0% fanden dieses Dokument nützlich (0 Abstimmungen)
79 Ansichten17 Seiten

Germanica 14976

Hochgeladen von

Julia
Copyright
© © All Rights Reserved
Wir nehmen die Rechte an Inhalten ernst. Wenn Sie vermuten, dass dies Ihr Inhalt ist, beanspruchen Sie ihn hier.
Verfügbare Formate
Als PDF, TXT herunterladen oder online auf Scribd lesen
0% fanden dieses Dokument nützlich (0 Abstimmungen)
79 Ansichten17 Seiten

Germanica 14976

Hochgeladen von

Julia
Copyright
© © All Rights Reserved
Wir nehmen die Rechte an Inhalten ernst. Wenn Sie vermuten, dass dies Ihr Inhalt ist, beanspruchen Sie ihn hier.
Verfügbare Formate
Als PDF, TXT herunterladen oder online auf Scribd lesen
Sie sind auf Seite 1/ 17

Germanica

69 | 4e trimestre 2021
Littérature et environnement

Exophonie zum Dienst der Natur und Umwelt


sprachlicher Natur in Yoko Tawadas Etüden im
Schnee
L’exophonie au service de la nature et l’environnement de nature langagière
dans Etüden im Schnee de Yoko Tawada
Exophony at the Disposal of Nature and Environment of a Language Disposition
in Yoko Tawada’s Etüden im Schnee

Flora Roussel

Édition électronique
URL : https://journals.openedition.org/germanica/14976
ISSN : 2107-0784

Éditeur
Université de Lille

Édition imprimée
Date de publication : 1 décembre 2021
Pagination : 61-76
ISBN : 978-2-913857-48-3
ISSN : 0984-2632

Référence électronique
Flora Roussel, „Exophonie zum Dienst der Natur und Umwelt sprachlicher Natur in Yoko Tawadas
Etüden im Schnee“, Germanica [Online], 69 | 4e trimestre 2021, Online erschienen am: 01 Januar 2024,
abgerufen am 11 Januar 2024. URL: http://journals.openedition.org/germanica/14976 ; DOI: https://
doi.org/10.4000/germanica.14976

Der Text und alle anderen Elemente (Abbildungen, importierte Anhänge) sind „Alle Rechte vorbehalten“,
sofern nicht anders angegeben.
Citer cet article :
Roussel Flora, « Exophonie zum Dienst der Natur und Umwelt sprachlicher Natur in
Yoko Tawadas Etüden im Schnee », Germanica, no 69, décembre 2021, pp. 61-76.

EXOPHONIE ZUM DIENST DER NATUR


UND UMWELT SPRACHLICHER NATUR IN
YOKO TAWADAS ETÜDEN IM SCHNEE

Flora Roussel 61
Université de Montréal

Du hast ein Geschlecht.


„Du“ hat kein Genus.
Du da!
Meinst du mich?
Ja!
Dann ist dein „Du“ heute weiblich.
„Ich“ hat ein Genus.
Und das ist ein Genuss für mich.
„Ich!“ sagt mein Freund, der einen Freund hat.
Er ist ein Ich, wenn sein Mund sich bewegt.
Er ist ein Du, wenn seine Ohren mir zuhören.
Egal ob dich eine Sie oder ein Er lieben,
immer bist du eine zweite Person und geschlechtslos.1

Y
oko Tawada ist eine sehr bekannte und viel rezipierte Schrift-
stellerin, die ihre Werke sowohl auf Deutsch als auch auf
Japanisch schreibt und veröffentlicht. Mit dem obigen Gedicht
offenbart sie humoristisch ein Sprachsystem, das gleichzeitig in sich
gefangen und frei erscheint. Mit ‚Genuss‘ wird das ‚Genus‘, das hier als
genre aus der Grammatik und genre aus den Geschlechtsidentitäten zu
verstehen ist, dekonstruiert. „Die zweite Person“ könnte auf eine Macht-
konstellation um diese genres hindeuten, die die von Tawada gedachte
Sprache nicht mehr unterstützt, sondern stürzt, um die Welt aus vielfäl-
tigeren Perspektiven, außerhalb einer binären Denkweise zu schildern.
Solche Überlegungen spielen in Tawadas Werken eine entscheidende
Rolle, was ihr Buch Etüden im Schnee veranschaulicht.

1. — Yoko Tawada, „Die zweite Person“, in: Abenteuer der deutschen Grammatik, Tübingen,
Konkursbuch Verlag, 2011 [2010], S. 23.

Germanica – no 69 – Décembre 2021


FLORA ROUSSEL

Menschliche Grammatik, tierische Dramatik –


Grundriss der Umwelten und der Exophonie
Das Sprachspiel im Gedicht „Die zweite Person“ führt zu einer
vielschichtigen Denkweise und kann uns dadurch eine andere Welt offen-
baren. Werden Tawadas Überlegungen über die deutsche, menschliche
Grammatik, worauf der Titel ihrer Gedichtsammlung (Abenteuer der
deutschen Grammatik) verweist, der tierischen Dramatik, d.h. dem Drama
der Tiere gegenübergestellt, so wird nämlich auch eine Infragestellung
der Tier-Mensch-Beziehung ins Licht gerückt. Etüden im Schnee ist
dabei ein besonderer Fall. Der 2014 erschienene Roman erzählt von
einer Polarbärenfamilie, angefangen mit der Großmutter im ersten,
über die Mutter Toska im zweiten, bis hin zu dem Enkelsohn Knut im
62 dritten Kapitel. Er thematisiert den Zirkus und die Folter, das Exil und
die Migration, die Bekanntschaft und die Einsamkeit, den Menschen
und das Tier, die Sprachen und die Kulturen – kurzum: die Existenz in
Umwelten, die Welt um die Polarbärenfamilie, als auch die Umwelt. Nicht
nur mehrstimmig (durch die Vielfalt an Erzählinstanzen und -typen),
sondern auch mehrsprachig (größtenteils Deutsch, aber auch Russisch
und Spanisch) steuert uns der Text und bringt eine Kritik der Umwelt
am Beispiel der Tier-Mensch-Beziehung zum Ausdruck.
Hierzu zeigt sich eine literarische Tendenz, die Umweltthemen zu
berühren. Die Literaturwissenschaft ist nämlich eine Stimme des eco-
criticism, der definitorisch seit seinen Anfängen zu vielfältig ist, um
hier erläutert werden zu können. Nichtsdestotrotz und knapp gefasst
spielt „für die Zuordnung eines Textes zum ecocriticism der Umweltbe-
zug“ eine zentrale Rolle2. Prägnant sind auch „Merkmal[e] von lite-
rarischen Umweltbeziehungen“ wie „nicht-menschliche Akteure als
handlungstragende Elemente“, „Dezentrierung der menschlichen Pers-
pektive auf die Umwelt“ oder noch „Interaktion zwischen Mensch und
Umwelt“3. Somit reiht sich Tawadas Roman in diese Tendenz ein und
wurde häufig auch so rezipiert. Obwohl die Wissenschaft den Text aus
verschiedensten Perspektiven – von Queer Studies4 über Critical Animal
Studies5 hin zu Digital Studies in Kombination mit der Literaturwis-

2. — Benjamin Bühler, Ecocriticism. Eine Einführung, Stuttgart, J. B. Metzler Verlag, 2016, S. 30-31.
3. — Ebd.
4. — Siehe Eva Hoffmann, „Queering the Interspecies Encounter: Yoko Tawada’s Memoirs
of a Polar Bear“, in: Kári Driscoll, Eva Hoffmann (Hrsg.), What is Zoopoetics? Texts, Bodies,
Entanglement, Cham, Palgrave Macmillan, 2018, S. 149-165.
5. — Siehe Frederike Middelhoff, „(Not) Speaking for Animals and the Environment.
Zoopoetics and Ecopoetics in Yoko Tawada’s Memoirs of a Polar Bear“, in: Frederike Middelhoff,
EXOPHONIE ZUM DIENST DER NATUR UND UMWELT SPRACHLICHER NATUR

senschaft6 oder noch anthropokritischen Studien7 – analysiert hat, wurde


die Exophonie bisher noch nicht zum Ausgangspunkt einer Reflexion
über die davor erwähnten Umwelten.
Die Exophonie ist weniger eine Schreibtheorie als eine Schreibpraxis,
wobei Tawada selbst sie in ihrer Essaysammlung Ekusofonī: bōgo no soto
e deru tabi als das Schreiben außerhalb der Muttersprache begreift8. Die
Autorin versteht Exophonie als eine Symphonie und deutet somit auf die
Musikalität anderer Sprachen hin, worauf man aufmerksam wird, sobald
man außerhalb seiner Muttersprache steht9. Um auf das oben vorgestellte
Gedicht zurückzugreifen, erscheint darin ein Spiel mit Mund und Ohr,
das Tawada am Herzen liegt: eine Schreibweise als „das Heraustreten der
Stimme aus der Schrift“10. Genau um diese Sinneswahrnehmung geht es
bei der Exophonie, die sichtbar macht, was zuerst unsichtbar erscheint,
und dabei eine Art Entfremdungseffekt im Lese- und Hörpublikum
63
auslöst11. Dieser Effekt ist weder ein Missverständnis der Grammatik
noch ein Wortmissbrauch. Vielmehr deutet er auf einen Ortsmissbrauch
hin: Die Exophonie tritt als ein Widerstandsmittel „gegen das herr-
schende monolinguale Paradigma“12 auf, das Nation, Sprache, Kultur,
usw. zusammenzubinden versucht, und stellt den Kampf gegen sowie den
Krampf um „Fixierung und Anpassung“13 dar. Zu dem bereits enthüllten
Entfremdungseffekt der Exophonie zählen auch Dekonstruktion und
Übersetzung als Eckpunkte dieser Schreibweise, wobei diese wie ein

Sebastian Schönbeck, Roland Borgards, Catrin Gersdorf (Hrsg.), Texts, Animals, Environments.
Zoopoetics and Ecopoetics, Freiburg i. Br., Rombach Verlag, 2019, S. 339-354.
6. — Siehe Thomas Filek, Tawadas Tiere. Digitale Analyse mehrsprachiger Korpora zur
Bestimmung der Tiersemantik in Tawada Yokos Roman Etüden im Schnee, Masterarbeit, Uni-
versität Wien, 2016.
7. — Siehe Lina Werry, „Der Mensch im Spiegel von ‚Beerenaugen‘. Yoko Tawadas Roman
Etüden im Schnee (2014)“, Germanica 60/2017, S. 215-221; Sigmund Stephan, Ansätze zu einer
(posthumanistischen) Tier-Umwelt-Poetik: Kafkas Tiergeschichten und Yoko Tawadas Etüden im
Schnee, Masterarbeit, University of Waterloo und Universität Mannheim, 2019.
8. — Yōko Tawada, Ekusofonī: bōgo no soto e deru tabi [Exophonie: außerhalb der Mut-
tersprache reisen], Tōkyō, Iwanami shoten, 2003, S. 3.
9. — Ebd., S. 7
10. — Christine Ivanovic, „Verstehen, Übersetzen, Vermitteln. Überlegungen zu Yoko Tawa-
das Poetik der Exophonie ausgehend von Gedichten aus Abenteuer der deutschen Grammatik“, in:
Barbara Agnese, Christine Ivanovic, Sandra Vlasta (Hrsg.), Die Lücke im Sinn. Vergleichende Studien
zu Yoko Tawada, Tübingen, Stauffenburg, 2015 [2014], Nachdruck der 1. Aufl., S. 15-28, hier S. 25.
11. — Y. Tawada, Ekusofonī…, a.a.O., S. 10.
12. — Désirée Schyns, „De vertaling van meerstemmigheid en meertaligheid“, in: Lieven
D’hulst, Chris Van de Poel (Hrsg.) Alles verandert altijd. Perspectieven op literair vertalen, Leuven,
Leuven University Press, 2019, S. 121-129, hier S. 127 („tegen het heersende monolinguale para-
digma“). In diesem Beitrag sind alle Übersetzungen von mir außer wenn anders gekennzeichnet.
13. — Victoria Young, Inciting Difference and Distance in the Writings of Sakiyama Tami,
Yi Yang-ji, and Tawada Yōko, Dissertation, University of Leeds (UK), 2016, S. 193 („fixity and
assimilation“).
FLORA ROUSSEL

Dreieck funktionieren, in dem Tawadas Erzählungen navigieren. Dieses


Verhältnis verweist auf die Betonung des Sinnlichen in der Sprache und
auch auf die Bewegung oder sogar die Umsiedlung innerhalb der Sprache.
Der folgende Beitrag vermag es also, eine Lücke in der Interpreta-
tionsvielfalt, die Etüden im Schnee aufruft, zu füllen. Wenn eine Praxis
wie die Exophonie bereits die Sprache zer/stört, lässt sich fragen, inwie-
fern sie der Natur dienen kann. Der Methode des close reading folgend
und sich an Tawadas Konzept der Exophonie anlehnend, wird dieser
Frage später nachgegangen werden. Wie entwickelt sich ein Schreiben
der Umwelt, in der Mensch und Tier nicht mehr getrennt betrachtet
werden? Welche literarisch-ökologischen Ziele versucht das Buch zu
erreichen? Diese Diskussionspunkte werden ebenfalls in der folgenden
Etüde entwickelt. Der Beitrag zielt darauf ab, Tawadas Umwelten auf
64 zwei Ebenen zu betrachten: Die Umwelt wird zunächst in Anbetracht
der Tier-Mensch-Beziehung und danach als literarisch-ökologisches
Sprachsystem analysiert.

Vom Trauma zum Traum: die menschlich-tierische


Akrobatik der Trauer und des Vertrauens
„Welche Bärin hat schon in der Vergangenheit geschafft, das
Leben ihrer Menschenfreundin aufzuschreiben?“ (S. 204)14, fragt sich
Toska bezüglich ihrer Schreibtätigkeit. Humoristisch weist Tawada auf
eine menschlich-tierische Akrobatik des Schreibens hin, wobei diese
‚menschliche‘ Fähigkeit von einer Dreigenerationen-Familie von Polarbä-
ren übernommen wird. Das Spiel mit dem Autobiografischen schildert
„die oszillierenden Bewegungen zwischen Konstruktion und Dekonstruk-
tion einer “realistischen” Darstellung von tierischem Geist und (Selbst-)
Wahrnehmung“ und stellt dadurch menschliches „Allgemeinwissen und
fantasievolle Projektion von Polarbären“15 infrage. So erweist sich bereits
bei diesem autobiografischen Genre nicht eine menschliche Grammatik
der Tier-Mensch-Beziehung, sondern eine tierische Dramatik derselben:
ein Drama, in dem Tiere die Hauptrolle spielen.
Für die Deutung der Tier-Mensch-Beziehung sind die Kapiteltitel
besonders relevant: „Evolutionstheorie der Großmutter“ (S. 5), „Der

14. — Zahlen in runden Klammern bezeichnen Seitenzahlen in: Yoko Tawada, Etüden im
Schnee, Tübingen, Konkursbuch Verlag, 2014, 2. Aufl.
15. — F. Middelhoff, „(Not) Speaking for Animals and the Environment…“, a.a.O., S. 343-
344 („the oscillating movements between the construction and deconstruction of a “realistic”
representation of animal minds and (self-)perceptions“; „common knowledge and imaginative
projections of polar bears“).
EXOPHONIE ZUM DIENST DER NATUR UND UMWELT SPRACHLICHER NATUR

Todeskuss“ (S. 97), „Im Andenken an den Nordpol“ (S. 209). Auf den
ersten Blick könnte behauptet werden, dass solche Titel genau die Tren-
nung zwischen Tier und Mensch betonen, was jedoch Tawada sofort
verschwimmen lässt. Verweist im ersten Kapitel die Evolutionstheorie
auf „Darwins Ungültigkeitserklärung des cartesianischen Paradigmas,
wonach es eine fundamentale Alterität zwischen Mensch und Tier gäbe“16,
so entmenschlicht sie auch Menschen, denn die Großmutter beschreibt
die im Zirkus erlebten Folterungen, die sie wie einen Menschen aussehen
lassen sollten. Den Boden des Käfigs so zu erhitzen, dass sie auf zwei
Beinen stehen muss, um die Schmerzen zu vermindern und zu vermeiden,
ist ein Beispiel dafür (S. 13-14). Dabei wird die Bärin durch ihre Kör-
perstellung humanisiert, während der Mensch als barbarischer Folterer
entmenschlicht wird. Überzeugend ist Elizabeth McNeills Interpretation,
wonach der Verweis auf die Evolutionstheorie die Trennung zwischen
65
Tier und Mensch aufhebt und zugleich betont, dass „der Körper der
Erzählerin von ihr selbst als weder rein menschlich noch rein tierisch
beschrieben wird“17 . Jedoch wird hier die Rolle der Sprache ausgeblen-
det. Bei Tawada ist nämlich die Sprache körperlich. Die Komposita wie
„Pfotenhände“ oder „Krallenfinge[r]“ (S. 5) spiegeln ein exophones Spiel
wider, welches diese Trennung zwischen Tier und Mensch sprachlich
dekonstruiert. Dadurch entsteht eine „Bärensprache“ (S. 39), die, weil
sie auf ‚menschlichen‘ Wörtern basiert, doch als „Übersetzungen ohne
Originale“18 zu verstehen ist. Mit diesem exophonen Spiel wird behauptet,
dass Tier- und Menschensprachen keinen Ursprung haben. Fügt man
hinzu, dass das erste Kapitel Raum für die Autobiografie der Großmutter
schafft, so kann man eine Art Verarbeitungsprozess herauslesen: „Es
fühlte sich seltsam an, eine Autobiografie zu schreiben. Bis dahin hatte
ich die Sprache hauptsächlich dafür verwendet, um meine Meinung nach
außen zu transportieren. Jetzt blieb die Sprache bei mir und berührte
weiche Stellen in mir“ (S. 23). Die Darstellung der Folter, die Trauma
erweckt und die Frage des Vertrauens zu ihrem Dresseur stellt, erlaubt
die Vorstellung einer Kindheit „ohne Gefahr“ (S. 5): eines Ausdrucks,
der Traum evoziert und die zukünftige Trauer des erwachsenen Lebens

16. — Elizabeth McNeill, „Writing and Reading (with) Polar Bears in Yoko Tawada’s
Etüden im Schnee“, The German Quarterly 92, 1/2019, S. 51-67, hier S. 62 („Darwin’s invalidation
of the Cartesian paradigm of radical alterity between humans and animals“).
17. — Ebd., S. 62 („[t]he narrator’s description of her body as neither purely human nor
purely animal“).
18. — Susan C. Anderson, „Surface Translations: Meaning and Difference in Yoko Tawada’s
German Prose“, Seminar: A Journal of Germanic Studies 46, 1/2010, S. 50-70, hier S. 55 („trans-
lations without originals“).
FLORA ROUSSEL

vorhersieht. Dieses Verarbeitungsspiel illustrieren sowohl die „Pfoten-


hände“ – die weichen Pfoten und die brutalen Hände als Vertrauen und
Trauma – als auch die „Krallenfinge[r]“ – die schmerzenden Krallen und
die heilenden Finger als Trauer und Traum.
Ähnlich verhält es sich mit dem Titel des zweiten Kapitels. Der
Todeskuss wirft die Frage nach Humanisierung und Entmenschlichung
auf, da nicht nur die Polarbärin Toska ihre Dresseurin Barbara mittels
eines Zuckerwürfels küsst (S. 97, 198), sondern auch Barbara selbst sich
den Tieren derart annähert, dass sie Menschen nicht mehr verstehen
kann (S. 204). Exophon betrachtet könnte das Wort „Kuss“ auf das Wort
‚kuschen‘ verweisen. Dieses Wortspiel leitet Toskas Humanisierung ein:
‚kuschen‘ impliziert nämlich das menschliche Aussehen der Bärin, welche
auf zwei Beinen steht. In Kanada geboren und mit ihrer Mutter in die
66 DDR emigriert, absolvierte Toska die Ballettschule und war zunächst
Schauspielerin im Kindertheater (S. 106-107). Diese Humanisierung wird
aber sofort mit einer Entmenschlichung gleichgesetzt. Auch wenn der
Bärin menschliche Attribute und Lebensweise gegeben werden, bleibt sie
gefangen, was eine exophone Interpretation des Wortes „Kuss“ als den
Befehl an Tiere ‚kusch!‘ aufdecken kann: Somit zeigt sich die Unterwer-
fung Toskas, die doch Barbaras Befehlen folgen muss.
Ferner lässt sich die metaphorische Dekonstruktion der Tier-Mensch-
Trennung auch bei Barbara herausarbeiten. Dabei argumentiert Sig-
mund Stephan triftig, dass im zweiten Kapitel die psychische Verbindung
zwischen Barbara und Toska durch die Vermischung der Erzählinstanzen
von der Dresseurin zu der Polarbärin, sowie das physische Verhältnis
zwischen den beiden durch den Kuss eine Illusion, eine Täuschung
vorspielen, indem „es nicht klar [ist], inwieweit sich der Mensch dem
Tier angenähert hat, dieses von ihm manipuliert worden ist, oder man
Zeuge tierischer Spontaneität wird“19. Diese Illusion, die gern mit der
Sinneswahrnehmung spielt und uns somit an die Exophonie erinnert20,
trifft mit dem Tod einen End- oder Auslösungspunkt: Der Todeskuss
ist weniger ein Zeichen für die Gefährlichkeit der Bären – aber vielleicht
doch der Menschen –, als eine Veranschaulichung der Sterblichkeit der
Umwelt. Toska stirbt nicht nur außerhalb ihres natürlichen Habitats,
dieses verschwindet aufgrund des Klimawandels auch noch. Barbara stirbt
nicht nur außerhalb des menschlichen Denkens, sie verschwindet auch
in Toska. Bei jedem Kuss – zwischen den beiden – fließt Barbaras Seele

19. — S. Stephan, Ansätze zu einer (posthumanistischen) Tier-Umwelt-Poetik…, a.a.O.,


S. 67-69, hier S. 69.
20. — Y. Tawada, Ekusofonī…, a.a.O., S. 10.
EXOPHONIE ZUM DIENST DER NATUR UND UMWELT SPRACHLICHER NATUR

in Toskas Körper hinein (S. 202), wie die Antarktis bei jedem Kuss – als
Kontakt zwischen Mensch und Tier – verfließt. Der Nexus Trauma-Trauer/
Traum-Vertrauen taucht hier wieder auf. Der Todeskuss wurde nämlich
im Traum, der sich als das einzige Kommunikationsmittel – oder in exo-
phonen Wörtern: als Übersetzungsraum – zwischen Toska und Barbara
erweist (z.B. S. 123-126, 154-155, 171-172), gedacht und geübt (S. 196-197).
Das Vertrauen zwischen Bärin und Dresseurin entwickelt sich also in einer
Traumwelt, die wie ein Schneefeld beschrieben wird (S. 131). Somit wird
die Traumwelt zum Raum des Traumas und der Trauer, in dem nicht
nur die Antarktis verschwindet, sondern Barbara selber schwindet, da sie
einerseits nicht mehr mit der Bärin die Todeskussnummer aufführen kann
(S. 203) und andererseits Toska die Erzählinstanz übernimmt (S. 196).
Schließlich erwähnt der Titel des dritten Kapitels ebenfalls die Tier-
Mensch-Beziehung und deren unglaubliche Trennung. „Im Andenken
67
an den Nordpol“ deutet auf das Ende des Romans hin, d.h. auf Knuts
Tod, und schließt sarkastisch einen Teufelskreis, da der groß gewordene
Polarbär doch nicht als „Botschafter, der den unerwünschten Verlauf des
Klimawandels stoppen kann“ (S. 245), auftreten konnte: Er wurde stets
vermarktet21. Dies ist eine Anspielung auf den auf Profit orientierten
Produktionsrausch unserer Gesellschaft, welche sich der Umweltkrise
nicht genügend widmet. Sogar der weltberühmte Bär des Berliner Zoos
erläutert: „Der Schnee war ein Raumschiff, nahm mich mit und flog so
geschwind, wie er konnte, in Richtung des Schädels, es war der Schädel
unserer Erde“ (S. 312). Im Zitat spiegeln sich gleichzeitig Trauma und
Traum wider: Weder seine Familie noch sein Habitat hat Knut gesehen.
Das Trauma seiner „Gefangenschaft und Einsamkeit“ 22 einerseits und
seiner Reduzierung zu „[einer] nicht-menschlichen “Nicht-Person”“23
andererseits, lässt sich auf eine exophone Weise in einen Traum, also
als eine Sehnsucht nach der Natur übersetzen. Die Illusion des Traums,
der das Trauma sowohl verdeckt als auch aufdeckt, erlaubt Tawada, die
Zerstörung der Umwelt – hier als Umgebung und Natur zu verstehen –
durch die Menschen zu schildern: Aus einer exophonen Perspektive
erinnert ‚Schädel‘ bildlich an einen Totenkopf und akustisch an ‚Schaden‘.
Das Raumschiff steht somit metaphorisch für eine verlorene Verbindung
zur Natur. Dieses Verhältnis taucht als ein Spiel zwischen Humanisierung
der Tiere und Entmenschlichung der Menschen auf: Während Knut

21. — L. Werry. „Der Mensch im Spiegel von ‚Beerenaugen‘…“, a.a.O., S. 217.


22. — S. Stephan, Ansätze zu einer (posthumanistischen) Tier-Umwelt-Poetik…, a.a.O., S. 58.
23. — F. Middelhoff, „(Not) Speaking for Animals and the Environment…“, a.a.O., S. 351
(„[a] nonhuman “non-person” “).
FLORA ROUSSEL

fernsieht (S. 233), liest (S. 284) und zum Ende des Romans doch von
der dritten Person in die erste Person wechselt, was ihm jedoch keine
Entscheidungskraft über sein Leben gibt (S. 258, 277), sind Journalisten auf
Sensationsmaterial gierig (z.B. S. 217-218, 255-256, 285) und der Zoodirek-
tor auf Profit24 (S. 246). Selbst Matthias, Knuts „menschlich[e] Ersatzmut-
ter“25, verließ wegen der zunehmenden Kräfte Knuts die „Zweisamkeit“
(S. 220), die er mit dem Bären hatte26. Der Verlust des Vertrauens, der
den Verlust von Matthias widerspiegelt, verursacht Trauer bei Knut
im Andenken an Matthias (S. 284). Genau auf diesen Punkt scheint der
Titel hinzudeuten. Das Andenken ist auf zwei Punkte gerichtet: auf den
Verlust der Antarktis, deren Schmelzen den Rest der Erde gefährdet, und
auf die damit verbundene Be/drohung der Menschheit, die ihr Habitat
langsam verliert. Wird der Titel noch weiter exophon betrachtet, indem
68 man daraus den französischen Ausdruck ‚perdre le nord‘ lesen kann,
welcher sich mit den Wendungen ‚den Kopf verlieren‘ und/oder ‚außer
Fassung geraten‘ übersetzen lässt, so steht er für Knuts Einsamkeit und
der Menschen Dummheit. Tawada hofft vielleicht, durch die sprachliche
Auseinandersetzung mit dem Klimawandel in ihrem Roman Empörung
seitens des menschlichen Lesepublikums zu erwecken.
Die Kapiteltitel verfügen über das Material, um die Tier-Mensch-Be-
ziehung umzudenken. Tawada verwischt die starke Trennung zwischen
Tier und Mensch, was bereits die Wahl der autobiografischen Form als
ein „speziesübergreifendes Sprechen-für“27 einleitet. Exophon angenähert,
deuten sie auf einen Nexuskomplex Trauma-Traum-Vertrauen-Trauer hin.
Dabei spielt das Schreiben an sich eine maßgebliche Rolle: Betrachtet man
das Autobiografische zusammen mit diesem Nexuskomplex, so wird man
das Publikum „[der] Schriftstellerei […] [als] eine[r] Akrobatik“ (S. 40)
sein, als würde man vor einer Konferenz der Großmutter oder einer ihrer
Zirkusnummern, vor einer Aufführung des Todeskusses bei Toska oder
auf einer Eisscholle in ihrer Traumwelt, hinter dem Trennungsglas bei
Knuts Parade im Zoo oder in der tiefen Leere seiner Augen stehen. Denn
„ein Bericht oder eine Autobiografie gehört nie allein der Verfasserin oder
dem Verfasser: [Solch ein Schreiben] verwandelt sich bei jeder Lektüre“28.

24. — Ebd., S. 349.


25. — S. Stephan, Ansätze zu einer (posthumanistischen) Tier-Umwelt-Poetik…, a.a.O., S. 56.
26. — Ob Tawada dabei doch eher auf Matthias‘ Weigerung, Knut für Shows auszunutzen,
hindeutet, bleibt dem Lesepublikum überlassen.
27. — F. Middelhoff, „(Not) Speaking for Animals and the Environment…“, a.a.O., S. 343
(„cross-species speaking-for“).
28. — E. McNeill, „Writing and Reading (with) Polar Bears…“, a.a.O., S. 64 („A report, or
an autobiography, never belongs solely to the writer: it metamorphoses each time it is being read“).
EXOPHONIE ZUM DIENST DER NATUR UND UMWELT SPRACHLICHER NATUR

Vom Eis zum Fluss: das Umweltsprachsystem des


Eisens und der Flüssigkeit
Das Schreiben unterschied sich nicht sehr von einem Winterschlaf. In
den Augen der Außenstehenden sah ich vielleicht verschlafen aus, aber
in der Bärenhöhle meines Gehirns brachte ich meine eigene Kindheit
zur Welt und zog sie heimlich groß (S. 21).

Somit fasst die Großmutter das Schreiben um, wodurch sich Tawada
zur Sprache kritisch äußert: Eine Fixierung der Sprache verweigernd,
erleuchtet sie den Weg zu einer exophonen Navigation zwischen
Sprachsystemen. Verschwinden die Tier-Mensch-Trennung und jene
damit verbundenen essentialistischen Konzeptualisierungen, so wird
Sprache ins Licht gerückt, denn „Tawada betont besonders die Rolle des 69
Schreibens und das Recht auf Selbstdarstellung, um den Diskurs zurück-
zuverlangen“29. Daraus kann ein literarisch-ökologisches Sprachsystem
herausgelesen werden, welches nicht nur an „die Betrachtung der Umwelt
als Medium und von Medien als Umwelt“30 – eines der Merkmale des
ecocriticism – erinnert, sondern uns auch zu einem Konzept der Exopho-
nie als Mittel eines Umweltsprachsystems führt. Somit fungiert das Wort
selbst weniger als ein Behältnis, vielmehr wird er zum Inhalt der Kritik.
Dabei vermögen die Kommunikation zwischen verschiedenen Spe-
zies, der Titel des Romans sowie der Akt des Schreibens Aufmerksamkeit
zu gewinnen. Gespräche, Gebärden, Geräusche komponieren ein litera-
risch-ökologisches Sprachsystem im Roman, denn „[e]ine metaphorische
Übertragung von Konzepten aus einem Wissensbereich in einen anderen
kann durchaus sinnvoll sein, wenn sich auf ihr ein neuer Spielraum
für Interpretationen eröffnet“31. Bei Tawada, die sich diesen Spielraum
aneignet, handelt es sich weniger um eine ‚metaphorische Übertragung‘
als um eine exophone Übersetzung ohne Original, wodurch „Sprachen
aus unerwarteten Blickpunkten“32 erscheinen. Zunächst könnte diese
Übersetzung als eine Überbrückung betrachtet werden. Die Brücke
erschafft die Traumwelt, auch die magische Welt, in der Polarbären und
Menschen in Etüden im Schnee kommunizieren. Während die Großmut-
ter spricht (S. 8-9 u.a.) und schreibt (S. 6 u.a.) und Tiere und Menschen

29. — E. Hoffmann, „Queering the Interspecies Encounter…“, a.a.O., S. 154 („Tawada


especially emphasizes the role of writing and the right of self-representation to reclaim discourse“).
30. — B. Bühler, Ecocriticism…, a.a.O., S. 30-31.
31. — Ebd., S. 34. Der Ausdruck „metaphorische Übertragung“ ist im Original fettgedruckt,
worauf dieser Beitrag des Leseflusses halber verzichtet hat.
32. — S. C. Anderson, „Surface Translations…“, a.a.O., S.55 („languages from unexpected
vantage points“).
FLORA ROUSSEL

zusammen in einer Welt leben (z.B. S. 17-19, 52-53), entspricht diese von
Tawada ausgewählte Erzählform dem magischen Realismus33, der eine
neue Verbindung zu erstellen versucht, indem Tier und Mensch aus
der gewalttätigen, hierarchischen realen Welt austreten, um genau diese
zu kritisieren. Weiterhin kommunizieren Toska und Barbara in einer
Traumwelt (z.B. S. 123-126, 154-155, 171-172). Obwohl in der realen Welt
der Gefangenschaft die Bärin die „Brücke [...], die aus massiven Eisen-
stangen konstruiert war, […] vorsichtig Schritt für Schritt hinauf[steigt]“
(S. 112), macht Barbara in der magischen Traumwelt einen Schritt auf
Toska zu. Der Todeskuss, bei dem „Barbaras Seele, so Toska, […] in
ihren Bärenkörper über[gehe,] […] [was] als eine ironische Kritik an der
Überhöhung der Bedeutung der menschlichen im Vergleich zur tierischen
Seele“34 gelesen werden kann, wurde in einer nicht-menschlichen Welt
70 entwickelt. Es entsteht also eine Zweideutigkeit aus diesem Kommu-
nikationsmittel und-ergebnis: Insofern „im Namen Barbara ein Bär
enthalten sei“ (S. 164), nähere sich der Name auch den Adjektiven und
Adverbien ‚barbarisch‘ (brutal) und ‚bar‘ (nackt). Paradoxerweise deutet
diese Nacktheit sowohl auf die reine Brutalität, die die Tier-Mensch-
Beziehung kennzeichnet, als auch auf eine mögliche Aufdeckung, die
als eine Verschwommenheit einer strengen Trennung zwischen Tier
und Mensch zu verstehen ist, hin. Dadurch löst sich die Übersetzung als
Überbrückung auf, denn es geht vielmehr um einen fließenden Dialog, der
jedoch die Machtkonstellation zwischen Tier und Mensch nicht ignoriert,
sondern auf neue, komplexere Weise erschafft. Dabei gibt Tawada den
Menschen keine Ausrede für ihre Brutalität gegenüber der Umwelt; ihre
Kritik bleibt eindeutig. Deutet Exophonie auf einen „Zwischenraum“35
hin, so steht dieser Dialog zwischen Toska und Barbara symbolisch für

33. — Zu diesem Punkt beschreibt Theo L. D’haen den magischen Realismus als ein
Mittel, das „eine alternative Welt schafft, um die sogenannte bestehende Realität zu korrigieren,
und das damit das Unrecht, von dem diese “Realität” abhängt, wiedergutmacht“. Dies führt ihn
zum Hauptargument: „Somit entpuppt sich der magische Realismus als eine List, um in den/die
herrschenden Diskurs/e einzudringen und ihn/sie zu übernehmen“ (Theo L. D’haen, „Magical
Realism und Postmodernism: Decentering Privileged Centers“, in: Lois Parkinson Zamora und
Wendy B. Faris (Hrsg.), Magical Realism. Theory, History, Community, Durham, London, Duke
University Press, 1995, S. 191-208, hier S. 195 („to create alternative world correcting so-called
existing reality, and thus to right the wrongs this “reality” depends upon“; „Magic realism thus
reveals itself as a ruse to invade and take over dominant discourse(s)“)). Auch wenn er den Akzent
auf die Postcolonial Studies legt, ist seine Erläuterung deswegen interessant, weil sie sich auf eine
Kritik der von Menschen gezwungenen Hierarchie zwischen Tier und Mensch anwenden lässt.
Um dieses „Dezentrieren“ bemüht sich ebenfalls Tawadas Roman.
34. — L. Werry, „Der Mensch im Spiegel von ‚Beerenaugen‘…“, a.a.O., S. 219.
35. — Reiko Tachibana, „Tawada Yoko: Writing from ‚Zwischenraum‘ “, in: Christine
Ivanovic (Hrsg.), Yoko Tawada: Poetik der Transformation. Beiträge zum Gesamtwerk, Tübingen,
Stauffenburg Discussion, 2010, S. 277-283, hier S. 277.
EXOPHONIE ZUM DIENST DER NATUR UND UMWELT SPRACHLICHER NATUR

eine Verschwommenheit, eine Art von Flüssigkeit, welche die Ambi-


valenz des Verhältnisses zwischen Toska und Barbara aufzeigt. Diese
Flüssigkeit trägt nämlich die Folge der Eisenkette der Gefangenschaft in
sich: Es gelingt der Autorin, ein literarisch-ökologisches Sprachsystem
zu entwickeln, welches einen in Eis gefrorenen Kontaktraum und einen
im Wasser navigierenden Traum widerspiegelt. Denn „das Wasser, das
die Brücke überspannt, erinnert an den sich ständig verändernden […]
Raum unter der Brücke, einen Raum […], in dem Dinge ihre Form
verwandeln können, aber in dem nichts verschwindet“36.
Die Kommunikation zwischen den Spezies hebt die Gestalt oder
die Gestaltung der Sprache hervor, als handele es sich darum, „etwas in
“unerwarteten” Melodien“37 zu entdecken. Diese Akzentuierung der Form
ist in der exophonen Schreibpraxis besonders wichtig, da sie unsichtbare
Umformulierungen sichtbar macht. Durch den Entfremdungsprozess
71
der Exophonie als „kreative Zerstörung“38, der es dem Lesepublikum
ermöglicht, die Metamorphose der Sprache zu sehen39, eignet sich die
Sprache eine Materialisierung – wobei hier von ihrer sinnlichen Form
(visuell/grafisch, akustisch) die Rede ist – und zugleich eine Demateria-
lisierung – die die Urbedeutung der Wörter vereitelt – an40. Der Titel
des Romans illustriert diese Bewegung: Etüden im Schnee verweist durch
die Anfangsbuchstaben seiner einzelnen Wörter auf ‚Eis‘, was wiederum
an Eisbären – auch Polarbären genannt – erinnert. Außerdem steckt
in ‚Polarbär‘ das Wort ‚Pol‘ und wenn man dies weiterassoziiert, steht
‚Pol‘ zwar für ‚Nordpol‘, aber auch für ‚Extreme‘. Allein der Titel ist ein
Wortspiel, aus dem sich eine Kritik der Umwelt entwickelt: Die extremen
Aktionen der Menschen bringen die Eisbären am Nordpol in Gefahr.
Wird der Titel noch ferner dekonstruiert, so taucht eine gewisse
Musikalität auf. Eine ‚Etüde‘ ist ein „Übungs-, Vortrags-, Konzertstück,
das spezielle Schwierigkeiten enthält“41. Hierbei deutet Tawada exophon
auf Exophonie, d.h. auf die Musikalität der Sprache oder die Sprache als

36. — Susan C. Anderson, „Water under the Bridge: Unsettling the Concept of Bridging
Cultures in Yoko Tawada’s Writing“, Pacific Coast Philology 50, 1/2015, S. 44-63, hier S. 49 („[t]he
water the bridge spans evokes the constantly changing […] space under the bridge, a space […]
where things can change shape but nothing disappears“).
37. — R. Tachibana, „…Writing from ‚Zwischenraum‘“, a.a.O., S. 282 („something in
“unexpected” tunes“).
38. — Michiko Mae, „Tawada Yokos Literatur als transkulturelle und intermediale Trans-
formation“, in: Christine Ivanovic (Hrsg.), a.a.O., S. 369-383, hier S. 380 („creative destruction“).
39. — Ebd., S. 379.
40. — Flora Roussel, „Nomadic Subjectivities: Reflections on Exophonic Strategies in Yoko
Tawada’s Schwager in Bordeaux“, Humanities Bulletin 3, 1/2020, S. 161-178, hier S. 164. https://
www.journals.lapub.co.uk/index.php/HB/article/view/1530, Zugriff am 14.11.2020.
41. — Duden, https://www.duden.de/rechtschreibung/Etuede, Zugriff am 13.11.2020.
FLORA ROUSSEL

Musik, hin. Zudem kann das Eis im Titel an Eisen erinnern, was, mit
Schnee kombiniert, zurück zu den Polarbären und ihrer Gefangenschaft
im Roman führt. Tawada ist es auf diese Weise möglich, eine Konzeptuali-
sierung der Sprache, eine Stimme des Protests zu kreieren. Dieser Gedan-
kengang kann doppelt interpretiert werden: Auf der einen Seite zerstört
Exophonie jegliche Hierarchie zwischen Tier- und Menschensprachen,
indem die menschliche Urbedeutung der Wörter tierisch verhindert wird;
auf der anderen Seite kann durch Exophonie die Frage der Umwelt im
Vordergrund stehen. Dies ist besonders am Beispiel von Knuts Verhältnis
zur Musik ersichtlich: „Die gehörte Welt war so geräumig und farben-
reich, dass die gesehene Welt sie nicht übertreffen könnte“ (S. 224). Dazu
erläutert Lina Werry überzeugend, dass der kleine Bär durch Matthias
und seine Gitarrenstücke „in die Welt der Musik“ eingeweiht wird und
72 ebenfalls „temporär aus seinem Käfig […] [flieht]“, „[i]ndem [er] auf die
Geräusche – Musik in seinen Ohren – von draußen achtet“42. Bedenkt man
diese Anmerkung im Zusammenhang mit der Exophonie, so schrumpft
die Wichtigkeit des Konzepts (signifié) eines Zeichens (signe), wodurch
Menschen ihre angebliche Überlegenheit gegenüber anderen Wesen
und einer Bedeutungszunahme des Lautbilds (signifiant) und des Bezugs
(référent) begründen, was Knut und seine Vorfahren (S. 240-241) vor-
ziehen. Im Gegensatz zu Lina Werrys Interpretation von Knuts ‚Shows‘
im Berliner Zoo als „einfache[n] Kunststücke[n,] [die] Menschenmassen
begeister[n], eine[r] Fingerübung, eine[r] Etüde“ 43, wobei Knut jedoch
das Talent des Schreibens bleibt, vertritt dieser Beitrag die These, nach
der diese Fingerübung auf eine exophone Weise vielmehr an die Mehr-
deutigkeit der Sprache erinnert und somit jegliche Hierarchie zwischen
Tier- und Menschensprachen aufhebt.
Schließlich hat die Form der Sprachen das letzte Wort. Wenn Matthias
zur Spezies der „Fingerverlängerer“ (S. 213) gehört, bleibt Knut doch nicht
allein das Schweigen: „Aber deine Augen sind keine leeren Spiegel. Du
spiegelst die Menschen wider“ (S. 231), so der Tierpfleger zu dem Bären.
Die Sprachlichkeit wird zu einer Sprechbarkeit, die einen exophonen
Zwischenraum zwischen Maul/Mund und Augen schafft. Finger, die
Schreiben und Tasten ermöglichen – also eine Art Verwirklichung der
Wörtlichkeit durch Sinnwahrnehmung, wobei Tasten im Roman zum
Schreiben wird –, funktionieren zweideutig: Die Spezies der Fingerverlän-
gerer mag Polarbären Pfotenschellen anlegen, doch sind es die „Pfoten-
hände“ (S. 5) letzterer, die durch eine komplexe Erzählstruktur den Ton

42. — L. Werry, „Der Mensch im Spiegel von ‚Beerenaugen‘…“, a.a.O., S. 220.


43. — Ebd., S. 220. Hervorhebung im Original.
EXOPHONIE ZUM DIENST DER NATUR UND UMWELT SPRACHLICHER NATUR

der sprachlichen Aspekte in Etüden im Schnee angeben. Betrachtet man


die Traumwelt, ja die magische Welt, in der die Kommunikation zwischen
den Spezies stattfindet und die hier metaphorisch für das ‚Wasser unter
der Brücke‘44 steht, zusammen mit der Umdeutung der Fingerwesen,
so verliert die von Menschen gedachte, durch menschlichen Gebrauch
fixierte Sprache an Form. Zu diesem Punkt erläutert Barbara in Toskas
Traumwelt nämlich: „Dort, in einer Finsternis, verloren die Gramma-
tiken verschiedener Sprachen ihre Farbe, sie schmolzen, mischten sich,
froren wieder ein, trieben auf dem Meer, zu den Eisschollen, die auf dem
Meer trieben“ (S. 123). Wird die menschliche Grammatik spielerisch
verschwinden, wird dann die tierische Dramatik akut vernichtet werden.
Das Verwischen einer Trennung zwischen Tier und Mensch taucht
also wieder auf, um möglicherweise auf die notwendige Verbindung
zur Natur hinzudeuten. Dieses literarisch-ökologische Sprachsystem
73
veranschaulicht einen Akt des Schreibens, der besonders am Beispiel
der Großmutter zu sehen ist:
Anscheinend schrieb ich mit zu viel Druck in den Fingern. Die Spitze
meines Füllers hielt ihn nicht aus und verbog sich. Das bergblaue Mont-
Blanc-Blut quoll heraus und verfärbte meinen weißen Bauch. Es war ein
Fehler, dass ich mich wegen der Hitze ganz ausgezogen hatte (S. 29).

Der Farbkontrast ist deswegen interessant, weil er im Gegensatz zu


dem oben erwähnten Farbverlust steht. Durch eine Anspielung auf den
weißen Bauch, ein leeres Manuskript – der von dem blauen Tintenfleck,
einer roten Wunde teilweise bedeckt wird – erscheint nicht nur eine meta-
phorische Kritik an das menschliche Verhalten den Tieren gegenüber,
sondern auch eine exophone Kritik an Sprachkonzepten: Beide stellen
eine Umwelt vor, in der das Eis zu brechen doch ‚ein heißes Eisen‘ ist.
Weiter ist das Schreiben der Großmutter nicht so zu deuten, „dass
es sich bei den beiden folgenden Geschichten um eine Fiktion der Bärin
handelt“45, sondern um ein Spiel der Erzählinstanzen und -typen, die
genau die unförmige Form der Sprachen bei Tawada darstellen. Vom Eis
zum Fluss, von den Eisen zu einer Flüssigkeit navigiert die Schriftstellerin,
Kritik ausübend, jedoch ohne klar Antwort zu geben, denn „wo ist hier
und wann ist jetzt?“ (S. 7) Die Flüssigkeit steht metaphorisch also sowohl
für die Eisschmelze als auch für eine Stilleichtigkeit: „Die Insel aus Eis

44. — Der Beitrag verweist somit auf den Titel von Susan C. Andersons Aufsatz: „Water
under the Bridge…“, a.a.O., S. 44.
45. — L. Werry, „Der Mensch im Spiegel von ‚Beerenaugen‘…“, a.a.O., S. 218.
FLORA ROUSSEL

war noch so groß wie mein Schreibtisch, aber irgendwann wird sie nicht
mehr da sein. Wie viel Zeit bleibt mir noch?“ (S. 94).

Ein Schuss, mit Schnee ballern – Zum Schluss:


der Schneeballeffekt der Exophonie
„Die Eisbären hatten lang keinen Kontakt zu Menschen, konnten
nicht ahnen, wie gefährlich die kleinen Zweibeinigen sind“ (S. 117). So
gibt Marcus, Barbaras Mann, einen Fakt wieder, aus dem er einen Akt
für den Zirkus entwickeln wird. Mit einem Schuss soll Barbara Toska
niederstrecken, jedoch soll der Schlussakt zu einer moralischen Pointe
führen: „Toska steht plötzlich auf und frisst dich auf. Das heißt, das Opfer
der menschlichen Gewalt ersteht wieder auf und besiegt am Ende den
74 bösen Täter“ (S. 117). Barbaras Reaktion, wonach „[d]as Publikum […]
keinen sozialistischen Moralrealismus im Zirkus [suche]“ (S. 117), bringt
eine Art unmögliche Versöhnung zwischen Tier und Mensch zum Aus-
druck und zugleich einen Widerstand gegen eine Moral, eine Norm der
Naturhierarchie zwischen den Spezies. Vielleicht erscheint eine neuerliche
Verbindung zur Natur wichtiger, die das komplexe Verhältnis einer
Spezies mit einer anderen widerspiegeln würde. Dazu wird Exophonie zu
einer Stimme, wodurch eine Kritik des Klimawandels ausgeübt werden
kann. Tawada spricht sich somit nicht nur für eine menschlich-tierische
Akrobatik um die Nexusvielfalt Trauma-Traum-Trauer-Vertrauen aus,
sondern auch für ein Umweltsprachsystem durch ein Spiel aus Eis und
Eisen und um Fluss und Flüssigkeit. Anhand von Entfremdungsprozessen,
Dekonstruktionsaktionen und Übersetzungsversuchen tritt Exophonie
im Dienst der Natur auf. Der Entfremdungsprozess spielt eine maßge-
bliche Rolle, denn: „Diese Entfremdung wird durch eine mehrsprachige
Umgebung ermöglicht, nicht weil eine bestimmte Sprache einer anderen
vorgezogen wird, sondern weil die Mehrsprachigkeit die Sprachstruktu-
ren, in denen wir leben, verfremden kann“46. Dabei erweist sich Etüden
im Schnee insofern interessant, als der Roman einen alternativen, mehr-
sprachlichen Weg zum Nachdenken über das Umweltthema vorstellt.
Letzten Endes, wie Benjamin Brühler erläutert, „[bilden]
Umwelt-orientierte Texte […] eine Klasse, deren Elemente verschiedene,
übergreifende und kreuzende Ähnlichkeiten aufweisen, ohne dass allen

46. — Yasemin Yildiz, „Tawada’s Multilingual Moves: Toward a Transnational Imaginary“,


in: Douglas Slaymaker (Hrsg.), Yōko Tawada, Voices from everywhere, Lanham, Lexington Books,
2007, S. 77-89, hier S. 80 („This detachment is enabled by a multilingual environment, not because
any specific language is preferred over another one, but because multilingualism can defamiliarize
the very language structures in which we exist“).
EXOPHONIE ZUM DIENST DER NATUR UND UMWELT SPRACHLICHER NATUR

Elementen eine bestimmte Eigenschaft gemeinsam ist“47. Wird Tawadas


Buch unter die Lupe genommen, so wird man eine Tendenz des ecocri-
ticism wiederfinden können. Diese hat jedoch nicht das letzte Wort: Die
Sprachen spielen die Hauptrolle in dieser Darstellung von Umwelten, die
kollidieren und sich zusammenfügen. Aus dieser Analyse lässt sich die
Schlussfolgerung ziehen, dass es somit eher von literarisch-ökologischen
Zielen die Rede sein sollte. Die Sprache bei Tawada gibt einen Schuss
auf Fixierung – einen Punkt zur Unbeweglichkeit – ab, der nicht als
Schluss einer Folterung von Tieren durch Menschen betrachtet werden
soll. Aus der menschlichen Grammatik heraus betritt das Lesepublikum
die tierische Dramatik. Auf eine exophone Weise geht es weniger um
ein Schlachtfeld, sondern vielmehr um ein Schneefeld. So entwickelt
Tawada einen Sprachraum, der uns wie ein Schneeballeffekt auf die
verlorene Verbindung zur Natur, zur Sprache, zur Magie des Realismus48
75
aufmerksam zu machen versucht: „Es ist kein Kampf. Die Eiswand besteht
in Wirklichkeit aus warmem Fell aus Schnee“ (S. 97).

47. — B. Bühler, Ecocriticism…, a.a.O., S. 32.


48. — Dies verweist erneut auf den magischen Realismus, in dem Theo L. D’haen „die
Macht […], politisches Bewusstsein zu wecken“, sieht (T. L. D’haen, „Magical Realism and Post-
modernism…“, a.a.O., S. 202: „the political consciousness-raising powers [of magic realism]“).
Tawada übt eine spielerische oder humoristische, eine entfremdende, dekonstruierende, vom
Realen ins Magische übersetzende, ja exophone Kritik aus.

Das könnte Ihnen auch gefallen