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Diplomarbeit: Yoko Tawada Und Ingeborg Bachmann

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DIPLOMARBEIT

Titel der Diplomarbeit


YOKO TAWADA UND
INGEBORG BACHMANN
Das Bild der Übersetzerinnen in ausgewählten Texten von
Yoko Tawada und Ingeborg Bachmann in Bezugnahme der Poetik und
der theoretischen Schriften von Yoko Tawada.

Verfasserin
Maria Seisenbacher

angestrebter akademischer Grad


Magistra der Philosophie (Mag.phil.)

Wien, 2011

Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 393


Studienrichtung lt. Studienblatt: Vergleichende Literaturwissenschaft
Betreuerin: Univ.-Ass. Dr. Barbara Agnese
Für und

Ich bedanke mich für die Betreuung meiner Diplomarbeit bei Frau Dr. Barbara Agnese
sowie bei Frau Dr. Christine Ivanovic für die zahlreichen Informationen, Gespräche
und Hilfestellungen zum Werk und zur Poetik von Yoko Tawada.
Ich bedanke mich auch bei allen Vortragenden des internationalen Tawada-Workshops
„Mind the Gap – Die Lücke im Sinn“, der im März 2011 in Wien stattgefunden hat, für
ihre Anregungen und Impulse.

Weiterer Dank gilt Sarah Legler und Hermann Niklas für die Lektoratsarbeit und
Unterstützung.

Die Fertigstellung dieser Arbeit wurde von den Ereignissen des Bebens, des
darauffolgenden Tsunamis und des Atomreaktorumfalls in Japan im März 2011
überschattet. Die Arbeit soll und kann zwar nicht als Gedenken gelesen werden, aber
als Gedanke für verantwortliche Verbundenheit.

1
Der fremde Blick ist alt, fertig mitgebracht aus dem Bekannten.
Er hat mit dem Einwandern nach Deutschland nichts zu tun.
Fremd ist für mich nicht das Gegenteil von bekannt,
sondern das Gegenteil von vertraut.
Unbekanntes muß nicht fremd sein, aber Bekanntes kann fremd werden.

Herta Müller
(Der König verneigt sich und tötet)

2
Siglenverzeichnis
Die Texte Ingeborg Bachmanns und Yoko Tawadas werden mit folgenden Siglen zitiert.
Seitenzahlen werden in arabischen Ziffern zitiert.

IB, W, Bd. I Bachmann, Ingeborg: Werke. Erster Band: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen.
Christine Koschel / Inge von Weidenbaum / Clemens Münster (Hg.), 5. Auflage (zuerst
1978), München: Piper 1993.

IB, W, Bd. III Bachmann, Ingeborg: Werke. Dritter Band. Todesarten: Malina und unvollendete Romane.
Christine Koschel / Inge von Weidenbaum / Clemens Münster (Hg.), 5. Auflage (zuerst
1978), München: Piper 1993.

IB, W, Bd. IV Bachmann, Ingeborg: Werke. Vierter Band. Essays, Reden, Vermischte Schriften, Anhang.
Christine Koschel / Inge von Weidenbaum / Clemens Münster (Hg.), 5. Auflage (zuerst
1978), München: Piper 1993.

IB, TA, Bd. IV Bachmann, Ingeborg: „Todesarten“-Projekt. Kritische Ausgabe. Band IV. Der „Simultan“-
Band und andere späte Erzählungen. Unter Leitung von Robert Pichl. Monika Albrecht /
Dirk Göttsche (Hg.). München, Zürich: Piper 1995.

IB, KS Bachmann, Ingeborg: Kritische Schriften. Monika Albrecht / Dirk Göttsche (Hg.),
München, Zürich: Piper 2005.

YT, ND Tawada, Yoko: Nur da/wo du bist/da ist nichts. Aus dem Japanischen von Peter Pörtner.
3. Auflage, Tübingen: Konkursbuch Verlag 1987.

YT, DB Tawada, Yoko: Das Bad. Aus dem Japanischen von Peter Pörtner. 3. Auflage (zuerst 1989),
Tübingen: Konkursbuch Verlag 1993.

YT, EU Tawada, Yoko: Wo Europa anfängt. Übersetzungen von Peter Pörtner. Tübingen:
Konkursbuch Verlag 1991.

YT, EG Tawada, Yoko: Ein Gast. Tübingen: Konkursbuch Verlag 1993.

YT, TM Tawada, Yoko: Talisman. Japanische Übersetzungen von Peter Pörtner. 5. Auflage,
Tübingen: Konkursbuch Verlag 1996.

YT, VL Tawada, Yoko: Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesungen. 2. Auflage (zuerst 1998),


Tübingen: Konkursbuch Verlag, 2001.

3
YT, SS Tawada, Yoko: Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur. Eine
ethnologische Poetologie. Tübingen: Konkursbuch Verlag 2000.

YT, OV Tawada, Yoko: Opium für Ovid. Ein Kopfkissenbuch von 22 Frauen. Tübingen:
Konkursbuch Verlag 2000.

YT, ÜS Tawada, Yoko: Überseezungen. Tübingen: Konkursbuch Verlag 2002.

YT, SG Tawada, Yoko: Saint George and the Translator. In: Facing the Bridge. Translated by
Margaret Mitsutani. New York: New Directions Books 2007.

YT, SP Tawada, Yoko: Sprachpolizei und Spielpolyglotte. Tübingen: Konkursbuch Verlag 2007.

YT, AG Tawada, Yoko: Abenteuer der deutschen Grammatik. Gedichte. Tübingen: Konkursbuch
Verlag 2011.

GI Koschel, Christine / Weidenbaum, Inge von (Hg.): Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre
Sätze finden. Gespräche und Interviews. 3. Auflage (zuerst 1983), München: Piper & Co
1991.

KU Koschel, Christine / Weidenbaum, Inge von (Hg.): Kein objektives Urteil – nur ein
lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München: Piper 1989.

BH Albrecht, Monika / Göttsche, Dirk (Hg.): Bachmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
Stuttgart, Weimar: Metzler, 2002.

PT Ivanovic, Christine (Hg.): Yoko Tawada. Poetik der Transformation. Beträge zum
Gesamtwerk. Mit dem Stück Sancho Pansa von Yoko Tawada. Tübingen: Stauffenburg
2010.

4
INHALTSVERZEICHNIS

1 VORWORT 8

2 YOKO TAWADA 10

2.1 Theoretische Schriften 10


2.1.1 Tübinger Poetik-Vorlesungen 10
2.1.1.1 Stimme eines Vogels oder das Problem der Fremdheit 11
2.1.1.1.1 Fremde Stimmen und Sprachen 12
2.1.1.1.2 Körperlichkeit der Sprache 13
2.1.1.1.3 Vogelsprache in Literatur und Musik 13
2.1.1.2 Schrift einer Schildkröte oder das Problem der Übersetzung 15
2.1.1.2.1 Ideogramme und Alphabet im Vergleich 15
2.1.1.2.2 Literarische Übersetzungen 18
2.1.1.2.3 Die Träume von der Schrift 20
2.1.1.3 Gesicht eines Fisches oder das Problem der Verwandlung 20
2.1.1.3.1 Wo beginnt das Gesicht eines Fisches und wo endet es? 21
2.1.1.3.2 Der Spalt zwischen Gesicht und Ich 21
2.1.1.3.3 Verwandlungen 23
2.1.2 Spielzeug und Sprachmagie. Eine ethnologische Poetologie 24
2.1.2.1 Die Verortung der Magie 26
2.1.2.2 Ethnologische Poetologie 27
2.1.2.3 Die Schrift der Objekte 30
2.1.2.4 Magie der Oberflächen 32

2.2 Die Poetik von Yoko Tawada 33


2.2.1 Europa als Mythos 35
2.2.2 Übersetzung 38
2.2.3 Verwandlung und Mimesis 42
2.2.4 Innen/Außen – die Dezentrierung des Ich 44
2.2.5 Polyphonie 46

2.3 Verortung der Texte Yoko Tawadas 47


2.3.1 Übersicht von Literaturgattungen in Bezug auf das Schreiben von Autor(inn)en außerhalb ihrer
Muttersprache 48
2.3.2 Hybridität in der Literatur 51
2.3.3 Surreale Bilder und Dadaismus 53
2.3.4 Exophonie 56

5
3 DAS BILD DER ÜBERSETZERINNEN BEI YOKO TAWADA UND
INGEBORG BACHMANN 59

3.1 Ingeborg Bachmann 64


3.1.1 Ingeborg Bachmann als Übersetzerin 64
3.1.2 „Simultan“ 66
3.1.2.1 Inhalt, Aufbau und Themen der Erzählung 70
3.1.2.1.1 Inhalt 70
3.1.2.1.2 Aufbau 71
3.1.2.1.3 Themen 73
3.1.2.1.4 Charakter der Übersetzerin-Figur „Nadja“ 75
3.1.3 Die Frankfurter Poetik-Vorlesungen und „Tagebuch“ in „Simultan“ 78
3.1.3.1 Frankfurter Poetik-Vorlesungen 78
3.1.3.1.1 „Simultan“ und die Frankfurter Poetik-Vorlesungen 79
3.1.3.2 Tagebuch 85
3.1.3.2.1 „Simultan“ und „Tagebuch“ 87

3.2 Yoko Tawada 88


3.2.1 „Das Bad" 88
3.2.1.1 Inhalt, Aufbau und Themen des Kurzromans 89
3.2.1.1.1 Inhalt 89
3.2.1.1.2 Aufbau 90
3.2.1.1.3 Themen 92
3.2.1.2 Charakter der Übersetzerin-Figur 99
3.2.1.3 Tawadas Poetik in „Das Bad“ 100
3.2.2 „Saint George and the Translator" 106
3.2.2.1 Inhalt, Aufbau und Themen des Romans 109
3.2.2.1.1 Inhalt 109
3.2.2.1.2 Aufbau 109
3.2.2.1.3 Themen 110
3.2.2.2 Charakter der Übersetzerin-Figur 116
3.2.2.3 Tawadas Poetik in „Saint George and the Translator“ 117

3.3 Übersetzerin-Figuren im Vergleich 121


3.3.1 Die Übersetzerin-Figuren in „Simultan“, „Das Bad“ und „Saint George and the Translator“ 123
3.3.1.1 Beruf und Element Medium 123
3.3.1.2 Die Konfrontation mit der Fremde 126
3.3.1.3 Die Sprache als Bedrohung 131
3.3.1.4 Stimmen in Raum- und Zeitverschiebungen 133

6
3.3.1.5 Die Mehrgesichtigkeit des Ichs und die Unübersetzbarkeit in der Übersetzung 135

4 NACHWORT 140

5 LITERATURVERZEICHNIS 142

5.1 Primärliteratur 142

5.2 Sekundärliteratur 144

5.3 Nachschlagewerke 153

5.4 Tonträger 153

5.5 Internetquellen 153

ANHANG 155

1. Abstract 155

2. Lebenslauf 156

7
1 VORWORT

Die Querverweise zu Ingeborg Bachmann und ihrem literarischen Schaffen, die ich vor
allem in europäischer Sekundärliteratur über Yoko Tawadas Texte gefunden habe, weckten
mein Interesse an einem Vergleich beider Schriftstellerinnen und Literaturwissenschaftler-
innen. Es zeigte sich jedoch bald, dass hierfür eine breitere Auseinandersetzung von Nöten
wäre, als eine Diplomarbeit Raum bietet.

Abgesehen von der Affinität zu Walter Benjamin scheinen beide Schriftstellerinnen und
Literaturwissenschaftlerinnen nicht viel gemein zu haben, außer ihrer beider Professionen
des Schreibens und wissenschaftlichen Arbeitens. Yoko Tawada, die 1960 in Japan
geboren wurde und seit 1989 in Deutschland lebt, publiziert seit 1987 in deutscher und seit
1992 auch in japanischer Sprache. In Japan, wie auch in Hamburg, hat sie
Literaturwissenschaften (auf der Waseda Universität in Tokyo mit Schwerpunkt Russische
Literatur) studiert. Tawada wählte nicht nur für ihre literarischen Publikationen den Begriff
„exophones Schreiben“, sondern beschäftigte sich auch in ihren Essays mit diesem Begriff.
Dieser etablierte sich jedoch nur langsam in der europäischen Literaturwissenschaft.
Tawadas Auseinandersetzung mit Europa und dessen Denkweise und ihre eigens
entwickelte „ethnologische Poetologie“ erweisen sich als bereichernde
Denkherausforderung, im Eigenen das Fremde zu erkennen. Vor allem in der Sprache
findet Tawada immer Lücken und Spalten, die auf längst Vergessenes oder nicht/selten
Sichtbares hinweisen, mithilfe derer sie neue Blickwinkel erschaffen will. Leider haben
ihre theoretischen Schriften, vor allem ihre Dissertation, im Gegensatz zu ihrem
literarischen Werk noch wenig Aufsehen in der Wissenschaft auf sich gezogen. Ingeborg
Bachmann hingegen war bereits zu Lebzeiten ein Aushängeschild der österreichischen und
deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Ihre Bemühungen und Auseinandersetzungen mit
der Sprache als moralische Instanz und ihrer Aufgabe als Schriftstellerin, die Sprache von
ihren Floskeln zu befreien und den damit verbundenen, an Musil anlehnenden utopischen
Gedanken wurden zeitlebens oft hinter ihre Auftritte in der Öffentlichkeit gestellt. Das
bezeugen Zeitungsberichte, die nach ihren in Frankfurt gehaltenen Poetik-Vorlesungen
(1959) erschienen sind. Bachmanns poetologische Vorlesungen und ihr Anspruch an die

8
Literatur und deren Wissenschaft sind unumgänglich für (Deutsch) schreibende
Autor(inn)en, die sich mit Sprache auseinandersetzen.
Weder Tawadas und Bachmanns Schreibstile noch ihre literarischen Themenbereiche
scheinen einander zu kreuzen. Erst durch einen genauen Blick auf beider Poetik erhält man
den Verdacht einer Parallelität. Präzise Forschungen zu diesem Thema liegen jedoch noch
nicht vor, und auch diese Arbeit vermag nur einen weiteren Querverweis zu leisten. Hier
werden vor allem die Gegenüberstellung der Übersetzerin-Figuren von Yoko Tawadas
„Das Bad“ (1989), „Saint George and the Translator“ (2007) und Ingeborg Bachmanns
Erzählung „Simultan“ (1972) im Vordergrund stehen. Das erste Kapitel beschäftigt sich
mit Tawadas Tübinger Poetik-Vorlesung „Verwandlungen“ (1998) und ihrer Dissertation
„Spielzeug und Sprachmagie. Eine ethnologische Poetologie“ (2000), um davon ausgehend
auf ihre Poetik zu schließen. Vor allem die Verortung Tawadas literarischen Schaffens soll
zeigen, dass Gattungen wie „Nationalliteratur“ oder „Migrant(inn)enliteratur“ längst an
Gültigkeit verloren haben. Ihr Schreiben wird ausgehend vom „exophonen Schreiben“
betrachtet werden.
Nach der Vorstellung der ausgewählten Texte beider Schriftstellerinnen und deren
Betrachtung auf ihre jeweilige Poetik werden die Übersetzerin-Figuren der ausgewählten
Texte verglichen. Wir werden sehen, dass vor allem die Frage nach dem „Ich“ als
literarische Stimme eine wichtige Rolle in allen Erzählungen einnimmt. Sie schwankt
zwischen Festschreibung und Verwandlung (Identitätsauflösung) sowie Zuschreibung und
Mehrschichtigkeit. Anhand der Fragestellungen, wie die jeweiligen Übersetzerinnen mit
der eigenen und der fremden Sprache konfrontiert werden und welchen Stellenwert das
Übersetzen im Prozess der Selbstfindung und -verwandlung hat, werden wir sehen, dass
das Scheitern in allen Fällen zur Befreiung aus einem Sprach- und Denksystem führt.
Am Ende des Vergleichs wird sichtbaren werden, dass die Übersetzerin-Figuren in jeweils
gleiche Prozesse der Transformation von Sprache der Autorinnen fungieren, aber die
Lösungsansätze der Übersetzerin-Figuren, losgelöst von den Autorinnen jeweils andere
sind.

9
2 YOKO TAWADA

2.1 Theoretische Schriften

Yoko Tawadas theoretische Schriften umfassen die „Tübinger Poetik-Vorlesungen“, die


sie im Wintersemester 1997/98 an der Eberhard-Karls-Universität vorgetragen hat und
1998 vom Konkursbuch Verlag mit einem Nachwort des Komparatisten Jürgen
Wertheimer herausgebracht wurden, wie ihre Dissertation „Spielzeug und Sprachmagie in
der europäischen Literatur – eine ethnologische Poetologie“ (2000), die 1998 auf Antrag
von der Germanistin Sigrid Weigel an der Philosophischen Fakultät I der Universität
Zürich als Dissertation angenommen wurde (YT, SS, 2).
Wichtig für das Verständnis der Vorlesungen und der Dissertation ist der Begriff „Magie“,
der eine zentrale Stelle in Tawadas theoretischen Schriften einnimmt. Die
Begriffsdefinition entnimmt sie den Schriften Walter Benjamins, für den die Worte
„Magie“ und „Zauber“ einen Zustand bedeuten, in dem eine „andere“ Wahrnehmung
entsteht (vgl. YT, SS, 162). In ihren Poetik-Vorlesungen und explizit in ihrer Dissertation
beschäftigt sie sich mit dem Phänomen der aus der Wissenschaft zurückkehrenden Magie
in die Literatur am Beispiel literarischer Texte.

2.1.1 Tübinger Poetik-Vorlesungen


Die Vorlesungsreihe enthält drei Vorträge: „Stimme eines Vogels oder das Problem der
Fremdheit“, „Schrift einer Schildkröte oder das Problem der Übersetzung“ und „Gesicht
eines Fisches oder das Problem der Verwandlung“. Wir werden sehen, dass diese
theoretischen Auseinandersetzungen auch in ihren essayistischen Texten und in ihrer
Dissertation zu finden sind und somit Eckpfeiler ihrer Poetik darstellen.
Die leicht verblasste japanische Silbenschrift auf dem Einband der Publikation macht (für
Lesende ohne Japanisch-Kenntnisse) versteckt auf das Thema der Verwandlung und
Transformation aufmerksam. Wie auch Michiko Tanigawa (2010) bemerkt, bedeuten die
japanischen Worte auf dem Einband ins Deutsche übersetzt: Folter, Niesen, Kritisieren,

10
übermütig, Veröffentlichung, Biografie.1 Nachvollziehen kann man diese Verweise jedoch
erst in Zusammenhang mit dem angehängten Essay „E-Mail für japanische Geister“
(1998). In diesem macht Tawada auf ihre Verwendung zweier Schriftsysteme (Alphabet
und Silbenschrift) auf dem Computer aufmerksam.2 Manchmal, so Tawada, verwandle der
Computer dann willkürlich deutsche Umlaute in Kombination mit „f“ und „ch“ in
Ideogramme, welche dann Jubeln, Peinigen und Niesen bedeuten würden (YT, VL, 41).

2.1.1.1 Stimme eines Vogels oder das Problem der Fremdheit

Die erste der drei Poetik-Vorlesungen behandelt den Umgang mit fremden Stimmen und
Sprachen, nicht nur bei den Menschen, sondern auch im Reich der Tiere, der Zeichen und
des Körpers. Tawada vergleicht die Stimmen der Menschen mit jenen der Vögel, die
ebenso unterschiedliche Sprachen benutzen (YT, VL, 25). Die Vogelsprache ist deshalb
für sie herausragend, weil sie vor allem in der deutschsprachigen Literatur (u.a. E.T.A.
Hoffmann, „Der Ring der Nibelungen“) und Kompositionen oder in schamanischen
Theorien als mimetisch definiert wird. Dadurch, dass Tawada Sprache und Körper
zueinander in Verbindung setzt, zeigt sie wie Sprache über ihre scheinbaren Grenzen
hinausgehen kann. Es geht ihr nicht um die inhaltliche Ebene der Sprache, sondern um den
„Sprachkörper“, der ein Abbild von ihr darstellt (YT, VL, 25). Die Möglichkeit, mit dem
Körper Sprache zu erfassen, eröffnet den Eingang in eine neue Ebene des Verständnisses.
So kann, laut Tawada, weder der Vogel noch der Mensch die Sprache des Gegenübers je
verstehen, sondern nur nachahmen, aber gerade durch die „konzentrierte Nachahmung“
entsteht ein „klareres Abbild einer fremden Sprache“ (YT, VL, 22). Sigrid Weigel (1996)
nennt diese praktizierende Nachahmung Yoko Tawadas ein „literarisches Verfahren, mit
dem sie in der europäischen Zeichenwelt das darin verborgene und verlorene Mimetische
wieder entdeckt“.3

1
Tanigawa, Michiko: Performative Über-setzungen / über-setzende Performance. Zur Topologie der Sprache
von Yoko Tawada. In: PT, 355.
2
Vgl. hierzu: Kersting, Ruth: Essays im Vergleich. Botho Strauss’ „Anschwellender Bockgesang“ und Yoko
Tawadas „Verwandlungen“. In: Ethnizität und Geschlecht. (Post-)Koloniale Verhandlungen in Geschichte,
Kunst und Medien. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005, S. 218.
3
Weigel, Sigrid: Laudatio auf Yoko Tawada. In: Jahrbuch der Bayrischen Akademie der Schönen Künste,
11/1996, S. 375.

11
2.1.1.1.1 Fremde Stimmen und Sprachen
Ausgehend davon, dass sich jeder Mensch den gängigen Kommunikationsformen,
Stimmlagen und Sprecharten der Gesellschaft, in der er sich bewegt, anpasst, vertritt
Tawada, wie sie selbst anführt, den Standpunkt Julia Kristevas (vgl. „Die Chinesin. Die
Rolle der Frau in China“4), „dass in einer Sprache, in der der Tonfall eine
grammatikalische Relevanz hat, […] die gesprochene Sprache eine Beziehung zwischen
den Phasen vor und nach dem Eintritt in die kommunikative Sprache“ herstellt (YT, VL,
9). Der sich daraus ergebende Sprachrhythmus, der die „Erinnerung an den Leib der
Muttersprache“ enthält, wird demnach als Akzent in die Fremdsprache mitgenommen. Die
Sprache erhält somit für Tawada eine Art Körperlichkeit, „wenn sie von einer fremden
Zunge gesprochen wird“ (YT, VL, 9). Menschen, die von fremden Stimmen umgeben sind,
haben laut Tawada die Wahl sich völlig anzupassen (wobei sie vieles aufgeben) oder sich
auf die Fremde der eigenen Stimme und die fremde Sprache einzulassen. Für Tawada
unterbricht diese fremde Stimme zwar „die Melodie des gemeinsamen Gesprächs“, aber
eröffne dadurch „eine Lücke, die peinlich oder erfrischend sein“ kann (YT, VL, 10). Auch
Menschen, die ausschließlich in ihrer Muttersprache sprechen, besitzen jene fremden
Stimmen, da sich nach Auffassung Tawadas jede Stimme im Laufe des Lebens verändert
und verwandelt. Diese „Spannung zwischen Integration und Fremdheit der Stimme stelle
einen unvermeidlichen Teil der Sozialisation“ dar (YT, VL, 9). Wie Reiko Tachibana
(2007) feststellte und Christine Ivanovic (2008) weiter ausführte, nennt Tawada dieses
Heraustreten aus der Muttersprache „exophony“, gleich ihrem Buchtitel „Ekusofoni – bogo
no soto e deru tabi“5 (dt. Exophonie – Reisen aus der Muttersprache heraus).6 Prosaistisch
setzt Tawada dieses Phänomen zum Beispiel in der Erzählung „Von der Muttersprache zur
Sprachmutter“ (YT, TM 9–15) um. Die nicht muttersprachig Deutsch sprechende
Protagonistin wundert sich über das Wort ‚es’. Die deutschsprachigen Kolleg(inn)en
erklären ihr, dass dieses Wort nur eine „grammatikalische Lücke fülle und dieses „es“ gar
nichts bedeute“ und es ausschließlich dazu da wäre, das notwendige Subjekt des Satzes zu
füllen. Trotz dieses Erklärungsversuches macht sich die Protagonistin weiterhin Gedanken
über das, wie sie es nennt, „fleißig arbeitende es“ (YT, TM, 14). Gegenüber der eigenen

4
Kristeva, Julia: Die Chinesin. Die Rolle der Frau in China. Übersetzt von Anette Lallemand. (zuerst
Nymphenburger Verlag 1976). Frankfurt am Main: Ullstein 1982, S. 27ff.
5
Tawada, Yoko: Ekusofoni – bogo no soto e deru tabi. Tokyo: Iwanami Shoten 2003.
6
Tachibana, Reiko: Tawada Yoko’s Quest for Exophony: Japan and German. In: Slaymaker, Doug (Ed.):
Yoko Tawada. Voices from everywhere. Lanham [u.a.]: Lexington Books 2007, S. 153.

12
Muttersprache wird man blind und ist sich ihrer somit nicht mehr bewusst. Erst durch das
Heraustreten aus alten Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten der Sprache sehen wir
ihre Lebendigkeit und ihre Spalten.

2.1.1.1.2 Körperlichkeit der Sprache


Den Zugang zur Körperlichkeit der Sprache bekam Tawada nach eigener Aussage erst
durch die Fremderfahrung der deutschen Sprache. In ihrer Muttersprache war ihr vor allem
ihre Handschrift wichtig, da diese für sie „eine Reise in unbekannte Landschaften“ (vgl.
„Magische Oberflächen“) darstelle, die im Gegensatz zu Stimmen (die vom „Gesamtklang
der Gemeinschaft verschluckt“ werden) bindend ist und individuell bleibt (YT, VL, 10).
Das Beispiel einer Kunstperformance im Zuge derer der Künstler dasselbe Wort in einer
Endlosschleife wiederholt, zeigt Tawada, dass man zum Sprechen den ganzen Körper
braucht. Denn wenn dieser außer Kontrolle gerät beginnen die „einzelnen Körperteile ihren
eigenen Willen zu behaupten“. Es sei demnach ein „künstlerisches Experiment, eine
fremde Sprache zu sprechen und dabei die körperlichen Anstrengungen zu beobachten“
(YT, VL, 10). Experimentelle Sprache ist aber nicht nur Kunstzweck für Tawada, sondern
auch Schutzprogramm vor „Verbesserungsvorschlägen, psychologischen Ratschlägen,
pädagogischen Angeboten oder humanistischem Mitgefühl“, denen man ausgeliefert ist,
wenn man nicht muttersprachlich ist. Den Akt des Sprechens setzt Tawada mit dem Gefühl
der Angreifbarkeit und Verletzbarkeit gleich. Da es gesellschaftlich in Deutschland nicht
angesehen ist zu schweigen, weicht Tawada auf experimentelles Sprechen und Schreiben
aus. Christina Kraenzele (2007) nennt dieses experimentelle Schreiben Tawadas
„körperliche Transformation“, die vollzieht, wenn man von einer Sprache zur anderen
Sprache springt. Es verstärke das Bewusstsein des Sprechens, das mit körperlicher
Anstrengung verbunden ist.7

2.1.1.1.3 Vogelsprache in Literatur und Musik


Mit jeweils einem Textbeispiel von Paul Celan (Anfangszeilen des Gedichtzyklus
„Sprachgitter“)8 und E.T.A. Hoffmann („Das fremde Kind“) leitet Tawada wieder zum
Anfang der Vorlesung, zu den Vogelstimmen um. Die Stimmen der Vögel nehmen für

7
Kraenzle, Christina: Traveling without moving: Physical and Linguistic Mobility in Yoko Tawada’s
“Überseezungen”. In: Slaymaker: Yoko Tawada, S. 97.
8
Celan, Paul: Gesammelte Werke. Erster Band. Mohn und Gedächtnis. Von Schwelle zu Schwelle.
Sprachgitter. Die Niemandsrose. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 147.

13
Tawada in beiden literarischen Texten die Rolle der Natur gegenüber der Wissenschaft und
Vernunft ein (YT, VL, 12). In E.T.A. Hoffmanns Erzählung lernen Kinder durch das
Erlernen des Fliegens die Vogelsprache. Der Körper muss sich auf die gleiche
Bewegungsart einlassen, um die Sprache der „Fliegenden“ zu verstehen (YT, VL, 13).
Dies verweist auf die schon erwähnte Annahme Tawadas, Sprache sei etwas mit dem
Körper Verbundenes. Weiters verweist Tawada auf Richard Wagners „Der Ring der
Nibelungen“. Bekanntlich tötet Siegfried den Lindwurm und badet in seinem Blut, danach
versteht er die Sprache der Vögel. Ausgehend von diesem Beispiel zieht Tawada die
Verbindungslinie zum Schamanismus9, der besagt, dass man die Sprache der Vögel erst
dann erlernen kann, wenn man „von einer Schlange oder einem anderen als magisch
geltenden Tier ißt, weil diese von den Seelen der Toten bewohnt werden und Epiphanien
von Göttern sind“ (YT, VL, 19).10 Zugleich ist Tawada jedoch bewusst, dass
Schamanismus, Tier- und Vogelsprache in der Moderne kaum mehr einen „kulturell
anerkannten Ort“ haben. Die Körperlichkeit der Sprache, das was über ihren Inhalt hinaus
geht, findet wenig bis keinen Platz mehr und wird als „Abweichung der Normalität“
angesehen (YT, VL, 20).
Einen weiteren Bereich der Nachahmung entnimmt Tawada der Musik. Die meisten
Komponisten versuchen laut Tawada den Gesang des Kuckucks oder der Nachtigall
nachzuahmen und sich vor allem auf „mythologische Bilder der Vögel“ zu beziehen.
Anders jedoch beim Komponisten Olivier Messiaen, der in seiner Komposition „Catalogue
d´oiseaux“ verschiedene Vogelstimmen in Klaviermusik „transportiert“ hat. In Tawada
löse diese Musik eine unbekannte „starke Erinnerung“ aus. Es erinnere sie aber auf keinen
Fall an eine bestimmte Vogelstimme, weil die Komposition nicht authentisch klingt. Das
resultiere daraus, dass Vögel „in viel kleineren Intervallen singen, als Klaviertasten
wiedergeben können“. Olivier Messiaen hat versucht, die Vogelsprache nicht zu kopieren

9
Schamanismus ist das uralte religiöse Glaubenssystem der Bewohner/-innen Sibiriens und Innerasiens.
Zentrale Gestalt ist der Schamane (der Wissende), der symbolisch zwischen der Welt des Menschen und
einer Welt der Geister oder Seelen vermittelt. Bezüglich der Definition des Schamanen ist sich die
Wissenschaft nicht einig, sehr wohl aber über dessen klassisches Territorium: nördliche und zentrale Teile
Eurasiens zwischen Lappland und den koreanischen Halbinseln. Aus: Hoppál, Mihály: Schamanen und
Schamanismus. Augsburg: Pattloch 1994, S. 12.
Mircea Eliade unterscheidet zwischen folgenden Arten des Schamanismus: sibirischen, nord- und
südamerikanischen, indonesischen und ozeanischen Schamanismus. Aus: Eliade, Mircea: Schamanismus und
archaische Ekstasetechnik. (zuerst Editions Payot 1951). Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 1.
10
Vgl.: Ebd., S. 105.

14
(da dies nie gelingen würde), sondern „nachzuahmen“ und erreichte dadurch ein „Abbild“
(YT, VL, 20) der ihm unverständlichen „fremden“ Sprache.

Wenn ich deutsch spreche, komme ich mir manchmal vor


wie eine Komponistin, die in einem Wald steht und versucht,
die Musik der Vögel zu hören, zu notieren und
nachzuahmen. Wer mit fremder Zunge spricht, ist ein
Ornithologe und ein Vogel in einer Person (YT, LV, 21).

Ein Mensch, der eine fremde Sprache spricht, ist für Yoko Tawada immer zugleich
jemand, der die fremde Sprache erforscht und nachahmt, nie aber kopiert, da dies nicht
möglich ist. Man ist Betrachter/-in und Betrachtete/-r zugleich.

2.1.1.2 Schrift einer Schildkröte oder das Problem der Übersetzung


Beginnend bei der Auseinandersetzung und der Gegenüberstellung von gesprochener und
geschriebener Sprache sowie Buchstaben und Ideogrammen zieht Tawada über die
Körperlichkeit der Sprache und die „Schrift der Objekte“ die verbindende Linie zur
Übersetzung von literarischen Texten. Sie zeigt am Beispiel von Franz Kafkas Skizze
„Zerstreutes Hinschauen“11, dass es Texte gibt, die bereits im Original eine Übersetzung in
sich tragen (die oft erst durch den Akt des Übersetzens ersichtlich wird). Das heißt es liegt
eigentlich kein Original vor, da selbst der Akt des Schreibens schon eine Übersetzung „aus
einem Bereich, der nicht sprachlich aufgebaut zu sein scheint“, darstellt.12

2.1.1.2.1 Ideogramme und Alphabet im Vergleich


In diesem Teil der Vorlesung beschäftigt sich Tawada vor allem mit den Unterschieden
von Buchstaben und Ideogrammen. Es falle ihr schwer, beim Lesen eines deutschen Textes
ihre Aufmerksamkeit von den Buchstaben auf den Inhalt des Textes zu richten. Ihr Blick
richte sich vor allem auf den „Sprachkörper“ des Textes, wobei die Bedeutung der Wörter
unwichtig werden und ihr „als Gemälde“ erscheinen (YT, VL, 25). Tawada vergleicht
diesen Zugang mit Museumsbesuchen, bei denen sich die Sprache durch das Bild auflöse
und nicht, wie es die meisten versuchen, das Bild in Sprache zu übersetzen (YT, VL, 26).

11
Kafka, Franz: Erzählungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 15.
12
Klopfer, Alfred: „Also es gibt kein Original.“ Japanische Germanisten im Gespräch mit der Schriftstellerin
Yoko Tawada. In: OAG Notizen, 11/1998, S. 13.

15
Genauso verhält es sich bei ihr mit (chinesischen) Ideogrammen, sie übersetzt diese nicht
in „Sprachlaute“, sondern nimmt die Schriftzeichen als Bild wahr, um deren Bedeutung zu
verstehen (YT, VL, 27). Die japanische/chinesische Schrift zeichne sich für sie vor allem
auf der Bedeutungsebene aus. Es ist nicht notwendig, die Aussprache von jedem Zeichen
zu kennen, sondern dessen Bedeutung zu wissen, reicht vollkommen aus (YT, VL, 27). Sie
verweist auf den Umstand, dass es in Japan lange Zeit nicht akzeptiert wurde, moderne
Gedichte laut vorzulesen, da man die „kunstvolle Zusammenstellung der ausgesuchten
Schriftzeichen“ sprachlich nicht vermitteln könne. Für Tawada entspricht ein
Schriftzeichen einem „Bedeutungspaket“, das zu verschiedenen Zeiten immer wieder neu
analysiert und gedeutet werden kann, aber dessen Gestalt sich nie verändert. Auf ihre
literarischen Texte resultierend gibt Tawada an, dass die Verwendung von Wörtern wie
Vogel, Stein und Fisch nicht als Symbole oder Metaphern in ihren Texten zu lesen seien,
sondern als Schriftzeichen:

„Die Bildlichkeit der Schrift“ hat „nichts mit einem


konkreten Bild“ zu tun, sondern vielmehr mit „Erinnerung“
(YT, VL, 28).

Diese Erinnerungen sind als gemeinsame gesellschaftliche, vergangene kulturelle Rituale


und Mythen zu verstehen, die durch die Auseinandersetzung mit der eigenen und fremden
Kulturen wieder ins Gedächtnis geholt werden müssen, um die Bildlichkeit der Schrift
„lesen“ zu können. Geschieht dies nicht, bleiben manche Erinnerungen dem/der Lesenden
verborgen.13

Im Gegensatz zu Buchstaben ist der „Schriftkörper eines Ideogrammes“ (YT, VL, 30) für
Tawada nicht „rätselhaft“, weil „er zeigt, was er bedeutet“. Buchstaben hingegen
bezeichnet sie als „Rätsel“, da sie weder Zeichen sind, die für einen Signifikanten stehen,
noch Piktogramme oder Abbilder darstellen.

13
Darauf wurde ich von Christine Ivanovic im Laufe eines Gesprächs in Wien (2011) hingewiesen.

16
Man darf ihn nicht anschauen, sondern muß ihn sofort in
einen Laut übersetzen und seinen Körper verschwinden
lassen. Sonst wird er lebendig, springt aus dem Satz und
verwandelt sich in ein Tier (YT, VL, 30).

Tawada stellt den Buchstaben als „Einzelwesen“ in den Vordergrund, der von jeder
„Bedeutung frei“ und daher „unberechenbar“ ist. Nur durch Kombinationen von einzelnen
Buchstaben entstehen Wörter, die man wiederum in einzelne Buchstaben und Wortteile
zerlegen kann. Durch die Möglichkeit, Buchstaben vertauscht aneinanderzureihen kann der
„Sinn eines ganzen Satzes zerstört“ werden. Darin sieht sie die Möglichkeit, einen
magischen Prozess sichtbar zu machen, der von der Wissenschaft ausgeklammert wurde
(YT, VL, 30). Gleichzeitig sieht sie durch die willkürliche oder teilweise fehlerhafte
Aneinanderreihung einzelner Buchstaben in Wörtern eine „Unzuverlässigkeit“ und
„Unberechenbarkeit“:

Man schreibt ein B, es kann eine Blume daraus werden, aber


auch eine Bombe (YT, VL, 31).

Schriftzeichen hingegen verlieren ihren Sinn auch dann nicht, wenn sie
auseinandergerissen werden, obwohl Tawada auch in ihnen „Ungewissheit“ und
„Unlesbarkeit“ sieht (YT, VL, 32). Sie verweist auf die Entstehungsgeschichte der
Ideogramme, die von Fußspuren der Vögel inspiriert und auf Schildkrötenpanzern oder
Tierknochen geritzt wurden (YT, VL, 33). Daher erinnern Tawada Risse und Spalten an
Schriftzeichen. Auf Oberflächen von Gegenständen oder auf einem Feldweg entdeckt sie
Buchstaben, die sie als „Naturschrift“ bezeichnet (YT, VL, 33). Die Verkörperung des
Alphabets am eigenen Körper, aus dem Tawada auch Buchstaben herauslesen kann,
empfindet sie als „lebensgefährlich“, da der Körper demnach wie Wörter vom
„Auseinanderfallen“ bedroht ist (YT, VL, 33). Tawada sucht zum Beispiel auf ihrer
Handfläche den Buchstaben I oder C und nennt diesen Vorgang „Aus-der-Hand-Lesen im
wörtlichen Sinn“ (YT, VL, 33).

17
2.1.1.2.2 Literarische Übersetzungen
In diesem Teil der Vorlesung lässt Tawada die Themen Körperlichkeit der Sprache und
Schrift sowie die Nachahmung von fremden Sprachen zusammenfließen und behandelt die
Schwierigkeiten und das Wesen von literarischen Übersetzungen.

Eine literarische Übersetzung muß obsessiv der Wörtlichkeit


nachgehen, bis die Sprache der Übersetzung die
konventionelle Ästhetik sprengt. Eine literarische
Übersetzung muß von der Unübersetzbarkeit ausgehen und
mit ihr umgehen, statt sie zu beseitigen (YT, VL, 35).

Diese Aussage erinnert an den Begriff der „konzentrierten Nachahmung“ der ersten
Vorlesung, die zu einem „klaren Abbild einer fremden Sprache“ (YT, VL, 20) führt.
Literarisches Übersetzen ist demnach eine Nachahmung der Wörter und deren Bedeutung,
die nur annähernd ein Abbild der fremden (Original-)Sprache zeigen kann. Der Reiz einer
Übersetzung liegt für Tawada darin,

[…], daß sie den Leser die Existenz einer ganz anderen
Sprache spüren läßt. Die Sprache der Übersetzung tastet die
Oberfläche des Textes vorsichtig ab, ohne sich von seinem
Kern abhängig zu machen (YT, VL, 35).

Die Beschaffenheit eines Textes setzt sich demzufolge aus einer Oberfläche zusammen,
die aus Buchstaben oder Schriftzeichen besteht, und einem Kern, dem Inhalt, den Tawada
auch als unbeabsichtigten „Originaltext“ bezeichnet (YT, VL, 39). Anhand eines Absatzes
aus Franz Kafkas Skizze „Zerstreutes Hinausschauen“14 erklärt Tawada den
unbeabsichtigten „Originaltext“ wie folgt:

Was werden wir in diesen Frühlingstagen tun, die jetzt rasch


kommen? Heute früh war der Himmel grau, geht man aber
jetzt zum Fenster, so ist man überrascht und lehnt die Wange
an die Klinke des Fensters. Unten sieht man das Licht der

14
Kafka: Erzählungen, S. 15.

18
freilich schon sinkenden Sonne auf dem Gesicht des
kindlichen Mädchens, das so geht und sich umschaut, und
zugleich sieht man den Schatten des Mannes darauf, der
hinter ihm rascher kommt. Dann ist der Mann schon
vorübergegangen und das Gesicht des Kindes ist ganz hell.15

Obwohl dieser Text keine Übersetzung ist, erscheint er Tawada wie eine Übersetzung aus
dem Altjapanischen. Die Begriffe: „Sonne“, „Gesicht“, „Frühling“, „rasch“, „Schatten“,
„umschauen“ und „hell“ enthalten alle, wenn man sie in chinesische Ideogramme schreibt,
das Zeichen für „Sonne“. Tawada geht nicht davon aus, dass Kafka diese Ideogramme
gekannt hat, aber sie vermutet, dass „ein literarischer Text später seinen Originaltext
finden kann, aus dem er übersetzt worden sein könnte“ (YT, VL, 39). Für Tawada gibt es
bei literarischen Texten kein Original. Sie sieht in der ersten schriftlichen Fixierung eines
Textes schon eine Übersetzung eines „nichtexistenten Urtextes“, der in einer „Sprache, die
es nicht gibt“, entstanden ist.16

Das Schreiben ist zunächst einmal eine Übersetzung aus


einem Bereich, der nicht sprachlich aufgebaut zu sein
scheint, […]. Aber in diesem sprachlosen Bereich gibt es gar
nichts, das muß erst „erwachen“ […]. Und es erwacht nicht
von selbst, sondern es muß aus einer fremden Welt, von
fremden Richtungen darauf geblickt werden.17

Wie Hiltrud Arens (2007) feststellte liegt hier eine Gemeinsamkeit, aber auch eine
Differenz zu Walter Benjamins Auffassung von Übersetzungen18 vor. Tawada hat in ihrer
Dissertation „Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur. Eine ethnologische
Poetologie.“ (2002) selbst auf Walter Benjamin (vgl. YT, SS, 19) verwiesen, indem sie
unter anderem seine Auffassung vom Umgang mit Bilderbüchern zitiert und als Grundlage
ihrer These nimmt (vgl. YT, SS, 161). Benjamin sieht Bilderbücher als Oberflächen, in

15
Kafka: Erzählungen, S. 15.
16
Klopfer: „Also es gibt kein Original“, S. 13.
17
Ebd.
18
Walter Benjamin bezeichnete eine gute Übersetzung, eine, in der das Fremde der Sprache, als das Echo des
Originals liegt. Er geht also von einem Original aus, Tawada nicht. Aus: Arens, Hiltrud: Das kurze Leuchten
unter dem Tor oder auf dem Weg zur geträumten Sprache: Poetological Reflections in Works by Yoko
Tawada. In: Slaymaker: Yoko Tawada, S. 62.

19
welche die Kinder hineintreten und nicht aus denen z. B. die Märchenfiguren heraustreten.
Wichtig sei nicht der Inhalt des Buches, sondern dessen Oberfläche, die Benjamin die
„stille Fläche“ nennt (vgl. YT, SS, 161). Die „Stille“ ist hier gleichzusetzen mit dem
unsichtbaren, versteckten japanischen Schriftzeichen in Kafkas Worten, die den von
Tawada bezeichneten ungewollten „nichtexistenten Urtext“ zeigen und der nur dann
wahrgenommen werden kann, wenn man in die Oberfläche des Textes tritt.

2.1.1.2.3 Die Träume von der Schrift

Tawada setzt nun die These der Oberflächen von Texten fort, indem sie diese um die
Traumwelt erweitert. Auch den Traum versteht sie als Oberfläche, in dem sie
Schriftzeichen und Buchstaben erkennen kann. Die Frage „In welcher Sprache träumen
Sie?“ erscheint nicht relevant. Viel mehr müsse man fragen „In welcher Schrift träumen
Sie?“, denn eine Sprache müsse man sich laut Tawada nicht einverleiben, um mit ihr zu
träumen. Mit der Schrift hingegen verhalte es sich anders, diese brauche „lange, bis sie im
Körper sitzt“ (YT, VL, 39).
Yoko Tawada liest ihre Träume, indem sie die Sprache in Bilder übersetzt. So erkennt sie,
im Traum etwa eine „hügelige Trümmerlandschaft“, in der es heiß war und sie viele
Sorgen hatte, eindeutig als Deutsch, da „Kummer und Trümmer immer im Sommer“
kommen und „diese Wörter in der Mitte eine Reihe runder Hügel, die aus zwei „m“
bestehen“, haben (YT, VL, 39). Diese Herangehensweise erfordert ein Umdenken im
Umgang mit Buchstaben und des Denkens an sich. Der Traum ist die Oberfläche, die man
braucht um, wie Benjamin (vgl. YT, SS, 161) anhand von Bilderbüchern gezeigt hat, in die
„Stille“ des Textes einzutreten. Auf der Oberfläche entdeckt man Spalten und Ritzen, die
zu Schriftzeichen und Buchstaben werden, und in diesem Moment tritt der/die
Beobachtende in die Oberfläche ein. Die Sprache muss zuerst in die Schrift übersetzt
werden.

2.1.1.3 Gesicht eines Fisches oder das Problem der Verwandlung


In dieser Vorlesung setzt sich Tawada mit der Wandelbarkeit des „Ich“ in der Literatur
auseinander. Ausgehend von der sprachphilosophischen Frage, wo das Gesicht eines
Fisches beginnt und endet, schlägt sie die Brücke zu Ovids Metamorphosen und zeigt die
Wichtigkeit des Motivs der Verwandlung in der europäischen und japanischen Literatur,

20
die, so kritisiert sie, in der europäischen/westlichen Moderne durch den Begriff
„Identitätskrise“ abgelöst wurde.

2.1.1.3.1 Wo beginnt das Gesicht eines Fisches und wo endet es?


In dieser Vorlesung verweist Yoko Tawada auf die Erzählung „Einbahnstraße“ von Walter
Benjamin. Der Text zeigt, dass Benjamin den Körper als Medium begreift, der dazu dient,
die Sprache sichtbar zu machen. So zeige sich laut Benjamin die (Sammler)-Leidenschaft
nicht im Gesicht des Sammelnden, sondern sie zeige am Sammelnden ihr Gesicht (YT,
VL, 45). Tawada folgert daraus, dass das Gesicht kein Körperteil ist, sondern etwas, das
„sichtbar geworden ist“, darstellt (YT, VL, 45). Wiederum auf Benjamin verweisend
vertritt Tawada die These, dass auch Städte und Gegenstände mehrere Gesichter zum
Ausdruck bringen, wenn sie gelesen werden können (YT, VL, 46).

Als Physiognomiker liest Benjamin Gesichter von


Gegenständen, Traumbildern oder auch Architektur als
mehrdeutige Texte. Indem er diese beschreibt, verwandelt
sich die Dingwelt in literarische Texte (YT, VL, 47).

Vor allem in E.T.A. Hoffmann, den Benjamin in seinem Text „Das dämonische Berlin“
einen Physiognomiker (der Gegenstände sammelt, um deren Gesichter zu lesen) nannte,
sah er einen „Seher, der die dämonischen Gesichter der Stadt Berlin gelesen und sie auch
im Ausland bekannt gemacht hat“ (YT, VL, 47).

2.1.1.3.2 Der Spalt zwischen Gesicht und Ich


Tawada wendet sich in diesem Teil der Vorlesung der Magie zu, die sich in der Sprache
zeigen kann. Wieder führt sie vor, wie man aus seiner eigenen Muttersprache heraustreten
kann. Anhand des (menschlichen) Unvermögens, sinnliche Wahrnehmungen in Wörter zu
fassen, fragt Tawada, was der Satz „Ich rieche.“ bedeuten könne, wenn z. B. das Gehör die
Fähigkeit zu hören hat, aber der Geruch nicht die Fähigkeit zu riechen hat. Kommt nun der
Geruch von der Person, die ihn riecht, oder empfängt sie einen Geruch? Daraus folgernd
betritt sie nun den Spalt, der sich in der Sprache auftun und „Magie“ zu Tage bringen
kann:

21
Wenn das Gerochene der Geruch heißt und das
Geschmeckte der Geschmack, könnte das Gesehene das
„Gesicht“ heißen. Das, was ich an anderen Menschen sehe,
bezeichne ich als Gesicht (YT, VL, 48).

Für Tawada ist das Gesicht kein anatomischer fixierbarer Körperteil. Im Gesicht von
Gesprächspartner(inne)n sehe man seine eigene Unruhe und die rätselhaften Züge, die man
im Gesicht des Gegenübers sehen würde sind Spiegelungen des eigenen Ausdrucks (YT,
VL, 49). Kein Mensch, so Tawada, hat sein eigenes Gesicht je gesehen, außer im
Spiegelbild.

Ich weiß nicht, wie ich von außen aussehe. Von innen aber
habe ich mein Gesicht schon oft gesehen: eine schattige
Landschaft mit einem sumpfigen Wald und zwei gefrorene
Seen […] (YT, VL, 50).

Tawada benutzt nun die grammatikalischen Regeln der deutschen Sprache, um das Wort
„Gesicht“ zu einer Sinneswahrnehmung zu machen:

Als ich inmitten des Wortes „Gesicht“ das Wort „ich“


entdeckte, kam ich auf die Idee, daß das Gesicht die
Perfektform des Verbs „ich“ sein könnte: „Ich habe es
gesicht.“ (YT, VL, 50).

Eine Sinneswahrnehmung ist immer eine sich veränderte Variable, die nie fertig sein kann,
daher nennt Tawada ihr Gesicht ein „Skizzenbuch“, in dem mehrere Gesichter zu finden
sind (YT, VL, 50). Diese Verwandlung und Mehr(ge)sichtigkeit würde in Deutschland
nicht sehr positiv bewertet werden. Nach Tawadas Beobachtungen zufolge zeige man in
Europa nur böse Gestalten mit mehreren Gesichtern (YT, VL, 51). „Mehrgesichtigkeit“
würde mit Falschheit in Verbindung gebracht, wie der Ausspruch: „Da habe ich ihr/sein
wahres Gesicht gesehen!“ zeige. In Bezug zu Fremdheit ist das Thema „Gesicht“ für
Tawada kaum zu umgehen, denn erst die Erwartungen, die dem Reisenden oder Fremden
entgegengebracht und ins Gesicht eingeschrieben werden, machen ihn für die

22
„Einheimischen“ sichtbar, denn ohne die, so Tawada, würden sie wahrscheinlich
unsichtbar bleiben (YT, VL, 52).

2.1.1.3.3 Verwandlungen
Die letzte der Vorlesungen behandelt den Stellenwert der Verwandlung in der
europäischen und japanischen Literatur. Zu Beginn zeigt Tawada die Wandelbarkeit der
Begriffe anhand des Kapitels „Zur Entstehung der Welt“ von Ovids „Metamorphosen“.
Die (von Gott) gezogene Grenze zwischen Erde und Gewässer würde nur als „sprachliche
Leistung“ gesehen werden können, da man Wasser von Erde, materiell gesehen, nicht
trennen könne. Nur aufgrund der Begriffe glaube man, dass eine Trennung möglich sei.
Auch die Begriffe „Erde“ oder „Gewässer“ sagen, so Tawada, nichts über deren
Beschaffenheit aus. Nur die Differenz zu anderen Begriffen würde durch das Wort
beziehungsweise den Begriff aufgezeigt werden (YT, VL, 50).

Das Buch der Metamorphosen macht nur darauf


aufmerksam, daß die Definitionen fiktiv sind (YT, VL, 55).

Von der Wandelbarkeit der Begriffe geht Tawada nun auf die Verwandlungen in der
Literatur über und unterscheidet in europäischen Märchen zwischen zwei Arten der
Verwandlung: Ein Mensch, der sich unfreiwillig in ein Tier verwandelt. Und ein Tier, das
sich aus eigenem Willen in einen Menschen verwandelt (YT, VL, 57). In japanischen
Märchen komme noch eine Verwandlungsform hinzu: Tiere, die sich in Frauen
verwandeln, einen Menschen heiraten, sich wieder in ein Tier verwandeln und den
Menschen verlassen. Diese Art der Verwandlung wurde jedoch ihrer Einschätzung nach
verdrängt, einerseits wegen der Angst vor Sodomie und andererseits wegen der Angst vor
einer eigenen möglichen Verwandlung (YT, VL, 57). Sie verweist auf eine berühmte
Verwandlungsgeschichte des japanischen Schriftstellers Ueda Akinari19 (1734–1809). Aus
dieser wird für sie ersichtlich, dass sich ein/e Künstler/in in der leidenschaftlichen
Beschäftigung mit dem Modell identifizieren und zugleich distanzieren muss um produktiv
zu sein (YT, VL, 57–58). Entfällt die Distanzierung zum Modell droht die Verschmelzung
mit dem Sub- oder Objekt (der Künstler würde zum Karpfen werden). Vor allem die

19
Ueda, Akinari: Unter dem Regenmond. Ins Deutsche übertragen von Oscar Benl. Stuttgart: Klett-Cotta
1980.

23
Wissenschaft versuche (die Betonung liegt auf „versuche“), diese Distanz
aufrechtzuerhalten. Als radikalste Form der Wissenschaft sieht Tawada die Verwandlung
von Tieren in Menschen, um reden zu können. Diese entdeckte sie ansatzweise in den
Erzählungen Franz Kafkas „Forschungen eines Hundes“ und „Ein Bericht über eine
Akademie“20 (YT, VL, 59).
Bedauerlich für Tawada ist die Verdrängung des Begriffs „Verwandlung“ in das
„Modewort Identitätsverlust“, denn:

Poetische Verwandlungen bilden einen Raum zwischen der


Sehnsucht nach einer tödlichen Verwandlung in ein Tier und
dem Entsetzen über die Verwandlung in einen Menschen
(YT, VL, 60).

Es entsteht ein Raum zwischen sehnsüchtigem Tod (Kafkas Erzählung „Die


Verwandlung“) und Entsetzen (Kafkas Erzählung „Ein Bericht für eine Akademie“) – das
könnte unter anderem heißen, dass die poetische Verwandlung einen (utopisch) dritten
Raum oder eine Distanz darstellt, die zwischen zwei sich auslöschenden Sehnsüchten
stehen und somit Möglichkeiten für Lösungsexperimente bieten können.

2.1.2 Spielzeug und Sprachmagie. Eine ethnologische Poetologie

Yoko Tawada beschäftigt sich in ihrer Dissertation „Spielzeug und Sprachmagie in der
europäischen Literatur. Eine ethnologische Poetologie“, mit der sie 1998 bei Sigrid Weigel
im Fachbereich Neuere Deutsche Literaturwissenschaft promoviert hat mit dem Phänomen
der aus der Wissenschaft zurückgedrängten und in die Literatur wiedergekehrte Magie.21
Im folgenden Kapitel arbeite ich mit dem im Jahre 2000 im Konkursbuch Verlag
erschienen gleichnamigen Band. Die Begriffe „ethnologische Poetologie“ und „Schrift der
Objekte“ sind für diese Arbeit von großer Bedeutung, weil sie sich in den essayistischen
und literarischen Werken Tawadas weiterschreiben und wichtige Elemente für ihre Poetik

20
In letzterem Text ist der Ich-Erzähler ein Affe, der sich vom Forschungsobjekt (des Menschen) zum
Forscher (der Menschen) verwandelt.
21
Vgl. hierzu: Kersting, Ruth: Fremdes Schreiben. Yoko Tawada. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2006, S.
43.

24
darstellen.22 Wie Yoko Tawada selbst anführt (vgl. YT, SS, 19), ist die Arbeit stark von
Walter Benjamins23 (von ihr als „Magier der Sprache“ bezeichnet) sprachtheoretischen
Schriften und autobiografischen Beobachtungen geprägt.24 Spielzeug, vor allem Puppen,
nehmen in der Dissertation einen zentralen Punkt ein, da sie von Tawada als Schrift
(„Puppenschrift“) definiert werden. Tawada zeigt, dass durch die Lesbarkeit dieser Schrift
das Vorhandensein der Magie in literarischen Texten sichtbar wird. Als Textbeispiele, die
von ihr als Übersetzungen für jene Schrift gesehen werden, dienen E.T.A Hoffmanns
Märchen „Der Nußknacker und der Mäusekönig“ und „Das fremde Kind“ sowie Michel
Leiris’ Tagebuch „Phantom Afrika“, Prosatexte von Franz Kafka (u.a. „Blumfeld, ein
älterer Junggeselle“), Gustav Meyrinks „Golem“, Bruce Chatwins „Utz“ und Daniela
Hodrovás zwei Erzählungen aus der Trilogie „Cittá dolente“ („Das Wolschaner Reich“,
„Das Reich der Lüfte“).

Die Dissertation ist in sechs Kapiteln gegliedert. Im Vorwort erläutert Tawada den
Zusammenhang von Magie und Kunst und den Begriff „ethnologische Poetologie“. Die
Kapitel eins und zwei widmen sich den erwähnten Märchen von E.T.A Hoffmann in
Verbindung mit Überlegungen Sigmund Freuds („Der Nußknacker und der Mäusekönig“)
und Walter Benjamins Ansicht, Hoffmann habe die Dämonen der Gegenwart in die Geister
seiner Bücher gelegt (zum Beispiel in „Das fremde Kind“). Im dritten Kapitel zeigt Yoko
Tawada anhand ethnologischer Schriften vom Schriftsteller und Ethnologen Michel Leiris,
wie das Magische der fremden Kultur unbewusst ins Literarische transportiert wird. Franz
Kafkas Prosatexte, in denen Kreisel und Spielbälle eine zentrale Rolle spielen, werden im
vierten Kapitel behandelt. Walter Benjamin erhält im fünften Kapitel seinen Auftritt als
„Physiognomiker der Dingwelt“. Abgeschlossen wird die Arbeit mit der Vorstellung
literarischer Texte (u.a. Bruce Chatwins „Utz“, Daniela Hodrovás „Das Wolschaner
Reich“ und „Im Reich der Lüfte“), welche die „magische“ Stadt Prag als Schauplatz haben
und diese in einen literarischen Text verwandeln.

22
Die „Schrift der Objekte“ durchzieht zum Beispiel die Erzählung „Rothenburg ob der Tauber: Ein
deutsches Rätsel“ (YT, TM 28–38). Hier jedoch kann diese von den Protagonist(inn)en nicht entziffert
werden. Angewandte „ethnologische Poetologie“ findet man u.a. in der Erzählung „Talisman“ (YT, TM,
52–62).
23
Auch in „Erzähler ohne Seelen“ (YT, TM, 22) verweist Tawada auf Walter Benjamin.
24
Vgl. hierzu: Arens (2007), Gelzer (1999), Ivanovic (2008, 2010) und Matsunaga (2002).

25
2.1.2.1 Die Verortung der Magie
Tawada sieht in der klaren europäischen Trennung von Spiel/Arbeit, Erwachsene/Kinder,
spielerisch/ernsthaft, profan/sakral die Entstehung der Definition vom Begriff „Spielzeug“
im heutigen Sinn. Im Gegensatz zu heute sei Spielzeug früher oft noch mit magischen
Handlungen verknüpft gewesen und als magisches Objekt angesehen worden (YT, SS, 9).
Laut Tawada seien europäische Ethnolog(inn)en erst im Umgang mit fremden Kulturen auf
die starke Trennlinie Spiel/Arbeit oder Erwachsene/Kinder etc. in der eigenen Kultur
aufmerksam geworden. Die gleichzeitige Verwendung von ein und demselben Objekt als
Spielzeug und als etwas Heiliges (zum Beispiel eine Puppe, die mehr als nur eine Deutung
erhält) hat die europäische Ethnologie verwirrt. Aus dieser Verwirrung heraus, so Tawada,
folgerten sie, dass diese Trennlinie eine Besonderheit der europäischen Kultur sei und
übertrugen diese europäischen Unterscheidungen (profan/sakral, rational/mystisch,
natürlich/übernatürlich) unreflektiert auf fremde Kulturen (YT, SS, 10). Weiters erläutert
Tawada den Prozess, wie Magie aus allen Deutungsmustern gefallen ist und in keinerlei
Richtung mehr eingereiht wurde. Aufgrund der Trennung von „profan“ und „sakral“ sei
die Magie noch in die Nähe der Religion gebracht worden, aber als diese Trennung durch
den Gegensatz von Wissenschaft und Religion überlagert wurde, sei sie auch aus dieser
ausgeschlossen worden (YT, SS, 10.). Tawada geht nun auf die Diskussionen über die
Beziehung von Magie und Wissenschaft ein. Angefangen bei Evans-Pritchard, der die
Meinung vertrat, Magie und Wissenschaft beruhen auf der Beobachtung von
Ähnlichkeiten, nur ziehe die Magie die falschen Schlüsse daraus; über Malinowski
Bronislaw, der eine Neudefinition des Verhältnisses von Magie und Wissenschaft
unternahm. Er ging davon aus, dass die Magie im Unterschied zur Religion aus
Handlungen bestehe, die praktisch und wirksam sein sollten. Yoko Tawada zieht die
Schlussfolgerung, dass Magie in nichteuropäischen Gesellschaften eine Ergänzung zu
wissenschaftlichen Denkweisen bilde (YT, SS, 11). So würde die Magie in der Ethnologie
der Ort sein, von dem aus die Denkformen der Wissenschaft kritisch hinterfragt werden
können. Tawada schlägt nun ausgehend von Adornos und Horkheimers (in „Dialektik der
Aufklärung“) Auseinandersetzung mit Magie über die Mimesis25 eine Brücke zwischen der

25
Mimesis-Begriff von Walter Benjamin: „Fähigkeit in der Natur oder der Schrift Ähnlichkeiten zu
entdecken und zu deuten, oder im Tanz, im Ritual und mit Hilfe der Astrologie eine Beziehung zwischen sich
und der kosmischen Ordnung herzustellen.“ (Vgl.: Gelzer, Florian: „Wenn ich nicht spreche, bin ich nicht

26
Verwandtschaft von Magie und Kunst. Denn Tawada sieht innerhalb der europäischen
Moderne die Kunst als Ort, an dem die Mimesis wirksam geblieben ist.

Die Zauberei ist wie die Wissenschaft auf Zwecke aus, aber
sie verfolgt sie durch Mimesis, nicht in fortschreitender
Distanz zum Objekt (YT, SS, 11).

2.1.2.2 Ethnologische Poetologie


In Zusammenhang mit der rückkehrenden Magie in die Kunst sieht Tawada auch die
Literatur als Ort, in den die „abgewanderte Magie der europäischen Moderne
hineingewandert“ ist (YT, SS, 14). Deshalb fordert sie, Literatur in einem „größeren
kulturwissenschaftlichen Kontext“ zu betrachten und nicht wie üblich nach „Sprachen,
Gegenstandsbereichen und Gattungen“ getrennt und isoliert zu behandeln. Dies würde laut
Tawada nur dann gelingen, wenn man das ethnologische Modell (in dem Literatur,
Esskultur, Religion etc. außereuropäischer Länder in einem einzigen Fach behandelt
werden) auch auf die europäische Literatur übertragen würde. Im momentan
vorherrschenden Umgang mit Literatur sehe sie jedoch eine „Weigerung, abendländische
Kultur, Wissenschaft und Technik ‚ethnologisch’ zu betrachten“ (YT, SS, 14), denn auch
im Fach „Europäische Ethnologie“ würde man nur die Alltagskulturen, nicht aber die
moderne Literatur betrachten. Den Begriff „ethnologische Poetologie“ kann man als
Tawadas Aufforderung verstehen, Literatur nicht als grenz- und sprachorientiertes Fach zu
betrachten, sondern sich seiner Ganzheitlichkeit und zum Teil auch seiner
Unzugänglichkeit zu widmen.

Mein Begriff der „ethnologischen Poetologie“ ist in keinem


Fach zu Hause, wohl aber artikuliert er eine Sehnsucht und
eine Notwendigkeit – sie gelten einem entsprechenden Feld
des Wissens, in dem auch meine Untersuchungen zu
magischen Momenten in der Literatur weniger isoliert wären
(YT, SS, 14).

da“. Fremderfahrung und Sprachprogrammatik bei Yoko Tawada. In: Recherches Germaniques, 29/1999, S.
81).

27
Ausgehend von dieser Forderung erläutert Tawada nun ihre Theorie der rückkehrenden
Magie in die Kunst. Sie sieht vor allem im Spielzeug den Ort, an dem die Magie in der
Literatur wiederkehrt (YT, SS, 11). Tawada möchte die Texte, mit denen sie arbeitet,
jedoch nicht als „Forschungsobjekte“ verstanden wissen, da sie im Prozess der Textanalyse
in eine Sprache übersetzt werden, „in der sie auch mit theoretischen Texten
kommunizieren können“ (YT, SS, 14). Jetzt tritt Tawadas Prinzip der „ethnologischen
Poetologie“ in Kraft. Sie überträgt die Erkenntnisse der Ethnologie, die als längste
Tradition in der Diskussion des Themas Magie gesehen wird, auf die Literatur, um dadurch
„die magischen Aspekte der literarischen Texte stärker zu belichten“ (YT, SS, 14). Die
„ethnologische Poetologie“ ist demnach die Methode, Magie in der Literatur sichtbarer zu
machen beziehungsweise sie zu erkennen beziehungsweise (ethnologische, rituelle)
Erinnerungen, die in Objekten (zum Beispiel Puppen) stecken, wieder sichtbar zu machen,
weil sie im Lauf der Zeit „verloren“ gegangen sind.26 Im Kapitel XVIII der Erzählung „Wo
Europa anfängt“ (YT, EU, 83–84) trifft die Ich-Erzählerin in der sibirischen Eisenbahn auf
einen Jungen, der mit einer Matrjoschka-Puppe spielt, sein Vater schlägt der Ich-Erzählerin
vor, sich in Russland so eine Puppe als Souvenir zu kaufen, weil es ein „typisches
russisches Spielzeug“ ist. Die Erzählerin verweist nun (nur an die Lesenden gerichtet) auf
die Herkunft der Puppe, die Ende des 19. Jahrhunderts nach alten japanischen Vorbildern
in Russland hergestellt wurde, und überlegt welche japanische Puppe ein Vorbild für die
Matrjoschka sein könnte. Es fallen ihr die Kokeshi-Puppen ein, von denen ihre Großmutter
erzählt hat. In Japan gab es eine Zeit, in der manche Regionen so arm waren, dass die
Mütter ihre Kinder, mit denen sie sonst verhungert wären, gleich nach der Geburt getötet
haben. Für jedes getötete Kind wurde eine Kokeshi (dt. Kind-verschwinden-lassen)
angefertigt, um die Menschen immer daran zu erinnern, dass sie auf Kosten der Kinder
überlebt haben. Die Objekte dienen als Transfermittel von Vergangenheit in die Gegenwart
und sind Medium, die Erinnerungen wieder sichtbar zu machen.27

26
Vor allem in Tawadas Texten, die „Europa“ zum Thema haben, wird ihr Prinzip der „ethnologischen
Poetologie“ als kritische Reflexion sichtbar. Van Dijk (2008) bezeichnet es als „re-writing Europe“. Ivanovic
(2008) sieht in Tawadas Spiegelungen jeweils beider Systeme (Europa/Asien, Europa/Afrika, etc.) die
kritische Reflexion des eigenen Ursprungs.
27
Vgl. hierzu Tawadas Tübinger Poetik-Vorlesung „Schrift einer Schildkröte oder das Problem der
Übersetzung“, in der sie von der „Bildlichkeit der Schrift“ spricht. Sie verweist darauf, dass die Worte nicht
als Objekte zu lesen seien, sondern als „Erinnerungen“ (YT, VL, 28).

28
Anlehnend an Walter Benjamin und Michel Foucault geht Yoko Tawada vom Verlust der
Magie und deren Rückkehr aus und verweist auf Walter Benjamins „mystische Urszene“.28
Die von Benjamin benannte „Sprachmagie“ wird durch die Entstehung der menschlichen
Sprache, welche die nonverbale „Sprache der Dinge“ durch Erkennen und Benennen
artikuliert, abgelöst. Die magische Sprache wird instrumentalisiert, abstrahiert und ethisch
funktionstüchtig gemacht. Diese Ablösung nennt Benjamin den „Sündenfall“ der Sprache.
Seit diesem „Sündenfall“ enthalten nur mehr bestimmte Sprachen, wie z. B. die der Kunst,
Spuren der magischen Sprache (YT, SS, 15). Tawada folgert nun, dass der Verlust der
„Sprachmagie“ nicht nur die Sprache selbst betreffe, sondern auch die ethnologischen
Untersuchungen. Diese versuchen, getrieben durch die unbewusste Sehnsucht nach der
verlorenen Magie der Sprache, in fremden Gegenständen und Traditionen die Magie
wieder zu finden. Aus den fremden Figuren und Traditionen können sie, laut Tawada,
keine Schlüsse ziehen und die Sprache und Rituale würden ihnen verschlossen bleiben, da
sie die „Schrift der Objekte“, (z. B. „Puppenschrift“) nicht übersetzen könnten. Sie würden
nach einer „schriftlosen, paradiesischen Gesellschaft“ suchen, die es aber in
polytheistischen Traditionen nicht geben kann. Die ethnologischen
Tagebuchaufzeichnungen von Leiris rücken für Tawada, unabhängig von der
Beabsichtigung des Autors, in die Nähe des literarischen Schreibens. Vor allem dort, wo
die Texte versuchen „Magie zu beschreiben“, scheint es Tawada „unvermeidlich zu sein,
daß diese Magie als Sprachmagie eine literarische Wirkung“ zeige (YT, SS, 135). Als
Beispiel bringt sie eine Stelle aus Michel Leiris’ Tagebuch „Phantom Afrika
(1931–1933)“. Leiris dokumentierte den Versuch mit einem „Einheimischen“, Wörter in
beide Sprachen zu übersetzen. Leiris hat drei Steine, denen er jeweils einen Namen gibt
(Frau, Mann, Kind), mit der gleichen Anzahl von Steinen versucht er nun seinem
Gegenüber dessen Worte für die Bezeichnungen (Frau, Mann, Kind) zu entlocken. Der
„Einheimische“ nimmt den Stein für „Mann“, zeichnet eine Linie und lässt den Mann-
Stein diese entlangspazieren.29 Tawada übersetzt dies mit: Der Mann geht auf die Straße.
Der Ethnologe Leiris kann dies jedoch nicht deuten, da er „Schrift und Objekt nicht als
trennbare Elemente“ sieht (YT, SS, 112).

28
Diese besagt, dass in der verloren gegangenen magischen Sprache die Magie in ihrer Unmittelbarkeit liegt,
d. h. in ihrem vor- oder nichtmedialen Charakter (YT, SS, 15).
29
Leiris, Michel: Ethnologische Schriften. Band 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 85.

29
Ambibé Badadyi („Einheimische“) versteht, daß der Stein
eine Schrift ist, aber er versteht ihn nicht als phonetische
Schrift, sondern als Puppenschrift. Er bewegt den Stein wie
eine Puppe, er schreibt mit der Puppenschrift […] (YT, SS,
112).

Ebenfalls anlehnend an Benjamin sieht Yoko Tawada im Spielzeug die Kommunikation


der Dinge, die nicht verbal, sondern über ihre stoffliche Gemeinschaft läuft (YT, SS, 116).
Somit trage Spielzeug die Sprache der Dinge in sich, die für den Menschen erst in einer
Übersetzung lesbar wird. Tawada geht davon aus, dass literarische Texte diese
Übersetzungsarbeit leisten können. Vor allem jene der deutschen Romantik, wie zum
Beispiel von E.T.A Hoffmann.

2.1.2.3 Die Schrift der Objekte


Die erwähnte „Puppenschrift“ hängt eng mit der „Schrift der Objekte“ zusammen.
Ausgehend von Jacques Derrida, der die „bildliche“ Darstellung nicht in Opposition zur
„Schrift“ setzt, sieht Tawada in den Darstellungspraktiken Schriftcharakter. Allerdings nur
dann, wenn es sich dabei um „Schemata“, die Genealogie und soziale Struktur
beschreiben, handelt. Diese Sichtweise ermögliche Tawada die Vorstellung einer
„dreidimensionalen Schrift – zum Beispiel eine Schrift, die durch ein Objekt geschrieben
wird“ (YT, SS, 97). Hierzu führt Tawada ein Beispiel von Kakuzo Okakuras „Das Buch
vom Tee“ an. Hier vermittelt der Autor, dass die Realität eines Zimmers im leeren Raum
liegt und nicht im Dach oder in den Wänden selbst (YT, SS, 98). Diese Schrift, die nicht
aus geschriebenen Zeichen, sondern aus Gegenständen besteht, nennt Tawada die „Schrift
der Objekte“. Diese Schrift „wird von verschiedenen Menschen immer wieder neu
hergestellt“ und aus diesem Grund distanziere sie sich von Michel Foucaults „Schrift der
Dinge“, der darin eine von Gott geschriebene Schrift, die zu lesen Aufgabe des Menschen
ist, sieht. Für Tawada ist diese These nicht schlüssig, da sie auf einem monotheistischen
Konzept beruhe, nach dem Gott der Autor der Welt ist (YT, SS, 98).

Bei der „Schrift der Objekte“ ist nicht die Lektüre, sondern
das Schreiben vorrangig. Sie ist nie endgültig fertig, sondern
muß immer wieder neu geschrieben werden, weil sie nur im

30
wiederholenden Schreibakt sichtbar werden kann (YT, SS,
98).

Unter vielen verschiedenen Gegenständen bieten Tawada Puppen die beste Möglichkeit,
die „Schrift der Objekte“ zu schreiben, da sie fähig sind, eine „Genealogie oder eine
soziale Struktur darzustellen“. Puppen würden lebende und tote Menschen nachbilden,
diese typologisieren oder in eine bestimmte Konstellation einordnen können. Im Gegensatz
zu Buchstaben würden sie nicht den Namen eines Menschen beschreiben/festhalten,
sondern Physiognomie, Körpermerkmale und „äußerliche“ Merkmale einer sozialen
Gruppe (YT, SS, 98).
Die Schrift, deren „Schriftkörper“ aus Puppen besteht, nennt Tawada die „Puppenschrift“.
Als Beispiel führt sie indonesische Schattenfiguren an, die während des Spiels wie
Schriftzeichen auf der Leinwand (das an ein Blatt Papier erinnert) erscheinen, so als wären
sie mit schwarzer Tinte geschrieben (YT, SS, 99). Im Gegensatz zu ihnen halten die
japanischen Hinaningyo-Puppen, die jedes Jahr im März zum Mädchentag auf Stufen mit
durchdachter Reihenfolge aufgestellt werden, die alte gesellschaftliche Norm fest. Die
Reihenfolge der Position der Puppen zeige Tawada durch die Spiegelung der sozialen
Hierarchie deutlich den Charakter einer Schrift. Vor dem Mittelalter sei es üblich gewesen,
die Puppen aus gefaltetem Papier den Mädchen auf die Brust zu legen und dann mit einem
kleinen Boot dem Fluss zu übergeben – das sollte das Mädchen vor Unfall und Krankheit
schützen. Durch die Aufstellung der Puppen hätten diese zwar ihre magische Kraft
verloren, aber die „Puppenschrift bewahre in diesem Fall die Spur der verlorenen Magie“
(YT, SS, 100). Als europäisches Beispiel führt Tawada Zinnsoldaten an, die von den
Kindern bewegt werden können. Sie würden wie die Figuren der Weihnachtskrippe keine
vertikale Hierarchie zeigen, sondern haben den Mittelpunkt als wichtigsten topografischen
Platz (YT, SS, 101). Verweisend auf Roland Barthes, der in seinem Werk „Das Reich der
Zeichen“ die japanischen Bunraku-Puppen (Puppentheater) als Schrift interpretierte30,
zeigt Tawada die Diskrepanz zwischen Stimme und Schriftkörper, da die Puppen nicht so
wie Schauspieler/innen mit der Stimme an ihren Körper gebunden sind. Der/die
Sprecher/in sitze am Rand der Bühne, während die Puppen von Puppenspieler(innen)
gespielt würden (YT, SS, 102–103). Aber nicht nur die Bunraku-Puppen sind unabhängig,

30
Die Schrift des/der Sprechenden, die Schrift des/der Spielenden und die Schrift der Marionette.

31
die „Puppenschrift“ von Yoko Tawada will allgemein als eine unabhängige verstanden
werden, da die Puppen immer von anderen Personen beschrieben werden können. Ein
Mädchen zum Beispiel „schreibe“ mit der Puppe sein zukünftig erhofftes Leben nach,
während ein Erwachsener mit derselben Puppe die Götterwelt darstelle. Tawada sieht hier,
im Gegensatz zu vielen Ethnolog(inn)en, die den Gebrauch von ein und derselben Puppe
als Spielzeug (Kinder) und als Götterdarstellungen (Erwachsene) nicht nachvollziehen
können, keine Diskrepanz, da Kinderbücher auch mit den selben Buchstaben wie
Erwachsenenbücher geschrieben werden (YT, SS, 103). Auch in Daniela Hodrovás
Trilogie „Cittá dolente“31 (dt. „Die Stadt der Leiden)32 entdeckt Tawada die Rückkehr der
Magie in die Literatur durch die „Puppenschrift“. So stellt Hodrová laut Tawada in ihrem
Roman „u.a. eine historische Entwicklung dar, in der die für magische Praktiken
zuständige Institutionen und Gegenstände aus der Stadt verschwunden sind“. Der
veränderte Umgang mit magischen Puppen wird anhand einer Familiengeschichte über
drei Generationen hinweg beschrieben. Aber es würde nicht um den Verlust der Magie
getrauert werden, sondern Hodrová zeige, dass

[…] die Magie zwar durch die Zivilisation verdrängt wurde,


die sich am aufklärerischen Modell der Wissenschaften
orientierte, aber an anderen Stellen zurückkehrt: Einer der
wichtigsten Orte magischen Denkens in der europäischen
Moderne ist ohne Zweifel die Literatur (YT, SS, 226).

2.1.2.4 Magie der Oberflächen

Dieser Teil der Dissertation zeigt Verbindungen zu Tawadas Poetik-Vorlesungen, in denen


sie von der Möglichkeit Buchstaben oder Schriftzeichen auf Oberflächen (Feldweg,
Gesicht, Stadt) zu lesen spricht (YT, SS, 153–178). Oberflächen dienen als Medium,
Sprache sichtbar zu machen. In der Dissertation spielt sie diesen Gedanken weiter und

31
Cittá dolente ist im dritten Gesang von Dante Alighieris „Die göttliche Komödie“ die Hölle. Das Thema
„Cittá dolente“ wurde auch filmisch verarbeitet, so zum Beispiel in „La cittá dolente“ (1948) von Federico
Fellin und Mario Bonnard.
32
Die Trilogie konnte erst nach der politischen Wende von 1989 im Original erscheinen, obwohl das erste
Buch schon zwischen 1973 und 1978 und das zweite zwischen 1981 und 1983 geschrieben wurde (YT, SS,
228). Alle drei Teile wurden von Susanna Roth ins Deutsche übertragen und sind unter den Titeln: „Das
Wolschaner Reich“ (1992), „Im Reich der Lüfte“ (1994) und „Theta“ (1998) im Ammann Verlag erschienen.
Die Original-Titel lauten: „Podoboji“, „Kukly“ und „Théta“.

32
setzt Puppen als Oberflächen ein. Für Tawada ahmen Puppen den menschlichen Körper
(seine Oberfläche) nach, ohne Knochen und Eingeweide zu haben. Genauso verhalte es
sich mit Bilderbüchern, die eine Oberfläche nachahmen und die „radikale Form der Puppe“
darstellen. Tawada verweist auf Walter Benjamins Rundfunksendung „Berliner
Stadtspaziergänge“. In dieser Sendung erörtert Benjamin seine Vorlieben für
Papierspielzeug (Faltboot, Papierhelm, Einsteckbücher). Vor allem die Einsteckbücher
(mit verschiedenen Landschaften, Städten, Stuben, etc.) stellt er in den Vordergrund seiner
Beobachtung. Die verschiedenen Landschaften sind mit Ritzen und Spalten versehen, um
beiliegende Figuren, Möbel, Schiffe, etc. einschieben zu können (YT, SS, 154). Indem
Kinder durch Einschieben der Figuren in Ritzen und Spalten unterschiedliche Bilder
erzeugen, würden sie das Buch aktiv mitschreiben (YT, SS, 155). Die Ritzen und Spalten
weisen für Benjamin einerseits auf die Trennung von einer Seite auf eine andere hin und
andererseits auf die Möglichkeit, in eine andere Seite hineintreten zu können (YT, SS,
155). Tawada spricht in Anlehnung an Benjamin in der Poetik-Vorlesung „Schrift einer
Schildkröte oder das Problem der Übersetzung“ von Spalten und Ritzen, die sie als
Buchstaben und Schriftzeichen auf Oberflächen wahrnimmt (vgl. YT, VL, 32ff). Die
Magie wird hier greif- und sichtbar gemacht, denn wenn die Ritzen und Spalten einerseits
Trennung und andererseits Eingang zugleich sind, kann durch sie auf Oberflächen
geschrieben und gelesen werden. Jede Buchseite mit ihren Ritzen und Spalten, in denen
Buchstaben oder Schriftzeichen sichtbar und zu (Traum-)Landschaften werden, bieten eine
Oberfläche. Benjamin spricht bei diesem Prozess von einem „Hineindichten“ (YT, SS,
156). Er hat erkannt, dass Kinder durch das „Kritzeln“ auf Buchseiten eine zusätzliche
Schriftschicht herstellen, um die Fläche des Buches betreten zu können. Sie würden nicht,
wie Erwachsene annehmen, die Fläche zerstören, um einen Raum darunter oder dahinter
zu erreichen, sondern das „Kritzeln“ bezwecke, dass sie „auf der Fläche bleiben können“,
um diese wiederum zu verdichten (YT, SS, 156).

2.2 Die Poetik von Yoko Tawada

Als 2007 der Sammelband „Yoko Tawada. Voices from everywhere“ von Doug Slaymaker
herausgebracht wurde, wies Christine Ivanovic darauf hin, dass vor allem die europäische
Forschung der Ebene der Transformation in der Poetik Tawadas nicht gerecht wird, da

33
noch häufig in Kategorien von National- und Migrant(innen)literatur gedacht wird.
Daraufhin hat Ivanovic 2010 den Sammelband „Yoko Tawada. Poetik der Transformation.
Beiträge zum Gesamtwerk“ (PT) im Stauffenburg Verlag herausgegeben. Anliegen der
Herausgeberin war es, Beiträge aus germanistischer und japanologischer Perspektive zu
versammeln und eine repräsentative Darstellung und „erste Bilanz“ des zweisprachigen
Schaffens der Autorin zu schaffen. Von vornherein war klar, dass es nicht darum ging, die
Texte Tawadas einer Kategorie zuzuführen, sondern sie in deren Unzugänglichkeit zu
akzeptieren. Das Bewusstsein, nie das Ganze von Tawadas Schreiben verstehen zu können,
sei laut Ivanovic die Bedingung der Lektüre und die Basis von Tawadas Poetik. Durch
diese „Strategie“ Tawadas würden die Lesenden dazu aufgefordert werden, ihren „eigenen
Mangel an individueller, kultureller Kompetenz zu reflektieren“ (PT, 11). Tawadas Texte
bezeichnet Ivanovic daher als „poetologische Reflexionen“, die immer auch eine
„Problematisierung der Bedingungen der Möglichkeiten des Erzählens als
Selbstaussprache“ in sich tragen. Das Leitmotiv ihres Schreibens sei laut Ivanovic das
„emotionale Verhältnis zur Sprache“, das sich dem „nachlässigen, automatisierten
Sprachgebrauch“ verweigere (YT, TP, 10). Wie der Titel des Sammelbandes verrät, wird
Tawadas Poetik als Transformation (von einem zum anderen und wieder zurück)
wahrgenommen, die sich nicht allein auf Japan und Deutschland reduzieren lässt, sondern
Europa, Asien, Südafrika und Nordamerika ebenfalls miteinbezieht.33 Vielmehr handelt es
sich um Transformationen, die Tawada aus verschiedenen Kulturen, wissenschaftlichen
und künstlerischen Bereichen (z. B. Roland Barthes34, Walter Benjamin35) und
Autor(inn)en (z. B. Franz Kafka36, Johann Wolfgang von Goethe37) „entnommen“ hat.
Auch Kari van Dijk (2005) sieht in der Transformation und Verwandlung die Eckpfeiler
der Poetik von Yoko Tawada.38 Und Jürgen Wertheimer (1998) bezeichnet Yoko Tawada
im Nachwort der „Verwandlungen“ (1998) eine „diskrete postmoderne Schamanin der

33
Am deutlichsten sichtbar bei Yoko Tawadas Erzählband „Überseezungen“ (YT, ÜS).
34
Ette, Ottmar: Zeichenreiche. Insel-Texte und Text-Inseln bei Roland Barthes und Yoko Tawada. In: PT,
207–230.
35
Ivanovic, Christine: Exophonie und Kulturanalyse. Tawadas Transformationen Benjamins. In: PT,
171–206.
36
Bay, Hansjörg: A und O. Kafka – Tawada. In: PT, 149–170.
37
Ishihara, Aeka: Warum kann der Knabe die Rose nicht in der Natur belassen? Tawada und Goethes
Heidenröslein. In: PT, 113–124.
38
Dijk, Kari van: Lost in Translation – oder doch nicht? Zweisprachigkeit bei Herta Müller und Yoko
Tawada. In: Lebensentwürfe, Literatur- und filmwissenschaftliche Anmerkungen. Autoren im Kontext,
7/2005, S. 123.

34
dichterischen Rede“, die, wenn es eine „ostasiatische Kabbala“ gäbe, ihre „Meisterin“
wäre (YT, VL, 61–62).

2.2.1 Europa als Mythos


Ivanovic (2008) sieht anhand der Reflexionen von Tawada (geprägt von der Ästhetik der
Postmoderne) Europa betreffend nicht nur den Grund ihres Lebensmittelpunkts in
Deutschland, sondern auch die Reflexion „auf analoge Konstrukte der japanischen
Kultur“.39 So sehe Tawada Europa nicht als eine Zusammenkunft mehrerer Nationen,
sondern als einen „in Raum und Zeit weit ausgereiften Kulturraum, der ohne seine
Grundlagen kaum zu erfassen“ ist. Als Beispiel gibt Ivanovic Tawadas Hörspiel „Orpheus
oder Izanagi“40 (1998) an. Man sehe hier, dass Tawada zumeist durch „mehrfache
Spiegelung“, die „Einschreibungen synchroner und diachroner Art“ dekonstruierend, auf
beide Systeme (hier: Europa und Asien) Bezug nimmt und jeweils auch überschreite.41 Im
erwähnten Hörspiel kreuze Tawada die europäische Antike mit Figuren des japanischen
Altertums und liefere somit ein „ungewöhnliches Beispiel kultureller Differenzen“ und
eine „kritische Reflexion kultureller Aneignung“.42 Ivanovic verweist in ihrem Artikel auf
den Philosophen Karl Löwith43, der in seiner Schrift „Der europäische Nihilismus.
Betrachtungen zur geistigen Vorgeschichte des europäischen Krieges“ (1940) die Meinung
vertritt, dass sich im Gegensatz zur asiatischen die europäische Zivilisation vor allem
durch die „Aneignung“ der griechischen Antike und der Kritik gegenüber sich selbst und
dem „Anderen“ auszeichne, er bezeichnete dies als den „Geist der Kritik“. Tawada würde
nun durch ihre Aneignung der griechischen Antike diese Position Europas brechen.44 Auf
den „Geist der Kritik“ hätte Tawada, laut Ivanovic im Essay „Eigentlich darf man es
niemanden sagen, aber Europa gibt es nicht“ (YT, TM, 45–51), kritisch reagiert:

39
Ivanovic, Christine: Aneignung und Kritik. Yoko Tawada und der Mythos Europa. In: Études
Germaniques, 63/1, 2008, S. 134.
40
Tawada, Yoko: Orpheus und Izanagi. Tübingen: Konkursbuch Verlag 1998.
41
Ivanovic: Aneignung und Kritik, S. 134.
42
Ebd., S. 134–135.
43
1933 wurde ihm von den Nationalsozialisten die Lehrbefugnis entzogen; 1934 ging er nach Italien; 1936
nach Japan. Aus: Ebd., S. 136.
44
Ebd., S. 136–137.

35
Europa ist eine Meisterin der Kritik, und das macht eine
ihrer Eigenschaften aus. Wenn sie nicht kritisiert, so
verschwindet sie. Vor der Nicht-Existenz fürchtet sie sich
am meisten (YT, TM, 48).

Tawada beschreibt in diesem Essay die weibliche Figur der Europa als verloren gegangene
Figur, die niemand finden will und die durch ihren Verlust idealisiert wird (YT, TM
48–49). Für Tawada ist Europa jedoch nicht verloren gegangen, sondern bereits im
Ursprung als eine Verlust-Figur erfunden worden (YT, TM, 49). Für Ivanovic ist hier
Tawadas Kreuzung von „Verlustangst und Geschlechterproblematik“ von Interesse, da sie
das Problem des Blicks und der Sprache hinsichtlich „Anwesen- und Abwesenheit“, das
wiederum das „Andere“ als „Objekt des Anschauens oder die Rede über geschlechtliche
Kodierung“ erzeugt, thematisiere.45
Ein weiterer wichtiger Punkt in Bezug zu Tawadas Reflexionen über Europa ist für
Ivanovic die thematisierte „Fremde“. So werde die Fremdheit Europas bei Tawada auch
ihre eigene und darüber hinaus auch eine Frage nach den „bestimmenden Systemen der
Fremde und des Anderen“. Die Suche nach der eigenen Identität verknüpfe sich mit der
Frage nach den „Bedingungen von Identitäts- und Differenzkonstruktionen“ und demnach
sei die Perspektive auf Europa bei Tawada eine „mythische Begegnung zum Ursprung“.46
Tawadas Erzählband „Wo Europa anfängt“ (1991) verweise alleine durch sein
Erscheinungsbild (die Abbildung vom Mythos von Aktaion und Artemis zieht sich durch
das gesamte Buch) auf dessen „poetologische Bedeutung“ und die Schreibstrategie
Tawadas, die eine „unterschiedliche Fokussierung der Perspektive“ innehat.47 Diese
Spiegelung und Dekonstruktion diachroner Systeme, die Tawada anwendet, erinnert an
den von Shimada (1997) erwähnten japanischen Wissenschaftler namens Minikata
Kumagusu (1867–1941), der sich als einer der Ersten mit der eurozentristischen
Ausrichtung der entstehenden Wissenschaften auseinandergesetzt hat.48 Er kam durch sein
überaus reichhaltiges enzyklopädisches japanisches und chinesisches Wissen auf den
Mangel der europäischen Wissenschaft, Mythen allein als Ausdruck der Geisteswelt der

45
Ivanovic: Aneignung und Kritik, S. 149.
46
Ebd., S. 138.
47
Ebd., S. 139.
48
Shimada, Shingo: Zur Asymmetrie in der Übersetzung von Kulturen: das Beispiel des Minakata-Schlegel-
Übersetzungsdisputs 1897. In: Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Übersetzung als Repräsentation fremder
Kulturen. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1997, S. 263.

36
jeweiligen Kulturen zu sehen und nicht in Zusammenhang mit dem zu Erforschenden.
Durch die wechselseitigen Beziehungen der Sagen und Erzählungen verschiedener
Kulturen entdeckte er die „Verbindungslinien zwischen dem Eigenen und dem Fremden
und überwand die orientalisch-eurozentristische Dichotomie“. Er bekam die Vorstellung,
dass die „europäischen und asiatischen Kulturen durch Übersetzungsprozesse von alters
her verbunden gewesen waren“.49 Vor allem im brieflich geführten Streit zwischen
Minakata und dem Sinologen Gustav Schlegel (1840–1903) zeige sich, so Shimada, die
europäische geistige Situation des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sie ist geprägt vom
asymmetrischen Verhältnis zwischen Okzident und Orient und betrachte daher die
Übersetzung von Kulturen als eine „Überbrückung zwischen dem Fremden und dem
Eigenen“. Die Vorstellung, dass das Eigene ebenso im Fremden zu finden ist, komme erst
gar nicht auf.

Kari van Dijk (2008)50 sieht in Tawadas Texten, die sich auf Europa beziehen, eine
kritische Neuschreibung (re-writing) eines Europas, wie es ist und wie es sein könnte,
wenn es zu einer Erschaffung einer „Eurasien voice“ kommen würde. Van Dijk hebt vor
allem das „Ankommen“ (arrival) in Eurasien und in die eurasische Stimme hervor, die sie
als eine Relativierung und Bereicherung in Bezug zum Europabild sieht. Tawadas Texte
hätten in diesem Zusammenhang eine wichtige poetische und linguistische uneuropäische
Sichtweise, die einlädt, Europa neu zu überdenken und zu erdenken.51

Florian Gelzer (1999) versteht Tawadas Texte, die Bezug auf Europa nehmen, als
„Transformation von Heimat und Fremde“, die „programmatisch“ für ihre weiteren Werke
ist.52 Anders als van Dijk und Ivanovic beschränkt er sich vor allem auf inhaltliche
Momente dieser Programmatik.

49
Shimada: Zur Asymmetrie in der Übersetzung von Kulturen, S. 263–266.
50
Dijk, Kari van: Arriving in Eurasia: Yoko Tawadas Re-Writing Europe. In: Bemon, Nele (Ed.): Re-
thinking Europe: literature and (trans)national identity. Amsterdam: Rodopi 2008, S. 163–175.
51
Van Dijk: Arriving in Eurasia, S. 164.
52
Gelzer: „Wenn ich spreche, bin ich nicht da“, S. 68.

37
2.2.2 Übersetzung
Tawadas eigenen Aussagen zufolge stellt die Erfahrung und Auseinandersetzung mit
literarischem Übersetzen eine wichtige Position in ihrem Schreiben dar. So finden sich in
den Poetik-Vorlesungen „Verwandlungen“ (1998) wichtige thematische Bezugspunkte auf
Tawadas Umgang mit literarischen Übersetzungen, die für sie niemals von einem Original
ausgehen, da, wie bereits erwähnt, Schreiben für sie schon eine Übersetzung aus einem
nicht sprachlichen Bereich darstellt.53 Wie wir in der Poetik-Vorlesung „Schrift einer
Schildkröte oder das Problem der Übersetzung“ (YT, VL, 25–40) gesehen haben, gibt es
für Tawada ein kommunikatives (sinngemäßes) und literarisches Übersetzen:

Eine literarische Übersetzung muß obsessiv der Wörtlichkeit


nachgehen, bis die Sprache der Übersetzung die
konventionelle Ästhetik sprengt. Eine literarische
Übersetzung muß von der Unübersetzbarkeit ausgehen und
mit ihr umgehen, statt sie zu beseitigen (YT, VL, 35).

Vor allem durch die Essays54 über die Gedichte von Paul Celan mit dem Schwerpunkt
Übersetzung, und der Übersetzung ihrer eigenen Texte, vor allem von Peter Pörtner55
wurde Tawada der Reiz von Übersetzungen bewusst, der darin liege, den Lesenden die
„Existenz einer ganz anderen Sprache spüren“ zu lassen (YT, VL, 36).

[…] Denn ich schrieb damals Gedichte in Japanisch, ohne zu


wissen, was ich eigentlich damit ausdrücken wollte, ich
wusste ja nur, daß der Text und Stil so sein mußte, wie ich
schrieb. […] Nachdem das Gedicht ins Deutsche übersetzt
war, glaubte ich plötzlich verstanden zu haben, worauf ich
mit dem Gedicht gezielt hatte.56

53
Klopfer: „Also es gibt kein Original“, S. 13.
54
„Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch“ (YT, TM, 121–134); „Rabbi Löw und 27 Punkte“
(YT, SP, 38–44); „Die Krone aus Gras“ (YT, SP, 63–84).
55
Peter Pörtner hat die meisten Bücher von Tawada übersetzt: Teile aus „Wo Europa anfängt“ (1991); „Das
Bad“ (1989); „Buch im Buch“ in „Talisman“ (1996); Drei Geschichten in „Tintenfisch auf Reisen“ (1994);
„Aber die Mandarinen müssen heute Abend noch geraubt werden“ (1997); „F die Geisha“ (1999). Aus:
Matsunaga, Miho: „Schreiben als Übersetzung“. Die Dimension der Übersetzung in den Werken Yoko
Tawadas. In: Zeitschrift für Germanistik, 3/2002, S. 546ff.
56
Subaru (Literaturzeitschrift), März 1997, S. 86 (aus d. Jap. übers. v. Miho Matsunaga). Aus: Matsunaga:
„Schreiben als Übersetzung“, S. 533.

38
Wie Miho Matsunaga (2002) im Anhang ihres Aufsatzes auflistet, gibt es einige Werke
Tawadas, die zwei Fassungen haben, da die Autorin sie in zwei Sprachen verfasst hat. Es
handelt sich, anlehnend an Matsunaga, um „Partnertexte“. Die japanische Fassung, so
Matsunaga, ist zumeist länger als der deutsche Partnertext, da mehr Figuren darin
auftauchen und deren Lebensumstände näher beschrieben werden. Manche Texte
verwandeln sich von einem japanischen Roman zu einem deutschen Theaterstück.57 Miho
Matsunaga arbeitet in ihrem Aufsatz „Schreiben als Übersetzung. Die Dimension der
Übersetzung in den Werken von Yoko Tawada“ die Rolle der Übersetzerinnen
beziehungsweise Dolmetscherinnen in einigen von Tawadas deutsch- und
japanischsprachigen Werken heraus. Matsunaga zeigt, dass die Übersetzerin- bzw.
Dolmetscherin-Figuren immer an den Rand gedrängt werden und sich an der Grenze von
zwei sich fremden Welten befinden. Oft sind sie dazu gezwungen, in diesem Grenzgebiet
zu verweilen. So besitze die fremde Sprache für Tawada eine eigene Autonomie, die als
Fremdheit in die Welt der Übersetzerin eindringe. Für die Übersetzerinnen sei es nicht
möglich, die Fremde zu beherrschen oder zu zähmen, und so bleibe ihnen nichts anderes
übrig, als sich dieser Fremdheit auszusetzen und sich mit ihr auseinanderzusetzen.58 In
Matsunagas Aufsatz wird ersichtlich wie Tawada theoretische Erkenntnisse ins literarische
Schreiben einfließen lässt und durch poetische Verarbeitung der Theorie in ihrem
Schreiben ersichtlich macht. Es wird ersichtlich wie die Übersetzung ein Prozess von
Tawadas bilingualem Schreiben ist, das den Text nicht im herkömmlichen Sinn übersetzt,
sondern transformiert und umdichtet.59

Keijiro Suga (2007), selbst Übersetzerin, beschäftigt sich mit der Frage, was Übersetzung
mit literarischem Schaffen gemein hat und benutzt den Begriff „Translation poetics“.
Darunter versteht sie, dass unter dem Einfluss des fremden Originals der übersetzte Text
mit „half-meanings“ beladen ist, welche die Varianten der gebräuchlichen
Sinnmäßigkeiten der Begriffe und Wörter zeigen würden.60 In der Praxis der Übersetzung
stehe der/die Übersetzer/in immer zwischen zwei Extremen: „literalness“ (wie viel man
von dem „Fremden“ im Text lässt) und „naturalness“. Was für Suga Keijiro die poetische,

57
Matsunaga: „Schreiben als Übersetzung“, S. 540.
58
Ebd., S. 540.
59
Vgl.: Arens, Hiltrud: Das kurze Leuchten unter dem Tor oder auf dem Weg zur geträumten Sprache:
Poetological Reflections in Works by Yoko Tawada. In: Slaymaker: Yoko Tawada, S. 60.
60
Suga, Keijiro: Translation, Exophony, Omniphony. In: Ebd., S. 23.

39
literarische Sprache ausmache, seien dessen Abweichungen und die darin systematisch
liegende Möglichkeit der Wortwahl. Die Übersetzung zeige solche Möglichkeiten auf und
sei somit eine Quelle für eine radikale neue Poesis.61

Literary creation is a revolution within an accepted boundary


of language. Translation is a part of such creation but it flies
with borrowed wings. The wings are borrowed from the
original text that inhabits another language.62

Keijiro führt als Beispiel Tawadas Text „Arufabetto no kizuguchi“ (dt. die Alphabetwunde
oder die Wunde im Alphabet)63 an und hebt vor allem die Gesichtspunkte der
Befindlichkeiten der Übersetzerin mit Originaltext und Übersetzung hervor. Für sie stellt
vor allem die Enthüllung der Wirklichkeit, die Thematisierung und die Mechanismen der
Übersetzungsarbeit, die in diesem Text ersichtlich werden, den Reiz der Erzählung dar.64

Andrea Krauß (2002) bezeichnet den Erzählband „Talisman“ (1996) als „Buch der
Übersetzungen“. Schon von außen verweise das Buch durch blau gefärbte Seitenrücken
auf das in der Mitte des Buches befindende „Buch im Buch“ mit Titel „Wörterbuchdorf“.
Es ist ein von Peter Pörtner übersetzter Text von Yoko Tawada. Auf der Parallelseite zum
deutschen Text befindet sich ein Japanisch geschriebener Text, der jedoch, laut Krauß, ein
ganz anderer Text zu sein scheint, als der Deutsch geschriebene. Er unterscheide sich in
Sprachrhythmus, Vokabular und Syntax wesentlich von dem deutschen Text. Es erscheine
Krauß auch so, dass der Text von mehreren Autor(inn)en geschrieben wurde oder von
einer vielstimmigen Autorin, die auf Japanisch ganz anders schreibt als auf Deutsch, oder
von einem Übersetzer, der ihren Worten seine eigenen „einbaut“. Das Original scheint sich
in diesem Prozess verflüchtigt zu haben.65 Tawada entwerfe ein „Übersetzungsmodell, das
im Modus der Verwandlung“ stehe. Krauß verweist hier, am Beispiel des Essays „Das Tor
des Übersetzers oder Celan liest Japanisch“ (1996) auf die uns schon bekannte Theorie

61
Suga: Translation, Exophony, Omniphony, S. 23.
62
Ebd., S. 25.
63
In der englischen Übersetzung betitelt mit: „Saint George and the Translator“ (YT, SG, 109–186).
64
Suga: Translation, Exophony, Omniphony, S. 26.
65
Krauß, Andrea: „Talisman“ – „Tawadische Sprachtheorie“. In: Blioumi, Aglaia (Hg.): Migration und
Interkulturalität in neueren literarischen Texten. München: Iudicium 2002, S. 62.

40
Tawadas, dass es kein Original eines Textes gäbe und dass im Zuge einer Übersetzung ein
neuer Text(-körper) sichtbar werde, der zuvor nicht beabsichtigt und oder sichtbar war.

Eine weitere Form der Übersetzung bei Tawada ist die von ihr selbst benannte
„Transkription der Übersetzung“ (YT, AG, 41), die sie in Form des Gedichtes „Die Flucht
des Mondes“ (2011) sichtbar gemacht hat. Ivanovic hat das Gedicht im Konservatorium
„Exophone Literatur als Provokation der Literaturwissenschaft“66 vorgestellt. In diesem
Gedicht verwendet Tawada gleichzeitig chinesische Ideogramme und phonetische Schrift.
Sie benutzt dabei die deutsche Grammatik und zeigt dass man mit dieser „Mischmethode
auch deutsch schreiben kann“ (YT, AG, 41). Nicht-Japanisch sprechende Leser/innen
können dem Text nicht folgen, Japanisch sprechende und gleichzeitig nicht-Deutsch
sprechende Leser/innen sehr wohl. Es handelt sich hier nicht um eine Übersetzung des
Sinns, da nicht genau die Schriftzeichen für Wörter verwendet werden, die in Japan üblich
sind, sondern Tawada hat hier sinntragende Worte genommen und durch Schriftzeichen
ersetzt. Es handelt sich um eine Übersetzung der Schrift, also um eine Überschreibung.

Tawadas Texten ist in Bezug zur Übersetzung auch immer ein Hinweis auf das
Machtverhältnis der Sprachen implizit. Shimada (1997) verweist in seinem Artikel auf die
Problematik des von Claude Lévi-Strauss (1960) formulierten Übersetzungsgedanken, dass
fremde Kulturen übersetzt werden müssen, um sie zu verstehen. Shimada sieht darin einen
Trugschluss, da hier von der Existenz des Fremden als Objekt ausgegangen wird, wodurch
dieses zum Schweigen gebracht wird.67 Durch die oben erwähnte poetische
Herangehensweise Tawadas in Bezug auf den Mythos Europa versucht sie genau diesen
Punkt sichtbar zu machen, dass das Eigene auch immer im Fremden zu finden ist und dass
daher Übersetzung nicht gleichzusetzen ist mit Aneignung oder Ermächtigung und kein
Machtverhältnis sein muss, dies aber in der europäischen Wissenschaft lange mitgetragen
wurde. Tawada hinterfragt in ihrer poetischen Übersetzungsstrategie nicht nur die
Grundlagen der „fremden“, sondern zugleich auch immer jene ihrer „eigenen“ Sprache.

66
Gehalten im Wintersemester 2010/11 am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft an der
Universität Wien.
67
Shimada: Zur Asymmetrie in der Übersetzung von Kulturen, S. 260.

41
2.2.3 Verwandlung und Mimesis
Nicht zuletzt der Titel der Tübinger Poetik-Vorlesung „Verwandlungen“ (1998) lässt
vermuten, dass diese bei Yoko Tawadas Poetik einen hohen Stellenwert einnehmen. Auch
ihr Erzählband „Opium für Ovid“ (2000) zeigt, dass es sich hier um ein poetisches
Konzept handelt. In den Poetik-Vorlesungen (1998) zeigt sich die Vielfältigkeit der
Verwandlungen in Form der Muttersprache in eine fremde Sprache als Nachahmung,
welche Tawada mit den Stimmen, der Sprache der Vögel vergleicht (YT, VL, 7–22). Auch
die Schrift ist bei Tawada einer Verwandlung unterzogen, da sie diese auch als „Schrift der
Objekte“ (anlehnend an Walter Benjamin) liest und sich Buchstaben in Landschaften
verwandeln können und umgekehrt (YT, VL, 25–40). In der dritten Poetik-Vorlesung
„Gesicht eines Fisches oder das Problem der Verwandlung“ ist das Gesicht ein sich immer
wieder verändertes Gefäß, das von seinem Träger, seiner Trägerin immer nur in der
Spiegelung gesehen wird (YT, VL, 45–60).

Für Kari van Dijk (2005) entspricht Tawadas Prinzip der Verwandlung einem
„Subjektivitätsentwurf“, der die Vorstellung einer einheitlichen (menschlichen) Identität
grundsätzlich problematisiert. Das würde auch für den Hinweis in ihrer Poetik-Vorlesung
„Gesicht eines Fisches oder das Problem der Verwandlung“ (1998) auf die Fiktion der
Definitionen in Bezug auf Ovids Beginn der „Metamorphosen“ gelten. Für van Dijk bringt
die Fiktion der Definition auch die Aufhebung der sprachlichen Konstituierung eines
definitionsmäßig fixierbaren „Ich“ mit sich. Zusätzlich stelle dann jede Subjektivität schon
eine Transformation dar.68

Yasemin Yildiz (2007) spricht von einem „refinding the Subject“ und bezieht sich vor
allem auf die Erzählung „Eine leere Flasche“ (2002). Die Erzählung bringe das
Gendersystem Japans zum Ausdruck. Die japanische Erzählerin erklärt den nicht-japanisch
sprechenden Lesenden von der Unterschiedlichkeit des Selbstausdrucks bezüglich
Geschlecht und Alter. So gäbe es für das Wort „Ich“ im Japanischen mehrere
Zuschreibungen: Junge Mädchen verwenden „atashi“, junge Jungen „boku“, die älteren
Jungen „ore“, daneben gibt es ein ungeschlechtliches „watashi“. Kinder würden so im
frühen Alter geschlechtlich präzise eingeordnet werden und erst im Erwachsenenalter die

68
Van Dijk: Lost in Translation – oder doch nicht?, S. 123.

42
gender-neutrale Bezeichnung für sich beanspruchen. Im Kurzroman „Das Bad“ (1989)
erzählt die japanische Protagonistin von ihrer Schwierigkeit als Kind sich einem
Geschlechter-gebundenen „Ich“ unterordnen zu können – das gefühlte Geschlecht sei nicht
mit den Worten „atashi“ oder „boku“ zu vereinen gewesen. In Europa wurde das Wort
„Ich“ (das weder auf Geschlecht noch auf Alter der Person hinweist) zum Lieblingswort
der Protagonistin. Dies stellt für Yildiz jedoch kein Entweder-Oder dar, sondern der Reiz
dieser Neufindung des „Ich“ setze beide Systeme (japanische und deutsche Grammatik)
und dessen Wirkungsweise voraus.69
Hier setzt Clara Ervedosa (2006) an, die in Tawadas Schreiben eine
„Verfremdungstechnik“ sieht, die das „(Un-)Bekannte ver-frem-den soll, sodass nicht nur
der kulturell Fremde, sondern auch das Eigene als fremd erscheinen kann“. Alterität ist
somit laut Ervedosa bei Tawada keine umrissene kulturelle Größe mehr, sondern eine
„anthropologische Konstante und eine Relationskategorie in der Literatur“.70
Sabine Fischer (1997) sieht in Tawadas weiblichen Figuren Traumfiguren, die sich als
„widersprüchliche, wandelbare Subjekte“ darstellen, deren Verhaltensweisen sich nicht mit
gängigen Theorien erfassen lassen.71 Sie hebt vor allem die Protagonistin im Kurzroman
„Das Bad“ (1989) heraus, deren Körper sich im Laufe der Erzählung ständigen
Metamorphosen unterzieht.
Die Verwandlung beziehungsweise die Metamorphose sind der Aneignung, aber auch der
Übersetzung implizit. Tawada transformiert die scheinbar zugehörigen und
nichtzugehörigen „Dinge“ zweier oder mehrerer Systeme ins Andere hinein oder hinaus
und spiegelt diese. Suga Keijiro (2007) hat in ihrem Aufsatz darauf hingewiesen, dass die
Wörter „translation“ (vom lateinischen translatio) und „metaphor“ (vom griechischen und
lateinischen metaphora) bis zur Renaissance synonym verwendet wurden. Beide Wörter
würden für Transfer, Transport, also für physikalische Bewegungen verwendet werden.72

69
Yildiz, Yasemin: Tawada’s Multilingual Moves: Toward a Transnational Imaginary. In: Slaymaker: Yoko
Tawada, S. 81–82.
70
Ervedosa, Clara: Die Verfremdung des Fremden: Kulturelle und ästhetische Alterität bei Yoko Tawada. In:
Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge XVI, 3/2006, S. 569.
71
Fischer, Sabine: „Verschwinden ist schön“: Zu Yoko Tawadas Kurzroman „Das Bad“. In: Fischer, Sabine /
McGowan, Moray (Hg.): Denn du tanzt auf einem Seil. Positionen deutschsprachiger MigrantInnenliteratur.
Tübingen: Stauffenburg Verlag 1997, S. 104.
72
Suga: Translation, Exophony, Omniphony, S. 23.

43
Sigrid Weigel (1996) hebt in der von ihr verfassten „Laudatio auf Yoko Tawada“
besonders die Nachahmung in Verbindung mit der „Obsession“ Tawadas für
Metamorphosen heraus. So liest sie den Erzählband „Wo Europa anfängt“ (1991) als eine
„immerwährende Nachahmung und Wiederholung der transsibirischen Reise“, in der sich
nicht nur die Sprache, sondern auch der Körper mit seinen Traum- und Klangbildern der
Entfernung anpassen muss. In der Nachahmung geübt, so Weigel weiter, wird diese zum
„literarischen Verfahren, mit dem Tawada in der europäischen Zeichenwelt das darin
verborgene und verlorene Mimetische“ wiederentdecke. Tawada würde den/die Lesende/n
stets zu einer Neuorientierung zwingen, besonders wenn sie die Verwandlungen von
Sprachbildern in Erzähltes betreibt. Besonderes Interesse habe Tawada für das
„Verschwinden der Geister in der Idee des Geistes“, die in den Metamorphosen
wiederkehren würden. Sie verwandle nicht nur Dinge in Schrift, Apparate in Geister,
Körper in Buchstaben, sondern es würden sich auch Dinge in Lebewesen und Menschen in
Tiere oder umgekehrt verwandeln.73

2.2.4 Innen/Außen – die Dezentrierung des Ich


Im 2008 erschienenen Aufsatz „Exophonie, Echophonie: Resonanzkörper und polyphone
Räume bei Yoko Tawada“74 führt Ivanovic vor, dass Tawada die Sprache und den Körper
als Raum wahrnimmt. Körperliche und sprachliche Bewegungen „korrespondieren“ bei
Tawada miteinander.75 Besonders ist für Ivanovic die „Umkehrung des Verhältnisses von
Innen und Außen“ bei Yoko Tawada, das Ivanovic zugleich als eine „existentielle
Bedeutungen“ von Tawadas Poetik bezeichnet.76 Anhand Tawadas Erzählung „Sieben
Geschichten der sieben Mütter“ (YT, TM, 101–104) zeigt Ivanovic, was genau darunter zu
verstehen ist. In der Erzählung stellt Tawada die Muttersprache als Gebärmutter dar, aus
der man einerseits als Frau bei der Geburt heraustritt und diese andererseits auch in sich
trägt.77 Die Autorin inszeniert in der Erzählung den Raum ihres Schreibens als

73
Weigel: Laudatio auf Yoko Tawada, S. 373–377.
74
Ivanovic, Christine: Exophonie, Echophonie: Resonanzkörper und polyphone Räume bei Yoko Tawada.
In: Gegenwarts Literatur. Ein germanisches Jahrbuch. A German Studies Yearbook, 7/2008, S. 223–245.
75
Ebd., S. 225.
76
Ebd.
77
Interessant hierzu ist auf jeden Fall der Akt der Geburt als etwas nach wie vor Geheimnisvolles, da die
Schulmedizin bis jetzt nicht erforscht hat, was genau die Wehen einer Geburt einleitet und wie der Fötus dies
dem Körper der Mutter signalisiert. Ein weiterer interessanter Punkt hierzu ist auch die Tatsache, dass viele

44
Gebärmutter, als kreativen Ort jeder Frau und deshalb, so Ivanovic, wird „das Ich zu einem
Medium zwischen Innen und Außen und dezentriert sich“.78 Eng mit dieser Raum-
Wahrnehmung und der Dezentrierung des „Ich“ zwischen Innen und Außen hängt, laut
Ivanovic, die Mehrstimmigkeit (Polyphonie) in Tawadas Texten zusammen.

In „Erzählung ohne Seele“ (1996) wird die Dezentrierung des „Ich“ durch Tawadas
Verbindung der Kabinen der Simultandolmetscher/innen (die auch zeigen würden, dass ein
Text aus mehreren Texten besteht) mit den „Kabinen“ im Körper, in denen auch
Übersetzung stattfinden würde, sichtbar:

Es gibt aber Personen, die davon ausgehen, daß jedem


Menschen bei der Geburt ein Originaltext gegeben wird.
Den Ort, an dem dieser Text aufbewahrt wird, bezeichnen
sie als Seele (YT, TM, 19).

Ein anderes Räumlichkeitsverständnis zeigt Christina Kraenzele (2007), die ausgehend von
den Tübinger Poetik-Vorlesungen „Verwandlungen“ (1998) auf die Verbindung von
Körper und Sprache in Tawadas Texten hinweist. Tawada selbst spricht von einer
körperlichen Anstrengung, wenn man in einer fremden Sprache spricht und von einer
Sprache in die andere springen muss.79

Im Roman „Ein Gast“ (1993) wird die Ich-Erzählerin von einer Stimme aus einem
Kassettenrekorder verfolgt:

Der Raum existierte nur noch in der Stimme, und in dem


Raum, den sie gestaltete, konnte ich meinen Körper nicht
finden. Er war leer und hatte weder Wände noch Möbel. Er
bestand nur aus einer Stimme. Ähnelte dieser Raum nicht
der Wohnung, die ich mir gewünscht hatte? (YT, EG, 66)

weibliche Säuglinge nach der Geburt eine Blutung haben, weil die Gebärmütter (die der Mutter und die des
Kindes) aufeinander reagieren.
78
Ivanovic: Exophonie, Echophonie, S. 225.
79
Kraenzele: Traveling without Moving, S. 97.

45
Hier wird die Stimme zum Raum, indem sich der Körper in der Stimme aufhält und nicht,
wie es gewöhnlich zu sein scheint, die Stimme im Körper. Das gewohnte Verhältnis von
Innen und Außen verschiebt sich und zeigt einen anderen Blickwinkel. Die Räume, die
Tawada beschreibt, sind nach Washinosu (2010)80 solche, die zugleich Oberfläche und
Inneres sind, aber auch dazwischen sein können (PT, 108).

2.2.5 Polyphonie

Wie wir gelesen haben, sind Sprache, Körper und Stimme in Tawadas Poetik als Räume zu
verstehen, aus denen Stimmen heraustreten oder in ihnen existieren können. Das
schreibende Ich, so Ivanovic, nimmt sich weniger in seiner „Produktivität“ als in seinem
„Resonanzkörper“, der „transformierend an der Welt teilnimmt“, wahr.81 Nun, so Ivanovic,
verlange die Dezentrierung des Ich in Bezug auf den (kulturellen) Raum und den
vollzogenen Sprachwechsel auch eine andere Zeitwahrnehmung, denn alles, was man
erlebt hat, entrücke ins Unerreichbare („ein Vergegenwärtigen des in Raum und Zeit
bereits Entrückten“).82 Hier verweist Ivanovic auf das Konzept des japanischen Soziologen
Shingo Shimada. In Japan wäre der Dialog zu den Toten immer möglich, da das Ich als
„Knotenpunkt im Meer der Erinnerungen“ wahrgenommen wird. So sprechen im Körper
nicht nur die eigene Stimme, sondern immer mehrere Stimmen. Der Körper wäre daher ein
polyphoner83 Körper, in dem die Ich-Identität im Gegensatz zu Westeuropa noch nicht
vollzogen ist. So spreche aus der eigenen Stimme nicht nur das Ich, sondern immer auch
ein Ich in der Gemeinschaft mit anderen, die den eigenen Körper bildet.84 So heißt es in
der Erzählung „Bioskoop der Nacht“ (2002):

Ich habe viele Seelen und viele Zungen (YT, ÜS, 70).

In der Erzählung „Porträt einer Zunge“ (2002) wird eine Person genannt, die zwei
Stimmbänder besitzt und je nach Adressatin oder Empfängerin einen anderen Klang des
Buchstabens „O“ produziert (YT, ÜS, 130). In der Erzählung „Eine Scheibengeschichte“

80
Washinosu, Yumiko: Sumidagawa no shiwaotoko oder Text der Trans-Formation. In: PT, 101–111.
81
Ivanovic: Exophonie, Echophonie, S. 227.
82
Ebd., S. 228.
83
Polyphonie [gr. Vielstimmigkeit].
84
Ivanovic: Exophonie, Echophonie, S. 229.

46
(2002) verwandelt sich die Erzählerin in einen CD-Ständer mit 33 Fächern und
zugehörigen CDs, die nicht nach Alphabet oder Gattung sortiert sind. Die Erzählerin wird
zu einer DJane ohne Hände, die zwei oder mehr Scheiben drehen lässt, wobei keine Musik
mehr hörbar ist, sondern man nur mehr hört, wo es sich „trifft und reibt“ (YT, ÜS,
116–117).85 Durch diese Elemente verweigern sich Tawadas Texte, so Ivanovic, den
„gängigen Mustern einer Identitätsbestimmung per Abgrenzung“ (kulturbedingte
Zuschreibungen). Tawada würde vielmehr fließende Übergänge gestalten, die Ivanovic als
eine Membran (Festkörper und zugleich durchlässig) bezeichnet.86 Vor allem in der
Erzählung „Klang der Geister“ (YT, TM, 109–120) und im Roman „Ein Gast“ (2002) sei
laut Ivanovic sichtbar, dass bei Tawada die Aufnahme, das Hören fremder Stimmen und
deren Wiedergabe ein „poetologisch relevantes Paradigma“ ist.87

2.3 Verortung der Texte Yoko Tawadas

Die Forschung versuchte Yoko Tawadas Texte schon in viele Kategorien einzugliedern,
doch in keiner von diesen scheinen sie lange verweilen zu können, weil sie sich den damit
einhergehenden Definitionen durch ihre stetigen Verwandlungen immer verwehrt haben.
Ruth Kersting (2006) hat in ihrem Buch „Fremdes Schreiben. Yoko Tawada“ einen
Überblick über Tawadas „metapoetisches“ Werk gegeben. Kersting untersuchte Tawadas
Texte hinsichtlich der Genderproblematik und der Verortung in Migrations- und
interkultureller Literatur und verglich sie teilweise mit anderen Autor(inn)en der
Gegenwartsliteratur (u.a. Herta Müller, Botho Strauß, Ingeborg Bachmann). Kersting
erkennt zwar viele Gemeinsamkeiten zur interkulturellen Literatur, zählt Tawadas Texte
jedoch mehr zur deutschen postmodernen Gegenwartsliteratur und grenzt sie eindeutig von
der Migrationsliteratur ab.88 Sie schließt ihr Buch mit der Überlegung, ob der Gehalt von
Tawadas Texten „poetische Erfindungen kultureller und geschlechtlicher Differenzen“
sind „mit deren Hilfe andere Themen, wie zum Bespiel die der Semiotik gestaltet“ werden

85
Vgl.: Van Dijk: Lost in Translation – oder doch nicht?, S. 124.
86
Ivanovic: Exophonie, Echophonie, S. 230.
87
Ivanovic, Christine: Vernetzt oder verletzt? Sprachspiele und Echoschrift in Yoko Tawadas D i e
Ohrenzeugin. In: http://dickinson.edu/glossen/Heft27/Artikel27/Ivanovic.html.
88
Kersting: Fremdes Schreiben, S. 217.

47
können.89 Karl Esselborn (2007) hingegen stellt Tawadas Schreiben in die Nähe „einer
modernen, durch kulturelle Globalisierung veränderte, transkulturelle, hybride
Weltliteratur“, wie sie zuvor Elke Sturm-Trigonakis (2007) in ihrem Buch „Global playing
in der Literatur“90 ausgearbeitet hat.91 Kari van Dijk (2005) bezeichnet Tawadas Texte als
„postmoderne Mehrsprachigkeit“, die das „postmoderne Potential des Wandelbaren“
aufzeigen würden.92 Christine Ivanovic (2008) durchsucht Tawadas Texte in ihren
Aufsätzen93 anhand ihrer Poetik und schafft, ähnlich wie es Tawada in ihrer
„ethnologischen Poetologie“ gefordert hat, neue „Verortungen“, die abgelöst von
eurozentristischen Literaturgattungen scheinen.

In diesem Kapitel sollen Tawadas Texte nicht hinsichtlich einer Kategorisierung betrachtet
werden, sondern vielmehr einer Verortung folgen. Sie sollen in ihrer Neuartigkeit
außerhalb und innerhalb althergebrachter und neuer Literaturgattungen wahrgenommen
werden. Zu Beginn wird dieses Kapitel einen Überblick über die Veränderungen des
Begriffs bezüglich der Literaturgattung von (zum Großteil in Deutschland lebenden)
Autor(inn)en geben, die nicht in ihrer Muttersprache schreiben, um die Texte Tawadas
besser positionieren oder depositionieren zu können. Wir werden sehen: Je weiter die
Forschung voranschreitet, desto gerechter wird sie gegenüber dem Gehalt der Texte, über
deren Inhalte und Produzent(inn)en hinausgehend.

2.3.1 Übersicht von Literaturgattungen in Bezug auf das Schreiben von Autor(inn)en
außerhalb ihrer Muttersprache94
Ende der 1970er-Jahre wurde die Öffentlichkeit beziehungsweise die Germanistik erstmals
auf die „Literatur von Gastarbeiter(inne)n“ aufmerksam.95 1981 änderte sich dieser Begriff

89
Kersting: Fremdes Schreiben, S. 6.
90
Sturm-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2007.
91
Esselborn, Karl: Übersetzungen aus einer Sprache, die es nicht gibt. Interkulturalität, Globalisierung und
Postmoderne in den Texten Yoko Tawadas. In: Arcadia, 42/2, 2007, S. 240–262.
92
Van Dijk: Lost in Translation – oder doch nicht?, S. 116–127.
93
Ivanovic: Exophonie, Echophonie. Und: Ivanovic: Aneignung und Kritik, S. 131–152.
94
Karl Esselborn (1997), Ruth Kersting (2006), Sigrid Weigel (1992) und Carmine Chiellino (2000) geben in
ihren Aufsätzen/Büchern eine gute Zusammenfassung der Begriffsänderungen hinsichtlich der
Literaturgattungen von Autor(inn)en, die nicht in ihrer Muttersprache, sondern auf Deutsch schreiben. Deren
Aufsätze/Bücher werden hier als Grundlage verwendet.
95
Es waren vor allem Italienisch sprechende Zuwanderer und Zuwanderinnen, die sich seit den späten

48
zu „Literatur der Betroffenheit“ oder „Emigrantenliteratur“, welche die Aufmerksamkeit
auf das Herkunftsland legen sollte. Zur noch immer verwendeten Bezeichnung
„Migrant(inn)enliteratur“ kam es 1984, wobei hier die Protagonist(inn)en ins Zentrum des
Interesses gerückt werden. Carmine Chiellino (1985) hingegen sprach von einer
„interkulturellen Literatur in Deutschland“ und einer grenz- und sprachüberschreitenden
Topografie der Stimmen. Seine Definition forderte die Aufnahme der Literatur, die von
Migrant(inn)en, ihren Nachkommen oder Verwandten mit inhaltlichen Bezügen zur
Geschichte Deutschlands außerhalb des deutschen Literaturbetriebes
geschrieben/veröffentlicht wurde, und nannte sie „Literatur in der Fremde“. Es folgten
weiters Bezeichnungen wie „Literatur von innen“ (Suleman Taufiq), „deutsche Literatur
von außen“ (Harald Weinreich)96, bis Sigrid Weigel (1992) sich in ihrem Aufsatz
„Literatur der Fremde – Fremde der Literatur“97 gegen die Vereinnahmung der
Migrant(inn)enliteratur als deutsche Literatur stellte und sich der kritischen
Auseinandersetzung mit dem Thema verschrieb. Sie vertritt die Bezeichnung „kleine
Literatur“ im Kontext der „fünf deutschsprachigen Literaturen“. Julia Kristeva (1990)
brach durch ihre These, dass die Fremde auch immer unsere eigene Fremde sei, mit
nationalen und regionalen Sichtweisen bezüglich der Multikulturalität und zeigte, dass die
Erfahrungen auch den jeweiligen anderen kulturellen Kontext einschließen und vom
vielfältigen kulturellen Austausch zwischen den Ländern und Ethnien profitieren können.
Immacolata Amodeo (1996)98, die unter Referenz von Michail M. Bachtins literarischer
Dialogizität99 auf das Rhizommodell100 von Gilles Deleuze und Felix Guattari zurückgreift,
verweist auf die Heterogenität und Dynamik des gesamten Bereiches. Sie interessiert vor

1960er-Jahren über Literatur Gehör verschafften. Aus: Esselborn, Karl: Von der Gastarbeiterliteratur zur
Literatur der Interkulturalität. Zum Wandel des Blicks auf die Literatur kultureller Minderheiten in
Deutschland. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, 23/1997, S.50. Vgl. auch: Chiellino, Carmine:
Interkulturalität und Literaturwissenschaft. In: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in
Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 389.
96
Harald Weinreich initiierte 1985 den Albert-von-Chamisso-Preis und stellte eine Zuordnung der
„Ausländerliteratur“ zur deutschen Literatur unter besonderen Vorzeichen dar. Dies wurde von den
Betroffenen nicht ohne Bedenken und Widerspruch akzeptiert. Aus: Esselborn: Von der Gastarbeiterliteratur
zur Literatur der Interkulturalität, S. 55.
97
Weigel, Sigrid: Literatur der Fremde – Literatur in der Fremde. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen
Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 12/1992, S. 182–229.
98
Amodeo, Immacolata: „Die Heimat heißt Babylon“ Zur Literatur ausländischer Autoren in der
Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.
99
Vgl.: Sturm-Trigonakis: Global playing in der Literatur, S. 54.
100
Das Rhizommodell geht von verschiedenartigen und veränderlichen Verflechtungen und Vernetzungen als
nicht zentriertes und nicht hierarchisches System identitätsbildender Elemente aus. Aus: Esselborn: Von der
Gastarbeiterliteratur zur Literatur der Interkulturalität, S. 60.

49
allem die eigene, andere Ästhetik im breiten kulturellen und kulturpolitischen Kontext der
Kommunikations- und Lebensformen der „Ausländer/innen“ in Deutschland. Amodeo
knüpft an die „littérature mineure“ an, eine deterritorialisierten Literatur einer Minorität,
die sich der „großen Sprache“ einer Majorität bedient. Diese Sprache würde sich laut
Amodeo durch eine „Versetztheit“ 101 gegenüber den Nationalliteraturen auszeichnen,
obwohl sie deren Sprache benutzt. So entstehe durch „Vermischung und Überlagerung
kultureller Traditionen eine rhizomatische interkulturelle Ästhetik der Fragmentarität“,102
die keine eindeutige Unterscheidung der verschiedenen kulturellen Ebenen mehr
erlaube.103 Karl Esselborn (1997) forderte, hinweisend auf Entkolonialisierungsprozesse
mit verbundener „postkolonialer, hybrider Mischkulturen und -literaturen“ am Ende seines
Aufsatzes einen „dritten Verständigungsraum, einen hybriden Überlappungsraum, eine
dritte Sprache, beziehungsweise eine dritte Interpretation.“104 Sturm-Trigonakis (2007)
versucht durch die Bereitstellung der „Neuen Weltliteratur“ dieser Forderung gerecht zu
werden. Darüber hinaus will sie dadurch die „ausgrenzenden Kategorisierungen“
überwinden.105 Zunächst definiert sie den Ausgangspunkt des Begriffs „Weltliteratur“, der
zwar nicht von Goethe (1827)106 geprägt wurde, ihn aber populär werden ließ. Die „Neue
Weltliteratur“ bezeichnet Sturm-Trigonakis als „eigenständiges Ordnungssystem“, das im
Kontrast zu den „homogenisierenden Charakteristika“ der Nationalliteraturen steht und
diesen „ranggleich beigestellt“ ist. „Neue Weltliteratur“ bezieht sich ausschließlich auf die
Text vorkommenden „formalen und inhaltlichen Kriterien“ und nicht auf dessen
Autor(inn)en und/oder deren Herkunft.107 Ausgehend von Bachmann-Medick (1999), die
befand, dass Kommunikation zwischen Kulturen nicht nur als Vermittlung, sondern auch
aus dem eigenen Spannungswert eines „Dazwischen“ stattfindet, benötige es, so Sturm-
Trigonakis, weiter den von Homi K. Bhabha (2007) definierten dritten Raum. Hybridität
ist für Bhabha ein Grenzbereich, in dem sich Kulturen aufgrund ihrer Unterschiede
zwangsläufig und konfliktreich berühren und der sich den binären Gegensätzen von

101
Amodeo: „Die Heimat heißt Babylon“, S. 90.
102
Ebd.
103
Vgl.: Esselborn: Von der Gastarbeiterliteratur zur Literatur der Interkulturalität, S. 60–62.
104
Esselborn: Von der Gastarbeiterliteratur zur Literatur der Interkulturalität, S. 65.
105
Sturm-Trigonakis: Global playing in der Literatur, S. 16.
106
Parameter Goethes Weltliteratur: Weltliteratur ist ... 1. ... den Nationalliteraturen übergeordnete Kategorie
/ 2. ... ein Prozess, oder die Tatsache der Kommunikation verschiedener Nationalliteraturen untereinander / 3.
... pragmatisch zu denken und steht im Zusammenhang mit neuen technischen und wirtschaftlichen
Errungenschaften / 4. Haftet etwas Utopisches an und wird sich selber realisieren. Aus: Ebd., S. 26–40.
107
Ebd., S. 245.

50
ethnischen und kulturellen Gruppen als homogene polarisierte Bewusstseinszustände
widersetzt. Dieser „third space“ verändert sich ständig und durch den Übersetzungsakt
wird die Authentizität von Wörtern und Symbolen untergraben.108 Auch die Kultur wird
als Übergang und Entwicklung und nicht als Ort fester Zugehörigkeit und Geschlossenheit
wahrgenommen.109 In seinem Buch „Verortung der Kulturen“ sieht Bhabha im Studium
der „Weltliteratur“ jenes Studium, das von „der Art und Weise sein“ könnte, „in der
Kulturen sich durch ihre Projektion von ‚Andersheit’ anerkennen könnten“. Im Zentrum
stünde weder die „Souveränität nationaler Kulturen noch der Universalismus der
menschlichen Kultur, sondern eine Konzentration auf jene verrückten sozialen und
kulturellen De-plazierungen, […]“.110

2.3.2 Hybridität in der Literatur


Anknüpfend an Sturm-Trigonakis, welche die hybride Literatur in drei Gruppen von
„Leitdifferenzen“ als eigenes System konstituiert, wird sich dieses Kapitel der Hybridität
der Texte Yoko Tawadas zuwenden. Für Sturm-Trigonakis ist Hybridität von literarischen
Texten Teil der „Neuen Weltliteratur“ und definiert sich aus: „Zwei- oder
Mehrsprachigkeit, Transnationalismus“ (border crossing, Exil, Reisen, Migration,
Transgression, fiktives Ausloten des dritten Raumes) und der „Hinwendung zum Lokalen
und Regionalen“. Nur in der Interaktion dieser drei ergebe sich das „unterscheidende
Moment, das diese Literatur singulär“ mache und von „anderen literarischen
Funktionssystemen“ abhebe.111 Innerhalb dieser hybriden Texte komme es zu
verschiedenen Formen der Multilingualität112 (auf eine dieser Formen, der Mimesis,
werden wir in diesem Unterkapitel noch stoßen). Anlehnend an Sturm-Trigonakis‘
Definition erfüllen Tawadas Texte die Interaktion dieser drei Ebenen. Folgende Aussage
Tawadas lässt ebenfalls auf einen (ähnlichen) dritten Raum, wie ihn Bhabha definiert hat,
schließen:

108
Vgl.: Schestokat, Karin: Bemerkung zur Hybridität und zum Sprachgebrauch in ausgewählten Texten von
May Ayim und Yoko Tawada. In: http://www.dickinson.edu/glossen/heft8/schestokat.html.
109
Ebd., S. 105.
110
Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2007, S. 18.
111
Sturm-Trigonakis: Global playing in der Literatur, S. 108–109.
112
Ebd., S. 115–160.

51
The beautiful image of the open gate as a space in which
(new) signs and symbols are negotiated and discovered; in
which the languages, both original and in translation,
correspond (spatially) almost magically and reveal the
dynamic ambivalences, unsettling gaps, and transformative
powers; and in which the role of the narrator is fictional and is
challenged, just as the text is.113

Christine Ivanovic (2008) spricht zwar von keiner Hybridität der Texte Tawadas, sieht aber
in ihrem ästhetischen Verfahren „hybride Figurationen, die das bipolare Denken diagonal
durchmessen“.114 Ivanovic verweist in diesem Zusammenhang auf die mit der Jazz-
Pianistin Aki Takase veröffentlichte CD „diagonal“ (2003)115. Das Gedicht „tango.de“
wird hier durch argentinische Tango-Musik begleitet, wobei das Wort „tango“ auf
Japanisch unter anderem „Wort“ bedeutet (dies ist den nicht-Japanisch sprechenden
Zuhörer(inne)n natürlich nicht bewusst). Tawada kreuze hier „Klang- und
Bedeutungslinien oder -schichten“ und erzeuge damit die schon erwähnten „hybriden
Figurationen“. Auch in Tawadas zweisprachigem Gedichtband „Nur da/wo du bist/da ist
nichts“ (1987) würde man laut Ivanovic (2008) die Hybridisierung nicht nur im
Literarischen, sondern auch im Bildlichen sehen. Das Buch kann z. B. vom japanischen
Titelblatt von links, vom deutschen Titelblatt von rechts aufgeschlagen und gelesen
werden.116

Clara Ervedosa (2006) wiederum sieht in der Verfremdungsstrategie von Tawada die
Entstehung einer „dritten Ebene“, die Raum für Kreativität und Freiheit gebe.117 Tawada,
so Ervedosa, demonstriere, dass der „third space“ von Bhabha nicht nur ein Raum
kultureller Hybridität sei, wo statische kulturelle Differenzen überwunden werden, sondern
auch zum ästhetischen Ort wird (an dem andere Verbindungen, Kontexte, Sichtweisen,
Ausdrucksformen und Sprechweisen versucht werden), um vorhandene kulturelle Orte zu
überschreiten.118

113
Arens: Das kurze Leuchten unter dem Tor oder auf dem Weg zur geträumten Sprache, S. 70.
114
Ivanovic: Aneignung und Kritik, S. 132.
115
diagonal. Yoko Tawada und Aki Takase. CD. Tübingen: Konkursbuch Verlag 2003.
116
Ivanovic: Aneignung und Kritik, S. 145–146.
117
Ervedosa: Die Verfremdung des Fremden, S. 570.
118
Ebd.

52
Ein schönes Beispiel an Hybridität in Tawadas Text „Bioskoop der Nacht“ (2002) hat
Yasemin Yildiz (2007) gefunden. Obwohl die Erzählerin nicht Afrikaans sprechen kann,
träumt sie in der Sprache, weil Träume nicht territorial sind und weil, so Yildiz, Afrikaans
eine hybride Sprache (aus Englisch, Holländisch, Malay, Portugiesisch, Xhosa und vielen
afrikanischen Sprachelementen) ist.119 Weiters verweist Yildiz darauf, dass Tawada nicht
nur einen dritten Raum öffne, sondern die Sprache selbst:

Tawada is not merely operating „between“ two languages,


cultures, or national contexts. Rather, her writing playfully
opens language from within and introduces links to other
languages that are not determined by „natural“
connections.120

Zusammenfassend ergibt sich die Nähe der Texte Tawadas zu hybriden Literaturformen,
die in die „Neue Weltliteratur“ einfließen, aber eine genaue Zugehörigkeit kann man,
aufgrund mancher für die/den Lesende/n verborgenen Elemente (japanische
Schriftzeichen, außereuropäische Alltagstechniken und Kulturen etc.) nicht treffen.

2.3.3 Surreale Bilder und Dadaismus


Bettina Brandt beschäftigt sich in beiden ihrer Aufsätze (2006, 2007)121 mit der
Verbindung von Tawadas Texten und dem Surrealismus. Tawadas Texte würden, laut der
Definition von der amerikanischen Kunstkritikerin und -theoretikerin Rosalind Krauss
(„Surreality is, we could say, nature convulsed into a kind of writing.“) als
veranschaulichte avantgardistische Ästhetik zu lesen sein.122 Zwei Eigenschaften wären
laut Brandt, die sich auf Rita Bischof (2001)123 stützt, für das „surrealistische Bild“124

119
Yildiz, Yasemin: Tawada´s Multilingual Moves: Toward a Transnational Imaginary. In: Slaymaker: Yoko
Tawada, S. 85.
120
Yildiz: Tawada’s Multilingual Moves, S. 85.
121
Brandt, Bettina: Schnitt durchs Auge. Surrealistische Bilder bei Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar und
Herta Müller. In: Text und Kritik. Sonderband IX/2006, S. 74–83. Und: Brandt, Bettina: The Unknown
Character: Traces of the Surreal in Yoko Tawada’s Writings. In: Slaymaker: Yoko Tawada, S. 111–124.
122
Brandt: The Unknown Character, S. 111.
123
Vgl.: Bischof, Rita: Teleskopagen, wahlweise. Der literarische Surrealismus und das Bild. Frankfurt am
Main: Vittorio Klostermann Verlag 2001.
124
Das surrealistische Bild stamme von der Literatur und nicht wie oft angenommen wird von der Bildenden
Kunst. Als Beispiel diene hier das, von André Breton wieder entdeckte Gedicht von Comte de Lautrémont:

53
wichtig: Der „inhärente Gegensatz“ und die „Simultanität, die die Hierarchie verwehrt, die
alltäglichen Selbstverständlichkeiten in Frage stellt und Modell ist für eine neue
Wirklichkeit, die noch herzustellen wäre“.125 Tawada würde sich laut Brandt nicht mit der
historischen Bewegung des Surrealismus identifizieren, aber ein „strategisches Verhältnis“
zu ihm pflegen. Sie würde, so wie die anderen von Brandt erwähnten Autorinnen
„Annahmen und Strategien der alten Avantgarde ignorieren“ und „verändern“ und
bestimmte „surrealistische Verfahren als Möglichkeit des ästhetischen und kulturellen
Widerstandes“ einsetzen.126 Als Beispiel zieht Brandt Tawadas Erzählung „Ein Gast“
(1993) heran, in der unter anderem ein Flohmarkt Ort der Erzählung ist. Brandt führt an,
dass Flohmärkte in André Bretons (1896–1966) „L'amour fou“ (1937)127 aufgrund der
„Konstellation des nicht-mehr-gebraucht-werdens und des unbedingt-haben-wollens alter
Objekte“ surrealistische Räume darstellen. Auch Lexika würden surrealistisch sein, da dort
Worte aufeinandertreffen, die „semantisch und historisch“ nichts miteinander zu tun
hätten, sondern nur „auf Grund der Regel des Alphabets auf einer Seite stehen“.128
Darüber hinaus stelle der Flohmarkt (am Ende einer U-Bahn-Linie, weit weg von
kommerziellen Einkaufszentren) den Eingang zum Körper der Protagonistin, zu ihrem Ohr
dar, welches nach Brandt wiederum ein surrealistisches Organ ist.129 Der „poetische
Funke“ in Tawadas Erzählung würde in der Passage zünden, in der die Protagonistin auf
ein Buch stößt, das zwischen einer Tretnähmaschine und einem Regenschirm liegt. Das
kann als Verweis auf Comte de Lautrémonts (1846–1870) berühmtes Prosa-Gedicht „Les
Chants De Maldoror“ (dt. „Die Gesänge des Maldoror“) gelesen werden.130 Die
Protagonistin würde hier laut Brandt ihr eigenes „trouvaille“ (dt. glücklicher Fund) finden.
Dieser Teil der Erzählung führt, so Brandt, den wichtigsten Charakter des Buches ein, „a
surrealist found object“ (ein Buch) „that mysteriously attracts the narrator“, und die
Entscheidung der Protagonistin, dieses Buch, von dem sie nicht weiß, was es ist, mit nach

„Les Chants de Maldoror“ (dt. „Die Gesänge des Maldoror“). In diesem Gedicht wird die Schönheit eines
Jungen mit folgenden Vergleich versehen: So schön wie eine unvermutete Begegnung eines Regenschirms
und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch. Rita Bischof verwies hier darauf, dass nicht die beschriebenen
Gegenstände wichtig seien, sondern der Vergleich „so schön wie“, der die Nähmaschine und den
Regenschirm aufeinander prallen lässt, lasse die beiden Objekte aufhören, auf ihr gegenständliches Sein zu
verweisen. Aus: Brandt: Schnitt durchs Auge, S. 76.
125
Ebd., S. 75.
126
Ebd.
127
Englischer Titel: „Mad Love“.
128
Brandt: Schnitt durchs Auge, S. 77.
129
Brandt: The Unknown Character, S. 113.
130
Ebd., S. 114.

54
Hause zu nehmen. Das Buch entpuppt sich schließlich als Kassette mit Gedichten und
Prosastücken deutscher Dichter, von einer weiblichen Stimme gelesen. Diese Stimme sei
der Träger einer wichtigen Nachricht für die Protagonistin, die jedoch, nach
surrealistischer Tradition, nicht wisse, was sie zu finden hofft.131 Die Stimme der
Erzählerin hilft der Protagonistin, indem diese die Buchstaben verschwinden lässt, das
Alphabet zu eliminieren und sich im Text zu verlieren.132 Das „found object” in Tawadas
Text ist für Brandt demnach:

[…] an aesthetic offspring of the famous surrealist


encounter, as a surrealist product that first appears at
the antiquated market, but leaves with the narrator to
start an new aesthetic existence in a contemporary
intercultural context.133

Florian Gelzer (1999) sieht Tawadas „Sprachprogrammatik“, die an Roland Barthes


geschult sei, in der „langen Tradition europäischer literarischer Avantgarde-Bewegungen
seit Beginn des 20. Jahrhunderts (Futurismus, Dadaismus)“, welche die Sprache nicht auf
ihre kommunikative Funktion reduziert wissen wollten.134 Als Beispiel führt er Tawadas
Prosastück „Zürich“, eine Hommage an die Züricher Dadaisten135 (1997), an. Sie streife
darin die Themen der europäischen Sprachkritik und plädiere für die „Befreiung des
Sprachzeichens“, das in seiner „sinnlichen Anschaulichkeit“ und nicht als
„Bedeutungsmedium“ sichtbar gemacht werden solle. Dies wiederum verweise, so Gelzer
auf die „Konkrete Poesie“136. Beispielgebend für die Absage an die kommunikative Seite

131
Brandt: The Unknown Character, S. 115.
132
Vgl. hierzu Tawadas Aussage in den Tübinger Poetik-Vorlesungen, dass es ihr schwer falle, beim Lesen
eines deutschen Textes ihre Aufmerksamkeit von den Buchstaben auf den Inhalt des Textes zu richten (YT,
VL, 25).
133
Brandt: The Unknown Character, S. 116–117.
134
Gelzer: „Wenn ich spreche, bin ich nicht da“, S. 79.
135
Tawada, Yoko: Zürich. In: Magnaguagno, Guido / Arb, Giorgio von (Hg.): Zürich. Begleitpublikation zur
Ausstellung „Zürich - ein Fotoporträt“ im Kunsthaus Zürich, 6.6.–24.8.1997. Zürich 1997, S. 107–118. Aus:
Ebd.
136
Vgl. hierzu: „Konkrete Dichtung“: Seit 1950 internationale auftretende Versuche, mit dem konkreten
Material der Sprache (Wörter, Silben, Buchstaben) unmittelbar eine Aussage zu gestalten, losgelöst von
syntaktischen Zusammenhängen und oft auch auf das Wort als Bedeutungsträger verzichtend (z. B. visuelle,
akustische Dichtung). Aus: Gfrereis, Heike (Hg.): Grundbegriffe der Literaturwissenschaft. Stuttgart,
Weimar: Metzler 1999, S. 103–104.

55
der Sprache wäre die Textstelle Tawadas in der Erzählung „Das Fremde aus der Dose“
(1996):

Die meisten Wörter, die aus meinem Mund herauskamen,


entsprachen nicht meinem Gefühl. Dabei stellte ich fest, daß
es auch in meiner Muttersprache kein Wort gab, das meinem
Gefühl entsprach. Ich hatte das nur nicht so empfunden, bis
ich in einer fremden Sprache zu leben anfing (YT, TM, 41).

Trotz dieser Beispiele will Gelzer Tawadas Schreiben nicht mit Einflüssen anderer
Autor(inn)en vergleichen oder von einer „Weiterführung europäischer Sprachkritik“
sprechen, da es bei Tawada nur bei wenigen Andeutungen bleibe.137

Auch Christine Ivanovic verweist in ihrem Online-Artikel „Vernetzt oder verletzt?


Sprachspiele und Echoschrift in Yoko Tawadas ‚Die Ohrenzeugin’138 auf den Kontext der
Ästhetik des Surrealismus bei Tawadas Roman „Ein Gast“ (2002).

2.3.4 Exophonie
Christine Ivanovic (2008) analysiert in ihrem bereits erwähnten Aufsatz „Exophonie,
Echophonie: Resonanzkörper und polyphone Räume bei Yoko Tawada.“139 in Anlehnung
an Aufsätzen von Keijiro Suga (2007)140 und Tachibana Reiko (2007)141 die Definitionen
der Begriffe „Exophonie“ und „Echophonie“ in Tawadas Texten/Schreiben.142 2010 ist der
von Ivanovic verfasste Aufsatz „Exophonie und Kulturanalyse. Tawadas Transformation
Benjamins“ im Sammelband „Poetik der Transformation“ (PT) erschienen. Tawada, die
2003 in Japan den Essayband „Ekusofoni – bogo no soto e deru tabi“143 (dt. Exophonie –
Reisen aus der Muttersprache heraus) herausbrachte, stieß nach eigenen Aussagen zufolge
auf den Begriff „Exophonie“ während eines Vortrags am Goethe-Institut in Dakar, Senegal

137
Gelzer: „Wenn ich spreche, bin ich nicht da.“, S. 79.
138
Ivanovic: Vernetzt oder verletzt?
139
Ivanovic: Exophonie, Echophonie, S. 223–245.
140
Suga: Translation, Exophony, Ominphony, S. 21–33.
141
Tachibana: Tawada Yoko’s Quest for Exophony, S. 153–168.
142
Der Begriff „Exophonie“ hängt eng zusammen mit beziehungsweise ist Teil der „Poetik der
Transformation“ Tawadas.
143
Tawada: Ekusofoni – bogo no soto e deru tabi.

56
(2002). Er wurde im Zusammenhang mit afrikanischen Autor(inn)en benutzt, die in
europäischen Sprachen schreiben.144 Der Begriff bleibe jedoch im Gegensatz zu den
Begriffen „frankofon“, „anglofon“ etc. undefiniert, weil er sich nicht durch die Kategorien
Religion, Sprache und Nation einfangen ließe. Ivanovic unterscheidet zwischen den
Begriffen „Exo-phon“ und „Exophonie“. Der Terminus „Exophonie“ stammt ursprünglich
aus der Ortsnamenskunde, wo er fremdsprachige Ortsbezeichnungen klassifiziert (PT,
171). In den 90er-Jahren wurde der Begriff in der Diskussion zur Sprachproblematik
anglo- oder frankofoner afrikanischer Autor(inn)en erstmals verwendet (PT, 172).
„Exo-phon“ bedeutet nach Ivanovic die „Positionierung des eigenes Sprechens außerhalb
der Leitgrößen“ (Sprache, Nation, Religion). Es handelt sich demnach um Autor(inn)en,
die in ihrem „Schreiben zugleich die Distanz zu der Literaturgemeinschaft, innerhalb derer
sie sich bewegen, zum Ausdruck bringen“. Die Texte müssen, so Ivanovic, nicht
mehrsprachig, also hybrid sein, aber man müsse „ein Heraustreten der Stimme (phone) aus
der Schrift oder sogar ein Heraustreten aus der Stimme“ wahrnehmen können.145
Der Begriff „Exophonie“ stellt für Ivanovic eine Strategie von Autor(inn)en dar, die über
„mehrere Sprachen verfügen und die in ihren Texten ihre Zugehörigkeit zu bestimmten
kulturellen Räumen, in deren Sprachen sie sich artikulieren, zu transzendieren versuchen“.
„Exophonie“ sei also prinzipiell in jeder Region und Kultur beobachtbar und stellt für
Ivanovic einen neuen Leitbegriff für neue Formen der Weltliteratur dar, der aber mit
anderen Termini wie sprachlicher Hybridität, polykulturellem Selbstverständnis und
literarischer Mehrsprachigkeit oder Biliteralität konkurrieren müsse.146 In der Rezeption
der japanischen Texte Tawadas sei, laut Ivanovic, der Begriff „Exophonie“ sofort beachtet
und zur Leitkategorie Tawadas Poetik geworden.147 In der deutschsprachigen Debatte ist
der Begriff bis heute nicht wirklich etabliert (PT, 172–173). Tawadas exophones Schreiben
versteht Ivanovic auch als „transformatorisches Konzept“, das der Poetik der Verwandlung
von Tawadas Poetik-Vorlesungen zugrunde liegt (YT, VL, 9–10).148 Für Tawada sei
demnach „Exophonie“ das fluktuierende Heraustreten der Stimme(n) aus dem ihr

144
Tachibana: Tawada Yoko’s Quest for Exophony, S. 164.
145
Ivanovic: Exophonie, Echophonie, S. 223.
146
Ebd., S. 224.
147
Im Sammelband von Doug Slaymaker (2007) nimmt er eine zentrale Stellung ein.
148
Ivanovic: Exophonie, Echophonie, S. 227.

57
bestimmten Raum, das die Wahrnehmung und das Geltenlassen des anderen Klangs
innehat.149

Für Reiko Tachibana (2007) produziert Tawada sowohl in ihrer Muttersprache Japanisch
als auch in ihrer Wahlsprache Deutsch Mehrsprachigkeit in den jeweiligen Texten. Für
Tawada sei es wichtig, das „ultranationalistic concept“ der „schönen“ japanischen Sprache
aufzudecken.150 Tachibana rekonstruiert in ihrem Aufsatz den Verlauf des Umgangs von
Japan mit der eigenen Sprache in Bezug auf die Aneignung durch die Fremde und die
Einflüsse aus dem Westen.151 Dadurch zeigt Tachibana, dass sich Tawada gegen den
Begriff der Sprache als „kokugo“ (Nationalsprache) stellt. Anlehnend an Guattaris und
Deleuzes Konzept, ein Fremder, aber in seiner eigenen Sprache zu sein, versteht sie den
Begriff „Exophonie“ nicht allein auf die gegenwärtige Migration und Globalisierung,
sondern als Grundgegebenheit der internationalen Moderne.152 Ebenfalls im Aufsatz zu
finden sind Beispiele zur Literatur vom Meiji-Autor Mori Ogai (1862–1922), der ebenfalls
in Deutschland lebte. Tawada habe sich stets, so Tachibana, von Ogai distanziert, da sie
nicht wie er verpflichtet sei, nach Japan zurückzukehren, und keine Bindung zum
hegemonialen japanischen System habe.153 Der Vergleich dieser beiden Autor(inn)en
ermögliche das Aufdecken der Bedeutung des exophonen Schreibens Tawadas.154 Auch für
Keijiro Suga stellt exophones Schreiben kein neues Phänomen dar, da es schon bei
Autoren wie Joseph Conrad, James Joyce und Samuel Becket bekannt sei. Es sei eine Art

149
Ivanovic: Exophonie, Echophonie, S. 227.
150
Tachibana: Tawada Yoko’s Quest for Exophony, S. 154.
151
1868 gab es in Japan mehrere verschiedene Dialekte, die auf den jeweiligen sozialen Status hinwiesen.
Die Schrift, die aus dem Chinesischen entnommen war, verwendeten nur die Privilegierten des Landes. In
der Mejii-Regierung versuchte man, in der Hoffnung die Nation zu einen, eine Einheit von Sprache und
Schrift (in Japan) einzuführen. Die preußische Einflussnahme am Ende der 1890er-Jahre war sehr groß und
Japan wurde „Preußen des Ostens“ genannt. Ueda Kazutoshi (1867–1937), Prof. in Tokyo, spielte eine
bedeutende Rolle in der Konzeption von „kokugo“ (Sprache). Nach seinem vierjährigen Aufenthalt in
Europa arbeitete er am System einer Nationalsprache – er verknüpfte die Sprache mit der Nation („Blut der
Nation“): „ […] if we talk about the national language of Japan (nihon no kokugo), the Japanese language
(nihongo) can be said (to be) the spiritual blood of the Janpanese people […](called „kokutai“ = essence of
Japanese nationalism).“ Er verband „kokugo“ mit „kokutai“; Fremde konnten nur „nihongo“ lernen, die
Japaner/innen hingegen sprechen „kokugo“ (die Sprache, die nur in den japanischen Seelen sein kann). Aus:
Tachibana: Tawada Yoko’s Quest for Exophony, S. 154–155.
152
Ivanovic: Exophonie, Echophonie, S. 226.
153
Tachibana: Tawada Yoko’s Quest for Exophony, S. 159.
154
Ebd., S. 164.

58
„Selbstübersetzung“, die vor allem bei Tawada die Basis der kreativen Inspiration
darstelle.155

Geht es beim Begriff „Exophonie“ um das Heraustreten der Stimme aus einem bestimmten
Raum, so fasst Ivanovic (2008) den Begriff weiter in Bezug auf Tawadas Schreiben und
erweitert ihn um den Begriff der „Echophonie“ (der verbunden ist mit der „Polyphonie“).
Es geht hierbei um das verzögerte „Heraustreten der Stimme / aus der Stimme als
Widerhall des Anderen / im Anderen“, das eng mit den Zugängen Tawadas zur
„Übersetzung“156 zusammenhänge.157 Anlehnend an Benjamin handle es sich bei Tawadas
„Echo“ um keine Wiederholung, sondern in ihm klingt Bedeutung an, die sich erst in der
Relation zwischen beiden – der eigenen und der fremden Sprache zwischen
Gegenwärtigem und Vergangenem – konstituiert.158 Echophonie und Exophonie ergeben,
laut Ivanovic, bei Tawada ein „Spannungsverhältnis“ in Bezug auf „Sprachraum und
Resonanzkörper“, so zum Beispiel in Tawadas Erzählung „Der Klang der Geister“ (YT,
TM, 109). Hier erinnert sich die Ich-Erzählerin an Klänge aus ihrer Kinder- und
Jugendzeit, die ihr in anderen Räumen, Kulturen und Zeiten wieder begegnen, aber nicht in
der gleichen Gestalt oder dem gleichen Klang, sondern als deren Echo.

3 DAS BILD DER ÜBERSETZERINNEN BEI YOKO TAWADA


UND INGEBORG BACHMANN

Wie bereits erläutert hat Yoko Tawada in vielen ihrer Erzählungen Übersetzerinnen oder
Dolmetscherinnen als Protagonistinnen eingesetzt. Interessant hierbei ist, dass sie sich
nicht nur inhaltlich dem Thema Übersetzen widmet, sondern es auch in ihrer Sprache
ersichtlich macht. Dieser Umstand führt uns zu Ingeborg Bachmanns Erzählung
„Simultan“ (1972), die diese Thematik ebenso inhaltlich (die Protagonistin Nadja ist
Dolmetscherin) als auch sprachlich umsetzt. Dass sich Bachmann und Tawada mit dem

155
Suga: Translation, Exophony, Omniphony, S.27.
156
Ivanovic verweist hier auf Walter Benjamins Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“ und auch den Begriff
„echo-monde“ in der postkolonialen Literatur der Postmoderne (z. B. Edouard Glissant). Aus: Ivanovic:
Exophonie, Echophonie, S. 231.
157
Ebd., S. 231.
158
Ebd., S. 240.

59
Thema beschäftigt haben, mag daran liegen, dass sich beide Autorinnen mit den
Übersetzungstheorien auseinandergesetzt und die daraus gewonnenen Erfahrungen und
Erkenntnisse auch in ihre Poetiken einfließen lassen haben. Tawada hat sich mit den
Übersetzungen von Paul Celan Gedichten ins Japanische auseinandergesetzt und die
Celan-Essays159 publiziert. Darüber hinaus verfasste sie, wie Matsunaga (2002) feststellte,
von vielen ihrer Texte „Partnertexte“. Ingeborg Bachmann hat unter anderem 1961 eine
Auswahl von Gedichten Giuseppe Ungarettis aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt.
Belegt werden kann auch das Verständnis beider Autorinnen, den Übersetzungsprozess als
Transformation von einer Kultur und Sprache in eine andere oder innerhalb einer
gemeinsamen Sprache von einem/r Gesprächspartner/in zum/r anderen wahrzunehmen.
Vor allem bei Tawada steht Literatur als Übersetzung aus einer nicht sprachlichen Ebene
im Vordergrund, und wie ihre Celan-Essays veranschaulichen, geht es auch um ein
Erahnen einer anderen Sprache, die nicht leicht sichtbar gemacht werden kann. Ähnlich
wie es auch Bachmann in der Frankfurter Poetik-Vorlesung „Literatur als Utopie“ erläutert
hat:
Denn dies bleibt doch: sich anstrengen müssen mit der
schlechten Sprache, die wir vorfinden, auf diese eine
Sprache hin, die noch nie regiert hat, die aber unsere
Ahnung regiert und die wir nachahmen (IB, KS, 347-348).

Ingeborg Bachmann sieht in der „erahnten Sprache“ jene, die „noch nie regiert hat“. Um
sie zu erreichen müsse man (vor allem die Schriftsteller/innen) die Worte, trotz der
Unmöglichkeit, „verdächtigen“ (IB, IG, 25), da sonst nur die „schlechte Sprache“
gesprochen wird, die aus Floskeln und Phrasen besteht und die nicht zu einer
Verständigung über den Inhalt hinaus beitragen kann.
Eine weitere Gemeinsamkeit der Autorinnen ist die Erfahrung der Fremde und des
Fremdseins. Mehrere Male haben beide ihren Wohnsitz oder Aufenthaltsort gewechselt,
und sie vermitteln dadurch das Bild einer nomadischen Lebensweise.160 Diese

159
„Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch“ (YT, TM, 121-134); „Rabbi Löw und 27 Punkte“
(YT, SP, 38–44); „Die Krone aus Gras“ (YT, SP, 63–84).
160
Ingeborg Bachmann: 1926 in Kärnten, Österreich geb.; 1945 Studium in Innsbruck; 1946 Studium in Graz
und Wien; 1953 Übersiedlung nach Italien zu Hans Werner Henze (Insel Ischia und Rom); 1955 Reise in die
USA, danach Paris und zurück nach Rom; 1956 Italien (Besuch bei Hans Werner Henze in Neapel), danach
Paris und zurück nach Rom; 1957 Übersiedlung nach Deutschland (München); 1958 Übersiedlung in die
Schweiz (Zürich); 1960 Übersiedlung nach Italien (Rom); 1963 Übersiedlung nach Deutschland (Berlin);

60
„Übersetzungen“ in andere Länder haben das Verlassen der Muttersprache zur Folge und
im weiteren Sinn, wie wir bei Tawada sehen, das Heraustreten aus der Muttersprache
(Exophonie)161. Bachmann hingegen hat zwar das Land, aber nicht ihre Muttersprache
verlassen, sie hat im Gegensatz zu Tawada nur auf Deutsch publiziert. Die
Fremdheitserfahrungen haben beiden Autorinnen ihren Blick auf und den „Umgang“ mit
ihrer (Mutter-)Sprache verändert, verschärft und somit auch ihr Schreiben beeinflusst. So
meinte Yoko Tawada bei einem Interview 1996:

[…] Schreiben ist ja Arbeit mit der Muttersprache, aber


manchmal auch gegen die Muttersprache. Man muß ja auch
richtig mit der Muttersprache kämpfen, weil sie uns ja auch
zwingt in einem einzigen System drin zu bleiben und das
wollen wir ja nicht.162

Ähnlich klingt es in Ingeborg Bachmanns Gedicht „Exil“ (1957):

[…]
Ich mit der deutschen Sprache
dieser Wolke um mich
die ich halt als Haus
treibe durch alle Sprachen
[…]
(IB, WE, Bd. I, 153)

Obwohl Bachmann immer angab, Italien und seine Sprache sei für sie nichts „Exotisches“
(GI, 130), sondern ihr schon von Kindheit an aufgrund ihrer Herkunft aus dem Gebiet des

1964 Reise nach Prag und Ägypten; 1965 letzte Übersiedlung nach Italien (Rom). Aus: Höller, Hans:
Ingeborg Bachmann. (zuerst 1999), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (rororo) 2001, S. 178ff; Yoko Tawada:
1960 in Tokyo, Japan geb.; Studium der russischen Literatur in Japan; 1979 erste Reise nach Europa
(Deutschland); 1982 Praktikantinnenstelle als Buchhändlerin in Hamburg; 1984/85 Entschluss, in Hamburg
zu bleiben, Beginn des Studiums der Germanistik; 2004–2009 häufige Besuche in Paris und den USA zu
germanistischen und japanologischen Konferenzen; Writer-In-Residence: Okt.–Nov. 1996 Villa Aurora
Pacific Palisades; Feb.–Mai 1999 M.I.T. Boston; April 2004 Univ. of Kentucky, Nov.–Dez 2004 Deutsches
Haus of New York Univ., März–April 2008 Washington Univ. in St. Louis, Feb. 2009 Stanford Univ., April
2009 Cornell Univ.; 2006 Übersiedlung nach Berlin. Aus: Ivanovic, Christine: Exophonie und Kulturanalyse,
(PT, 171).
161
Was hier jedoch nicht gemeint ist, ist, dass Bachmann einen exophonen Schreibstil hat.
162
Klopfer: „Also es gibt kein Original“, S. 16.

61
sogenannten Dreiländerecks (Österreich, Italien, Slowenien) vertraut und „ein Zuhause“
(GI, 130) gewesen war, bleibt die Erfahrung der Fremde und des Fremdseins dennoch
unumstritten. Ihrer eigenen Aussage im Mai 1969 zufolge führte sie bezüglich ihrer
schriftstellerischen Tätigkeit in Italien ein Doppelleben, welches ihr die notwendige
Distanz verlieh, über Österreich und Wien zu schreiben (IB, IG, 65). Die Fremderfahrung
Bachmanns bezieht sich jedoch nicht nur auf ihren Entschluss, in Italien zu leben, sondern
auch auf ihre Beziehung zum Land Österreich selbst, das es, wie Bachmann selbst sagte,
nie gegeben hat.

Und was wir heute so nennen, trägt seinen Namen, weil es in


irgendwelchen Verträgen so beschlossen wurde. Aber der
wirkliche Name war immer „Haus Österreich“. Ich komme
aus dieser Welt, obwohl ich geboren wurde, als Österreich
schon nicht mehr existierte. […] und die geistige Formation
hat mir dieses Land, das keines ist, gegeben (IB, IG, S.79).

Österreich wird von Bachmann nicht als nationales Gebilde wahrgenommen, sondern, so
Stefanie Golisch (1997), als „heterogenes Lebensgefühl aus verspielter Macht und
verlorenen Möglichkeiten“163, in welchem sie die eigene Fremde fühlte. In ihrem
literarischen Schaffen kommt sie immer wieder auf die Thematik „Haus Österreich“
zurück, sie verarbeitet die Vergangenheit des Landes anhand menschlicher Beziehungen,
die als geschichtliche und kollektive Erinnerungsarbeit gelesen werden können.164 Golisch
(1997) hat über das Thema der Fremdheit in Ingeborg Bachmanns Werk einen Artikel
verfasst, der sich mit ihr als deutschsprachige Schriftstellerin in Italien befasst und die
direkte und indirekte Verarbeitung und Funktion der Fremde in ihrem literarischen Werken
analysiert. So kommt Golisch zu der Annahme, dass für Bachmann nicht die inhaltliche
Verarbeitung der Fremde wesentlich war, sondern dass die Fremde eine Funktion für ihre

163
Golisch, Stefanie: Fremdheit als Herausforderung: Ingeborg Bachmann in Italien. In: Internationales
Symposium Deutsch-italienischer Studien. Studio italo-tedeschi. Band 18. Meran: Accademia di Studi Italo-
Tedeschi 1997, S. 397.
164
Die Forschung hat hierzu eine Vielzahl an Publikationen vorzuweisen, die sich vor allem mit der
Weiterschreibung Bachmanns der Romanfigur „Franz Joseph Trotta“ von Joseph Roths Roman „Die
Kapuzinergruft“ in der Erzählung „Drei Wege zum See“ (1972) auseinandergesetzt hat. Verwiesen sei hier
auf: Bannasch, Bettina: Von vorletzten Dingen. Schreiben nach „Malina“: Ingeborg Bachmanns „Simultan“-
Erzählungen. Würzburg: Königshausen & Neumann 1997; Dippel, Almut: Österreich – das ist etwas, was
immer weitergeht für mich.“ Zur Fortschreibung der „Trotta“-Romane Joseph Roths in Ingeborg Bachmanns
„Simultan“. St. Ingbert: Röhriger Universitätsverlag 1995.

62
lebenslange Auseinandersetzung mit der österreichischen Vergangenheit war.165
Hervorzuheben ist für Golisch der Essay „Was ich in Rom sah und hörte“ (1955), in dem
Bachmann nicht die vorgefundene Realität wiederholt, sondern eine neue Ebene der
Wahrnehmung schafft, indem sie die Voraussetzung der Aneignung zum Gegenstand der
Reflexion macht.166 Gisela Brinker-Gabler (2004) geht noch weiter und fordert die
Erweiterung des Begriffs der „modernen translingualen Literatur“ in Beziehung zu
Bachmanns Werken, da der „Erfahrungsbonus zweier oder mehrerer Sprachen das Erleben
einer transnationalen Sprachzone ermöglicht, in der Sprache nichts als Sprache mitteilt“.167

Ein weiterer gemeinsamer Punkt ist die Forderung an die Literaturwissenschaft und die
Germanistik, eine neue Lesart und einen neuen Umgang mit Literatur anzustreben.
Bachmann hat dies in ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesung „Literatur als Utopie“
folgendermaßen formuliert:

Ließen sich eines Tages die Fragen richtig formulieren, die


auf die Gedankenstriche folgen wollen, so könnten wir
vielleicht die Geschichte der Literatur und unsere Geschichte
mit ihr noch einmal neu schreiben (IB, KS, 349).

Yoko Tawada fordert in ihrer „ethnologischen Poetologie“ ebenso einen neuen Umgang
mit Literatur:

Wenn die Literatur als Ort, in den die abgedrängte,


verschwundene Magie der europäischen Moderne
hineingewandert ist, verstanden werden kann, sollte sie in
einem größeren kulturwissenschaftlichen Kontext betrachtet
und nicht in – je nach Sprachen, Gegenstandsbereichen und
Gattungen – voneinander isolierten Käfigen eingesperrt
werden (YT, SS, 13).

165
Golisch: Fremdheit als Herausforderung, S. 390.
166
Ebd., S. 410.
167
Brinker-Gabler, Gisela: Poet und Polyglott. Translinguale Perspektiven im Werk Ingeborg Bachmanns.
In: Agnese, Barbara / Pichl, Robert (Hg.): Ingeborg Bachmann. Eine Europäerin in Rom. Cultural tedesca,
25/2004, S. 97.

63
Folgendes Kapitel stellt die Figur der Übersetzerin der (Kurz-)Romane von Yoko Tawada
„Das Bad“ (1989) und „Saint George and the Translator“ (2007) mit jener der Erzählung
„Simultan“ (1972) von Ingeborg Bachmann gegenüber und zieht Rückschlüsse auf die
Poetik Yoko Tawadas. Ingeborg Bachmanns Erzählung wird auf ihre eigene Poetik
untersucht.

3.1 Ingeborg Bachmann

3.1.1 Ingeborg Bachmann als Übersetzerin


1961 brachte der Suhrkamp Verlag Bachmanns Übersetzungen der Gedichte von Giuseppe
Ungaretti heraus. Diese Übertragung ins Deutsche war jedoch nicht Bachmanns erste
Übersetzungsarbeit, bereits in den 50er-Jahren übersetzte sie im Rahmen ihrer Arbeit beim
Radiosender „Rot-Weiß-Rot“ Thomas Wolfs „Das Herrschaftshaus“ und Louis MacNeices
„Der schwarze Turm (BH, 204). Ihre Ungaretti-Übersetzungen wurden im
deutschsprachigen Raum durchwegs positiv aufgenommen, weil sie – gemeinsam mit den
Übersetzungen von Paul Celan (1968) – maßgeblich zum Bekanntheitsgrad des Dichters
im deutschsprachigen Raum beigetragen haben.168 Bachmann strebte, so Albrecht und
Göttsche (2002), eine „Aktualisierung“ der Gedichte Ungarettis an, indem sie sich von den
Vorgaben des Originals gelöst und in ihre eigene poetische Sprachwelt übertragen und
auch die von Ungaretti vorgenommen Datierung nicht übernommen hat (BH, 207). Auch
Stephanie Dressler (2002) liest in der nicht übernommenen Datierung und Widmung von
Ungaretti die Eigenständigkeit der Übersetzerin.169 Vor allem Hans Höller (1987)170, so
Dressler, war der erste, der Bachmanns Übersetzungen in Bezug auf ihr literarisches Werk
hervorgehoben und vor allem auf die Vorgangsweise und die Wortwahl in der Übersetzung
hingewiesen hat.171 Dressler hat in ihrer Arbeit Verbindungen von Bachmann zu

168
Dressler, Stephanie: Giuseppe Ungarettis Werk in deutscher Sprache. Unter besonderer Berücksichtigung
der Übersetzungen Ingeborg Bachmanns und Paul Celans. Heidelberg: Winter 2000.
169
Ebd., S. 115.
170
Höller, Hans: Ingeborg Bachmann. Das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum „Todesarten“-
Zyklus. 2. Auflage (zuerst 1987), Frankfurt am Main: Athenäum Paperback 1993.
171
Höller (1987) und später Baehr (1991) haben auf die Bildlichkeit in Bachmanns Gedichte „Dem Abend
gesagt“ hingewiesen und die Gemeinsamkeit mit dem Gedicht Ungarettis „Il Porto Sepolto“ in Bezug auf die
Verlagerung des Ich-Erlebens auf die Landschaft hingewiesen. Vgl.: Dressler: Giuseppe Ungarettis Werk in
deutscher Sprache, S. 120.

64
Ungarettis Motiven und Bildern hergestellt. Herausragend sind hier vor allem die Themen
des Krieges, des Leidens, des Erinnerns als kollektive und geschichtliche Erfahrung und
das Motiv des heimatlosen (nicht auf geografische Lagen bezogen), nomadischen
Dichters.172 Bachmann fand, so Dressler, in den Gedichten Ungarettis eigene Denkweisen
und Thematiken wieder und hat diese in die Übersetzungen einfließen lassen.
Pogatschnigg (2009) setzt Bachmanns Ungaretti-Übersetzungen mit ihren Essays „Wozu
Gedichte?“ (1955), „Das Gedicht an den Leser“ (undatiert) und der Frankfurter Poetik-
Vorlesung „[Über Gedichte]“ (1959) in Verbindung und arbeitet daraus drei
Übersetzungsmaxime („poetologische, ideologische und sonstige Überzeugungen, welche
den Übersetzungsprozess begleiten“)173 der Autorin und Übersetzerin heraus: Die Wörter
der Dichtung sind vorerst Fremdwörter, die von den Sprachen aufgenommen werden
müssen und demzufolge Gedichte schon Übersetzungen innerhalb einer Sprache sind.
Gedichte sind bei Bachmann, so Pogatschnigg, auch immer als „erkenntnishaltig“ (die
entstandene „Sprachnot abtragen helfen“) zu verstehen, das Dichten ist wie das Übersetzen
„Spracharbeit“ und bringt Dinge zu Tage, die vorher verborgen scheinen. So formulierte
Bachmann in jener Frankfurter Poetik-Vorlesung, dass Gedichte den Lesenden keine
Botschaft bringen würden, sondern sie selbst die Botschaft sind.174

In Bachmanns literarischen Werken scheint aber vor allem der Erzählband „Simultan“
(1972) das beste Beispiel für die Übersetzung als Kommunikations- beziehungsweise
Transformationsprozess über den inhaltlichen Teil des Gesagten hinaus zu sein. Auch
Peter Goßens (2002) vertritt diese These und bezeichnet sie als „metaphorisierende
Beschreibung der Verständigung“. 175 So sprechen zwar die beiden Protagonist(inn)en in
der Erzählung „Simultan“ die gleiche Sprache („Österreichisch“) und haben den gleichen
Geburtsort (Wien), kennen daher österreichische Gestiken und Verhaltensweisen, aber sie
sprechen dennoch aneinander vorbei, beziehungsweise sprechen sie nur in Alltagsfloskeln

Dressler (2002) verweist auf Ähnlichkeiten des Gedichts von Giuseppe Ungaretti „Girovago“ und
Bachmanns Gedichte „Exil“ und „Das erstgeborene Land“. Die Ähnlichkeit beruhe auf dem Thema des
heimatlosen Dichters, dem sein einziges „Haus“ (nicht aber zu Hause) die Sprache ist. Aus: Dressler:
Giuseppe Ungarettis Werk in deutscher Sprache, S. 146.
172
Ebd., S. 115–149.
173
Pogatschnigg, Gustav-Adolf: Allegria, Freude, Schmerz. Die Aufgabe der Ungaretti-Übersetzerin
Ingeborg Bachmann. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft, Jahrgang XL/1, 2009, S. 94.
174
Ebd., S. 97–98.
175
Goßens, Peter: Übersetzungen, (BH, 204).

65
miteinander und verhindern damit jede Übersetzung des anderen und von sich selbst in die
eigene und die fremde Welt.
In „Poetologische Entwürfe zum ‚Simultan’-Band“, der im Prosaband „Simultan“ gedruckt
werden sollte, schrieb Ingeborg Bachmann:

Übersetzen ist die erste Pflicht, auch wenn sie nicht in (die)
Charta der Menschenrechte aufgenommen ist
(IB, TA, Bd. IV, 17).

Bachmann löst die Übersetzung vom reinen Sprachgebrauch, erweitert den Begriff und
nimmt Übersetzung „als Grenzüberschreitung innerhalb zwischenmenschlicher
Verständigungen“ wahr, wie es Dressler (2002) formuliert.176 Dennoch bleibt der „richtige
und gute“ Umgang mit der Sprache für Ingeborg Bachmann in der Utopie angesiedelt und
viele Übersetzungsversuche scheitern oder bleiben unüberwindbar:

[…] dieses scheinbare Verständnis, das man Offenheit


nennt, ist ja gar keines. Verstehen – das gibt es nicht.
Offenheit ist nichts als ein komplettes Missverständnis. Im
Grunde ist jeder allein mit seinem unübersetzbaren
Gedanken und Gefühlen (GI, S.122).

3.1.2 „Simultan“
Der Erzählband „Simultan“ (1972)177 ist Bachmanns letztes zu Lebzeiten veröffentlichte
Werk. Er repräsentiert nach Höller (1999) „eine neue Poetik im Werk Bachmanns“, da er
ein gewandeltes Verhältnis der Autorin zu ihrem Schreiben, ihren Heldinnen und zum Ich
178
zeigen würde. Die Forschung hat eine Nähe zum „Todesarten“-Projekt, nicht nur
aufgrund der Aussage Bachmanns, dass sie die „Simultan“-Erzählungen während der

176
Dressler: Giuseppe Ungarettis Werk in deutscher Sprache, S. 111.
177
Der Erzählband beinhaltet die Erzählungen: „Simultan“; „Probleme, Probleme“; „Ihr glücklichen Augen“;
„Das Gebell“; „Drei Wege zum See“. Für eine Veröffentlichung angedacht waren auch die unvollendeten
Erzählungen: „Rosamunde“; „Die ausländischen Frauen“; „Sissi Fragment“ und „Freundinnen“ (IB, TA, Bd.
IV, 3ff).
178
Höller: Ingeborg Bachmann, S. 150.

66
„anstrengenden und finsteren“ (IB, TA, Bd. IV, 3)179 Arbeit am „Todesarten“-Projekt
geschrieben hat nachgewiesen. Der Erzählband ist auch, wie Marie-Luise Wandruszka
(1997)180 erörtert hat, als „ästhetisch-philosophischer Gegenentwurf“ zum „Todesarten“-
Projekt zu lesen.181 Es tauchen zwar die Mörder aus den „Todesarten“ auch in „Simultan“
wieder auf, diese wären aber, so Wandruszka, eher das Gegenteil der monströsen
herrschaftssüchtigen Männer und zeichnen sich durch ihre Hilflosigkeit aus.182 Vor allem
aber richtet Ingeborg Bachmann in den „Simultan“-Erzählungen den Blick auf die Frauen
und lässt die bisher für sie wichtigen „Kontroversen, Ideen, die Männer“ abseits stehen
(IB, TA, Bd. IV, 7, 10, 16), obwohl es, so betont Bachmann, „ein Buch für Menschen“ ist
(IB, TA, Bd. IV, 11). Wandruszka (1997) wies weiters darauf hin, dass Hofmannsthals
Frauenfiguren der Hintergrund für Bachmanns Wiederentdeckung der von Malina
verdrängten Weisheit und Freiheit der Frauen sind.183 Die Frauen aus dem „Simultan“-
Band, so Bachmann, seien auf sie zugekommen, und ihre „Gesellschaft“ habe sie
unterhalten, denn es seien für sie auch „komische Geschichten von Frauen“, die sie immer
von „außen“ gesehen hat, da „innen nichts zu verstehen“ sei (IB, TA, Bd. IV, 3). Anders
als Wandruszka sieht Schmidt (1989) in „Simultan“ keinen Gegenentwurf, sondern eine
Gemeinsamkeit zum „Todesarten“-Projekt, da das in den Erzählungen vorherrschende
Thema der Beraubung des Eigenen auch im „Todesarten“-Projekt vorkomme. Bachmann
finde, laut Schmidt (1989), in jeder Todesart und in jeder der „Simultan“-Erzählungen in
verschiedenen Frauen eine neue Variation (KU, 479)184.

Der Titel „Simultan“ war nach Bachmanns Aufzeichnungen in „Poetologische Entwürfe“


nicht der erste gewählte Titel für den Erzählband, sie nannte ihn manchmal „im Scherz
Wienerinnen“, da die Erzählungen185 als eine „Hommage an die Wienerinnen, die Frauen“

179
Bannisch (1997) verweist hier auf einen Brief Bachmanns an Otto Basil im April 1971: […] Sagen wir,
alles das, was mir nebenbei eingefallen ist, aber keinen Platz im Roman hat, daraus sind die Erzählungen
entstanden. Aus: Bannasch: Von vorletzten Dingen, S. 14.
180
Wandruszka, Marie-Luise: „Die Geschlechter, da es sie gibt.“ – Ingeborg Bachmanns neue Poetik. In:
Literatur und Kritik, 32/1997, S. 68–77.
181
Höller: Ingeborg Bachmann, S. 151.
182
Wandruszka: „Die Geschlechter, da es sie gibt“, S. 70.
183
Ebd., S. 68.
184
Schmidt, Tanja: Beraubung des Eigenen. Zur Darstellung geschichtlicher Erfahrung im Erzählzyklus
Simultan von Ingeborg Bachmann. In: KU, 479–502.
185
Die Bezeichnung „Erzählungen“ schien Bachmann nicht passend zu sein: Was ich wirklich sagen will,
steht natürlich in den Erzählungen, obwohl ich sie so lieber nicht nennen möchte. Mein Verlag wird sie so
nennen. Es sind Skizzen, mehr nicht, am Rand (IB, TA, Bd. IV, 11).

67
ihrer Stadt gelesen werden können (IB, TA, Bd. IV, 12-13). In Bezug auf den Titel
„Simultan“ gibt es einige Lesarten in der Forschung. Interessant erscheint die
Herangehensweise von Brinker-Gabler (2004), die dem Titel eine weitere Bedeutung
zukommen lässt. Anlehnend an den Schriftsteller und Wissenschaftler André Aciman sieht
sie darin eine zwingende Retrospektive, die für Exilierte eine Art Instinkt darstellt. So
würden Exilierte an einem Ort immer ein „Vor“ und ein „Nach“ sehen und nie nur den Ort
an sich. Alles ist beweglich und nicht haltbar und die Voraussetzung für Liebe ist nicht nur
Schmerz, sondern auch Täuschung.186 Die Protagonist(inn)en Nadja und Frankel, die
Enttäuschungen erfahren und diese nicht verarbeitet haben, sind in der Gegenwart noch
immer von ihrer Vergangenheit gefesselt und können diese nicht eher loslassen, als dass
sie diese aufgearbeitet haben.
Michael Eggers (2001) kommt aufgrund seiner etymologischen Forschungen zu anderen
Ergebnissen. Er verweist auf die im 17. Jahrhundert im englischen „simultaneous“ und
italienischen „simultaneo“ gebrauchten Wörter, die auf das lateinische Wort „simulteneus“
(dt. geheuchelt, fiktiv, gleichzeitig) zurückgehen. „Simulteneus“ wiederum stammt vom
lateinischen „simultas“ und bedeutet feindliches Verhältnis zwischen Gleichaltrigen,
Rivalität, Wettkampf. Daher ist für Eggers das titelgebende Wort „Simultan“ ein Verweis
auf die Gleichzeitigkeit des Nachahmungs- und Rivalitätsverhältnisses, wie es auch in der
Dolmetscher(innen)tätigkeit vorkomme.187
Bachmann äußerte sich zum Titel „Simultan“ in „Poetologische Entwürfe“ wie folgt:

„Darum nenne ich den Band „Simultan“, denn was


stattfindet ist ein simultanes Geschehen und Denken und
Fühlen, und Sprachen, die sich nie ganz begegnen, jeder
muß den anderen ein wenig übersetzen (IB, TA, Bd. IV, 17).

„Simultan – aber das verstand ich erst später, sind trotzdem


alle Geschichten geschrieben worden, und der Leser könnte
sich fragen: was will der eigentlich, der meint es wohl

186
Brinker-Gabler, Gisela: Living and Lost in Translation and Interpretation. Ingeborg Bachmanns
„Simultan“. In: Brinker-Gabler, Gisela (Ed.): „If we had the word“ – Ingeborg Bachmann: views and rewies.
Riverside, California: Ariadne Press 2004, S. 191.
187
Eggers, Michael: Simultan übersetzen. Geschlechter-, Sprachdifferenzen und die Erzählstimme in Texten
von Bachmann und Musil. In: Weimarer Beiträge, 4/47, 2001, S. 576.

68
symbolisch. Nein, eben nicht. Es heißt nur, was es heißt, daß
man eben nicht wirklich übersetzen kann, daß kein Mensch
einen anderen übersetzen kann, was er denkt und fühlt (IB,
TA, Bd. IV, 10).

Anlehnend an diese Aussagen Bachmanns und jene von Brinker-Gabler lese ich den Titel
„Simultan“ (für die Erzählung und die weiteren Erzählungen dieses Bandes) als
Gleichzeitigkeit, die jedoch als solche von den Protagonist(inn)en nicht wahrgenommen
werden kann, da sich die Vergangenheit aufgrund von verdrängten Traumata über die
Gegenwart legt und diese verstellt. Nadja und Frankel können das Leben nicht in dem
Moment übersetzen, sie können sich selbst und den/die andere/n in ihr Verstehen nicht
übersetzen, in ihr Leben und in die Zeit, in der sie gemeinsam sind. Ein Rivalitätsverhältnis
würde ich jedoch nicht in Betracht ziehen, da die Übersetzung beider Seiten, der
männlichen wie der weiblichen, nicht funktioniert. Ebenso verstehe ich den Begriff
„Nachahmung“ nicht als Rivalitätsakt, da er im Grunde eine positive Wirkung hat.
Nachahmen trägt immer auch zum Verständnis einer fremden Welt bei, da man ohne
Nachahmung von Sprache, Gestik und Verhaltensweisen keine eigenen Erfahrungen
machen kann.

Rezensiert wurden die „Simultan“-Erzählungen als „zynisch angestrebte Trivialliteratur“,


sie wurden einerseits verkannt und andererseits von der Wissenschaft lange nicht entdeckt,
da der Tod der Autorin in Zusammenhang mit dem Ende des Romans „Malina“ (1971) die
ganze Aufmerksamkeit erhielt.188 Vor allem die Erzählung „Drei Wege zum See“ (1972)
erhielt ab den 90er-Jahren große Aufmerksamkeit, vor allem aufgrund der Tatsache, dass
Bachmann darin die Figur beziehungsweise die Familie des Franz Josef Trotta von Joseph
Roths Romanen „Radetzkymarsch“ (1932) und „Die Kapuzinergruft“ (1938)
„weiterschrieb“. Ebenso wurde die Erwährung von Jean Amérys Essay „Über die Tortur“
(1965) und dessen Heimatlosigkeit als überlebender des Holocaust im Text hervorgehoben.
Bannisch (1997) zeigte wiederum die Nähe zum Gestaltungsprinzip des Schnitzler’schen
„Reigens“ auf.189 Eggers (2001) sieht in der Erzählung „Simultan“ eine Übersetzung und

188
Bannasch: Von vorletzten Dingen, S. 2.
189
Fünf Frauen werden vorgestellt, die unterschiedliche Liebesbeziehungen haben und die am Reigen
teilhaben. Der Reigen schreibt die Normalität der Geschlechterverhältnisse und die erste und die letzte

69
Verarbeitung von Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers“ (1921)190 und Robert
Musils „Die Versuchung der stillen Veronika“ (1911).191 Diese Verbindungen zeigen, wie
auch Höller (1999) bereits annahm, dass die Sprache in den „Simultan“-Erzählungen auf
die österreichische Literatur der ersten Jahrhunderthälfte verweist.192

3.1.2.1 Inhalt, Aufbau und Themen der Erzählung

3.1.2.1.1 Inhalt
Die Simultandolmetscherin Nadja, die Protagonistin der Erzählung ist fährt mit Ludwig
Frankel, einem Beamten der FAO (Food and Agriculture Organisation, einer
Spezialorganisation der UNO) für ein Wochenende nach Süditalien. Die beiden aus Wien
stammenden Kosmopolit(inn)en haben sich kurz vor der Reise auf einem Kongress in Rom
kennengelernt und erhoffen sich durch die gemeinsame Sprache, die Nadja zwar schon
zehn Jahre nicht mehr gesprochen hat, eine Rückkehr in etwas Verlorenes.

[…] vielleicht hatte sie auch nur, […] geglaubt, er bringe ihr
etwas zurück, einen vermißten Geschmack, einen fehlenden
Tonfall, ein geisterhaftes Gefühl von einem Daheim, das
nirgends mehr für sie war (IB, TA, Bd. IV, 101).

[…] daß er sie, vor einer Woche in Rom, an diesem


Samstag, so bekommen hatte, als könnte etwas Einfaches
sich wiederherstellen in seinem Leben, eine in Vergessenheit
geratene schmerzliche Freude, […] (IB, TA, Bd. IV, 111).

Während der Reise sehen sich beide zunehmend mit ihrer eigenen Vergangenheit
konfrontiert. Nadja erinnert sich an ihre (Gewalt-)Beziehung mit Jean Pierre, mit dem sie
auch einige der italienischen Schauplätze besucht hat. Dieser wiederum wird auf seine
Tablettensucht, gescheiterte Ehe und seine Berufsfrustrationen zurückgeworfen. Nadja und

Erzählung werden, wie bei Schnitzler, zusammengeschlossen: Nadjas ehemaliger Geliebter, Jean Pierre
kommt in „Drei Wege zum See“ als einer der Geliebten von Elisabeth vor (IB, TA, Bd. IV, 421). Aus:
Bannasch: Von vorletzten Dingen, S. 170.
190
Vgl. hierzu auch: Ebd., S. 206ff. Und: Brinker-Gabler: Poet und Polyglott, S. 99.
191
Die Annahme der Nähe der Erzählung Bachmanns zu Musils Erzählung wird später noch bezüglich der
Polyphonie in der Erzählung „Simultan“ erwähnt werden.
192
Höller: Ingeborg Bachmann, S. 150.

70
Frankel fahren von einem Hotel zum anderen, verlieren oft die Orientierung und verirren
sich. Die ganze Reise erweist sich als verfahrene Annahme beider Beteiligten, etwas zu
finden, das sie in der Vergangenheit verloren haben. Kein aufrichtiges Gespräch kommt
zwischen ihnen zustande, sie treiben von einer Sprache in die andere, ohne wirklich
ausdrücken zu können, was in ihnen vorgeht. Immer wieder kommt es zu schnell wieder
erlöschenden Diskussionen über Wirtschaft, Krieg und Ausbeutung. Während eines
Ausflugs auf den Gipfel des San Biego kommt es auf der Anhöhe unterhalb der
Christusstatue zum Zusammenbruch Nadjas, die hier nun endgültig mit ihrer
Sprachlosigkeit konfrontiert wird. Während Ludwig keine Ahnung von Nadjas
existenziellen Erlebnissen hat, verarbeitet diese ihren Zusammenbruch mit dem Resultat,
dass Leben keine Pflicht, sondern eine Möglichkeit darstellt und scheint gestärkt oder um
eine Erfahrung reicher aus dem Wochenende zu gehen. Zuvor versucht sie noch eine
willkürlich gewählte Bibelstelle zu übersetzen, woran sie aber scheitert. Nadja reagiert
jedoch nicht mit Frustration, sondern mit der Erkenntnis, dass sie eben nicht alles könne.

3.1.2.1.2 Aufbau
Die Erzählung ist durchsetzt mit englischen, italienischen, französischen und slowenischen
Redewendungen, die, wie in jeder Sprache, nebenher gesagt werden.193 Die Verwendung
und Auslassung dieser Satzfloskeln markiert die Unterteilung der Erzählung in ein „vor
dem Zusammenbruch“ und ein „Danach“. Ähnlich verhält es sich mit Nadjas Leben, das
sie in ein „vor der Beziehung“ und ein „nach der Beziehung“ mit Jean Pierre einteilt. Alles
was davor war und danach kommt, ist überschattet von der Gewalterfahrung mit Jean
Pierre. Als Lesende/r erlangt man durch das unabänderliche Vorantreiben des (Nicht-)
Kommunizierens der Figuren den Eindruck, als befinde sich das Essenzielle der Wörter im
Schatten des Gesagten und der Gesten. Hinzu kommt, laut Holeschofsky (1989), dass die
Figuren zwar selbst zu Wort kommen, aber immer auch von einer Außenperspektive
beschrieben werden.194 Das kommt, anlehnend an Albrecht und Göttsche (2002), auch
daher, weil sich indirekte und direkte Rede und innere Monologe ineinander verschieben
(BH, 160). So können die Aussagen den Figuren nicht eindeutig zugesprochen werden. Die

193
Vgl. hierzu: Anderson, Mark. In: Brinker-Gabler: Living and lost in Language, S. 192.
194
Vgl. hierzu: Holeschofsky, Irene: Bewusstseinsdarstellung und Ironie in Ingeborg Bachmanns Simultan.
In: KU, 469–479.

71
nach Holeschofsky bezeichneten, aufgelösten indirekten Reden (im ersten Teil der
Erzählung) entstammen nicht nur dem Bewusstsein Frankels, sondern auch dem Nadjas:

Er war einige Jahre lang in Rourkela gewesen und zwei


Jahre in Afrika, Ghana, dann in Gabun, länger in Amerika
selbstverständlich, sogar ein paar Jahre zur Schule dort
gegangen, während der Emigration, sie irrten beide die halbe
Welt ab, und am Ende wußten sie ungefähr, wo sie, von Zeit
zu Zeit, gewesen waren, […] und er erforscht hatte, was den
bloß? fragte sie sich, aber sie fragte es nicht laut, […] (IB,
TA, Bd. IV, 102).

Der Sachverhalt, so Holeschofsky, wird nicht in Ich-, sondern in Er-Form durch ein
Medium außerhalb der Person Frankels vermittelt, weshalb es sich hier um eine gehörte
Rede handelt, die sich im Bewusstsein Nadjas spiegelt (KU, 473). Im ersten Teil der
Erzählung gehört Frankel daher zum Bewusstseinsinhalt von Nadja. Oft werden seine
Aussagen erst durch die Antworten von Nadja erschließbar (KU, 474):

[…] es ist eine unglaublich anstrengende Arbeit, aber ich


mag das eben trotzdem, nein, heiraten nie, sie würde ganz
gewiß nie heiraten (IB, TA, Bd. IV, 103).

Die Erzählinstanz ist ebenso nicht eindeutig zuordenbar. So erscheint, wie Holeschofsky es
anführt, die Erzählung ohne Führung zu sein, da sich die Reflektorfigur, die arrangierende
Instanz, die mit der Autorin gleichzusetzen ist, hinter den Figuren befindet, sich aber an
einigen Stellen eine Art persönliche Erzählerin direkt zu Wort meldet, die auf das Denken
der Figuren in subjektiver Weise reagiert und den Lesenden Informationen zuspielt (KU,
475). Eine weitere Art der Polyphonie, die sich in Form von parallelen Stimmen zeigt, hat
Eggers (2001) erkannt. Er stellt Bachmanns „Simultan“ in die Nähe des Musil-Romans
„Die Versuchung der stillen Veronika“, da die Gedanken der Figur Veronikas nicht
rational, sondern ebenso wie bei Nadja aus ihrem Gefühl für sich selbst entstehen würden.
Eggers verweist auf den Textauszug, in dem die Rede von einer Verschmelzung der
Stimmen der Frau und der Stimme des Mannes ist, und diesen Punkt der Verschmelzung,

72
den man sich annähern sollte, nimmt man nur als „Unruhe“ wahr. Eggers liest hier den
Wunsch der Nichtvereinnahmung des Anderen, des Fremden heraus.195

3.1.2.1.3 Themen
Vordergründig scheint in der Erzählung die Auseinandersetzung mit der
Dolmetscherinnenarbeit der Protagonistin Nadja zu sein, die sie mit „Wortmassen zu
verschütten“ droht (IB, TA, Bd. IV, 115). Darüber hinaus zeigt sich diese Bedrohung auch
durch den aufkommenden Kapitalismus und die damit entstehende sogenannte neue
Sklaverei der Industriestaaten. Frankel wie Nadja leben nur in ihren Berufen und scheinen
daneben kein eigenes Leben mehr zu haben. Sie versteckten sich hinter ihren Karrieren vor
den Herausforderungen des Lebens, mit ihren Mitmenschen (IB, TA, Bd. IV, 110–111).
Vor allem bei Frankel trifft diese Lebensweise zu: Er beendet seine längst gescheiterte Ehe
nicht offiziell, da er das gemeinsame Scheitern nicht akzeptieren kann (IB, TA, Bd. IV,
104). Seine Kinder besucht er nur in den Ferien und weist die Wichtigkeit seiner
Verantwortung ihnen gegenüber von sich (IB, TA, Bd. IV, 125). Nadja hingegen
verkörpert den typisierten weiblichen Karrieretyp – keine Kinder (IB, TA, Bd. IV, 126),
kein ernsthaftes Bindungsinteresse, scheinbar autonom und selbstbewusst, aber im
Privatleben gescheitert und missbraucht (IB, TA, Bd. IV, 127). Die Fassade unterscheidet
sich von inneren Prozessen eklatant. Ein weiteres Thema ist daher die
Geschlechterdifferenzen in einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft. Dem
entgegengesetzt oder daran anschließend beginnen Anfang der 70er-Jahre die ersten
Versuche und Umsetzungen, die „westliche Welt“ immer mehr zu vereinen, vor allem die
europäischen „westlichen“ Länder schließen sich in ihren wirtschaftlichen Interessen
zusammen.196 Im Gegensatz dazu wird 1961 von der DDR die Berliner Mauer errichtet.
Der „Kalte Krieg“, in dem Europa zum Hautspannungsfeld von Ost und West wird,
überschattet die ganze Welt. In der Erzählung selbst weist zwar nichts eindeutig auf eine
Jahreszahl hin, man kann aber durchaus annehmen, dass es sich bei den Namen „Adorni“
(IB, TA, Bd. IV, 144) um den italienischen Radrennprofi Vittorio Adorni197 handelt, der
unter anderem 1965 „Giro d´Italia“, das zweitwichtigste Radrennen nach der „Tour de
195
Eggers: Simultan übersetzen, S. 578.
196
1962 startete die Europäische Union die gemeinsame Agrarpolitik, damit verbunden war die
Überproduktion von Lebensmitteln. Auch die Zollsätze wurden innerhalb der Europäischen Union um 15 %
gesenkt. 1964 wurde beschlossen, dass das Gemeinschaftsrecht vor dem Einzelstaatsrecht Vorrang hat. Aus:
http://europa.eu/abc/history/1960-1969/1962/index_de.htm.
197
Vgl. hierzu auch: Eggers: Simultan übersetzen, S.587.

73
France“, gewann. Die Welt zu dieser Zeit scheint sich einerseits für einige wenige zu
öffnen, hier im Fall Nadjas und Frankels aufgrund ihrer Berufe, die ihnen ein Elitendasein
ermöglichen, und andererseits für viele zu schließen. Der Fortschritt zeigt sich
einhergehend mit Unterdrückung, Ausbeutung und Verdinglichung. Dies spiegelt sich in
der Sprache der Erzählung wieder: Nadja, die keine eigene Sprache besitzt. Frankel, der
zwei Mal von der Wunschvorstellung spricht, dass es nur mehr eine Sprache geben soll
(IB, TA, Bd. IV, 109, 127). Die kurze Diskussion der beiden über die Entstehung der FAO
(IB, TA, Bd. IV, 128-129) steht ebenfalls in diesem Spannungsverhältnis von Aneignung,
Ermächtigung und Unterstützung.
Ein weiteres Thema der Erzählung ist das Sprechen in mehreren Sprachen, das nicht in
ihrer positiven Auswirkung dargestellt wird. Nadja, die durch ihre hochangesehenen
Diplome an Konferenzen teilnehmen kann, die der Mehrheit der Bevölkerung verschlossen
bleiben, geht in den vielen Sprachen, die sie spricht, unter, da hinter den gesprochenen
Sprachhülsen keine authentische Erfahrung liegt (IB, TA, Bd. IV, 115). Die Sprache wird,
so Bartsch (1997), zur Verdinglichung und Nadja zur Sprachmaschine.198
Anders verhält sich dies im Umgang mit ihrer Muttersprache. Im Verlauf der Erzählung
erinnern sich die beiden Protagonist(inn)en immer wieder an Ereignisse und Menschen aus
ihrer Vergangenheit, wollen sich das selbst und dem Gegenüber aber nicht eingestehen
(IB, TA, Bd. IV, 100, 101, 104, 106, 110–111, 124–126). Nur Nadja erhält durch die
Rückkehr der Muttersprache Antwort auf eine sie langjährige verfolgende Frage (IB, TA,
Bd. IV, 106).
Die Gewalt, die in „Simultan“ unter anderem auch durch die Beziehung von Nadja und
Jean Pierre eingeführt wird, steht für die (westliche) männliche Aneignung und
Ermächtigung der Frau und darüber hinaus auch für die männliche Inbesitznahme einer
Frau in einem fremden System. Er versucht Nadja mit Gewalt in sein, für sich
funktionierendes System, zu zwingen, ohne dabei sich selbst und Nadja zu hinterfragen, da
er sie nur als das Andere wahrnimmt. Eine andere Form der Gewalt zeigt die, von Nadja
nicht gutgeheißene Fischjagd von Frankel (IB, TA, Bd. IV, 124, 140); und die Andeutung
Nadjas gegen Ende der Erzählung, ihr täte das Genick genau dort weh, wo Frankel die
Cernia (dt. Zackenbarsch) erlegen müsste (IB, TA, Bd. IV, 140). Sylvie Grimm-Hamen
(1998) entdeckt hier den Zusammenhang zum Traumkapitel in „Malina“, in dem der

198
Bartsch, Kurt: Ingeborg Bachmann. Stuttgart, Weimar: Metzler 1997, S.154.

74
Fischfang vom Vater, der den Inbegriff der zerstörerischen Männlichkeit symbolisiert,
betrieben wird, auch wenn sich Frankel grundsätzlich nicht mit den Männern aus dem
„Todesarten“-Projekt gleichsetzen lässt.199 Das Motiv des Jagens, so Grimm-Hamen, wird
bei Bachmann konsequent abgewandelt, indem es ausgehend vom „Zeitvertreib“ zum „Ziel
all ihrer (der Männer) Bemühungen“ wird und nicht nur am Tier, sondern auch am
Menschen vollzogen.200 Darüber hinaus erinnert die Jagd an das Verhalten der
Kolonialstaaten, die rein aus Freude sogenannte exotische Tiere jagten, sammelten und in
Museen zur Schau stellten.

3.1.2.1.4 Charakter der Übersetzerin-Figur „Nadja“


Nadja verkörpert eine Frau von Welt, die erfolgreich, ehrgeizig, unabhängig und
selbstbewusst auftritt. Frankel beschreibt sie als jung wirkende und dynamische Frau (IB,
TA, Bd. IV, 112). Jost Schneider (2002)201 sieht in Nadja die Verkörperung des Prototypen
des „flexible man“, den Richard Sennett in seinem Buch „Corrosion of Character“
beschrieben hat.202 Von ihrer „Heimat“ hat sie sich schon mit 19 Jahren (IB, TA, Bd. IV,
102) verabschiedet und beschlossen in Rom zu leben. Warum, wird nicht erläutert. Rom ist
ihr zum „Standplatz“ geworden und ist ihr wichtiger als für jemanden anderen ein zuhause
(IB, TA, Bd. IV, 114). Dieser Satz lässt an einen Satz aus Amérys Essay „Wieviel Heimat
braucht der Mensch?“ (1966) denken: „Man muß Heimat haben, um sie nicht nötig zu
haben, […].“203 Nadja, die sich nirgends mehr zu Hause fühlt (IB, TA, Bd. IV, 101), muss
sich einen annähernd vertrauten Ort schaffen, um nicht vollkommen unterzugehen. Weil
sich ihre Sprachkenntnisse nicht auf Erfahrungen beziehen, sondern nur auf die technische
Sprachumsetzung in Dolmetscherkabinen lassen sie Nadja im Sprachzwischenraum
zurück. Ihre Rolle als Frau von Welt verkörpert Nadja perfekt, und die von Frankel
verkannte und bewunderte Verwandlungsfähigkeit Nadjas (IB, TA, Bd. IV, 131–132)
bleibt an Ende nur Verkleidung und Täuschung.

199
Grimm-Hamen, Sylvie: Der Jäger und seine Beute. Die Entzweiung des Lebens als Werk- und
Lebensprinzip. In: Albrecht, Monika (Hg.): „Über die Zeit schreiben“. Literatur und kulturwissenschaftliche
Essays zu Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 209.
200
Grimm-Hamen: Der Jäger und seine Beute, S. 209.
201
Schneider, Jost: Simultan. In: BH, 161.
202
Vgl.: Brinker-Gabler: Living and lost in Language, S. 189.
203
Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuch eines Überwältigten. (zuerst Szczesny
Verlag 1966), Stuttgart: Klett-Cotta 1977, S. 81.

75
Es gefiel ihm an ihr auch, wie sie reagierte, Wünsche
äußerte, etwas ablehnte oder annahm, wie anmaßend,
bescheiden, ausfallend oder einfach sie war, immer
wechselnd, eine Person, mit der man überall hingehen
konnte, […] (IB, TA, Bd. IV, 131).

Frankel erkennt die Person hinter den Rollen und Masken Nadjas nicht, er weiß nichts von
ihr, weil sie „über alles und jeden hinwegredet“ (IB, TA, Bd. IV, 113) und nur
Andeutungen von einer Phase ihres Lebens macht, in der es ihr nicht gut gegangen ist –
„who cares!“ Die Müdigkeit, die Nadja im Laufe der Erzählung immer wieder überkommt,
hat verschiedenen Motive: Sie setzt diese ein, um ihre eigenen Fehler zu kaschieren, so
zum Beispiel gleich zu Beginn der Reise, als sie den Weg zum Hotel nicht findet und die
Orientierung verliert:

[…] und sie war enttäuscht und erleichtert, es sei ihr


übrigens auch völlig gleichgültig, todmüde, wie sie
sei (IB, TA, Bd. IV, 100).

Oder um Gesprächsthemen aus dem Weg zu gehen (IB, TA, Bd. IV, 109) und als
Unterstreichung ihrer Wichtigkeit in der Welt von Glamour und Luxus (IB, TA, Bd. IV,
119). Die Rolle der selbstbewussten Dolmetscherin gerät in der Mitte der Erzählung ins
Wanken, denn außerhalb der Welt von Konferenzen und Dolmetschen verliert Nadja ihre
Identität als elitärer Gesellschaftspart, sie hat keine Aufgabe mehr und sieht sich immer
mehr auf Frankel angewiesen (IB, TA, Bd. IV, 114). Die Welt der Konferenzen empfindet
Nadja zwar als „irreal“ (IB, TA, Bd. IV, 130) und menschliche Annäherungen überfordern
sie. So will sie zu Beginn, genau wie Frankel, nicht im gleichen Bett neben einer anderen
Person schlafen, sehr wohl aber schlafen sie miteinander (IB, TA, Bd. IV, 109–110). Die
Nähe einer untätigen, nicht auf sofortigen Lustgewinn ausgerichteten Zuneigung macht
beiden Angst. Sie nennt Frankel während des Wochenendes nie beim Vornamen, sondern
nur Mr. Frankel oder sie gibt ihm Kosenamen (IB, TA, Bd. IV, 106-107). Somit hält sie
ihn auf Distanz oder sie verniedlicht ihn – beides zeugt nicht von der Ernsthaftigkeit einer
Annäherung. Erst am Morgen nach ihrem Zusammenbruch scheint sie aus ihrer Distanz

76
zur Welt und zum eigenen Leben herauszutreten und riskiert sogar die Sprünge über die
Felsen am Meer:

[…] sie kletterte nicht mehr vorsichtig, sondern sprang, wo


sie konnte, von einem zum anderen, sie war wieder nahe am
Weinen, das nie kommen würde, und sie wurde immer
waghalsiger, kühner […] sie riskierte es eben, abzustürzen,
sie fing sich benommen, sie sagte sich, es ist eine Pflicht, ich
muß, ich muß leben, […] aber was sage ich da, was heißt das
denn, es ist keine Pflicht, ich muß nicht, muß überhaupt
nicht, ich darf. Ich darf ja und ich muß es endlich begreifen,
in jedem Augenblick und eben hier, und sie sprang, flog,
rannte weiter mit dem, was sie wußte, […] (IB, TA, Bd. IV,
140–141).

Nadja scheint sich durch diese Erkenntnis aus dem Pflichtbewusstsein der Produktivität zu
lösen, denn auch ihr gescheiterter Versuch die Bibelstelle zu übersetzen, bringt sie zum
lang ersehnten Weinen und Erkennen, dass man die Sprache und darüber hinaus sich selbst
und die Welt nicht beherrschen kann (IB, TA, Bd. IV, 143). Sie entledigt sich einer großen
Belastung. Die Schlussszene, die mehrdeutig lesbar ist, wird von der Forschung sehr
unterschiedlich interpretiert. Ich sehe darin die Findung Nadjas der lebendigen Sprache.
Einer Sprache, die vom Inneren der Sprechenden auf Äußeres reagiert und aus
persönlichen Erfahrungen entsteht. Das Erfahrene wird durch das Gesagte in die
Gegenwart übersetzt. Brinker-Gabler (2004) liest die Schlussszene in der Verbindung mit
Bachmanns Aussage, dass der Einmarsch der deutschen Truppen ihre Kindheit zerstört
habe. Nadja hingegen hat nun die Möglichkeit, in den jubelnden Stakkatorufen der
Zuschauer/innen des Radrennens auch die positive Perspektive des Jubelns zu erkennen.
Somit symbolisiert diese Szene für Brinker-Gabler die Öffnung der Sprache für Nadja in
ihrem Raum und ihre Existenz.204 Nadjas Zuruf „Auguri!“ (IB, TA, Bd. IV, 145) an den
jungen Kellner interpretiert Brinker-Gabler (2004) als „Erleuchtung“ Nadjas, dass Sprache
mit der Aufgabe verbunden ist, sich mitzuteilen, und nicht sich zu isolieren, wie sie das

204
Brinker-Gabler: Living and lost in Language, S. 199.

77
zuvor gemacht hat.205 Eggers (2001) hingegen interpretiert die Schlussszene als
unübersetzbar und liest diese als Hoffnung, die in der Unterschiedlichkeit der Sprachen zu
suchen ist. Die Einsicht, die Fremdheit der anderen Sprachen nie ganz auflösen zu können,
wird auch in den Umgang mit der eigenen Sprache hineingetragen.206 Die Schlussszene
wird uns nochmals begegnen und mehr Aufschluss in Zusammenhang mit Bachmanns
Poetik geben. Zurückkommend auf die Erleuchtung Nadjas in Bezug auf die Sprache
scheint die Bedeutung ihres Namens wichtig zu sein.207 Denn Nadja ist die Kurzform vom
russischen Vornamen Nadjeschda, der abgeleitet wird von „nadeza“ (dt. Hoffnung).

3.1.3 Die Frankfurter Poetik-Vorlesungen und „Tagebuch“ in „Simultan“

3.1.3.1 Frankfurter Poetik-Vorlesungen


Die Poetik-Vorlesungen, die Ingeborg Bachmann 1959/60 als erste Dozentin des
Poetiklehrstuhls an der Universität Frankfurt vortrug, lösten den Presseberichten208 zufolge
große Irritationen aus. Die von Seiten des Publikums erwarteten klärenden Auskünfte einer
Autorin wurden durch den „Weg polyphoner Zerstreuung“, wie Tobias Wilke (2006)209
Ingeborg Bachmanns Vortragstechnik nennt, enttäuscht. Größeres Unbehagen löste laut
Arturo Larcati (2006) allerdings die Infragestellung der „traditionellen Germanistik“ aus;
Bachmann bezeichnete diese als „Scheinfrage der Literatur“.210 Wie Bannasch anlehnend
211
an Swiderska Malgorzata zusammenfassend im „Bachmann Handbuch“ (BH, 191)
zeigt, beziehen sich Ingeborg Bachmanns Essays und die Frankfurter Poetik-Vorlesungen
immer wieder auf Theodor W. Adornos Ausführung über den „Essay als Form“. Vor allem
seine „Betonung der utopischen Qualität des Essays“ seien für Bachmann maßgeblich
gewesen (BH, 191). Es ist nicht nur eine inhaltliche Forderung Bachmanns nach Utopie (in

205
Brinker-Gabler: Poet und Polyglott, S. 102.
206
Eggers: Simultan übersetzen, S. 588.
207
Vgl. hierzu: Gál, Szilvia: Über die Simultanität der Sprache in der Erzählung von Ingeborg Bachmann. In:
Bognár, Zsuzsa / Bombitz, Attila (Hg.): „Ihr Worte“. Ein Symposium zum Werk von Ingeborg Bachmann.
Wien: Praesens Verlag 2008, S. 183.
208
Laut Tobias Wilke gesammelt in: Schardt, Michael Matthias (Hg.): Über Ingeborg Bachmann.
Rezensionen – Porträts – Würdigungen (1952–1992). Paderborn: Igel Verlag 1994.
209
Wilke, Tobias: Auftrittsweisen der Stimme. Polyphonie und/als Poetologie bei Ingeborg Bachmann. In:
Leahy, Caitríona / Cronin, Bernadette (Hg.): Re-acting to Ingeborg Bachmann. New Essays and
Performances. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 256.
210
Larcati, Arturo: Ingeborg Bachmanns Poetik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, S. 9.
211
Swiderska, Malgorzata: Die Vereinbarkeit des Unvereinbaren. Ingeborg Bachmann als Essayistin.
Tübingen: Niemeyer 1989.

78
der oder als Literatur), sondern durch die Wahl der Gattung Essay (anlehnend an Adorno)
als Vortrags- und Vermittlungselement auch eine formale Forderung danach. Ebenso ist
hierbei der Einfluss von Robert Musils Konzeption einer „essayistischen Existenz“
wesentlich (BH, 191). Vor allem in der letzten Vorlesung „Literatur als Utopie“ bezieht
sich Bachmann, so Bartsch, auf Musil und vertritt die Ansicht, dass Leben und Werk eng
aufeinander zu beziehen seien, aber nicht als biografische Spurensuche, sondern als
„geistige Autobiografie“. (BH, 191) Laut Agnese (1996) sind vor allem diese verwendeten
und veränderten Robert-Musil-Zitate von großer Bedeutung für Bachmanns
sprachtheoretischen Ansichten.212 Wie Karen R. Achberger in „Es gibt für mich keine
Zitate“ (2004) aufzeigt, zitiert Bachmann in den Frankfurter Poetik-Vorlesungen nicht nur
von Robert Musil, sondern u.a. auch von Simone Weil, Hermann Broch und Berthold
Brecht.213

3.1.3.1.1 „Simultan“ und die Frankfurter Poetik-Vorlesungen


Die Forschung hat gezeigt, dass Bachmanns theoretische Auseinandersetzung mit
Dichtung und Sprache ihren literarischen Werken implizit ist. Auch in der Erzählung
„Simultan“ kann man Verweise auf die Frankfurter Poetik-Vorlesungen finden,
beziehungsweise hat Bachmann Teile des poetischen Diskurses in der Erzählung literarisch
umgesetzt. Die oben erwähnte Verarbeitung der Vergangenheit Österreichs der
Jahrhundertwende in der Sprache von „Simultan“ erinnert an ihre Aussage in der ersten
Frankfurter Poetik-Vorlesung „Fragen und Scheinfragen“ und kann als Bezugspunkt
gelesen werden:

[…] weil wir zu nahe daran sind, überblicken wir nichts, erst
wenn die Phrasen einer Zeit verschwinden, finden wir die
Sprache für eine Zeit und wird Darstellung möglich
(IB, KS, 256).

Die Sprache der Erzählung erinnert aber nicht nur an das Österreich der Vergangenheit,
sondern zeigt auch die von Bachmann erwähnte „schlechte Sprache“ (IB, KS, 344) auf,
212
Agnese, Barbara: Der Engel der Literatur. Das philosophische Vermächtnis Ingeborg Bachmanns. Wien:
Passagen Verlag 1996.
213
Achberger, Karen R.: „Es gibt für mich keine Zitate“: Bachmanns (freier) Umgang mit Namen in den
Frankfurter Vorlesungen. In: Agnese, Barbara / Pichl, Robert (Hg.): Ingeborg Bachmann. Eine Europäerin in
Rom. Cultural tedesca, 25/2004, S. 191–204.

79
jene die aus Floskeln und „Phrasen einer Zeit besteht“ (IB, KS, 256). Die Phrasen der Zeit
liest die Protagonistin Nadja jeden Abend in den „großen Zeitungen“, da sie aufgrund ihres
Berufs den „Wendungen auf der Spur“ bleiben muss (IB, TA, Bd. IV, 108). Vor allem
Frankels und Nadjas Italienisch, Englisch und Französisch gesprochene Passagen weisen
auf die Verwendung der phrasenhaften Sprache hin:

Die Städte wirbelten auf in der Nacht, Bangkok, London,


Rio, Cannes, dann wieder Genf unvermeidlich, Paris auch
unvermeidlich. Nur San Francisco, das bedauerte sie lebhaft,
no, never, […] after all those dreadful places there, und
immer nur Washington, grauenhaft, ja, er auch, […] dann
schwiegen sie, ausgelaugt, und nach einer Weile stöhnte sie
ein wenig, please, would you mind, je suis terriblement
fatiguée, mais quand-même, c´est drôle, n´est-ce pas, d´être
parti ensemble, tu trouves pas? […] (IB, TA, Bd. IV, 103)

Denn es sind hauptsächlich die Erfahrungen, die eine Sprache ausmachen, wodurch etwas
„Neues“ (IB, KS, 261) geschaffen werden kann, so Bachmann. „Simultan“ zeigt, dass
Nadja zwar in vielen Sprachen sprechen kann, aber deshalb nicht in verschiedenen
Sprachwelten, sondern nur in den Zwischenräumen der Sprachen bleibt, da sie in die
jeweiligen Sprachen keine Erfahrungen legt. Sie lebt, „ohne einen einzigen Gedanken im
Kopf zu haben eingetaucht in Sätzen anderer“ (IB, TA, Bd. IV, 115). Sie hört die Wörter
der anderen, ohne sie jedoch wirklich wahrzunehmen und überträgt sie sofort in die andere
Sprache. Auf keinen Fall aber darf sie an die Bedeutung der Wörter denken, denn das
würde ihren „Kopf unbrauchbar machen“ (IB, TA, Bd. IV, 115). Dieser Umgang mit der
Sprache führt Nadja schließlich zum Zusammenbruch, den sie am Berg in Form von
Schwindel und Todesangst erfährt. Dort wird sie von dem Gefühl bemächtigt, dass etwas
anfängt „in ihr auszubleiben“, dass es der Anfang der „Sprachlosigkeit“ sein könnte: Es
„fing an etwas einzutreten, eine tödliche Krankheit“ (IB, TA, Bd. IV, 134). Nadja
widerfährt hier die Rache der Sprache, weil sie mit ihr nur „hantiert“ hat, sie nur als
Werkzeug verwendet hat (IB, KS, 263). Erst am Ende der Erzählung gelingt Nadja die
Verknüpfung von Erfahrung und Sprache, indem sie dem Kellner ihr „Auguri!“ zuruft und
geht. Auch Schmidt (1989) verweist auf die „schlechte Sprache“, die in der Erzählung als

80
„Zeuge“ aufgerufen wird, aber spricht Nadja die Verknüpfung von Erfahrung und Sprache
ab (KU, 499).

Die Verbindung von Erfahrung und Sprache kann als Übersetzungsakt gelesen werden.
Bachmann hat vor allem Gedichte als Übersetzungen in die eigene Sprache bezeichnet.
Pogatschnigg (2009) verweist in einem Aufsatz auf jene Stelle der Frankfurter Poetik-
Vorlesung „[Über Gedichte]“:

[…] ihre Fremdworte, ihr Fremdkörper, wollen zuerst


einmal von der eigenen Sprache angenommen werden
(IB, KS, 272).

Er verbindet diese Aussage Bachmanns mit der in den „Simultan“-Erzählungen


vorhandenen „intersemiotischen Übersetzungsdimension zwischen verschiedenen
Manifestationen von Zeichensprache“, so zum Beispiel die Körper- und Gebärdensprache
und die Sprache an sich.214 Frankel zum Beispiel kann den immer wiederkehrenden Satz
aus Nadjas Erinnerungserzählungen „Damals ist es mir schlecht gegangen.“ nicht
übersetzen, er „wundert“ sich nicht einmal über diesen Satz und auch Nadja streift diesen
Satz immer nur an der Oberfläche (IB, TA, Bd. IV, 108). Auffällig sind auch die
Berührungen Frankels während des Autofahrens, die zeigen, wie Gestik, wenn sie
übersetzt wird, ganze Gefühls- und Lebenserfahrungen hervorbringt:

So heißt es einmal:

Er legte ihr die Hand zwischen die Beine, und sie sah gerade
aus, als merkte sie es nicht, aber wenn er es nicht tat, sie
vergaß und sich auf das Fahren konzentrierte, forderte sie
ihn heraus, und er schlug ihr auf die Hand […] (IB, TA, Bd.
IV, 116).

Eine Seite weiter steht geschrieben:

214
Pogatschnigg: Allegria, Freude, Schmerz, S. 97.

81
Seine Hand lag nun immer ruhig auf ihrem Knie, und sie
fand es sehr vertraut, so zu fahren, wie in vielen Autos mit
einem Mann, wie mit allen Männern in einem Auto,
trotzdem mußte sie sich zusammennehmen, sie mußte,
mußte jetzt hier sein, nicht in ihrer früheren Zeit (IB, TA,
Bd. IV, 117).

Zwei Mal die gleiche Geste, dennoch aber leicht versetzt, was einen großen Unterschied
macht. Die Hand zwischen den Beinen wird zur ruhigen Hand auf dem Knie, die Nadja als
vertraut empfindet, was sie sogleich an Erfahrungen mit anderen Männern denken und in
die Vergangenheit abrutschen lässt. Sie „fand“ die Hand auf dem Knie nur vertraut, aber
sie „vertraut“ ihr nicht wirklich, da sie rückblickend in Bezug auf die anderen Männer nie
Vertrautheit erfahren hat. Die Hand zwischen den Beinen ignoriert sie, wenn sie da ist und
fordert sie, wenn sie nicht da ist. Das spiegelt ein Nähe-Distanz-Spiel wieder, das in vielen
Beziehungen zu tragen kommt.
Nadjas Zusammenbruch und die darauffolgende Erkenntnis, dass Leben nicht Pflicht,
sondern Möglichkeit ist, kann als ein Erwachen, eine Erleuchtung gelesen werden.215 Der
Zusammenbruch kann in Verbindung gesetzt werden mit dem Beginn der Zerstörung des
Ichs, wie ihn Bachmann in der dritten Frankfurter Poetik-Vorlesung „Über das Ich“
beschrieben hat. Einem Kind wird durch verbale Gewalteinwirkung sein Ich bewusst
gemacht (IB, KS, 288). Höller (1987) argumentiert, dass der Beginn der Ich-Findung und
des Sozialisationsprozesses hier gleichgesetzt wird mit dem Beginn der Zerstörung des
eigenen Ichs und verweist gleichzeitig auf die Kindheitserfahrung Bachmanns, als die
deutschen Truppen in Kärnten einmarschierten.216 Die Geschichte im Ich verhindert die
Ausbildung einer gesicherten Identität, weil es zum Verlust der Heimat (in Form von
Geborgenheit, Vertrauen in die Welt und in die Sprache) gekommen ist.217 Nun wissen wir
nichts über die Kindheit Nadjas, wir erfahren nur von ihrer Heimatlosigkeit, die als
„geisterhaftes Gefühl von Daheim, das nirgends mehr für sie war“ bezeichnet wird (IB,
TA, Bd. IV, 101). Wir wissen um die Gewaltbeziehung zu Jean Pierre, der sie schlug und
das als „das Natürlichste hielt“ (IB, TA, Bd. IV, 127), und ihren Aufenthalt im
Krankenhaus (IB, TA, Bd. IV, 108) nach der Trennung von ihm. Nadja fühlt sich an
215
Vgl. hierzu: Brinker-Gabler: Poet und Polyglott, S. 100.
216
Bartsch: Ingeborg Bachmann, S. 34.
217
Ebd.

82
keinem Ort zu Hause, sie verliert, wenn sie nicht gerade ihrem Beruf nachgeht, ihre
Identität, die sie aus „Vogue“ und „Glamour“ entworfen hat (IB, TA, Bd. IV, 114). Auch
das Vertrauen in die Sprache fehlt. Nadja fühlt sich durch die Sprache, als Werkzeug
gebraucht, bedroht (IB, TA, Bd. IV, 127).218 Der Zusammenbruch verdeutlicht Nadja, dass
sie sich eine unsichere Identität aufgebaut hat und dass sie im Grunde keine Sprache
spricht, die von ihrer Erfahrung heraus geleitet wird. Im Moment der größten Angst sagt
sie zuletzt: „Aide-moi, aide-moi, ou je meurs ou je me jette en bas. Je meurs, je n´en peux
plus.“219 (IB, TA, Bd. IV, 136). Das Wort „Ich“ kommt in der gesamten Erzählung nicht so
oft vor, wie in dieser Passage, daraus kann man schließen, dass sich Nadja ihres eigenen
Ichs bewusst wird und darauf mit „Beklommenheit, Staunen, Grauen, Zweifel und
Unsicherheit“ (IB, KS, 289) reagiert. Gerade aufgrund des Verlusts der scheinbaren
Identität und Sicherheit bekommt Nadja zu einem späteren Zeitpunkt (beim Springen über
die Felsen) (IB, TA, Bd. IV, 140) einen „Gewinn“ (IB, KS, 300), der sie mit mehr Mut (IB,
TA, Bd. IV, 141) zurück lässt.

Eine weitere Verbindung zur Frankfurter Poetik-Vorlesung „Über das Ich“ ist die schon
erwähnte Erzählinstanz. Wie Holeschofsky (1989) zeigt, ist die Erzählung nur dem
Anschein nach führungslos, da hinter den Figuren eine Instanz steht, die mehr weiß als die
Figuren selbst und den/die Lesende/n auf Lücken hinweist und sie füllt. Darüber hinaus
wissen die Lesenden durch das Ineinandergleiten der indirekten und direkten Rede nie, wer
eigentlich spricht. Die Frage „Wer spricht hier eigentlich?“ findet sich auch in der
Frankfurter Poetik-Vorlesung:

Ich möchte beinahe behaupten, daß es kein Roman-Ich, kein


Gedicht-Ich gibt, das nicht von der Beweisführung lebt: Ich
spreche, also bin ich. Diese Beweisführung soll die Frage
niederschlagen, die sich den Schriftstellern oft stellt, wenn
der Text nicht in Ich-Form geschrieben ist: Wer spricht hier

218
Diese Angst von der Sprache der anderen verschüttet zu werden, verlockt zum Verweis auf das Ich von
Becketts Roman „Der Namenlose“ (1953), den Bachmann in derselben Vorlesung erwähnt. Mahood, das Ich
der Erzählung, fühlt sich bedroht und überrannt von der Sprache der anderen, die sie ihm eingetrichtert
haben. Bevor er resigniert, spricht er in der Sprache der anderen und macht immer weiter (IB, W, Bd. IV,
236–237).
219
„Hilf mir, hilf mir, oder ich sterbe oder ich werfe mich hinunter. Ich sterbe, ich kann nicht mehr.“
(Übersetzt von Lisa Kollmer)

83
eigentlich? wer weiß dies und jenes von den Figuren, wer
leitet sie, wer macht sie kommen und gehen und mit
welchem Recht, und wer wählt das zu Erzählende aus? (IB,
KS, 295).

Das geht jedoch über die förmliche Umsetzung dieser Frage hinaus, denn Nadja selbst
hinterfragt, so Böhmisch (2002), immer den Ort der Stimme, „sie ist diejenige die ihren
eigenen Ort des Sprechens und jenen des anderen und vor allem jenen des dazwischen
liegenden Grenzlandes hinterfragt“.220

Er hatte in Hietzing gewohnt, dann brach er ab, etwas mußte


also noch in Hietzing geblieben sein, schwer auszusprechen
(IB, TA, Bd. IV, 101).

Somit werden die Lesenden nicht nur aufgefordert, die Erzählinstanz ausfindig zu machen,
sondern auch die gerade sprechende Figur, da das „Ich“ von Bachmann nicht nur in Frage
gestellt, sondern auch in Frage geschrieben wird.

Die Orientierungslosigkeit Nadjas, welche die Geschichte zusätzlich zu einer Irrfahrt der
beiden Figuren macht und dies noch unterstreicht, hat den Ursprung im „Atlas, den nur die
Literatur sichtbar macht und deren Landkarte sich nur an wenigen Stellen mit den Karten
der Geographen“ (IB, KS, 313) deckt. So formuliert Bachmann in der Poetik-Vorlesung
„Namen“ das Problem der Schriftsteller/innen mit Namensgebungen ihrer
Protagonist(inn)en und Schauplätze (IB, KS, 313). Nadja liegen die Ortsnamen oder der
Name des Hotels „auf der Zunge“ (IB, TA, Bd. IV, 100), aber sie fallen ihr nicht ein, da
die „Verbindungen“ nicht mehr stimmen. Der Ort, das Hotel, den/das sie sucht, ist nur
mehr in ihrer „geistigen Landkarte“ vorhanden und stimmt mit der „geographischen“ nicht
mehr überein (IB, KS, 313). Nach erfolglosen Suchen nach Hotels in ihrer Erinnerung
befällt Nadja immer Müdigkeit oder sie lässt es zumindest gegenüber Frankel so aussehen,
als ob sie müde und erschöpft wäre. In diesen Momenten der Enttäuschung und Ahnung,
dass nichts mehr wie früher ist und ihr etwas (Geborgenheit, Vertrauen, Mut) verloren

220
Böhmisch, Susanne: Simultanstimmen und Differentialität bei Ingeborg Bachmann. In: Banoun, Bernard /
Hartl, Lydia Andrea / Hoffmann, Yasemin (Hg.): Aug um Aug. Medienkämpfe in der österreichischen
Literatur des 20. Jahrhunderts. Berlin: Erich Schmidt 2002, S. 220.

84
gegangen ist, zieht sie sich in Müdigkeit zurück (IB, TA, Bd. IV, 100, 109, 119). Frankel
hingegen, der sich ebenfalls von seiner Berufsfrustration befreien will, leidet an
Schlaflosigkeit. Er denkt über seine, ihm ausweglos erscheinende Situation nach, um sich
dann mit Tabletten in den Schlaf zu flüchten (IB, TA, Bd. IV, 110-111).221 Das erinnert an
Bachmanns Aussage in der Frankfurter Poetik-Vorlesung „Fragen und Scheinfragen“:

Wir sind ja Schläfer, aus Furcht, uns und unsere Welt


wahrnehmen zu müssen. Unsere Existenz liegt heute im
Schnittpunkt so vieler unverbundener Realitäten, die von
widersprüchlichsten Werten besetzt sind (IB, KS, 268).

Nadja wie Frankel nehmen in den zuvor beschriebenen Situationen ihre jeweilige Position
in diesen „unverbundenen Realitäten“ wahr und können ihre Vergangenheiten nicht mit
der Gegenwart verbinden. Beiden gelingt die Verbindung der Welt der Eliten und jener,
die außerhalb dieser liegt, nicht mehr. Sie haben sich durch ihr kosmopolitisches Dasein
eine scheinbar grenzenlose Welt geschaffen, die sie jedoch bei genauer Betrachtung mehr
begrenzt und einsperrt als befreit.

3.1.3.2 Tagebuch
Der Essay „Tagebuch“ wurde von Ingeborg Bachmann für das geplante
Zeitschriftenprojekt „Gulliver“ verfasst. Dieses Projektvorhaben wurde von drei
Redaktionsgruppen (Italien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich) und den
Verlagshäusern Juillard (später durch Gallimard ersetzt), Enaudi und Suhrkamp geleitet
und sollte parallel in drei Sprachen erscheinen.222 Bachmann gehörte, wie unter anderem
Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser, zur Redaktionsgruppe der
Bundesrepublik Deutschland und war bis zu den Verhandlungen, die im April 1963
scheiterten beteiligt (BH, 182). Laut Weigel (1999) führten „explizit politische
Äußerungen“ zum Scheitern des Projekts.223 Den Aufzeichnungen Bachmanns zufolge, so
Weigel, habe sie für mehr Verschiedenheit, Individualität und Besonderheit plädiert,

221
An dieser Stelle (IB, TA, Bd. IV, 111) verweist ein Zitat auf den Roman von F. Scott Fitzgerald: „Tender
is the night“ (1934). Der Titel wiederum ist dem Gedicht von John Keats „Ode to an Nightingale“ (1819)
entnommen.
222
Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. (zuerst
Zsolnay Verlag 1999), München: dtv 2003, S. 386.
223
Ebd., S. 387.

85
sowohl in den Redaktionsgruppen als auch in Zusammenhang mit den Themen, die frei
wählbar sein sollten.224 Nach dem Scheitern des Projekts wurden die Texte 1964 in
italienischer Sprache als Probenummer des „Gulliver“ in der Zeitschrift „il menabó“
herausgegeben (IB, W, Bd. IV, 375).225 Weigel sieht in Bachmanns „Tagebuch“ eine
„polemische Abgrenzung gegenüber einer Kulturpolitik, die sich als staatlich inszenierte
Versöhnung, Verständigungsrausch und Verbrüderungstaumel darstellt“.226 Für Albrecht
und Göttsche (2002) beinhaltet der Essay den Wunsch Bachmanns nach einer
„Verständigung zwischen den Nationen als ein Plädoyer für die essayistische Form sowohl
im Sinne Adornos wie auch Musils, in der die Sprachutopie in einen konkreten
historischen Kontext eingebettet ist“ (BH, 182).
Auffällig ist die Auseinandersetzung Bachmanns mit dem Bild und Gebilde Europas, das
nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs willkürlichen Grenzziehungen ausgesetzt war und
das durch die Bildung der Ost- und Weststaaten und den „Kalten Krieg“ als Zwischenraum
im Spannungsverhältnis dieser beiden Welten stand und sich in beiden dieser Welten
befand. So hinterfragt sie das europäische Denken (IB, KS, 388) oder sie spricht von dem
„edlen Gespinst“, dem „alten Europa“, das durch Hitler zum „Trümmerhaufen“ geworden
ist (IB, KS, 392). Sie spricht von Europa (vor allem von Westeuropa) als einer „Mischung
aus Brachland und Ackerland“ (IB, KS, 393ff), das nur aufgrund der wirtschaftlichen und
militärischen Zusammenschließung Bündnisse eingeht. Dies klingt wie die Kritik der
heutigen Tage an den Politiker(inne)n in der Europäischen Gemeinschaft, dass diese nur
wirtschaftliche Interessen vertreten würden.
Interessant ist die Wahl „Tagebuch“ als Titel für einen offiziellen Text. Das Wort
„Tagebuch“ verweist auf einen persönlichen, subjektiven und chronologisch geführten
Text in Form einer Bestandsaufnahme. Die Wahl des Titels könnte auf die Kritik
Bachmanns verweisen, dass sich nur mehr Expert(inn)en dem Thema Europa angenommen
haben und nicht mehr die „Schöngeister“, da sich diese nicht mehr kompetent genug
fühlten, darüber zu schreiben (IB, KS, 393).

224
Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 392.
225
Vgl. hierzu: Agnese, Barbara : „Un seul pays ne suffit pas. La collaboration de Ingeborg Bachmann à
deux revues internationales.“ In: Po&Sie, 130, 2010, S. 85–102.
226
Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 393.

86
3.1.3.2.1 „Simultan“ und „Tagebuch“
Als Nadja den Bibelspruch nicht übersetzen kann, begreift sie, dass sie nicht alles können
muss, und beginnt (endlich) zu weinen. Sie ist jedoch wegen ihres Versagens nicht
verzweifelt, sondern scheint erleichtert zu sein (IB, TA, Bd. IV, 143). Sie geht zu Frankel,
der in der Bar mit den anderen Anwesenden im Fernseher ein Fahrradrennen verfolgt. Alle
sind in die letzten Sekunden des Rennens vertieft und bemerken Nadja nicht. Sie fragt den
jungen Kellner, wer gewinnt, dieser jedoch, vertieft in das Rennen, hört sie nicht. Es folgen
die Jubelrufe der Zuschauer/innen: „Adorni!“ Michael Eggers (2001) hat diese Szene
übersetzt und festgestellt, dass „Adorni“ zwar der Name des Radprofis ist, aber auch der
Imperativ der zweiten Person vom italienischen „adornare“ (dt. schmücken, verzieren,
ausschmücken) ist. Somit liest Eggers die Stelle als einen „versteckten Hinweis auf die
poetischen Möglichkeiten der Sprache“.227 In der Erzählung verlässt Nadja nun mit Frankel
die Hotelbar und ruft dem jungen Kellner, der sie zuvor nicht gehört hat: „Auguri!“ zu.
Eggers liest dies sowohl als Glückwunsch als auch als Verweis auf die Auguren
(altrömische Seher und Schicksalsdeuter). Darüber hinaus könnte man es laut Eggers auch
als Antwort auf die Frage des Kellners, was Nadja denn wünsche, lesen: „augurare“ (dt.
wünschen). „Auguri“ ließe sich demnach als eine Aufforderung verstehen oder als die
Mehrzahl von Wunsch (ital. augurio). Schlussfolgernd stellt Eggers fest, dass es sich in der
letzten Szene um eine „Doppelung“ handelt, die eine „möglich werdende reziproke
Maßlosigkeit der Sprache“ zeigt, sich das Wünschen zu wünschen. Folglich bliebe diese
Szene unübersetzbar.228

Und dann wird auch nichts verloren sein, wenn einmal für
ein Wort kein entsprechendes Wort gefunden wird. Wenn
das Vertrauen nur da ist in den Dialekt, in das, was
übersetzbar an ihm ist, in das, was unübersetzbar bleibt (IB,
KS, 395).

So drückt es Bachmann in ihrem Essay „Tagebuch“ aus und lässt die Erzählung folglich
mit der Herausforderung des Unübersetzbaren, aber der Utopie des Übersetzbaren des

227
Eggers, Michael: Simultan übersetzen. Geschlechter-, Sprachdifferenzen und die Erzählstimme in Texten
von Bachmann und Musil. Ebd., S. 587.
228
Ebd., S. 589.

87
Eigenen, des Dialekts (dem Versuch darin, der wichtiger ist als das Ergebnis) enden. So
bleibt auch der Wunsch Frankels nach einer Sprache unter der Prämisse der Eigenart nicht
erstrebenswert und gleichzeitig aber auch die Annahme Nadjas, dass sie dann nicht mehr
gebraucht werde, nicht haltbar, da man sich untereinander schon nicht übersetzen kann.

3.2 Yoko Tawada

3.2.1 „Das Bad“


Der Kurzroman wurde von Yoko Tawada in Japanisch verfasst, 1989 von Peter Pörtner ins
Deutsche übersetzt und im Konkursbuch Verlag herausgegeben. In Japan ist der Band erst
2010 publiziert worden (PT, 251). Die deutsche Ausgabe zeichnet sich, den Inhalt vorerst
außer Acht lassend, durch die grafische Gestaltung aus. Auf dem Cover ist ein Teil eines
Fischkörpers und dahinter ein grobkörniges Bild einer nackten Frau zu sehen. Die Szene
des Bildes erinnert verbunden mit dem Titel „Das Bad“ an die Badekultur in Japan um
1900. Das Bild stammt, nach Kerstings (2006) Nachfrage bei der Verlegerin des
Konkursbuch Verlags, von einem chinesischen Fotografen aus den 1920er- und 30er-
Jahren.229 Kersting sieht das Bild im historischen Zusammenhang der Öffnung Japans
Mitte des 19. Jahrhunderts und des Kulturtransfers des Japonismus nach Europa. Die
Fotografien aus dieser Zeit, so Kersting, wurden medial vermittelt und in Studios
arrangiert. Sie bestanden aus einer Verschmelzung tradierter japanischer Bildtechniken
und westlicher Bildtradition. Vor allem Frauen bei der Schönheitspflege waren beliebte
Motive.230 Daraus folgernd verweist Tawada mit diesem Titelbild auf die Verknüpfung
von Europa und Asien und thematisiert zugleich das Thema der Kolonialisierung (welches
in der Szene mit Xander, der die Ich-Erzählerin fotografieren will verschriftlicht wird). Der
Teil des Fischkörpers stellt, nach Kersting, einen Karpfen dar. In Japan werden diese mit
Verwandlung in Verbindung gebracht und verehrt.231 Darüber hinaus, so Kersting, erinnert
die Zusammenstellung vom Fischkörper und der Frau an den europäischen Undine-

229
Kersting: Fremdes Schreiben, S. 133.
230
Ebd., S. 134.
231
Ebd.

88
Mythos232. Nymphen, Nixen und Wasserfrauen stehen für die Kombination von Wasser
und Weiblichkeit, Sehnsucht, Verführung, Lust und Schrecken, Tod und Eros.233 Tawadas
bereits erwähnte Spiegelung zweier diachroner Systeme234 und die daraus folgende
Dekonstruktion derer ist hier deutlich sichtbar und zieht sich durch den gesamten
Kurzroman.235
Neben dem Cover sind auch auf jeder Seite des Bandes Bildausschnitte des chinesischen
Fotografen oder Ornamente (z.B. ein Spiegel) abgedruckt. Fünf Seiten sind ohne Bild (YT,
DB, 5, 9, 37, 41)236. Diese gehen teilweise mit dem Inhalt des Erzählten einher. So zum
Beispiel die Szene, in der die Ich-Erzählerin auf den Bildern von Xander unsichtbar bleibt
(YT, DB, 10).

3.2.1.1 Inhalt, Aufbau und Themen des Kurzromans

3.2.1.1.1 Inhalt
Zu Beginn des Kurzromans verwandelt sich die namenlose Ich-Erzählerin beim Baden in
eine Fisch- beziehungsweise Schuppenfrau. Im nächsten Kapitel erfahren wir, dass die Ich-
Erzählerin eine Japanerin ist. Xander, ein Fotograf, versucht sie abzubilden, aber auf
keinem der Fotos ist sie sichtbar. Xander beschließt sie so zu schminken, wie er sich eine
Japanerin vorstellt und plötzlich ist sie am Foto sichtbar. Die Ich-Erzählerin geht ihrer
Arbeit als ungeprüfte Dolmetscherin nach und übersetzt bei einem gemeinsamen
Geschäftsessen einer deutschen und einer japanischen Firma. Im Zuge dieses Essens wird
ihr aufgrund der Wörter, die die Geschäftsleute sprechen und die sie als Abfall empfindet,

232
Der Name Melusine kommt erstmals 1392 in Jean D´Arras „Le Roman de Mélusine“ vor. 100 Jahre
später führt Paracelsus den Elementargeist des Wassers namens Undine ein und stellt ihr die Figur der
Musiline gegenüber. Er führt diese beiden Gestalten auf die antike Mythologie der Sirenen zurück. Sirenen
sind eine Art der Wasserfrauen Undine und Mesuline. Sie unterscheiden sich von Undine dadurch, dass sie
mehr auf, als im Wasser schweben und unfruchtbar sind. Sirenen und Mesuline zeigen durch ihren
Fischschwanz ihre dämonische Seiten, Undine hingegen ist dem Menschen ähnlich. Die bekannteste Undine-
Figur, von Friedrich Baron de la Motte-Fouqué, erhob die mythische Undine zur literarischen Figur. Aus:
Tang, Wei: Mahrtenehen in der westeuropäischen und chinesischen Literatur: Melusine, Undine,
Fuchsgeister und irdische Männer – Eine komparatistische Studie. Würzburg: Ergon Verlag 2009, S. 26.
233
Tang: Mahrtenehen in der westeuropäischen und chinesischen Literatur, S. 135.
234
Vgl.: Ivanovic: Aneignung und Kritik, S. 134.
235
Ivanovic (2008) verweist auf das Motiv des Badens als Subtext in Tawadas Texten in Verbindung zur
antiken Sage (die u.a. in Ovids „Metamorphosen“ erzählt wird) rund um den Raub der Europa (dieser wird
jedoch nie bei Tawada direkt thematisiert). So wird der Enkel des Cadmus (Bruder von Europa, der vom
Vater ausgeschickt wurde, um diese wieder zurück zu bringen) der Jäger Aktaion von der Göttin Artemis
(Diana) bestraft, nachdem er sie beim Baden erblickt hat. Aus: Ebd., S. 149.
236
Die Seiten von „Das Bad“ sind im Original nicht paginiert. Die von mir gewählte Paginierung beginnt mit
der ersten Seite des ersten Kapitels.

89
unwohl und sie verliert die Kontrolle über ihre Zunge. Auf die Toilette flüchtend
verschlingt dort eine Seezunge ihre Zunge. Eine Frau mit einer Brandnarbe im Gesicht
findet sie und nimmt sie in ihre Kellerwohnung mit, in der sie mit Ratten haust. Die Ich-
Erzählerin, die nicht mehr sprechen kann, merkt, dass nicht nur das Gesicht, sondern der
halbe Körper der Frau von Brandnarben übersät ist. Die verbrannte Frau will die Ich-
Erzählerin mit in den Tod nehmen, aber die Ich-Erzählerin kann sich retten und geht nach
Hause, wo Xander auf sie wartet. Dieser ist nun kein Fotograf mehr, sondern ihr
Deutschlehrer, der ihr rein durch das Nachsprechen der ihr fremden Worte Deutsch gelernt
hat. Die beiden, die zudem ein Paar sind, sprechen mithilfe von Puppen (die Frauenpuppe
aus Seide, die Männerpuppe aus Holz) in der dritten Person miteinander. Die Ich-
Erzählerin besucht in der Nacht wieder die verbrannte Frau, die ihre Zunge hat. Als
Männer die Wohnung der Frau stürmen, verschwindet diese und die Ich-Erzählerin muss
alle Ratten erschlagen. Eine der Ratten nimmt das Gesicht der verbrannten Frau an.
Daraufhin bewirbt sich die Ich-Erzählerin als Schuppenträgerin in einem Zirkus. Dort
verwandeln sich alle Frauen in Bräute, begehren gegenüber der Männerwelt auf und
bahren die Ich-Erzählerin als Fisch auf. Danach resümiert sie ihren letzten Besuch bei der
Mutter in Japan, während dessen sie mit ihrer Kindheit und ihrer Muttersprache
konfrontiert wurde. Nach diesem Rückblick erzählt sie, dass sie nun die Typistin der
verbrannten Frau ist und alles aufschreibt, was diese sagt. Xander wird zum Tischler und
zimmert ihr eine Kiste mit Deckel, die aussieht wie ein Sarkophag. Dieser verwandelt sich
in einen Schuppenvogel und am Ende in die verbrannte Frau. Es folgen Szenen von
Gewalt, Krieg und Verfolgung. Auch die Ich-Erzählerin wendet Gewalt an und tötet den
Schuppenvogel. Zurück bleibt die Ich-Erzählerin als transparenter Sarg mit der Stimme der
verbrannten Frau.

3.2.1.1.2 Aufbau
Der Kurzroman ist in zehn Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel beschäftigt sich
ausschließlich mit der Verwandlung der Ich-Erzählerin in eine Fischfrau
(Schuppenträgerin) und den Erzählungen von japanischen Volksmärchen über Fischfrauen,
die alle zu Tode kommen. Das zweite Kapitel umreißt den Versuch des Fotografen Xander,
ein Bild von der Ich-Erzählerin zu machen. Das Geschäftsessen mit der daraus
resultierenden Sprachlosigkeit der Protagonistin wird im dritten Kapitel erzählt. In dieses
Kapitel fällt auch die Geschichte aus der Kindheit der Ich-Erzählerin über ihren Unwillen

90
„Ich“ im Japanischen zu sagen. Die Begegnung mit der verbrannten Frau umfasst das
vierte Kapitel. Das fünfte Kapitel handelt von der Kommunikation zwischen Xander und
der Ich-Erzählerin, die mit Puppen in der dritten Person zueinander sprechen. Den
abermaligen Besuch bei der verbrannten Frau mit und ohne Xander und die darauffolgende
Stürmung deren Wohnung durch zwei Männer wird im sechsten Kapitel zusammengefasst.
Die Szene mit den Ratten, welche die Protagonistin erschlagen muss, erfolgt im siebente
Kapitel. In diesem findet auch die Bewerbung der Ich-Erzählerin als „Schuppenträgerin“
im Zirkus statt und ihr Erlebnis mit den in Bräute verwandelten Frauen. Der Besuch bei
der Mutter in Japan und die Konfrontation mit ihrer Kindheit wird im achten Kapitel
erzählt. Das neunte Kapitel umfasst die Verfolgung durch Xander und der verbrannten
Frau. Ebenso werden hier Kriegs- und Gewaltszenen aufgenommen. Zehntes und zugleich
letztes Kapitel ist eine Art Resümee der Ich-Erzählerin bezüglich ihrer Verwandlungen und
Begegnungen und endet mit ihrer Feststellung, dass sie ein transparenter Sarg ist.

Kersting (2006) weist auf die Verwendung verschiedener Erzählzeiten hin und unterteilt
den Kurzroman in Passagen der Retrospektive (im Plusquamperfekt eingeleitet), der
Basiserzählung im Imperfekt und Einschübe im Präsens, in denen von der Ich-Erzählerin
zum Beispiel Eigenschaften des menschlichen Körpers reflektiert werden.237 In den
Kriegspassagen (YT, DB, 57, 53) sieht Kersting Anspielungen auf den Supergau in
Tschernobyl und die Bombardierungen Tokyos im „Zweiten Weltkrieg“.238

Miho Matsunaga (2010) hat aus einigen von Tawadas Romanen und Erzählungen, die
zwischen 1989 und 1995 auf Japanisch geschrieben wurden und in Europa oder einem
fiktiven europäischen Land spielen, eine interessante Figurenkonstellation
herausgearbeitet, die vor allem für „Das Bad“ zutrifft. Matsunaga spricht von der
Dreierkonstellation: „Ausländerin, einheimischer Mann, Confidente“. Hauptfigur und Ich-
Erzählerin ist immer eine Japanerin oder Asiatin, die alleine im Ausland lebt und mit
einem einheimischen Mann (in „Das Bad“ der Mann namens Xander) zusammen ist.
Dieser kritisiert die Ich-Erzählerin aufgrund ihres „anderen“ Verhaltens. Im weiteren
Verlauf der Erzählungen trennen sich die beiden oder die Ich-Erzählerin versucht zu
flüchten, wobei sie von einer Vertrauten (Confidente) unterstützt/begleitet wird. Der
237
Kersting: Fremdes Schreiben, S. 138.
238
Ebd.

91
einheimische Mann und die Confidente (in „Das Bad“ die verbrannte Frau) kennen
einander nicht und treffen sich auch nie, da diese oft keine Person ist, sondern als Geist
oder als Erscheinung eingeführt wird. Die Männer hingegen werden realistisch dargestellt
und erhalten, wie im Falle „Das Bad“, als einzige Figur einen Namen (Xander). Matsunaga
spricht im Falle der Confidente von einer „metaphorischen Begleiterin“ der Ich-Erzählerin
(PT, 249).239
Insgesamt vermittelt der Kurzroman eine unausweichliche Geschwindigkeit, der man sich
nicht entziehen kann. Die Anordnungen der Erzählpassagen, die nicht vorhandenen Zeit-
und Ortsangaben verstärken die Orientierungslosigkeit. Einzige Konstante scheint der
Name „Xander“, nicht jedoch seine Figur zu sein – alles andere verwandelt sich und bleibt
namenlos (die Ich-Erzählerin, die Mutter, die verbrannte Frau). Man findet sich in
traumähnlichen Sequenzen wieder, um dann doch wieder auf Realität zu stoßen, etwa
wenn die Ich-Erzählerin eine Zeitung liest (YT, DB, 40) und sich an Erzählungen der
Mutter über die Bombardierung Tokyos erinnert (YT, DB, 44).

3.2.1.1.3 Themen
Auffallend sind die vielen Tiere, die auftreten. Gleich zu Beginn der Fisch als Karpfen und
Seezunge (YT, DB, 2, 13), wobei der Wildkarpfen in Japan Kraft und Mut symbolisiert.240
Die Ratten treten immer in Verbindung mit der verbrannten Frau auf (YT, DB, 21, 38) und
241
symbolisieren in Asien Ehrlichkeit und Kreativität. In westlichen Kulturen hingegen
werden Ratten mit Verschlagenheit und Verbreitung von seelischen Qualen und
Krankheiten in Verbindung gebracht. Ebenso verhält es sich mit der Fledermaus, die hier
auch eine Rolle spielt. In der westlichen Kultur ist sie eher negativ (Unreinheit, Tod)
besetzt, in China hingegen steht sie für Glück und Gewinn. Der Schäferhund, der mit den
Männern die verkohlte Wohnung der Frau stürmt (YT, DB, 36), erinnert in europäischem
Kontext an die Hunde der Truppen der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. Die
darauffolgende Szene des Ratten-Erschlagens kann die Fragen nach Mittäter(innen)schaft
oder Instrumentalisierung der Ich-Erzählerin mit/durch Männer symbolisieren oder kann
als Hinweis der ebenso grausamen nationalistischen Erweiterungskriege und Massaker

239
Matsunaga, Miho: Ausländerin, einheimischer Mann, Confidente. Ein Grundschema in Yoko Tawadas
Frühwerk. In: PT, 249–261.
240
Kersting: Fremdes Schreiben, S. 134.
241
Verwiesen sei hier nur auf die Erwähnung, nicht auf den Vergleich von der verbrannten Frau und
Ingeborg Bachmann. Vgl.: Ebd., S. 149.

92
Japans im Zweiten Weltkrieg gelesen werden. Der Schäferhund, wie auch die zwei Mal
erwähnten Ameisen (YT, DB, 4, 39), haben keine verschiedene Darstellungsformen
bezogen auf Europa und Asien (oder zumindest ist diese nicht landläufig bekannt). Diese
unterschiedlichen Übersetzungen der Tiermystik kann wieder als Spiegelung gelesen
werden. Darüber hinaus handelt es sich, wie im nächsten Kapitel näher erläutert wird, um
eine Erinnerungsform von kulturellen und gesellschaftlichen Mythen, wie sie Tawada in
einer der Tübinger Poetik-Vorlesungen erwähnt hat und als „ethnologische Poetologie“
bezeichnet (YT, VL, 28).

Das im Titel enthaltene Motiv des Badens wird im Kurzroman in verschiedenen Facetten
dargestellt. Einmal gleich zu Beginn bei der Verwandlung der Ich-Erzählerin in eine
Fischfrau (YT, DB, 1), dann als sich die verbrannte Frau in der Kellerwohnung in einem
Bottich wäscht (YT, DB, 22) und ein letztes Mal als sich die Ich-Erzählerin die Haare
wäscht (YT, DB, 39). In allen drei Szenen trägt das Element Wasser auch zur
Verwandlung der Figuren bei. Die Handlung des Badens stellt bei der verbrannten Frau
jedoch eher eine Häutung als eine Verwandlung dar (YT, DB, 22-23). Das Gesicht der Ich-
Erzählerin beim Haarwaschen verwandelt sich aber „wirklich“ im Spiegel und wird zum
Gesicht der verbrannten Frau (YT, DB, 39). Aber nicht nur die Ich-Erzählerin verändert
sich im Lauf des Kurzromans, auch Xander wird vom Fotografen zum Deutschlehrer und
am Ende zum Tischler und Jäger (YT, DB, 10, 28, 52, 55). Die Mutter der Protagonistin
wird für zur Schuppenfrau (YT, DB, 47). Die verbrannte Frau verwandelt sich nicht direkt,
sie häutet sich nur. Auch im vorletzten Kapitel verwandelt nicht sie sich in den
Schuppenvogel, sondern der Schuppenvogel in sie (YT, DB, 56) – Tote scheinen aus dem
Verwandlungsprozess ausgeschlossen zu sein. Der Spiegel könnte – wie im Märchen
„Schneewittchen“242 – als Vermittler zwischen den Welten gelesen werden. In Japan
glaubt man, laut Tawada, dass man im Spiegel nicht nur sich selbst, sondern auch seine
Ahnen sieht.243

242
Das Märchen „Schneewittchen“ drängt sich hier nicht nur in Bezug auf das Objekt des Spiegels auf. Auch
der transparente Sarg erinnert an den von Schneewittchen. Tawadas Übersetzerin verkörpert, wenn
überhaupt, nicht die Märchenfigur des Schneewittchens, sondern den durchsichtigen Sarg. Interessant ist
auch, dass das Märchen „Schneewittchen“ nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika und Afrika erzählt
wird, jedoch immer in verschiedenen Versionen. Aus: Wehes, Rainer / Enzian, Dorothee (Hg.): Es war
einmal ... Unsere beliebtesten Märchen. Niederhausen: Falken Verlag 1984, S. 9.
243
Fischer: „Verschwinden ist schön“, S. 105.

93
Die Ich-Erzählerin, die ihre Muttersprache verlassen hat und diese auch nicht gerne spricht
(YT, DB, 16), wird mit der Rückkehr in ihre Sprache nicht nur mit dieser, sondern auch
mit ihrer Kindheit beziehungsweise ihrer Erinnerung daran, die jedoch nicht zwingend nur
ihre ist, konfrontiert:

Ich hatte lange nicht japanisch gesprochen; in dem Wort


okaasan traf ich die wieder, die ich einmal gewesen war,
von dem Wort watashi an hatte ich das Gefühl, meine eigene
Simultanübersetzerin zu sein (YT, DB, 45).

Das Wort „watashi“ bekommt in Bezug zur erwähnten Erzählung der Ich-Figur noch eine
weitere interessante Komponente. Wie zuvor berichtet, hat die Ich-Erzählerin, bis sie in die
Grundschule eintrat, sich nicht als „Ich“ bezeichnet, sondern nur ihren Namen gesprochen:

In der Grundschule sagten die Lehrer den Mädchen und


Jungen, daß man sich selbst Ich nennt. Zuerst hatten sich alle
geschämt und weiterhin statt Ich nur ihren Namen benutzt;
allmählich aber hatten sie wenigsten im Unterricht
angefangen, Ich zu sagen. Nur ich konnte es nicht. Ich wollte
aber nicht, daß es jemand merkt und hörte deshalb auf, mit
anderen zu sprechen. Ich sprach nur mehr mit meiner
Mutter. […] In Situationen, in denen ich das Wort Ich aber
nicht mehr vermeiden konnte, begann ich zu stottern. Das
Ich zerbrach mir in Teile mit großen Abständen dazwischen
(YT, DB, 16).

Wie oben schon erläutert, gibt es im Japanischen für das Wort „Ich“ mehrere
Zuschreibungen, die sowohl auf die Differenzierung von Kind/Erwachsener und
Mann/Frau hinweisen.244 Yoko Tawada nimmt in ihrem Essay „Eine leere Flasche“ (2002)
dazu Stellung, dass mit ihrem Umzug nach Europa das Problem der Selbstbezeichnung
gelöst und das deutsche Wort „Ich“ (geschlechtsneutral, alter-, status- und
geschichtsunabhängig) zu ihrem Lieblingswort wurde (YT, ÜS, 57). Beim Besuch der

244
Junge Mädchen verwenden „atashi“, junge Buben „boku“, die älteren Buben „ore“, daneben gibt es ein
ungeschlechtliches „watashi“ oder „watakushi“, das für Erwachsene gilt (YT, ÜS, 53–54).

94
Protagonistin bei ihrer Mutter fällt dieser auf, dass sie plötzlich „Ich“ zu sich selbst sagen
kann (YT, DB, 49) und beginnt zu weinen. Die Mutter merkt die Veränderungen der
Tochter, meint, sie spreche seltsam und deutet dies als Verlust. Die Mutter lebt, seit sie die
Tochter verlassen hat, in den Erinnerungen an deren Kindheit und wartet darauf, dass die
Tochter unverändert wieder zurückkehrt. Für die Tochter hatte das Verlassen der Mutter
und auch der Muttersprache eine positive Auswirkung auf ihre Selbstbenennung, die sie
nun auch ins Japanische transferieren kann, indem sie simultan beide Begriffe verwenden
kann.245 Es kann auch als Absage gegen die gesellschaftliche Rolle der Mutter gelesen
werden. Bei der Rückkehr in die Muttersprache hat sich diese auch verändert. Die
Erinnerungen, die in ihr und ihrer Mutter aufkommen, erscheinen der Ich-Erzählerin
einerseits unangebracht: „Mutter, hören wir auf, an früher zu denken. Überlegen wir lieber,
was jetzt noch hilft.“ (YT, DB, 49), und andererseits will sie ihr „altes Zimmer unbedingt
noch einmal sehen“ (YT, DB, 49) und ist von ihm angezogen. Eine andere Variante der
Erinnerungen sind die, welche die Tochter von der Mutter übernommen hat, um sie zu
ihren zu machen. Die Ich-Erzählerin begründet, warum sie die Mutter nicht vom Flughafen
abholen kann. Der Lärm der Flugzeuge erinnere die Mutter an den Bombenangriff auf
Tokyo (YT, DB, 44)246. Korian (2010) hat diesen Erinnerungen einen Artikel gewidmet
und festgestellt, dass es sich hierbei, anlehnend an die Soziologin Viola B. Georgi, um eine
„lebensweltliche Brücke“ handelt (PT, 339). Diese ermöglicht, das Wissen über die
Vergangenheit an die Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart anzupassen. Tawada, so
Korian, schlage eine Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart, indem die erinnerte
Geschichte der Mutter auch zur Erinnerung der Tochter wird. Der Auslöser in der
Gegenwart ist die Abwesenheit der Mutter am Flughafen und die Einsamkeit und Leere der
Ich-Erzählerin/Tochter bei der Rückkehr in ihr Heimatland. Anstatt dieser Leere wird im
erzählten Text die Erinnerung an die Erinnerung der Mutter gesetzt. Die Mutter kann den
Flughafen nicht mit dem positiven Ereignis der Rückkehr der Tochter besetzen, sondern
mit deren Abflug und der Bombardierung der Stadt (PT, 338). Die historischen
Lebenserfahrungen der Mutter tauchen wie Schatten, je nach den

245
Vgl. hierzu „exophones Schreiben“.
246
Anspielung auf den Bombenangriff durch die amerikanischen Luftstreitkräfte zwischen 1944 und 1945 im
Rahmen des Pazifikkriegs, wobei der Großteil der Stadt zerstört wurde. Vgl.: Korian, Linda: Schattenloses
Schreiben im Unterwegs? Suche nach Vergangenheitsspuren in deutschsprachigen Texten von Yoko
Tawada. In: PT, 337.

95
Orientierungsbedürfnissen und Erklärungsversuchen der Tochter, wieder in der Gegenwart
auf.
In Bezug auf die Mutter der Ich-Erzählerin fällt die im Kurzroman oft erwähnte Milch auf.
So tritt sie einmal in Form einer Körperlotion, „die eigentlich Muttermilch“ ist (YT, DB, 5)
auf und vier weitere Male wird die Milch in erwärmter Form in den Kurzroman
eingebunden: in der Kellerwohnung der verbrannten Frau (YT, DB, 18); zum Frühstück
mit Xander, der den Geruch von warmer Milch nicht ausstehen kann (YT, DB, 32); als die
Ich-Erzählerin Stellenausschreibungen liest (YT, DB, 40) und nachdem die Ich-Erzählerin
aus dem Traum mit dem Zirkus aufgewacht ist und das Bild der verbrannten Frau in der
Zeitung entdeckt (YT, DB, 43). In Form von Muttermilch wird sie nochmals erwähnt, in
der Erzählung der Mutter bezüglich der „Entwöhnung“ der Ich-Erzählerin (YT, DB, 48).
Im neunten Kapitel, in dem vor allem Gewalt, Verfolgung und Krieg vorkommen, tritt die
Milch auffallend stark in den Vordergrund:

Das Baby ist hungrig und schreit nach Milch. Ich habe auch
Lust auf Milch. […] Xanders Stimme sagt: Ich ekle mich vor
dem Geruch warmer Milch. In diesem Augenblick fließt
papierweiße Milch aus den Kannen der Stewardess, löscht
das Kriegsfeuer, […] und versickert mit Asche vermischt in
der Erde. Als das Kriegsfeuer ganz gelöscht ist, ist keine
Milch mehr da. Ich habe kein einziges Mal Milch bekommen.
Sagt die Stimme jener Frau. Sie wurde in den Jahren
geboren, in dem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging (YT,
DB, 54).

Muttermilch ist die erste Ernährungsgrundlage des noch unselbstständigen Menschen und
beinhaltet alle Stoffe, die zum Überleben eines Säuglings notwendig sind. Es stellt die
erste Körperberührung nach der Geburt des Kindes mit der Welt (der Mutter) dar und wird
in Zusammenhang damit als Entstehung von Urvertrauen und Bindung (Bounding)
zwischen Mutter und Kind interpretiert. Mit der Aussage „jener Frau“, die keine Milch
erhalten hat aufgrund des Krieges, könnte der Verlust an Sicherheit, Urvertrauen,
Geborgenheit gemeint sein, der durch den vom Menschen geführten Krieg ausgelöst wurde
und weit in die Nachkriegszeit hineinreicht. Die Ich-Erzählerin zeigt große Vorliebe für

96
warme Milch im Gegensatz zu Xander, der den Geruch ekelhaft findet. Man könnte
meinen, es ekelt ihm deshalb davor, weil es eine nur von Frauen produzierte Flüssigkeit ist,
die das Überleben von Neugeborenen sichert und Männer dahingehend zwecklos macht.
Oder es ist, wie Kersting (2006) interpretierte, die nonverbale Kommunikation der Ich-
Erzählerin, sich gegenüber Xander abzugrenzen.247 Die Thematik der Muttermilch kann
auch als Hinweis auf die männliche Unterdrückung des weiblichen Wissens gelesen
werden. Ab den 60er-Jahren war es in Europa üblich, Muttermilch durch
Industriesäuglingsmilch und Babynahrung zu ersetzen. Auch das Gebären von Kindern
wurde immer mehr in den medizinischen Sektor hineingedrängt und mehr als Krankheit
denn als natürlicher Prozess angesehen. Hebammen wurden zumeist von Gynäkologen
zurückgedrängt und allbewährtes von Generation zu Generation übermitteltes Wissen
wurde durch ein männliches hierarchisches und schulmedizinisches Wissen ersetzt, das
rein auf Theorien aufgebaut war.

Das neunte Kapitel beinhaltet wie erwähnt hauptsächlich Kriegs- und


Gewaltschilderungen, die der Ich-Erzählerin widerfahren. Auch vor diesem Kapitel kommt
es immer wieder zu Gewalteinflüssen gegenüber der Protagonistin, so die Seezunge, die
ihre Zunge isst (YT, DB, 17), oder die verbrannte Frau, die mit ihr sterben will (YT, DB,
26-27), und die Szene, in der sie die Ratten der Frau mit einem Hammer erschlagen muss
(YT, DB, 38). Seltsamerweise wirken die Gewaltgeschehnisse, die ihr bis zu der Szene mit
den Ratten widerfahren, harmlos, da die Stimme, die erzählt, immer ruhig und beherrscht
klingt und nur über die Geschehnisse berichtet, ohne dabei emotional Stellung zu beziehen.
Im neunten Kapitel häufen sich die Gewaltszenen, sodass man von ihnen überfahren wird:
Xander nagelt die Ich-Erzählerin mit den Füßen am Boden fest (YT, DB, 52); Polizisten
schießen immer wieder auf die verbrannte Frau (YT, DB, 55); Xander verfolgt die Ich-
Erzählerin und fährt sie mit dem Motorrad an (YT, DB, 56); die Ich-Erzählerin ersticht auf
Druck Xanders hin den Schuppenvogel (YT, DB, 57). Dieses Kapitel liest sich als Raserei
der Ereignisse, die nicht aufzuhalten sind. Es könnte die Autonomiebestrebungen der Ich-
Erzählerin spiegeln, die sich von Xander, aber auch von der verbrannten Frau lösen will,
und welche sie nicht freigeben wollen. Hier sei auf die Thematisierung der Rollen von
Frau (die als das andere des Mannes dargestellt wird) und Mann (der sich der Frau

247
Kersting: Fremdes Schreiben, S. 148.

97
ermächtigt) hingewiesen, die auch in Beziehung mit exotischen westlichen Vorstellungen
in Verbindung gebracht werden muss. Xander, der ihr die Worte gibt (YT, DB, 29), der sie
bevormundet (YT, DB, 30) und andererseits die Japaner beim Geschäftsessen, die sich um
ihre Heirat sorgen (YT, DB, 15) und nicht zuletzt die Aussage des einen Mannes, der die
Wohnung der verbrannten Frau stürmt und der Ich-Erzählerin damit droht, sie zu
verkaufen (YT, DB, 37).248

Letztes herausragendes Thema des Kurzromans ist das Übersetzen von einer in die andere
Sprache durch die Ich-Erzählerin als Dolmetscherin, das mit dem Verlassen ihrer
Muttersprache und ihrer endgültig erscheinenden Sprachlosigkeit einhergeht. Ihre Arbeit
als Dolmetscherin empfindet sie als widerwärtigen Prozess:

Die Münder öffneten sich wie Müllbeutel; Abfall quoll


heraus; ich mußte ihn kauen, schlucken und in anderen
Worten wieder ausspeien. […] Alle redeten durch meinen
Mund (YT, DB, 17).

Die Ich-Erzählerin fungiert als Zwischenstation und Durchzugsort der Wörter der anderen.
Diese Position führt zum Stottern der Protagonistin und zu ihrem Sprachzusammenbruch
in der Toilette, in der eine Seezunge ihre Zunge isst (YT, DB, 18). Ihre Sprachlosigkeit
wird auch von der verbrannten Frau bemerkt, die sich wiederum die Zunge der
Protagonistin behält (YT, DB, 27). Zuvor wurde ihre Zunge von Xander in Besitz
genommen, der ihr die deutsche Sprache lernte (YT, DB, 28). Ihr Sprechen ist immer im
Besitz einer oder eines anderen und nie in ihrem eigenen. Die Ich-Erzählerin scheint zu
schweigen, daher widerfahren ihr „fürchterliche Dinge“, die ihr sonst nicht auffallen
würden (YT, DB, 24) und die verbrannte Frau scheint nur deshalb mit ihr reden zu können.
Als Lesende/r hat man jedoch den Eindruck, als spreche die Ich-Erzählerin, da sie es ja ist,
die uns alles mitteilt, und wir ihre Stimme doch hören. Dieser Prozess der Sprachlosigkeit
248
Fischer (1997) verweist hier auf den Körper als gesellschaftliches Konstrukt, anlehnend an Sigrid Weigels
„Topographie der Geschlechter“ (1990). Weigel stellt den weiblichen und den fremden Körper als
Projektionsfläche männlicher Wunsch- und Angstfantasien dar. Die Unbestimmbarkeit des Körpers macht
ihn einerseits zu einem reizvollen Objekt der Aneignung und andererseits lässt sie ihn unberechenbar und
potenziell gefährlich erscheinen. Die Besetzung des Körpers basiert auf ausgrenzenden und abwertenden
Stereotypen und dient der Etablierung und Stabilisierung europäischer-männlicher Hegemonialmacht.
Weiblichkeit, Fremdheit und Körperlichkeit wird hier immer als Sinnbild des „Anderen“ analogisiert und
zugunsten des europäisch-männlichen Eigenen entwertet. Aus: Fischer: „Verschwinden ist schön“, S. 102.

98
und des gleichzeitigen Wahrnehmens einer Stimme macht den Kurzroman zu einem
polyphonen Text. Die Übersetzung von einer in die andere Sprache scheint bei der Ich-
Erzählerin nur auf dem Wort „Ich“ zu funktionieren und positive Auswirkungen zu haben.
Vielmehr kommt die Übersetzung in Form der realen Welt in die Geisterwelt, in der sie die
verbrannte Frau trifft und im Zirkus auftritt, zum Ausdruck. Erst im neunten Kapitel
scheinen sich die Grenzen der beiden Welten aufzulösen. Darauf deutet auch ihre
Profession als Typistin, welche die Stimme der Geister aufschreibt, hin (YT, DB, 51). Sie
spricht nicht, sondern sie hört im Grunde nur die anderen durch sich sprechen.

3.2.1.2 Charakter der Übersetzerin-Figur


Klassische Charaktermerkmale sind bei der Ich-Erzählerin nicht erkennbar. Sie wirkt in
Zusammenhang mit ihrem jeweiligen Widerpart (Xander, verbrannte Frau, Mutter) immer
anders und deshalb wenig greifbar für die Lesenden. Das resultiert vor allem daraus, dass
sie als Medium der anderen Figuren (Xander, verbrannte Frau, Männer) dient. Sie tritt in
allen Lebenslagen als Übersetzerin auf und ist somit das personifizierte Übersetzen an sich
– beim Erlernen der deutschen Sprache mit Xanders Hilfe (YT, DB, 28); beim
Geschäftsessen (YT, DB, 13-14); als Typistin beim Wahrnehmen von Geisterstimmen
(YT, DB, 51); beim Erinnern der Erinnerungen der Mutter (YT, DB, 44) und als
Erzählende selbst übersetzt sie Ereignisse, die ihr widerfahren, in Sprache. Xander
gegenüber verhält sie sich aus der Perspektive des europäischen Lesers als zurückhaltend,
sie kritisiert ihn nicht direkt, sondern gibt ihm durch ihre Fragen zu verstehen, dass sie
nicht seiner Meinung ist, so zum Beispiel im Gespräch über die unterschiedliche Hautfarbe
der Menschen (YT, DB, 10). Xander jedoch kann diese Fragen nicht auf seine Aussage hin
reflektieren und wehrt die befremdlichen Gedankengänge ab. Der verbrannten Frau scheint
die Ich-Erzählerin ausgeliefert zu sein, bis auf wenige Ausnahmen (YT, DB, 27) kann sie
sich ihr nicht entziehen, geht immer wieder zur Kellerwohnung und sucht Kontakt zu ihr.
Zur Mutter hat die Ich-Erzählerin eine gefasste Beziehung, die darauf basiert, dass sie
diese verlassen hat, um ihre eigenen Vorstellungen vom Leben umzusetzen. Sie distanziert
sich von der Lebensart der Mutter, die dem Kind ihr Leben geopfert hat (YT, DB, 49).

99
3.2.1.3 Tawadas Poetik in „Das Bad“
Die Verwandlung der Protagonistin ist nicht nur Thema, sondern auch poetisches Element
des Kurzromans. Wie oben erwähnt treten die Verwandlungen immer gepaart mit Wasser
auf:

Der menschliche Körper soll zu achtzig Prozent aus Wasser


bestehen, es ist daher auch kaum verwunderlich, daß sich
jeden morgen ein anderes Gesicht im Spiegel zeigt. Die Haut
an Stirn und Wange verändert sich von Augenblick zu
Augenblick wie der Schlamm in einem Sumpf, je nach der
Bewegung des Wassers, das unter ihm fließt, und der
Bewegung des Menschen, die auf ihm ihre Fußspuren
hinterlassen
(YT, DB, 1).

Diese Passage erinnert an die bereits erwähnte Tübinger Poetik-Vorlesung


„Verwandlungen“ (1998), in der Tawada zu Beginn anlehnend an das Kapitel „Die
Entstehung der Welt“ von Ovids „Metamorphosen“ veranschaulicht, dass es sich bei den
Worten „Erde“ und „Gewässer“ nur um eine sprachliche Leistung handelt und die Begriffe
nichts über deren Beschaffenheit aussagen und deren Definitionen fiktiv sind (YT, VL,
50). So verhält es sich auch mit dem Wort „Ich“. Es ist eine unbeständige Benennung des
sich ständig verändernden Ich und dessen Gesicht. Van Dijk (2005) spricht, wie oben
erwähnt, von einem „Subjektivitätsentwurf“.249 Aufgrund des schon erwähnten Verlassens
der Muttersprache und der Veränderungen ihrer Wahrnehmungen erhält die
Selbstbenennung eine positive Wendung. Yildiz (2007) spricht von einer Neufindung des
„Ich“, die beide Systeme (japanische und deutsche Grammatik) voraussetzt.250
Diesbezüglich kann man die Aussage der Ich-Erzählerin lesen, wenn sie berichtet, dass sie
beim Aussprechen des Wortes „watashi“ plötzlich das Gefühl hat, ihre eigene
Simultandolmetscherin zu sein (YT, DB, 45).
In der Tübinger Poetik-Vorlesung „Gesicht eines Fisches oder das Problem der
Verwandlung“ verweist Tawada auf das Gesicht als einen „nicht fixierbaren Körperteil“

249
Van Dijk: Lost in Translation – oder doch nicht?, S. 123.
250
Yildiz: Tawada’s Multilingual Moves, S. 81–82.

100
und verwandelt ihn, wie wir oben gesehen haben, in eine Sinneswahrnehmung (YT, VL,
50). Die Ich-Erzählerin im Kurzroman berichtet immer von ihren Sinneswahrnehmungen,
wenn es sich um ihr Gesicht beziehungsweise um ihr Spiegelbild handelt (YT, DB, 1).
Sehr stark angelehnt an diesen Teil der Tübinger Poetik-Vorlesungen findet sich dieses
Thema auch in „Das Bad“, wenn die Mutter der Ich-Erzählerin unterbreitet, dass sie nun
ein fremdes Gesicht wie jene Japaner/innen in amerikanischen Filmen hat (YT, DB, 47). In
der Tübinger Poetik-Vorlesung spricht Tawada davon, dass das Fremde nur aufgrund der
Erwartung der „Einheimischen“ in den Gesichtern der Fremden sichtbar wird (YT, VL,
52). Erst die Konfrontation mit dem eigenen Fremden macht einen für Fremde sichtbar, die
nicht die anderen sind, da sie selbst auch eine „Fremde“ in sich tragen. Das „Fremde“ und
die Verwandlung treffen in „Das Bad“ immer mit der Ich-Erzählerin (Frau) und einem Tier
251
zusammen. Shimada (1994) verweist auf den Typus des Fremden in Zusammenhang
mit den Elementen des Berges, der Frau und des Tieres in der japanischen Kultur.252 Die
Verwandlung des Tieres in einen Menschen kommt in Japan sehr oft in überlieferten Sagen
vor. Tawada verweist in der Tübinger Poetik-Vorlesung „Verwandlungen“ auf diesen
Sachverhalt in japanischen Sagen und Mythen und bringt zugleich auch Beispiele aus der
europäischen Literatur (YT, VL, 57–59). Die Frau als auch das Tier, so Shimada, können
zwischen den Welten vermitteln. Die Tier-Frau, Zeichen der Doppeldeutigkeit (vertraut
und unheimlich) und Ambivalenz (nah und fern), kann somit die „unheimlichen“ Kräfte
der Natur bändigen und für den Menschen, solange sie als Tier unerkannt bleibt, verfügbar
machen.253 Die Tiere im Kurzroman können somit als „Erinnerungen“ an gemeinsame,
kulturelle und gesellschaftliche vergangene Rituale und Mythen und nicht als „Symbole“
oder „Metaphern“ (YT, VL, 28) gelesen werden, wie Tawada in ihrer Tübinger Poetik-
Vorlesung erläutert (YT, VL, 28). Diese teilweise verloren gegangen Erinnerungen werden
durch die Auseinandersetzung der eigenen und fremden Kultur erst wieder ins Gedächtnis
zurückgerufen. Das entspricht auch der von Tawada in ihrer Dissertation benannten
„ethnologischen Poetologie“ (YT, SS, 14). Die Ich-Erzählerin in „Das Bad“, die immer
wieder zur Tier-Frau (Fischfrau, Schuppenträgerin) wird, vermittelt, zurückkommend auf

251
Shimada, Shingo: Grenzgänge und Fremdgänge. Japan und Europa im Kulturvergleich. Franfurt am Main:
Campus 1994, S. 62.
252
Vgl.: Fischer, Sabine: „Wie der Schlamm in einem Sumpf“. Ich-Metamorphosen in Yoko Tawadas
Kurzroman „Das Bad“. In: Howard, Mary (Hg.): Interkulturelle Konfrontationen: Zur deutschsprachigen
Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft. München: Iudicum 1997, S. 66.
253
Shimada: Grenzgänge und Fremdgänge, S. 63.

101
Shimada, zwischen der Welt der Toten (der verbrannten Frau, die ebenfalls zwischen
diesen beiden Welten vermittelt) und der Lebenden (Xander, Geschäftsmänner/frauen).
Die Übersetzerin vermittelt zwischen den Welten der Lebenden und der Toten, aber auch
zwischen den unterschiedlichen Welten innerhalb der Lebenden (zum Beispiel als
Dolmetscherin zwischen deutschen und japanischen Geschäftsmänner). Die Verwandlung
kann somit als Übersetzungsmittel gelesen werden, als „körperliche Transformation“, die
entsteht, wenn man von einer in die andere Sprache wechselt.254 Die Übersetzung ist bei
Tawada nicht nur im Prozess des Schreibens255 selbst ersichtlich, sondern setzt sich im
Kurzroman als Herausforderung der Figuren fort. So setzt Tawada zum Beispiel auch
Puppen (YT, DB, 29) als „Schrift“ ein, um auf Genealogien und soziale Strukturen
hinzuweisen, so wie sie es in ihrer Dissertation anhand von Puppen aus Indonesien, Japan,
China und Europa erläutert hat (YT, SS, 98). Xander und die Ich-Erzählerin sprechen ab
einem gewissen Zeitpunkt ihrer Beziehung nur mehr mit Puppen (Marionetten), also in der
dritten Person miteinander (YT, DB, 29). Xanders Puppe stellt einen blonden
Geigenspieler dar, den die Ich-Erzählerin ausgesucht hat, und Xander wählt für die Ich-
Erzählerin eine japanische Puppe aus Seide.256 Laut Tawada betone eine Musiker-Puppe
vielmehr die Stummheit der „Puppenschrift“, als dass die Puppe wirklich Musik machen
würde, zum Beispiel mit einer eingebauten Spieldose im Bauch (YT, SS, 100). Die Ich-
Erzählerin wählt für Xander die Stummheit und für sich als Gesprächspartner einen
Stummen. Das kann einerseits bedeuten, dass sie seine Sprache auch ohne seine Worte
verstehen kann, da sie die Schrift der Puppe lesen kann, oder dass Xander keine Sprache
besitzt, die er seine eigene nennen kann, da er sie als reines Mittel der Kommunikation und
Unterdrückung sieht. Und zwar gegenüber der Ich-Erzählerin als Fremde und Frau, sprich
als das „Andere“, das ihm entgegengesetzt und untergeordnet ist. Die Verwendung der
dritten Person würde auf letztere Lesart verweisen, da deren Verwendung in der
österreichischen Monarchie in der Kommunikation mit dem/der Kaiser/in benutzt wurde
und eine hierarchische Position vermittelt. Darüber hinaus sei auf Tawadas Gedicht „Die
dritte Person“ verwiesen:

254
Vgl.: Kraenzle: Traveling without moving, S. 97.
255
Vgl. hierzu die Aussage Tawadas, dass Schreiben an sich eine Übersetzung aus einem nicht sprachlichen
Bereich ist, der die Konfrontation mit dem Fremden benötigt, um sichtbar zu werden. Aus: Klopfer: „Also es
gibt kein Original“, S. 13.
256
Kersting (2006) weist anlehnend an Roland Barthes darauf hin, dass sich europäische Marionetten von
japanischen Bunraku-Puppen dadurch unterscheiden, dass letztere drei Meter hoch sind und von drei
Personen hinten abgestützt geführt und gespielt werden. Aus: Kersting: Fremdes Schreiben, S. 146.

102
Er trägt seinen alten Hosenträger,
sie ihren weißen Büstenhalter.
Ein Ich hingegen läuft nackt herum.
[…]
Du trägst nichts bei dir außer den Buchstaben D und U.
[…]
(YT, AG, 24)

In diesem Zusammenhang wird klar, dass Xander die Kommunikation über die dritte
Person wählt, um die Fixierung seiner Position und seines Gegenübers zu sichern. Saito
Yumiko (2011) hat in ihrem Vortrag „ (kanojo) bei der Übersetzung von ‚Opium für
Ovid’ ins Japanische“ (2011) beim internationalen Yoko Tawada-Workshop „Mind the
Gap – Die Lücke im Sinn“257 aufgezeigt, dass Tawada in ihren Texten häufig die
Personalpronomen „kare“ (dt. er) und „kanojo“ (dt. sie) nur selten benutzt. Es handelt sich
auch um Wörter, die es vor der Meiji-Zeit (1868–1912) noch nicht gab und die erst nach
der Öffnung Japans und den damit einhergehenden Einflüssen von außen in dessen
Sprache aufgenommen wurden. Saito verweist auf den Übersetzungsforscher Akira
Yanabu demzufolge der Gebrauch der dritten Personalpronomina in westlichen Sprachen
auf der Vorstellung basiert, dass ein Gegenstand etwas Stabiles sei und sich nicht
verändere. In Japan, so Yanabu, sei diese Denkweise erst in der Meiji-Zeit aufgekommen,
die traditionelle Vorstellung war, dass sich alles stets im Prozess der Veränderung befände.
Die Kommunikation in der dritten Person verweist somit auf eine europäische und eine
asiatische Spracherinnerung, welche ein hierarchisches System, das wiederum von
Aneignung und Ermächtigung geprägt ist, aufzeigt und die beiden Systeme spiegelt.

Zurückkommend auf die Konfrontation des eigenen Fremden durch die Fremde muss auf
Tawadas Umgang mit Europa als Mythos hingewiesen werden, der im Kurzroman nicht
nur auf bildlicher Ebene (die Fotografie badender asiatischer Frauen), sondern auch auf der
Ebene der „ethnologischen Poetologie“ sichtbar wird. Bereits erwähnt wurde die
Verwendung von Objekten, die als Transfermittel von Vergangenheit und Gegenwart

257
„Mind the Gap – Die Lücke im Sinn“ Internationaler Yoko Tawada-Workshop, am 9.3.2011 in der Alten
Schmiede, Wien. Organisiert vom Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft, Dr. Christine Ivanovic,
Dr. Barbara Agnese und Dr. Sandra Vlasta.

103
dienen und dadurch ethnologische Erinnerungen sichtbar machen. Tawadas Verwendung
der Figur der Fischfrau verweist einerseits auf den japanischen Mythos der Verwandlung
von Frauen in Fischwesen, denen sowohl göttliche als auch dämonische Eigenschaften
zugeschrieben werden (YT, DB, 2)258, und andererseits erinnert es an den
westeuropäischen Undine-Mythos, der von Tawada mit Medusa259 verknüpft wird.260 Es
handelt sich hier wieder, worauf oben schon mehrmals hingewiesen wurde, auf die
Spiegelung zweier Systeme, wie es auch Ivanovic (2008) erläuterte, die nicht nur auf eine
Gegenüberstellung der zwei Systeme basiert, sondern auch auf einer Gleichzeitigkeit.261
Fischer (1997) liest darin auch die Mythologisierung der naturhaften Weiblichkeit als
Taktik der Ausgrenzung und Unterdrückung der Frau, das sich hier als traditionelle,
kulturübergreifende und patriarchalische Praxis darstellt.262

Kersting (2006) hat einige Verbindungspunkte des Kurzromans mit Tawadas Poetik
herausgearbeitet. So zieht sie eine Verbindung zu Tawadas Umgang mit Buchstaben, die
sie in der Tübinger Poetik-Vorlesung (YT, VL, 25–33) erläutert und der Verwendung des
Namens „Xander“, anstatt der vollständigen Form „Alexander“. Die Ich-Erzählerin
verbindet den Buchstaben X mit mathematischen Formeln. Darüber hinaus assoziiert sie
den Buchstaben mit dem Wort „festnageln“ (YT, DB, 7), was sofort mit der christlichen
Bedeutung des Kreuzes in Verbindung gebracht wird.263 Tawada verweist in der Tübinger
Poetik-Vorlesung, wie oben erwähnt, auf die Rätselhaftigkeit von Buchstaben, da sie
weder Zeichen oder Abbilder sind, noch für Signifikanten oder Piktogramme stehen und in
ihrer Einzelheit unberechenbar sind (YT, VL, 30). Das „X“ im Namen „Alexander“ erhält
einen gefährlichen Unterton. Es entstehen Assoziationen zum gekreuzigten Christus, einem
Kreuz für eine erledigte Tätigkeit und einem mathematischen Wert, der unbekannt ist.
Allein diese Assoziationen zeigen die von Tawada erwähnte Unberechenbarkeit des
Buchstabens, die sowohl in die Irre als auch in die Zukunft führen können. Ivanovic (2008)
interpretiert die Namenswahl aus der Herleitung vom Griechischen. Der griechische Name
258
Der Fisch gehört dem Element an, das ein Symbol der Fruchtbarkeit und des Wohlstandes ist, aber er
kann auch zur tödlichen Gefahr werden und steht für die gesellschaftliche tabuisierte Sexualität. Aus:
Fischer: „Verschwinden ist schön“, S. 106.
259
Medusa gehört zu den Wesen mit Schlangenhaaren (Gorgonen), deren Blick die Menschen zu Stein
verwandeln lässt. Medusa ist die einzige Sterbliche innerhalb der Gorgonen.
260
Fischer: „Verschwinden ist schön“, S. 106.
261
Ivanovic: Aneignung und Kritik, S. 135.
262
Ebd.
263
Kersting: Fremdes Schreiben, S. 148.

104
„Alexander“ bedeutet wortwörtlich „Männerabwehr“ (ich wehre ab; der Mann). Bei der
von Tawada gewählten Form, so Ivanovic, bleibe nur mehr der auf das Männliche
bezogene Teil übrig.264

Herausragend bei „Das Bad“ ist die Darstellung und Dezentrierung des Ichs in
Zusammenhang mit der Innen- und Außenwelten, wie es oben anlehnend an Ivanovic
(2008) schon erläutert wurde. Wie schon in der Erzählung „Sieben Geschichten der sieben
Mütter“ (YT, TM, 101–104) tritt die Protagonistin in „Das Bad“ in die Gebärmutter ihrer
Mutter ein, verwandelt sich in eine Schuppenträgerin und fällt in ihre eigene Vagina. Die
Verwandlung, die Einsaugung entsteht durch eine Drehung der Ich-Erzählerin –
hervorgerufen durch eine Windhose (die eigentlich Töne darstellen). Die Kreiselbewegung
erinnert an die von Tawada besprochene Rotationsbewegungen von Daniela Hodrovás
Trilogie (YT, SS, 203), welche die Menschen außer sich bringen und mehrere Individuen
aus unterschiedlichen Zeiten zusammenkommen lässt (YT, SS, 207), somit überlappen
sich die Räume der Toten mit denen der Lebenden (YT, SS, 209). Im Kurzroman treffen
mehrere Räume aufeinander und gehen ineinander: die Musik (die von der
Trainingsmaschine der Mutter erzeugt wird, ähnlich einem Karussell); die Windhose (die
aus den Tönen der Maschine besteht), welche einen Drehmittelpunkt beinhaltet; die Zeiten,
die sich aufheben – „Vorne und hinten verschwanden“ (YT, DB, 50); die Vagina, welche
die Ich-Erzählerin einsaugt und ihr Sturz in die eigene Vagina nach der Verwandlung in
eine Schuppenträgerin. Innerhalb der Drehbewegung wird die Ich-Erzählerin immer jünger
und wieder zum Säugling und erlebt quasi ihre eigene Geburt. Die Zeit dreht sich zurück
und die Dezentrierung des Ichs entsteht nicht zuletzt durch die Tatsache, dass die Ich-
Erzählerin in die Vagina der Mutter eingesaugt wird und dann in ihre eigene Vagina fällt.
Sie befindet sich demnach in der Gebärmutter der Mutter, hat eine eigene in sich, in die sie
ebenfalls fällt. Die Ich-Erzählerin wird also auch hier, wie im Rest des Kurzromans, zum
Medium zwischen Innen- und Außenwelt. Fischer (1997) verweist im Zusammenhang von
Innen- und Außenwelt auf die durchlässig gewordene Haut (YT, DB, 59) der Ich-
Erzählerin und bezieht dies auf eine Durchlässigkeit der Innen- und Außenwelt. Sie

264
Ivanovic: Aneignung und Kritik, S. 147.
Ivanovic verweist im gleichen Artikel darauf, dass Tawada das Gespräch über Hautfarben mit der Ich-
Erzählerin und Xander im Essay „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“
(1996) (YT, TM, 45) nochmals aufnimmt.

105
verbindet das mit der Erwähnung des Spiegels in der Erzählung, die nach Tawadas
Aussagen auch für einen Raum der Toten steht, da man im Spiegel nicht sich selbst,
sondern die Geister der Toten sehen würde, die in der Erinnerung der Lebenden bleiben
wollen.265 Tawada weist in einer ihrer Tübinger Poetik-Vorlesungen darauf hin, dass man
sein eigenes Gesicht ohnehin nur im Spiegelbild sehen würde (YT, VL, 50) und beschreibt
ihr Gesicht von der Innensicht aus.
In „Das Bad“ ist das Thema der Dezentrierung des Ichs auch eng mit dem Thema der
Erinnerung verbunden. Wie oben schon erwähnt wird die Tochter von der Mutter nicht
vom Flughafen abgeholt, da sich diese durch den Lärm der Flugzeuge an den
Bombenangriff der amerikanischen Flugflotten auf Tokyo, während des „Zweiten
Weltkriegs“ erinnert wird (YT, DB, 44) – die Klänge aus der Vergangenheit kommen als
Echo wieder und versetzen die Mutter in bereits Geschehenes zurück.
Das Ende des Kurzromans, die Verwandlung der Ich-Erzählerin in einen transparenten
Sarg, weist auch auf das Verhältnis der Übersetzerin zur fremden Sprache hin. Als
transparenter Sarg ist sie Beobachterin und Beobachtete zugleich. Diese Gleichzeitigkeit
erinnert an die Aussage Tawadas in der Tübinger Poetik-Vorlesung: „Wer mit fremder
Zunge spricht, ist ein Ornithologe und ein Vogel in einer Person.“ (YT, VL, 21)

3.2.2 „Saint George and the Translator“


Tawadas Roman „Saint George and the Translator“, den sie in japanischer Sprache verfasst
hat, hat einen langen Weg der Titelgebung hinter sich. Erstmals wurde er 1993 unter dem
Titel (Arufabetto no kizuguchi; dt. Die Wunde im Alphabet) im
Verlag Kawade Shobo Shinsha veröffentlicht. In der späteren Taschenbuchausgabe von
1999 wurde der Titel in (Moji-ishoku; dt. Buchstaben-Transplantation)
umgeändert (PT, 191).266 In der englischen Übersetzung von Margaret Mitsutani 2007

265
Fischer: „Verschwinden ist schön“, S. 105.
266
Ivanovic (2010) verweist auf den unterschiedlichen Gebrauch der Schriftzeichen. Die zweite Version des
Romantitels, so Ivanovic, benutzt im Gegensatz zur ersten chinesische Schriftzeichen (Kanji). In der ersten
Version benutzt Tawada das Schriftsystem (Katakana), mit dem fremdsprachliche Wörter transkribiert
werden, für das Wort „Alphabet“ und nur das Wort „Wunde“ wird in Kanji geschrieben. Ivanovic liest
daraus eine Spannung zwischen der „Art des Meinens“ und dem „Gemeinten“ (Vgl. hierzu: Benjamin: Die
Aufgabe des Übersetzers), die in beiden Fällen umgekehrt ist (PT, 191).

106
erschien der Roman unter dem Titel „Saint George and the Translator“267 mit zwei
weiteren Erzählungen im Band „Facing the Bridge“.268 Ins Deutsche wurde nur ein Teil
des Textes unter dem Titel „Alphabet“ von Peter Pörtner übersetzt und in „Canarias.
Kanarisches Lesebuch.“ (2005)269 publiziert. Der Titel „Arufabetto no kizuguchi“ kann
laut Mitsutani (2007) als Übersetzung des Titels von Anne Dudens Text „Der wunde Punkt
im Alphabet“270 (der in Tawadas Roman übersetzt wird) gelesen werden (YT, SG, 182).
Anne Dudens Text ist eine Kritik an die Legitimation von Gewalt gegen das Fremde (in
Form des Drachens) anhand der abendländischen Heldenfigur des Heiligen Georg, des
Drachentöters. Sie stellt den Drachen, das Opfer und dessen von außen zugefügte
Schmerzen in den Mittelpunkt und „tötet“ durch den Akt des Schreibens den Helden
Georg. Anhand von Gemälden in Museen und Kirchen gesammelte Grausamkeiten, die
den Drachen, den Opfern, dem Fremden widerfahren sind, schreibt Anne Duden dieses
nieder:

Eins in die Kehle mit dem Speer, eins in die Fresse mit der
Lanze, und, sollte es nötig sein, noch eins obendrauf mit
dem schon gezückten Schwert: wildes, allmählich
ermüdendes Röcheln und Ströme von Blut.271

Die Kritik setzt dort an, wo die abendländische Kultur aufbaut – an der Abwehr des
Fremden bis hin zu dessen Tötung von außen, von dem zumeist die Jungfrau, aber auch
gänzlich die in sich geschlossene Gesellschaft beschützt werden muss. Anne Duden, so
Ivanovic (2010), dekonstruiere vor allem unter drei Gesichtspunkten: Sie verweist auf die
unendliche Reproduzierbarkeit der Figuration durch bildkünstlerische Repräsentation; sie
liest die Geschichte aus der Sichtweise der Opfer (die bezeichneten Anderen) und nicht aus
der Sicht des Helden Georg, und sie sieht in der geretteten Jungfrau ein deautonomisiertes
Subjekt, das aus der Gewalt des einen zu befreien ist und das zugleich der Macht eines
anderen durch Heirat oder Taufe unterzuordnen ist (PT, 191). Das Heldentum und die
267
Ivanovic (2010) verweist bei diesem Titel auf den Umstand der Verrückung der Übersetzerin-Figur auf
die Position des Drachen (Opfer). Genau dies würde jedoch der Original-Text als auch der im Roman
vorkommende Übersetzungstext und die Erzählung zu unterlaufen versuchen (PT, 191).
268
„The Shadow Man“; „In Front of Trang Tien Bridge“.
269
Göbel, Wulf / Gehrke, Claudia / Linares, Alberto (Hg.): Canarias. Kanarisches Lesebuch. Texte und
Bilder. Tübingen: Konkursbuch Verlag 2005.
270
Duden, Anne: Der wunde Punkt im Alphabet. Hamburg: Rotbuch Verlag 1995.
271
Ebd., S. 81.

107
Verehrung des Heiligen Georgs (geteilt in Märtyrer- und Drachentöterdasein) reicht von
Europa über den „Nahen Osten“ bis nach Asien – seine Attribute (u.a. ein rotes Kreuz),
aber auch die Szene des Heiligen Georgs hoch zu Ross, den Drachen gerade besiegend,
sind in vielen Landes- oder Städtewappen (z. B. Moskau, Litauen) und Gemälden zu
finden. Eng verbunden mit seiner Verehrung sind die Kreuzzüge im 12. Jahrhundert.272
Tawadas Übersetzerin-Figur überträgt den Text Anne Dudens ins Japanische. Tawada
selbst nimmt den Text Anne Dudens inhaltlich in den Roman „Saint George and the
Translator“ auf, und der Roman selbst ist wiederum eine Übersetzung aus dem
Japanischen. Es liegt mit dem Roman eine dreifache Übersetzung vor, die sich nicht nur
mit Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers“ auseinandersetzt, sondern dessen Theorie,
wie Ivanovic (2010), Matsunaga (2002) und Mitsutani (2007) zeigen, auch umsetzt.
Ivanovic liest den Text auf verschiedenen, aufeinander bezogenen und ineinander
wirkenden Ebenen. Diese beinhalten: die „paradigmatische Auseinandersetzung“ mit dem
Problem der Übersetzung; die Kritik an der Gewalt, die anhand der „spezifischen Gender-
Dimension“ aber auch anhand der Diskursstrategie sichtbar wird; Tawadas „Leitfrage“
nach dem Verhältnis von „Wahrnehmung und Sprache, Bilderzeugung und
Identitätsbildung, Stereotypen und Authentischem“ und als „Reisebild“ und
„Selbstversuch“ durch das Inseldasein, das auch Asylfunktion hat (PT, 193). Im Gegensatz
zu Anne Duden, die den für Europa üblichen kritischen Diskurs benutzt, so Ivanovic beim
Konservatorium „Exophone Literatur als Provokation der Literaturwissenschaft“273, stellt
Tawada diesem eine andere Denk- und Schreibweise gegenüber, indem sie nicht offen
kritisiert, sondern das zu Kritisierende in sich aufnimmt.

272
Georg, Märtyrer, Heiliger, einer der 14 Nothelfer. Georg war ein hochgestellter Kriegsmann aus
Kappadokien (Kleinasien) und erlitt in der Verfolgung des Diokletian (s. d.) um 303 den Märtyrertod,
wahrscheinlich in Diospolis (Lydda bei Jaffa in Palästina). Die Legende überwucherte schon sehr früh seine
historische Persönlichkeit, die daher nicht fassbar ist. Seit dem 4. Jahrhundert ist seine Verehrung bezeugt. In
der morgenländischen Kirche wird Georg als „Großmärtyrer“ verehrt. Wallfahrten ins Heilige Land und vor
allem die Kreuzzüge brachten seinen Kult nach Westen, wo Georg seit dem 12. Jahrhundert als junger, hoch
zu Roß mit dem Drachen kämpfender Held dargestellt wird. Als Patron der Krieger und Ritter wurde er in die
Gruppe der Nothelfer aufgenommen. Georg, seit dem 13. Jahrhundert Patron von England, ist der
meistverehrte Märtyrer des christlichen Altertums und Mittelalters. Sein Fest ist der 23. April. Aus: Bautz,
Wilhelm Friedrich: Georg. In: http://www.bbkl.de/g/georg_h.shtml (Biographisch, Bibliographisches
Kirchenlexikon).
273
Gehalten im Wintersemester 2010/11 am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft an der
Universität Wien.

108
3.2.2.1 Inhalt, Aufbau und Themen des Romans

3.2.2.1.1 Inhalt
Die Ich-Erzählerin, die Übersetzerin ist, fährt auf die Kanarischen Inseln, um einen
deutschen Text ins Japanische zu übersetzen. Die Übersetzung will ihr nicht recht
gelingen, sie spricht mit den Inselbewohner(inne)n, erwartet widerwillig ihren Freund
namens George und trifft immer wieder auf die Erscheinung der Autorin des Textes, den
sie übersetzen soll. Die Ich-Erzählerin wird zunehmend in seltsame Begegnungen mit den
Inselbewohner(inne)n verstrickt. Als es zum Abgabetermin des Manuskripts kommt, trifft
sie am Weg zum Postgebäude auf Inselbewohner, die alle wie der Heilige Georg oder der
Heilige Martin aussehen und ihr das Manuskript entreißen wollen. Bei der Flucht vor den
Inselbewohnern/Heiligen Georgs vertauscht sie ihr Manuskript mit einer Fußmatte und
verliert das mit der Hand geschriebene Original. Am Ende bleibt der Ich-Erzählerin, die
von sich selbst behauptet, nicht schwimmen zu können, nur mehr die Flucht ins Meer.

3.2.2.1.2 Aufbau
Der Text besteht aus der Rahmenhandlung um die Ich-Erzählerin, in der sie von ihrem
mehrtägigen Aufenthalt auf einer der Kanarischen Inseln berichtet. Die Rahmenhandlung
wird immer wieder von insgesamt 25 Texteinschüben, die den übersetzten Text von Anne
Dudens „Die Wunde im Alphabet“ ergeben, durchbrochen. Die Ereignisse spielen allesamt
auf der Insel (Strand, Vulkan, Berg, Geschäft, Bananenplantage, Postgebäude), die Ich-
Erzählerin wohnt alleine in einem Ferienbungalow, der dem Bruder eines Freundes gehört.
Je weiter der Text voranschreitet, desto länger und klanglich abgehackter werden die
übersetzten Textstellen der Protagonistin. Diese Stellen gehen mit den Ereignissen der
Basiserzählung einher oder verweisen aufeinander. Wie lange und zu welchem Zeitpunkt
sich die Ich-Erzählerin auf der Insel befindet, ist aus dem Text nicht ersichtlich. Die Zeit
wird „nur“ als Wiedergabe des Zeitgefühls der Ich-Erzählerin eingeführt. Die einzig reale
Zeitangabe stammt von dem Mann, der im Postamt arbeitet, als er versichert, am
Vormittag um neun Uhr (YT, SG, 161) geöffnet zu haben. Eine weitere Angabe der
Zeitangabe stammt von der Ich-Erzählerin, als sie den möglichen Besuch von George
erwähnt – ein Mittwoch, da an diesem Tag immer die Schiffe im Hafen einlaufen (YT, SG,
112).

109
3.2.2.1.3 Themen
Gleich zu Beginn des Romans liest man den übersetzten Anfangssatz aus Dudens Text, der
mit den Gewalthandlungen des Helden Georgs konfrontiert. Gewalt erhält im Roman eine
mehrdeutige Rolle: einerseits die gewalttätigen Szenen aus dem Duden-Text und
andererseits die Verletzungen, welche die Ich-Erzählerin im Lauf des Romans erleidet.
Diese Verletzungen gehen zumeist einher mit den übersetzten Teilen:

... ninty percent, of the victims, mouths, sewed shut ...

The word I translated as „mouth“ was used only for the


mouths of animals never humans. […] I rubbed my ring
finger across my upper lip from left to right and discovered a
little bump like an insect bite just right of center. When I
touched the bump I felt a sharp pain and then an unbearable
itchiness. […] I wanted to tear my upper lip from my mouth.
Then I thought of putting it in an empty imported tea can as
a present for George (YT, SG, 115).

Im erwähnten Konservatorium sprach Ivanovic von der Möglichkeit eines


schamanischen274 Aktes der Übersetzerin275, welche die Gewalt des Duden-Textes in sich
aufnimmt (über sich ergehen lässt), um die Gewalt zu abstrahieren.276 Die Verletzungen
der Übersetzerin werden immer schwerwiegender, je weiter der Roman und ihr
Übersetzungsarbeit voranschreiten. Zu Beginn sind es unerklärliche Schmerzen in der
Hand, die sie am Weiterschreiben hindern (YT, SG, 112), dann sind es Kieselsteine, die ihr

274
In der schamanischen Kosmologie ist das Universum dreigeteilt: Die obere und untere Welt (Welt der
Geister) und die mittlere (Wohnsitz der Menschen), in dessen Mitte im Nabel der Erde ein riesiger Baum
aufragt (Weltensäule, -berg), der die Welten miteinander verbindet. Der Durchgang zwischen den Welten
befindet sich an einer Öffnung am Polarstern. Die Aufgaben der Schaman(inn)en sind vielfältig: praktische
und geistige Führer/innen der Sippe; Opferpriester/innen; Seelenführer/innen; Kenner/innen der
Weissagungen; Heiler/innen, Dichter/innen, Sänger/innen. Als Seelenführer/innen begeben sie sich in die
untere Welt, um die Seele des Kranken zu finden und zurückzubringen und damit gleichsam die Ganzheit,
die Unversehrtheit von Körper und Seele wiederherzustellen, oder um die Seele des Verstorbenen ins Jenseits
zu geleiten. Aus: Hoppál: Schamanen und Schamanismus, S. 15–22. Der Übergang von einer kosmischen
Region zur anderen ist, laut Eliade die „schamanische Technik per excellence“. Aus: Eliade: Schamanismus
und archaische Ekstasetechnik, S. 249.
275
Tawada selbst bezieht sich immer wieder auf schamanisches Wissen, so zum Beispiel in ihren Tübinger
Poetik-Vorlesungen (YT, VL, 19). Jürgen Wertheimer nannte sie im Nachwort zu den „Verwandlungen“
(YT, VL) eine „diskrete postmoderne Schamanin der dichterischen Rede“ (YT, VL, 61–62).
276
Vgl. auch: Ivanovic: Exophonie und Kulturanalyse, (PT, 197).

110
die Fußnägel von der Haut lösen (YT, SG, 128), bis hin zu gespaltenen Brustwarzen (YT,
SG, 124). Die wortwörtliche Übersetzung des Duden-Textes spiegelt die Gewalt in Form
der Schrift wider. Die Gewalt wird, so Ivanovic (2010), in Erfahrung (körperliche
Verletzungen der Ich-Erzählerin) und Schrift (wortwörtliche Übersetzung) verwandelt (PT,
195). Tawada benutze nach Ivanovic jedoch, anders als Duden, das Schreibwerkzeug nicht
als Waffe, sondern hinterfrage ihre eigene Position (PT, 195). Anne Duden kritisiere
anhand von Gewalt die (männliche) Gewalt und bleibe damit selber im Gewaltdiskurs
gefangen. Am Ende des Romans nehmen Gewalt und -androhungen, die nun von den
Inselbewohnern (die alle wie der Heilige Georg aussehen) ausgehen, zu: ein Junge, der
eine Schildkröte erschlägt (YT, SG, 167); der Eiscreme-Verkäufer, der die Übersetzerin
mit seinem Messer verletzt (YT, SG, 169); ein Mann, der sie in ein Lokal zerrt (YT, SG,
171), und zuletzt der Mann im Postamt, der ein Schwert vor sich herschwingt (YT, SG,
174). Aber auch die Ich-Erzählerin wendet Gewalt an, indem sie den Jungen, der die
Schildkröte tötet, in einen Schuppen zerrt und dort einsperrt (YT, SG, 167) oder auf die
Autorin Kieselsteine wirft (YT, SG, 153). Eindeutige Opfer und
Täter(innen)zuschreibungen werden vermieden. Vor allem, wenn man den Text in Bezug
zur Aussage Ivanovic‘ liest, dass sich Tawada jeglicher Festschreibung und Identitäten
entzieht, da diese Gewalt und Probleme nach sich ziehen würden.

Jede Gewaltanwendung im Roman wird aufgrund der potenziellen Gefahr, die von der
Fremde ausgeht, begangen. Das Fremde soll entweder entfernt oder abgehalten werden. So
dürfen zum Beispiel nur hart gekochte Eier auf die Insel importiert werden, da aus ihnen
nichts mehr entstehen kann (YT, SG, 130). Auch die Landschaft spiegelt eine starre
Begebenheit wieder, aus der nichts mehr entstehen kann, obwohl die Vegetation auf den
Kanarischen Inseln vielfältig ist. Steine, Lava und ein ausgetrocknetes Flussbett kommen
immer wieder im Text vor (YT, SG, 116, 131). Ein andermal berichten
Inselbewohnerinnen der Übersetzerin, dass sie alle schwarzen Hunde getötet hätten, weil
die Farbe Schwarz mit Teuflischem verbunden wird (YT, SG, 146). Doch auch die
Übersetzerin ist nicht immun gegenüber Vorurteilen, als sie einem Mann, der auf der
Bananenplantage arbeitet, Gedankengänge unterstellt. Sie wird sich jedoch ihrer Vorurteile
bewusst und reflektiert diese (YT, SG, 120). Verbunden mit dem Thema der Fremde ist
das Prinzip der Ermächtigung, Aneignung und Ausbeutung, die in verschiedenen Facetten

111
den Roman durchziehen. Die Kirche, welche die Übersetzerin findet (YT, SG, 123),
erinnert an die Besetzung der Insel durch die Katholiken im 15. Jahrhundert. Die
Ausbeutung kommt in Form von für den Export gepflanzte Bananenplantagen (YT, SG,
114) vor, die dem Rest der Insel die Wasserressourcen (YT, SG, 118) nehmen. Nicht
zuletzt geht es um die Frage der Übersetzerin in der Diskussion mit der Autorin (des zu
übersetzenden Textes), inwieweit Übersetzen mit (Sprach-)Ermächtigung und Aneignung
zu tun hat. Die Sprache spiegelt sich als National- und Identitätsgröße wider, als die Ich-
Erzählerin alle Inselbewohner/innen als Spanier/innen bezeichnet (YT, SG, 138) und sich
damit unbeliebt macht. Zuvor bezeichnet sie „ihre“ Sprache als „native tongue“ (YT, SG,
138) und vermeidet somit Zuschreibungen und Nationalitätenbildung in Bezug auf Sprache
und Identität.

Mit dem japanischen Titel der Originalausgabe eng verbunden ist der immer wieder
vorkommende Buchstabe „O“277. Mitsutani (2007) hat im Nachwort des ins Englische
übersetzten Romans ausführliche Erklärungen hierzu angeführt. Sie verweist auf die
Anfangsszene, in der die Übersetzerin alle „Os“ im Text mit schwarzer Tinte ausfüllt, weil
ihr das Weiß in der Mitte wie eine weiße Wand vorkommt. Dadurch wird der Buchstaben
zu einem Tunnel, durch den sie in die fremde Sprache (hier die deutsche) hinübersetzen
kann (YT, SG, 113, 183). Durch den Vorgang des Auskratzens der ausgemalten „Os“ mit
der Füllfeder ergibt sich, laut Mitsutani, Folgendes: „Kaku“ wird im Japanischen für
„Schreiben“ verwendet, aber auch für das Wort „Auskratzen“; weiters kann es
„erschaffen“ oder „Wunde“ bedeuten – wenn demnach Anne Dudens „Wunde“ ins
Japanische übersetzt wird, bekommt das Wort eine mehrfache Bedeutung, die auch auf den
Akt des Schreibens übertragen werden kann – mit dem Schreiben erschafft man somit eine
Wunde und die Übersetzung des Geschriebenen schreibt die Wunde in eine fremde
Sprache ein (YT, SG, 183). Weitere Aufmerksamkeit lenkt Mitsutani auf die Übersetzung
des Drachens vom Deutschen ins Japanische. Ivanovic verweist auf den Drachen als
Symbol von Glück in China und Japan und nicht als Symbol des Bösen und Fremden, wie
in den Drachenlegenden. Hinzu kommt, so Mitsutani, die Schwierigkeit für die

277
Bay (2010) bearbeitet die Wichtigkeit des Buchstabens „O“ in Tawadas Texten in seinem Aufsatz: „A.
und O. Kafka – Tawada (PT, 150–169) und verweist darauf, dass der in vielen Texten Tawadas („Im Bauch
des Gotthards“ (YT, TM); „Eine Scheibengeschichte“ (YT, ÜS), „Kleist auf Japanisch“ (YT, SP) reflektierte
Buchstabe „O“ vor allem in seiner grafischen Form und nicht als Laut wichtig ist und sieht darin ein
poetisches Konzept Tawadas.

112
Übersetzerin, dem Drachen ein Pronomen zu geben. Vorerst verwendet sie das Wort
„kare“ (dt. „er“) das einerseits für Menschen und Dinge und andererseits seit dem frühen
20. Jahrhundert als Pronomen für Männer als auch für Frauen verwendet werden kann. Das
chinesische Schriftzeichen „kare“ ist auch in Worten wie „kanata“ (dt. „weit entfernter
Ort“) und „higan“ (dt. „etwas das sich auf der anderen Seite befindet“) enthalten. Darüber
hinaus wurde das Wort „kare“im 19. Jahrhundert (der Zeit der Öffnung Japans) aufgrund
der Übersetzungen erschaffen, da es teilweise keine adäquaten Wörter im Japanischen für
westliche Pronomen gab. Die japanische Sprache schien aus Löchern beziehungsweise
Lücken („O“) zu bestehen, die durch alte Wörter mit neuen Bedeutungen oder durch neue
Wörter zu füllen versucht wurden. Laut Mitsutani wurden diese „füllenden“ Wörter mit der
Zeit als solche vergessen und Tawada, die das Wort „kare“ nun wieder in seiner alten
Bedeutung (und in den Worten „kanata“ und „higana“) benutzt, bezeichne den Drachen
damit nicht nur als Wesen der anderen Seite, einem weit entfernten Ort, sondern hole das
Wort aus dem Loch („O“), erschaffe eine neue Wunde im Alphabet und mache es wieder
lebendig (YT, SG, 184).
Auch das Gesicht der Autorin sieht für die Übersetzerin wie eine blanke Fläche aus und
erinnert sie an den Buchstaben „O“ (YT, SG, 117). Mitsutani liest daraus die von der
Übersetzerin durch Auskratzen der „Os“ geschaffenen Tunnel in Zusammenhang mit der
Autorin.278 Die Übersetzerin tritt, so Mitsutani, über die Autorin in eine fremde Sprache
über und wird dadurch in der Geschichte gefangen (YT, SG, 183–184). Zurückkommend
auf die Schwierigkeit des Übersetzens des Drachens ist anzuführen, dass Tawada diesen
als Seeungeheuer „Leviathan“279 übersetzt, obwohl Anne Duden ausschließlich das Wort
„Drache“ benutzt. „Leviathan“(hebräisch liwyatan oder ungarisch litanu) ist der Name
eines mystischen Monsters das mit dem Meer assoziiert wird. Der Name kann vom
arabischen „lawiya“ (dt. der sich Wendende) oder vom hebräischen „liwya“ (der sich
Verdrehende) abgeleitet werden und zeugt davon, dass die Gestalt des Leviathan einer
Schlange gleicht. Erst später kamen drachen- oder walartige Beschreibungen hinzu. Im
278
In Tawadas Erzählung „Im Bauch des Gotthards“ (YT, TM, 98) erinnern sie die beiden „Os“ im Namen
„Airolo“ an Tunnelausgänge, die sie mit dem Zug hinter sich gelassen haben.
279
Thomas Hobbes (1588–1679) hat den Namen „Leviathan“ als Titel seiner staatsphilosophischen Schrift
benutzt. Die Allmacht des Staates wird mit der Unbezwingbarkeit des biblischen Ungeheuers verglichen.
Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Teil I
und II. Aus dem Englischen von Walter Euchner. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2011.
Literarisch wurde das Thema des Leviathan ebenfalls verarbeitet, so zum Beispiel von: Paul Auster: Levithan
(1992), Arno Schmidt: Leviathan oder Die besten der Welt (1949), Julien Green: Leviathan (1929), Joseph
Roth: Der Leviathan (1938), Heinrich Heine: Disputation (1851).

113
Mittelalter wurde er unter anderem als Riesenfisch dargestellt. Biblische- und vorbiblische
Texte zeugen jedoch von keiner eindeutigen Gestalt des Wesens. Der Versuch der
Herleitung zeigt wie „altorientalische“ Mythologiekonzepte von einer in die andere Kultur
wandern und von einzelnen Kulturen adaptiert werden.280 In der japanischen Mythologie
gibt es Seeungeheuer, die mit Seeschlangen gleichzusetzen sind, so zum Beispiel die von
Tokoyo (Tochter eines Samurai) getötete Seeschlange.281 Die Schwierigkeit der
Entstehung und der eindeutigen Zuordnung des Leviathan veranschaulicht Tawadas
Bestreben die scheinbar fixierten kulturellen Vorstellungen des Drachens aufzuzeigen. Nur
im „dragon wind“, der laut Inselbewohner/innen einmal im Jahr mit seiner heißen Luft
über die Insel fegt und alles austrocknet (YT, SG, 142), ist die deutsche Entsprechung des
Wortes „Drache“ zu finden.
Der Umgang und das „Symbol“ des Buchstaben „O“ leiten unverzüglich die Thematik des
Übersetzens als Thema des Romans ein. Der ganze Roman steht im Zeichen des
Übersetzens; in theoretischer Hinsicht durch die vielen im Text vorkommenden Verweise
und Zitate auf beziehungsweise von Walter Benjamins Essay „Die Aufgabe des
Übersetzers“, und in praktischer Weise in Tawadas Umsetzung der Benjaminschen
Forderung nach wortwörtlicher Übersetzung eines Textes. Ivanovic (2010)282, Mitsutani
(2007)283 und Matsunaga (2002)284 haben dies in ihren Aufsätzen bearbeitet und mehrfach
darauf hingewiesen. Die Figur mit Namen Ei, die Übersetzerin, Schriftstellerin und
Bekannte der Ich-Erzählerin ist, verkörpert für Mitsutani (2007) den Übersetzungsmarkt,
der ausschließlich an der Vermarktung von Büchern interessiert ist (YT, SG, S.185). Ei
plädiere, so Mitsutani, für eine Übersetzung, die der Leser(innen)schaft untergeordnet ist
und nicht der „reinen Sprache“ wie im Sinne Benjamins. So befinde sich die Übersetzerin
im Dazwischen dieser beiden Ansichten (YT, SG, 185) und darüber hinaus jenem der
Autorin des Textes. Die Beziehung zur Autorin ist wie die des Drachen zum Heiligen
Georg und dem Original-Text zu seiner Übersetzung von Abhängigkeit und Ermächtigung

280
Toorn, Karel van der / Becking, Bob / Horst, Peter W. van der (Ed.): Dictionary of Deities and Demons in
the Bibel. DDD. Leiden, Boston, Köln: Brill 1999, S. 511–512.
281
Storm, Rachel: Enzyklopädie der östlichen Mythologie. Reichelsheim: Edition XXL 2000, S. 234.
282
PT, 195–198.
283
YT, SG, 183.
284
Matsunaga: „Schreiben als Übersetzung“, S. 538–539.

114
geprägt. Die Autorin, welche die Übersetzerin nicht benötigt, aber die Übersetzerin, die
den Text der Autorin braucht.285

Wie oben erwähnt gibt der Roman keinen Aufschluss über genaue Raum- und
Zeitangaben. Wir wissen nur, dass es auf einer der Kanarischen Inseln spielt und dass
mittwochs üblicherweise die Schiffe am Hafen landen. Gleich zu Beginn der Erzählung
spricht die Ich-Erzählerin von ihren Nähe- und Distanzwahrnehmungen:

[…] although there was no visible boundary to show where


water turned into sky. The sea doesn’t ascend and gradually
become sky nor are sea and sky like two countries that meet
at the border; […] (YT, SG, 109).

Seen from a distance moving objects do sometimes seem to


be standing still (YT, SG, 110).

Erstes Zitat verweist wie in „Das Bad“ auf Ovids Kapitel „Zur Entstehung der Welt“ in
den „Metamorphosen“ und auf Tawadas Hinweis in den Tübinger Poetik-Vorlesungen,
dass Definitionen fiktiv seien (YT, VL, 50). Nähe- und Distanzwahrnehmungen erweisen
sich bei der Erzählerin als „unwahr“ oder nicht der Realität entsprechend und betonen
genau den Punkt, den Tawada zu hinterfragen sucht – den Blick: Von wo aus sehe ich auf
was? Was sehe ich dort? Was wird daraus, wenn ich dort bin? Wie verhält es sich zu mir,
wenn ich hier bin und wie, wenn ich auf dem Weg dorthin bin? Wie verhält es sich zu mir,
wenn ich angekommen bin? Es gibt keine allgemein gültige Festschreibung der Nähe und
Distanz, da alle Beobachter/innen einen differenten Ausgangspunkt haben. Eng mit der
Zeit- und Raumauffassung Tawadas ist das Motiv der verschiedenen aus dem Text
sprechenden, Stimmen verbunden. Die Ich-Erzählerin verweist oft auf das Geräusch der
Bananenblätter im Wind (YT, SG, 128) und die Vorzüge der Kakteen, da diese keine
Blätter haben (YT, SG, 127, 136). Mitunter werden die Geräusche bedrohlich, vor allem
gegen Ende des Romans.

285
Vgl.: Matsunaga (YT, SG, 185) und Ivanovic (PT, 190ff.).

115
3.2.2.2 Charakter der Übersetzerin-Figur
Ähnlich wie in „Das Bad“ ist auch in diesem Roman keine konkrete Charakterisierung der
Ich-Erzählerin möglich, da diese als „Transformationsort“ oder Medium für theoretische
und praktische Versuche, aber auch Hinterfragungen steht. Sie wehrt sich entschieden
gegen Identifikationen und will weder Autorin (YT, SG, 140), Drache, Heiliger Michael
(YT, SG, 141, 162), Heiliger Georg (YT, SG, 140), Touristin (YT, SG, 109) oder
Prinzessin (YT, SG, 141, 147) sein. Sie ist sich jedoch darüber bewusst, dass sie sich nicht
in allen Situationen gegen Ähnlichkeiten mit diesen Figuren, Personen und Handlungen
wehren kann (YT, SG, 162–163, 149). Gegenüber ihrem Freund George hegt sie
Hassgefühle (YT, SG, 125, 147) und möchte diesen, wenn sie könnte, von der Insel
fernhalten. Die Figurenkonstellation erinnert an „Das Bad“ und zugleich an die oben
bereits erwähnte Dreierkonstellation von Matsunaga (2002): „ausländische Frau,
einheimischer Mann, Confidente“.286 In „Saint George and the Translator“ handelt es sich
jedoch um keinen einheimischen Mann der Insel, sondern um einen deutschen Mann, den
die ausländische Frau (eine Japanerin, weil die Übersetzung ins Japanische übertragen
wird) in Deutschland zum Freund hat. Confidente ist die Autorin, die als Erscheinung und
nicht als reale Person im Roman auftritt und ausschließlich mit der Ich-Erzählerin in
Kontakt tritt (YT, SG, 116, 133, 151). Die Beziehung zwischen Autorin und Übersetzerin
ist gespannt und von Abhängigkeit (YT, SG, 151–153) und teils Eifersucht (YT, SG, 116)
seitens der Übersetzerin geprägt. Zu Beginn der Begegnungen bleibt die Autorin an der
Seite der Übersetzerin (YT, SG, 116, 133), bei der letzten Begegnung entfernt sie sich
immer mehr von ihr, scheint sie nicht mehr wahrzunehmen (YT, SG, 151) und stürzt
schließlich in den Vulkan (YT, SG, 152).
Das Verhalten der Übersetzerin gegenüber der Inselbewohner/innen ist distanziert, außer
zum Mann, der in der Post arbeitet, der, wie sie denkt, als Einziger ihre Arbeit verstehen
würde (YT, SG, 161). Das scheint nachvollziehbar zu sein, da er doch an dem Ort arbeitet,
an dem Dinge von außerhalb und innerhalb der Insel aufeinandertreffen, von dem sie vom
Einen ins Andere übersetzen. Genau wie die Übersetzerin befindet er sich zwischen den
Welten und dient beiden. Die Ich-Erzählerin verkörpert eine ausdauernde Übersetzerin, die
einerseits für die Fertigstellung und den Versand ihres Manuskriptes kämpft und
andererseits das Sichtbarmachen von Wahrnehmungen, die sich von üblichen Denkweisen

286
Matsunaga: „Schreiben als Übersetzung“, S. 538–540.

116
unterscheiden, vertritt. Obwohl sie sich auf keine Identität hin festschreiben lassen will,
durchlebt sie die Schmerzen der Opfer (Drachen) auf den Bildern zur Verherrlichung des
Heiligen Georgs. Und sie hinterlässt, trotz ihres Widerstandes einer Identitätszuschreibung,
ihre Fingerabdrücke (YT, SG, 117, 118) und lässt erahnen, dass es vor allem um
Möglichkeiten geht. Sie agiert, wie oben erwähnt, als Schamanin, die zwischen den Texten
und den Welten übersetzt und das Festschreibende aus dem zu Transformierenden
herauszuziehen versucht. Am Ende jedoch scheitert sie, die Übersetzung geht verloren, sie
selbst wird von der Gewalt, die sie absorbiert hat, überwältigt und eingeholt. Sie geht
verloren und ertrinkt höchstwahrscheinlich im Meerwasser, dem „potentiellen Medium des
Übersetzens“ (PT, 194), wie es Ivanovic (2010) nennt. Man könnte auch meinen, dass sie
nicht untergeht, vielleicht gibt es noch eine Möglichkeit der Übersetzung, die noch nicht
sichtbar ist, oder es ist gerade der Tag, an dem die Schiffe aus dem Hafen auslaufen.

3.2.2.3 Tawadas Poetik in „Saint George and the Translator“


Das Thema Übersetzen wird im Roman nicht nur durch die Arbeit der Ich-Erzählerin
dargestellt, sondern auch durch die literarische Umsetzung der Theorie anlehnend an
Walter Benjamins Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“.287 Vor allem der Moment der
„Freisetzung“ ist, laut Ivanovic (2010) für Tawada ein wichtiges Potenzial im
Übersetzungsprozess. Im Gespräch der Übersetzerin mit ihrem Verleger kommt dies zur
Sprache:

„Why do you think I decided to translate the story instead of


writing a new version of my own?“ „The editor naturally
wasn’t convinced and asked even more coolly, Then what’s
so interesting about it? „I automatically answered,
„Something suddenly appears,“ but my enthusiasm was out
of place and made it impossible for me to back down later
(YT, SG, 126).

Dieser Moment der „Freisetzung“, so Ivanovic, ist zugleich auch der Moment der
Übersetzung und Verwandlung näher bringt (PT, 190). Ivanovic (2010) verweist auf die
„Schrift der Objekte“, die Tawada anlehnend an Benjamin in einer ihrer Tübinger Poetik-

287
Vgl.: Matsunaga (2002), Mitsutani (2007) und Ivanovic (2010).

117
Vorlesungen und in ihrer Dissertation zum Thema macht. Tawada verbinde dies mit ihren
Erfahrungen der japanischen Schriftzeichen und nehme es in den Roman auf. Wie oben
bereits erläutert, handelt es sich hierbei um das chinesische Schriftzeichen „kare“, mit dem
Tawada einerseits die Bedeutungsebene des Drachens ausweitet und ein vergessenes
Schriftzeichen wieder lebendig macht. Durch die Auseinandersetzung mit einer fremden
Sprache kommt es zur Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und den in
Vergessenheit geratenen Dingen. Hier sei ebenfalls auf Tawadas Tübinger Poetik-
Vorlesung verwiesen, in der sie von Schriftzeichen als „Bedeutungspakete“ spricht, die
zwar immer die gleiche Gestalt haben, aber deren Bedeutung immer wieder neu analysiert
werden können (YT, VL, 28). Es handelt sich um das Heraustreten aus der Muttersprache,
das über den Übersetzungsakt praktiziert wird. Plötzlich würden, so Tawada, Lücken
entstehen (YT, VL, 10), die zuvor nicht wahrgenommen wurden.
Der Text von Anne Duden wird von der Übersetzerin wortwörtlich übertragen und ist für
Ivanovic (2010) „gestalterisches Leitprinzip“ sowohl für die Übersetzung, als auch für die
Erzählung (PT, 195). Es scheint, als habe Tawada Benjamins Ausführungen literarisch zu
Ende gedacht und zwar nicht nur, so Ivanovic, durch die wortwörtliche Übersetzung des
Duden-Textes, sondern auch durch „die körperlich-lebensgeschichtliche Umsetzung“ (PT,
195). Eine weitere Anlehnung an Benjamin liest Ivanovic aus oben erwähnter
schamanischer Handlung der Übersetzerin-Figur heraus, welche die Geschichte der Opfer
erlebt und sie in ihre eigene Körpererfahrung verwandelt und damit in die Geschichte auf
der Wortebene eintritt (PT, 197). Dies verweist wiederum auf Tawadas Dissertation, in der
sie anlehnend an Benjamin das Eintreten in eine Oberfläche anhand von Kindern, die in
Bücher durch „Bekritzeln“ der Seiten eine weitere Fläche schaffen, in die sie eintreten
können (YT, SS, 156), anführt. Auch Mitsutani (2007) verweist im Nachwort zur
Übersetzung von „Saint George and the Translator“ auf die wortwörtliche Übertragung
durch die Umsetzung der Syntax nach Benjamin, indem Tawada strikt in der deutschen
Syntax bleibe (YT, SG, 183). Auch Matsunaga (2002) verweist auf das Ignorieren der
japanischen Syntax im Übersetzungsprozess und erinnert an Benjamins Forderung an die
Übersetzenden, ihre Muttersprache zu erweitern. Matsunaga (2002) empfindet den
übersetzten Text als „auseinandergerissen und wie einen kranken Körper“.288 In Bezug zur
Übersetzerin sieht Matsunaga, dass diese im Gegensatz zu Benjamins „Aufgabe“, die als

288
Matsunaga: „Schreiben als Übersetzung“, S. 539.

118
„Resignation“ gelesen werden kann, nicht aufgibt zu übersetzen, auch wenn ihr dies
schwer fällt und schwer gemacht wird. Sie verschmelze immer mehr mit der Autorin (YT,
SG, 134)289 und erweitere somit die Kategorie „Übersetzerin“. Benjamin hingegen, so
Matsunaga, spricht von unterschiedlichen Arbeiten der Autor(inn)en und
Übersetzer/innen.290 In der Beziehung zur Autorin geht es, wie schon erwähnt, um ein
Abhängigkeitsverhältnis und um Ermächtigung eines Textes, so werden die Begegnungen
mit der Autorin ambivalent dargestellt:

As she walked the author sometimes stumbled and almost


fell but in such a charming way that without thinking I
almost reach out to help her although I couldn’t tell whether
she had really lost her footing or was just pretending (YT,
SG, 116).

Auffallend ist, dass die Ich-Erzählerin den übersetzten Text mit einer „refillable ink pen“
(YT, SG, 161) schreibt, diesen also weder abspeichern kann, noch in gedruckter Form
vorrätig haben kann (YT, SG, 161). Darüber hinaus kann herkömmliche Tinte von Wasser
verwischt (verwandelt) werden oder sogar verschwinden. In der Tübinger Poetik-
Vorlesung „Stimme eines Vogels oder das Problem der Fremdheit“ schreibt Tawada, dass
für sie die Handschrift etwas sehr Individuelles und Bindendes im Gegensatz zur Stimme
ist. Diese wird vom „Gesamtklang der Gemeinschaft verschluckt“ (YT, VL, 10). Die
Übersetzung der Ich-Erzählerin ist somit nicht nur durch die Wortwörtlichkeit ein anderer
Text geworden, sondern zeichnet sich auch durch die Handschrift als individueller Text
aus. Hinzu kommt, dass diese einzig verfügbare Übersetzung verloren geht, die
Leser/innen sie jedoch als Echo lesen können.
Wie bereits erwähnt, handelt es sich in der Zeit- und Raumerfahrung im Roman um die
individuelle Wahrnehmung der Ich-Erzählerin. Nachweisbar scheint nur der Ort der
Handlung zu sein – eine Insel, die zu den Kanarischen Inseln gehört, eine Insel, die für
etwas Abgeschlossenes steht, die auf jeder Seite zugleich anfängt und aufhört und die
vorgibt ein nachvollziehbares Innen und Außen zu haben, obwohl das Meer vom Himmel
(und auch vom Land) nicht getrennt wahrnehmbar ist (YT, SG, 109), und deren

289
„Wish I’d know from the start it would end like this,“ one of us said.
290
Matsunaga: „Schreiben als Übersetzung“, S. 539.

119
Definitionen, wie Tawada es in ihrer Vorlesung erwähnt hat, nur sprachliche Leistungen
sind (YT, VL, 50). Innen und Außen verschieben sich und dadurch auch die Position der
Betrachter/innen. Das Haus, das die Erzählerin bewohnt, scheint nach außen und innen hin
durchsichtig zu sein, nicht nur aufgrund der Fenster. Die Ich-Erzählerin macht kein Licht,
um von außen nicht beim Arbeiten gesehen zu werden (YT, SG, 159), die Stimmen, die sie
jedoch erreichen, befinden sich im Inneren des Hauses (YT, SG, 159), die Geräusche, die
sich wie Stimmen anhören, außerhalb (YT, SG, 158). Gegen Ende des Romans scheint es
keinen Ort der Abgrenzung mehr zu geben, da alles ineinanderfließt. Auch die Haut der
Übersetzerin löst sich auf und hängt in Fetzen von ihrem Gesicht (YT, SG, 167). Der
Körper der Übersetzerin zeigt sich auch hier als „Resonanzkörper“291, so wie ihn Ivanovic
(2008) bezeichnete. Durch ihn erklingen die vielen Stimmen (der Inselbewohner/innen und
Geräusche) wieder. Es sprechen auch Stimmen, deren Ausgangspunkte nicht klar
auszumachen sind und die zumeist vom Zustand und der Tätigkeit der Übersetzerin
berichten (YT, SG, 150, 160). Am Ende des Romans geben sie der Ich-Erzählerin
Anweisungen und wollen sie beschützen (YT, SG, 158, 159). Der einzige Ort, an dem sich
die Übersetzerin wohlfühlt und entspannen kann, ist das Postamt (YT, SG, 146). Auch
hier, wie oben schon erwähnt, kann das Postamt als Ort der Transformation, der
Übersetzung gelesen werden. Am Ende des Romans ist selbst das Postamt verwüstet und
unzugänglich (YT, SG, 173).

Der Drache steht nicht nur im Mittelpunkt der Drachenlegenden, sondern bekommt, wie
schon erwähnt, auch durch sein nicht festzulegendes Pronomen eine Hauptfunktion in der
Übersetzung. Tawadas Übersetzung mit „Leviathan“ deutet auf die Unmöglichkeit der
Übersetzung durch das Wort „dragon“ hin, da der Drache in Japan (und China) für Glück
steht. Er ist jedoch auch ein ambivalentes Wesen, da er den Menschen durch seine
Naturgewalt auch Gefahr bringen kann.292 Der Text spiegelt gesellschaftliche und
kulturelle Erinnerungen wider und verweist damit auf die Wichtigkeit des Blickwinkels.
Interessant hierzu erscheint mir auch der „dragon wind“ in der Erzählung, der mit einem
heißen Wind, der alles austrocknet, beschrieben wird (YT, SG, 125). Im Gegensatz dazu

291
Ivanovic: Exophonie, Echophonie, S. 227.
292
In Japan besitzen Drachen einen Edelstein, mit dem sie Ebbe und Flut beherrschen können. Wasser und
Drachen stellen darüber hinaus eine assoziative Einheit dar. Aus: Scheid, Bernhard: Religion in Japan. In:
http://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Mythen:Drachen.

120
ist der Drache in Japan der Regen- und Wasserbringer und wird vor allem mit Wasser in
Verbindung gebracht. Die Szene, in der sich die Übersetzerin mit dem Saft der
Tigermelone293 wäscht und ihre Haut die Farbe des roten Saftes annimmt (YT, SG, 141)
erinnert an die Stelle in den Tübinger Poetik-Vorlesungen, in der Tawada das Beispiel aus
„Der Ring der Nibelungen“ anführt. Nachdem Siegfried im Wurm(Drachen)blut gebadet
hat, kann er die Sprache der Vögel verstehen (YT, VL, 18). Die Sprache der Vögel zu
verstehen, bedeutet „die Sprache der Träumenden“ (YT, VL, 13) zu verstehen, also in
einen anderen Bewusstseinszustand übersetzen zu können.
Tawada, wie oben erwähnt, nutzt nicht die im europäischen Diskurs beheimatete und weit
verbreitete Kritik, um der Gewalt entgegen zu sprechen, sondern versucht die Gewalt zu
absorbieren, sie nicht zu gebrauchen. In dem Essay „Eigentlich darf man es niemanden
sagen, aber Europa gibt es nicht“ (YT, TM, 45–51) verweist Tawada auf „Europa als
Meisterin der Kritik“, die nichts mehr fürchte, als nicht kritisieren zu können, da sie sonst
zu „verschwinden“ drohe. Tawadas Form von indirekter „Kritik“ des Nicht-Bemächtigen-
Wollens provoziert den/die Lesende/n, eigene Denkweise und Haltung zu hinterfragen und
zu erkennen.

3.3 Übersetzerin-Figuren im Vergleich

Vor allem die europäische Forschung hat immer wieder im Zusammenhang mit Yoko
Tawadas Texten auf jene von Ingeborg Bachmann verwiesen. So erinnern Kersting (2006)
die Fischfrauen in „Das Bad“ an den bekannten Undine- bzw. Melusinenstoff und
Bachmanns Erzählung „Undine geht“ (1961).294 Anlehnend auf Mona el Nawab (1993)295
stelle Tawada, so Kersting, ihren Text durch ungenaue Raum- und Zeitangaben in die
Tradition der märchenhaften Bearbeitungen des Undine-Stoffs von Fouqué bis
Bachmann.296 Vom Vergleich der in „Das Bad“ vorkommenden verbrannten Frau mit der

293
Tigermelonen stammen nicht von den Kanarischen Inseln, sondern aus Armenien. Die Schale hat
tatsächlich die Musterung eines Tigerfells. Das Fruchtfleisch wird im einschlägigen Zucht- und
Samenverkauf jedoch nicht als rot, sondern als weiß beschrieben. Der Bezug zu Armenien und dem Heiligen
Georg ist zum Beispiel durch die, zur Armenischen Apostolischen Kirche gehörenden Kathedrale des
Heiligen Georgs in Tiflis, Georgien gegeben.
294
Kersting: Fremdes Schreiben, S. 135.
295
Nawab, Mona el: Bachmanns "Undine geht". Ein stoff- und motivgeschichtlicher Vergleich mit Friedrich
de la Motte-Fouqués "Undine" und Jean Giraudoux’ "Ondine". Würzburg: Königshausen & Neumann 1993.
296
Kersting: Fremdes Schreiben, S. 139.

121
Person Ingeborg Bachmann distanziert sich Kersting jedoch, da die verbrannte Frau für sie
die Personifizierung des Semiotischen darstelle und ein „Sowohl-als-auch“ verkörpere [tot
und lebendig; jung und alt; schön und hässlich; auch die Ich-Erzählerin hat das Gefühl,
drei Menschen gegenüberzustehen (YT, DB, 23)].297 In Tawadas Märcheneinschüben in
„Das Bad“ sieht Kersting Parallelen zu Bachmanns Märchensequenzen in deren Roman
„Malina“ (1971).298 Fischer (1997) entdeckt im Kurzroman „Das Bad“ Assoziationen
bezüglich der Frau-Mann-Konstellation zu Bachmanns Thema der „Todesarten“. Die Frau,
die sich dem Mann unterwerfe, sei immer zwei Todesarten ausgesetzt. Sie kann, so
Fischer, weder außerhalb der patriarchalen Ordnung existieren, noch innerhalb, da sie
unter dem Machtanspruch des Mannes zu ersticken drohe. Die Ich-Erzählerin in „Das Bad“
wählt in Fischers Betrachtungsweise nicht die Todesarten, sondern das „Verschwinden“ in
Form des transparenten Sargs.299 Auffallend ist die Affinität beider Schriftstellerin zu
Walter Benjamins Theorien und Schriften. Tawadas Bezugnahme zu Benjamin ist
eindeutig, nicht nur weil sie unter anderem in ihrer Dissertation auf diesen verwiesen und
diesen zitiert hat. Bei Bachmann hingegen kann man zwar eine Affinität annehmen, so
weisen zum Beispiel Eggers (2001) und Weigel (1999) darauf hin, aber direkt auf ihn
Bezug genommen hat Bachmann nie.
Diese Querverweise sind jedoch nicht Thema der Arbeit und sollen deshalb nicht weiter
verfolgt werden. Im folgenden Kapitel werden die Übersetzerin-Figuren der oben
angeführten Texte von Bachmann und Tawada gegenübergestellt und es wird versucht
herauszuarbeiten, welche unterschiedlichen Herangehensweisen diese in Bezug auf die
Sprache in ihrem Beruf, aber auch in alltäglichen Konfrontationen entwickeln. Vor allem
werden wir sehen, dass die Übersetzerinnen im Spannungsverhältnis von Aneignung und
Annäherung, Sprachlosigkeit, Verwandlungen und Zerstörung stehen.

297
Kersting: Fremdes Schreiben, S. 149.
298
Ebd., S. 155.
299
Fischer: „Verschwinden ist schön“, S. 110.

122
3.3.1 Die Übersetzerin-Figuren in „Simultan“, „Das Bad“ und „Saint George and the
Translator“

3.3.1.1 Beruf und Element Medium


Die Übersetzerin in „Das Bad“ hat im Gegensatz zu den anderen beiden Texten keinen
festen Berufsstand. Sie wechselt diesen im Zuge ihrer Verwandlungen (Dolmetscherin,
Model, Typistin), um sich am Ende von allem zu distanziert (YT, DB, 60). Nur zu Beginn
ist sie Dolmetscherin beim Geschäftsessen der deutschen und japanischen
Geschäftsmänner und -frauen (YT, DB, 11–18). Sie bleibt jedoch im übergeordneten Sinn
Medium für Gedanken, Wörter und Stimmen der anderen und von Geistern und Toten
(YT, DB, 51). Das hat sie mit der Übersetzerin-Figur von „Saint George and the
Translator“ gemein, auch diese fungiert im Roman einerseits als Übersetzerin des Textes
der Autorin und andererseits als Medium der Stimmen (YT, SG, 150–151, 159),
Naturgeräusche (YT, SG, 128, 136, 144, 149, 158) und der Autorin, die als Erscheinung
gedeutet werden kann. Anders als in „Das Bad“ steht die Übersetzerin auch sinnbildlich
zwischen den Theorieansätzen von literarischer Übersetzung – Benjamins Ansicht der
„reinen Sprache“ (YT, SG, 121) – und dem an Leser/innen orientierten Literaturmarkt
(YT, SG, 139ff):

If translation meant „passing something over to the other


side“ than perhaps forgetting about the „whole“ and starting
out with fragments wasn’t a bad idea. But then again
translation might be something entirely different. Perhaps
translation was something like metamorphosis. Both words
and the story were transformed into something entirely new
(YT, SG, 121).

Nadja, die Übersetzerin-Figur in „Simultan“, ist eine erfolgreiche Simultandolmetscherin.


Auch sie dient als Medium für die Wörter der anderen (IB, TA, Bd. IV, 115) und für die
Gedanken von Frankel (IB, TA, Bd. IV, 102), auch wenn sie diese nicht in ihre
Erfahrungen übersetzen kann. Nur durch den Schwindel, der sie gleichzeitig mit ihrer
Sprachlosigkeit überkommt (IB, TA, Bd. IV, 134–138), wagt sie einen Blick in den

123
Abgrund, in dem sich eine andere Wahrnehmung und Welt für sie auftun, aber sie
vermittelt nicht zwischen den Welten, sondern bekommt nur einen Einblick von dieser:

Im Fahren schloß sie sofort die Augen und stemmte sich


wieder ab, trotzdem fühlte sie die Brücken, die Abgründe,
die Kurven, eine Bodenlosigkeit, gegen die sie nicht ankam
(IB, TA; Bd. IV, 137).

Die Übersetzerinnen in Tawadas Texten unterscheiden sich von Nadja durch ihren
erweiterten Begriff der „Übersetzung“, und werden auch als Medium zwischen der Welt
der Lebenden und der Toten verstanden, nicht zuletzt durch die in „Das Bad“ auftretenden
Fischfrauen, die in der japanischen Mythologie, wie wir gelesen haben, zwischen den
Lebenden und den Toten und Geistern vermitteln können.

Im Zuge aller Texte kommen die Übersetzerinnen mit dem Element des Wassers in
Verbindung. „Das Bad“ beinhaltet schon im Titel das Wort und Element Wasser. Im Text
selbst verwandelt sich die Übersetzerin beim Baden in eine Fisch- beziehungsweise
Schuppenfrau und verweist auf die Tatsache, dass der Mensch zu achtzig Prozent aus
Wasser besteht und sich daher das Gesicht ständig verwandelt (YT, DB, 1). In „Saint
George and the Translator“ wird gleich zu Beginn das Meer und dessen Wellen
kommentiert (YT, SG, 109). Das ausgetrocknete Flussbett, durch das die Übersetzerin mit
der Autorin spaziert (YT, SG, 131), steht für die Verkrustung von Denkansätzen und
verhindert Neubildungen, die Wasserknappheit (YT, SG, 142), verursacht durch den
Wasserverbrauch der Bananenplantagen verweisen auf die Ausbeutung des Elements und
die Machtausübung, die der Besitz davon hervorrufen kann. Am Ende flieht die
Übersetzerin des Romans ins Meer, ins Wasser, in das Element der Verwandlung und der
Übersetzung, obwohl sie dieses fürchtet und nicht gut schwimmen kann. Als Lesende/r
nimmt man deshalb an, dass sie darin ertrinken, nicht übersetzen wird. In „Simultan“
macht sich Nadja mit der stürmenden Meeresbrandung vertraut und springt mit Anleitung
Frankels immer wieder, wenn auch zur falschen Zeit, bis zur Erschöpfung in die
herantosenden Wellen (IB, TA, Bd. IV, 123). Nur in dieser Szene verständigen sich die
beiden auf Basis eines selbst entworfenen Zeichensystems (IB, TA, Bd. IV, 121), da es die
Lautstärke der an die Felsen brandenden Wellen unmöglich macht, einander zu hören. Das

124
Land und das Wasser treffen aufeinander und reiben sich, tragen einander ab und gehen
ineinander. Nadjas permanentes Zu-spät-Springen in das Element der Übersetzung zeigt
ein Zögern von ihrer Seite, sich dem Element hinzugeben, sich in ihm aufzulösen und eine
„neue“ Sprache zu finden.
Das Wasser steht bei Bachmann und Tawada als Zeichen für Veränderung und für
Verwandlung und fungiert hier selbst als Medium. Das Element des Wassers zeigt somit,
wie Tawada feststellte, dass alle Definitionen nur eine sprachliche Leistung seien und, wie
Bachmann in „Simultan“ zeigt, ein stark verbindendes Element ist. Paul Celan formulierte
in seiner Bremer Preisrede 1958, dass die Dichtung nicht „über“ das Wasser spreche,
sondern „aus“ ihm heraus, als ginge sie mit dem „Dasein zur Sprache“ und folge dabei,
wie Judex (2006) feststellt, dem Ruf eines Atems und seiner Tiefe.300 Auch die Zeile aus
Bachmanns Gedicht „Erklär mir Liebe“ (1956) verweist auf das Wasser als Medium der
Sprache(n):

Wasser weiß zu reden,


die Welle nimmt die Welle an der Hand
(IB, W, Bd. I, 109)

Bernhard Judex führt den Satz „Asiens Atem ist jenseits“ (IB, W, Bd. I, 59) aus
Bachmanns Gedicht „Große Landschaft bei Wien“ (1953) an und verweist auf den Strom,
der in der Donaumonarchie eine geschichtliche Einheit gebildet hat.301 Der Strom, das
Wasser steht hier für „kulturelle Vielfalt und einem Nebeneinander des Unbekannten und
verschiedener Sprachen“, wie Judex es formuliert.302 Hier kann man das Wasser in
Tawadas Texten als Medium anschließen, auch wenn die geschichtliche Komponente der
Donaumonarchie natürlich wegfällt. Das Wasser bildet bei beiden Autorinnen keine
Grenze, sondern eine vermittelnde Verbindung beziehungsweise ein Medium, wenn auch
in unterschiedlichen Formen.303

300
Judex, Bernhard: Kommunikation des Flüssigen. Wasser bei Ingeborg Bachmann und Paul Celan. In:
Kastberger, Klaus (Hg.): Wassersprachen: Flüssigtexte aus Österreich: eine Ausstellung des Stifter Hauses
Linz. Linz: Land Oberösterreich /Stifter Haus - Zentrum für Literatur und Sprache 2006, S. 70.
301
Judex: Kommunikation des Flüssigen, S. 72.
302
Ebd.
303
Diesbezüglich wäre eine genaue Betrachtung und Gegenüberstellung des Elements Wasser in den Texten
von Paul Celan, Ingeborg Bachmann und Yoko Tawada interessant, da das Wasser, wie Judex feststellt, als
„Wesensgrund des Daseins“, in dem die „neue, die andere Sprache“ liegt, gelesen werden kann, in welchem
„das Ich geborgen und verloren“ ist. Aus: Ebd., S. 80.

125
3.3.1.2 Die Konfrontation mit der Fremde
Grund für die Stellung als Medium ist bei allen Übersetzerinnen die Konfrontation mit der
Fremde, sei es nun geografisch, topografisch oder sprachlich. Die Fremde fordert die
Auseinandersetzung mit der eigenen Fremdheit. Alle drei Figuren haben nicht nur das
Land ihrer Geburt, sondern auch ihre Muttersprache verlassen. In „Saint George and the
Translator“ kommt hinzu, dass die Übersetzerin auf eine der Kanarischen Inseln fährt. Sie
begibt sich nochmals an einen fremden Ort, der eine fremde Sprache hat. So ist sie mit
einer mehrfachen Fremde konfrontiert: die Sprache der Insel; die Topografie der Insel; die
Sprache des zu übersetzenden Textes; ihre Muttersprache, die weder auf der Insel
gesprochen wird, noch dem zu übersetzenden Textes entspricht. Nadja hingegen wird
durch die Unfähigkeit zu weinen auf ihre Fremdheit in sich selbst verwiesen, indem sie
bemerkt, dass sie keine Sprache hat (IB, TA, Bd. IV, 136):

Sie wollte weinen, und sie konnte nicht weinen, seit wann
kann ich denn nicht mehr weinen, seit wann denn schon
nicht mehr, man kann doch nicht über dem Herumziehen in
allen Sprachen und Gegenden das Weinen verlernt haben,
und da mir kein Weinen zu Hilfe kommt, muß ich noch
einmal aufstehen, noch einmal diesen Weg gehen […] (IB,
TA, Bd. IV, 136).

Der Schwindel, der sie überfällt, ist gleichzusetzen mit einem Kontrollverlust und dem
Scheitern der Aufrechterhaltung einer inszenierten Identität, der sie in das ihr eigene
Unbekannte stürzen lässt und sie eine Möglichkeit erahnen lässt, die sie zuvor nicht
gesehen hat. Obwohl sie schon länger in der Fremde gewohnt hat, hat sie sich mit dem
Fremden in der Sprache nicht auseinandergesetzt, da sie rein auf der produktiven Ebene
kommuniziert hat (IB, TA, Bd. IV, 115).
Mit der Begegnung der veränderten Muttersprache kommt es bei allen Übersetzerin-
Figuren zu einem Erinnern. In „Das Bad“ besucht die Übersetzerin ihre Mutter in Japan
und erinnert sich durch das Sprechen ihrer Muttersprache, geprägt von ambivalenten
Gefühlen, an ihr vergangenes Ich (YT, DB, 44–50). Die Übersetzerin in „Saint George and
the Translator“ erinnert sich an die hinzugefügten Wörter ins japanische Schriftsystem im
19. Jahrhundert, der Öffnung Japans (YT, SG, 137). Und Nadja erhofft sich von Frankel

126
eine Rückkehr in etwas, das sich „so ähnlich wie Heimat“ anfühlt (IB, TA, Bd. IV, 101).
Durch die Rückkehr in die Muttersprache löst sich für Nadja plötzlich eine Frage, die sie
jahrelang nicht lösen konnte:

[…] und erst jetzt, viele Jahre zu spät, kam aus ihr die
Antwort auf eine unwichtig gewordene Frage, auf ein immer
leiseres, fast schon erlöschendes Warum. Die Antwort kam,
weil sie sie nicht französisch suchte, sondern in ihrer
eigenen Sprache, und weil sie jetzt mit einem Mann reden
konnte, der ihr die Sprache zurückgab und der, […] (IB, TA,
Bd. IV, 106).

Die Übersetzerin in „Das Bad“ kann sich durch das Einbeziehen zweier Sprachsysteme
plötzlich selbst benennen, ohne Festschreibungen machen zu müssen:

Ich hatte lange nicht japanisch gesprochen; in dem Wort


okaasan traf ich die wieder, die ich einmal gewesen war,
von dem Wort watashi an hatte ich das Gefühl meine eigene
Simultanübersetzerin zu sein (YT, DB, 45).

Das Verlassen der Muttersprache und die Rückkehr in diese verändert in „Das Bad“ die
Wahl- und die Muttersprache und führt diese zusammen. Bei Bachmanns Übersetzerin
bewirkt die Rückkehr „nur“ eine Art Klärung in der Denkweise, die mit Aufmerksamkeit
und Perspektivenwechsel verbunden ist.

Bei Tawada, wie bei Bachmann, ist die Auseinandersetzung mit der Fremde, wie oben
erläutert, poetisches Konzept. Bei Tawada handelt es sich um die Überwindung des
dichotomen Denksystems, das sie anhand vom „Mythos Europa“ verbunden mit der von
ihr bezeichneten „ethnologischen Poetologie“ aufzeigt. So erinnern diese Figuren
(Fischfrauen, Wasserfrauen, Drachen) einerseits auf asiatische und andererseits auf
europäische Mythen. Tawada spiegelt die beiden Systeme und macht damit auch auf eine
Unübersetzbarkeit aufmerksam, die zugleich die Aufforderung beinhaltet, das Fremde im
Eigenen zu suchen. In „Das Bad“ weist auch die Wahl des Bildes der badenden

127
Asiatinnen, das sich durch den gesamten Kurzroman zieht, auf diesen Teil ihrer Poetik hin.
Bachmann hat sich, wie oben erwähnt, nicht inhaltlich mit der Fremde in ihren
literarischen Texten auseinandergesetzt, sondern vielmehr war die Funktion der Fremde,
vor allem in Bezug auf die österreichische Vergangenheit, der Mittelpunkt ihrer Arbeit. In
„Simultan“ zeigt sich die Fremde als grundsätzliches Problem von zwischenmenschlichen
Beziehungen, indem die Figuren nur das Andere im Gegenüber wahrnehmen und nicht ihr
eigenes Fremdes in sich sehen wollen. Wie zum Bespiel, dass es auch zwischen
gleichsprachigen, die gleiche Herkunft habenden Partner(inne)n zu unüberbrückbaren
Missverständnissen kommen kann (IB, TA, Bd. IV, 126).

In der Auseinandersetzung mit der Fremde muss im westeuropäischen Kontext immer auch
die Aneignung und die Ermächtigung des/der Anderen bedacht werden. Die
Übersetzerinnen von Tawada sind Frauen, die sich in ein ihnen fremdes System begeben
und dort versuchen, sich selbst und eine Sprache zu erahnen, die sie nicht nur benutzen,
sondern mithilfe derer sie einen weiteren Erkenntnisruck erlangen wollen. So gibt die
Übersetzerin in „Saint George and the Translator“ gegenüber ihrem Verleger den
Gedanken preis:

I hate writers who change a few things around to get a


simple solution (YT, SG, 126).

Tawadas Übersetzerinnen eignen sich die Sprache nicht an, sondern nähern sich ihr an.
Nadja in „Simultan“ versucht diesen Erkenntnisruck zu verhindern, und erst durch den
Schwindel erhält sie Erkenntnisse, wie zum Beispiel dass Leben keine Pflicht, sondern
eine Möglichkeit darstellt (IB, TA, Bd. IV, 141). Die Anderen, die sogenannten
Einheimischen, reagieren bei Tawadas Übersetzerinnen zumeist belehrend und versuchen
das für sie eingedrungene Fremde und Andere in ihre scheinbar bekannte Welt anzupassen.
Sie wollen es aber nicht nur dazu bringen, sich an das System anzupassen, sondern
gestalten das Fremde immer auch nach ihren Vorstellungen der Fremde. Die Fremde ist
einerseits interessant, da es neugierig macht und Fantasien weckt, und andererseits ist es
unberechenbar und somit gefährlich. In Bezug zu den Fischfrauen in „Das Bad“ handelt es
sich um eine Verdoppelung. Die Fischfrauen sind einerseits bekannt durch ihren

128
Menschenanteil und andererseits fremd durch ihren Tierkörperteil. Bei Tawadas
Übersetzerin-Figuren sind es männlichen Figuren (Xander, George), die sich der fremden
Frau bemächtigen wollen. Die Bevormundung geschieht auf doppelte Weise: als Frau in
einem fremden System und als Frau in einer patriarchal geprägten Gesellschaft. So
empfinden in „Das Bad“ auch die japanischen Geschäftsmänner die Dolmetscherin als
Bedrohung, da diese die Sprache des Feindes in den Mund nimmt und verstehen kann (YT,
DB, 14):

Als ich am Ende des Satzes den Kopf wieder hob, traf mich
aus einer Goldrandbrille der scharfe Blick eines Japaners.
Eine Dolmetscherin ist wie eine Prostituierte, die sich an
Besatzungssoldaten verkauft; von den einheimischen
Männern wird sie gehaßt (YT, DB, 14).

[…] dann fragte er mich jovial und väterlich: „Und Sie,


wohnen Sie allein? – Wenn Sie nicht bald nach Japan
zurückkehren und heiraten, werden sich ihre Eltern um Sie
sorgen!“ (YT, DB, 15).

Ebenfalls in „Das Bad“ wird durch Xanders Verwendung der dritten Person (YT, DB, 30)
deutlich, dass es sich in seiner Denkweise um eine Fixierung seines Gegenübers (in diesem
Fall der Frau) und seiner eigenen Position handelt und er keine Veränderung von außen
zulassen möchte.
In „Simultan“ ist es ebenfalls das patriarchale System (in Form von Jean Pierre und ihrer in
der Männerwelt verankerten Arbeit), welches versucht, Nadja an ihren Platz zu verweisen.
Hier sind es ebenfalls Nadjas Versuche des Ausbrechens aus diesem System, die Jean
Pierre befremden und zur Raserei bringen:

Nun war sie noch einmal hell empört über Jean Pierre, der
alles verkehrt gefunden hatte, was sie auch tat und dachte, der
sie einfach, ohne je auf sie einzugehen, in ein ihr fremdes
Leben hineinzwingen wollte, […] (IB, TA, Bd. IV, 126).

129
Auch hier zeigt sich die Verdoppelung durch den Status einer Frau in einem fremden und
zugleich patriarchalen System. Die männliche Aneignung steht immer im Zeichen der
Gewalt. Alle Gewalt, die den Übersetzerinnen widerfährt, geschieht aus der männlichen
Gewalt heraus. Es lässt jedoch nicht den Umkehrschluss zu, dass die Frauen frei von
Gewalt sind. Die schwierigen und frustrierenden Beziehungen zu Männern haben alle drei
Übersetzerinnen gemein. Es findet keine gehaltvolle Kommunikation statt und die
Beziehungen bestehen aus ungleichen Machtverhältnissen:

[…] als daß es eine Zumutung für einen Mann war, wenn
eine Frau ihm nicht zuhöre, aber auch eine Zumutung für
sie, weil sie ihn anhören mußte, denn meistens hatte er sie
belehrt oder ihr etwas erklärt, […] (IB, TA, Bd. IV, 106).

„Aber dafür hat jeder eine eigene Stimme in sich. In uns...“


„In uns gibt es keine Stimme. Nur die Luft außerhalb unserer
Körper vibriert.“
Xander dachte mit gesenktem Kopf eine Weile lang nach,
hob dann sein Gesicht und fragte: „Darf ich sie schminken?“
(YT, DB, 10).

„You have an easy life!“ Mere coincidence no doubt but


George always said this to me too. And whenever he did it
robbed me of my courage and sapped my strength leaving
me upset but too weak-kneed to really get mad (YT, SG,
157).

Vor allem die Übersetzerinnen in „Das Bad“ und „Simultan“ verlieben sich in die Sprache
des Mannes und nicht in den Mann selbst.

Nachdem wir über einen Kugelschreiber und einen


Aschenbecher dasselbe gesagt hatten, war ich schon in
Xander verliebt. Zumindest hatte ich den Eindruck. In einen
Menschen, der mir Worte beibringt, verliebe ich mich auf
der Stelle (YT, DB, 28).

130
[…] und mit der Zeit nahm sie den alten Singsang wieder an,
sie melodierte ihre deutschen Sätze und stimmte sie auf seine
nachlässigen deutschen Sätze ein, wie aufregend, daß sie
wieder so reden konnte, es gefiel ihr mehr und mehr, und nun
gar reisen, mit jemanden aus Wien (IB, TA, Bd. IV, 101)!

Gemein ist allen drei Übersetzerinnen, dass sie im Grunde die von Aneignung geprägten
und Aneignung ausübenden Männer verlassen wollen, was diese jedoch nicht ernst
nehmen. Jean Pierre, der die Widerstände von Nadja verlacht (IB, TA, Bd. IV, 127), die
Übersetzerin in „Das Bad“ die sich weigert, in der Sprache Xanders weiterzusprechen (YT,
DB, 31), und die Übersetzerin in „Saint George and the Translator“, die sich auf eine der
Kanarischen Inseln begibt, um von George ungestört arbeiten zu können (YT, SG, 112),
der dann dennoch seinen Besuch ankündigt.
Alle Übersetzerin-Figuren bewegen sich (im Falle von „Simultan“ handelt es sich vor
allem um die Beziehung zu Jean Pierre und nicht der zu Frankel) in Beziehungen, die
Abhängigkeit und Aneignung in sich tragen und das Dilemma und den Missbrauch
mit/durch der/die Sprache widerspiegeln.

3.3.1.3 Die Sprache als Bedrohung


Die Sprache der Anderen empfinden alle drei Übersetzerinnen als Bedrohung. Nadja
berichtet, dass sie aufpassen müsse, nicht von den „Wortmassen“ überrollt zu werden (IB,
TA, Bd. IV, 115). Die Übersetzerin in „Das Bad“ empfindet die Worte der anderen als
„Abfall“ (YT, DB, 17) und die Übersetzerin in „Saint George and the Translator“ erfährt
durch die Sprache der Autorin körperliche Verletzungen (YT, SG, 110, 115, 122, 128, 136,
167–175). Diese Bedrohung durch die Sprache der Anderen bewirkt bei Nadja und der
Übersetzerin in „Das Bad“ Sprachlosigkeit. Die Zunge der Übersetzerin in „Das Bad“ geht
zuerst in den Besitz von Xander über (YT, DB, 28), dann wird sie von einer Seezunge
verschluckt (YT, DB, 18) und am Ende nimmt die verbrannte Frau der Übersetzerin die
Zunge weg (YT, DB, 27), welche diese auch nicht wieder zurück haben möchte (YT, DB,
51). Am Ende ist sie sprach- und schreiblos und nichts von dem, was sie einmal gewesen
ist, und alles deshalb, weil es sie bis hierher gebracht hat:

131
Aber es sollte ein Curriculum Vitae geben, das mit dem
Sterbedatum beginnt (YT, DB, 60).

Sie wird schließlich zu einem transparenten Sarg (YT, DB, 60) und somit zur Beobachterin
und Beobachteten zugleich.

Nadja hingegen erhält die Sprachfähigkeit wieder, noch dazu eine Sprache, die von ihren
eigenen Erfahrungen geprägt ist, die endlich den momentanen Augenblick auszudrücken
vermag. Zuvor muss sie jedoch ihr Scheitern an der Bibelstelle akzeptieren, um daraus die
Unübersetzbarkeit der Dinge zu begreifen:

Sie fing zu weinen an. Ich bin nicht so gut, ich kann nicht
alles, ich kann noch immer nicht alles. Sie hätte den Satz in
keine andere Sprache übersetzen können, obwohl sie zu
wissen meinte, was jedes dieser Worte bedeutete und wie es
zu wenden war, aber sie wußte nicht, woraus dieser Satz
gemacht war (IB, TA, Bd. IV, 143). 304

Die Übersetzerin in „Saint George and the Translator“ erfährt keine Sprachlosigkeit, sie
nimmt die Wörter, Stimmen und Geräusche in sich auf und transformiert diese. Sie
scheitert auf andere Weise, denn die Gewalt, die sie versucht auf sich zu lenken,
überwältigt sie, genauso wie die Stimmen und Geräusche. Im Meer, im Wasser, im
Element der Verwandlung, zwischen Erde und Himmel geht sie scheinbar verloren oder
wird selbst zum verwandelnden Element.

Tawadas Übersetzerinnen bleiben im Dazwischen der Sprachen und Welten, sie


verwandeln sich, was eine Lösungsstrategie zu sein scheint. Bachmanns Übersetzerin-
Figur verändert ihren Blickwinkel auf die Dinge im Laufe der Erzählung und macht
Hoffnung spürbar (wenn auch utopisch), aber ob sie sich deshalb wandelt, bleibt
ausständig.

304
Vgl. hierzu: „Was sagt denn eine Dichtung? Was teilt sie mit? Sehr wenig dem, der sie versteht. Ihr
Wesentliches ist nicht Mitteilung, nicht Aussage.“ Aus: Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers. In:
Sprache und Geschichte. Philosophische Essays. Ausgewählt von Rold Tiedemann. Mit einem Essay von
Theodor W. Adorno. Stuttgart: Reclam 2010, S. 50.

132
Die Sprache dient bei beiden Autorinnen als Spiegel des Herrschaftssystems, aus dem ein
Ausstieg nicht möglich ist, sondern nur eine Veränderung/Verwandlung innerhalb dessen.
Doch genau das zeigen die Übersetzerinnen bei Tawada und Bachmann, sie versuchen
einen Ausstieg innerhalb des Systems.

Es scheint, als verlaufen die Wege von Tawadas Übersetzerin-Figuren genau in die
Gegenrichtung zu Bachmanns Najda. Tawadas Figuren wissen um die Verwandlung der
Sprache und ihre eigene Bescheid und scheitern trotzdem. Nadja hingegen erfährt erst
durch ihr Scheitern die Wandelbarkeit der Sprache und Denkweisen.

3.3.1.4 Stimmen in Raum- und Zeitverschiebungen


Alle drei Texte zeichnen sich, wie oben erwähnt, durch ihre Polyphonie aus. „Simultan“
arbeitet aufgrund Bachmanns Schreibstil mit der Frage nach dem Ort der Stimme, sodass
man als Lesende/r nie weiß, welche der Figuren oder übergeordnete Instanz aus dem Text
spricht. Auch auf die Ebene des Echos wurde schon verwiesen: Das Echo der
Vergangenheit klingt in die Gegenwart, wenn Nadja beim abermaligen Besuch in
Kalabrien an Szenen ihrer Gewaltbeziehung mit Jean Pierre erinnert wird (IB, TA, Bd. IV,
100) oder sie die Ortschaften nicht mehr erkennen kann, da sie diese in ihrer Erinnerung
anders verortet hat (IB, TA, Bd. IV, 116).
Bei Tawadas Übersetzerinnen kommt hinzu, dass sie Stimmen von Geistern und Toten
wahrnehmen können und dass durch ihre Stimme nicht nur die eigene spricht, sondern
immer auch die der Toten und Geister. In „Das Bad“ ist dies durch die Gedanken und
Sätzen der verbrannten Frau, die durch die Übersetzerin gesprochen werden, ersichtlich:

„Höre mir gut zu. Ich rede zu dir, weil außer dir keiner mehr
meine Sprache versteht.“ Ich (Übersetzerin) fühlte ihren
Atem wie Nachtwind in meinem Gesicht (YT, DB, 35-36).

Wenn die Übersetzerin die Erinnerungen der Mutter erinnert (YT, DB, 44), klingt die
Vergangenheit in der Gegenwart wieder. Die Szene, in der die Übersetzerin in ihrer
eigenen Vagina verschwindet (YT, DB, 50), deutet auf andere Weise auf die Verschiebung
von Innen- und Außenwelt hin – die scheinbar fixen Platzierungen verschieben
beziehungsweise verdoppeln sich im Zuge der wechselnden, aber gleichzeitigen

133
Blickwinkel. In „Saint George and the Translator“ kommen Naturgeräusche zu Wort,
welche die Übersetzerin gegen Ende hin als bedrohlich empfindet. Auch die Stimme der
Autorin setzt sich im Text durch, obwohl diese nicht anwesend sein kann. Vor allem bleibt
die Stimme des übersetzten Textes bei den Lesenden, obwohl der Text im Zuge der
Verfolgungen durch die Inselbewohner/innen abhanden kommt. Auch hier zeigen die
verschiedenen Blickwinkel auf das übersetzte Original die Zeit- und
Ebenenverschiebungen in ihrer Gleichzeitigkeit, der verloren gegangene übersetzte Text
aus der Vergangenheit klingt in der Gegenwart weiter.

Auffällig ist das aufmerksame Zuhören und „Versinken“ in die Stimmen der Anderen, die
alle Übersetzerinnen gemein haben. In „Das Bad“ zeigt es das oben angeführte Zitat mit
der Aufforderung der verbrannten Frau an die Übersetzerin, dass ihr diese gut zuhören soll
(YT, DB, 35). In „Simultan“ heißt es:

[…] aber nachmittags wurde es immer schwerer, sich zu


konzentrieren, es war dieses fanatisch genaue Zuhören,
dieses totale sich Versenken in eine andere Stimme, […]
(IB, TA, Bd. IV, 108).

In „Simultan“ zeugt das Zuhören von Nadja nur von einer Funktion, die den Inhalt des
Gehörten einfach weitergibt – sie ist Durchzugsort und versinkt im Gehörten. Bei den
Übersetzerinnen von Tawada handelt es sich um ein anderes Zuhören – sie hören über das
Gesagte und Gehörte hinaus, die Stimmen sinken in sie hinein:

Jeden Abend besucht jene Frau, durch meine Haut hindurch,


diese Welt. Ich kann sie nicht hören. Ich kann sie nicht
sehen, […]. Ich spüre sie auch nicht hören. Ich spüre nur,
wie meine Knochen ein Zittern weiterleiten. Dann halte ich
den Atem an und konzentriere mich auf das Vibrato der
Knochen. Ein Ton, der nicht zu Musik werden kann, nein,
eine Schwingung, die nicht zu einem Ton werden kann (YT,
DB, 59).

134
I did hear the banana leaves rub against each other now and
then like people whispering which was disturbing to listen to
in the dark for it seemed like I wasn’t alone in the room.
When I turned in the light the hissing voices faded for a
while only to gradually return (YT, SG, 158).

3.3.1.5 Die Mehrgesichtigkeit des Ichs und die Unübersetzbarkeit in der Übersetzung
Durch die erwähnte Raum- und Zeitverschiebung dezentriert sich das Ich und ist daher
keine fixierbare Größe mehr. Die Übersetzerinnen in Tawadas Texten verwandeln sich
oder lösen sich auf. Bachmanns Nadja hingegen zerstört sich, um zu ihrem eigenen Ich
werden zu können (zumindest scheint sie am Weg dorthin zu sein). Die Übersetzerin in
„Das Bad“ verwandelt sich mehrfach, sei es als Lösungs- oder Fluchtstrategie vor (der
Rolle) der Mutter, Xander oder den Geschäftsmenschen. Die Verwandlungen sind hier,
wie auch in „Saint George and the Translator“, als Übersetzung zu lesen. Das Ich ist keine
fixierbare, sondern eine fiktive Definition, welches immer auch durch äußere Einflüsse
veränderbar und daher mehrschichtig ist, so wie erst durch den Akt der Übersetzung die
Mehrschichtigkeit eines Textes sichtbar gemacht wird. Die Mehrschichtigkeit der
Übersetzerin-Figuren von Tawada zeigen sich vor allem durch den oder aufgrund des
Transformationsprozesses und ist als Möglichkeit zu lesen, sich mit der eigenen Fremde
und gesellschaftlichen, kulturellen Zuschreibungen auseinanderzusetzen.
Bei Bachmanns „Ich“ handelt es sich ebenfalls um eine variable Größe, die sich nicht
erfassen lässt. Sie spricht in der Frankfurter Poetik-Vorlesung „Über das Ich“ vom „Ich
ohne Gewähr“ (IB, KS, 288) in literarischen Texten und formuliert die Frage nach dem Ort
der Stimme. Wie oben mehrfach erwähnt, liest sich „Simultan“ wie die Frage nach dem
Ort der Stimme, der nicht nur in einer einzigen Stimme oder einem genauen Zeitpunkt zu
suchen ist. Dieses „Ich ohne Gewähr“, das nie zur Gänze fassbar und fixierbar ist und sich
im literarischen Schreiben immer wieder ändert, liest Kersting (2005) in Tawadas
Mehrschichtigkeit der Gesichter (YT, VL, 50, 53), die sie in den Tübinger Poetik-
Vorlesungen erläutert. Kersting deutet Tawadas Aussage als „späte Antwort auf Ingeborg
Bachmanns Diktum“.305

305
Kersting: Essays im Vergleich, S. 224.

135
Wenn nun, wie oben erwähnt, alle Übersetzerinnen als Medium zwischen den Sprachen
und teilweise zwischen den Welten fungieren, dann übersetzen sie gleichzeitig auch
zwischen diesen. Das erfordert bei allen einen Übersetzungsprozess aus einem nicht
sprachlichen Bereich. Vor allem bei Tawadas Übersetzerin-Figuren wird dies sichtbar,
weil sie ihre eigenen Wahrnehmungen und die Aussagen der Anderen stets zu übersetzen
versuchen. Nadja hingegen erahnt zwar diese Übersetzungsbrücke, kann sie jedoch lange
nicht betreten. Vergleichbar sind diesbezüglich auch die jeweiligen dazugehörigen
poetischen Konzepte von Tawada und Bachmann in Bezug auf den Prozess des
Übersetzens aus einem nicht sprachlichen Bereich. So spricht Bachmann in der Frankfurter
Poetik-Vorlesung „[Über Gedichte]“ von Gedichten als „Fremdworte“, die vorerst von der
„eigenen Sprache angenommen“ werden wollen (IB, KS, 272). Tawada spricht vom
Schreiben als einen Prozess des Übersetzens aus einem nicht sprachlichen Bereich.306
Infolge dieses Übersetzungsprozesses findet die Übersetzerin in „Das Bad“ ihre nicht
festschreibende Selbstbenennung, indem sie das deutsche und japanische Sprachsystem
ineinanderfließen lässt. Beim Aussprechen des Wortes „watashi“ bekommt sie plötzlich
das Gefühl, ihre „eigene Simultandolmetscherin“ zu sein (YT, DB, 45) – sie verbindet
beide Sprachsysteme in ihr. Im Gegensatz dazu kann Nadja diese Gleichzeitigkeit der
Sprache am Beginn der Erzählung nicht wahrnehmen, da sie sich davor fürchtet,
„unbrauchbar“ zu werden, wenn sie die zu übersetzenden Worte auf ihre Bedeutung hin
betrachtet (IB, TA, Bd. IV, 115). Erst nach ihrer Sprachlosigkeit kann sie die
Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung/Erfahrung und Sprache herstellen, wenn sie dem
jungen Kellner ihr „Auguri!“ zuruft (IB, TA, Bd. IV, 145).
Bevor es aber zu dieser Befreiung kommt, zerstört sich die (scheinbar) fixierte Identität der
Übersetzerinnen, um die Freiheit zu haben, sich von den auferlegten gesellschaftlichen
Rollenbildern zu lösen:

Im Zimmer, als er sie umarmte, begann sie wieder zu zittern,


wollte nicht, konnte nicht, sie fürchtete zu ersticken oder
ihm unter den Händen wegzusterben, aber dann wollte sie es
doch, es war besser, von ihm erstickt und vernichtet zu
werden und damit alles zu vernichten, was in ihr unheilbar

306
Klopfer: „Also es gibt kein Original.“, S. 13.

136
geworden war, sie kämpfte nicht mehr, […] (IB, TA, Bd. IV,
138).

In „Saint George and the Translator“ beginnt die Verwandlung und Auflösung der
Übersetzerin am Anfang ihrer Übersetzungsarbeit. Ihr Körper beginnt sich im Zuge der
Übersetzung zu verwandeln, indem er die Gewalt des Textes absorbiert (YT, SG, 110). In
„Das Bad“ ist die Verwandlungsfähigkeit des menschlichen Gesichts der Ausgangspunkt
der Erzählung, ähnlich wie in „Saint George and the Translator“. „Simultan“ geht nicht
von der Möglichkeit einer solchen Verwandlung aus, sondern zeigt den Weg bis zu dieser
auf.
Auch das Verhalten der Übersetzerinnen von Tawada zeigt in deren Ausübung der
Tätigkeit als Übersetzerinnen oder Dolmetscherinnen im Vergleich zu Nadja einen
Unterschied in der Auffassung von Produktivität. Nadja, erfolgreich in ihrem Beruf, wird
als arbeitendes autonomes Individuum dargestellt, die ihre Arbeit, angepasst an die Welt
der Männer, perfekt meistert. Die Dolmetscherin in „Das Bad“ scheitert als solche, da sie
sprachlos wird und ihrer Zunge beraubt wird. Auch die Übersetzerin in „Saint George and
the Translator“ behauptet von sich, eine schlechte Übersetzerin zu sein (YT, SG, 121), die
nie ihre Übersetzungsarbeiten allein fertig mache (YT, SG, 139). Auch das fertig
übersetzte Manuskript wird nicht abgeschickt und geht verloren (YT, SG, 174). Ivanovic,
wie oben erwähnt, spricht von einem Ich das sich mehr als „Resonanzkörper“ und nicht in
seiner Produktivität wahrnimmt.307 Die Figuren von Tawada funktionieren in dem nach
wie vor von Männern geprägten produktiven Raum nicht und erkennen ihren eigenen
Rhythmus. Nadja hingegen passt sich dem männlichen Erfolgsdruck an und beginnt erst
nach ihrem Zusammenbruch, zumindest in ihrem Privatleben, keinem Ideal mehr zu
entsprechen.308

Auf die Unübersetzbarkeit an sich werden zwei der Übersetzerinnen gestoßen. Nadja in
Form der Begegnung mit der Bibelstelle, die sie nicht übersetzen kann (IB, TA, Bd. IV,
142-143), und die Übersetzerin in „Saint George and the Translator“ mit dem Wort
„Drache“. Die Erfahrung der Unübersetzbarkeit geht bei beiden Übersetzerinnen über die

307
Ivanovic: Exophonie, Echophonie, S. 227.
308
Aber auch Frankel fühlt sich im patriarchalen System nicht mehr wohl. Vgl.: Wandruszka: „Die
Geschlechter da es sie gibt“, S. 68.

137
Erfahrung der „Freisetzung“ in „Saint George and the Translator“ und der Erkenntnis in
„Simultan“ einher. Nadja erhält durch den Schwindelanfall, der nicht zu übersetzenden
Bibelstelle und ihren riskanten „Übersetzungen“ der Meeresfelsen eine Annäherung an die
Sprache, die aus Erfahrung entsteht. Sie tritt durch die Verrückung der Perspektive und der
Wahrnehmung in den Spalt der Sprache ein. Die Übersetzerin in „Saint George and the
Translator“ geht durch den Buchstaben „O“ in die fremde Sprache ein und erkennt dadurch
in ihrer eigenen Sprache ebenfalls Fremdes (YT, SG, 113, 151, 137). Sie glaubt an ein
„Etwas“, das plötzlich aus dem übersetzten Text aufscheinen wird (YT, SG, 126). Durch
ihre Wahl des Wortes „kare“ für das Pronomen des Drachens geschieht dies auch. Diese
Unübersetzbarkeit der „Dinge“ spricht auch für die Annahme einer Unterscheidung von
Sprachen, Geschlechtern und Kulturen, die jedoch auf einer gleichberechtigten Basis
aufgebaut ist und nicht von Machtverhältnissen missbraucht wird.
Wie im Punkt der Fremde spielt in der Übersetzung immer die Frage nach Aneignung und
Ermächtigung eine wichtige Rolle. Alle drei Übersetzerinnen werden mit diesen
Phänomenen konfrontiert. Tawada verweist damit auf die oben schon erwähnte Denkweise
der europäischen Wissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert, die in der Übersetzung
durch die dichotome Denkweise immer auch ein Machtverhältnis aufrechterhalten habe
und fremde Bedeutungshorizonte einfach in die eigene Sprache „assimiliert“.309 Ersichtlich
wird das in „Das Bad“ etwa in der Szene des Fotografierens der Übersetzerin (YT, DB,
10–11). Xander muss die Übersetzerin erst „japanisch“ schminken und ihr die schwarzen
Haare schwarz färben, damit sie auf seinen Fotos sichtbar wird. Nadja hingegen wird durch
den Akt des Dolmetschens zum Schweigen gebracht, da sie nur mehr die Worte der
Anderen wiedergeben kann, ohne einen persönlichen Gehalt darin zu entdecken (IB, TA,
Bd. IV, 115). In „Saint George and the Translator“ zeigt die Übersetzerin eine andere
Möglichkeit der Übersetzung eines fremdsprachigen Textes, indem sie versucht, den Text
zu öffnen und ihm seine Gewalt nimmt. Sie weist damit auf den Gewaltdiskurs hin, dem
sie sich nicht zugehörig fühlt. Sie transformiert den Text, eignet sich ihn nicht an, betritt
ihn mehr oder weniger und deutet auf seine Unübersetzbarkeit hin. Auch die
Verwandlungen der Übersetzerin in „Das Bad“ ziehen diese Verbindungen der asiatischen
mythologischen Fischfrauen und den westeuropäischen Wasserwesen (Undine) und
versuchen damit auf den Machtanspruch, den Xander verkörpert, hinzuweisen und diesen

309
Vgl.: Shimada: Zur Asymmetrie in der Übersetzung von Kulturen, S. 261.

138
damit aufzuheben. Alle Übersetzerin-Figuren lösen sich aus diesen Machtansprüchen
innerhalb des Systems (außerhalb ist dies nicht möglich, wie die Übersetzerin von „Saint
George and the Translator“ durch ihr Scheitern an der Aufnahme der Gewalttaten
vermittelt): Die Übersetzerin in „Das Bad“ verwandelt sich in einen transparenten Sarg,
Nadja beginnt sich aus patriarchal geprägten Denkweisen zu befreien und die Übersetzerin
in „Saint George and the Translator“ flüchtet ins Meer und wird selbst Teil des
übersetzendes Elements oder geht in diesem unter.

139
4 NACHWORT

Elementar bei allen Übersetzerin-Figuren ist das Ich in seiner nicht fixierbaren Größe. Hier
konnte auch gezeigt werden, dass sich die Poetikansätze von Tawada, die von einer
Mehrgesichtigkeit des Ichs spricht, und von Bachmann, die von einem „Ich ohne Gewähr“
spricht, nahe sind. Tawadas Übersetzerin-Figuren zeichnen sich durch ihre
Wandlungsfähigkeit aus, die eng mit der Poetik des Ichs als „Skizzenbuch“ verbunden ist.
Bachmanns Übersetzerin-Figur hingegen löst sich erst aus der Festigung des Ichs als
endgültige Identität. Bei Bachmann handelt es sich um ein Ich mit wandelbarer
literarischer Größe, das im Falle von „Simultan“ zwischen den Zeiten gedanklich übersetzt
und immer wieder Echostimmen, und -gedanken aus Vergangenem wahrnimmt. Bei
Tawada kommt die körperliche Dezentrierung hinzu, die auch als polyphoner Körper zu
lesen ist und dem Ich immanent ist.

Eine weitere markante Gemeinsamkeit zeigt die Sprache, die von allen drei Übersetzerin-
Figuren als Bedrohung wahrgenommen wird. Unterschiedlich sind Auswirkung und
Lösungsstrategie, die jedoch nicht auf die jeweilige Autorin hinweisen, sondern auf deren
jeweiligen Text. „Saint George and the Translator“ kann als Versuch für eine neue
Übersetzungsweise gelesen werden, indem die Übersetzerin versucht, den Text zu öffnen
und dadurch insofern zu verändern, dass jenes, was für sie nicht annehmbar ist, durch ihren
Körper absorbiert wird. In der Gegenüberstellung der Übersetzerin-Figuren von Tawada
und der Übersetzerin-Figur Bachmanns hat sich gezeigt, dass sich Verwandlung bei
Tawada und Zerstörung bei Bachmann gegenüberstehen, wobei die Grenzen dieser
Zustände fließend sind. Zu hinterfragen ist jedoch auch der Punkt, ob nicht jeder
Verwandlung auch eine Zerstörung zugrunde liegt.

Der Begriff des Übersetzens ist ebenfalls eine verbindende Linie zwischen beiden
Autorinnen. Sie erhält bei beiden eine Erweiterung, die zwar nicht gleichzusetzen sind,
aber einen Ausgangspunkt gemein haben: die Unübersetzbarkeit zu erkennen. Übersetzung
geht über den bloßen Akt hinaus und wird zu einer Poetik des Schreibens. Erst durch den
Übersetzungsprozess scheinen Lücken, Spalten und Öffnungen in der Sprache ersichtlich

140
zu werden, die die Betrachter/innen aufschrecken lassen und das Ich, das scheinbar doch so
klar zu sein scheint, in verschiedenen Blickwinkeln darstellen lässt. Die Übersetzerinnen in
allen Texten fungieren als Medium zwischen den Sprachen und in Tawadas Texten auch
zwischen den Welten. Wie wir gesehen haben, ist auch das Element Wasser Medium
zwischen Welten und Sprachen und stellt keine Grenze dar, sondern ist verbindendes
Element.

Die Konfrontation und die Auseinandersetzung mit der Fremde, vor allem mit dem
Fremden im Eigenen, ist Ausgangspunkt für alle schon angeführten Punkte. Ohne diese
Konfrontation, die bei den Übersetzerin-Figuren wie auch den Schriftstellerinnen Tawada
und Bachmann gegeben ist, würde keine Aufmerksamkeit, keine Verdächtigung der
Sprache stattfinden. Beide Autorinnen und alle drei Übersetzerinnen verlassen die
Gewohnheit und scheinbare Sicherheit des Bekannten und entdecken dadurch, dass auch
das Bekannte fremd ist. Deshalb scheint der vorherrschenden, vor allem aus
westeuropäischer (Wissenschafts-)Tradition stammenden Sichtweise von Aneignung und
Ermächtigung ein Positionswechsel gegenübergestellt, der nicht von einem Entweder-
Oder, sondern von einem Sowohl-als-Auch ausgeht.

Bemerkenswert ist die Forderung beider Schriftstellerinnen, einen neuen Umgang


beziehungsweise neue wissenschaftliche Fragen an die Literatur zu stellen, indem sie den
Begriff „Literatur“ über die National- wie auch die Fachgrenzen hinaus erweitern, um die
Literatur in ihrer Ganzheitlichkeit wahrnehmen zu können. Die Übersetzerin-Figuren aller
hier vorgestellten Texte schaffen einen weiteren Blickwinkel auf die Sprache als
wandelbares, nicht zu besitzendes Element.

141
5 LITERATURVERZEICHNIS

5.1 Primärliteratur

Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuch eines Überwältigten.
(zuerst Szczesny Verlag 1966), Stuttgart: Klett-Cotta 1977.

Bachmann, Ingeborg: Werke. Christine Koschel / Inge von Weidenbaum / Clemens


Münster (Hg.). 5. Auflage (zuerst 1978), München: Piper 1993.

Bachmann, Ingeborg: „Todesarten“-Projekt. Kritische Ausgabe. Band IV. Der „Simultan“-


Band und andere späte Erzählungen. Unter Leitung von Robert Pichl. Monika Albrecht /
Dirk Göttsche (Hg.). München, Zürich: Piper 1995.

Bachmann, Ingeborg: Kritische Schriften. Monika Albrecht / Dirk Göttsche (Hg.),


München, Zürich: Piper 2005.

Benjamin, Walter: Sprache und Geschichte. Philosophische Essays. Ausgewählt von Rolf
Tiedemann. Mit einem Essay von Theodor W. Adorno. Stuttgart: Reclam, 2010.

Celan, Paul: Gesammelte Werke. Erster Band. Mohn und Gedächtnis. Von Schwelle zu
Schwelle. Sprachgitter. Die Niemandsrose. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993.

Kafka, Franz: Erzählungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996.

Koschel, Christine / Weidenbaum, Inge von: Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre
Sätze finden. Gespräche und Interviews. 3. Auflage, München: Piper & Co 1983.

Kristeva, Julia: Die Chinesin. Die Rolle der Frau in China. Übersetzt von Anette
Lallemand. (zuerst Nymphenburger Verlagshaus 1976). Frankfurt am Main: Ullstein 1982.

Duden, Anne: Der wunde Punkt im Alphabet. Hamburg: Rotbuch Verlag 1995.

142
Tawada, Yoko: Nur da/wo du bist/da ist nichts. Aus dem Japanischen von Peter Pörtner.
3. Auflage, Tübingen: Konkursbuch Verlag 1987.

Tawada, Yoko: Das Bad. Aus dem Japanischen von Peter Pörtner. 3. Auflage (zuerst
1989), Tübingen: Konkursbuch Verlag 1993.

Tawada, Yoko: Wo Europa anfängt. Übersetzungen von Peter Pörtner. Tübingen:


Konkursbuch Verlag 1991.

Tawada, Yoko: Ein Gast. Tübingen: Konkursbuch Verlag 1993.

Tawada, Yoko: Talisman. Japanische Übersetzungen von Peter Pörtner. 5. Auflage,


Tübingen: Konkursbuch Verlag 1996.

Tawada, Yoko: Aber die Mandarinen müssen noch heute abend geraubt werden: Prosa und
Lyrik. Die auf Japanisch verfassten Gedichte wurden übertragen von Peter Pörtner.
Tübingen: Konkursbuch Verlag 1997.

Tawada, Yoko: Orpheus und Izanagi. Tübingen: Konkursbuch Verlag 1998.

Tawada, Yoko: Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesungen. 2. Auflage (zuerst 1998),


Tübingen: Konkursbuch Verlag 2001.

Tawada, Yoko: Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur. Eine


ethnologische Poetologie. Tübingen: Konkursbuch Verlag 2000.

Tawada, Yoko: Opium für Ovid. Ein Kopfkissenbuch von 22 Frauen. Tübingen:
Konkursbuch Verlag 2000.

Tawada, Yoko: Überseezungen. Tübingen: Konkursbuch Verlag 2002.

143
Tawada, Yoko: Saint George and the Translator. In: Facing the Bridge. Translated by
Margaret Mitsutani. New York: New Directions Books 2007.

Tawada, Yoko: Sprachpolizei und Spielpolyglotte. Tübingen: Konkursbuch Verlag 2007.

Tawada, Yoko: Abenteuer der deutschen Grammatik. Gedichte. Tübingen: Konkursbuch


Verlag 2011.

5.2 Sekundärliteratur

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Agnese, Barbara: „Aus dem Hier-und-jetzt-Exil“. Ingeborg Bachmann: Der Begriff


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Rossbacher, Karlheinz (Hg.): Ferne Heimat – nahe Fremde bei Dichtern und Nachdenkern.
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In: Ivanovic, Christine (Hg.): Yoko Tawada. Poetik der Transformation. Beiträge zum
Gesamtwerk. Mit dem Stück Sancho Pansa von Yoko Tawada. Tübingen: Stauffenburg
Verlag 2011, S. 171–206.

Judex, Bernhard: Kommunikation des Flüssigen. Wasser bei Ingeborg Bachmann und Paul
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Verhandlungen in Geschichte, Kunst und Medien. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005,
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Kersting, Ruth: Fremdes Schreiben. Yoko Tawada. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2006.

Klopfer, Alfred: „Also es gibt kein Original.“ Japanische Germanisten im Gespräch mit
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Korian, Linda: Schattenloses Schreiben im Unterwegs? Suche nach Vergangenheitsspuren


in den deutschsprachigen Texten von Yoko Tawada. In: Ivanovic, Christine (Hg.): Yoko
Tawada. Poetik der Transformation. Beiträge zum Gesamtwerk. Mit dem Stück Sancho
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Koschel, Christine / Weidenbaum, Inge von (Hg.): Kein objektives Urteil – nur ein
lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München: Piper 1989.

Kraenzle, Christina: Traveling without moving: Physical and Linguistic Mobility in Yoko
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Larcati, Arturo: Ingeborg Bachmanns Poetik. Darmstadt: Wissenschaftliche


Buchgesellschaft 2006.

Leiris, Michel: Ethnologische Schriften. Band 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985.

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Shimada, Shingo: Grenzgänge und Fremdgänge. Japan und Europa im Kulturvergleich.
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Shimada, Shingo: Zur Asymmetrie in der Übersetzung von Kulturen: das Beispiel des
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Tang, Wei: Mahrtenehen in der westeuropäischen und chinesischen Literatur: Melusine,


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Washinosu, Yumiko: Sumidagawa no shiwaotoko oder Text der Trans-Formation. In:


Ivanovic, Christine (Hg.): Yoko Tawada. Poetik der Transformation. Beiträge zum
Gesamtwerk. Mit dem Stück Sancho Pansa von Yoko Tawada. Tübingen: Stauffenburg
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Wehes, Rainer / Enzian, Dorothee (Hg.): Es war einmal ... Unsere beliebtesten Märchen.
Niederhausen: Falken Verlag 1984.

Weigel, Sigrid: Literatur der Fremde – Literatur in der Fremde. In: Hansers
Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 12/1992,
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Weigel, Sigrid: Laudatio auf Yoko Tawada. In: Jahrbuch der Bayrischen Akademie der
Schönen Künste, 11/1996, S. 373–377.

Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des


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Wilke, Tobias: Auftrittsweisen der Stimme. Polyphonie und/als Poetologie bei Ingeborg
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Yildiz, Yasemin: Tawada’s Multilingual Moves: Toward a Transnational Imaginary. In:
Slaymaker, Doug (Ed.): Yoko Tawada. Voices from everywhere. Lanham [u.a.]:
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5.3 Nachschlagewerke

Das große Vornamenlexikon. Mannheim: Duden 2003.

Gfrereis, Heike (Hg.): Grundbegriffe der Literaturwissenschaft. Stuttgart, Weimar: Metzler


1999.

Storm, Rachel: Enzyklopädie der östlichen Mythologie. Reichelsheim: Edition XXL 2000.

Toorn, Karel van der / Becking, Bob / Horst, Peter W. van der (Ed.): Dictionary of Deities
and Demons in the Bibel. DDD. Leiden, Boston, Köln: Brill 1999.

5.4 Tonträger

diagonal. Yoko Tawada und Aki Takase. CD. Tübingen: Konkursbuch Verlag 2003.

5.5 Internetquellen

Bautz, Friedrich Wilhelm: Georg, Märtyrer, Heiliger.


In: http://www.bbkl.de/g/georg_h.shtml (Biographisch, Bibliographisches Kirchen-
lexikon). Zuletzt eingesehen am 11.05.2011.

Ivanovic, Christine: Vernetzt oder verletzt? Sprachspiele und Echoschrift in Yoko


Tawadas Die Ohrenzeugin“.
In: http://dickinson.edu/glossen/Heft27/Artikel27/Ivanovic.html. Zuletzt eingesehen am
11.05.2011.

153
Schestokat, Karin: Bemerkung zur Hybridität und zum Sprachgebrauch in ausgewählten
Texten von May Ayim und Yoko Tawada.
In: http://www.dickinson.edu/glossen/heft8/schestokat.html. Zuletzt eingesehen am
11.05.2011.

Scheid, Bernhard: Religion in Japan. In: http://www.univie.ac.at/rel_jap/an/Mythen:


Drachen. Zuletzt eingesehen am 11.05.2011.

Generaldirektion für Kommunikation der Europäischen Kommission: http://europa.eu.


Zuletzt eingesehen am 11.05.2011.

154
ANHANG

1. Abstract
Ausgehend von Yoko Tawadas Tübinger Poetik-Vorlesungen „Verwandlungen“ (1998)
und ihrer Dissertation „Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Literatur. Eine
ethnologische Poetologie“ (2000) wird ihr literarisches Werk in Bezug zum „exophonen“
Schreiben betrachtet. Hierbei wird ersichtlich, dass die Übersetzung bei Tawada einen
elementaren poetischen Akt darstellt, der sich über den Begriff der „Übersetzung“
hinausbewegt. Darüber hinaus wird durch eine kurze Zusammenfassung bezüglich des
Umgangs der Literaturwissenschaft und (interkulturellen) Germanistik mit Literatur von
Autor(inn)en, die außerhalb ihrer Muttersprache schreiben, ersichtlich, dass Begriffe wie
„Migrant(inn)enliteratur“ oder „Nationalliteratur“ längst überfällig geworden sind und die
Herangehensweise an literarische Werke einen ganzheitlichen Blick erfordert. Gerade
Autorinnen wie Yoko Tawada, die sowohl in ihrer Muttersprache als auch in ihrer
Wahlsprache publizieren, sprengen diese längst überholten Kategorien und machen Mut
für neue Blickwinkel.
Anhand der Übersetzerin-Figuren in den Texten „Das Bad“ (1989) und „Saint George and
the Translator“ (2007) von Yoko Tawada wird eine Parallele zu Ingeborg Bachmanns
Übersetzerin-Figur der Erzählung „Simultan“ (1972) gezogen. Der Vergleich bringt die
beiden Autorinnen nicht nur in deren Erweiterung des Begriffs der „Übersetzung“ näher,
sondern er zeigt auch Parallelen zu Tawadas Tübinger Poetik-Vorlesungen (1998) und
Bachmanns Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1959).

155
2. Lebenslauf

SCHUL- UND BERUFSAUSBILDUNG

AHS Gmünd 1988 - 1992


Sportgymnasium und Sportinternat Hollabrunn 1992 - 1993
Aufbaugymnasium der Erzdiözese Hollabrunn 1993 - 1994
Bundesbildungsanstalt für Sozialpädagogik (St. Pölten) 1994 - 1999
(Abschluss mit Matura und Diplom für Sozialpädagogik)

BERUFSERFAHRUNGEN

1999 - 2000 Sozial-therapeutische Wohngemeinschaft 17


2000 - 2001 Wohngemeinschaft „Stadt des Kindes“ (Stadt Wien)
2001 - 2002 Persönliche Arbeitsassistenz
seit 2001 Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft
2003 - 2005 Mitarbeiterin in der Österreichischen Hochschüler(innen)schaft
und Studienrichtungsvertretung
2003 - 2005 Verlagsarbeiten beim „Österreichischen Agrarverlag“
2005 - 2010 Angestellte bei „Jugend am Werk“
Diverse Fortbildungen im Bereich der Arbeit mit Menschen mit
besonderen Bedürfnissen.

TÄTIGKEITEN IM KULTURBEREICH

seit 2003 Co-Herausgeberin der Literaturzeitschrift „Keine Delikatessen“


2004 - 2010 Mitarbeiterin im „Literatur-Verein zur Förderung von Werk- und
Kunstverständnis Ingeborg Bachmann“
2004 - 2006 Vorstandsmitglied der „Kunstwerft – Verein zur Vernetzung von
KünstlerInnen“
seit 2004 Mitglied und Co-Leiterin der intermedialen Literaturgruppe
„Wortwerft“

156
seit 2004 Diverse Lesungen in Wien (Alte Schmiede, Literaturhaus, Wiener
Buch Messe 2010), Niederösterreich (Sammlung Essl, Literaturhaus
Krems), Serbien und Kroatien.

Stipendien und Auszeichnungen


2008/09 Hans Weigel Literaturstipendium des Landes Niederösterreich
2009, 2011 Arbeitsstipendium für Literatur des Bundesministeriums für
Unterricht, Kunst und Kultur
2009 Theodor Körner Preis, gem. mit Hermann Niklas

Veröffentlichungen (Auswahl)

Seisenbacher, Maria / Niklas, Hermann: Konfrontationen. Gedichte. 2005–2008. Artwork


von Goto. St. Pölten: Literaturedition Niederösterreich 2009.

Wann. In: Heidtmann, Andreas (Hg.): poet[mag]. Das Magazin des Poetenladens. Leipzig:
Passage Verlag 2006, S. 96–97.

Das Sprachverlies der Todesarten. Ingeborg Bachmann und Natascha Wodin. In: Tzaneva,
Magdalena (Hg.): Hände voll Lilien: 80 Stimmen zum Werk von Ingeborg Bachmann.
Berlin: LiDi EuropEdition 2006, S. 67–73.

PERSÖNLICHES

2007 Geburt der Tochter Akemi Zoë

157

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