Germanica 14976
Germanica 14976
69 | 4e trimestre 2021
Littérature et environnement
Flora Roussel
Édition électronique
URL : https://journals.openedition.org/germanica/14976
ISSN : 2107-0784
Éditeur
Université de Lille
Édition imprimée
Date de publication : 1 décembre 2021
Pagination : 61-76
ISBN : 978-2-913857-48-3
ISSN : 0984-2632
Référence électronique
Flora Roussel, „Exophonie zum Dienst der Natur und Umwelt sprachlicher Natur in Yoko Tawadas
Etüden im Schnee“, Germanica [Online], 69 | 4e trimestre 2021, Online erschienen am: 01 Januar 2024,
abgerufen am 11 Januar 2024. URL: http://journals.openedition.org/germanica/14976 ; DOI: https://
doi.org/10.4000/germanica.14976
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Citer cet article :
Roussel Flora, « Exophonie zum Dienst der Natur und Umwelt sprachlicher Natur in
Yoko Tawadas Etüden im Schnee », Germanica, no 69, décembre 2021, pp. 61-76.
Flora Roussel 61
Université de Montréal
Y
oko Tawada ist eine sehr bekannte und viel rezipierte Schrift-
stellerin, die ihre Werke sowohl auf Deutsch als auch auf
Japanisch schreibt und veröffentlicht. Mit dem obigen Gedicht
offenbart sie humoristisch ein Sprachsystem, das gleichzeitig in sich
gefangen und frei erscheint. Mit ‚Genuss‘ wird das ‚Genus‘, das hier als
genre aus der Grammatik und genre aus den Geschlechtsidentitäten zu
verstehen ist, dekonstruiert. „Die zweite Person“ könnte auf eine Macht-
konstellation um diese genres hindeuten, die die von Tawada gedachte
Sprache nicht mehr unterstützt, sondern stürzt, um die Welt aus vielfäl-
tigeren Perspektiven, außerhalb einer binären Denkweise zu schildern.
Solche Überlegungen spielen in Tawadas Werken eine entscheidende
Rolle, was ihr Buch Etüden im Schnee veranschaulicht.
1. — Yoko Tawada, „Die zweite Person“, in: Abenteuer der deutschen Grammatik, Tübingen,
Konkursbuch Verlag, 2011 [2010], S. 23.
2. — Benjamin Bühler, Ecocriticism. Eine Einführung, Stuttgart, J. B. Metzler Verlag, 2016, S. 30-31.
3. — Ebd.
4. — Siehe Eva Hoffmann, „Queering the Interspecies Encounter: Yoko Tawada’s Memoirs
of a Polar Bear“, in: Kári Driscoll, Eva Hoffmann (Hrsg.), What is Zoopoetics? Texts, Bodies,
Entanglement, Cham, Palgrave Macmillan, 2018, S. 149-165.
5. — Siehe Frederike Middelhoff, „(Not) Speaking for Animals and the Environment.
Zoopoetics and Ecopoetics in Yoko Tawada’s Memoirs of a Polar Bear“, in: Frederike Middelhoff,
EXOPHONIE ZUM DIENST DER NATUR UND UMWELT SPRACHLICHER NATUR
Sebastian Schönbeck, Roland Borgards, Catrin Gersdorf (Hrsg.), Texts, Animals, Environments.
Zoopoetics and Ecopoetics, Freiburg i. Br., Rombach Verlag, 2019, S. 339-354.
6. — Siehe Thomas Filek, Tawadas Tiere. Digitale Analyse mehrsprachiger Korpora zur
Bestimmung der Tiersemantik in Tawada Yokos Roman Etüden im Schnee, Masterarbeit, Uni-
versität Wien, 2016.
7. — Siehe Lina Werry, „Der Mensch im Spiegel von ‚Beerenaugen‘. Yoko Tawadas Roman
Etüden im Schnee (2014)“, Germanica 60/2017, S. 215-221; Sigmund Stephan, Ansätze zu einer
(posthumanistischen) Tier-Umwelt-Poetik: Kafkas Tiergeschichten und Yoko Tawadas Etüden im
Schnee, Masterarbeit, University of Waterloo und Universität Mannheim, 2019.
8. — Yōko Tawada, Ekusofonī: bōgo no soto e deru tabi [Exophonie: außerhalb der Mut-
tersprache reisen], Tōkyō, Iwanami shoten, 2003, S. 3.
9. — Ebd., S. 7
10. — Christine Ivanovic, „Verstehen, Übersetzen, Vermitteln. Überlegungen zu Yoko Tawa-
das Poetik der Exophonie ausgehend von Gedichten aus Abenteuer der deutschen Grammatik“, in:
Barbara Agnese, Christine Ivanovic, Sandra Vlasta (Hrsg.), Die Lücke im Sinn. Vergleichende Studien
zu Yoko Tawada, Tübingen, Stauffenburg, 2015 [2014], Nachdruck der 1. Aufl., S. 15-28, hier S. 25.
11. — Y. Tawada, Ekusofonī…, a.a.O., S. 10.
12. — Désirée Schyns, „De vertaling van meerstemmigheid en meertaligheid“, in: Lieven
D’hulst, Chris Van de Poel (Hrsg.) Alles verandert altijd. Perspectieven op literair vertalen, Leuven,
Leuven University Press, 2019, S. 121-129, hier S. 127 („tegen het heersende monolinguale para-
digma“). In diesem Beitrag sind alle Übersetzungen von mir außer wenn anders gekennzeichnet.
13. — Victoria Young, Inciting Difference and Distance in the Writings of Sakiyama Tami,
Yi Yang-ji, and Tawada Yōko, Dissertation, University of Leeds (UK), 2016, S. 193 („fixity and
assimilation“).
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14. — Zahlen in runden Klammern bezeichnen Seitenzahlen in: Yoko Tawada, Etüden im
Schnee, Tübingen, Konkursbuch Verlag, 2014, 2. Aufl.
15. — F. Middelhoff, „(Not) Speaking for Animals and the Environment…“, a.a.O., S. 343-
344 („the oscillating movements between the construction and deconstruction of a “realistic”
representation of animal minds and (self-)perceptions“; „common knowledge and imaginative
projections of polar bears“).
EXOPHONIE ZUM DIENST DER NATUR UND UMWELT SPRACHLICHER NATUR
Todeskuss“ (S. 97), „Im Andenken an den Nordpol“ (S. 209). Auf den
ersten Blick könnte behauptet werden, dass solche Titel genau die Tren-
nung zwischen Tier und Mensch betonen, was jedoch Tawada sofort
verschwimmen lässt. Verweist im ersten Kapitel die Evolutionstheorie
auf „Darwins Ungültigkeitserklärung des cartesianischen Paradigmas,
wonach es eine fundamentale Alterität zwischen Mensch und Tier gäbe“16,
so entmenschlicht sie auch Menschen, denn die Großmutter beschreibt
die im Zirkus erlebten Folterungen, die sie wie einen Menschen aussehen
lassen sollten. Den Boden des Käfigs so zu erhitzen, dass sie auf zwei
Beinen stehen muss, um die Schmerzen zu vermindern und zu vermeiden,
ist ein Beispiel dafür (S. 13-14). Dabei wird die Bärin durch ihre Kör-
perstellung humanisiert, während der Mensch als barbarischer Folterer
entmenschlicht wird. Überzeugend ist Elizabeth McNeills Interpretation,
wonach der Verweis auf die Evolutionstheorie die Trennung zwischen
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Tier und Mensch aufhebt und zugleich betont, dass „der Körper der
Erzählerin von ihr selbst als weder rein menschlich noch rein tierisch
beschrieben wird“17 . Jedoch wird hier die Rolle der Sprache ausgeblen-
det. Bei Tawada ist nämlich die Sprache körperlich. Die Komposita wie
„Pfotenhände“ oder „Krallenfinge[r]“ (S. 5) spiegeln ein exophones Spiel
wider, welches diese Trennung zwischen Tier und Mensch sprachlich
dekonstruiert. Dadurch entsteht eine „Bärensprache“ (S. 39), die, weil
sie auf ‚menschlichen‘ Wörtern basiert, doch als „Übersetzungen ohne
Originale“18 zu verstehen ist. Mit diesem exophonen Spiel wird behauptet,
dass Tier- und Menschensprachen keinen Ursprung haben. Fügt man
hinzu, dass das erste Kapitel Raum für die Autobiografie der Großmutter
schafft, so kann man eine Art Verarbeitungsprozess herauslesen: „Es
fühlte sich seltsam an, eine Autobiografie zu schreiben. Bis dahin hatte
ich die Sprache hauptsächlich dafür verwendet, um meine Meinung nach
außen zu transportieren. Jetzt blieb die Sprache bei mir und berührte
weiche Stellen in mir“ (S. 23). Die Darstellung der Folter, die Trauma
erweckt und die Frage des Vertrauens zu ihrem Dresseur stellt, erlaubt
die Vorstellung einer Kindheit „ohne Gefahr“ (S. 5): eines Ausdrucks,
der Traum evoziert und die zukünftige Trauer des erwachsenen Lebens
16. — Elizabeth McNeill, „Writing and Reading (with) Polar Bears in Yoko Tawada’s
Etüden im Schnee“, The German Quarterly 92, 1/2019, S. 51-67, hier S. 62 („Darwin’s invalidation
of the Cartesian paradigm of radical alterity between humans and animals“).
17. — Ebd., S. 62 („[t]he narrator’s description of her body as neither purely human nor
purely animal“).
18. — Susan C. Anderson, „Surface Translations: Meaning and Difference in Yoko Tawada’s
German Prose“, Seminar: A Journal of Germanic Studies 46, 1/2010, S. 50-70, hier S. 55 („trans-
lations without originals“).
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in Toskas Körper hinein (S. 202), wie die Antarktis bei jedem Kuss – als
Kontakt zwischen Mensch und Tier – verfließt. Der Nexus Trauma-Trauer/
Traum-Vertrauen taucht hier wieder auf. Der Todeskuss wurde nämlich
im Traum, der sich als das einzige Kommunikationsmittel – oder in exo-
phonen Wörtern: als Übersetzungsraum – zwischen Toska und Barbara
erweist (z.B. S. 123-126, 154-155, 171-172), gedacht und geübt (S. 196-197).
Das Vertrauen zwischen Bärin und Dresseurin entwickelt sich also in einer
Traumwelt, die wie ein Schneefeld beschrieben wird (S. 131). Somit wird
die Traumwelt zum Raum des Traumas und der Trauer, in dem nicht
nur die Antarktis verschwindet, sondern Barbara selber schwindet, da sie
einerseits nicht mehr mit der Bärin die Todeskussnummer aufführen kann
(S. 203) und andererseits Toska die Erzählinstanz übernimmt (S. 196).
Schließlich erwähnt der Titel des dritten Kapitels ebenfalls die Tier-
Mensch-Beziehung und deren unglaubliche Trennung. „Im Andenken
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an den Nordpol“ deutet auf das Ende des Romans hin, d.h. auf Knuts
Tod, und schließt sarkastisch einen Teufelskreis, da der groß gewordene
Polarbär doch nicht als „Botschafter, der den unerwünschten Verlauf des
Klimawandels stoppen kann“ (S. 245), auftreten konnte: Er wurde stets
vermarktet21. Dies ist eine Anspielung auf den auf Profit orientierten
Produktionsrausch unserer Gesellschaft, welche sich der Umweltkrise
nicht genügend widmet. Sogar der weltberühmte Bär des Berliner Zoos
erläutert: „Der Schnee war ein Raumschiff, nahm mich mit und flog so
geschwind, wie er konnte, in Richtung des Schädels, es war der Schädel
unserer Erde“ (S. 312). Im Zitat spiegeln sich gleichzeitig Trauma und
Traum wider: Weder seine Familie noch sein Habitat hat Knut gesehen.
Das Trauma seiner „Gefangenschaft und Einsamkeit“ 22 einerseits und
seiner Reduzierung zu „[einer] nicht-menschlichen “Nicht-Person”“23
andererseits, lässt sich auf eine exophone Weise in einen Traum, also
als eine Sehnsucht nach der Natur übersetzen. Die Illusion des Traums,
der das Trauma sowohl verdeckt als auch aufdeckt, erlaubt Tawada, die
Zerstörung der Umwelt – hier als Umgebung und Natur zu verstehen –
durch die Menschen zu schildern: Aus einer exophonen Perspektive
erinnert ‚Schädel‘ bildlich an einen Totenkopf und akustisch an ‚Schaden‘.
Das Raumschiff steht somit metaphorisch für eine verlorene Verbindung
zur Natur. Dieses Verhältnis taucht als ein Spiel zwischen Humanisierung
der Tiere und Entmenschlichung der Menschen auf: Während Knut
fernsieht (S. 233), liest (S. 284) und zum Ende des Romans doch von
der dritten Person in die erste Person wechselt, was ihm jedoch keine
Entscheidungskraft über sein Leben gibt (S. 258, 277), sind Journalisten auf
Sensationsmaterial gierig (z.B. S. 217-218, 255-256, 285) und der Zoodirek-
tor auf Profit24 (S. 246). Selbst Matthias, Knuts „menschlich[e] Ersatzmut-
ter“25, verließ wegen der zunehmenden Kräfte Knuts die „Zweisamkeit“
(S. 220), die er mit dem Bären hatte26. Der Verlust des Vertrauens, der
den Verlust von Matthias widerspiegelt, verursacht Trauer bei Knut
im Andenken an Matthias (S. 284). Genau auf diesen Punkt scheint der
Titel hinzudeuten. Das Andenken ist auf zwei Punkte gerichtet: auf den
Verlust der Antarktis, deren Schmelzen den Rest der Erde gefährdet, und
auf die damit verbundene Be/drohung der Menschheit, die ihr Habitat
langsam verliert. Wird der Titel noch weiter exophon betrachtet, indem
68 man daraus den französischen Ausdruck ‚perdre le nord‘ lesen kann,
welcher sich mit den Wendungen ‚den Kopf verlieren‘ und/oder ‚außer
Fassung geraten‘ übersetzen lässt, so steht er für Knuts Einsamkeit und
der Menschen Dummheit. Tawada hofft vielleicht, durch die sprachliche
Auseinandersetzung mit dem Klimawandel in ihrem Roman Empörung
seitens des menschlichen Lesepublikums zu erwecken.
Die Kapiteltitel verfügen über das Material, um die Tier-Mensch-Be-
ziehung umzudenken. Tawada verwischt die starke Trennung zwischen
Tier und Mensch, was bereits die Wahl der autobiografischen Form als
ein „speziesübergreifendes Sprechen-für“27 einleitet. Exophon angenähert,
deuten sie auf einen Nexuskomplex Trauma-Traum-Vertrauen-Trauer hin.
Dabei spielt das Schreiben an sich eine maßgebliche Rolle: Betrachtet man
das Autobiografische zusammen mit diesem Nexuskomplex, so wird man
das Publikum „[der] Schriftstellerei […] [als] eine[r] Akrobatik“ (S. 40)
sein, als würde man vor einer Konferenz der Großmutter oder einer ihrer
Zirkusnummern, vor einer Aufführung des Todeskusses bei Toska oder
auf einer Eisscholle in ihrer Traumwelt, hinter dem Trennungsglas bei
Knuts Parade im Zoo oder in der tiefen Leere seiner Augen stehen. Denn
„ein Bericht oder eine Autobiografie gehört nie allein der Verfasserin oder
dem Verfasser: [Solch ein Schreiben] verwandelt sich bei jeder Lektüre“28.
Somit fasst die Großmutter das Schreiben um, wodurch sich Tawada
zur Sprache kritisch äußert: Eine Fixierung der Sprache verweigernd,
erleuchtet sie den Weg zu einer exophonen Navigation zwischen
Sprachsystemen. Verschwinden die Tier-Mensch-Trennung und jene
damit verbundenen essentialistischen Konzeptualisierungen, so wird
Sprache ins Licht gerückt, denn „Tawada betont besonders die Rolle des 69
Schreibens und das Recht auf Selbstdarstellung, um den Diskurs zurück-
zuverlangen“29. Daraus kann ein literarisch-ökologisches Sprachsystem
herausgelesen werden, welches nicht nur an „die Betrachtung der Umwelt
als Medium und von Medien als Umwelt“30 – eines der Merkmale des
ecocriticism – erinnert, sondern uns auch zu einem Konzept der Exopho-
nie als Mittel eines Umweltsprachsystems führt. Somit fungiert das Wort
selbst weniger als ein Behältnis, vielmehr wird er zum Inhalt der Kritik.
Dabei vermögen die Kommunikation zwischen verschiedenen Spe-
zies, der Titel des Romans sowie der Akt des Schreibens Aufmerksamkeit
zu gewinnen. Gespräche, Gebärden, Geräusche komponieren ein litera-
risch-ökologisches Sprachsystem im Roman, denn „[e]ine metaphorische
Übertragung von Konzepten aus einem Wissensbereich in einen anderen
kann durchaus sinnvoll sein, wenn sich auf ihr ein neuer Spielraum
für Interpretationen eröffnet“31. Bei Tawada, die sich diesen Spielraum
aneignet, handelt es sich weniger um eine ‚metaphorische Übertragung‘
als um eine exophone Übersetzung ohne Original, wodurch „Sprachen
aus unerwarteten Blickpunkten“32 erscheinen. Zunächst könnte diese
Übersetzung als eine Überbrückung betrachtet werden. Die Brücke
erschafft die Traumwelt, auch die magische Welt, in der Polarbären und
Menschen in Etüden im Schnee kommunizieren. Während die Großmut-
ter spricht (S. 8-9 u.a.) und schreibt (S. 6 u.a.) und Tiere und Menschen
zusammen in einer Welt leben (z.B. S. 17-19, 52-53), entspricht diese von
Tawada ausgewählte Erzählform dem magischen Realismus33, der eine
neue Verbindung zu erstellen versucht, indem Tier und Mensch aus
der gewalttätigen, hierarchischen realen Welt austreten, um genau diese
zu kritisieren. Weiterhin kommunizieren Toska und Barbara in einer
Traumwelt (z.B. S. 123-126, 154-155, 171-172). Obwohl in der realen Welt
der Gefangenschaft die Bärin die „Brücke [...], die aus massiven Eisen-
stangen konstruiert war, […] vorsichtig Schritt für Schritt hinauf[steigt]“
(S. 112), macht Barbara in der magischen Traumwelt einen Schritt auf
Toska zu. Der Todeskuss, bei dem „Barbaras Seele, so Toska, […] in
ihren Bärenkörper über[gehe,] […] [was] als eine ironische Kritik an der
Überhöhung der Bedeutung der menschlichen im Vergleich zur tierischen
Seele“34 gelesen werden kann, wurde in einer nicht-menschlichen Welt
70 entwickelt. Es entsteht also eine Zweideutigkeit aus diesem Kommu-
nikationsmittel und-ergebnis: Insofern „im Namen Barbara ein Bär
enthalten sei“ (S. 164), nähere sich der Name auch den Adjektiven und
Adverbien ‚barbarisch‘ (brutal) und ‚bar‘ (nackt). Paradoxerweise deutet
diese Nacktheit sowohl auf die reine Brutalität, die die Tier-Mensch-
Beziehung kennzeichnet, als auch auf eine mögliche Aufdeckung, die
als eine Verschwommenheit einer strengen Trennung zwischen Tier
und Mensch zu verstehen ist, hin. Dadurch löst sich die Übersetzung als
Überbrückung auf, denn es geht vielmehr um einen fließenden Dialog, der
jedoch die Machtkonstellation zwischen Tier und Mensch nicht ignoriert,
sondern auf neue, komplexere Weise erschafft. Dabei gibt Tawada den
Menschen keine Ausrede für ihre Brutalität gegenüber der Umwelt; ihre
Kritik bleibt eindeutig. Deutet Exophonie auf einen „Zwischenraum“35
hin, so steht dieser Dialog zwischen Toska und Barbara symbolisch für
33. — Zu diesem Punkt beschreibt Theo L. D’haen den magischen Realismus als ein
Mittel, das „eine alternative Welt schafft, um die sogenannte bestehende Realität zu korrigieren,
und das damit das Unrecht, von dem diese “Realität” abhängt, wiedergutmacht“. Dies führt ihn
zum Hauptargument: „Somit entpuppt sich der magische Realismus als eine List, um in den/die
herrschenden Diskurs/e einzudringen und ihn/sie zu übernehmen“ (Theo L. D’haen, „Magical
Realism und Postmodernism: Decentering Privileged Centers“, in: Lois Parkinson Zamora und
Wendy B. Faris (Hrsg.), Magical Realism. Theory, History, Community, Durham, London, Duke
University Press, 1995, S. 191-208, hier S. 195 („to create alternative world correcting so-called
existing reality, and thus to right the wrongs this “reality” depends upon“; „Magic realism thus
reveals itself as a ruse to invade and take over dominant discourse(s)“)). Auch wenn er den Akzent
auf die Postcolonial Studies legt, ist seine Erläuterung deswegen interessant, weil sie sich auf eine
Kritik der von Menschen gezwungenen Hierarchie zwischen Tier und Mensch anwenden lässt.
Um dieses „Dezentrieren“ bemüht sich ebenfalls Tawadas Roman.
34. — L. Werry, „Der Mensch im Spiegel von ‚Beerenaugen‘…“, a.a.O., S. 219.
35. — Reiko Tachibana, „Tawada Yoko: Writing from ‚Zwischenraum‘ “, in: Christine
Ivanovic (Hrsg.), Yoko Tawada: Poetik der Transformation. Beiträge zum Gesamtwerk, Tübingen,
Stauffenburg Discussion, 2010, S. 277-283, hier S. 277.
EXOPHONIE ZUM DIENST DER NATUR UND UMWELT SPRACHLICHER NATUR
36. — Susan C. Anderson, „Water under the Bridge: Unsettling the Concept of Bridging
Cultures in Yoko Tawada’s Writing“, Pacific Coast Philology 50, 1/2015, S. 44-63, hier S. 49 („[t]he
water the bridge spans evokes the constantly changing […] space under the bridge, a space […]
where things can change shape but nothing disappears“).
37. — R. Tachibana, „…Writing from ‚Zwischenraum‘“, a.a.O., S. 282 („something in
“unexpected” tunes“).
38. — Michiko Mae, „Tawada Yokos Literatur als transkulturelle und intermediale Trans-
formation“, in: Christine Ivanovic (Hrsg.), a.a.O., S. 369-383, hier S. 380 („creative destruction“).
39. — Ebd., S. 379.
40. — Flora Roussel, „Nomadic Subjectivities: Reflections on Exophonic Strategies in Yoko
Tawada’s Schwager in Bordeaux“, Humanities Bulletin 3, 1/2020, S. 161-178, hier S. 164. https://
www.journals.lapub.co.uk/index.php/HB/article/view/1530, Zugriff am 14.11.2020.
41. — Duden, https://www.duden.de/rechtschreibung/Etuede, Zugriff am 13.11.2020.
FLORA ROUSSEL
Musik, hin. Zudem kann das Eis im Titel an Eisen erinnern, was, mit
Schnee kombiniert, zurück zu den Polarbären und ihrer Gefangenschaft
im Roman führt. Tawada ist es auf diese Weise möglich, eine Konzeptuali-
sierung der Sprache, eine Stimme des Protests zu kreieren. Dieser Gedan-
kengang kann doppelt interpretiert werden: Auf der einen Seite zerstört
Exophonie jegliche Hierarchie zwischen Tier- und Menschensprachen,
indem die menschliche Urbedeutung der Wörter tierisch verhindert wird;
auf der anderen Seite kann durch Exophonie die Frage der Umwelt im
Vordergrund stehen. Dies ist besonders am Beispiel von Knuts Verhältnis
zur Musik ersichtlich: „Die gehörte Welt war so geräumig und farben-
reich, dass die gesehene Welt sie nicht übertreffen könnte“ (S. 224). Dazu
erläutert Lina Werry überzeugend, dass der kleine Bär durch Matthias
und seine Gitarrenstücke „in die Welt der Musik“ eingeweiht wird und
72 ebenfalls „temporär aus seinem Käfig […] [flieht]“, „[i]ndem [er] auf die
Geräusche – Musik in seinen Ohren – von draußen achtet“42. Bedenkt man
diese Anmerkung im Zusammenhang mit der Exophonie, so schrumpft
die Wichtigkeit des Konzepts (signifié) eines Zeichens (signe), wodurch
Menschen ihre angebliche Überlegenheit gegenüber anderen Wesen
und einer Bedeutungszunahme des Lautbilds (signifiant) und des Bezugs
(référent) begründen, was Knut und seine Vorfahren (S. 240-241) vor-
ziehen. Im Gegensatz zu Lina Werrys Interpretation von Knuts ‚Shows‘
im Berliner Zoo als „einfache[n] Kunststücke[n,] [die] Menschenmassen
begeister[n], eine[r] Fingerübung, eine[r] Etüde“ 43, wobei Knut jedoch
das Talent des Schreibens bleibt, vertritt dieser Beitrag die These, nach
der diese Fingerübung auf eine exophone Weise vielmehr an die Mehr-
deutigkeit der Sprache erinnert und somit jegliche Hierarchie zwischen
Tier- und Menschensprachen aufhebt.
Schließlich hat die Form der Sprachen das letzte Wort. Wenn Matthias
zur Spezies der „Fingerverlängerer“ (S. 213) gehört, bleibt Knut doch nicht
allein das Schweigen: „Aber deine Augen sind keine leeren Spiegel. Du
spiegelst die Menschen wider“ (S. 231), so der Tierpfleger zu dem Bären.
Die Sprachlichkeit wird zu einer Sprechbarkeit, die einen exophonen
Zwischenraum zwischen Maul/Mund und Augen schafft. Finger, die
Schreiben und Tasten ermöglichen – also eine Art Verwirklichung der
Wörtlichkeit durch Sinnwahrnehmung, wobei Tasten im Roman zum
Schreiben wird –, funktionieren zweideutig: Die Spezies der Fingerverlän-
gerer mag Polarbären Pfotenschellen anlegen, doch sind es die „Pfoten-
hände“ (S. 5) letzterer, die durch eine komplexe Erzählstruktur den Ton
44. — Der Beitrag verweist somit auf den Titel von Susan C. Andersons Aufsatz: „Water
under the Bridge…“, a.a.O., S. 44.
45. — L. Werry, „Der Mensch im Spiegel von ‚Beerenaugen‘…“, a.a.O., S. 218.
FLORA ROUSSEL
war noch so groß wie mein Schreibtisch, aber irgendwann wird sie nicht
mehr da sein. Wie viel Zeit bleibt mir noch?“ (S. 94).