehdeten, schlug er dank der Liebe, mit der Ištar ihn liebte,
9 siegreiche Schlachten in einem Jahr. Weil er in der Not die
Fundamente seiner Stadt gefestigt hatte, erbaten ihn sich die
Bewohner seiner Stadt (Akkad) von (der Gottheit) GN in (der
Stadt) ON zum Gott ihrer Stadt Akkad, und inmitten von Ak-
kad erbauten sie ihm ein Haus (d. h. einen Tempel)». Das acht-
mal wiederholte Syntagma «von GN in ON» nennt jeweils eine
Gottheit GN und ihren Kultort ON.
Namen. Götternamen (Theonyme) werden in der Regel durch
das vorangestellte Zeichen AN markiert, das einen Stern abbil-
det. Als Wortzeichen steht es für «Himmel» (sum. an) bzw. den
Himmelsgott An und für «Gott» (sum. diĝir). Möglicherweise
ging der Gebrauch als Determinativ von der schon in den ältes-
ten Texten belegten Schreibung AN.MUŠ3 für den Namen
der Venusgöttin Inanna aus, worin AN auf ihren Himmels-
oder Gestirnsaspekt verweist, während MUŠ3 ihr Emblem, das
sog. «Schilfringbündel», abbildet. Das Gottesdeterminativ
wird durch ein hochgestelltes d transliteriert, also z. B. dinanna,
d
en-ki.
Viele Gottheiten besitzen mehrere Namen, einerseits auf-
grund von verselbständigten Titeln oder Beiwörtern, anderer-
Allgemeines zu den Gottheiten 45
seits als Resultat der Verschmelzung ursprünglich verschiedener
Gottheiten (Synkretismus). Ein Beispiel für ersteren Fall bietet
der aus der Bibel als Konkurrent des israelitischen National-
gottes bekannte Baal: Hinter der eingedeutschten Namens-
form steckt nordwestsem. baʿl(u) «(der) Herr», ein schon in den
Ebla-Texten (24. Jh.) bezeugter Titel des Wettergottes. Sein ei-
gentlicher Name lautete nordwestsemitisch Haddu oder Hadad,
akk. Addu oder Adad. Synkretismus ist bei einigen Hauptge-
stalten des babylonischen Pantheons vorauszusetzen, die einen
sum. und einen akk. Namen tragen wie z. B. Enki / Ea (Wasser-
und Weisheitsgott), Nanna / Su’en > Sîn (Mondgott), Utu / Šamaš
(Sonnengott), Inanna / Ištar (Venusgöttin), Iškur /Adad (Wetter-
gott) u. a. Vergleichbare Fälle griech.-lat. Entsprechungen sind
aus der klassischen Antike geläufig: Zeus / Jupiter, Hera / Juno,
Artemis / Diana. Am Ende des «Babylonischen Schöpfungsepos»
Enūma eliš wird Marduk, den die Götter zu ihrem König erho-
ben haben, unter 50 Namen gepriesen. Jeder Name wird in ei-
ner Strophe auf lautlicher und graphischer Ebene ausgedeutet.
Die Zahl der Namen ist nicht nur Ausdruck von Marduks
Machtfülle, sie weist auch darauf hin, daß er den Rang des
sum. Götterkönigs Enlil eingenommen hatte, dessen Symbol-
zahl eben die 50 war.
Der Name gehört nach altorientalischer Vorstellung zum We-
sen der Dinge und erst recht einer menschlichen oder göttlichen
Person. Götternamen in gesprochener und geschriebener Form
waren Gegenstand theologischer Reflexion und Spekulation,
wie nicht nur die Götterlisten oder das Enūma eliš zeigen. So
heißt es bereits in der ca. 2100 entstandenen sum. Tempel-
bauhymne des Stadtfürsten Gudea von Lagaš über den Mond-
gott, daß sein Name Su’en (jünger Sîn) «nicht zu lösen» (d. h.
nicht zu deuten) sei.
Bei Götternamen sind wie bei Personennamen sprach- und
kulturspezifische Eigenheiten zu beobachten. Besonders stereo-
typ ist die Bildeweise der sum. Götternamen: Die allermeisten
sind Zusammensetzungen aus Nin-, Lugal- oder En- und einem
folgenden Nomen. lugal und en bedeuten beide etwa «König,
Herr», nin ist deren weibliche Entsprechung und bedeutet
46 Allgemeines zu den Gottheiten
«Herrin, Königin». Es handelt sich entweder um appositio-
nelle oder genitivische Verbindungen, also «Herr(in) X» bzw.
«Herr(in) von X», wobei der erstere Typ ursprünglicher ist.
Einige Götterpaare tragen miteinander korrespondierende Na-
men, in denen sich En- und Nin- gegenüberstehen: so z. B. die
Urgottheiten Enki – Ninki «Herrin / Herr Erde» oder der Göt-
terkönig Enlil mit seiner Gemahlin Ninlil. Das Keilschriftzei-
chen, mit dem nin geschrieben wird, ist mit dem Zeichen für
«Frau» (Piktogramm des Schamdreiecks) zusammengesetzt und
weist somit auf weibliche Konnotation hin; mit demselben Zei-
chen wird das Wort für «Schwester» geschrieben. Dennoch be-
ziehen sich die meisten mit Nin- gebildeten Götternamen nicht,
wie man erwarten würde, auf weibliche, sondern auf männliche
Gottheiten! Dieses Problem hat bislang keine allgemein aner-
kannte Lösung gefunden. Mögliche Erklärungen gehen dahin,
daß das Wort nin einst geschlechtsneutral war oder daß alle
Nin-Gottheiten ursprünglich weiblich waren. Eine typische Bil-
deweise ugaritischer Götternamen ist die Verbindung zweier
Substantive: Beispielsweise heißt der dem mesopotamischen
Enki / Ea entsprechende Handwerkergott Kōṯar-wa-Ḫasīs, was
etwa «Kreativität und Verstand» bedeutet.
Kosmisch-funktionale Aspekte. Die Gottheiten stellen in der
Regel jeweils eine kosmische Entität dar. Der durch Gottheiten
repräsentierte Kosmos, wie er sich in den Götterlisten manife-
stiert, umfaßt Natur, Mensch und Kultur einschließlich ab-
strakter Aspekte: Himmel (An /Anum), Erde (Uraš), Unterwelt
(Ereškigal, Nergal), Meer (Nammu), Süßwasser (Enki / Ea), Feu-
er (Girra), Mond (Nanna / Sîn), Sonne (Utu / Šamaš), Venusstern
(Inanna / Ištar), Sexualität und Fruchtbarkeit (Inanna / Ištar, Na-
naja), Schwangerschaft und Geburt (Muttergöttin), Sturm und
Gewitter (Iškur /Adad), Wildtiere (Sumuqan / Šakkan), Fische
und Vögel (Nanše), Fischerei (Adagbir), Schlangen (Neraḫ),
Ackerbau (Ninurta, Enkimdu), Bewässerung (Enbilulu), Ge-
treide (Nissaba / Ezinu /Ašnan), Ziegel (Kulla), Baukunst (Muš-
dama), Weberei (Uttu), Töpferei (Nunurra), Schmiedekunst
(Ninagal, Kusigbanda) u. a. Handwerksberufe, Musik (Lumḫa,
Allgemeines zu den Gottheiten 47
Dunga) und Musikinstrumente (z. B. Inannas Leier Ninigizbar-
ra), Kultgeräte und Tempelteile, Schrift (Nissaba, Nabû), Magie
(Ningirima, Enki, Asalluḫi / Marduk), Heilkunst (Gula), Opfer-
schau (Sonnengott, Wettergott u. a.), Träume (Mamu u. a.) und
Traumdeutung (Nanše), «Wahrhaftigkeit» (Niĝ-gina / Kīttu) und
«Gerechtigkeit» (Niĝ-sisa / Mīšāru), (Krankheits-)Dämon(inn)en
und Totengeister. Manche Gottheiten lassen sich nicht direkt
mit einer kosmischen Entität verbinden, sondern nur über eine
andere Gottheit, als deren Gemahl(in), Kind oder Diener sie er-
scheinen. Mit dem kosmischen Primäraspekt sind oft weitere
Funktionen verknüpft: So dürfte die Funktion des Sonnengottes
als oberster Richter mit seinem Licht, das Verborgenes sichtbar
macht, und seiner Bahn, von der aus er alles sieht, zusammen-
hängen. Zuweilen repräsentiert ein Götterpaar Haupt- bzw.
Nebenaspekt einer Entität: so ist die Gattin des Sonnengottes
Utu / Šamaš wohl das (morgendliche) «Sonnenlicht», während
der Gemahl der Gefängnisgöttin Nungal den sprechenden Na-
men Bird / tu «Fessel» trägt. Schöpfungsmythologisch lassen
sich Gottheiten des aktuellen Kosmos von Urgottheiten einer
überwundenen Vorwelt unterscheiden, die man sich als «gefan-
gen» und in der Unterwelt hausend vorstellt.
Konzepte göttlicher Weltordnung und -lenkung. Vorstel-
lungen über die Einrichtung und Lenkung des Kosmos haben
sich bei den Sumerern in einer eigenen Begrifflichkeit niederge-
schlagen. Ihre zentralen Termini sind me und nam. Ersterer
wird konventionell je nach Kontext als «göttliche Kräfte» oder
«Kultordnungen» übersetzt. Er bezeichnet die «Bestandteile»
oder «Institutionen» der Welt. Etymologisch ist er vielleicht mit
dem Verbum me «sein» oder einem Wort für «selbst» identisch.
Das akk. Äquivalent lautet parṣū, ein Pluralwort, dessen semi-
tische Wurzel etwa «abtrennen» bedeutet. Die me wurden vor
allem mit den Gottheiten Inanna und Enki verknüpft. Bereits in
den ältesten mythologischen Texten aus Šuruppag und Abū
Ṣalābīḫ ist von Inanna und ihren 50 me die Rede. Der Mythos
«Inanna und Enki» erzählt, wie Inanna dem trunkenen Enki
die me ablistet und in ihre Stadt Uruk schafft. In diesem Text
48 Allgemeines zu den Gottheiten
werden über hundert me namentlich aufgezählt; die folgende,
sich an die Reihenfolge des Originals haltende Auswahl mag
einen Eindruck von der inhaltlichen Breite des Begriffs vermit-
teln: en-Priestertum, Göttlichkeit, Thron des Königtums, Szep-
ter, Hirtentum, Königtum, išib-Priestertum, lumaḫ-Priestertum,
Wahrheit, Schwert und Dolch, schwarzes Kleid, buntes Kleid,
Nackenfrisur, Kultstandarte, Flut, Geschlechtsverkehr, Küssen,
Prostitution, Kultdirne, lautes Sprechen, flüsternde Verleum-
dung, Musik, Alter, Bosheit, Rechtschaffenheit, Unterwegssein,
Wohnsitz, Tischlerhandwerk, Mattenflechterhandwerk, Wis-
sen, Ehrfurcht, Schweigen, Familie, Streit, Sieg, Beratung, Ent-
scheidung, Pauke, Trommel.
Der Terminus nam erscheint in fester Verbindung mit dem
Verbum tar «abtrennen»; die Kombination wird konventio-
nell durch «Schicksal bestimmen» wiedergegeben, im Akk. ent-
spricht dem šīmta šiāmu «die Bestimmung bestimmen». Oft ist
von «Schicksalsbestimmung» in Zusammenhang mit neu instal-
lierten Personen und Dingen die Rede, denen Ort oder Funktion
in der Weltordnung zugewiesen wird. Ein «gutes Schicksal be-
stimmen» bedeutet etwa «segnen». Da ein wesentlicher Aspekt
des menschlichen Schicksals der Tod ist, war Namtar «Schick-
sal» auch der Name des Todesdämons. Die Macht der Schick-
salsbestimmung eignete im Prinzip allen großen Göttern, ins-
besondere aber Enlil. Die von Enlil verwaltete Weltordnung
verdichtete sich im Mythos zu einer in seinem Besitz befind-
lichen «Tafel der Schicksale». Im Enūma eliš übernimmt sie
Marduk aus dem Besitz der Urgöttin Tiāmat und ihres Heer-
führes Qingu.
Eine andere Konzeption finden wir in Kleinasien in Gestalt
der Göttinnen Gulšeš, die wie die griech. Moiren und die lat.
Parzen als eine Art grauer Eminenz im Hintergrund der großen
Götter die Schicksale bestimmen.
Erscheinungsformen, Attribute und Symbole. Das Verhältnis
zwischen den altorientalischen Gottheiten und den kosmischen
Entitäten, die sie repräsentieren, ist ambivalent. Sie können sich
in ihnen manifestieren, sind jedoch nicht mit ihnen identisch.
Allgemeines zu den Gottheiten 49
Die mythologische Einleitung der astronomischen Omenserie
Enūma Anu Enlil stellt ausdrücklich fest, daß Sonne und Mond
von An und Enlil als Zeitmesser geschaffen wurden. Hinter den
kosmischen Erscheinungsformen stehen göttliche Personen, die
man in verschiedener Gestalt abbilden konnte. So wird der
Mondgott Nanna / Sîn, dessen primäre Erscheinungsform der
Himmelskörper ist, oft menschengestaltig dargestellt. Er konnte
auch als Stier, dessen Hörner die Neumondsichel bilden, als
Hirt der Sternenherde oder als «großes Himmelsboot» und des-
sen Lenker aufgefaßt werden. Während höhere Gottheiten in
reiner Menschengestalt dargestellt werden, erscheinen nied-
rigere, die wir auch «Dämonen» nennen, als Mischwesen aus
tierischen und menschlichen Komponenten. Die menschenköp-
figen Stierkolosse, die einst die Tore neuassyrischer Paläste hü-
teten, sind gute «Schutzdämonen». Die böse Dämonin Lamaštu,
Verursacherin des Kindbettfiebers, stellte man sich als Scheusal
mit dem Kopf einer Löwin, Eselsohren, Adlerkrallen und zu-
weilen auch Flügeln vor.
Ein weit verbreitetes Merkmal anthropomorph dargestellter
Gottheiten ist die «Hörnerkrone», eine mit Rinderhörnern ver-
zierte Kopfbedeckung, die sich um die Mitte des 3. Jt.s in Sumer
herausgebildet hatte (Abb. 3). Ein aufwendig gefertigtes, in
der Akkad-Zeit (23. / 22. Jh.) auch von Menschen getragenes
Wickelgewand wurde in den folgenden Jahrhunderten ikono-
graphisches Kennzeichen von Gottheiten.
Altorientalischen Vorstellungen zufolge sind göttliche Wesen
von einem furchterregenden Glanz umgeben, der sum. mela / em,
akk. melammu, šalummatu oder einfach puluḫtu «Schrecken»
genannt wird. Vom Riesen Ḫuwawa, der im Auftrag des Gottes
Enlil den Zedernwald bewachte, erzählt das Gilgameš-Epos,
daß ihn sieben solcher Auren umgaben. Auch Könige zeichnete
dieser Glanz aus: So behaupten die Inschriften assyrischer Kö-
nige, die als Vizeregenten des Reichsgottes Assur in den Krieg
zogen, daß ihr «Schreckensglanz» die Feinde überwältigt habe.
Darüber hinaus besitzen die Gottheiten individuelle Merk-
male, Attribute und Embleme oder Symbole. So hat Isimud /
Usmû, der «Wesir» des Enki / Ea, 2 (oder 4) in entgegengesetzte
50 Allgemeines zu den Gottheiten
Richtungen blickende Gesichter wie der römische Janus. Auch
Marduk besitzt laut Enūma eliš vier Augen. Mit der Göttin
Inanna war das «Schilfringbündel», eine Standarte aus Schilf-
rohr, verknüpft, denn es ist das Urbild des Keilschriftzeichens,
mit dem man ihren Namen schrieb. Auf eine ähnliche Standarte
geht das Keilschriftzeichen ŠEŠ zurück, mit dem man den
Namen des Mondgottes Nanna (dŠEŠ+NA > dŠEŠ.KI) sowie
den Namen seiner Kultstadt Ur (ŠEŠ.UNUGki «Wohnstatt des
Mondgottes») schrieb. Sonnengott, Mondgott und Venusgöttin
werden ikonographisch durch stilisierte Darstellungen der be-
treffenden Himmelskörper symbolisiert, der Wettergott durch
ein Paar oder Bündel stilisierter Blitze, die er auch als Attribut
in der Hand halten kann. Ein (Kuh-)Uterus ist wohl das Urbild
des «omegaförmigen» Symbols der Muttergöttin. Weitere At-
tribute oder Symbole sind z. B. die Säge des Sonnengottes Utu /
Šamaš, der Spaten und der Schlangendrache des Marduk, der
Griffel des Schreibergottes Nabû, der Hund der Heilgöttin
Gula, die Löwen der Inanna / Ištar, die löwenköpfige Keule des
Nergal, die Schlange des Ištaran, der Skorpion der Išḫara und
der Ziegenfisch des Enki / Ea.
Götterzahlen. Einigen bedeutenderen Gottheiten waren Zah-
len zugeordnet, die zur Schreibung ihrer Namen dienen konn-
ten. Ausgangspunkt war wohl 30 als normierte Zahl der Mo-
natstage: Sie ließ sich mit dem Mondgott in Verbindung bringen
und konnte seit altbab. Zeit zur Schreibung seines akk. Namens
Sîn verwendet werden. Die etwas später aufkommende Verwen-
dung der Zahl 15 für den Namen seiner Tochter Ištar scheint
darauf bezogen sein. Der Name des Wettergottes Iškur /Adad
wurde seit mittelbabylonischer Zeit häufig mit dem Zahlzeichen
für 10 geschrieben; dies könnte daraus zu erklären sein, daß das
betreffende Keilschriftzeichen auch für sum. umun «Herr»
steht, dessen nordwestsem. Äquivalent Baʿl (Baal) ein sehr ge-
bräuchlicher Titel des Gottes war. Mit dem Sonnengott Utu/
Šamaš war die 20 assoziiert. Hier und anderen Fällen zeigt sich
eine Verbindung zum monatlichen Kultkalender, da der 20. Mo-
natstag gemeinhin dem Sonnengott heilig war.
Allgemeines zu den Gottheiten 51
Sterne. Neben den großen Himmelskörpern Sonne, Mond und
Venus, denen Hauptgestalten des Pantheons entsprachen, fan-
den in Babylonien auch die anderen Sterne früh Beachtung. In
lexikalischen Listen der altbab. Zeit findet sich der erste Stern-
katalog. Etwa zur selben Zeit bittet ein Opferschauer in einem
nächtlichen Gebet: «Girra (Feuergott), Erra (Unterweltsgott),
Bogen, Joch, šitaddarum (= Orion, wörtliche Bedeutung unsi-
cher), Drachen, Wagen, Ziege, Wisent und Schlange mögen her-
zutreten! In die Opferschau, die ich durchführen werde, in das
Lamm, das ich opfern werde, legt die Wahrheit!» Die hier auf-
gezählten Sternnamen werden zwar ohne Gottesdeterminativ
geschrieben, erscheinen aber als selbständige göttliche Wesen.
Die spätere Entwicklung ging dahin, alle «gewöhnlichen» Gott-
heiten mit Sternen und Sternbildern zu assoziieren, die dann oft
einfach den Namen der entsprechenden Gottheit trugen. Der
Sternhimmel wurde in drei «Wege», d. h. Zonen, eingeteilt, die
den Göttern Anu, Enlil und Ea unterstanden. Besondere Beach-
tung fand der jährliche Lauf der Sonne durch den Sternenhim-
mel, er wurde zunächst in 17, dann in 12 durch Sternbilder
markierte Abschnitte eingeteilt. Man hat in Hinblick auf die
zunehmende Bedeutung der Sterne, nicht zuletzt auch für Wahr-
sagezwecke, von einer «Astralisierung» der altorientalischen
Religion im 1. Jt. gesprochen. Die Beschäftigung mit dem Ster-
nenhimmel wurde auch von den Griechen und Römern als
Charakteristikum der mesopotamischen Kultur wahrgenom-
men, «Chaldäer» war etwa gleichbedeutend mit «Sterndeuter».
Viele heutige Sternnamen gehen letztlich auf altorientalische
Bezeichnungen zurück, die ins Aramäische, Arabische, Grie-
chische, Lateinische und weiter in moderne Sprachen über-
tragen wurden, wobei sich zuweilen Mißverständnisse und Um-
deutungen ereigneten. Bereits die Tatsache, daß der Venusstern
sowohl im Alten Orient als auch im Mittelmeerraum mit einer
Liebesgöttin assoziiert wurde (Inanna / Ištar bzw. Aphrodite /Ve-
nus), dürfte nicht auf Zufall beruhen. Parallelen sind auch bei
den Planeten Mars und Jupiter zu erkennen, die in Mesopota-
mien mit dem Unterwelts- und Kriegsgott Nergal bzw. dem
Götterkönig Marduk verbunden waren. Von den Sternnamen
52 Allgemeines zu den Gottheiten
des oben zitierten «Gebets an die Götter der Nacht» hat sich
der «Wagen» durch verschiedene Übersetzungen hindurch er-
halten. Die 12 den Lauf der Sonne markierenden Sternbilder
wurden von den Griechen als zodiakòs kýklos «Tierkreis» rezi-
piert, ihre altorientalischen Namen sind übersetzt (und z. T. um-
gedeutet) noch heute in Gebrauch.
Geschlecht. Anthropomorphe Gottesvorstellungen implizieren
die Geschlechtlichkeit der Gottheiten und damit auch die Asso-
ziation kosmischer Entitäten mit einem der beiden Geschlech-
ter. Solche Assoziationen sind kulturspezifisch. In Mesopota-
mien waren z. B. Himmel (An /Anum), Sturm und Gewitter
(Iškur /Adad), Mond (Nanna / Sîn), Sonne (Utu / Šamaš), Feuer
(Girra), Süßwasser (Enki / Ea), Ackerbau (Ninurta) und die mei-
sten Handwerkszweige mit männlichen Gottheiten assoziiert,
Meer (Nammu / Tiāmat), Getreide (Nissaba /Ašnan), Medizin
(Gula), Traumdeutung (Nanše), Weberei (Uttu), Brauwesen
(Ninkasi) und Gefängnis (Nungal) mit weiblichen. Der Ve-
nusstern war bei den Sumerern wohl von Hause aus mit einer
Göttin assoziiert, im Semitischen hingegen mit einer männlichen
Gottheit als Abendstern und einer weiblichen als Morgenstern;
in Mesopotamien überwog jedoch die weibliche Deutung. Die
Sonne galt außerhalb Mesopotamiens z. T. als weiblich, das
Meer als männlich (Ugarit, Kleinasien). Einen Sonderfall stellt
die Unterwelt dar, die in Mesopotamien mit einer weiblichen
und einer männlichen Hauptgestalt besetzt war. Beide ent-
stammten wohl verschiedenen Traditionen, die im Mythos
«Nergal und Ereškigal» zusammengeführt wurden. Selten sind
diachrone Veränderungen zu beobachten – sei es, daß sich das
Geschlecht einer Gottheit wandelt wie bei der Braugöttin Nin-
kasi oder Lisi(n), einer Tochter der Muttergöttin, die später
(auch) als männlich angesehen wurden, oder sei es, daß die Zu-
ständigkeit auf eine Gottheit anderen Geschlechts übergeht wie
bei der Schreibkunst: Ihre frühere Patronin, die Getreidegöttin
Nissaba, wurde in dieser Funktion von Nabû, einem «Empor-
kömmling» des 2. Jt.s, verdrängt.
Allgemeines zu den Gottheiten 53
Familie, Hofstaat und andere Gruppierungen. Die grundle-
genden Strukturprinzipien des mesopotamischen Pantheons
sind Familie und Hofstaat. Das bedeutet zunächst, daß die
Gottheiten zu Paaren geordnet sind. Dabei dominiert meist der
eine Part, während der andere oft nur eine systembedingte
Komplementierung darstellt oder einen sekundären Aspekt der
vom Partner repräsentierten Entität vertritt. Eine hochrangige
Gottheit ohne Ehepartner (und nach vorherrschender Tradition
ohne Kinder) ist Inanna / Ištar, die Göttin des Venussterns, der
Sexualität und des Krieges. Es handelt sich aber nur um eine
scheinbare Ausnahme, denn zum einen ist sie im Mythos mit
einem jugendlichen Geliebten, dem Hirten Dumuzi /Tammuz,
liiert, zum andern repräsentiert sie gerade die mädchenhaften,
vorehelichen Aspekte der Weiblichkeit, während andere sich in
der Gestalt einer Muttergöttin verdichteten, die für Schwanger-
schaft, Geburt und mütterliche Fürsorge zuständig war. Neben
dem Ehepartner sind den Gottheiten auch Geschwister, Vorfah-
ren und Kinder zugeordnet, sie bilden insgesamt eine gewaltige
Familie von 4 bis 5 Generationen. Bedeutende Gottheiten verfü-
gen typischerweise über eine herausragende Diener- und Boten-
gestalt, die modern oft mit dem arab. Titel «Wesir» bezeichnet
wird. Darüber hinaus gehören zum Hofstaat Ammen, Berater,
Musiker und Musikinstrumente, Friseure, Hirten, Wächter und
andere. Der göttliche Hofstaat spiegelt die Verhältnisse am Kö-
nigspalast und im Tempel wider. Dort residiert die zentrale
Gottheit in Gestalt ihres Kultbildes, Familie und Hofstaat sind
ebenfalls in Form von Kultbildern, Emblemen, Kultgeräten oder
auch Bauteilen präsent.
Die Götter nehmen an einer Ratsversammlung (sum. unkin,
akk. puḫru) teil, die in einer Götterliste aus Ugarit selbst als
Gottheit erscheint. Sie spiegelt eine reale Institution wider, die
uns historisch jedoch nur partiell faßbar ist. Als Oberhaupt der
göttlichen Ratsversammlung gelten An oder Enlil, ihren Sitz,
sum. ubšu-unkinak, akk. ubšukkinakku genannt, hat sie am
Hofe Enlils in Nippur.
Häufig werden die Götter in zwei Gruppen unterteilt, die
akk. Anu(na)kkū und Igigû heißen. Erstere Bezeichnung geht
54 Allgemeines zu den Gottheiten
auf sum. a-nun-ak-ene «die (Götter) fürstlichen Samens» zu-
rück. Die andere ist unklaren Ursprungs, sum. wird sie mit
nun-gal-ene «die großen Fürsten» wiedergegeben. Beide Termi-
ni können für sich oder in Kombination als poetischer Ausdruck
für die Gesamtheit der großen Götter verwendet werden. In
manchen Belegen bezeichnet jedoch Anu(nna)kkū die unter-
weltlichen und Igigû die oberweltlichen Götter. Zudem gibt es
verschiedene kleinere Göttergruppen mit fester Mitgliederan-
zahl. Am häufigsten sind Heptaden (Siebenergruppen). Wäh-
rend die «(Bösen) Sieben» eine natürliche Grundlage haben,
nämlich das Sternbild der Plejaden, beruhen andere auf künst-
licher Systematisierung. So stellt die Götterliste An = Anum in
einem Anhang «nationale» Heptaden wie die 7 Götter von
Sumer (An, Enlil, Ea, Sîn, Šamaš, Adad, Ninurta) zusammen,
denen die 7 Götter von Akkad, Gutium und Elam gegenüberge-
stellt werden. Dyaden (Zweiergruppen) sind z. B. die Wetter-
dämonen Šullat und Ḫaniš, die in den Götterlisten mit dem Son-
nengott Šamaš bzw. dem Wettergott Adad identifiziert werden,
und die «großen Zwillinge» Lugalirra und Meslamta’ea, ur-
sprünglich wohl verschiedene Erscheinungsformen des Unter-
weltsgottes. Am Ende der altorientalischen Ära kommen Tria-
denbildungen in Mode wie z. B. Bēl (Wetter- und Himmelsgott)
– ʿAglibōl (Mondgott) – Jarḥibōl (Sonnengott) in Palmyra. Auch
außerhalb des altorientalischen Kulturraumes sind Göttergrup-
pen häufig, man denke etwa an die 12 Olympischen Götter, die
9 Musen, die 3 Moiren/Parzen oder die 3 Chariten / Grazien.
Hierarchie. Das altmesopotamische Pantheon kennt aufgrund
seiner Familien- und Hofstaatstruktur vielerlei Rangabstu-
fungen. Das gesamte Pantheon wird von einigen wenigen be-
deutenden Gottheiten dominiert und nominell von einem ein-
zigen Götterkönig regiert. Dies ist bei Einsetzen der schriftlichen
Quellen Enlil. Seine Vormachtstellung ist mythologisch in sei-
ner Rolle als Schöpfer begründet, der Himmel und Erde von-
einander getrennt hat. Sein Name kann metonymisch im Sinne
von «göttlicher Oberherr» gebraucht werden, im Akkadischen
konnte man von ihm sogar ein Abstraktum ellilūtu «Enlilschaft»
Allgemeines zu den Gottheiten 55
ableiten, um diesen Rang zu bezeichnen. Ähnlich hohe Positio-
nen nahmen der Himmelsgott An /Anum und der Wasser- und
Schöpfergott Enki / Ea ein. Letzterer war vielleicht ursprüng-
lich Protagonist einer mit der Enlil-Kosmogonie konkurrieren-
den Schöpfungsmythologie, der zufolge Himmel und Erde aus
einem Urmeer hervorgingen. In beiden Vorstellungen spielt der
Himmel(sgott) als noch präsente Urgottheit eine wichtige Rolle,
weshalb er in Aufzählungen immer an erster Stelle vor Enlil und
Enki / Ea erscheint. Oft wird nach An, Enlil und Enki / Ea die
Muttergöttin Ninmaḫ / Ninḫursaĝa / Bēlet-ilī genannt. Sie galt als
Schwester Enlils und als Mutter seines erstgeborenen Sohnes
Ninurta, aber auch als Gemahlin Enkis. Einen ähnlich hohen
Rang hatte die für Sexualität, Fruchtbarkeit und Krieg zustän-
dige Venusgöttin Inanna / Ištar inne, die nach einer Tradition als
Gefährtin und Tochter des Himmelsgottes An /Anum galt. Mit
Enlil konkurrierte an Bedeutung sein Sohn Ninurta. Im Lau-
fe des 2. Jt.s rückte Marduk, der Stadtgott von Babylon, zum
Oberhaupt des babylonischen Pantheons auf; er wurde genealo-
gisch an Enki angeschlossen, übernahm aber auch Züge Enlils
und Ninurtas. Ansatzweise zeichnet sich im 1. Jt. ein ähnlicher
Aufstieg des Gottes Nabû ab. In Assyrien galt der Stadt- und
Reichsgott Assur als oberster Gott. Auch in den Staaten außer-
halb Mesopotamiens nahm in der Regel eine bestimmte Gott-
heit die höchste Position im offiziellen Pantheon ein, wie etwa
Kura in Ebla, Il / Dagan in Ugarit, der «Wettergott von Ḫatti» im
Hethiterreich, Melqart in Tyros (und dessen Kolonie Karthago),
Milkom in Ammon, Kamoš in Moab, Qaus in Edom und nicht
zuletzt Jahwe in Israel.
Ortsbezug, Lokalpanthea. Städte und Orte waren jeweils mit
einer bestimmten Gottheit in besonderer Weise verbunden, die
im Mittelpunkt des lokalen Pantheons und Kultes stand. Dies
gilt auch für größere Städte wie Babylon oder Assur, die neben
dem Kultzentrum der jeweiligen Stadtgottheit (Marduk bzw.
Assur) noch zahlreiche weitere Tempel beherbergten. Selten sind
Städte wie Mari, wo sich unter den verehrten Gottheiten keine
deutliche Priorität abzeichnet, und Städte mit zwei Hauptgott-
56 Allgemeines zu den Gottheiten
heiten wie Uruk (An und Inanna / Ištar) oder Kiš (Zababa und
Inanna / Ištar); sie gehen wohl auf ursprünglich getrennte Sied-
lungen zurück. In Nippur, wo Enlil als Oberhaupt des Panthe-
ons residierte, spielte auch sein Sohn Ninurta mit der Gemahlin
Ninnibru «Herrin von Nippur» eine wichtige Rolle. Die enge
Verbindung zwischen Gottheiten und ihren Kultorten zeigt
sich auch darin, daß die Schreibung mancher Ortsnamen mit
der Schreibung ihrer Gottheit identisch ist (z. B. Nippur / Enlil,
Ereš / Nissaba, Šuruppag / Sud) oder von dieser abgeleitet ist (z. B.
Ur / Nanna, Larsa / Utu, Zabalam / Inanna). In Südmesopotamien
sind die Hauptgestalten des Pantheons fast komplementär auf
wichtige Städte verteilt, was frühe politisch-kultische Zusam-
menhänge widerspiegeln dürfte. Die Orts- und Landesverbun-
denheit des Pantheons kommt auch in Formulierungen wie «die
1000 Götter des Ḫatti-Landes» oder «die Götter von Ugarit»
zum Ausdruck.
Religiöser Pluralismus. Der altorientalische Polytheismus war
keine dogmatisch fundierte Konfession, bezeichnend für ihn
ist vielmehr eine Art Pluralismus, der auch widersprüchliche
Vorstellungen zuläßt. Beispielsweise gilt als Vater der Göttin
Inanna / Ištar der Himmelsgott An oder der Mondgott Nan-
na / Sîn. Dieselbe Gottheit konnte an der Spitze verschiedener
Lokalpanthea stehen und war somit an verschiedenen Orten in
Gestalt ihres Kultbildes präsent. Besonders weit verbreitet wa-
ren Kultstätten der Inanna / Ištar. Wir sprechen in solchen Fäl-
len von «lokalen Erscheinungsformen» oder «Hypostasen». Ein
interessanter und bislang singulärer Beleg für den Umgang mit
diesem Phänomen findet sich in einem hethitischen Ritual zur
Einweihung einer neuen Kultstätte der «Göttin der Nacht»,
einer Ištar-Gestalt. Darin wird die Göttin gebeten: «Geehrte
Gottheit! Bewahre dein Wesen, teile deine Göttlichkeit aber auf!
Komm auch zu jenem neuen Tempel und nimm dir den Ehren-
platz!». Im Hethiterreich wurden sogar weibliche und männ-
liche Sonnengottheiten nebeneinander verehrt.
Hauptgestalten der Götterwelt 57
4. Hauptgestalten der altorientalischen Götterwelt
Im folgenden sollen die wichtigsten altorientalischen Gottheiten
vorgestellt werden. Grundlage ist das sum.-babylonische Pan-
theon, das in ganz Mesopotamien und z. T. darüber hinaus be-
kannt war. Auf außermesopotamische Entsprechungen wird je-
weils am Ende der einzelnen Kapitel hingewiesen.
Der Himmelsgott An / Anu(m). Der sum. Himmelsgott An ist
nach Ausweis seines Namens ursprünglich der vergöttlichte
Himmel selbst. Sein Name wurde von den Akkadern in der
Form Anu(m) übernommen. Er galt nominell als oberster Gott
und wird dementsprechend in Aufzählungen und in den meisten
Götterlisten an erster Stelle genannt, doch spielt er in der My-
thologie eine eher passive Rolle. In älterer Zeit galt Uraš als
seine Gemahlin. Denselben Namen trug eine männliche, im
nordbabylonischen Dilbat verehrte Gottheit. Es handelt sich
um ein altes Wort für «Erde», das in etwas anderer Form auch
im Namen des Ackerbaugottes Ninurta steckt. Offenbar gab es
in frühester Zeit unterschiedliche Vorstellungen vom Geschlecht
der Erde. Himmel und Erde wurden von Enlil getrennt, der da-
her letzlich von An, von der Erde oder von beiden abstammen
muß. Er wird jedoch nur sporadisch als «Sohn (oder Nachkom-
me) des An» bezeichnet. Im Zuge jüngerer Spekulationen wur-
de zu akk. Anu(m) ein Femininum Antu(m) gebildet und das so
benannte weibliche Pendant des Himmelsgottes mit der «Erde»,
mit Ištar, aber auch mit dem «(Ur-)Meer» identifiziert. Die Göt-
terliste An = Anum schreibt An einige Vorfahrenpaare zu, da-
runter Uraš – Ninuraš «Erde – Frau Erde» und Duri – Dari,
etwa «Dauer – Ewigkeit». Sie integriert wohl eine mit Himmel
und Erde einsetzende Kosmogonie in eine andere, der zufolge
die Größe Himmel-Erde aus einem Urmeer aufstieg. Die auffäl-
lige Tatsache, daß An kein gleichrangiges weibliches Pendant
58 Hauptgestalten der Götterwelt
namens Ki «Erde» neben sich hat, mag damit zusammenhän-
gen, daß dieses Wort nicht bloß «Erde», sondern auch «Unter-
welt» bedeutete, diese aber mit anderen Hauptgestalten des
Pantheons besetzt war. Ans Hauptkultort ist Uruk. Dort ist er
eng mit der Venusgöttin Inanna / Ištar verbunden, die in älterer
Zeit als seine «Geweihte», später als seine Tocher bezeichnet
wird. Im hellenistischen Uruk erlebte der Kult des Anu einen
späten Aufschwung, möglicherweise weil Anu mit Zeus identi-
fiziert wurde.
Enlil, Schöpfergott und Oberhaupt des Pantheons. Enlil ist
zwar kosmogonisch dem Himmelsgott An nachgeordnet, er
wurde jedoch, indem er Himmel und Erde trennte, zum Schöp-
fer des aktuellen Kosmos und erscheint in den Mythen als ak-
tiver Oberherr des sum. Pantheons. Auf diese Stellung weist
wohl auch der sum. Titel Nunamnir, etwa «der Würdige», hin,
den ausschließlich er trägt. Enlil wird eine Reihe von Vorfahren
zugeschrieben, deren erstes Paar Enki-Ninki «Herr / Frau Erde»
heißt. Man stellte sich offenbar vor, daß sie in der noch un-
getrennten Masse von Himmel und Erde hausten und beim
Schöpfungsakt umkamen, denn für sie wurden im Monat
Tašrītu («Anfang») in Enlils Kultzentrum in Nippur Trauerriten
durchgeführt.
Enlils Tempelkomplex in Nippur hieß E-kur «Berghaus». En-
lil selbst wird in sum. Dichtungen häufig kur-gal «Großer Berg»
genannt. Sein erstgeborener Sohn Ninurta ging aus seiner Ver-
bindung mit der Muttergöttin Ninḫursaĝa «Herrin des Gebir-
ges» hervor, die auch als seine Schwester galt. Der Hintergrund
der Beziehungen Enlils zu «Berg» und «Gebirge» wird aus den
Texten nicht recht deutlich. Sein Sohn Ninurta ist primär ein
Gott des Ackerbaus. Seine eigentliche Gemahlin Ninlil, de-
ren Name mit dem seinen korrespondiert, ist eine Tochter der
Getreidegöttin Nissaba und des göttlichen Speicherverwalters
Ḫaja; sie wurde mit Sud, der Stadtgöttin von Šuruppag, gleich-
gesetzt – wohl als dieser Ort aufgegeben und Suds Kult nach
Nippur bzw. in das bei Nippur gelegene Tummal verlagert wur-
de, wo Ninlil ein Heiligtum besaß. Enlils Verwandtschaftbezie-
Hauptgestalten der Götterwelt 59
hungen lassen darauf schließen, daß er selbst ein alter Acker-
baugott ist. In diese Richtung könnte auch die älteste Schreibung
seines Namens weisen, die aus den Zeichen EN «Herr» und E2
«Haus» besteht, denn mit «Haus» kann das ganze «Hauswe-
sen» als Keimzelle der agrarischen Lebensweise gemeint sein.
Den Namen seiner Gemahlin Ninlil schrieb man mit den Zei-
chen NIN «Herrin» und KID, das dem Zeichen E2 ähnelt und
für den verwandten Begriff «Rohrmatte» steht. Erst gegen Ende
des 3. Jt.s setzte sich KID als zweites Zeichen in der Schreibung
beider Namen durch. In dem gemeinsamen Namenselement lil
hat man ein sum. Wort mit der Bedeutung «Windhauch» sehen
wollen und Enlil als «Herr Windhauch» oder auch «Herr Zwi-
schenraum» (von Himmel und Erde) gedeutet. Dies ist jedoch
sehr unsicher, da ein Bezug Enlils (und Ninlils) zum Wind
ansonsten nicht erkennbar ist. Aufgrund der akk. Aussprache
E / Illil wurde auch vermutet, daß der Name von sem. il- «Gott»
komme, und daß der von einer sem. Bevölkerungsschicht einge-
führte Ellil Ninurta als ursprünglichen Stadtgott von Nippur
verdrängt habe. Die akk. Aussprache läßt sich allerdings durch
ein akk. Lautgesetz erklären, dem zufolge n an einen folgenden
Konsonanten angeglichen wird. Auch die schon sehr früh be-
zeugte Schreibung des Ortsnamens Nippur mittels des Götter-
namens Enlil (s. S. 56) spricht gegen diese Hypothese.
Enlil ist nicht nur durch Ninḫursaĝa Vater des Ninurta, son-
dern er zeugte auch, wie der Mythos «Enlil und Ninlil» berich-
tet, bei der Vergewaltigung der Ninlil den Mondgott Nanna / Sîn,
die Unterweltsgottheiten Meslamtae’a und Ninazu sowie den
Bewässerungsgott Enbilulu. Kinder des Mondgottes und somit
Enlils Enkel sind der Sonnengott Utu / Šamaš und die Venus-
göttin Inanna / Ištar. Aus Enlils umfangreichem Hofstaat seien
hier nur seine «Nebenfrau» Šuzianna und sein Wesir Nuska / u
erwähnt.
Enlils Herrschaft erscheint in mehreren Mythen als gefähr-
det. Der dämonische Anzu-Vogel raubt ihm die «Schicksalsta-
fel», doch Ninurta gelingt es, sie zurückzugewinnen («Anzu-
Mythos»). Ninurta verteidigt Enlils Reich auch erfolgreich
gegen das Ungeheuer Asag /Asakku, wobei er seinem Vater al-
60 Hauptgestalten der Götterwelt
lerdings den Rang streitig macht. Diejenigen Götter, die an-
fangs landwirtschaftliche Arbeiten verrichten müssen, um für
den Unterhalt der Götter zu sorgen, empören sich gegen Enlil
und treten in Streik, woraufhin Enki den Menschen erschafft,
um sie von ihrer Mühsal zu befreien. Durch das laute Treiben
der Menschheit gestört, sucht Enlil sie zu vernichten («Atraḫasis-
Epos»), doch Enki, der auch sonst als Enlils Gegenspieler er-
scheint, rettet sie.
Enlils Stadt Nippur wurde «Band von Himmel und Erde»
genannt. Aufgrund ihrer theologischen Bedeutung war sie nicht
nur ein Zankapfel rivalisierender Stadtstaaten, deren Herrscher
sich durch den Oberherrn des Pantheons zu legitimieren trach-
teten, sondern auch ein kulturelles Zentrum mit bedeutenden
Schreiberschulen, denen wir einen Großteil der erhaltenen sum.
Literaturwerke verdanken. Mit der Expansion des altbab. Rei-
ches unter Ḫammurapi (1792–1750) begann sich der religiöse
und kulturelle Mittelpunkt Südmesopotamiens nach Babylon
zu verlagern, dessen Stadtgott Marduk Enlil als Oberhaupt des
Pantheons ablösen sollte.
Außerhalb Babyloniens wurde Enlil mit Dagan, dem hurr.
Kumarbi und dem assyrischen Stadt- und Reichsgott Assur
gleichgesetzt. Dagan war wohl wie Enlil ein Schöpfer- und
Ackerbaugott; das mit seinem Namen identische hebr. Wort
dāgān bedeutet «Getreide». Seine wichtigsten Kultzentren wa-
ren die am Euphrat gelegenen Städte Tuttul, Terqa und Mari. Er
ist aber auch mit dem höchsten Gott des ugar. Pantheons iden-
tisch, dessen üblichere Bezeichnung Il nur ein Titel ist («der
Gott»). Das Alte Testament erwähnt ihn mehrmals unter der
kanaanäischen Namensform Dāgôn als Gott der Philisterstädte
Asdod und Gaza. Ob dies als Zeugnis einer ursprünglich bis
Südpalästina reichenden Verbreitung des Dagan-Kultes gelten
darf, oder ob die Philister ihn auf ihrer Wanderung aus dem
Norden mitgebracht haben, ist unklar.
Enki / Ea: Wasser, Fruchtbarkeit und Kreativität. Der sum.
Gott Enki ist im Süden, am Persischen Golf, beheimatet. Seine
kosmische Domäne ist der sum. abzu, akk. apsû genannte un-
Hauptgestalten der Götterwelt 61
terirdische Süßwasserozean. Das personifizierte (Ur-)Meer,
Namma / u, gilt als seine Mutter, im bab. Schöpfungsepos Enūma
eliš entspricht ihr Tiāmat. Einer seiner sum. Beinamen lautet
«Steinbock des Abzu»; damit korrespondiert sein Emblem, der
«Ziegenfisch», ein Mischwesen aus Steinbock (Vorderteil) und
Fisch. Sein sum. Name, der eigentlich auf -g oder -k endet,
scheint als en ki-k «Herr der Erde / Unterwelt» verstanden wor-
den zu sein, was aber vielleicht nicht der tatsächlichen Etymolo-
gie entspricht. Öfters wird er nun «Fürst» (sum.) genannt, sein
akk. Titel Na / iššīku, sumerisiert Ninšiku, hat wohl dieselbe Be-
deutung. Wahrscheinlich erklärt sich daraus auch die Schrei-
bung seines Kultortes Eridu(g) mittels des Zeichens NUN. Sein
auch als Name gebrauchter sum. Titel Nudimmud bedeutet in
etwa «Schöpfer». Sein akk. Name Ea, älter Ḥajja / u, läßt sich
von der sem. Wurzel für «leben» herleiten.
Enki / Ea wird gerne als Gott der «Weisheit» bezeichnet, was
ihn aber nur unzulänglich charakterisiert. Er ist ein dem ägyp-
tischen Ptaḥ, ugar. Kōṯar-wa-Ḫasīs und griech. Hephaistos ver-
gleichbarer Handwerker, Künstler und Zauberer, dem in kri-
tischen Situationen stets eine List einfällt. Manche ursprünglich
selbständigen Handwerksgötter wurden später mit ihm gleich-
gesetzt. Enki und seine Mutter Namma / u waren vielleicht die
Protagonisten einer mit der Enlil-Kosmogonie konkurrieren-
den Schöpfungsmythologie. Als seine Gattin erscheinen Dam-
galnunna / Damkina und die Muttergöttin Ninḫursaĝa / Ninmaḫ,
die miteinander identifiziert wurden. Seine Tochter Nanše ist
mit den Fischen und Vögeln der südmesopotamischen Mar-
schen verbunden, sein Sohn Asalluḫi, ein göttlicher Beschwö-
rungspriester und Krankenheiler, wurde später mit Marduk
gleichgesetzt.
In der Mythologie spielt Enki / Ea eine prominente Rolle: Er
weist den Gottheiten ihre Aufgaben zu («Enki und die Weltord-
nung») und richtet verschiedene Arten der Bewässerung ein.
Seine überbordende Potenz führt in «Enki und Ninḫursaĝa»
zum Inzest mit seinen Töchtern. Zusammen mit der Muttergöt-
tin erschafft er den Menschen («Enki und Ninmaḫ» etc.). Als
Enlil die Menschheit vernichten will, rettet Enki sie vor der
62 Hauptgestalten der Götterwelt
Sintflut. Inanna gelingt es, ihm in betrunkenem Zustand die me
(s. S. 47) zu rauben («Inanna und Enki»). Er rettet Inanna aus
der Unterwelt mittels zweier Gestalten, die er aus dem Schmutz
seiner Fingernägel erschafft («Innanas Gang zur Unterwelt»).
Auf dieselbe Weise erschafft er im «Agušaja-Lied», einem Ištar-
Hymnus, die Ṣāltu «Streit» als Widerpart der kampflustigen
Göttin. Ein als «Marduk-Ea-Typ» bezeichnetes Beschwörungs-
ritual reproduziert eine historiola (kurze mythische Geschich-
te), in der Enki / Ea seinem Sohn Asalluḫi / Marduk Rat für die
Krankenheilung erteilt.
Zum Umkreis des Enki / Ea gehören sein janusköpfiger Wesir
Isimud / Usmû, als Laḫama bezeichnete Wasserwesen sowie 7 als
Fischmenschen vorgestellte «Weise» (sum. abgal, akk. apkallu),
die in vorsintflutlicher Zeit die Menschen allerlei Künste gelehrt
hatten. Sie sind entfernt mit den «7 Sehern (rṣi)» der indischen
Mythologie und den griechischen «7 Weisen» verwandt.
Die Muttergöttin. Die Muttergöttin ist eine synkretistische Ge-
stalt, deren Wurzeln sich nur ansatzweise unterscheiden lassen.
Sie ist für Schwangerschaft, Geburt und Stillen zuständig. Ihr
Emblem, das «omegaförmige» Symbol, ist wohl die schemati-
sierte Darstellung eines (Kuh-)Uterus. In Götterlisten und My-
then erscheint sie unter einer ganzen Reihe von Namen, die
wichtigsten sind: Diĝirmaḫ «Höchste Göttin» (sum.), Ninmaḫ
«Höchste Herrin» (sum.), Nindiĝirene, Bēlet-ilī «Herrin der
Götter» (sum. bzw. akk.), Ninḫursaĝa «Herrin des Gebirges»
(sum.), Nintur (wohl Umgestaltung eines sum. Wortes für «Ge-
bärmutter»), Aruru (Bedeutung unsicher) und Mam(m)a / i (ein
in vielen Sprachen verbreitetes «Lallwort» für «Mutter»). Ihre
wichtigsten Kultzentren waren Adab und Keš (nicht sicher lo-
kalisiert). Im Mythos ist sie mit Enlil und Enki / Ea assoziiert,
mit deren Gattinnen Ninlil bzw. Damgalnunna / Damkina sie
gleichgesetzt werden kann. Ihr wurde auch eine eigene «Klein-
familie» zugeordnet, nämlich der Gatte Šulpa’e(a) «strahlend
aufgegangener Jüngling» (sum.), der unterweltlich-dämonische
Züge besitzt, eine Tochter Lisi(n) sowie die Söhne Ašgi,
Pa(p)niĝarra und Lil. Zumindest letztere beiden sind vielleicht
Hauptgestalten der Götterwelt 63
Prototypen des Fötus und / oder totgeborenen Kindes. Im Dienst
der Muttergöttin stehen 14 oder 7 göttliche Geburtshelferinnen,
denen in Ugarit die 7 Kōṯarāt entsprechen. Eine der mesopo-
tamischen Muttergöttin ähnliche Gestalt ist die hethitische
Ḫannaḫanna (etwa «Urgroßmutter»), auch sie hat eine Gruppe
von Geburtshelferinnen neben sich.
Inanna / Ištar: Venus, Sexualität und Krieg. Inanna / Ištar ist
eine der bedeutendsten und zugleich schillerndsten Gestalten
der altorientalischen Götterwelt. Die Göttin des Venussterns,
der Sexualität und des Krieges wurde in zahlreichen lokalen Er-
scheinungsformen verehrt. Ihre wichtigsten Kultorte sind Uruk,
Zabalam, Kiš und Akkad in Babylonien sowie Ninive und Ar-
bela in Assyrien. In Uruk steht sie zusammen mit dem Himmels-
gott An an der Spitze des Pantheons, zunächst als seine «Ge-
weihte», später als seine Tochter. Einer anderen, weit verbreiteten
Genealogie zufolge ist sie die Tochter des Mondgottes Nan-
na / Sîn und die Schwester des Sonnengottes Utu / Šamaš. Ihr
Tempelkomplex in Uruk heißt Eanna «Haus des Himmels».
Dazu stimmt ihr sum. Name Inanna, der wohl auf *nin an-ak
«Herrin des Himmels» zurückgeht. Das Keilschriftzeichen für
Inanna stellt ein Emblem der Göttin dar, das sogenannte «Schilf-
ringbündel». Über dieses können frühe Bilddenkmäler wie die
berühmte Kultvase aus Uruk (um 3000) mit ihr in Verbindung
gebracht werden (Abb. 2): Eine Prozession nackter Gabenbrin-
ger schreitet auf eine vor zwei Schilfringbündeln stehende weib-
liche Gestalt zu, die Göttin selbst oder ihre Priesterin. Der reich
gekleidete Anführer der Gruppe, ein Herrscher und / oder Prie-
ster, ist leider nur in Resten erhalten. Die Gabenkörbe sowie die
auf den unteren beiden Registern abgebildeten Pflanzen und
Tiere zeigen die der Göttin verdankte Fruchtbarkeit des Landes.
Wir wissen nicht, wie sich diese frühe sum. Inanna von der sem.
Gottheit namens ʿAṯtar unterschied, mit der sie im Laufe des
3. Jt.s gleichgesetzt wurde. Aus altsüdarabischen Inschriften
und ugaritischen Texten kennen wir ʿAṯtar als männliche Gott-
heit, die eine weibliche Entsprechung ʿAṯtart neben sich hat;
der Name gelangte über das Phönizische als Astarte ins Grie-
64 Hauptgestalten der Götterwelt
chische. Hintergrund des männlich-weiblichen Namenspaares
ist wohl die Vorstellung, daß hinter Venus als Morgenstern und
Abendstern zwei Gottheiten unterschiedlichen Geschlechts ste-
hen. Als akk. Name für die sum. Göttin Inanna setzte sich in
Mesopotamien die männliche Form ʿAṯtar durch, die sich dort
zu Eštar / Ištar entwickelte. Spuren von Doppelgeschlechtlich-
keit finden sich in Mesopotamien sowohl auf der Ebene des
Pantheons (in Gestalt einer männlichen Venusgottheit Kabta)
als auch im Kult: Manche Texte spielen darauf an, daß bei In-
annas Festen Männer in Frauenkleidung und Frauen in Män-
nerkleidung auftraten. Im Gegensatz zur Muttergöttin steht
Inanna / Ištar für die vor- und außerehelichen Aspekte der Weib-
lichkeit, auch die Prostitution und das damit assoziierte Wirts-
haus fallen unter ihre Zuständigkeit. Im allgemeinen wird sie
daher unverheiratet und kinderlos dargestellt; einer lokalen
Tradition zufolge gilt allerdings Šara, der Stadtgott von Umma,
als ihr Kind, und mit ihm wohl auch sein Bruder Lulal.
Kultische Liebeslieder schildern sie als junges Mädchen, das
mit einem jugendlichen Hirten- und Vegetationsgott namens
Ama’ušumgal(anna), Dumuzi /Tammuz oder Damu (nicht mit
dem gleichnamigen Sohn der Heilgöttin zu verwechseln) liiert
ist. Sie tritt besonders oft zu Sterblichen in Beziehung. Bereits
die Namen ihres Geliebten Ama’ušumgal(anna) / Dumuzi und
der seiner Schwester Geštinanna (urspünglich Amaĝeštin) wei-
sen in diese Richtung; es handelt sich nämlich um alte Personen-
namen. In «Inanna und Šukalletuda» wird sie im Schlaf von
dem Gärtner Šukalletuda vergewaltigt. Im Gilgameš-Epos rich-
tet sie ihr Begehren auf Gilgameš, der ihr unter Hinweis auf das
unglückliche Los früherer Liebhaber eine Abfuhr erteilt. Die
Mythen bringen vor allem ihr aggressives, auf Machterweite-
rung bedachtes Wesen zum Ausdruck. In «Inanna und Enki»
raubt sie dem betrunkenen Enki die me (s. S. 47). Dem An
versucht sie den Himmel zu rauben («Inanna und An»), der
Ereškigal macht sie die Herrschaft über die Unterwelt streitig
und liefert ihr Dumuzi aus («Inannas Gang zur Unterwelt»). Im
Gilgameš-Epos veranlaßt sie ihren Vater Anu durch wüste Dro-
hungen, ihr den «Himmelsstier» zu überlassen. Ihr kriegerisches
Hauptgestalten der Götterwelt 65
Wesen, das sich am «Tanz der Schlacht» erfreut, wird selbst den
Göttern zuviel: Um sie im Zaum zu halten, erschafft Ea als ih-
ren Widerpart die Ṣāltu, den personifizierten «Streit». Ištar von
Akkad war die Schutzgöttin der dort residierenden sargonischen
Dynastie. Im Staatskult des neuassyrischen Reiches genossen
die Ištar von Ninive und die Ištar von Arbela höchste Vereh-
rung, in ihrem Namen traten Prophet(inn)en auf. Attribut- und
Symboltier der Göttin ist der auf ihren kriegerischen Aspekt
verweisende Löwe. Zu ihrem umfangreichen Hofstaat gehört
neben der Botin Ninšubur(a) auch eine vergöttlichte Leier na-
mens Ninigizibarra. Eine Abspaltung der Inanna von Uruk war
vielleicht die Liebesgöttin Nanaja.
Mit Inanna / Ištar gleichgesetzt wurde die hurritische, auch
bei den Hethitern verehrte Göttin Šauš(k)a. Sie ist die Schwester
des Wettergottes, ihre zwei Begleiterinnen Ninatta und Kulitta
besitzen im sum.-babylonischen Pantheon keine Entsprechung.
Im nordwestsem. Raum gab es zwei mit Inanna / Ištar vergleich-
bare Göttinnen: die bereits erwähnte, etymologisch mit Ištar
identische ʿAṯtart (Astarte), und ʿAnat, die in den ugar. Mythen
als «Schwester», d. h. Gefährtin, des Wettergottes Baal auftritt.
Beide Göttinnen wurden schon in Ugarit miteinander identifi-
ziert, die Kombination ihrer Namen ergab später den griech.
Namen der «Syrischen Göttin» Atargatis (<ʿAttar-ʿAtt < ʿAṯtar-
ʿAn(a)t). Kanaanäische Einwanderer und Herrscher (Dynastie
der Hyksos) verbreiteten den Astarte-Kult bis nach Ägypten.
Der Mond: Nanna / Sîn. Im Gegensatz zur griechischen Selene
und römischen Luna war der Mond im Alten Orient mit einer
männlichen Gottheit assoziiert. Nach sum. Vorstellungen ist der
Sternenhimmel eine vom Mond(gott) gehütete Rinderherde. Der
Mond wurde als Stier, dessen Hörner die Mondsichel bilden,
aber auch als ein den Himmel überquerendes Boot aufgefaßt.
Der sum. Mondgott trug den Namen Nanna. Er verschmolz of-
fenbar schon früh mit dem akk. Mondgott Su’e / in, dessen Name
sich zu Sîn entwickelte. Nanna / Sîns Eltern sind Enlil und Ninlil.
Zu seinen Geschwistern zählen die Unterweltsgottheiten Ner-
gal / Meslamta’ea und Ninazu, unter seinen Kindern sind vor
66 Hauptgestalten der Götterwelt
allem der Sonnengott Utu / Šamaš und die Venusgöttin Inanna /
Ištar zu nennen. Die Gattin des Mondgottes trägt den sum. Na-
men Ningal «Große Herrin»; im Akkadischen und anderen alt-
orientalischen Sprachen lautet er Nikkal. Wohl aufgrund seiner
wechselnden Gestalt und seiner Funktion als Zeitmesser besitzt
der Mondgott einen Bezug zu Schwangerschaft und Geburt. Be-
schwörungen zur Erleichterung der Geburt enthalten eine kurze
mythische Erzählung, in der er eine Kuh namens Geme-Su’ena
«Dienerin des Su’en» schwängert und ihr in Geburtsnöten bei-
steht, indem er zwei Schutzgöttinnen sendet. Zu Nanna / Sîns
Hofstaat gehören sein Wesir Alam(m)uš und ein göttlicher Hirte
namens Gaju. Sein babylonischer Hauptkultort ist Ur. Der zu
seinem dortigen Tempelkomplex namens Eĝ / kišnugal «Haus
Großes-Licht» gehörige Stufentempel ist großenteils erhalten.
«Ur in Chaldäa» war nach alttestamentlicher Überlieferung die
Heimat des Patriarchen Abraham (der dort noch Abram hieß).
Sein Bruder, aber auch der Ort, an den er übersiedelt (Gen
11,31–32), heißen Haran. Der Name ist in diesem Kontext
kaum ein Zufall, denn er läßt sich mit Harran, dem antiken Car-
rae, identifizieren – dem bedeutendsten nördlichen Kultort des
Mondgottes. Ein in ugaritischer Sprache und Schrift erhaltener
Mythos berichtet von der Brautwerbung und Heirat des Mond-
gottes unter seinem ugar. Namen Jariḫ; seine Braut, die hier den
Doppelnamen Nikkal-wa-Ibb trägt, ist die Tochter eines Gottes
Ḫrḫb (Vokalisierung unsicher), der als «König des Sommers»
bezeichnet wird. Bei den Hurritern hieß der Mondgott Kušuḫ, in
Kleinasien Arma (hethitisch, luwisch) und Kašku (hattisch). Ein
hatt.-heth. Mythos erzählt, wie der Mondgott unter Einwirkung
des Wettergottes vom Himmel fiel und mit Unterstützung der
Heilgöttin Kamrušepa wohl wieder zum Himmel zurückkehrte.
Die Sonne: Utu / Šamaš. Der sum. Name des Sonnengottes ist
Utu, der akk. Šamaš. Beide werden mit demselben Zeichen ge-
schrieben, für das Götterlisten auch eine Lesung Amna überlie-
fern, so daß die Aussprache nicht immer sicher ist. Die Sonne
war in Mesopotamien – wie auch in Ägypten (Re), Griechen-
land (Helios) und Rom (Sol) – mit einer männlichen Gottheit
Hauptgestalten der Götterwelt 67
assoziiert. Die Vorstellung eines männlichen Sonnengottes ha-
ben die Akkader möglicherweise von den Sumerern oder einer
anderen Substratbevölkerung übernommen, denn in den semi-
tischen Sprachen ist die Sonnengottheit bzw. das Wort für «Son-
ne» überwiegend weiblich. Weibliche Sonnengottheiten sind in
Ugarit (Šapš) und in Anatolien (Sonnengöttin von Arinna, Son-
nengöttin der Nacht) bezeugt. Für die Sumerer stieg die Sonne
aus dem ihr Tiefland östlich begrenzenden Zagros-Gebirge em-
por. Dementsprechend gibt das Keilschriftzeichen UD, mit dem
die Namen des Sonnengottes, aber auch Wörter für «Tag» und
«hell / rein / weiß» geschrieben werden, eine zwischen zwei Ber-
gen aufgehende Sonne wieder. Ikonographische Darstellungen
auf Rollsiegeln der Akkad-Zeit zeigen den Sonnengott, wie er in
menschlicher Gestalt zwischen zwei Berggipfeln emporsteigt;
von seinen Schultern gehen Strahlen aus, in der Hand hält er
eine Säge. Diese ist auch textlich als Emblem des Sonnengottes
belegt, bei dem Eide geleistet wurden, Ursprung und mytho-
logische Funktion sind allerdings unklar. Im Gilgameš-Epos
kommt der Sonnengott aus einem Berg Māšu hervor, dessen
Tore von Skorpionmenschen bewacht werden. Der Name ist
wohl als «Zwilling(sberg)» zu verstehen. Man hat daraus auf
einen westlichen Zwillingsberg geschlossen, in den der Sonnen-
gott abends eintritt, doch dürfte sich der Name eher auf den
ikonographisch dargestellten doppelgipfligen Berg beziehen.
Seinen Weg legt er in einem Schiff, später in einem Wagen zu-
rück, dessen Zugtiere in älterer Zeit Löwen, später Esel oder
Pferde sind. Nachts ruht er in seinem himmlischen Palast Ebab-
bar «Weißes Haus» (so heißen auch seine irdischen Tempel)
oder bewegt sich unter der Erde zu seinem Aufgangsort zurück.
Beide Vorstellungen wurden miteinander harmonisiert. Im My-
thos «Enki und Ninḫursaĝa» bringt der aufgehende Sonnengott
aus Enkis unterirdischem Grundwasserozean Abzu Wasser her-
auf, was wohl als Ätiologie für den Morgentau zu verstehen ist.
Mit seinem Licht, das Verborgenes sichtbar macht, seiner Bahn,
von der aus er alles sieht, und der Zuverlässigkeit seines täg-
lichen Erscheinens hängt zusammen, daß man in ihm den obers-
ten Richter und Hüter von Recht und Ordnung sah; auf seiner
68 Hauptgestalten der Götterwelt
unterirdischen Reise amtiert er auch als Unterweltsrichter. Sei-
nen Beistand suchte man nicht nur gegen Unrecht, sondern auch
gegen ungünstige Vorzeichen und Hexerei. Gebete und Rituale
fanden vorzüglich bei Sonnenaufgang statt, insbesondere die als
Gerichtsprozeß vor dem Sonnengott aufgefaßte und inszenierte
Opferschau (s. S. 100). Als oberster Ordnungshüter besaß der
Sonnengott eine besondere Affinität zum Königtum, die sich im
2. und 1. Jt., vielleicht unter ägypt. Einfluß, verstärkte.
Die Gemahlin des Utu / Šamaš – sum. Šer(e)da (vielleicht aus
akk. šērtu «Morgenröte» entlehnt), akk. Aj(j)a genannt – ist
wohl eine Personifikation des Morgenlichts. Sein oberster We-
sir heißt sum. Pa(p)nunna, akk. Bunene. Die personifizierten
Grundlagen des Rechts, sum. Niĝ-gina, akk. Kīttum «Wahrheit»
und sum. Niĝ-zida, Niĝ-sisa, akk. Mīšārum «Recht» werden
ihm als Wesire oder Kinder zugeschrieben. Als Sohn des Sonnen-
gottes gelten ferner Sumuqan / Šakkan, der Gott der Tiere, und
die Traumgottheiten Mamu(d), Sissig / Zaqīqu und Zakar.
Die emotionale Wertschätzung der Sonne und damit auch des
Sonnengottes schlug sich in Personennamen wie Šulgi-šamšī
«(König) Šulgi ist meine Sonne» oder in Komplimenten wie «du
bist mein Herr, du bist meine Sonne» (so in einem altassyrischen
Brief) nieder. Die hethitischen Könige wurden mit «(deine) Son-
ne», im Sinne von «deine Majestät», angeredet und sprachen
daher von sich selbst als «meine Sonne».
Der Sonnengott spielte auch in Elam, wo er Naḫḫunte hieß,
und bei den Hurritern, die ihn Šimegi nannten, eine wichtige
Rolle. In Kleinasien wurden nebeneinander männliche und
weibliche Sonnengottheiten verehrt. Die «Sonnengöttin von
Arinna» nahm neben dem Wettergott eine überragende Stellung
im hethitischen Pantheon ein. Der männliche «Sonnengott des
Himmels» (hatt. Eštan, heth. Ištanu) gehörte ebenfalls zu den
bedeutendsten Gottheiten des Reichskultes. Ihnen stand eine
unterweltliche «Sonnengöttin der Erde» gegenüber.
Feuer: Girra. Eine relativ bescheidene Rolle spielt der Feuer-
gott Girra (die häufige Wiedergabe seines Namens als Gibil ist
unsicher). Er wird, wohl wegen der Verwendung des Feuers bei
Hauptgestalten der Götterwelt 69
handwerklichen Tätigkeiten, der Familie des Enki / Ea zugerech-
net. Von ihm ist z. B. im Kontext des Bierbrauens, am häufigsten
aber in magischen Ritualen die Rede, bei denen unreine Gegen-
stände verbrannt werden.
Pflug und Waffen: Ninurta. Ninurta, der «erstgeborene Sohn»
Enlils und der Muttergöttin Ninḫursaĝa, ist primär ein Gott der
Erde und des Ackerbaus. Sein Name enthält ein altes Wort für
«Erde» (urta), sein Emblem ist der Pflug. Er war wohl funktio-
nal von jeher mit Ninĝirsu identisch, dem Stadtgott von Ĝirsu,
einem der Hauptorte des sum. Stadtstaates Lagaš. Allerdings
wird Enkis Tochter Nanše dort als Schwester Ninĝirsus bezeich-
net, auch eine Reise Ninĝirsus zu Enki nach Eridu(g) wird er-
wähnt. Beides läßt darauf schließen, daß im Süden Sumers einst
Enki als Ninĝirsus Vater galt. Ninurtas Gemahlin Ninnibru, die
«Herrin von Nippur», und Ninĝirsus Gemahlin Baba (andere
Lesart: Bau) dürften ursprünglich verschiedene Göttinnen ge-
wesen sein. Baba wurde mit der Heilgöttin Gula gleichgesetzt,
deren Gemahl Pabilsaĝ(a) mit Ninurta / Ninĝirsu. Spätestens
zu Beginn des 2. Jt.s wurde auch Zababa, der Stadtgott von
Kiš, mit Ninurta / Ninĝirsu gleichgesetzt. In den Mythen er-
scheint Ninurta als Stifter des Ackerbaus, vor allem aber als
heldenhafter Krieger und Helfer seines Vaters Enlil. Er verfügt
über ein Arsenal furchtbarer Waffen, von denen zwei, Šarur
«Myriaden niederwälzend» und Šargaz «Myriaden erschla-
gend», im Mythos Lugale als handelnde Persönlichkeiten auf-
treten. Die meisten seiner Heldentaten lassen sich nur anhand
der Trophäen seiner besiegten Gegner erahnen. Sie werden erst-
mals in der Tempelbau-Hymne des Stadtfürsten Gudea von
Lagaš aufgezählt, der sie um 2100 im neu errichteten Ninĝirsu-
Heiligtum von Ĝirsu namens E-Ninnu «Haus (der) Fünfzig»
darstellen ließ. Zu ihnen zählen «der sechsköpfige Widder»,
«der Anzu-Vogel», «die siebenköpfige Schlange», «die Libel-
le», «die Dattelpalme», «das starke Kupfer», «der Gips», «das
Himmelsseil» und «das magilum-Boot». Leider kennen wir nur
den Mythos von Anzu, der Enlil die «Schicksalstafel» raubte.
«Kupfer» erinnert an «Silber», das in einem hurritisch-hethi-
70 Hauptgestalten der Götterwelt
tischen Mythos als Gegner des Wettergottes erscheint. Züge Ni-
nurtas als «Chaoskämpfer» wurden auf Marduk übertragen.
In mittelassyr. Zeit wurde Ninurta zum Schutzherrn der assy-
rischen Könige. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß der
Reichsgott Assur mit Ninurtas Vater Enlil identifiziert wurde:
Als irdische Repräsentanten Assur-Enlils sahen sich die Könige
in der Rolle Ninurtas, der das Reich seines Vaters verteidigt.
Assurnasirpal II. setzte Ninurta als Stadtgott seiner neuen Resi-
denzstadt Kalchu ein. Der moderne Name des Ruinenhügels,
Nimrud, verweist auf den Nimrod der biblischen Urgeschichte
(Genesis 10,8–12), dessen Name vielleicht auf Ninurta zurück-
geht. Ein jüngerer Hymnus interpretiert die wichtigsten Gott-
heiten des Pantheons als seine Körperteile.
Die Heilgöttin. Die Heilgöttin ist ähnlich wie die Muttergöttin
unter mehreren Namen bekannt, hinter denen sich z. T. ver-
schiedene lokale Erscheinungsformen verbergen. Da in ihre Zu-
ständigkeit als Heilgöttin auch die Geburtshilfe fällt, berührt sie
sich funktional mit der Muttergöttin. Ihr Hauptkultort ist Isin,
einer ihrer gebräuchlichsten Namen lautet daher Ninisina «Her-
rin von Isin». Mindestens ebenso häufig erscheint sie unter dem
Namen Gula, der in seiner ältesten Schreibweise (dGu2-la2) als
«Umarmende» verstanden werden konnte, und in seiner jün-
geren (dGu-la) mit einem sum. Adjektiv für «groß» überein-
stimmt. Weitere Namen sind Nintinugga «Herrin, die Tote
belebt», Ninkarrak, Meme und Baba (oder Bau). Ninisinas Ge-
mahl hieß Pabilsaĝ(a), sein noch nicht aufgefundener Kultort
Larak war Sitz einer der vorsintflutlichen Dynastien. Nintinug-
ga war mit ihrem Gemahl Endagga ursprünglich in Nippur be-
heimatet, Baba als Gattin des Ninĝirsu in Ĝirsu. Pabilsaĝ(a) und
Endagga wurden mit Ninĝirsu gleichgesetzt, die Heilgöttin
wurde so zur Gemahlin des Ninurta / Ninĝirsu. Ihre Kinder sind
ein als «Arzt» bezeichneter Sohn Damu, der aber neben ihr kei-
ne nennenswerte Rolle als Heilgott spielt, und eine Tochter Gu-
nura. Ihr Attribut und Emblem ist der Hund – möglicherweise,
weil man dem Hundespeichel heilende Kraft zuschrieb, doch
läßt sich dies in altorientalischen Schriftquellen nicht (mehr?)
Hauptgestalten der Götterwelt 71
belegen. In ihrem Heiligtum in Isin wurden als Votivgaben ge-
stiftete Hundestatuetten sowie Skelette dort bestatteter Hunde
ausgegraben.
Išḫara. Išḫara ist eine bedeutende, in Nordsyrien beheimatete
Göttin, deren Kult sich schon früh nach Mesopotamien und
Kleinasien verbreitete. Sie ist bereits im 24. Jh. in den Texten
aus Ebla belegt, wo ein Monat nach ihr benannt war. Eine der
dortigen Schreibungen ihres Namens, dAMA.RA, besteht aus
dem Wortzeichen für «Mutter» und dem Silbenzeichen RA, was
wohl auf einen Aspekt als Muttergöttin hinweist. Fruchtbarkeit
symbolisiert auch ihr Emblemtier, der Skorpion. Die mesopo-
tamische Götterliste «An = Anum» ordnet sie dem mit Enlil
gleichgesetzten Dagan zu, nennt aber an anderer Stelle Saggar,
das vergöttlichte Sinǧār-Gebirge (Nord-Irak nahe der syrischen
und türkischen Grenze) als ihren Gatten. Wie ihr Beiname Bēlet-
bīri besagt, ist sie «Herrin der Opferschau».
Tiere. Oberster Gott insbesondere der wilden Tiere ist Sumu-
qan / Šakkan, ein Sohn des Sonnengottes; seine Gemahlin heißt
Ellamesi. Viele Gottheiten sind, wie die Heilgöttin, mit einem
Tier als Attribut oder Emblem assoziiert. Daneben gibt es einige
Gottheiten, die prototypisch bestimmte Tierarten repräsentie-
ren, wie die göttliche Wildkuh Ninsu(mu)n, die Frau des Lugal-
banda und Mutter des Gilgameš, den Schlangengott Neraḫ oder
den Mungo-Gott Ninkilim.
«Tammuz-Gestalten». Nach Dumuzi /Tammuz, dem Gelieb-
ten der Inanna / Ištar, ist der Typus eines jugendlichen, saisonal
in der Unterwelt verschwindenden, sterbenden und wieder-
auferstehenden Gottes benannt. Während Dumuzi /Tammuz
hauptsächlich den Zyklus des Hirtenjahres widerspiegelt, re-
präsentieren andere «Tammuz-Gestalten» die Vegetation und
insbesondere das Getreide, das wächst, geerntet, gemahlen und
wieder in die Erde gesät wird. Eine mit Dumuzi sich z. T. über-
schneidende Gottheit dieses Typs ist Ninĝišzida, der Sohn des
Ninazu und Enkel Enlils. Ein fragmentarisch erhaltener Mythos
72 Hauptgestalten der Götterwelt
berichtet von seiner Bootsfahrt in die Unterwelt, in einem ande-
ren tauscht er aus der Unterwelt Botschaften mit seiner Gemah-
lin Ninazimua. Der kleinasiatische Vegetationsgott Telipinu,
von dessen Verschwinden mehrere Mythen berichten, gilt als
Sohn des Wettergottes, der in Kleinasien und Syrien selbst Züge
einer «Tammuz-Gestalt» besitzt.
Sturm, Regen und Gewitter: Iškur / Adad. Der sum. Wetter-
gott Iškur galt als Sohn des Himmelsgottes An. Er wurde mit
einem sem. Gott identifiziert, dessen Name Hadda / u, Hadad im
Akk. das anlautende h verlor und als Adad normalisiert wird.
Beide Namen schrieb man mit einem Keilschriftzeichen, das für
Wörter der Bedeutung «Wind» steht. Jünger ist die Schreibung
mittels des Zahlzeichens «10» (s. S. 50). Möglicherweise war
der sum. Iškur von Hause aus ein Sturmgott, wohingegen der
löwenköpfige Vogel Anzu(d) das Gewitter repräsentierte. Der
sem. Name gehört zu einer Wurzel der Bedeutung «brechen,
krachen» und dürfte sich primär auf einen Gewittergott bezo-
gen haben. Attribut und Emblem des Wettergottes ist der Blitz
oder ein Bündel von Blitzen. Er ist aber auch für den Regen
zuständig, wie z. B. der Sintflut-Mythos in aller Deutlichkeit vor
Augen führt. Außerdem besitzt er einen kriegerischen Aspekt.
Südmesopotamische Rollsiegel des ausgehenden 3. Jt.s zeigen
ihn auf einem Wagen, der von einem Mischwesen aus Löwe und
Raubvogel gezogen wird. Dieser «Löwengreif» wurde vom Stier
verdrängt, der als Tier des Wettergottes in Syrien und Anatolien
beheimatet ist, während er in Sumer vor allem mit dem Mond-
gott assoziiert war.
Da die Landwirtschaft im südlichen Zweistromland auf
künstlicher Bewässerung beruhte, stand der Wettergott dort
hinter anderen Gottheiten an Bedeutung zurück. Sein Titel als
oberster «Kanalinspektor» ist dortigen Verhältnissen angepaßt;
er hängt insofern mit seinem primären Charakter zusammen,
als der Wasserstand der Flüsse und Kanäle von dem im Gebirge
niedergehenden Schnee und Regen abhängt. Iškur /Adads Ge-
mahlin, sum. Medimša, meist aber akk. Šala genannt, repräsen-
tiert wohl den Regen oder Nebel. Sie ist wahrscheinlich mit ei-
Hauptgestalten der Götterwelt 73
ner auf Rollsiegeln dargestellten nackten oder ihren Schleier
lüftenden Göttin zu identifizieren, die auf dem Stier des Wetter-
gottes steht. Aus unklaren Gründen ist Adad zusammen mit
dem Sonnengott Šamaš für die Opferschau zuständig; mögli-
cherweise führte man Veränderungen in den Eingeweiden auf
meteorologische Ursachen wie Blitze zurück. Iškur /Adad hatte
in Babylonien mehrere, als Städte wenig bedeutende Kultzen-
tren (Muru, Karkara, Ennegi), die alle mit demselben Zeichen
wie sein Name geschrieben wurden.
In Kleinasien und Syropalästina – Regionen, in denen Regen-
feldbau betrieben wurde – nahm der Wettergott in seinen ver-
schiedenen lokalen und nationalen Ausprägungen einen hohen,
meist sogar den höchsten Rang ein. Unter den Wettergottge-
stalten Kleinasiens ragt neben dem «Wettergott von Ḫatti» der
«Wettergott von Nerik» heraus, dessen Kultstadt nördlich von
Ḫattuša lag. In Syrien war Ḫalab, das heutige Aleppo, ein über-
regional bedeutendes Kultzentrum des Wettergottes.
Der sem. Hadda / u wurde dort in der 1. Hälfte des 2. Jt.s vom
hurritischen Teššub überlagert. Dieser wurde – zusammen mit
seiner Gemahlin Ḫepat und seinen beiden Stieren Šer(r)i und
Ḫurra / i – auch ins hethitische Pantheon übernommen, wo er
mit dem Wettergott von Ḫatti gleichgesetzt wurde. Im heth.
«Kumarbi-Zyklus» kämpft er mit Kumarbi – der dem sum.-
bab. Enlil, dem obermesopotamischen Dagan und dem ugar. Il
entspricht – um die Vorherrschaft.
In anatolischen und noch deutlicher in ugaritischen My-
then erscheint der Wettergott als «Tammuz-Gestalt» (s. S. 71).
Ugaritische Texte bezeichnen ihn fast immer mit dem zum Ei-
gennamen gewordenen Titel Baʿl «Herr», der Name Hadd wird
selten verwendet. Ähnlich wie der griechische Zeus auf dem
Olymp, residiert Baʿl auf dem hoch übers Meer aufragenden
Berg Ṣapān (oder Ṣapūn, hebr. Ṣāphôn), den die Hethiter Ḫazzi
und die Griechen Kasios nannten. Über ihm walten nur der
Göttervater Il und seine Gemahlin Aṯirat. Zwischen Baʿl und Il
besteht ein spannungsvolles Verhältnis, das allerdings nicht so
stark von Rivalität gekennzeichnet ist wie das zwischen Teššub
und Kumarbi. Baʿls Gefährtin ist ʿAnat, seine Boten sind Gapn
74 Hauptgestalten der Götterwelt
«Weinrebe» und Ugār «Flur». Zu seinem engeren Umkreis ge-
hören die (auch als seine Töchter bezeichneten) Göttinnen Pid-
ray, Ṭallay (zu ṭall «Tau») und Arṣay (zu arṣ «Erde»); Pidray
wurde auch mit Ḫepat, der Gemahlin des Wettergottes von
Ḫalab, identifiziert. Ein von dem gelehrten Schreiber Ilumalku
um die Mitte des 13. Jh.s aufgezeichneter, leider nur lückenhaft
erhaltener Mythenzyklus erzählt vom Kampf Baʿls mit dem
Meeresgott Jamm, dem Bau seines Palastes auf dem Ṣapān und
von seiner Auseinandersetzung mit dem Tod(esgott) Mōt. Baʿl
unterliegt diesem zunächst und stirbt. In seiner Abwesenheit
soll ihn ʿAṯtar ersetzen, doch der Thron ist zu groß für ihn.
Die Sonnengöttin Šapš und Baʿls Gefährtin ʿAnat finden und
bestatten seinen Leichnam, ʿAnat besiegt und zerstückelt Mōt,
Baʿl ersteht von den Toten, liefert die eigenen Brüder aber Mōt
zum Fraß aus, wohl als Ersatz. Unter dem Namen Adonis ha-
ben die Griechen eine phönizische Erscheinungsform des Gottes
rezipiert; sein Name geht auf den mit Baʿl «Herr» gleichbedeu-
tenden phönizischen Titel Adōn zurück.
Unterwelt: Ereškigal und Nergal. Die Verstorbenen existieren
als «Totengeister» (sum. gidim, akk. eṭemmu) in der Unterwelt
weiter, im «Haus der Finsternis», «über das Stille gebreitet ist».
«Ihre Speise ist Erde, ihr Essen Lehm», «wie Vögel sind sie mit
einem Flügelgewand bekleidet» (Zitate aus «Ištars Höllen-
fahrt»).Von den Lebenden müssen sie mit Totenopfern versorgt
werden, andernfalls treiben sie ihr Unwesen auf der Erde. Die
Unterwelt ist durch sieben Tore gesichert. Sie wird «(Große)
Erde» und «Große Stadt» genannt, aber auch kur, das im Sum.
sowohl «Berg» als auch «(Fremd-)Land» bedeutet. In der Un-
terweltsbezeichnung kur-nu-gi(a) «kur ohne Wiederkehr» wird
es gewöhnlich als «Land» wiedergegeben, doch schwingt darin
auch die Vorstellung vom Totenreich als «Berg» mit, der nach
Lugale von Ninurta aus dem Leichnam des Asag /Asakku ge-
schaffen wurde.
Die Traditionen über die Unterweltsgottheiten in den Götter-
listen und Mythen lassen sich nicht mehr völlig entwirren. Als
Unterweltskönigin erscheint hauptsächlich Ereškigal(a), deren
Hauptgestalten der Götterwelt 75
sum. Name «Herrin Große Erde» bzw. (jünger) «Herrin der
Großen Erde» bedeutet; er überlebte bis in spätantike Zeit in
griech. Zauberpapyri und auf Amuletten. Weitere Namen der
Unterweltsgöttin sind Allatum, Laz, Mam(m)a / i und Mammī-
tum. Mam(m)a / i ist auch ein Name der Muttergöttin, die Über-
einstimmung verweist vielleicht auf eine vorgeschichtliche Ge-
stalt, welche die Funktionen einer Mutter- und Totengöttin
vereinte. Männlicher Unterweltsherrscher ist in erster Linie Ner-
gal. Sein Name geht wohl auf sum. en eri-gal «Herr Große
Stadt» zurück. Nergals Hauptkultort ist Kutha, sein dortiger
Tempel heißt (E-)Meslam. Er repräsentiert wohl eine mythische
Lokalität, auf die sich auch Nergals zweiter Name Meslamta’ea
«der aus dem meslam Hervorgekommene» bezieht. Hinter Erra,
einem weiteren Namen Nergals, steckt eine ursprünglich selb-
ständige Gottheit vielleicht sem. Urprungs, auch Verwandtschaft
mit dem luwischen Pestgott Jarri wird erwogen. Ereškigal und
Nergal waren zunächst jeweils mit einem weniger bedeutenden
Partner verbunden: Ereškigal mit Gugalanna (beider Sohn war
Ninazu, von dem wiederum Ninĝišzida abstammt), Nergal mit
Laz. Der Mythos «Nergal und Ereškigal» erzählt, wie Nergal
zum Gemahl der Unterweltsgöttin Ereškigal wurde. Nergal / Er-
ra ist nicht nur Unterweltsherrscher, sondern auch Seuchen- und
Kriegsgott. Sein Wesir ist Ḫendursaĝa / Išum, sein Bote der To-
desgott Namtar. Zum großen Kreis der Unterweltsgottheiten
gehören neben zahlreichen Dämonen auch die für das Gefängnis
zuständige Göttin Nungal mit ihrem Gatten Birtu(m) «Fessel».
Verstorbene Herrscher wie Gilgameš und Ur-Nammu konnten
Unterweltsrichter werden. Fremde Gottheiten wurden von den
Verfassern der Götterlisten vielfach als Unterweltsgottheiten
eingeordnet. Außermesopotamische Unterweltsgottheiten sind
u. a. die Göttin Lelwani in Kleinasien und der in Syropalästina
beheimatete, bis nach Ägypten verbreitete Rašap, dessen Name
noch im Alten Testament (als Räšäph) erhalten ist.
Dämonen. Auch Dämonen (für die es keinen altorientalischen
Oberbegriff gibt) zählen zu den göttlichen Wesen, viele sind mit
der Unterwelt assoziiert, doch wird oft der Himmelsgott An als
76 Hauptgestalten der Götterwelt
ihr Vater genannt. Die meisten sind böser Natur wie z. B. die
«(Bösen) Sieben» (d. h. die Plejaden), die Kindbettfieber auslö-
sende Lamaštu, der eine schlimme Hautkrankheit verursa-
chende Samana, die Unterweltsschergen Galla (besser Gulla)
und das «Windmädchen» (W)ardat lilî, deren Name als Lilith
fortlebt. Von guter Natur ist trotz seines furchterregenden Aus-
sehens der die Lamaštu abschreckende Winddämon Pazūzu.
Marduk. Marduk, der Stadtgott von Babylon, tritt, von weni-
gen unsicheren Belegen abgesehen, erst im 18. Jh. in Erschei-
nung und steigt in den folgenden Jahrhunderten zum Oberhaupt
des babylonischen Pantheons auf. Seine Frühgeschichte liegt im
dunkeln. Die altorientalischen Schreiber führten seinen Na-
men auf sum. *amar Utu-k «Kalb des (Sonnengottes) Utu» zu-
rück und schrieben ihn mit den entsprechenden Wortzeichen
d
AMAR.UTU. Mythologisch hat Marduk allerdings nichts mit
dem Sonnengott zu tun. Er wurde vielmehr mit Tutu, dem alten
Stadtgott von Borsippa, vor allem aber mit dem Beschwörungs-
gott Asalluḫi gleichgesetzt und damit in die Familie von dessen
Vater Enki / Ea integriert. Man hat die Namensanalyse der
Schreiber als «volksetymologische» Fehldeutung angezweifelt
und mit der Möglichkeit gerechnet, daß Marduks Name aus
einer unbekannten Substratsprache stammt. Seine Bildeweise
entspricht allerdings einem in frühdynastischer Zeit geläufigen
sum. Personennamentyp, wie ihn z. B. Amar-Su’ena(k) «Kalb
des (Mondgottes) Su’en» repräsentiert. Daher scheint es nicht
ausgeschlossen, daß hinter Marduk ein vergöttlichter Herrscher
steckt. Etymologischer Spekulation verdankt wohl eher Mar-
duks Emblem, der Spaten, seine Existenz, denn «Spaten» heißt
sum. mar, akk. marru(m). Sein Emblemtier, den «Schlangen-
drachen», erbte Marduk wohl von Tišpak, dem Stadtgott von
Ešnunna, nachdem dieser Stadtstaat, einer der mächtigsten Ri-
valen Babylons, von König Ḫammurapi (1792–1750) besiegt
worden war. Die Expansion des Stadtstaates Babylon unter
Ḫammurapi löste zwar Marduks Aufstieg aus, doch dürfte auch
seine Zuständigkeit für Magie, die im Alten Orient ein alltäg-
liches Mittel der Lebensbewältigung war, zu seiner Popularität
Hauptgestalten der Götterwelt 77
beigetragen haben. Einen wichtigen Schritt markierte die Rück-
kehr seines von den Elamern verschleppten Kultbildes unter
Nebukadnezar I. (ca. 1125–1104). Marduks Aufstieg zum Göt-
terherrn wurde in dem vielleicht um diese Zeit entstandenen
«Babylonischen Schöpfungsepos» Enūma eliš theologisch be-
gründet.
Marduks Gemahlin ist Zarpānītu(m). Ihr Ursprung ist ebenso
unklar wie der ihres Gemahls. Der Name scheint «die aus
Zarpan» zu bedeuten, doch ist bislang kein (Kult-)Ort dieses
Namens bekannt. Die Schreiber haben ihn gewaltsam etymolo-
gisiert, indem sie ihn unter Mißachtung der akk. Wortstellung
auf zēr bānītu(m) «die den Samen / Nachwuchs Erschaffende»
zurückführten. Zunächst als Bote und Schreiber Marduks, dann
als sein Sohn galt Nabium / Nabû.
Marduks Kultzentrum in Babylon war nach der Schöpfungs-
mythologie des Enūma eliš der Mittelpunkt des Kosmos (wie
Nippur in der Enlil-Theologie). Es hieß Esaĝil(a) «Haus, das
das Haupt erhebt». Der zugehörige Stufentempel Etemenanki
«Haus Grundfeste von Himmel und Erde» war vielleicht das
Urbild der biblischen Erzählung vom «Turmbau zu Babel».
In späterer Zeit nannte man Marduk gewöhnlich nur Bēl(u)
«der Herr» (akk.). Unter diesem Namen wurde er noch in
römisch-parthischer Zeit verehrt. In der aramäisch-arabischen
Oasenstadt Palmyra besaß Bēl den größten Tempel, auf seinem
Fries war eine Szene aus dem Enūma eliš dargestellt. In Klein-
asien wurde Marduk mit dem luwischen Šanda gleichgesetzt,
der in noch griech. Zeit als Sandas, Sandon bezeugt ist.
Nabû. Nabû ist göttlicher Schreiber und Patron der Gelehrsam-
keit, sein Emblem ist der Griffel. Wie Marduk ist er ein Spät-
ankömmling im babylonischen Pantheon. Er beerbte in seiner
Funktion die Getreidegöttin Nissaba. Die babylonischen Schrei-
ber führten seinen Namen, der in älterer Zeit Nabium lautete,
auf ein akk. Verbum mit der Bedeutung «rufen, nennen» zurück
und interpretierten ihn als «der (mit Namen) Gerufene». Auf
dieser Grundlage übertrugen sie ihn als Mudugasa’a «der mit
gutem Namen Genannte» ins Sumerische. Nabium wurde Stadt-
78 Hauptgestalten der Götterwelt
gott von Borsippa und überlagerte dort Tutu, der mit Marduk
identifiziert wurde. Nabû wurde zu Marduks Schreiber und
Sohn. Gegen Ende des 2. Jt.s stieg er neben Marduk zu einer
Hauptgestalt des babylonischen Pantheons auf, sein Kult ver-
breitete sich auch in Assyrien. In der Spätzeit sind sogar Ten-
denzen zu erkennen, ihn zum Oberhaupt des Pantheons zu ma-
chen. Viele babylonische Herrscher trugen mit Nabû gebildete
Namen, darunter Nebukadnezar I. (ca. 1125–1104), Nabopo-
lassar (625–605), Nebukadnezar II. (605–562) und Nabonid
(555–539). Nabûs Gemahlin Tašmētu(m) galt als Tochter des
Uraš, des Stadtgottes der etwas südlich von Borsippa gelegenen
Stadt Dilbat. Ihr von «hören» (akk. šemû) abgeleiteter Name
korrespondiert anscheinend semantisch mit dem von «rufen»
abgeleiteten Namen ihres Gemahls, doch ist die genaue Bedeu-
tung – «Erhörung» oder «Aufeinanderhören» – unsicher.
Nabû und Tašmētu(m) wurden mit dem in Uruk verehrten
Paar Muati und Nanaja und des weiteren mit den Hauptgott-
heiten des am Persischen Golf gelegenen Landes Dilmun, Enzak
und Meskilak, gleichgesetzt. In späten Texten erscheint daher
oft das Paar Nabû und Nanaja.
Wie sein Vater Marduk überdauerte auch Nabû das Ende der
Keilschriftkultur. Die Griechen identifizierten Nabû und Nana-
ja mit Apoll und Artemis. In Babylonien fand Nabû Eingang ins
Schrifttum der gnostischen Glaubensgemeinschaft der Man-
däer. Zusammen mit Bēl wurde er in Palmyra, Dura Europos,
Hierapolis und Edessa verehrt.
Assur. Assur, der oberste Gott des assyrischen Pantheons, war
wohl ursprünglich ein mit der felsigen Anhöhe, auf der die Stadt
Assur liegt, assoziierter Berggott. Er wurde von assyrischen
Theologen mit der Urgottheit Anšar (im Enuma eliš Vater des
Himmelsgottes An) und mit Enlil gleichgesetzt, wodurch Ninlil
zu seiner Gemahlin wurde. Die akk. Form ihres Namens,
Mulliltu(m), entwickelte sich im Assyrischen zu Mullissu. Sie
steckt hinter Mylitta, das Herodot (I 131) als Namen der Aph-
rodite bei den Assyrern erwähnt. Ninlil / Mullissu wurde wie
viele andere Göttinnen mit Ištar, der eigentlichen Entsprechung
Die wichtigsten Mythen 79
Aphrodites, identifiziert. Auch Šērū’a, ursprünglich wohl seine
Tochter, galt später als Assurs Gemahlin.
5. Die wichtigsten Mythen
Mythen, d. h. Geschichten von Göttern oder Göttern und Men-
schen, die in einer nicht historisch verorteten (Vor-)Zeit spielen,
deuten die Welt – insbesondere Kosmos, Zivilisation und Kult
– in Hinblick auf ihr Gewordensein, sie haben also in der Regel
ätiologische (begründende) Funktion. Auch Geschichte konnte
auf mythischer Ebene gedeutet werden, wie dies z. B. ansatzwei-
se im Prolog zum Codex Ḫammurapi zu beobachten ist: Wenn
dort erzählt wird, daß Anum und Enlil den Stadtgott Marduk in
den Rang Enlils erhoben, so reflektiert dies die neue Vormacht-
stellung Babylons und begründet diese theologisch. Für einige
Mythen ergibt sich aus textimmanenten oder externen Indizien,
daß sie bei kultischen Festen vorgetragen und sogar in Szene
gesetzt wurden. Die regelmäßige rituelle Vergegenwärtigung des
mythischen Geschehens sicherte die darin begründete Weltord-
nung. Die altorientalischen Mythen liegen nur zum Teil als selb-
ständige Texte vor. Nicht selten sind Mythenerzählungen oder
Anspielungen auf Mythen in andere Textgattungen wie Be-
schwörungen oder Hymnen eingebettet. Im folgenden können
nicht alle altorientalischen Mythen paraphrasiert werden, es
seien lediglich die wichtigsten Typen und Motive vorgestellt
und durch einige wichtige Texte illustriert.
Schöpfung und Weltordnung. Die keilschriftlichen Quellen
überliefern verschiedene Vorstellungen vom Werden der Welt.
Schon altorientalische Schreiber und Theologen versuchten,
mehrere Motive zu einem Ganzen zu verschmelzen, was sich
z. B. an der Systematik von Götterlisten ablesen läßt.
Die bislang ältesten Hinweise auf einen Schöpfungsmy-
thos finden sich in Texten aus Abū Ṣalābīḫ, die im 26. Jh.
80 Die wichtigsten Mythen
in «UD.GAL.NUN-Orthographie» (s. S. 35 f.) aufgezeichnet
wurden und deswegen noch weitgehend unverständlich sind.
Eine in mehreren Texten vorkommende Phrase lautet: «Enlil,
(…) der den Himmel von der Erde, die Erde vom Himmel
getrennt hat». Wir erfahren nichts Näheres über den von
Enlil aufgespaltenen Urkosmos oder die Motive seiner Tat.
Vermutlich waren Enlils urweltliche Ahnen, die Enki-Ninki-
Gottheiten, involviert. Sie sind zum ersten Mal in der Göt-
terliste aus Šuruppag bezeugt, die noch älter sein dürfte als
die Abū Ṣalābīḫ-Texte. Offenbar luden diese Gestalten schon
sehr früh zu Spekulationen ein, denn ihre Namen wurden teil-
weise umgedeutet und umgeformt, während ihre Anzahl, die
in der Götterliste aus Šuruppag nur 4 weibliche Namen um-
faßte, auf 21 Paare anwuchs. In Nippur, Enlils Kultzentrum,
waren sie mit einer als Du-ku(g) «Heiliger Hügel» bezeichne-
ten Kultstätte, wie es sie auch andernorts gab, assoziiert. Das
schöpfungsmythologische Urbild des «Heiligen Hügels» ist
entweder die noch ungetrennte Einheit von Himmel und Erde
oder ein «Weltberg», der bei der Trennung von Himmel und
Erde entstand.
Eine andere, seit Ende des 3. Jt.s bezeugte Tradition be-
trachtete den Himmelsgott An als Schöpfer. Ihr Ursprung ist
wohl in Ans Kultstadt Uruk zu suchen. Einen späten Beleg
vom Anfang des 1. Jt.s bietet die folgende Schöpfungsge-
schichte. Sie ist ganz auf ihren magischen Zweck zugeschnit-
ten, nämlich die mythologische Grundlage für ein Ritual ge-
gen Zahnschmerz zu liefern, dessen Ursache man in einem
Wurm sah:
Als Anu den Himmel erschaffen hatte,
der Himmel die Erde erschaffen hatte,
die Erde die Flüsse erschaffen hatte,
die Flüsse die Kanäle erschaffen hatten,
die Kanäle den Morast erschaffen hatten,
der Morast den Wurm erschaffen hatte,
ging der Wurm zu Šamaš und weinte,
vor Ea flossen seine Tränen:
Was gabst du mir zu essen,
was gabst du mir zu saugen?
Die wichtigsten Mythen 81
Ich gab dir die reife Feige, die Aprikose, den Apfel!
Was soll mir die reife Feige, die Aprikose, der Apfel?
Hebe mich hoch und setze mich zwischen Zahn und Zahnfleisch!
Vom Zahn will ich Blut saugen, vom Zahnfleisch Stückchen nagen!
Nach einer dritten Schöpfungsvorstellung ging die Welt aus
einem Urmeer hervor, das in Gestalt der Göttin Nammu per-
sonifiziert wurde. Ihr Sohn war der Wasser- und Schöpfergott
Enki / Ea. Diese Kosmogonie war vermutlich in Küstennähe be-
heimatet, wo auch Enkis Kultstadt Eridu lag.
Das wohl gegen Ende des 2. Jt.s entstandene, aber nur in jün-
geren Manuskripten überlieferte «Babylonische Schöpfungse-
pos» Enūma eliš ist ein theologisches Werk, dem es primär da-
rum geht, die Stellung des babylonischen Stadtgottes Marduk
zu fundieren, der zum Oberhaupt des Pantheons aufgestiegen
war. Es greift ältere Traditionen auf und überträgt Züge der
höchsten Götter des älteren Pantheons, Enlil, Ninurta und Enki,
auf Marduk. Wie schon erwähnt, war Marduk durch Identifika-
tion mit dessen Sohn Asalluḫi in den Kreis des Enki integriert,
der wiederum als Sohn der Göttin des Urmeeres Nammu galt.
Ihr entspricht im Enūma eliš das Paar Apsû und Tiāmat. Erste-
res war nach gewöhnlichem Sprachgebrauch der unterirdische
Süßwasserozean, das mythische Reich Enkis. Tiāmat ist das
zum Eigennamen stilisierte akk. Wort für «Meer», sie symboli-
siert das Salzwasser. Aus beider Vermischung geht ein zweites
Urgötterpaar namens Laḫmu und Laḫamu hervor. Dem Zusam-
menhang nach könnten sie als Personifizierung des Schlamms
oder Schaums verstanden worden sein. Sie zeugen das Paar
Anšar und Kišar, «Himmelsganzes» bzw. «Erdganzes». Deren
Sohn ist der Himmelsgott Anu, von dem wiederum Enki / Ea ab-
stammt. Apsû und Tiāmat fühlen sich durch das laute Treiben
der jüngeren Götter gestört. Apsû, der ihre Vernichtung plant,
wird von Ea eingeschläfert und getötet. Ea macht Apsû zu sei-
ner Wohnstatt und zeugt darin seinen Sohn Marduk. Das Motiv
der gestörten Urgottheit wiederholt sich: Tiāmat wird von Mar-
duk durch die von Anu geschaffenen Winde aufgestört und
zieht mit einem Heer von Ungeheuern gegen die jüngeren Göt-
ter. Marduk besiegt und tötet sie, spaltet ihren Körper und er-
82 Die wichtigsten Mythen
schafft daraus Himmel und Erde. Die Kosmogonie des Enūma
eliš umfaßt also drei Akte: die Zeugung der Urgottheiten durch
Apsû und Tiāmat, die Erschaffung von Eas Wohnstatt aus dem
getöteten Apsû und schließlich die Erschaffung von Himmel
und Erde aus der getöteten Tiāmat durch Marduk. Sie stellt eine
Weiterentwicklung der alten Nammu-Enki-Kosmogonie dar, in
die das Grundmotiv der Enlil-Kosmogonie, nämlich die Spal-
tung von Himmel und Erde, integriert wurde.
Schließlich sind noch einige Mythen zu erwähnen, die von
der Einrichtung der Zivilisation, ihrer Gefährdung und Vertei-
digung handeln. Sie involvieren die Götter Enki und Ninurta.
Enki ist zwar in der mit ihm verknüpften Kosmogonie sei-
ner Mutter Nammu, dem Urmeer, nachgeordnet, doch ist diese
im Gegensatz zu ihm nicht weiter aktiv an der Schöpfung betei-
ligt. Als schöpferischer Handwerker ist Enki auch Architekt der
Weltordnung und Kulturstifter. Der Mythos «Enki und die
Weltordnung» beschreibt, wie er den verschiedenen Gottheiten
ihre Domänen und Aufgaben zuteilte und mit seinem Penis Eu-
phrat und Tigris erschuf, was auch in «Enki und Ninḫursaĝa»
anklingt. Dort wird erzählt, daß er den Sonnengott Utu beauf-
tragte, Wasser, d. h. wohl den Tau, aus seinem unterirdischen
Süßwasserozean heraufzubringen.
Die Erschaffung des Tigris wird auch Ninurta zugeschrieben.
Im Mythos Lugale kämpft er gegen Asag /Asakku, der ein Heer
von Steinen erzeugt und damit nicht nur Sumer, sondern auch
die Weltordnung unter Enlil bedroht. Ninurta gelingt es, ihn
mit Hilfe seiner als Personen agierenden Waffen Šarur und
Šargaz zu besiegen. Er erschafft aus Asags Leichnam kur, den
«Berg», was im Sum. auch eine Bezeichnung der Unterwelt ist.
Ninurta türmt die Steine zum Zagrosgebirge auf und faßt die
Gebirgswasser zum Tigris zusammen, der fortan Sumer bewäs-
sert. Die Steine, die als Bodenschätze zu Ninurtas Domäne ge-
hören, werden teils gesegnet, teils verflucht. Bei seiner trium-
phalen Rückkehr nach Nippur macht er seinem Vater Enlil den
Rang als Oberhaupt des Pantheons streitig. Der vielleicht in
Lagaš entstandene Mythos spiegelt wohl den Versuch wider,
Ninurta / Ninĝirsu, den Hauptgott des Stadtstaates, aufzuwerten.
Die wichtigsten Mythen 83
Als Verteidiger der bedrohten Weltherrschaft Enlils stellt ihn
auch der Anzu-Mythos dar: Der dämonische Löwenadler Anzu
raubt die «Schicksalstafel», die Enlil beim Baden abgelegt hat,
und Ninurta erobert sie zurück. In dem nur fragmentarisch er-
haltenen Mythos «Ninurta und die Schildkröte», der offenbar
einem konkurrierenden politisch-theologischen Milieu ent-
stammt, treffen Ninurta und Enki aufeinander: Ninurta hat den
Anzu bezwungen, doch dieser hat die «Schicksalstafel» in den
Abzu, das Reich Enkis, fallen lassen, der hier vielleicht als der
ursprüngliche Besitzer gilt. Anzu bringt Ninurta zu Enki, der
ihn ehrenvoll empfängt. Als er jedoch bemerkt, daß Ninurta
selbst nach der Weltherrschaft strebt, demütigt er ihn: Er er-
schafft eine riesige Schildkröte und setzt sie an den Eingang des
Abzu, Ninurta fällt in die von ihr geschaufelte Grube. Das
Ende des Mythos kennen wir nicht, da der Text an dieser Stelle
abbricht.
Der Thematik «Weltordnung» läßt sich ferner der Mythos
«Inanna und Enki» zuordnen, in dem die Göttin dem betrun-
kenen Enki die me entwendet und in ihre Stadt Uruk bringt; der
Ausgang der Geschichte ist allerdings noch unbekannt. Mögli-
cherweise besteht ein Bezug zu einer Episode in «Enki und
die Weltordnung», wo sich Inanna bei Enki beschwert, daß er
ihr nicht wie den anderen Gottheiten eine Funktion zugeteilt
habe; Enki entgegnet, daß sie bereits in deren Besitz sei und
nennt Sexualität, Hirtentum (ihr Geliebter Dumuzi ist Hirte)
und Krieg.
Götterkämpfe und Sukzessionsmythen. Der Wechsel an der
Spitze des Pantheons wird im Enūma eliš mythologisch friedlich
gelöst, um nicht zu sagen: durch einen Generationenkonflikt
zwischen Urgöttern und jüngeren Göttern vertuscht. Ein an-
deres Schema, in dem der Kampf um die Vorherrschaft domi-
niert, finden wir im «Kumarbi-Zyklus», der in hethitischer
Sprache überliefert ist, jedoch auf hurritischen und mesopota-
mischen Traditionen fußt. Seine Hauptgestalten sind Kumarbi,
der mit Dagan und Enlil identifiziert wurde, und der Wettergott
unter seinem hurritischen Namen Teššub. In den beiden Haupt-
84 Die wichtigsten Mythen
gestalten und den mit ihnen verwandten und verbündeten Gott-
heiten stehen sich Erd- und Himmelsgötter gegenüber. Der My-
thos wurde offenbar im Rahmen eines Kultfestes vorgetragen,
denn zu Beginn werden die Urgötter, zu denen hier auch Enlil
und Ninlil zählen, zum Zuhören aufgefordert. Es folgt ein «Suk-
zessionsmythos»: Alalu herrscht neun Jahre im Himmel, dann
unterliegt er dem Anu und flüchtet in die «dunkle Erde». Anu
wird nach neun Jahren von seinem Mundschenk Kumarbi,
einem Sohn des Alalu, entthront und flieht zum Himmel.
Kumarbi packt ihn an den Beinen und verschlingt sein Ge-
schlechtsteil. Dem lachenden Kumarbi verkündet Anu, daß er
ihn mit dem Wettergott (Teššub), dem Fluß Aranzaḫ (Tigris)
und drei weiteren Göttern geschwängert habe. In lückenhaftem
Kontext wird berichtet, daß einer von diesen mit Hilfe Eas aus
dem Kopf Kumarbis geboren wird und daß Kumarbi seine Kin-
der bis auf Teššub verschlingt. Auch die weiteren Teile des Zy-
klus sind nur lückenhaft erhalten, ihre Anordnung z. T. un-
sicher. Als Grundmotiv zeichnet sich ab, daß Kumarbi die
Herrschaft des Wettergottes zu verhindern sucht und zu diesem
Zweck monströse Söhne zeugt, darunter das Seeungeheuer
Ḫedammu. Es kann durch die Verführungskünste der Göttin
Šauška, der hurritischen Entsprechung der mesopotamischen
Ištar, aus dem Wasser gelockt (und vermutlich bezwungen)
werden. Schließlich zeugt Kumarbi mit einem gewaltigen Felsen
einen Basaltriesen mit dem sprechenden Namen Ullikummi
«Vernichte Kummi» (d. i. die Residenz des Wettergottes). Er
wird der Schulter des Upelluri, einer hurr. Atlasgestalt, implan-
tiert und wächst dort zu gewaltiger Größe heran. Da er taub
und blind ist, versagen an ihm die Künste der Šauška. Mit Hilfe
des von Ea beschafften Bronzemessers, mit dem einst Himmel
und Erde getrennt wurden, kann Ullikummi von Upelluris
Schulter geschnitten werden. Der unvollständig erhaltene Text
endete wohl mit dem Sieg des Wettergottes. Mehrere Motive
des Kumarbi-Zyklus finden sich in der griech. Mythologie
wieder; sie wurden wahrscheinlich in Kleinasien rezipiert. So
entsprechen den aufeinander folgenden Götterkönigen Anu,
Kumarbi und Teššub auf griech. Seite Uranos, Kronos und
Die wichtigsten Mythen 85
Zeus; Uranos wird von Kronos entmannt wie Anu von Ku-
marbi; wie Kumarbi verschlingt Kronos seine Kinder; auch die
Geburt Athenes aus dem Kopf des Zeus hat ein altorientali-
sches Vorbild.
Hurritische Einflüsse verrät der akk. «Ḫarab-Mythos», der
etwa im 8. oder 7. Jh. in Assyrien aufgezeichnet wurde. Noch
breiter als im «Kumarbi-Mythos» ist hier das Sukzessionsmotiv
durchgeführt: Sieben Göttergenerationen lösen einander ab,
wobei Vatermord und inzestuöse Verbindungen mit Mutter
oder Schwester im Spiele sind. Das erste Paar sind Ḫarab, der
personifizierte «Umbruchpflug», und die Erde. Durch das erste
Pflügen entstehen das Meer und Šakkan, der Gott der Step-
pentiere, welcher seinen Vater tötet und sich mit seiner Mutter
vereinigt. Die Handlung wird in einer Stadt Dunnu lokali-
siert (es gab mehrere dieses Namens), und für die sukzessi-
ven Regierungsantritte der einzelnen Götter werden konkrete
Monatsdaten angegeben: Beides weist auf einen kultischen Hin-
tergrund hin.
Menschenschöpfung. Die mesopotamischen Mythen über die
Menschenschöpfung enthalten meist drei Komponenten: (1) die
Zweckbestimmung des Menschen; (2) die an seiner Erschaffung
beteiligten Gottheiten; und (3) den Schöpfungsakt selbst. Die
Mythen stimmen darin überein, daß der Mensch erschaffen
wurde, um die Götter von der Arbeit zu entlasten und sie durch
Kultivierung des Landes und den darauf beruhenden Opferkult
zu versorgen. Da die Menschen dabei auch sich selbst versor-
gen, bilden Götter und Menschen zusammen praktisch einen
kosmischen Haushalt. Wie prägend die Arbeit für das mesopo-
tamische Menschenbild ist, zeigt eine verblüffende Formulie-
rung zu Beginn des altbab. Atraḫasīs-Mythos:
Als die Götter Mensch waren,
trugen sie Frondienst, schleppten sie den Tragkorb.
Diese Situation führt dazu, daß die arbeitenden Götter gegen
Enlil rebellieren und drohend vor seinem Palast erscheinen. Was
die Menschenschöpfung selbst und die daran mitwirkenden
86 Die wichtigsten Mythen
Gottheiten betrifft, so lassen sich zwei Traditionen unterschei-
den: Nach der einen, schwächer bezeugten, sprossen die Men-
schen wie Pflanzen aus der Erde, nach der weitaus gängigeren
wurden sie aus Lehm gebildet. Erstere Vorstellung war wohl mit
der Enlil-Kosmogonie verknüpft. Der Einleitung zum sume-
rischen «Preislied auf die Hacke» zufolge ließ Enlil die Mensch-
heit aus dem Urhügel in Nippur hervorsprießen, der dement-
sprechend auch den Namen uzu-mua «(Ort, wo) das Fleisch
wuchs» führt, nachdem er ihre Saat mit Hilfe der Hacke in eine
Ziegelform gelegt hatte. In einer späteren, wohl durch die Enki-
Tradition beeinflußten Variante geschah dies, nachdem die Erde
mit dem Blut eines geschlachteten Götterpaares getränkt wor-
den war («KAR 4-Mythos»). Die Bildung des Urmenschen aus
Lehm gehört in die Nammu-Enki-Kosmogonie. Ältester Zeuge
ist der sumerische Mythos «Enki und Ninmaḫ». An der Er-
schaffung des ersten Menschen beteiligt sind hier die bereits
als Personifikation des Urozeans bekannte Göttermutter Nam-
mu, ihr Sohn Enki und die Muttergöttin Ninmaḫ, assistiert
von sieben göttlichen Geburtshelferinnen. Eine ähnliche Kon-
stellation findet sich im «Atraḫasīs-Epos»: Wieder sind es Ea
und die von Geburtshelferinnen unterstützte Muttergöttin, die
den Menschen erschaffen und dessen geschlechtliche Vermeh-
rung einrichten. Eine Priorität des Mannes, wie sie der biblische
Mythos von der Erschaffung Evas aus der Rippe Adams impli-
ziert, ist höchstens indirekt zu erkennen, insofern das akk. Wort
für «Mensch» maskulin ist, sie wird aber nicht thematisiert.
Von der Urmutter Nammu ist später nicht mehr die Rede. An-
dererseits kommt ein neues Motiv hinzu: Für die Menschen-
schöpfung wird ein Gott, nämlich der Anführer der Frondienst
leistenden, gegen Enlil rebellierenden Götter, geschlachtet und
sein Blut mit Lehm vermischt. Im Enūma eliš schließlich sind es
Ea und sein Sohn Marduk, die den ersten Menschen erschaffen,
der zu diesem Zweck geschlachtete Gott ist Tiāmats Heerführer
Qingu. Es fällt auf, daß in der Enlil-Tradition ein weibliches
Element fehlt, während es in der Enki-Tradition zunächst eine
entscheidende Rolle spielt, um dann im Laufe der Geschichte
zu verschwinden. Wie in der Bibel heißt der erste Mensch ein-
Die wichtigsten Mythen 87
fach «Mensch»: hebr. adam, sum. lul(l)u, akk. awī / ēlu. Das
«Atraḫasīs-Epos» verflicht das akk. Wort auf kunstvolle Weise
etymologisch mit dem mythischen Geschehen (wobei zu beach-
ten ist, daß die Keilschrift wie auch das Akkadische nur bedingt
zwischen den Vokalen e und i unterscheiden). Der geschlachtete
Gott, der im Menschen als Totengeist fortlebt, heißt dort näm-
lich Wē, sein Name war also im Wort für «Mensch» bzw. im
Namen des ersten Menschen enthalten. Wē wird als «Gott
(ilu), der Verstand (ṭēmu) besaß» charakterisiert, und in der Tat
konnte man in awī / ēlu auch das Wort für «Gott» finden, wäh-
rend sich das Wort für den «Totengeist», (w)eṭemmu, als Kom-
bination aus dem Namen des geschlachteten Gottes und dem
Wort für «Verstand» deuten ließ. Auch menschliche Gebrechen
wurden mythologisch reflektiert: Der zweite Teil von «Enki
und Ninmaḫ», ursprünglich ein selbständiger Mythos, berich-
tet, wie beide bei einem Fest, offenbar vom Biergenuß stimu-
liert, einen Wettstreit austragen: Die Muttergöttin erschafft de-
fizitäre menschliche Wesen, denen Enki jeweils einen Platz in
der Gesellschaft zuweist; so bestimmt er etwa den Blinden
zum Musiker. Enki erschafft dann seinerseits ein mit zahlrei-
chen Mängeln behaftetes Wesen (einen Fötus oder einen Greis?),
und Ninmaḫ, die damit nichts anfangen kann, muß sich ge-
schlagen geben.
Götterhochzeiten und -zeugungen. Zwei sehr unterschied-
liche Mythen berichten von Enlils Hochzeit. «Enlil und Ninlil»
erzählt, wie Enlil das Mädchen Ninlil beim Baden vergewaltigt
und sie zunächst mit dem Mondgott Nanna / Sîn schwängert.
Dann zeugt er mir ihr noch den Unterweltsgott Nergal / Mes-
lamta’ea und zwei weitere Götter, die ebenfalls Affinitäten zur
Erde und Unterwelt besitzen, Ninazu und Enbilulu. Enlil wird
somit zum Herrscher über die Erde und die Unterwelt, die im
Sum. und Akk. mit demselben Wort «Erde» bezeichnet werden
können. Die Verbindung des Mondgottes mit so ungleichen
Brüdern könnte durch eine spekulative Deutung der Schreibung
seines Namens Nanna gefördert worden sein: Er wurde näm-
lich durch eine Kombination der Zeichen ŠEŠ für «Bruder» und
88 Die wichtigsten Mythen
KI für «Erde, Unterwelt» dargestellt (letzteres ist aus einem al-
ten NA hervorgegangen, wovon die Schreiber aber nichts mehr
wußten). Im Gegensatz zu «Enlil und Ninlil» schildert «Enlil
und Sud» eine konventionelle Brautwerbung und Hochzeit.
Eine solche steht auch im Mittelpunkt von «Martus Hochzeit»,
doch handelt es sich hier um ein ungewöhnliches Paar: Martu,
der Gott der amurritischen Nomaden, heiratet die Tochter eines
Seßhaften, des Stadtgottes Numušda von Kazallu.
Wie Enlil bricht auch Enki sexuelle Tabus: In «Enki und
Ninḫursaĝa» zeugt er mit seiner Partnerin, der Muttergöttin,
eine Tochter, die er mit einer weiteren Tochter schwängert. Der
Vorgang wiederholt sich zweimal. Als sich Enki der vierten
Tochter nähert, überträgt die Muttergöttin seinen Samen auf 8
Pflanzen, die Enki aufißt (die auf den Inzest bezogene Symbolik
ist deutlich), worauf er erkrankt. Die Muttergöttin verflucht ihn
und verschwindet. Der Fuchs bietet Enki seine Hilfe an und
bringt sie zurück. Er zeugt mit ihr 8 weitere Gottheiten, die
seine erkrankten Glieder heilen. Hierbei ist eine Ätiologie für
die Entstehung dieser Gottheiten zu erkennen, die auf ihre Na-
men rekurriert, denn diese werden jeweils etymologisch zu
einem Körperteil in Beziehung gesetzt. Die Geschichte ist offen-
sichtlich eine mythologische Begründung des Inzestverbots.
Der Mythos «Nergal und Ereškigal» erklärt, warum und wie
die Verbindung der zwei ursprünglich selbständigen Unterwelts-
gottheiten zustandekam: Als die Boten der Unterweltskönigin
in der Götterversammlung erscheinen, um ihren Anteil vom
Mahl zu holen, läßt es Nergal am gebührenden Respekt fehlen,
woraufhin Ereškigal seine Auslieferung fordert. Nergal gelingt
es mit Hilfe Eas, unbeschadet in die Unterwelt zu gelangen und
Ereškigal zur Frau zu gewinnen.
Verschwundene Gottheiten. Viele altorientalische Mythen
handeln von Gottheiten, die zeitweise verschwinden, wobei
mehr oder weniger deutliche Bezüge zu den Jahreszeiten er-
kenntlich sind und Protagonisten wie Handlungen den unter-
schiedlichen geographischen Bedingungen entsprechend variie-
ren. In diese Kategorie läßt sich eines der bekanntesten und am
Die wichtigsten Mythen 89
besten erhaltenen altorientalischen Literaturwerke einordnen,
das in einer älteren sumerischen Fassung («Inannas Gang zur
Unterwelt») und einer jüngeren akkadischen («Ištars Höllen-
fahrt») erhalten ist. Die Göttin beschließt, in die Unterwelt
hinabzusteigen. Als (vorgeschobenen?) Grund nennt sie dem
Türhüter, an der Totenfeier für Ereškigals Gemahl Gugalanna
(anscheinend ein Vorgänger Nergals, über den wir so gut
wie nichts wissen) teilnehmen zu wollen. Sie durchschreitet die
7 Tore der Unterwelt, wobei sie jeweils eines ihrer Schmuck-
und Kleidungsstücke ablegen muß, bis sie schließlich nackt vor
der Unterweltskönigin erscheint. Beim Versuch, deren Thron
einzunehmen, unterliegt sie und wird getötet, was nach der akk.
Fassung das Erlöschen aller sexuellen Aktivitäten auf der Erde
zur Folge hat. Ihre Botin Ninšubur (sum. Fassung) bzw. der
Götterbote Papsukkal (akk. Fassung) suchen bei mehreren Göt-
tern Hilfe und finden sie schließlich bei Enki / Ea. Nach der sum.
Fassung erschafft er aus dem Schmutz seiner Fingernägel den
kurĝarra und den galaturra, zwei burleske Gestalten des Ištar-
Kults, die in Gestalt von Fliegen in die Unterwelt eindrin-
gen. Nach der akk. Fassung erschafft Ea den «Buhlknaben»
Aṣûšunamir («sein Auftritt ist prächtig») und sendet ihn in die
Unterwelt. In beiden Fällen handelt es sich offensichtlich um
eine Ätiologie für die Existenz dieser Personen. Nun wird
Ereškigal von Enkis Geschöpfen (sexuell?) getröstet, verspricht
aber zuvor, einen Wunsch zu erfüllen. Dieser besteht natürlich
in der Herausgabe von Inannas Leichnam, der mit «(Kraut und)
Wasser des Lebens» wiederbelebt wird. Ereškigal verflucht den
«Buhlknaben» zu einem elenden Dasein (was wohl der realen
Situation von Prostituierten entsprach). Inanna darf die Unter-
welt wieder verlassen und erhält beim Durchschreiten der Tore
ihre Paraphernalien zurück. Allerdings muß sie zurückkehren,
sollte sie keinen Ersatz leisten. In der sum. Fassung wird sie
deswegen von Unterweltsdämonen begleitet, in der akk. Fas-
sung vom Todesgott Namtar. Nach der sum. Fassung trifft sie
zunächst auf drei Gottheiten, die um sie trauern und daher ver-
schont werden, dann auf ihren Geliebten Dumuzi, der ein Fest
feiert. Als sie ihn ausliefern will, flieht er, unterstützt vom Son-
90 Die wichtigsten Mythen
nengott Utu, der ihn in eine Schlange (?) verwandelt, zu seiner
Schwester Geštinanna. Inanna spürt ihn jedoch mit Hilfe einer
Fliege auf, die damit belohnt wird, sich künftig «im Bierhaus»
laben zu dürfen. Sie überantwortet Dumuzi als Ersatz für sich
der Unterwelt, er darf sein Los aber mit seiner Schwester
Geštinanna teilen, so daß beide abwechselnd ein halbes Jahr in
der Unterwelt verbringen. Dumuzis Flucht und Tod sind Gegen-
stand der sum. Dichtungen «Dumuzis Traum» und «Dumuzi
und Geštinanna». Die akk. Fassung kürzt den sicherlich gut be-
kannten Schluß und weicht u. a. darin von der sum. Fassung ab,
daß Namtar in Ereškigals Auftrag Dumuzi zu dem für ihn töd-
lichen Fest anstiftet; außerdem erscheint dort Belili anstelle von
Geštinanna als Dumuzis Schwester. Die letzten Zeilen spielen
auf ein Fest an, bei dem mit Dumuzi auch die Toten aus der
Unterwelt heraufsteigen. Es liegt nahe, daß der Mythos bei die-
ser Gelegenheit vorgetragen wurde, was auf einen jahreszeit-
lichen Hintergrund schließen läßt. Er muß, da Dumuzi als Hirt
charakterisiert ist, mit der Fruchtbarkeit der Schafherden zu tun
gehabt haben. Man hat in «Inannas Gang zur Unterwelt» ne-
ben jahreszeitlichen auch astrale (Inanna als Venusstern) und
historische (Inanna als Reichsgöttin der Akkad-Dynastie) Bezü-
ge erkennen wollen. Alle drei müssen sich nicht gegenseitig aus-
schließen, zumal bei einer langen Überlieferungsgeschichte und
der Rezeption in geographisch unterschiedlichen Regionen mit
Umdeutungen und Adaptationen zu rechnen ist.
Mythen von verschwundenen Gottheiten sind charakteri-
stisch für Kleinasien. Sie handeln u. a. vom Vegetationsgott Te-
lipinu, dem Wettergott und dem Sonnengott. Im Gegensatz zu
Südmesopotamien, wo am ehesten der heiße, mit Dürre einher-
gehende Sommer als «tote» Jahreszeit gelten kann, ist dies in
Anatolien der Winter. Im hethitischen Mythos vom verschwun-
denen Sonnengott ist der jahreszeitliche Bezug evident, denn die
Folge seines Verschwindens ist winterlicher Frost. Aber auch
Folgen von Telipinus Verschwinden wie Nebel und Rauch wei-
sen auf die kalte Jahreszeit. Andererseits gibt es Indizien dafür,
daß die Mythen und die mit ihnen verbundenen Rituale auch
auf «Notzeiten» außerhalb des Jahreszeitenrhythmus bezogen
Die wichtigsten Mythen 91
wurden. Die Suche nach der gewöhnlich aus Zorn verschwun-
denen Gottheit läuft meist nach einem bestimmten Muster ab:
Eine erste, allgemeine Suche bleibt erfolglos; es wird ein Adler
ausgesandt – wiederum ohne Erfolg; schließlich sendet die wei-
se Muttergöttin Ḫannaḫanna eine Biene aus, die die gesuchte
Gottheit findet, durch ihren Stich aufweckt und zurückbringt.
Im ugar. «Baal-Zyklus» ist das Motiv als Kampf des Wettergot-
tes Baʿl gegen den Todesgott Mōt gestaltet, in dem beide ab-
wechselnd siegen und unterliegen.
Sintflut. Im 2. und 1. Jt. war das Geschichtsverständnis der Be-
wohner Mesopotamiens durch eine tiefe Zäsur geprägt: die
«Flut». Die Zeit vor der Flut war die mythische Vergangenheit.
Nach der «Sumerischen Königsliste» herrschten damals vier bis
fünf aufeinanderfolgende Dynastien, deren Königen man – wie
den Patriarchen der biblischen Urgeschichte – enorm lange Le-
benszeiten andichtete. Über Anzahl und Reihenfolge der vor-
sintflutlichen Dynastien gab es leicht variierende Traditionen.
Einigkeit bestand darin, daß, «nachdem das Königtum vom
Himmel herabgekommen war», Eridu Sitz der ersten und
Šuruppag Sitz der letzten vorsintflutlichen Dynastie war; die an-
deren residierten in Badtibira, Larak und Sippar. Wir wissen
nicht, wann genau die Idee einer großen Flut aufkam. In den
frühdynastischen Texten aus Šuruppag selbst ist sie jedenfalls
noch nicht belegt. Auch ein historischer Kern läßt sich nicht
ausmachen. Eine plausible Annahme ist, daß sich im Mythos
die akkumulative Erfahrung der jährlichen Hochflut von Eu-
phrat und Tigris verdichtet hat. Da Sintflutmythen weltweit ver-
breitet sind, läßt sich auch die Rezeption außermesopotamischen
Erzählgutes nicht ausschließen. Der Name des Sintfluthelden
ist in den Quellen – der «Sumerischen Sintfluterzählung», dem
akk. «Atraḫasīs-Epos» und der XI. Tafel des Gilgameš-Epos –
verschieden: Zi-u-sudra «(mit) Leben langer Tage (begabt)»
(sum.), (W)atra(m)-ḫasīs «überaus klug» (akk.) bzw. Ut(a)na-
pišti(m), was als «ich habe mein Leben gefunden» verstanden
wurde, ursprünglich aber vielleicht eine gelehrte Wiedergabe
des sum. Namens war. Im «Atraḫasīs-Epos» schließt die Sint-
92 Die wichtigsten Mythen
flutgeschichte an die der Menschenschöpfung an. Auslöser ist
Enlils Wunsch, die an Zahl überhandnehmende Menschheit zu
vernichten, da er sich durch ihr lautes Treiben gestört fühlt. Er
versucht dies zunächst durch Krankheiten, dann durch Dürre
mit folgender Hungersnot. Sein Plan wird jeweils durch Ea ver-
eitelt, der den Menschen durch seinen Günstling Atraḫasīs rät,
den jeweils zuständigen Todesgott Namtar bzw. Wettergott
Adad günstig zu stimmen. Eas Parteinahme wird entdeckt, er
muß schwören, Enlils dritten Plan, die Sintflut, nicht zu verra-
ten, doch er umgeht den Schwur durch List, indem er zu einer
Rohrwand spricht, hinter der Atraḫasīs mithören kann (im Gil-
gameš-Epos ist allerdings von einem Traum die Rede). Nach
Eas Anweisung erbaut Atraḫasīs ein gewaltiges Schiff, in dem er
samt Familie und Handwerkern, Tieren und Pflanzen die Flut
übersteht. Nach sieben Tagen verlaufen sich die Wasser, und das
Schiff landet auf einem hohen Berg namens Nimuš (oder Niṣir),
den man in der Gegend von Sulaimanijah in Irakisch-Kurdistan
lokalisieren kann. Die Götter selbst waren voller Angst vor der
Flut gen Himmel entflohen und hatten, allen voran die Mutter-
göttin, die Vernichtung der Menschheit beklagt. Sie versammeln
sich nun «wie Fliegen» um das Opfer, das Atraḫasīs darbringt;
dies ist, wie der Text selbst expliziert, eine Ätiologie für das
«Fliegenhalsband» der Muttergöttin, eins ihrer ikonographisch
nachweisbaren Attribute. Enlil, von Ea zu Vernunft gebracht,
segnet Ut(a)napišti(m) und seine Frau, verleiht ihnen ewiges
Leben und entrückt sie an einen fernen Ort im Meer (wo sie
Gilgameš aufsucht, dem Utnapišti seine Geschichte erzählt).
Nach der altbab. Fassung setzt Enlil nun auf Eas Rat hin anstel-
le der Sintflut andere Mittel ein, um die Zahl der Menschheit zu
dezimieren, ohne sie als ganze zu vernichten: (Todes-)Strafe für
Verbrecher, Priesterinnen, die keine Kinder bekommen dürfen,
und die Dämonin des Kindbettfiebers. Der mesopotamische
Mythos war in variierenden Fassungen weit verbreitet, wie u. a.
ein Textzeuge aus Ugarit zeigt. Er wurde auch in Israel rezi-
piert und fand Eingang ins Alte Testament, wo der Sintflutheld
den Namen Nōaḥ trägt (Genesis 6,5–9,17). Der hebr. Text
weist frappante Übereinstimmungen mit den keilschriftlichen
Die wichtigsten Mythen 93
Fassungen auf. Dazu gehört neben der Aussendung von Vö-
geln, um das Zurückgehen der Flut zu erkunden, auch das ab-
schließende Opfer Nōaḥs, das Versprechen Elohims, daß keine
Sintflut mehr kommen werde, sowie das Zeichen dafür, der Re-
genbogen, der mit dem schillernden Fliegenhalsband der Mut-
tergöttin verglichen werden kann.
Weitere Geschichten von Göttern und Menschen. Die Hel-
dentaten legendärer Könige von Uruk (Enmerkar, Lugalbanda
und Gilgameš), die in enger Beziehung zur Stadtgöttin Inanna
und zu ihrem Bruder, dem Sonnengott Utu, stehen, sind Gegen-
stand mehrerer sum. Epen. Den Geschichten um Gilgameš war
langes Nachleben beschieden (s. dazu den Band von W. Salla-
berger in dieser Reihe).
Der sum. Mythos «Inanna und Šukalletuda» vereint mehrere
Motive, deren Zusammenhang sich nicht leicht erschließt: eine
Art Inspektionsreise Inannas, die sie ins Bergland hinaufführt
(was in Anspielung auf ihren Abstieg in die Unterwelt formu-
liert ist); die Erschaffung der Dattelpalme und des šaddūf (arab.,
eine Bewässerungsvorrichtung) durch Enki, der sich dabei eines
Raben bedient; und die Vergewaltigung Inannas durch den
Gärtner Šukalletuda, als die Göttin sich unter einem Baum in
seinem Garten ausruht. Inanna erwacht, erkennt, was gesche-
hen ist, und überzieht das Land Sumer mit Blut (ein möglicher
Anhaltspunkt für historische Bezüge). Sie sendet noch zwei wei-
tere «Plagen», bis sie Šukalletuda mit Enkis Hilfe auffindet und
mit dem Tod bestraft, wobei sie ihn damit tröstet, daß sein
Name im Lied weiterleben werde.
Im «Adapa-Mythos» gerät Adapa, ein Diener des Ea in Eri-
du, beim Fischen in einen Sturm, wird ins Meer geschleudert
und droht dem Südwind, ihm den Flügel zu brechen, was sich
sofort auf magische Weise bewahrheitet. Der Himmelsgott Anu
bestellt Adapa zu sich, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Ea
kleidet Adapa in ein Trauergewand und instruiert ihn, wie er
sich zu verhalten habe; vor allem soll er Speise und Trank
des Todes, die man ihm anbieten werde, ablehnen. Adapa trifft
am Himmelstor auf die beiden Unterweltsgötter Dumuzi und
94 Die wichtigsten Mythen
Gišzida (= Ninĝišzida) und schmeichelt ihnen, indem er be-
hauptet, wegen zweier verschwundener Götter (d. h. ihretwe-
gen) Trauer zu tragen. Lachend bringen sie ihn zu Anu. Adapa
berichtet Anu seine Geschichte, Anu wird besänftigt, man reicht
Adapa Speise und Trank des Lebens, doch gemäß Eas Rat lehnt
er ab. Anu lacht und bedauert ihn. Hier bricht der Text ab. Aus
einer möglicherweise abweichenden Fassung erfahren wir noch,
daß Anu Adapa in seinen Dienst übernimmt. Ob Speise und
Trank des Anu ihm tatsächlich das ewige Leben beschert hätten
oder gemäß Eas Warnung den Tod, bleibt ungewiß. Da Adapa
als Prototyp eines Weisen galt, wird man seinen Gehorsam ge-
genüber Eas Rat jedenfalls positiv bewertet haben.
Mythen aus verschiedenen Regionen des Alten Orients the-
matisieren die Kinderlosigkeit, die für den altorientalischen
Menschen ein großes Manko darstellte. Der älteste ist das
zu Beginn des 2. Jt.s verfaßte akk. «Etana-Epos» aus Babylo-
nien. Die Kinderlosigkeit Etanas, des sagenhaften Begründers
der Dynastie von Kiš, ist mit einer Tiergeschichte verwoben.
Adler und Schlange hausen in einem Baum und schließen ein
Bündnis, das vom Adler gebrochen wird, indem er die Jungen
der Schlange frißt. Er wird vom Sonnengott Šamaš, an den sich
die Schlange wendet, bestraft: In einem Kadaver, den dieser in
einer Grube bereitgelegt hat, lauert sie dem Adler auf und reißt
ihm die Federn aus. Šamaš, den Etana täglich um das «Gebär-
kraut» anfleht, weist ihm den Weg zum Adler, und er befreit
ihn. Zum Dank trägt der Adler ihn auf seinem Rücken zum
Himmel, wo er von Ištar das Gebärkraut zu erlangen hofft.
Auch im «Keret-Epos» und im «ʿAqhat-Epos» aus Ugarit
geht es um kinderlose Herrscher. Beide, Keret und Danʾil, be-
kommen durch göttliche Hilfe Söhne. Die Titelgestalt des
ʿAqhat-Epos ist Danʾils Sohn. Die Göttin ʿAnat begehrt sei-
nen wunderbaren Bogen, ein Geschenk des Handwerkergottes
Kōṯar-wa-Ḫasīs. Als er auf ihr Angebot, ihm im Tausch dafür
Unsterblichkeit zu verleihen, nicht eingeht, muß er dies mit dem
Tode büßen (das Ende fehlt). Im hethitischen «Appu-Märchen»
verhilft der Sonnengott dem kinderlosen Appu zu zwei Söhnen,
die er «Gut» und «Bös» nennt. Die Fortsetzung – «Bös» über-
Die wichtigsten Mythen 95
vorteilt «Gut» – läßt das «Kain-und-Abel-Motiv» erkennen,
doch auch bei diesem Text fehlt das Ende.
Das «Erra-Epos». Einen Sonderfall stellt das «Erra-Epos» (auch
«Išum und Erra» genannt) dar. Es ist ein wahrscheinlich im
8. Jh. entstandener Kunstmythos, dessen Dichter sich im Epi-
log namentlich vorstellt und dabei sein Werk als Wiedergabe
einer nächtlichen Vision ausgibt. Erra, der Unterwelts-, Pest-
und Kriegsgott, ruht bei seiner Gemahlin, als sich in ihm – aus-
gelöst vom Funkeln der Waffen seines Wesirs Išum – der Drang
zu kämpfen regt. Die dämonischen «Siebengötter» stacheln ihn
endgültig dazu auf. Er überredet nun den Götterkönig Marduk,
seinen schäbig gewordenen Ornat erneuern zu lassen und ihm
solange die Herrschaft zu übertragen. Erra stiftet blutige Unru-
hen und Zerstörungen, denen sogar die Heiligtümer der Götter
zum Opfer fallen; er droht die Menschheit zu vernichten (wie
einst Enlil durch die Sintflut). Išum, der ihn tadelt, daß er unter-
schiedslos Gute und Böse dahinrafft, vermag ihn zur Besonnen-
heit zu bringen. Erra zieht sich zurück und trägt Išum auf, für
die Wiederherstellung und das Gedeihen Babylons zu sorgen.
Der Dichter verarbeitet offenbar traumatische Kriegserlebnisse
mittels der dialektischen Möglichkeiten des polytheistischen
Systems: er allegorisiert sie als Wutanfall des Unterweltsgottes,
der sich unter dem Einfluß seines Wesirs wieder beruhigt. Zum
Schluß deklariert er sein Lied als eine Art apotropäische (un-
heilsabwendende) Beschwörung: «Der Sänger, der es erklingen
läßt, wird nicht an der Plage sterben, dem König und dem
Fürsten werden seine Worte gefallen. Der Schreiber, der es lernt,
wird im Feindesland überleben und in seinem Land geehrt wer-
den!». Mit Zitaten aus dem «Erra-Epos» beschriftete Amulette
zeigen, daß man tatsächlich auf seine segensreiche Wirkung ver-
traute.
96 Religiöses Leben
6. Religiöses Leben
Das Leben im Alten Orient war in einem uns heute kaum mehr
nachvollziehbaren Maße durch religiöse Faktoren bestimmt.
Die keilschriftlichen Quellen enthalten eine Fülle an Informa-
tionen über religiöse Praktiken vom einfachen Gebetsgestus bis
hin zu wochenlangen Festritualen. Es liegt in der Natur der
Quellen, daß wir die offiziellen, staatlichen Aspekte der Religi-
onsausübung besser kennen als die individuellen. Die Quellen
sind nach Ort, Zeit und Gattung ungleichmäßig verteilt, thema-
tisch besonders relevante Texte wie z. B. Festbeschreibungen
oder Kultkalender sind oft nur unvollständig erhalten und z. T.
editorisch noch nicht erschlossen. Unser Bild von der altorienta-
lischen Religionsausübung, ihren regionalen und lokalen Unter-
schieden und ihrer diachronen Entwicklung ist daher trotz be-
deutender Vorarbeiten noch unausgewogen und lückenhaft.
Kontakt zur Götterwelt. Der Kontakt mit der Götterwelt un-
terlag bestimmten Regeln und Beschränkungen. Man stellte sich
zwar die Gottheiten generell nach dem Modell einer mensch-
lichen Person vor, die mächtigsten Gottheiten jedoch nach dem
Modell des Königs. Um dem König ein Anliegen vorzutragen
oder gar zu ihm vorgelassen zu werden, bedurften gewöhnliche
Sterbliche der Vermittlung. Dies wird durch die auf Rollsiegeln
der Ur III-Zeit häufige «Einführungsszene» (Abb. 3) illustriert:
Sie zeigt einen Beter, den eine männliche oder weibliche Gott-
heit am Handgelenk faßt und einer thronenden Gottheit prä-
sentiert. Hinter dem Beter steht oft eine Schutzgöttin (sum. lam-
ma, akk. lamassu genannt) mit fürbittend erhobenen Armen.
Wie der Königspalast, so war auch der Tempel lediglich einem
kleinen Kreis zugänglich, das gewöhnliche Volk bekam die Göt-
ter in Gestalt ihrer Kultbilder nur bei festlichen Anlässen zu
sehen, wenn sie den Tempel verließen. Als direkter und all-
Religiöses Leben 97
täglicher Ansprechpartner für den Menschen fungierte seine
«persönliche Schutzgottheit» – eine Konzeption, die sich wahr-
scheinlich gegen Ende des 3. Jt.s herausbildete und die im
«Schutzengel» der jüdisch-christlichen Tradition weiterlebt.
Wie es für Bittsteller beim König bestimmte Audienzzeiten gab,
so waren auch für Gebete und Rituale bestimmte Zeiten vorge-
sehen. Von höchster Bedeutung war in dieser Hinsicht der Son-
nenaufgang. Dies war der Zeitpunkt, zu dem der Sonnengott
seine Entscheidungen fällte, die man durch Opferschau oder an-
dere divinatorische Praktiken in Erfahrung bringen konnte. Der
frühe Morgen war die bevorzugte Zeit für Gebete, viele Rituale
waren so angelegt, daß sie bei dem hoffnungsvollen Anblick des
Sonnenaufgangs endeten.
Reinheit. Die besondere, «jenseitige» Qualität der Götter-
welt, für die uns der Begriff «heilig» geläufig ist, wird im Alten
Orient vor allem mit «Reinheit» und «Glanz» assoziiert. Als
Inbegriff von «Reinheit» galt der dem Menschen unerreichbare
Himmel. Das oft mit «heilig» wiedergegebene sum. Wort ku(g)
bezeichnete eigentlich hellglänzende Edelmetalle wie Gold und
Silber. Göttliche Wesen, aber auch Könige, waren von «Schre-
ckensglanz» umgeben, für numinose Lichterscheinungen dieser
Art existierte eine reiche Terminologie. Wer den Göttern ge-
fällig leben oder sich ihnen im Tempel nähern wollte (was
nur Priestern gestattet war), mußte Reinheitsvorschriften und
Tabus beachten, die sich auf alle Lebensbereiche erstreckten.
«Sünde» wurde primär als ein bewußter oder unbewußter Re-
gelverstoß und die daraus resultierende Unreinheit verstan-
den. Vor dem Hintergrund der Reinheit ist wohl auch der
übliche Gebetsgestus zu verstehen, der darin bestand, die
Hand vor Nase und Mund zu führen: Auf diese Weise vermied
man, das göttliche Gegenüber mit dem eigenen unreinen Atem
zu belästigen. Um sich von Sünde und Unreinheit zu befreien,
unterzog man sich Reinigungsriten, die uns in vielfältigen For-
men und Kontexten überliefert sind. Da man sich die Verun-
reinigung substantiell vorstellte, weisen die Riten Analogien
zu profanen Reinigungsmethoden auf. Wasser, insbesondere
98 Religiöses Leben
das magisch aufbereitete «Weihwasser», spielte dabei die
Hauptrolle, aber auch Seife (die man aus der Asche alkalihal-
tiger Pflanzen herstellte), Feuer und Räucherwerk, das Scheren
der Haare oder besondere Kleidung konnten dazugehören.
Man versuchte auch, die Unreinheit vom Leib des infizierten
Menschen auf andere Medien als Wasser zu übertragen und zu
entsorgen. Das konnte der auch aus dem Alten Testament be-
kannte «Sündenbock» (Levitikus 16,22), den man dann in die
Wüste jagte, aber auch ein Mensch sein: So vollzog der von
einem unheilvollen Omen bedrohte König Asarhaddon (680–
669) einen rituellen Beischlaf mit einem Mädchen, das man
dann an der Grenze zum Feindesland aussetzte. Derartige Prak-
tiken und das ihnen zugrundeliegende Denksystem bezeichnen
wir als «Magie».
Magie. Magie war ein fester Bestandteil altorientalischer Le-
bensbewältigung. Sie besteht in der «indirekten» Einwirkung
auf Objekte und Menschen mittels ritueller Handlungen, zu de-
nen auch das in dieser Funktion «Beschwörung» genannte Wort
gehört. Magie wird angewandt, wenn direkte mechanische Ein-
wirkung nichts ausrichtet oder nicht möglich erscheint, etwa
wegen räumlicher Entfernung oder auch im Falle von substanti-
ell gedachten Objekten, die nach unserem Verständnis nur in
der Vorstellung existieren wie etwa Krankheitsdämonen oder
kultische Verunreinigungen und Sünden. Die «magische Me-
chanik» beruht im wesentlichen auf Analogie und Substitution:
Beispielsweise wird ein Tonfigürchen durchbohrt, um damit
eine Person zu treffen. Im Gegensatz zur alltäglichen ist die ma-
gische Mechanik nicht jederzeit für jedermann verfügbar, sie ist
vielmehr Sache von Spezialisten, den in der Regel männlichen
Beschwörungspriestern. Sie kann – und das ist ihr anerkannter
Hauptzweck – zum Wohle des Menschen eingesetzt, sie kann
aber auch mißbraucht werden, um Schaden oder Tod zu bewir-
ken («schwarze Magie»). Wie wichtig die magische Komponen-
te des altorientalischen Lebens war, kann man u. a. daraus erse-
hen, daß sie gleich zu Beginn des Codex Hammurapi zur Sprache
kommt:
Religiöses Leben 99
Wenn ein Bürger einem anderen Hexerei vorwirft, es ihm aber nicht
nachweisen kann, so muß der Beschuldigte zum Fluß gehen und eintau-
chen. Wenn der Fluß ihn packt, erhält der Kläger sein Haus. Wenn der
Fluß den Bürger als rein (d. h. unschuldig) erweist und er unversehrt wie-
der herauskommt, dann wird derjenige, der ihn der Hexerei bezichtigt
hat, getötet. Derjenige, der in den Fluß eingetaucht ist, erhält das Haus
seines Anklägers.
Mit «zum Fluß gehen» ist das «Flußordal» gemeint, also ein
«Gottesurteil». In dieser richterlichen Funktion ist der Fluß
selbst eine Gottheit, die wohl letztlich im Dienst des höchsten
Richters, des Sonnengottes, steht. «Schwarzer Magie» begeg-
nete man mit «weißer Magie»: Das diesbezügliche Maqlû-Ri-
tual in seiner «kanonischen» Fassung aus dem 1. Jt. umfaßte
ca. 90 Beschwörungen. Unter den darin genannten Verur-
sacher(inne)n schwarzer Magie sind Frauen, also «Hexen», in
der Mehrzahl.
Divination. Eine ähnlich wichtige Rolle wie die allgegenwärtige
Magie spielte die Beschäftigung mit Vorzeichen verschiedenster
Art. Es ist nicht ganz leicht, sich für einen der gängigen Fachter-
mini für diese Komponente der altorientalischen Religions- und
Lebenspraxis zu entscheiden. Das Wort «Mantik» kommt von
griech. mántis «Seherin» und weiter von maínomai «rasen, in
Ekstase sein» und impliziert eine spezielle Technik. Ähnliches
gilt für «Orakel»: Es kommt von lat. oraculum, das von orare
«feierlich sprechen» und letztlich von os «Mund» abgeleitet ist,
und bezieht sich ähnlich wie dt. «Weissagung» auf mündliche
Prophetie. Am neutralsten ist «Divination», das zu lat. divinare
«göttliche Eingebungen haben, ahnen, weissagen» und weiter-
hin divinus «göttlich» gehört. Für den altorientalischen Men-
schen war die Welt ein gewaltiges, von den Göttern kontrol-
liertes System von (Vor-)Zeichen, die wir mit einem lateinischen
Ausdruck «Omina» (Singular: Omen) nennen. Zu dieser Sicht
mag nicht zuletzt die Keilschrift beigetragen haben, die sich aus
logographischen Anfängen heraus zu einem immer komple-
xeren System entwickelte, das Formen, Begriffsfelder, Wörter
und Laute miteinander verflocht. Wie die Schrift, so transpor-
100 Religiöses Leben
tierte auch das kosmische Zeichensystem Botschaften. Das akk.
Wort für «Botschaft», šipru, ist von šapāru «senden» abgeleitet.
Es bedeutet also eigentlich «Sendung, Botschaft», kann aber
auch den darin enthaltenen «Auftrag» oder «Befehl» und des-
sen Ausführung, das «Werk», bezeichnen; da Botschaften typi-
scherweise durch Briefe übermittelt wurden, kam noch die Kon-
notation des «Schreibens» hinzu. Ähnliche Zusammenhänge
finden wir bei den Omina: Das ominöse Zeichen und seine
früher oder später eintretende Verwirklichung waren zwei
Seiten einer Medaille. Dieses Denken manifestiert sich auch
sprachlich, indem z. B. «Wort» und «Sache» oder «Schuld» und
«Strafe» jeweils mit demselben Wort bezeichnet werden konn-
ten. Eine Konsequenz dieses Denkens sind Omendeutungen, die
auf Gleichklang beruhen: «Wenn die Gallenblase mit viel Fett
bedeckt ist (kussât), wird es Kälte (kūṣum) geben» lautet z. B.
ein altbab. Leberomen. Omina konnten sich dem Menschen un-
willkürlich und ohne sein Zutun zeigen (omina oblativa) oder
sie waren die Antwort auf eine Anfrage (omina impetrativa).
Vorzeichen der ersteren Art konnten immer und überall auftre-
ten: am eigenen Körper, in der engeren und weiteren Umwelt
oder am Sternenhimmel, wobei jeweils auch der Zeitpunkt be-
deutsam war. Um eine Omenanfrage zu stellen, gab es verschie-
dene Methoden. Die am besten dokumentierte ist die Opfer-
schau. Dabei inspizierte der «Opferschauer» (akk. bārû) die
Eingeweide eines geopferten Schafes, dem die Anfrage vor der
Opferung ins Ohr geflüstert oder auf sonst eine Weise «mitge-
teilt» worden war. Die Anfrage war situationsbezogen, es ging
nicht um die Erforschung der Zukunft im allgemeinen, sondern
um göttliche Fingerzeige für konkrete Entscheidungen. Typische
Anwendungsbereiche waren etwa die Bestätigung einer Kandi-
datin für das Amt der Hohen Priesterin oder strategische Ent-
scheidungen auf Kriegszügen.
Die Opferschau wurde als Gerichtsprozeß des Opferman-
danten inszeniert, der bei Sonnenaufgang vor dem Sonnengott
als oberstem Richter stattfand. Das Ergebnis konnte dement-
sprechend nur positiv oder negativ ausfallen. Wichtigstes Organ
der zu inspizierenden Eingeweide war die Leber, die «Schreibta-
Religiöses Leben 101
fel der Götter». Die Opferschau war kostspielig und wurde da-
her hauptsächlich vom König und anderen hochgestellten Per-
sonen angestellt. Neben ihr gab es billigere Methoden, um den
göttlichen Willen zu erforschen, wie z. B. das Gießen von Öl auf
Wasser, Räucher- und Schüttopfer, bei denen das Verhalten des
Rauches bzw. des gestreuten Mehls beobachtet wurde, Los-
verfahren u. a. In der Regel begnügte man sich nicht mit einer
einzigen Anfrage, sondern suchte das Ergebnis durch weitere
Anfragen zu bestätigen und zu präzisieren. Die Verknüpfung
zwischen einem durch Omen angezeigten Unheil und der be-
troffenen Person versuchte man auf magische Weise zu «lösen».
Das Omen wurde wie eine substantielle Verunreinigung aufge-
faßt: Der Beschwörer reinigte den betroffenen Menschen und
seine Umgebung und übertrug das Unheil auf ein Substitut, an-
schließend fand (wie bei der Opferschau) ein morgendlicher
Prozeß vor dem Sonnengott als Richter statt, bei dem das Sub-
stitut «verurteilt» und anschließend entsorgt wurde (z. B. im
Fluß). Im Extremfall mußte ein anderer Mensch als Substi-
tut einspringen: War der König von einem gefährlichen Omen,
etwa einer Sonnenfinsternis, betroffen, wurde das «Ersatzkö-
nigsritual» durchgeführt: An einem rituell eingesetzten «Ersatz-
könig» verwirklichte sich das schlimme Omen, während der
König selbst in die Rolle eines «Bauern» schlüpfte und sich of-
fiziell so titulieren ließ. Der «Ersatzkönig» überlebte, wie man
sich denken kann, diese Prozedur normalerweise nicht. Aller-
dings kennt die Überlieferung auch eine legendäre Ausnahme:
König Enli-bāni von Isin soll um 1860 als «Ersatzkönig» auf
den Thron gekommen sein, regierte dann aber 45 Jahre lang.
Während die Divination in Mesopotamien primär zukunftsge-
wandt war, betrachtete man bei den Hethitern ungünstige Zei-
chen als Ausdruck göttlichen Zorns und suchte mittels der Di-
vination dessen in der Vergangenheit liegende Ursachen zu
erforschen. Neben dem Sonnengott Šamaš waren für die Opfer-
schau noch andere Gottheiten zuständig, in erster Linie der
Wettergott Adad und die in Syrien beheimatete Göttin Išḫara.
Šamaš und Adad sollen einen vorsintflutlichen König von Sip-
par namens Enmeduranki die Ölwahrsagung und die Leber-
102 Religiöses Leben
schau gelehrt haben, der seine Kunst dann an die Bürger von
Nippur, Sippar und Babylon weitergegeben habe. Die altorien-
talische Leberschau gelangte auf noch nicht ganz geklärten We-
gen nach Italien, wo sie als etruskische Spezialität galt und eine
wichtige Rolle im Staatskult spielte.
Prophetie. Der Divination verwandt ist die Prophetie, insofern
beide mit göttlichen Botschaften zu tun haben. Prophetien sind
im Gegensatz zu Omina verbale Botschaften. Anders als die no-
torisch verrätselten und mehrdeutigen griech. Orakelsprüche
aus Delphi sind die altorientalischen Prophetien in der Regel
klar und deutlich formuliert. Hatte die Prophetie bis zur Entzif-
ferung keilschriftlicher Quellen als Spezifikum der Religionsge-
schichte Israels gegolten, so wissen wir heute, daß es sich um
eine im Alten Orient weit verbreitete Erscheinung handelte. Ein
alttestamentlicher Hinweis auf Prophetie im Umfeld Israels, die
Geschichte von Bileam (Numeri 22,2–24,25), erhielt historische
Substanz durch die Entdeckung von Originalsprüchen dieses
Propheten in Dēr ʿAlla (Jordanien); sie waren dort in einem ara-
mäischen Dialekt und alphabetischer Schrift an die Wand eines
Tempelraums aus dem 8. Jh. geschrieben. In Mesopotamien ist
die Prophetie hauptsächlich durch Briefe aus dem altbab. Mari
(1. Hälfte 18. Jh.) und aus der neuassyrischen Hauptstadt Nini-
ve (8. / 7. Jh.) dokumentiert. Für «Prophet(in)» sind verschiedene
Bezeichnungen überliefert, die z. T. regional unterschiedlichen
Sprachgebrauch, z. T. aber auch verschiedene Typen reflektie-
ren. Allen Prophet(inn)en gemeinsam ist, daß sie göttliche Bot-
schaften empfingen, die zumindest in den überlieferten Fällen
den König betrafen: gegen den Feind gerichtete Ermutigungen
und Ratschläge, aber auch den Kult betreffende Forderungen.
Die üblichsten Termini in Mari sind āpil(t)u «Antworter(in)»
und muḫḫû, fem. muḫḫūtu, das wie griech. mántis von einem
Verbum der Bedeutung «außer sich sein, rasen» abgeleitet ist
und gewöhnlich mit «Ekstatiker(in)» wiedergegeben wird. Be-
legt ist in Mari aber auch nabû, das offenbar dem amurritischen
Wortschatz angehörte und als Vorläufer von hebr. nabīʾ und
arab. nabīy «Prophet» anzusehen ist; die Grundbedeutung war
Religiöses Leben 103
wohl «(von der Gottheit) Gerufener». Im Neuassyrischen wa-
ren maḫḫû / maḫḫūtu (die assyrische Variante von altbab. muḫḫû /
muḫḫūtu) und wesentlich häufiger raggim(t)u «Rufer(in)» in
Gebrauch. Wie ihr Name sagt, empfingen wenigstens die «Ek-
statiker(innen)» ihre Botschaften in einer Art Trance. Wäh-
rend sich die altbabylonischen Belege auf männliche und
weibliche Propheten sowie verschiedene Gottheiten verteilen,
überwiegen in den neuassyrischen Quellen Prophetinnen, die im
Namen der Ištar von Arbela sprachen und z. T. deren Tempel
angehörten.
Totenpflege und Ahnenkult. Neben Magie und Divination ist
als wichtige Konstante altorientalischer Religionspraxis die
Totenpflege anzusprechen. Die altorientalischen Bestattungs-
bräuche waren nach Zeit und Region unterschiedlich. Von sehr
wenigen Ausnahmen abgesehen gilt, daß die Toten unverbrannt
in der Erde bestattet wurden, entweder im Bereich des Hauses
bzw. Palastes oder auf in Siedlungsnähe gelegenen Friedhöfen.
Die Beigaben, die man dem Verstorbenen mit ins Grab legte,
waren teils für seinen persönlichen Bedarf, teils als Geschenke
an die Unterweltsgottheiten gedacht. Eine für den Alten Orient
sehr ungewöhnliche Bestattung ereignete sich um 2500 im «Kö-
nigsfriedhof» von Ur: Einer hochgestellten Person, dessen reich
ausgestattetes Grab schon im Altertum zerstört wurde, folgten
6 Soldaten und 68 kostbar gekleidete und geschmückte Frauen
und Mädchen in den Tod, darunter auch Musikerinnen, deren
prächtige Leiern zu den bekanntesten archäologischen Fundstü-
cken des Alten Mesopotamien zählen. Leider sind keine schrift-
lichen Quellen erhalten, die über die näheren Umstände dieser
Bestattung Aufschluß geben könnten. Nach altorientalischen
Vorstellungen wohnten die Verstorbenen als Totengeister in der
Unterwelt und mußten von den Nachkommen mit Speise- und
Trankopfern versorgt werden. Älteren mesopotamischen Quel-
len zufolge fanden die Totenopfer bei Neumond und bei Voll-
mond statt, spätere Quellen erwähnen teils nur die Opfer bei
Neumond, teils tägliche Opfer. Von den regelmäßigen Totenop-
fern unterschieden sich die größeren Totenfeiern, die zu unter-
104 Religiöses Leben
schiedlichen Zeiten – in Babylonien z. B. im trockenen und da-
her «toten» Sommermonat – stattfanden. Die Opfer galten in
erster Linie dem verstorbenen Vater, das Totenopfer war Pflicht
des Erbsohnes. An besonderen Feiertagen wurden aber auch die
älteren Vorfahren mit Totenmählern geehrt. Sie wurden bei die-
ser Gelegenheit namentlich und in genealogischer Reihenfolge
bis hinauf zum Stammvater des Geschlechts herbeigerufen.
Überliefert ist dies allerdings nur für den königlichen Ahnen-
kult. Darin zu verortende Ahnenlisten sind uns in schriftlicher
Form aus Ebla, Babylon, Assur und Ugarit erhalten, sie stellen
wertvolle historische Quellen dar und werden dementsprechend
meist als «Königslisten» bezeichnet. An diesem Ritus wird
sichtbar, warum der Name im Alten Orient von großer Bedeu-
tung war und das Wort «Name» als Synonym für «Nachkom-
menschaft» und «Nachruhm» verwendet werden konnte.
Tempel und Staat. Für die frühen sum. Stadtstaaten wird
vielfach angenommen, daß ein «Priesterfürst» die oberste welt-
liche Macht und zugleich das höchste Priesteramt innehatte.
Diese Annahme stützt sich auf zeitgenössische Darstellungen,
die eine charakteristische Gestalt, den «Mann im Netzrock»,
bei der Ausübung kriegerischer und kultischer Funktionen zei-
gen. Ihn bzw. sein Amt hat man mit dem sum. Wort en verbun-
den, das (allerdings erst Jahrhunderte später) in der Bedeutung
«Herr(scher)» und «Hoher Priester» gebraucht wird. In den
frühen Wirtschaftstexten ist EN statistisch das häufigste Zei-
chen, es fehlt jedoch auffälligerweise in der zeitgenössischen le-
xikalischen Liste von Funktionsbezeichnungen. Die Hypothese
des frühen «Priesterfürsten» läßt sich aus diesem Befund nicht
zwingend ableiten. Unsicher ist ferner, ob in den ikonogra-
phischen Zeugnissen tatsächlich immer ein und dieselbe Person
gemeint ist, zudem gibt es auch frühe Bildzeugnisse hochgestell-
ter Frauen, und schließlich ist der Titel en nicht geschlechtsspe-
zifisch: Er bezeichnete auch die «Hohe Priesterin», mit der man
die erwähnten Frauengestalten denn auch in Verbindung ge-
bracht hat. In historischer Zeit, d. h. nach Einsetzen aussage-
kräftiger Schriftzeugnisse, waren Tempel nicht bloß Kultstätten,
Religiöses Leben 105
sondern auch göttliche Haushalte, zu denen Ländereien, Vieh
und Personal aller möglichen Berufszweige gehörten. Es ist
denkbar, daß in früher Zeit Stadtstaat und göttlicher Haushalt
identisch waren. Neben dem Tempel muß sich aber schon bald
der Palast als parallele Institution des weltlichen Herrschers he-
rausgebildet haben, und zwischen beiden auch ein privatwirt-
schaftlicher Sektor. Wir können diese Entwicklungen noch nicht
im Detail rekonstruieren, zudem weisen bereits die frühen
Schriftzeugnisse auf regionale Unterschiede hin, so daß sich die
sum. Verhältnisse nicht ohne weiteres auf den akk. Norden
übertragen lassen. Festzuhalten ist jedenfalls, daß der König
noch in historischer Zeit auch oberster Kultherr war und als
solcher an den höchsten religiösen Festen teilnahm.
Tempel als Wirtschaftsinstitution. Im Sumerischen und Ak-
kadischen ist das allgemeine Wort für «Tempel» mit dem Wort
für «Haus» identisch (sum. e, akk. bītu). Theologisch gesehen
war der Tempel Haus und Haushalt einer Gottheit samt Fami-
lie, Hofstaat, Dienerschaft, Handwerkern, Bauern und Hirten.
Praktisch bedeutete dies, wie schon erwähnt, daß Tempel nicht
bloß Kultstätten waren, sondern auch Wirtschaftsunternehmen,
die Ackerbau, Viehzucht, Fischerei und Handel treiben konn-
ten, und in deren Mittelpunkt das Opferwesen stand. Es han-
delte sich auf profaner Ebene um einen Verarbeitungs- und Re-
distributionsprozeß von Lebensmitteln, nämlich der aus eigener
Produktion stammenden oder von Privatpersonen und vor
allem vom Staat gelieferten «Opfermaterie»: Tiere (vorwiegend
Schafe und Ziegen, seltener Rinder, Gazellen, Fische und Vö-
gel), Getreide, Obst, Gemüse, Öl, Milch und andere Getränke
(soweit nicht erst in Tempelbetrieben hergestellt), Salz. Daraus
wurden Mahlzeiten für die Gottheiten zubereitet, aber auch das
Personal verköstigt: Die rituell den Gottheiten servierten Spei-
sen und Getränke wurden abgetragen und konnten dann von
Menschen verzehrt werden; sie landeten auf der Tafel hochran-
giger Priester oder des Königs. Inhaber von Tempelämtern
konnten ihre Ämter mit den auf diese Weise abgesicherten regel-
mäßigen Einkommen ganz, teilweise oder für einen gewissen
106 Religiöses Leben
Zeitraum an Dritte verkaufen, dieser «Pfründenhandel» ist seit
altbab. Zeit durch zahlreiche Urkunden bezeugt.
Tempel als Kultbau. Über einen langen Zeitraum hinweg läßt
sich verfolgen, wie sich in vorgeschichtlichen Siedlungen durch
Lage, Größe und Architektur herausgehobene Bauformen ent-
wickeln. Sie sind aber nicht ohne Weiteres als «Tempel» im
Sinne reiner Kultbauten anzusprechen, denn es ist damit zu
rechnen, daß soziale und kultische Funktionen nicht scharf ge-
trennt waren. Ausgrabungen mesopotamischer Siedlungen ha-
ben gezeigt, daß die Tempel oft auf eine sehr alte Bautradition
zurückblicken: Die Gebäude wurden renoviert, umgestaltet
oder an derselben Stelle und mit ähnlichem Grundriß neu er-
richtet. Für den Tempel des Gottes Enki / Ea in der südsum.
Stadt Eridu läßt sich eine Sequenz von 16 übereinanderlie-
genden Bauten bis in das 6. Jt. zurückverfolgen; von Schicht XI
an stehen die Bauwerke auf einer Terrasse, worin man den Ent-
wicklungsbeginn der später für Mesopotamien typischen Zik-
kurrat (Stufentempel) sehen kann. Das älteste erhaltene Beispiel
der ausgereiften Form ist die von Ur-Nammu um 2100 erbaute
Zikkurrat von Ur. Noch besser erhalten ist die Zikkurrat, die
der elamische König Untaš-Napiriša nach mesopotamischen
Vorbildern in dem von ihm neu gegründeten Kultzentrum Dūr-
Untaš-Napiriša (Chogha Zambil) errichten ließ (um 1300).
Nicht erhalten ist dagegen das berühmteste Baudenkmal dieser
Art, Marduks Zikkurrat E-temen-anki in Babylon. Auf der
obersten Plattform befand sich nach Herodot (I 180–2) ein mit
Bett und Tisch ausgestatteter Schrein. Man hat daraus geschlos-
sen, daß die Zikkurrat der Ort der «Heiligen Hochzeit» war –
ein problematischer Schluß sowohl, was die Zuverlässigkeit
von Herodots Angabe betrifft, als auch bezüglich des Ritus der
«Heiligen Hochzeit» (s. S. 114). Zikkurrats waren Bestandteil
größerer Kultanlagen, zu denen ebenerdige Tempel gehörten.
Über ihre kultische Funktion geben die keilschriftlichen Quellen
keine klare Auskunft; angesichts der in Mesopotamien hoch
entwickelten Astronomie, die ja im Zeichen der Vorzeichenkun-
de stand, liegt es nahe, daß sie (auch) für Himmelbeobachtungen
Religiöses Leben 107
genutzt wurden. Die Architektur der Tempel war nach Zeit
und Ort unterschiedlich. Gemeinsames Merkmal ist ein größe-
rer, zentraler Raum, der von kleineren umschlossen war. Die
Langräume der älteren sum. Tempel waren durch mehrere seit-
liche Eingänge betretbar. Diese wurden im Laufe des 3. Jt.s auf
einen reduziert, welcher einer Schmalseite benachbart war
(«Knickachstempel»). An der gegenüberliegenden Schmalseite
befand sich nun ein Postament, das in den älteren Tempeln noch
fehlte; vermutlich stand darauf ein Kultbild oder ein Emblem
der Hauptgottheit. Später wurde der Eingang an die hintere,
dem Postament gegenüberliegende Schmalseite verlegt, der ein
Vorraum vorgelagert war. In Babylonien waren beides Breiträu-
me («Breitraumtempel»), in Assyrien blieb der zentrale Lan-
graum erhalten («Langraumtempel»). Der Tempel besaß keine
Fenster und war daher, wenn er nicht durch Lampen oder
Fackeln erleuchtet wurde, dunkel. Die Mauern der aus Lehm-
ziegeln errichteten Kultbauten waren durch Nischen gegliedert
und hoben sich dadurch von profanen Bauten ab. In der von
einer Mauer umschlossenen Anlage gab es einen Vorhof und
weitere Gebäude: Wohnungen für Priester und Personal, Maga-
zine aber auch kleinere Heiligtümer.
Die Repräsentation der Gottheiten. In der Regel war wenig-
stens die Hauptgottheit in der Tempelzella durch ein anthropo-
morphes Kultbild repräsentiert. Die Frage, seit wann dies der
Fall ist, bedarf allerdings noch genauerer Klärung. In Südmeso-
potamien lassen sich Gottheiten auf ikonographischen Dar-
stellungen seit etwa 2700 anhand der damals aufkommenden
charakteristischen «Hörnerkrone» identifizieren. Bei manchen
Abbildungen und Plastiken, besonders aus früheren Perioden,
ist unsicher, ob Menschen oder Gottheiten gemeint sind. Das
Kultbild stellte die Gottheit gewöhnlich auf einem Thron sit-
zend dar. Es bestand aus einem mit (Edel-)Metall überzogenen
Holzkern und war mit Paraphernalien, d. h. Kleidung, Schmuck,
Waffen oder anderen Attributen versehen. Älter als die anthro-
pomorphen Götterbilder sind Embleme als Zeichen oder Träger
göttlicher Anwesenheit. Sie blieben in historischer Zeit neben
108 Religiöses Leben
oder anstelle von anthropomorphen Kultbildern in Gebrauch,
letzteres besonders in Assyrien. Ferner gab es «abstrakte» Kult-
objekte in Gestalt mehr oder weniger naturbelassener Stein-
male, in denen man sich die Gottheit präsent dachte. Diese so-
genannten «Baitylien» (griech. baitylia < phön. bayt il «Haus
des Gottes») waren hauptsächlich in Syrien, der Levante und
Kleinasien verbreitet. In ihrem Verbreitungsgebiet entwickelten
sich im 1. Jt. anikonische (nicht-bildhafte) Darstellungsformen,
wobei die göttliche Präsenz beispielsweise durch einen leeren
Thron oder ein leeres Kultpostament angezeigt wurde. In diese
Entwicklungslinie gehört wohl das alttestamentliche «Bilder-
verbot». Eine Tendenz, anthropomorphe Darstellungen von
Gottheiten zu vermeiden, gab es in Mesopotamien bereits seit
der 2. Hälfte des 2. Jt. s. Sie betraf allerdings nicht die Götter-
statuen in den Tempeln, die dadurch eher eine Aufwertung er-
fuhren. Gegen sie richtet sich indes die alttestamentliche Pole-
mik, die ausführlichste Stelle ist (Deutero-)Jesaia 44,9–20. Dort
heißt es u. a. (14–17):
Man fällt eine Zeder, wählt eine Eiche oder sonst einen mächtigen Baum,
den man stärker werden ließ als die übrigen Bäume im Wald. Oder man
pflanzt einen Lorbeerbaum, den der Regen groß werden läßt. Das Holz
nehmen die Menschen zum Heizen, man macht ein Feuer und wärmt sich
daran. Auch schürt man das Feuer und bäckt damit Brot. Oder man
schnitzt daraus einen Gott und wirft sich nieder vor ihm; man macht ein
Götterbild und fällt vor ihm auf die Knie. Den einen Teil des Holzes wirft
man ins Feuer und röstet damit Fleisch in der Glut und sättigt sich am
Braten. Oder man wärmt sich am Feuer und sagt: Oh, wie ist mir warm!
Ich spüre die Glut. Aus dem Rest des Holzes aber macht man sich einen
Gott, ein Götterbild, vor das man sich hinkniet, zu dem man betet und
sagt: Rette mich, du bist doch mein Gott!
Die Unterstellung, daß die (mesopotamischen) «Götzendiener»
das aus schlichter Materie bestehende Kultbild mit der Gottheit
selbst verwechselt hätten, ist allerdings eine bewußte Verkür-
zung. Daß ihnen der Unterschied bewußt gewesen sein muß,
geht schon daraus hervor, daß viele Gottheiten Kultbilder an
verschiedenen Orten besaßen. Darüber hinaus sind uns Rituale
bekannt («Mundwaschung» und «Mundöffung»), die bei der
Herstellung und Weihe eines Kultbildes durchgeführt wurden,
Religiöses Leben 109
um es für die göttliche Präsenz erst tauglich zu machen, was
nicht ohne Zustimmung der Gottheit gelingen konnte.
Auch die auf Eroberungszügen erbeuteten Kultbilder fremder
Gottheiten wurden im Tempel aufgestellt und beopfert.
Kultpersonal und Tempeldienst. Das höchste am Tempel an-
gesiedelte Priesteramt, das des en-Priesters bzw. der en-Prieste-
rin, wurde schon erwähnt. Weiblichen Gottheiten war ein en-
Priester, männlichen eine en-Priesterin zugeordnet; sie galten als
Gemahl(in) ihrer Gottheit. Etwa synonym mit en-Priesterin war
der Titel ereš-diĝir «Gottherrin». Zu Beginn des 2. Jt.s kam das
en-Amt außer Gebrauch. Die Leitung des gesamten Tempelbe-
triebes oblag seitdem dem saĝa (akk. šangû), der in älterer Zeit
speziell für die Verwaltung zuständig gewesen zu sein scheint
(mit dem Zeichen, mit dem sein Titel geschrieben wird, schrieb
man auch Wörter für «Schreiber» und «rechnen»). Darüber hi-
naus kennen wir aus praktischen und lexikalischen Texten eine
ganze Reihe von Termini für Personen, die mit Tempel, Kult
und religiösen Riten zu tun haben. Ihre genauen Funktionen
sind oft nur ungefähr zu bestimmen, wobei lokale und diachro-
ne Unterschiede zu berücksichtigen sind. Es seien daher nur ei-
nige wichtige Funktionen und Typen erwähnt, ohne genauer auf
die jeweiligen Bezeichnungen einzugehen. Priester(innen) im en-
geren Sinne waren für die Opfer- und sonstigen Rituale zustän-
dig, bei denen sie in «direktem» Kontakt mit der Gottheit stan-
den. Sie mußten frei von körperlichen Makeln sein und wurden
im Rahmen einer «Priesterweihe», zu der besondere Reini-
gungsriten gehörten, in ihr Amt eingeführt. En-Priesterinnen,
oft Töchter aus königlichem Hause, wurden von den Göttern
durch ein Wahrsageverfahren (wahrscheinlich Opferschau) be-
stimmt oder wohl besser: bestätigt, ein wichtiges Ereignis, nach
dem häufig das betreffende Jahr benannt wurde. Eine für die
altbab. Zeit typische Klasse von Priesterinnen waren die nadītu.
Die oft aus vornehmen Familien gebürtigen Frauen wurden
schon im Kindesalter geweiht und lebten später als Gottes-
gemahlinnen in einer Art Frauenkloster (akk. gagû); das am
besten dokumentierte (und wohl auch eines der bedeutendsten)
110 Religiöses Leben
war das dem Šamaš-Tempel von Sippar angegliederte. Eine
nadītu mußte kinderlos bleiben; falls sie heiratete (was nur den
nadītu des Gottes Marduk gestattet war), mußte der Mann zur
Erzeugung von Nachwuchs eine zweite Ehe eingehen. Im Dienst
einiger weiblicher Gottheiten werden auch Prostituierte er-
wähnt; die Frage, ob es an den Tempeln dieser Göttinnen insti-
tutionalisierte Kultprostitution gab, wird jedoch kontrovers
diskutiert. Zu den Gottesdiensten gehörten Musik und Gesang,
die von Musiker(inne)n und den Spezialisten für sum. Kultlieder
(sum. gala, akk. kalû) aufgeführt wurden. Weiteres Tempelper-
sonal war für die Reinigung, die Zubereitung der Speisen und
Getränke, die Verwaltung und für handwerkliche Aufgaben zu-
ständig. Wohl nur bei größeren, öffentlichen Festen kamen
Ringkämpfer und Läufer, Tänzer, Akrobaten und Clowns (letz-
tere insbesondere im Dienst der Inanna / Ištar) zum Einsatz, die
wohl nicht zum festen Tempelpersonal gehörten. Nicht am
Tempel installiert, aber dennoch Träger sehr wichtiger religiöser
Funktionen waren die Opferschauer (akk. bārû) und andere
Wahrsager sowie die Beschwörer (akk. (w)āšipu). Der Tempel-
komplex war nur einem bestimmten Kreis dort beschäftigter
Personen ständig zugänglich, die ērib bīti «Hausbetreter» ge-
nannt wurden. Für alle anderen wurde allenfalls der Vorhof
an Feiertagen geöffnet. Gelegenheit, die Gottheiten in Gestalt
ihrer Kultbilder außerhalb des Tempels zu sehen, bot sich dem
Volk bei Prozessionen und Bootsfahrten, die fester Bestandteil
jährlich wiederkehrender Feste waren, zuweilen aber wohl
auch bei besonderen Anlässen wie der Amtseinführung Hoher
Priester(innen) oder Siegesfeiern.
Der alltägliche Tempeldienst begann morgens mit einer «We-
cken des Hauses» genannten Zeremonie und dem Öffnen der
Türen, die abends vom Türhüter des Tempels verschlossen wur-
den. Eine Ahnung von den morgendlichen Zeremonien ver-
mittelt eine in Susa gefundene Bronzeplastik, die laut Inschrift
Riten bei Sonnenaufgang darstellt (Abb. 4). Anschließend wur-
den die in Gestalt ihrer Kultbilder anwesenden Gottheiten zere-
moniell bedient. In erster Linie beinhaltete dies die Zubereitung
und das Anrichten ihrer Mahlzeiten, die sie auf virtuelle Weise
Religiöses Leben 111
einnahmen, bevor sie dann real von Menschen verzehrt wur-
den. Es ist anzunehmen, daß die Gottheiten nicht im Beisein
von Menschen speisten. Dies dürfte der reale Hintergrund einer
Episode aus dem (allerdings sehr späten) alttestamentlichen
Buch Daniel sein, in der wie oft im Alten Testament der heid-
nische «Götzendienst» bloßgestellt werden soll. Daniel weigert
sich, den babylonischen Gott Bēl (d. h. Marduk) anzubeten, der
ja nur ein menschengemachtes Standbild sei. Der König ver-
weist auf die gewaltigen Mahlzeiten, die Bēl täglich einnehme,
was Daniel als Täuschung zurückweist. Der erzürnte König ver-
anstaltet nun eine Probe. Dem Bēl werden reichlich Speisen und
Getränke aufgetragen, dann wird der Raum versiegelt. «In der
Nacht aber kamen wie gewöhnlich die Priester mit ihren Frauen
und Kindern, sie aßen alles auf und tranken den Wein.» Zum
rituellen Dienst an den Gottheiten gehörte außerdem die Pflege
ihrer Wohnstätten und Kultbilder. Für einen angenehmen Duft
sorgte schon die Architektur, denn für Tempel verwendete man
gerne Zedernholz, das über lange Zeit hinweg einen dezenten
Wohlgeruch verströmt. Bei Opfern und anderen Riten wurde
Räucherwerk verbrannt, «das die Götter einlädt», wie es in
einem Opferschaugebet heißt. Das oft in Ritualbeschreibungen
erwähnte Sprengen von Wasser hatte nicht nur rituelle Reini-
gungsfunktion, sondern kühlte und säuberte auch die Luft. Die
Kultbilder wurden regelmäßig gebadet und frisch gekleidet.
Kleider, Schmuck, Insignien und Embleme der Gottheiten muß-
ten gepflegt und erneuert werden.
Kultkalender und Feste. Der altorientalische Kalender basiert
im wesentlichen auf dem Mondzyklus. Die Diskrepanz zwi-
schen dem in der Regel 354 Tage zählenden Mondjahr und dem
Sonnenjahr von 365 Tagen glich man durch Schaltmonate aus,
die in unregelmäßigen Abständen (7mal in einem Zeitraum von
19 Jahren) eingeschoben wurden. Damit war gewährleistet, daß
der Kultkalender und die Jahreszeiten, mit denen viele Feste zu-
sammenhingen, nicht allzuweit auseinanderdrifteten. Der Mo-
nat begann bei Neumond. Der Kalendertag begann am Abend,
wohl weil man um diese Tageszeit das den Monatsbeginn defi-
112 Religiöses Leben
nierende Wiedersichtbarwerden des Mondes (Neulicht) beob-
achtete. Die ersten drei Mondphasen – Neumond, zunehmender
Halbmond und Vollmond – markierten Festtage, die in der Re-
gel arbeitsfrei waren und somit etwa unseren Sonntagen ent-
sprechen. Der jüdische Sabbat, dessen Name in dt. Samstag
steckt, ist etymologisch wohl mit šapattu, der akkadischen Be-
zeichnung des Vollmondtages, identisch. Die monatlichen Fest-
tage verschoben sich im 1. Jt. aus unklaren Gründen auf den 4.,
8. und 17. Tag des Monats. Der 7., 14., 19., 21. und 28. Tag des
Monats galten als Unglückstage, besonders gefürchtet war der
7. Tag des 7. Monats.
Den Hintergrund für die großen periodischen Feste bildete
der vom Sonnenjahr bestimmte Zyklus der Jahreszeiten und
der damit zusammenhängenden landwirtschaftlichen Tätig-
keiten. Die beiden Angelpunkte des Sonnenjahres waren das
Herbst- und das Frühjahrsäquinoktium (Tag- und Nachtglei-
che), zu beiden Terminen fanden Neujahrsriten statt, als offi-
zieller Jahresbeginn setzte sich der Frühjahrstermin durch.
Die einzelnen Tage waren jeweils verschiedenen Gottheiten ge-
weiht, denen an diesen Tagen besondere Opfer zuteil wur-
den. Erst seit ca. 2600 finden wir in den Texten Monatsna-
men; die ältesten, in den Wirtschaftstexten aus Abū Ṣalābīḫ
überlieferten, sind sem. Ursprungs. Seit ca. 2400 wurden Ur-
kunden und die meisten Wirtschaftstexte in Mesopotamien und
den angrenzenden Gebieten nach Monat, Tag und Jahr da-
tiert. Diese Quellen, aber auch lexikalische Texte, überlie-
fern für das ausgehende 3. und die erste Hälfte des 2. Jt.s eine
größere Anzahl unterschiedlicher Lokalkalender. Die südme-
sopotamischen Lokalkalender der ehemaligen sum. Stadtstaa-
ten wurden um 2000 unter Ibbi-Sîn, dem ersten König der
Dynastie von Isin, auf der Grundlage des Kalenders von Nip-
pur vereinheitlicht. Um 1730, unter König Samsu-iluna von
Babylon, wurde der babylonische Standardkalender eingeführt.
In Schriftdokumenten benutzte man zwar weiterhin die sum.
Namen, sie fungierten aber jetzt nur mehr als Logogramme
(Wortzeichen) für die akk. Namen des Standardkalenders. Die-
se wurden später ins Aramäische und weiterhin ins Hebräische,
Religiöses Leben 113
Arabische und Türkische entlehnt und leben auf diese Weise
im Nahen Osten z. T. noch heute fort (soweit sie nicht durch
europäische ersetzt sind). Die Namen sind nur teilweise etymo-
logisch durchsichtig, soweit erkenntlich, beziehen sie sich auf
spezifische Tätigkeiten, Riten und Feste oder damit assoziierte
Gottheiten.
Der babylonische Standardkalender und sein Nachleben
Sumerisch Akkadisch* Hebräisch Arabisch Türkisch
1 itu bára-zà-gar(-ra) nīsan(n)u nîsān nīsān nisan
(< sum. ne-saĝ?)
2 itu gu4-si-su / sá ajjaru ʔiyyār ʔayyār (mayıs)
3 itu sig4-a / ga sīman(n)u sîwān (ḥazīrān) (haziran)
4 itu šu-numun(-na / a) *tammūzu, tammûz tammūz temmuz
du’ūzu, dûzu
(< sum. dumu-zi)
5 itu NE.NE-ĝar(-ra) abu ʔāb ʔāb (ağustos)
6 itu kin-dInanna elūlu, elūnu, ulūlu ʔälûl ʔaylūl eylül
7 itu du6-kù(-ga) tašrītu tišrî tišrīn I (ekim)
8 itu apin-du8-a (w)araḫsamnu; marḥäšwān (tišrīn II) (kasım)
ka / inūnu
9 itu gan-gan-è / na kis(si)līmu kislew kanūn I (aralık)
(vgl. 8)
10 itu ab(-ba)-è ṭebētu ṭebet (kanūn II) (ocak)
11 itu ZÍZ.A(.AN) šabāṭu šəbāṭ šubāṭ ṣubat
12 itu še-KIN-ku5 ad(d)aru ʔadār ʔāḏār (mart)
Eine wichtige Rolle vor allem bei den Frühjahrs- und Herbst-
festen spielte ein außerhalb der Stadt gelegenes Kultgebäude
namens akiti-Haus, die betreffenden Feste wurden als akiti-Fe-
ste bezeichnet. Das akiti-Haus war Ziel- und Wendepunkt von
Prozessionen, die vom städtischen Hauptheiligtum ausgingen
und Kultbilder mit sich führten. Die Götter verließen auf diese
Weise ihre Wohnungen, um die Stadt und deren Umland zu be-
suchen; in der Regel verweilten sie mehrere Tage im akiti-Haus,
bevor sie heimkehrten. Einige Indizien weisen darauf hin, daß
der Ursprung dieser bereits um 2600 in den Wirtschaftstexten
aus Fāra bezeugten, später in ganz Mesopotamien verbreiteten
Institution in Ur zu suchen ist.
Vergleichbare Reiseriten gab es auch zwischen einzelnen
Städten. In Sumer war gewöhnlich Nippur mit dem Kultzen-
114 Religiöses Leben
trum des obersten Gottes Enlil das Ziel. Eine solche «Götterrei-
se» steht im Hintergrund des Mythos von «Nannas Fahrt nach
Nippur»: Der Mondgott Nanna unternimmt von seiner Stadt
Ur aus eine mehrtägigen Bootsfahrt nach Nippur zu seinem Va-
ter Enlil, um ihm Gaben zu bringen und seinen Segen einzuho-
len. Vermutlich wurde das aufwendige Ritual in einer be-
stimmten historischen Situation durchgeführt. Jährlich dürften
hingegen die in der Ur III-Zeit bezeugten Besuche der Heilgöt-
tinnen von Isin und Umma bei ihrer «Kollegin» in Nippur statt-
gefunden haben; sie wurden möglicherweise schon damals als
Erscheinungsformen derselben Gottheit aufgefaßt.
Unter der III. Dynastie von Ur wurden in Ur – wie dies später
z. B. auch für Babylon bezeugt ist – zwei akiti-Feste begangen:
das «akiti-Fest der Getreideernte» im Frühjahr (1. Monat) und
das «akiti-Fest der Aussaat» im Herbst (7. Monat). Letzteres
war hinsichtlich Aufwand und Dauer (11 oder 12 Tage) das
weitaus bedeutendere. Bemerkenswerterweise war also der Be-
ginn des «bürgerlichen» Jahres nicht mit dem bedeutendsten
religiösen Fest assoziiert. Der akk. Name des 7. Monats im spä-
teren babylonischen Standardkalender, Tašrītu, bedeutet «An-
fang». Er dürfte sich zwar, wie andere Monatsnamen, primär
auf ein Fest oder einen Ritus beziehen, könnte darüber hinaus
aber auch auf eine schöpfungmythologisch fundierte Rolle des
Monats im Kultjahr verweisen. Der aus dem Nippur-Kalender
stammende sum. Name dieses Monats, Du-ku(g) «Heiliger Hü-
gel», bezeichnete ein Heiligtum in Nippur, das einen in der
Schöpfungsmythologie verankerten «Urhügel» repräsentierte;
gegen Ende des Monats fanden dort Klageriten für die urwelt-
lichen Ahnen des Schöpfergottes Enlil statt. Auch das «große»
babylonische Neujahrsfest im Frühling war schöpfungsmytho-
logisch fundiert: Das bei dieser Gelegenheit rezitierte «babylo-
nischen Schöpfungsepos» Enūma eliš berichtet von den Schöp-
fertaten des Stadt- und Staatsgottes Marduk.
Mit den altorientalischen Neujahrsfesten wird häufig ein als
«Heilige Hochzeit» bezeichnetes Ritual assoziiert. Gemeint ist
damit einerseits das kultische Beilager des Königs in der Rolle
des Gottes Dumuzi / Damu /Tammuz mit der Göttin Inanna /
Religiöses Leben 115
Ištar, andererseits die zeremonielle Vereinigung eines göttlichen
Paares. Die Quellen verbinden erstere Form des segenstiftenden
Rituals mit Inannas Kultstadt Uruk. Strittig ist, ob die Vereini-
gung real vom König und einer en-Priesterin in der Rolle der
Inanna / Ištar vollzogen wurde. Die beiden Texte, die es am
konkretesten zu schildern scheinen, sind Hymnen auf die Kö-
nige Šulgi von Ur (ca. 2094–2047) und Iddin-Dagan von Isin
(ca. 1974–1953); es handelt sich um «Kultpoesie» und nicht
etwa um Ritualbeschreibungen, ihr Aussagewert für die Rekon-
struktion der Kultpraxis ist daher zweifelhaft. Im altbab. Ištar-
Ritual aus Mari heißt es dazu lediglich: «[…] stellt das [Bett] im
Tempel der Ištar auf. Wenn der König will, schläft er auf dem
Bett der Ištar.» Aus späterer Zeit kennen wir symbolisch, d. h.
auf der Ebene der Kultbilder, gestaltete Hochzeitsriten der Gott-
heiten Nabû und Nanaja /Tašmētu, Marduk und Zarpanītum.
Zyklische, mit den Jahreszeiten und landwirtschaftlichen Tä-
tigkeiten verknüpfte Riten und Feste fanden das ganze Jahr über
statt. Die regional unterschiedlichen Traditionen können wir
aufgrund der Quellenlage am besten in Mesopotamien überbli-
cken. Dort konzentrierten sich die landwirtschaftlichen Tätig-
keiten auf die Wintermonate, in denen Regen fiel und die Flüsse
und Kanäle anschwollen und das Ackerland fluteten. Im Herbst
wurde, wie oben erwähnt, in Ur das akiti-Fest der Aussaat ge-
feiert (7. Monat, September / Oktober). Der König selbst eröff-
nete bei dieser Gelegenheit rituell die Feldarbeiten, indem er mit
dem Pflug, einem dem Gott Ninurta heiligen Gerät, die erste
Saatfurche zog. Der Winter brachte auch in Mesopotamien Käl-
te mit sich. Man mußte sich am «Kohlebecken», akk. kinūnu,
wärmen. Es fand zwar das ganze Jahr über im Kult Verwen-
dung, doch zu Beginn des Winters rückte es in den Mittelpunkt
eines Festes, das landesweit zu etwas unterschiedlichen Termi-
nen gefeiert wurde. Aus den spärlichen Hinweisen auf seinen
Verlauf läßt sich erahnen, daß die profanen häuslichen Maß-
nahmen gegen die Kälte in den Tempeln rituell für die Gott-
heiten inszeniert wurden. Nach dem kinūnu-Fest wurde regio-
nal der betreffende Monat benannt. Der Monatsname fand
zwar nicht Eingang in den offiziellen babylonischen Kalender,
116 Religiöses Leben
hat sich aber in der aramäisch-arabischen Überlieferung bis
heute erhalten. Im 2. Monat (April / Mai), nachdem sich die win-
terliche Hochflut verlaufen hatte, wurde ein ähnlicher Pflug-Ri-
tus wie im Herbst begangen; der Monat war generell dem Ni-
nurta heilig. Die heißen und trockenen Sommermonate, in
denen die Vegetation verdorrt und der Wasserstand der Flüsse
sinkt, wurde mit Tod und Unterwelt assoziiert. Im 4. Monat
(Juni / Juli) klagten die Frauen um Dumuzi /Tammuz, den Ge-
liebten der Göttin Inanna / Ištar, den diese, wie der Mythos «In-
annas Gang zur Unterwelt» erzählt, der Unterwelt überantwor-
tet hatte, wo er einen Teil des Jahres verbringen mußte. Aus
assyrischen Quellen des 1. Jt.s erfahren wir, daß bei den dor-
tigen Zeremonien eine (den Leichnam des Gottes repräsentie-
rende?) Statue gewaschen und gesalbt wurde. Die Klageriten
waren also weit verbreitet. So dürfte denn auch die Vision des
zwischen 593 und 571 in Babylonien wirkenden Propheten Eze-
chiel (8,14), in der er Frauen am Jerusalemer Tempel um Tam-
muz weinen sah, reale Hintergründe gehabt haben. Wie der ge-
lehrte Bagdader Buchhändler Ibn an-Nadīm (10. Jh. n. Chr.) in
seinem Fihrist berichtet, gab es noch in islamischer Zeit in
Harran ein «Fest der weinenden Frauen» zu Ehren des Taʾūz.
Den 5. Monat (Abu) könnte man als babylonischen «Totenmo-
nat» bezeichnen. Das Wort abu, nach dem er benannt ist, kann
frei mit «Grab» übersetzt werden. Es bezeichnet eine Vorrich-
tung des Totenkultes, durch die man Totenopfer darbrachte,
durch die aber auch die Toten aus der Unterwelt aufsteigen
konnten. Räucherständer und Fackeln wurden entzündet, viel-
leicht für die nachts aufsteigenden Totengeister. Neun Tage lang
waren die Straßen der Städte Schauplatz von Ring- und Faust-
kämpfen zu Ehren des Gilgameš, der zu Lebzeiten ein Held
war und in der Unterwelt das Amt eines Totenrichters inne-
hatte; sie stehen sicherlich in Beziehung zu dem im Gilgameš-
Epos geschilderten Zweikampf zwischen Gilgameš und Enkidu.
Im 9. Monat (November / Dezember) fanden Läufe rings um
Heiligtümer oder Städte statt, die in Ritualkommentaren mit
Ninurtas Kämpfen gegen Asakku oder den Anzu-Vogel in Ver-
bindung gebracht werden. Eine ähnliche Kultpraxis hat sich
Religiöses Leben 117
bis auf den heutigen Tag unter den Riten der islamischen Pil-
gerfahrt nach Mekka erhalten: die ṭawāf genannte siebenfa-
che Umkreisung der Kaaba, die während der ersten Runden
im Laufschritt erfolgt.
Das babylonische Neujahrsfest des 1. Jt.s als eines der bedeu-
tendsten und zugleich am besten rekonstruierbaren altmesopo-
tamischen Feste soll hier ausführlicher beschrieben werden.
Ausgangs- und Endpunkt der mindestens 11 Tage dauernden
Feierlichkeiten war das Esaĝil(a), der Tempelbezirk des Gottes
Marduk in Babylon. 1.–3. Tag: Opfer und Gebete an Marduk
und seine Gemahlin Zarpanitu. Am dritten Tag werden zwei
Figuren aus Holz, Gold und Edelsteinen hergestellt, die in der
Linken eine Schlange bzw. einen Skorpion halten. Sie werden
bis zum sechsten Tag im Heiligtum des Richtergottes Madānu
deponiert, um dort von Marduks Sohn Nabû getötet und ver-
brannt zu werden. 4. Tag: Am Abend rezitiert der Oberpriester
das «Babylonische Schöpfungsepos» Enūma eliš. 5. Tag: Mar-
duks Heiligtum wird einer rituellen Reinigung unterzogen, dann
wird dem Gott ein Mahl serviert. Die Reste werden für den
Empfang seines Sohnes Nabû bereitgestellt, der in Gestalt seines
Kultbildes mit dem Boot aus seiner nahegelegenen Stadt Bor-
sippa anreist. Nun betritt der König Marduks Heiligtum. Der
Oberpriester nimmt ihm die Insignien ab (Stab, Meßleine,
Wurfholz und Krone) und legt sie vor Marduk nieder. Er gibt
ihm einen Backenstreich, führt ihn vor das Angesicht Marduks,
zieht ihn am Ohr (wohl ein symbolischer Gestus, mit dem er
unter Eid gestellt wird) und veranlaßt ihn, sich niederzuwerfen.
In demütiger Haltung spricht der König nun ein «negatives
Schuldbekenntnis»:
«Ich habe nicht gesündigt, Herr der Länder,
nicht war ich nachlässig gegen Deine Göttlichkeit.
Ich habe das Esaĝil nicht wanken lassen,
nicht habe ich seine Riten vergessen.
Ich habe nicht geschlagen die Wange der kidinnu (eine Art Aristokratie)
(…),
ich habe sie nicht erniedrigt.
Ich kümmerte mich um Babel,
nicht zerstörte ich seine Stadtmauer.»
118 Religiöses Leben
Marduk antwortet durch den Priester und sagt dem König Se-
gen und Hilfe zu. Der König erhält nun seine Insignien zurück,
doch der Priester schlägt ihn ein zweites Mal auf die Wange.
Vergießt er Tränen, so bedeutet es den Segen, andernfalls aber
den Zorn des Gottes. Nach Sonnenuntergang wird im Tempel-
hof ein Feuer aus Schilf entfacht und ein weißer Stier geopfert.
6. Tag: Der Tags zuvor aus Borsippa eingetroffene Nabû tötet
die beiden im Heiligtum des Madānu deponierten Figuren, und
sie werden verbrannt. 7. Tag: Die Kultbilder Marduks, seines
Hofstaates sowie der von auswärts eingetroffenen Gottheiten
werden unter Rezitationen und Riten eingekleidet. 8. Tag: Es
findet eine erste Götterversammlung im Tempelhof statt, bei der
Marduk «die Schicksale entscheidet». Daraufhin werden die
Tore geöffnet, und die Götter brechen in feierlicher Prozession
zum akiti-Haus außerhalb der Stadt auf. Außerhalb des Tem-
pels absolviert der König ein Ritual, das Brandopfer von Scha-
fen und Ziegen, einen rituellen Lauf und das Öffnen eines be-
stimmten Gefäßes umfaßt. Der König wird von Marduk und
Zarpanītu gesegnet, Kultschauspieler (kurgarrû) führen eine
Schlacht auf – vermutlich Marduks Kampf gegen Tiāmat. An
mehreren Stationen der teilweise auf Booten zurückgelegten
Strecke finden Riten und Gebete statt. 8.–11. Tag: Nach der fei-
erlichen Installation verweilen die Gottheiten im akiti-Haus, es
finden Opfer statt. 11. Tag: Die Götter kehren nach Babylon
zurück. In Marduks Tempel findet die zweite Götterversamm-
lung statt; auch im Mythos ist Marduks Kampf gegen Tiāmat
von zwei Götterversammlungen umrahmt: Die erste beschließt
seine Entsendung und verspricht ihm für den Fall des Siegs das
Königtum, in der zweiten wird der Sieg verkündet und Marduk
zum König proklamiert. Der letzte Teil des Festes ist noch nicht
ganz geklärt. Wahrscheinlich gehörte dazu die «Heilige Hoch-
zeit» von Marduk und Zarpanītu sowie die Verabschiedung
und Heimkehr der auswärtigen Gottheiten. Aus der kurzen
Skizze des Festverlaufs sind einige Grundzüge zu ersehen, die
auch für andere Feste gelten: Wir haben es mit einem historisch
gewachsenen, komplexen Ritual zu tun, das mythologisch fun-
diert ist und den zugrundeliegenden Mythos aktualisiert. Sei-
Religiöses Leben 119
nem Inhalt entsprechend, sind die Hauptmotive in der rituellen
Erneuerung der Schöpfung und des Königtums zu erkennen.
Auch beim babylonischen akiti-Fest im Herbst stand die Erneu-
erung des Königtums im Mittelpunkt: Nachdem der König sich
in den ersten Tagen des Monats Tašrītu im Palast Reinigungs-
riten unterzogen hatte, begab er sich in Begleitung von Priestern
am Abend des 7. Tages in einen aus Rohr erbauten Ritualkom-
plex außerhalb der Stadt, dem bīt salāʾ mê «Haus des Wasser-
sprengens». Dort mußte er seine Insignien ablegen, die von den
Priestern rituell gereinigt und gesegnet wurden. In einer Art Ge-
fängnis erwartete er den Ausgang einer Gerichtsverhandlung
unter Vorsitz des Sonnengottes Šamaš. Frühmorgens durfte er
seine Insignien wieder anlegen und wurde vom Sonnengott in
seinem Amt bestätigt.
Über die assyrischen Feierlichkeiten zum Jahreswechsel sind
wir weniger detailliert unterrichtet als über die babylonischen.
Sie begannen bereits im XI. Monat, Assur besuchte zunächst
u. a. den Tempel des Dagan, zu Beginn des neuen Jahres stand
dann ein mehrtätiger Aufenthalt von Assur und Mullissu im
akiti-Haus auf dem Programm (das nach babylonischem Vor-
bild erst von Sanherib errichtet worden war), bei dem ihre
«Heilige Hochzeit» begangen wurde.
Werfen wir schließlich noch einen Blick auf außerhalb Meso-
potamiens gelegene Regionen. Sehr lange und aufwendige
Festrituale hatten die hethitischen Könige der Großreichszeit
(ca. 1350–1200) zu absolvieren. Das im Frühling gefeierte, nach
einer Pflanze (Krokus?) benannte ANTAḪŠUM-Fest und sein
herbstliches Pendant, das nuntarriyašḫa-Fest (Fest der «Eile»),
bestanden jeweils aus einer 30 bis 40 Tage dauernden Rundrei-
se, in deren Verlauf der König zahlreiche Orte und Heiligtümer
des Reiches besuchte. Namengebend für letzteres war entweder
die Eile, mit der der König reisen mußte, oder ein am 2. Tag
stattfindender Wettlauf (Wettläufe sind allerdings auch bei an-
deren hethitischen und mesopotamischen Festen bezeugt). Bei-
de Feste wurden offenbar konstruiert, um wichtige Lokalkulte
in den Staatskult zu integrieren. In das ANTAḪŠUM-Fest wur-
den Teile des älteren purulli-Festes übernommen. Weitere be-
120 Religiöses Leben
deutende Feste des hethitischen Staatskultes waren das KILAM-
und das (h)išuwa-Fest. Ersteres ist nach dem beim Tor gelegenen
«Markt» von Ḫattuša benannt, wo sich eines der Rituale ab-
spielte. An die dreitägen Riten in der Hauptstadt schlossen sich
Aufenthalte in den Kultstädten Arinna und Zippalanda an. Ein
Hauptmotiv ist in dem komplexen, bislang nur etwa zur Hälfte
rekonstruierbaren Festgeschehen schwer auszumachen, was
wohl auch daran liegt, daß es das Ergebnis eines längeren Ent-
wicklungsprozesses ist. Das (ḫ)išuwa-Fest wurde von Puduḫepa,
der Gemahlin des Königs Ḫattušili III., zu Ehren des Wettergot-
tes und für das Wohlergehen des Königs gestiftet; sie hatte einen
Oberschreiber namens Walwaziti beauftragt, für diesen Zweck
geeignete Rituale aus ihrer Heimat Kizzuwatna (Kilikien) zu-
sammenzustellen. Das schon erwähnte purulli-Fest geht wie
auch das KILAM-Fest und andere auf hattische Traditionen zu-
rück. Während des Festes wurde der Mythos vom Wettergott
und dem Meeresungeheuer Illujanka rezitiert, aus dessen Ge-
walt der Gott sich durch List befreien konnte. Möglicherweise
war auch der in verschiedenen Fassungen überlieferte Mythos
vom Verschwinden und Wiederauffinden des Vegetationsgottes
Telepinu einbezogen. Hauptmotive sind die Wiederkehr der Ve-
getation im Frühling und – in Analogie dazu – die Erneuerung
des Königtums. Das purulli-Fest ist jedoch nicht einfach als das
hethitische Neujahrsfest anzusprechen. Abgesehen davon, daß
es nirgends so bezeichnet wird, spricht dagegen, daß das purul-
li-Fest in einem Turnus von mehreren (7 oder 9?) Jahren statt-
fand. Parallelen dazu findet man im syrischen Emar, wo im
14. / 13. Jh. alle sieben Jahre ein zukru genanntes Fest gefeiert
wurde, und vielleicht auch in Ugarit: Am Ende des ugar. «Baal-
Zyklus» ist in Zusammenhang mit Baals Sieg über den Todes-
gott Mōt von einem «siebten Jahr» die Rede – der Kontext ist
allerdings lückenhaft, und die Angabe vielleicht nicht wört-
lich zu verstehen, sondern nur als poetischer Ausdruck für ei-
nen längeren Zeitraum. Ähnliche Mythen- und Kulttraditionen
könnten noch die Siebenjahreszyklen des Alten Testaments re-
flektieren: die sieben guten und die sieben schlechten Jahre, die
dem Pharao durch die von Joseph gedeuteten Träumen ange-
Religiöses Leben 121
zeigt werden (Genesis 41,1–36), vor allem aber das «Sabbat-
Jahr» (d. h. jedes 7. Jahr) und seine siebenfache Steigerung, das
(im Deutschen zu «Jubeljahr» verballhornte) «Jobel-Jahr», für
die Levitikus 25 besondere landwirtschaftliche und soziale Ob-
servanzen vorschreibt.
Die Beziehung des ugaritischen «Baal-Zyklus» zum ugariti-
schen Kultkalender und zum Neujahrsfest wurde kontrovers
diskutiert. Sicher ist jedenfalls, daß in den Regenbaugebieten
Kanaans und Nordsyriens die Ernte, insbesondere die Weinlese,
und der nach der Sommerdürre wieder einsetzende Regen den
Höhepunkt des agrarischen und kultischen Jahres darstellten,
weshalb sie wohl in der Regel den Jahreswechsel markierten.
Dies spiegelt noch der jüdische Kalender wider: In den 7. Monat
(Tišrî) des aus Babylonien übernommenen Kalenders, den Mo-
nat des Herbstäquinoktiums, fallen Neujahr (rōš ha-šānāh),
Versöhnungstag (yōm kippūr, 10. 7.) und Laubhüttenfest (suk-
kōt, 15.–21. 7.). Letzteres wurde laut Deuteronomium 16,13
nach der Weinlese gefeiert. Ein Licht auf seine Ursprünge wirft
vielleicht ein ugaritischer Ritualtext, der die Opfer und Riten im
Weinlesemonat raʾšu yēni «Haupt / Anfang des Weines» zum
Gegenstand hat: In der Nacht zum 1. Tag des Folgemonats op-
fert der König auf dem Dach, wo zweimal vier «Wohnstätten
aus abgeschnittenen Zweigen» errichtet sind. Aus ugar. Quellen
erfahren wir auch Konkretes über eine im Alten Testament (Je-
remias 16,5 und Amos 6,7) unter der Bezeichnung marzēaḥ
erwähnte Institution: Es handelte sich um Festgelage, die
nach Ausweis einer Stiftungsurkunde von privaten, den griech.
thίasoi vergleichbaren Vereinen ausgerichtet wurden. In Emar
war nach ihnen ein Monat Marzaḫāni benannt, was auf einen
saisonalen kultischen Hintergrund schließen läßt.
Humor und Parodie. Abschließend sei auf einen weniger be-
achteten Aspekt der altorientalischen Religionsgeschichte hin-
gewiesen, nämlich den humoristischen. Zum Personal der mei-
sten Feste gehörten allerlei burleske Gestalten, deren Titel wir
nur ungenau verstehen und wiedergeben können wie z. B. der
kurĝarra und der galaturra, die Enki in «Inannas Gang zur Un-
122 Religiöses Leben
terwelt» aus dem Schmutz seiner Fingernägel erschafft, oder der
alusinnu «Spaßmacher». Aus seinem Repertoire ist ein Text
überliefert, in dem bewußt Gottheiten und ihre Kultorte ver-
tauscht sind. Ein witziger Passus, aus dem man vielleicht auch
einen religionskritischen Unterton heraushören darf, findet sich
im «Pessimistischen Dialog». Dieser besteht aus 10 Abschnit-
ten, die demselben Schema folgen: Der Herr äußert seinem
Sklaven gegenüber eine Absicht, der dieser pflichtschuldigst zu-
stimmt, und verwirft sie dann, was vom Sklaven ebenfalls bei-
fällig kommentiert wird. Im siebten Abschnitt heißt es:
Sogleich hilf mir aufstehen und gib mir Wasser für meine Hände, damit
ich meinem Gott ein Opfer bereite!» – «Bereite, mein Herr, bereite! Ein
Mann, der seinem Gott ein Opfer bereitet, wird zufriedengestellt und er-
hält Darlehen auf Darlehen!» – «Nein, Sklave, ich werde meinem Gott
kein Opfer bereiten!» – «Bereite nicht, mein Herr, bereite nicht! Du wirst
(sonst?) deinen Gott lehren, wie ein Hund hinter dir herzulaufen, sei es,
daß er dich um Riten oder einen Latarak (gemeint ist ein zu rituellen
Zwecken verwendetes Tonfigürchen dieses Gottes) oder sonst etwas bit-
tet!»
Abb. 1:
Götterembleme
auf einem
Kudurru
(um 1100)
Religiöses Leben 123
Abb. 2: Kultvase aus
Uruk (um 3000) Pries-
terin vor zwei «Schilf-
ringbündeln» (Embleme
der Inanna), Gaben-
bringer.
Abb. 3: «Einführungsszene» auf Rollsiegel (um 2100):
Göttinnen (mit «Hörnerkrone») führen Beter vor den Mondgott.
Abb. 4: Bronzeplastik aus Susa von einem morgendlichen Tempelritual
(ca. 1130 v. Chr.).
Bibliographische Hinweise
Nachschlagewerke
Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie, herausgegeben
von M. P. Streck (ab Bd. 11), Berlin 1932 ff. Reicht aktuell bis Band 12,
Buchstabe «S». Die ersten Bände sind z. T. veraltet. Behandelt zahlreiche
Gottheiten in Einzelartikeln, weitere wichtige Artikel sind z. B. «Gott», «Hof-
staat», «Mythologie», «Omen», «Opfer», «Religion».
J. Black & A. Green, Gods, Demons and Symbols of Ancient Mesopotamia,
London 1992.
A. George, House Most High. The Temples of Ancient Mesopotamia, Mesopota-
mian Civilizations 5, Winona Lake 1993.
W. Haussig (Hg.), unter Mitarbeit von D. O. Edzard, W. Helck, M. Höfner,
M. H. Pope, W. Röllig und E. von Schuler, Götter und Mythen im Vorderen
Orient, Wörterbuch der Mythologie I,1, Stuttgart 21983.
Übersetzungen altorientalischer Texte
B. Foster, Before the Muses. An Anthology of Akkadian Literature, Bethesda
3
2005.
H. A. Hoffner, Jr., Hittite Myths, Atlanta 21998.
Texte aus der Umwelt des Alten Testaments (TUAT) herausgegeben von O. Kaiser,
Gütersloh 1982–2001 (Ergänzungsband).
Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Neue Folge, herausgegeben von
B. Janowski und D. Schwemer, derzeit bis Band 5 (2010).
The Electronic Corpus of Sumerian Literature: http://etcsl.orinst.ox. ac.uk
Französische Übersetzungen sum. Mythen:
[email protected]Dt. Übersetzungen heth. Mythen: www.hethport.uni-wuerzburg.de/HPM/
txthetlink.php
Neuere Gesamtdarstellungen
B. Groneberg, Die Götter des Zweistromlandes, Düsseldorf / Zürich 2004.
V. Haas & H. Koch, Religionen des Alten Orients. Hethiter und Iran, Grundrisse
zum Alten Testament I, 1, Göttingen 2011.
P. Taracha, Religions of Second Millennium Anatolia, Wiesbaden 2009.
Kultkalender
M. E. Cohen, The Cultic Calendars of the Ancient Near East, Bethesda 1993.
W. Sallaberger, Der kultische Kalender der Ur III-Zeit, Untersuchungen zur
Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 7, Berlin / New York 1993.
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Orte unsicherer Lokalisierung Medina MAGAN
Der altorientalische Kulturraum (Hinweis: Nicht alle eingetragenen Namen, Orte und Reiche existierten gleichzeitig.)
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Susa: Insusinak
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Uruk: An, Inanna
0 50 100 150 km Persischer Golf
Zabalam: Inanna
Südmesopotamien (Sumer/ Babylon)