Daniel Nachbaur Die Poesiemaschine Roland Barthes, Walter Benjamin Und Die Deutsche Frühromantik
Daniel Nachbaur Die Poesiemaschine Roland Barthes, Walter Benjamin Und Die Deutsche Frühromantik
Die Poesiemaschine
Roland Barthes, Walter Benjamin und die Deutsche Frühromantik
1. Einleitung
In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France im Jahr 1977, die unter dem
Titel Leçon bekannt geworden ist, attestiert Roland Barthes dem literarischen
Diskurs enzyklopädische Qualitäten. Nicht nur, weil ihm zufolge das „literari-
sche Monument“ alle Wissenschaften in sich repräsentiere und insofern „kate-
gorisch realistisch“, „der eigene Lichtschein des Wirklichen“ sei, sondern auch
im etymologischen Sinn des Wortes. Die Literatur bringe nämlich die in ihr
enthaltenen „Kenntnisse zum Kreisen“, also in Bewegung, indem sie keinen ein-
zigen ihrer Bereiche ,fixiere‘ und ,fetischisiere‘, sondern jedem ihrer Elemente
einen „indirekten Platz“ gebe.1 Und weiter:
Andererseits ist das von ihr mobilisierte Wissen weder vollständig noch letztgül-
tig; die Literatur sagt niemals, daß sie etwas weiß, sondern, daß sie von etwas weiß,
oder besser, daß sie viel davon weiß – daß sie über die Menschen Bescheid weiß.
Was sie von den Menschen kennt, ist das, was man die große Verschwendung der
Rede nennen könnte, die sie bearbeiten und von der sie bearbeitet werden, sei es,
daß die Literatur die Vielfalt der Soziolekte reproduziert, sei es, daß sie von dieser
Vielfalt aus, deren Zerrissenheit sie empfindet, sich eine an der Grenze liegende
Rede vorzustellen und auszuarbeiten sucht, die deren Nullzustand darstellte. Weil
die Literatur die Rede in Szene setzt, statt sie nur zu benutzen, bringt sie das Wis-
sen in das Räderwerk der endlosen Reflexivität: durch die Schreibweise hindurch
reflektiert das Wissen unablässig über das Wissen, entsprechend einem Diskurs,
der nicht mehr epistemologisch, sondern dramatisch ist.2
Das ist eine schillernde Definition. Denn zum einen setzt Barthes hier mit dem
Begriff des „Nullzustandes“ der Literatur ein Schlüsseltheorem seiner frühen
Schriften erneut in Kurs3, das mit bedeutenden Implikationen befrachtet ist.
Es thematisiert die Utopie eines neutralen Beobachtungsstandpunktes, von
dem aus sich ein ideologiebereinigtes Panorama der Diskurse auffächern ließe
und installiert die Literatur damit als transzendentale Kulturwissenschaft. Und
zum zweiten verpflichtet Barthes in diesen Sätzen das Literarische empha-
tisch auf Diversifikation und totale Reflexivität. Damit findet der Passus inte-
ressante Parallelen in literaturtheoretischen Programmatiken, die im Umkreis
Konzeption der progressiven Universalpoesie nichts anderes zur Sprache als die
Vision eines Wissens, das in einem gleichsam dramatischen Akt, wie Barthes
sagt, „unablässig über sich selbst reflektiert“, es geht ihr also im Kern um die
subversive Ambition, den epistemologischen Diskurs durch eine performative
Drapierung des Wissens zu substituieren.
Die Übereinstimmung zwischen Barthes’ Antrittsvorlesung und Schlegels
116. Athenäumsfragment, die hier nur kursorisch wiedergegeben wurde, ist
keine vereinzelte oder zufällige. Sie ist exemplarisch für eine Menge weiterer
frappanter Entsprechungen zwischen der Theoriebildung deutscher Frühroman-
tik und Konzepten Barthes’, die sowohl auf thematischer wie auch auf systemati-
scher Ebene erscheinen. Zwar kann eine direkte Rezeption deutscher Romantik
schwer nachgewiesen werden9, doch sind so kardinale frühromantische The-
men wie etwa die unendliche Selbstüberbietung in der poetischen Reflexion,
die Frage nach dem Status von Lektüre und Kritik oder der Problemkreis der
Subjektivität, um nur die bedeutendsten zu nennen, in seinen Schriften nicht
nur omnipräsent, sondern sie inspirieren dort zudem immer wieder Theorieent-
würfe, in denen sich genuin romantische Argumentationsmuster wiederholen.
Insbesondere eine Äußerung Barthes’ in der Einleitung zum zweiten Teil von
Kritik und Wahrheit, die in der französischen Romantik die Voraussetzungen für
ein neues Kritikverständnis sieht, das sich dann bei Mallarmé voll entfaltet habe,
zeigt eine prinzipielle Sympathie für das Denken jener Epoche. Dort heißt es:
„Zwei Jahrhunderte lang hat sich der französische Klassizismus definiert durch
die Einteilung, die Hierarchie und die Stabilität seiner Schreibweisen, und die
Revolution der Romantik hat sich selbst ausdrücklich als eine Umwälzung der
Klassifizierung verstanden. Nun vollzieht sich seit ungefähr hundert Jahren,
ganz gewiß aber seit Mallarmé, eine bedeutsame Veränderung der alten Posi-
tion unserer Literatur: die doppelte Funktion der Schreibweise, die poetische
und kritische, wird ausgetauscht und verschmilzt in eine“.10 – Nun sind die Ana-
logien zwischen der Barthes’schen Theorie und den Konzepten der deutschen
Romantik von der Forschung durchaus registriert worden, Beobachtungen in
diese Richtung haben aber bislang kaum über die Nominierung des Desiderats
hinausgeführt.11 Das ist sicher überraschend, da in den letzten Jahrzehnten
bekanntermaßen eine Vielzahl aktualisierender Romantik-Lektüren vor der
Folie postmoderner Ästhetik und Erkenntnistheorie veröffentlicht wurden. Zur
12 Bezogen auf den Text der Romantik hat das auch Winfried Menninghaus in seiner
großangelegten Studie zum frühromantischen Reflexionsbegriff zu Bedenken gege-
ben: „Gewiß, bei genügender Abstraktheit ist es leicht möglich, für fast jede theo-
retische Position im gewaltigen Korpus der romantischen Fragmente und Notizen
eine Stütze zu finden. Erleichtert wird dies durch die oft völlige Unentscheidbarkeit
des pragmatischen Status zumal der Schlegel’schen Notizen. Wenn etwa Notizen
der Philosophischen Lehrjahre in wenigen Stichworten Positionen Schellings oder
Fichtes markieren, dann verraten sie in vielen Fällen durch nichts, ob es sich jeweils
um ein quasi ,wertungsfreies‘ Lektüre-Exzerpt, um eine positive Identifikation oder
gerade umgekehrt um die Notierung einer zu kritisierenden Position handelt. Des-
halb kann letztlich keine Interpretation der romantischen Texte durch das bloße
Beibringen einiger konkurrierender Zitate widerlegt werden“ (Winfried Menning-
haus. Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie
im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987. S. 79f.).
13 Walter Benjamin. „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“. Gesam-
melte Schriften. Hg. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.:
Suhrkamp, 1991.
14 Menninghaus. Unendliche Verdopplung [wie Anm. 12]. S. 39.
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Der direkteste Zugang zum Kern von Benjamins Studie eröffnet sich ausge-
hend vom 3. Kapitel, das mit „System und Begriff “ überschrieben ist. Entlang
der frühromantischen Theorien der mystischen Terminologie und des Witzes,
die sich insbesondere bei Schlegel, aber auch bei Novalis ausgearbeitet finden,
exponiert Benjamin die Interrelationen zwischen dem autonomen Ganzen des
Denkens und seinen heteronomen Bestandteilen, den Begriffen. Geht es nach
ihm, dann hat bereits Schlegel das Denken und das Sprechen miteinander iden-
tifiziert und sich in der Konsequenz dieser erkenntnistheoretischen Positionie-
rung von jenen Konzepten klar distanziert, die vorgeblich die dichotomische
Struktur begrifflicher Reflexion überwinden, um eine ungebrochene, prärefle-
xive Ganzheit vor das Bewusstsein bringen zu können: „Was insbesondere die
intellektuelle Anschauung betrifft, so ist Schlegels Denkweise […] ausgezeichnet
durch Indifferenz gegen Anschaulichkeit; er beruft sich nicht auf intellektuelle
Anschauungen und entrückte Zustände.“18 Das führt in Benjamins Verständnis
jedoch keineswegs dahin, dass Schlegel der metaphysischen Aspiration, mit dem
15 Auch Carola Hilmes stuft einen solchen Vergleich, „der die Übergänge von Roman-
tik, Moderne und Postmoderne ins Auge“ fassen würde, als sehr aussichtsreich ein
(vgl. Carola Hilmes. „Roland Barthes’ Projekt einer kritischen Literaturwissen-
schaft“. Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Ver-
gleichende Literaturwissenschaft [2000/2001]: S. 58).
16 Menninghaus. Unendliche Verdopplung [wie Anm. 12]. S. 71
17 Ebd. S. 41f.
18 Benjamin. Begriff der Kunstkritik [wie Anm. 13]. S. 47.
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Wenn Friedrich Schlegel im ,Gespräch über die Poesie‘ von 1800 […] meint mit
den Worten, der Idealismus sei ,gleichsam wie aus nichts entstanden‘, so darf dieser
Gedankengang hier […] mit dem Satz zusammengefasst werden, daß die Reflexion
logisch das erste sei. Denn weil sie die Form des Denkens ist, ist dieses ohne sie,
obgleich sie auf dasselbe reflektiert, nicht möglich. Erst mit der Reflexion ent-
springt das Denken, auf das reflektiert wird.23
19 Ebd.
20 Friedrich Schlegel. Philosophische Vorlesungen. Kritische Friedrich Schlegel
Ausgabe. Bd. 12. Hg. Jean-Jacques Anstett. München/Paderborn/Wien: Schöningh,
1964. S. 361.
21 Ebd. S. 365.
22 Menninghaus. Unendliche Verdopplung [wie Anm. 12]. S. 58.
23 Benjamin. Begriff der Kunstkritik [wie Anm. 13]. S. 39.
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Was in diesen Sätzen ausgesagt wird, ist für die Problematik von Form und Inhalt
ganz entscheidend. Benjamin lenkt nämlich hier das Augenmerk auf eine kar-
dinale Paradoxie innerhalb der Theorie vom Systemwert des Begriffs, die auch
(post-)strukturalistische Konzeptionen betrifft: Obzwar die Reflexion gemäß
Benjamin ursprünglicher ist als das Reflektierte, ist sie qua Re-flexion nichtsdes-
toweniger auf das Vorbestehen eines Gegenpols angewiesen. In der restriktiven
Schleife „obgleich sie auf dasselbe reflektiert“ (s.o.) zeigt Benjamin das unmiss-
verständlich an. Die Idee des Primats der Reflexion vor dem Reflektierten ist,
ohne eine völlige Auflösung des Reflexionsbegriffs, demnach nur aufrechtzuer-
halten, wenn man voraussetzt, dass die Reflexion, indem sie ihren Inhalt aus sich
entspringen lässt, sich selbst das Feld ihrer Ausfächerung induziert. Sie soll also
nicht nur das Reflektierte erzeugen, sondern durch dieses hindurch sich selbst
die Grundlage vorauslegen. Dort, wo sie stillstünde, wäre es auf einer noch so
avancierten Stufe des Denkens, müsste dann auch der Raum erlöschen, worin
sie ausgetragen wurde, und mit ihm ihre ganze Realität. Genau diese Selbst-
induktion als Gleichursprünglichkeit von Reflektierendem und Reflektiertem
ist mit der Schlegel’schen Rede von der „Schöpfung aus Nichts“ gemeint. Ben-
jamin unterschlägt in seiner Reflexionstheorie diesen Widerspruch nicht nur
nicht, sondern jene erhält sogar gerade dadurch ihre spezifische Prägung, dass sie
ihn ihrer Argumentation einverleibt. Wie Benjamin nämlich in einer Fußnote
bemerkt, ist der Begriff des Reflexionsmediums genau durch die Paradoxien der
Selbstgrundlegung motiviert:
Der Doppelsinn der Bezeichnung bringt in diesem Falle keine Unklarheit mit
sich. Denn einerseits ist die Reflexion selbst ein Medium – kraft ihres stetigen
Zusammenhanges, andererseits ist das fragliche Medium ein solches, in dem die
Reflexion sich bewegt – denn diese, als das Absolute bewegt sich in sich selbst.24
Ursprung und Ziel des Denkens ist demnach die Denkbewegung, also Reflexion,
selbst. In ihrem infinitem Vollzug sind deren beide Extremitäten, Ursprung und
Absolutum, Form und Gehalt vermittelt, d.h. in ihrem unendlichen Fortgang
bildet sie jene Einheit aus, die in den beschränkten Momenten des reflexiven
Kontinuums zerbrochen liegt. Benjamin nimmt diese Logik nahtlos auf, wenn
er die Argumentation des oben erwähnten Abschnitts mit dem Titel „System
und Begriff “ gerade mit einem Zitat aus den Philosophischen Lehrjahren einlei-
tet, wo Schlegel seine Erkenntnistheorie in ein zyklisches Schema fasst. In dem
Gebrauch, den Benjamin von Schlegels vielsagenden Zeilen macht, konvergie-
ren alle wesentlichen Argumentationsstränge, die Benjamin aus der romanti-
schen Erkenntnistheorie herauspräpariert. So findet sich hier neben der These
von der autoreferenziellen, also zirkulären Struktur des Denkens, zweitens der
Gedanke, dass Begriffe unendlich auf andere Begriffe verweisen, sowie drittens
die Deutung der Reflexion als ein Medium, insofern nämlich von der Mitte die
Rede ist, aus der die Philosophie entspringt:
24 Ebd. S. 36.
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Es muß der Philosophie nicht bloß ein Wechselbeweis, sondern auch ein Wechsel-
begriff zugrunde liegen. Man kann bei jedem Begriff wie bei jedem Erweis wieder
nach einem Begriff und Erweis desselben fragen. Daher muß die Philosophie wie
das epische Gedicht in der Mitte anfangen, und es ist unmöglich dieselbe so vor-
zutragen und Stück für Stück hinzuzählen, daß gleich das erste für sich vollkom-
men begründet und erklärt wäre. Es ist ein Ganzes, und der Weg, es zu erkennen,
ist keine gerade Linie, sondern ein Kreis. Das Ganze der Grundwissenschaft muß
aus zwei Ideen, Sätzen, Begriffen […] ohne allen weiteren Stoff abgeleitet sein.25
[…] durch seine Form ist das Kunstwerk ein lebendiges Zentrum der Reflexion.
Im Medium der Reflexion, in der Kunst, bilden sich immer neue Reflexionszen
tren. Je nach ihrem geistigen Keim umfassen sie größere oder kleinere Zusammen-
hänge reflektierend. Die Unendlichkeit der Kunst kommt zunächst allein in einem
solchen Zentrum als in einem Grenzwert zur Reflexion, d.h. zur Selbsterfassung
und damit zur Erfassung überhaupt. Dieser Grenzwert ist die Darstellungsform
des einzelnen Werks. Auf ihr beruht die Möglichkeit einer relativen Einheit und
Abgeschlossenheit des Werkes im Medium der Kunst. – Weil aber jede einzelne
Reflexion in diesem Medium nur eine vereinzelte, eine zufällige sein kann, ist auch
die Einheit des Werkes gegenüber der Kunst nur eine relative; das Werk bleibt mit
einem Moment von Zufälligkeit behaftet.28
28 Ebd. S. 73.
29 Ebd. S. 84.
30 In sämtlichen Schichtungen hat Strohschneider-Kohrs diese Reflexionsstruktur der
Tieck’schen Komödie, in der sich das Verfahren der Ironie realisiert, nachvollzogen.
Dabei wird vor allem der Gestiefelte Kater als Paradebeispiel einer konsequenten
Anwendung des ironischen Prinzips hervorgehoben: „in der Ebene des inneren
Spiels (der Aufführung) wird dieses Spiel reflektiert auf mehr als eine Art: Dich-
ter, Maschinist und Besänftiger als Spielfiguren, die Anspielungen auf Realzeit und
-raum, das Rollenbewußtsein, die Theatermaschinerie – diese Teilmotive und Spiel-
möglichkeiten bedeuten eine Brechung der an sich schon als Spielebene gekenn-
zeichneten ‚inneren‘ Aufführung. Und dadurch eben, daß hier eine vielfache Bre-
chung der gesamten Darstellungswirklichkeit gegeben wird, jede der Spielebenen
(Publikum, Märchenaufführung, Bühne) in der Bühnenspiegelung wieder aufgeho-
ben wird, kommt ein eigentlich neues Thema des Gesamtspiels zustande“ (Ingrid
Strohschneider-Kohrs. Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung. 3. Aufl.
Tübingen: Niemeyer, 2002. S. 300f.).
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Durch die Zerstörung der bestimmten Darstellungsform des Werkes in der Ironie
wird die relative Einheit des Einzelwerkes tiefer in die Kunst als des Universal-
werkes zurückgestoßen, sie wird, ohne verloren zu gehen, völlig auf diese bezo-
gen. Denn nur graduell ist die Einheit des Einzelwerkes von der der Kunst […]
unterschieden […] Um dieses Verhältnis abschließend deutlich zu machen, ist ein
doppelter Formbegriff einzuführen. Die bestimmte Form des einzelnen Werks,
die man als Darstellungsform bezeichnen möge, wird das Opfer ironischer Zerset-
zung. Über ihr aber reißt die Ironie einen Himmel ewiger Form, die Idee der For-
men, auf, die man die absolute Form nennen mag, und sie erweist das Überleben
des Werkes, das aus dieser Sphäre sein unzerstörbares Bestehen schöpft, nachdem
die empirische Form, der Ausdruck seiner isolierten Reflexion, von ihr verzehrt
wurde. Die Ironisierung der Darstellungsform ist gleichsam der Sturm, der den
Vorhang vor der transzendentalen Ordnung der Kunst aufhebt und diese und in
ihr das unmittelbare Bestehen des Werks als eines Mysteriums enthüllt. Das Werk
ist nicht, wie es Herder betrachtete, wesentlich eine Offenbarung und ein Myste-
rium schöpferischer Genialität, die man wohl ein Mysterium der Substanz nennen
dürfte, es ist ein Mysterium der Ordnung, Offenbarung seiner absoluten Abhän-
gigkeit von der Idee der Kunst, seines ewigen unzerstörbaren Aufgehobenseins in
derselben. In diesem Sinne kennt Schlegel, Grenzen des sichtbaren Werkes, jen-
seits deren der Bereich des unsichtbaren Werkes, der Idee der Kunst sich öffnet31.
In der Erkenntnis der individuellen Form des Werks, in der seine empirischen
Formmomente vermittelt sind, präsentiert sich also die Grenzenlosigkeit der
Kunst. Gerade hierin zeigt sich die genaue Bedeutung der Konnexion zwi-
schen der Reflexion des Werks und derjenigen des umfassenden Mediums: In
der reflexiven Organisation der Symbolisierungsformen, die das poetische Pro-
dukt konstituieren, phosphoresziert die Unendlichkeit der Kunst nicht etwa
reduziert im limitierten Maßstab des artifiziellen Gebildes, sie ist also nicht nur
symbolisch vertreten, sondern die werkeigene Spiegelstruktur dient einer vollen
Gewinnung von Unendlichkeit für das begrenzte Werk, das einzig und allein im
Rückbezug auf die komplette Totalität der Kunst wirklich und d.h. substanziell
31 Benjamin. Begriff der Kunstkritik [wie Anm. 13]. S. 86. Was die Fassung des Iro-
niebegriffs betrifft, die hier zum Ausdruck kommt, liegt Benjamin mit neueren For-
schungen auf einer Linie. Wenn Benjamin seine Konzeption der Ironie in einem dua-
len Formbegriff fundiert, so ist etwa bei Manfred Frank die Rede von zwei Registern,
auf denen die Bedeutungen im ironischen Sprechen spielen. Frank konstatiert, „daß
durch die ironische Behandlung die Bedeutungen des Gesprochenen auf zwei Regis-
tern zugleich spielen: in einem beschränkten Kontext, wo die Zeichen durch die es
umgebenden und durch die Grammatik einigermaßen fixiert sind in ihrer Bedeu-
tungssubstanz; in einem entgrenzten, wo durch die ironische Überdeterminierung
die Zeichen ihre eigentliche Bedeutung ablegen und sich zum Ausdrucksträger der
,Alldeutigkeit‘, also des Unendlichen, machen“ (Manfred Frank. Einführung in die
frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989. S. 366).
Die Poesiemaschine 101
Die erste, axiomatische Voraussetzung ist, daß die Reflexion nicht in eine leere
Unendlichkeit verlaufe, sondern in sich selbst substanziell und erfüllt sei. Nur
mit Hinsicht auf diese Anschauung läßt sich die einfache absolute Reflexion von
ihrem Gegenpol, der einfachen Urreflexion unterscheiden. […] Man hätte zum
Behuf ihrer Unterscheidung anzunehmen, daß die absolute Reflexion das Maxi-
mum, die Urreflexion das Minimum der Wirklichkeit in dem Sinne umfasse, das
zwar in beiden durchaus der Inhalt der ganzen Wirklichkeit, das ganze Denken
enthalten sei, jedoch zur höchsten Deutlichkeit in der ersten entfaltet, unentfaltet
und undeutlich in der anderen. 33
32 Benjamin. Begriff der Kunstkritik [wie Anm. 13]. S. 75f. Die Stelle stammt aus
Athenäum 297 (Schlegel. Athenäum [wie Anm. 4], S. 215).
33 Benjamin. Begriff der Kunstkritik [wie Anm. 13]. S. 31.
34 Ebd. S. 26f.
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Stelle aus Schlegels Rede über die Mythologie im Sinn, in der dieser das Modell
für eine zu schaffende Poesie als einer neuen „Ideenkunst“ sieht: „Die Mytholo-
gie ist ein solches Kunstwerk der Natur. […] alles ist Beziehung und Verwand-
lung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr
eigentümliches Verfahren, ihr inneres Leben, ihre Methode, wenn ich so sagen
darf.“35
Die genuine Aufgabe der romantischen Kunstkritik sieht Benjamin nun darin,
diesen Zusammenhang als das gleichsam verschüttete Fundament aller einzel-
nen Reflexionen durch andauernde reflexive Vermittlung zu wahren und zu fes-
tigen. Sie soll das empirische Werk um seine „unsichtbaren“ Zonen ergänzen,
von denen bei Schlegel die Rede ist, und auf diese Weise die Idee der Kunst
in ihm realisieren. Laut Benjamin evozieren die Romantiker mit der Bezeich-
nung „Kritik“ somit in erster Linie nicht eine Meinungsäußerung über ein
Werk, nicht ein Werturteil, sondern für sie ist „Kritik viel weniger die Beurtei-
lung eines Werkes als die Methode seiner Vollendung“.36 Dieses Verständnis der
romantischen Kunstkritik hat zahlreiche weitere Wortmeldungen von Schlegel
und Novalis auf seiner Seite. Benjamin zitiert unter anderem die besonders pro-
minente Bemerkung des letzteren über den „wahren Leser“:
Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein. Er ist die höhere Instanz, die die
Sache von der niederen Instanz schon vorgearbeitet erhält. Das Gefühl […] schei-
det beim Lesen wieder das Rohe und Gebildete des Buchs, und wenn der Leser das
Buch nach seiner Idee bearbeiten würde, so würde ein zweiter Leser noch mehr
läutern, und so wird […] die Masse endlich […] Glied des wirksamen Geistes.37
(Novalis. In: Benjamin 1991, 68)
Sowie einen nicht weniger aussagekräftigen Satz Schlegels: „Jene poetische Kri-
tik […] wird die Darstellung von Neuem darstellen, das schon Gebildete noch
einmal bilden wollen […] wird das Werk ergänzen, verjüngen, neu gestalten.“38
Für eine solche, gewissermaßen restaurativ, ja archäologisch verfahrende Kritik,
die ihren Maßstab dem Objekt selbst entnimmt, liefert Benjamins eigene Arbeit
über den romantischen Kritikbegriff das treffendste Exempel. Denn diese folgt
ja dem Vorhaben, die nur bruchstückhaft ausgearbeitete romantische Ästhetik
in ein vorausgesetztes erkenntnistheoretisches Koordinatensystem einzutragen.
Sie ist, so Benjamin, der „Versuch, im Begriff des Reflexionsmediums dem Den-
ken der Frühromantiker ein methodisches Gradnetz unterzulegen, in das sich
35 Friedrich Schlegel. Rede über Mythologie. Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Bd. 2
[wie Anm. 4]. S. 311-328, hier S. 318.
36 Benjamin. Begriff der Kunstkritik [wie Anm. 13]. S. 69.
37 Novalis. „Blütenstaub“. Schriften. Bd. 2. Hg. Richard Samuel. Stuttgart/Berlin/
Köln/Mainz: W. Kohlhammer, 1981. S. 470.
38 Schlegel, zit. nach Benjamin. Begriff der Kunstkritik [wie Anm. 13]. S. 69.
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ihm ist.“43 Allein diese Kritik kann das prosaische Versprechen, das die pluralisti-
sche Struktur des Romans gibt, einlösen und so dessen immanente Leitidee, die
Prosa, ganz und gar ausbuchstabieren. Werk und Kritik bilden also im Medium
der Prosa Einheit und Gesetzlichkeit der Kunst aus. Insofern ist, so Benjamins
Ergebnis, die romantische Kunstkritik „die Darstellung des prosaischen Kerns
in jedem Werk, wobei der Begriff ,Darstellung‘ im Sinne der Chemie verstanden
[ist], als die Erzeugung eines Stoffes durch einen bestimmten Prozess, welchem
andere unterworfen werden“.44 Die Kunstkritik und damit die Kunst selbst, mit
der sie eins ist, sind für die Romantiker also beides: Als Experimente unbere-
chenbar, als Abläufe einer gleichsam naturgesetzlichen Mechanik, die sich in
den einzelnen Werken ausprägt, ohne jemals in ihrer vollen Präsenz zu erschei-
nen, jedoch regelhaft. Um das zu belegen, kann Benjamin sich abermals auf ver-
schiedene Äußerungen von Schlegel und Novalis berufen, in denen die Kunst
als verstandesmäßig, „mechanisch“ und der Autor als „Fabrikant“ von Formen
charakterisiert wird.45 Die Einheiten im Medium der Kunst sind damit weni-
ger Produkte unkontrollierter Inspiration und subjektiver Experimentierfreude,
nicht bloße Effekte der Ekstase, als vielmehr Ergebnisse eines zumindest prinzi-
piell erlernbaren Verfahrens, einer objektiven Machart, in der sich ihr gemeinsa-
mer Ursprung zeigt. Jenes Verfahren als Keimzelle der Kunst ist die Reflexion46,
das Denken in Symmetrien und differenziellen Wiederholungen. Es ist also
emphatische Praxis des methodischen Bewusstseins, das von transzendentalen
Bedingungen abhängig, von der besonderen Materie bzw. dem besonderen Stoff
oder Inhalt aber unabhängig ist.
43 Ebd. S. 108.
44 Ebd. S. 109.
45 Ebd. S. 105f.
46 Ebd. S. 105.
Die Poesiemaschine 105
Der kurze Text, der in manifesthafter Form eine Neuausrichtung des Struk-
turalismus vornimmt, wurde 1963 publiziert und stellt mit Sicherheit einen
wesentlichen Markierungspunkt in Barthes’ Übergang zu poststrukturalisti-
schen Denkmustern dar. Im Gegensatz zum orthodoxen Strukturalismus etwa
eines Greimas konzeptioniert Barthes das strukturalistische Verfahren hier als
eine Wissenschaft, der es nicht auf die Rekonstruktion eines sens total, sondern
auf den Nachweis der Konstruktionsprozesse ankommt, durch die sich die
inhaltlichen Ebenen einer Textur allererst konfigurieren: „Man könnte sogar
sagen, daß das Objekt des Strukturalismus nicht der mit bestimmten Bedeutun-
gen bedachte, sondern der Bedeutung erzeugende Mensch ist […]“49 Entwor-
fen wird damit das Konzept einer, wie Carlo Brune festhält, „transzendentalen
Wissenschaft“, die „die Bedingungen der Möglichkeit kulturellen Zusammen-
lebens“, respektive die soziokulturellen Prozesse der „Bedeutungsgenerierung“,
zum Untersuchungsgegenstand hat und konsequenterweise zugleich den Blick
„auf die Position des Beobachters, den Strukturalisten selbst“ als Bedeutungs-
produzenten, lenkt.50
Die markanteste Passage, gleichsam das „Herzstück“ des Textes, bildet Bar-
thes’ vielzitierte Skizzierung des strukturalistischen Verfahrens als Simulation
des untersuchten Objekts. Barthes benötigt nur wenige Zeilen, um die struk-
turalistische Arbeit ganz vom Schema der originalgetreuen Abbildung eines
Objekts abzulösen und im Gegenzug den Akzent auf deren Potential zu ver-
lagern, Sinn zu produzieren. In dem Passus finden sich nicht nur Berührungs-
punkte zu Benjamins These vom Primat der Reflexion, sondern deutlich erin-
nert er zudem an Benjamins Rede von der Kritik als einem Gebilde, das „zwar in
seinem Entstehen vom Werk veranlaßt, in seinem Bestehen jedoch unabhängig
von ihm“51 sei, sowie an das Bild vom sichtbaren Werk, das durch eben jene Kri-
tik um das unsichtbare ergänzt werde. Und nicht zuletzt enthält die Stelle auch
Analogien zu Benjamins Verweis auf den chemischen Prozess, durch den aus
zwei Stoffen ein neuer erzeugt wird. Ziel jeder strukturalistischen Tätigkeit, laut
Barthes, sei es, ein Objekt so zu „rekonstituieren“, dass die Regeln zu Tage träten,
nach denen es ,funktioniere‘.52 Anders als für den konventionellen Struktura-
listen haften für Barthes diese Funktionsregeln allerdings nicht bloß apriorisch
am Objekt, vielmehr werden sie im Vollzug des strukturalen Verfahrens, durch
Die Struktur ist in Wahrheit also nur ein Simulacrum des Objekts, aber ein geziel-
tes, ‚interessiertes‘ Simulacrum, da das imitierte Objekt etwas zum Vorschein
bringt, das im natürlichen Objekt unsichtbar oder wenn man lieber will, unver-
ständlich blieb. Der strukturale Mensch nimmt das Gegebene, zerlegt es, setzt es
wieder zusammen; das ist scheinbar wenig […]. Und doch ist dieses Wenige […]
entscheidend; denn zwischen den beiden Objekten, oder zwischen den beiden
Momenten strukturalistischer Tätigkeit bildet sich etwas Neues.53
Dass Barthes sich dazu veranlasst sieht, den Objektivitätsanspruch des Struktu-
ralismus zurückzuweisen, hängt in erster Linie mit seiner Vorstellung von der
spezifischen Beschaffenheit der Objektsseite zusammen. „Indem man“ das erste
Objekt zerlege, finde man „in ihm lose Fragmente, deren winzige Differenzen
untereinander eine bestimmte Bedeutung hervorrufen“.54 Das Fragment an sich
habe also „keine Bedeutung“, sei aber „so beschaffen, daß die geringste Ände-
rung, die man an seiner Lage und Gestalt vornimmt, eine Änderung des Ganzen
bewirkt“55. Nun regelt diese präsemantische ,Beschaffenheit‘ zwar, unter wel-
chen Bedingungen die einzelnen Elemente eines Zusammenhanges konnotiert
und differenziert werden, welche Verschiebungen also etwa eine Assoziation
von einzelnen Elementen im System als Ganzem verursacht, aber sie legt nicht
fest, welche Teile miteinander parallelisiert oder kontrastiert und welche Begriffe
dafür als Katalysatoren eingesetzt werden sollen. Diese Entscheidung obliegt
ganz dem strukturanalysierenden Subjekt selbst, das nach Maßgabe der ihm
gegebenen kulturellen Vorverständnisse eine Wahl trifft. Es kommt, wie Barthes
in einem der im selben Jahr entstandenen Essais critiques bemerkt, nur darauf
an, dass der Kritiker eine Sprache findet, „deren Kohärenz, deren Logik, also
deren Systematik die größtmögliche Quantität der Sprache“ des Produzenten
einer Struktur in sich „integrieren“ könne.56 Wenn sich daher laut Barthes in der
strukturalistischen Betätigung etwas „Neues“ bildet, dann ist dieses Neue
[…] nichts Geringeres als das allgemein Intelligible: das Simulacrum, das ist der
dem Objekt hinzugefügte Intellekt, und dieser Zusatz hat insofern einen anth-
ropologischen Wert, als er der Mensch selbst ist, seine Geschichte, seine Situa-
tion, seine Freiheit und der Widerstand, den die Natur seinem Geist entgegen-
setzt: Man sieht also warum von strukturalistischer Tätigkeit gesprochen werden
muss: Schöpfung oder Reflexion sind hier nicht originalgetreuer ‚Abdruck‘ der
Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht
kopieren, sondern verständlich machen will.57
53 Ebd. S. 217.
54 Ebd. S. 218f.
55 Ebd. S. 219.
56 Barthes. Nullpunkt [wie Anm. 10]. S. 120f.
57 Barthes. Strukturalistische Tätigkeit [wie Anm. 49]. S. 217.
108 Daniel Nachbaur
Ob nun das Objekt, das der strukturalistischen Arbeit unterworfen wird, bereits
als ein komplexes vorliegt (wie im Fall der strukturalen Analyse einer Sprache,
einer Gesellschaft oder eines konstituierten Werkes) oder noch diffus ist (wie im
Fall der strukturalen „Komposition“) […] tut wenig zur Sache: nicht durch die
Natur des kopierten Objekts wird eine Kunst definiert […], sondern durch das,
was der Mensch, indem er es rekonstruiert, hinzufügt […].59
Wie Hegel sagte, staunte der alte Grieche über das Natürliche in der Natur; […]
Seither hat die Natur sich gewandelt, sie ist gesellschaftlich geworden: alles, was
dem Menschen gegeben ist, ist auch schon menschlich, bis hin zum Wald und
zum Fluß, den wir auf unseren Reisen durchqueren. Doch dieser gesellschaftli-
chen Natur, die ganz einfach Kultur ist, steht der strukturale Mensch nicht anders
gegenüber als der alte Grieche: auch er leiht sein Ohr dem Natürlichen in der Kul-
tur und nimmt unablässig in ihr nicht so sehr feststehende, endgültige, >wahre<
Bedeutungen als vielmehr den Schauer einer ungeheuren Maschine wahr, nämlich
der Menschheit, die unermüdlich an der Schöpfung von Bedeutung arbeitet, ohne
die sie nicht mehr menschlich wäre.60
60 Ebd. S. 221f.
61 Barthes. Nullpunkt [wie Anm. 10]. S. 121.
110 Daniel Nachbaur
muß es umwandeln und zwar nach bestimmten Gesetzen […]“62 Dass ein solches
Festhalten an Identitätskonzepten allerdings im Rahmen der Argumentation
in der strukturalistischen Tätigkeit ungerechtfertigt bleibt und in der Substanz
dem subjektivistischen, anti-positivistischen Impetus seines Essays widerspricht,
scheint Barthes selbst durchaus bewusst gewesen zu sein. Das belegt das finale
Eingeständnis der Historizität seines eigenen Entwurfs klar. Der „strukturale
Mensch“, so Barthes
weiß, daß auch der Strukturalismus eine bestimmte Form der Welt ist, die sich mit
der Welt ändern wird, und so wie er seine Gültigkeit (nicht seine Wahrheit) in der
Fähigkeit sieht, die alten Sprachen der Welt auf neue Weise zu sprechen, weiß er
auch, daß, sobald aus der Geschichte eine neue Sprache auftauchen wird, die nun
ihrerseits ihn spricht, seine Aufgabe beendet ist.63
Barthes verfasst den Tod des Autors 1967, also vier Jahre nach seiner Redefini-
tion des strukturalistischen Verfahrens. Gegenüber dieser sowie dem nur ein
Jahr zuvor erschienenen Buch Kritik und Wahrheit ist dieser Text unverkenn-
bar durch die Rezeption von Kristevas Intertextualitätstheorie geprägt.64 Das
ist für den Zusammenhang dieses Vergleichs insofern von besonderer Bedeu-
tung, als die Idee der Sprache als eines allumfassenden Mediums, in dem litera-
rische Produktion und kritische Reproduktion vermittelt sind, damit eine wei-
tere Zuspitzung erfährt, die Barthes Theorie noch unmittelbarer an Benjamins
Idee eines medialen Kunstkontinuums anschließbar macht. – Kulturhistorisch
betrachtet wendet sich Barthes’ Text bekanntlich gegen die in der französischen
Literaturwissenschaft der 1960er-Jahre gängige Praxis, die Werkbedeutung als
ein unmittelbares Produkt der Autorenbiographie darzustellen.65 Wenngleich
das Essay sich damit gegen eine ganz konkrete Weise der Textexegese auflehnt,
die der Bedeutung von sprachlichen Äußerungen mit Hilfe einer individual-
psychologischen Methodik auf die Spur zu kommen hofft, so formuliert es von
seinem theoretischen Ansatz her auch eine generelle Absage an jegliche Form
von Lektüre, die textuelle Strukturen als invariante, geschlossene Sinngebilde
betrachtet. Methodologisch gesehen ist der Beitrag daher in erster Linie als eine
62 Ebd. S. 221.
63 Barthes. Strukturalistische Tätigkeit [wie Anm. 49]. S. 223.
64 Vgl. Brune. Literatursemiologie [wie Anm. 9]. S. 141ff. sowie Ottmar Ette. Roland
Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998. S. 302.
65 Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko. „Einleitung.
Roland Barthes: Der Tod des Autors“. Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. Dies.
Stuttgart: Reclam, 2000. S. 181.
Die Poesiemaschine 111
konsequente Pointierung der These zu verstehen, dass der Sinn eines Textes
wesentlich, wenn nicht sogar exklusiv durch die Art seiner Rezeption geformt
wird und somit permanent semantischen Verschiebungen unterliegt. Zwar sind
heute die literaturtheoretischen Positionen, die Barthes im Tod des Autors ent-
faltet, weithin geläufig, doch sollen sie im Folgenden mit Blick auf den Vergleich
mit romantischen Konzepten noch einmal rekapituliert werden.
Laut Barthes ist die Einheit und Geschlossenheit des Textes, den die franzö-
sische explication du texte in der Psyche des Autors und der Strukturalismus in
der Symmetrie seiner verschiedenen Konstruktionsebenen lokalisiert, aus zwei
Gründen fragwürdig: Zum einen darf die Sprache ja nicht als privater Formen-
schatz verstanden werden, sondern sie ist ein genuin soziales Medium. Alles, was
ein Autor sagt, konstituiert sich eben aus Versatzstücken anderer Texte: „Der
Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.“66 Zweitens
definieren sich die lexikalischen Einheiten immer nur auf dem Umweg über ihre
Reflexion durch andere Lexeme. Das führt zu jener vielzitierten Gleichsetzung
der innerpsychischen Sphäre mit dem Paradigma des Wörterbuchs: „Wollte er
[der Schreibende] sich ausdrücken, sollte er wenigstens wissen, daß das innere
‚Etwas‘, das er ‚übersetzen‘ möchte, selbst nur ein zusammengesetztes Wörter-
buch ist, dessen Wörter sich immer nur durch andere Wörter erklären lassen.“67
Was ein Text bedeutet, ist damit entschieden eine Frage der Lesart, nicht der
individualpsychologischen Verfassung seines Autors. Für Barthes nun betrifft
diese doppelschichtige Intertextualität zwar prinzipiell jede sprachliche Äuße-
rung, dennoch fasst er den „Tod des Autors“ nicht nur als ein systematisches
Phänomen, sondern zugleich als eine Erscheinung, die an die bewusste Ent-
scheidung für gewisse literarische Konstruktionsformen geknüpft ist, folglich
auch einen literaturgeschichtlichen Ort hat. Denn fraglos kann die Wahrnehm-
barkeit der intertextuellen Ebene erheblich beeinträchtigt werden, wenn etwa
ein Autor sich an gewissen eingeschliffenen Narrationscodes orientiert. Solche
Codes nämlich legen strikt fest, wie das einzelne Zeichen lexikalisch zu klassifi-
zieren ist und mit welchen anderen Zeichen es kombiniert werden darf. So bleibt
das Verhältnis zwischen Signifikat und Signifikant stabil, die Wahrnehmung der
semantischen Interferenzen, die faktisch zwischen sämtlichen Bestandteilen
des Lexikons und also auch zwischen sämtlichen Texten bestehen, wird unter-
drückt. Im Gegenzug wird allerdings die Relation zwischen Text und Autorbio-
graphie hypertrophiert. Denn im codierten Erzählen reproduzieren sich genau
jene Konnotationen und Hierarchien, die in den – zumindest normgerechten
– sozialen Interaktionen einer Zeit, folglich auch im offiziell gesellschaftlichen
Leben des Schreibenden, vorherrschen. Deshalb ist Barthes zufolge die Literatur
66 Roland Barthes. „Der Tod des Autors“. Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. Fotis
Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko. Stuttgart: Reclam,
2000. S. 190. – Damit büßen die Zeichen im Übrigen auch jene stabile differenzielle
Beschaffenheit ein, von der Barthes in Die strukturalistische Tätigkeit noch ausgeht.
Denn dasselbe Zeichen kann nun in ein und demselben Zusammenhang, je nach-
dem, auf welche Prätexte man es zurückführt, mehrere Bedeutungen zugleich tra-
gen, sich also auch von sich selbst unterscheiden.
67 Ebd.
112 Daniel Nachbaur
– insbesondere seit Anbruch der Neuzeit, als der „Wert des Individuums“68 ent-
deckt wird – zunächst noch dadurch gekennzeichnet, dass ihre Autoren mit
besonderer Akribie an der Erfüllung der Form arbeiten69, um die vermeintliche
Kongruenz zwischen der bürgerlichen Identität des Schreibenden und dem lite-
rarischen Werk herstellen zu können. In der literarischen Moderne allerdings
kommt es, wie Barthes darstellt, zu einer Zäsur im Verständnis von Autorschaft
und Urheberschaft, indem die naive Identifizierung von Urheber und Werk
durch verschiedene Kunstgriffe systematisch bloßgestellt wird.70 Barthes prä-
sentiert in diesem Zusammenhang vor allem zwei deutlich an romantische Kon-
zeptionen gemahnende Strategien zur „Entsakralisierung“71 des Autors. Zum
einen die Technik des literarischen Selbstbezugs, die besonders eindrücklich in
der Suche nach der Verlorenen Zeit praktiziert wird, und die an die autoreflexi-
ven Verfahrensweisen der Romantik erinnert. Indem Proust seinen Erzähler als
jemanden darstellt, der um die rechte innerpsychische Verfassung kämpft, um
schreiben zu können, und den Roman gerade in dem Augenblick enden lässt,
in dem der Protagonist die Fähigkeit zur literarischen Produktion erlangt hat,
kehrt sich, so zeigt Barthes, die Reihung von poetischem Erlebnis und litera-
rischer Realisierung auf subtile Weise um: Die sprachliche Umsetzung ist dem
Erlebnis des Schreibenkönnens schon zuvorgekommen, dieses ist paradoxer-
weise schon Schrift, Roman und Form geworden, bevor noch der eigentliche
Roman zu Papier gebracht wurde. „In einer radikalen Umkehrung“, so Barthes,
„machte Proust aus seinem Leben ein Werk nach dem Muster seines Buches,
anstatt, wie es oft heißt, sein Leben in einen Roman zu verwandeln“.72 Der lite-
rarische Text erscheint damit nicht länger als Ausdruck einer außersprachlichen,
vorgängigen Intention, vielmehr wird signalisiert, dass das dem Schreibakt vor-
angehende Erlebnis immer schon lexikalisch präformiert sei, womit Barthes’
Deutung der Recherche exakt mit dem Gedanken einer Inversion von Reflektier-
tem und Reflektierendem, von Form und Gehalt, den Benjamin bei den Roman-
tikern konstatiert, konform geht. – Als zweite Schreibstrategie, die geeignet ist,
den hergebrachten Begriff von Autor- und Urheberschaft infrage zu stellen,
bringt Barthes sodann das Verfahren einer forcierten Vermischung der verschie-
denartigen Kommunikationsregister ins Spiel, das ebenfalls bereits bei Schlegel,
nämlich im Entwurf der progressiven Universalpoesie, thematisiert wird. Weil
der Schreibende, um sich auszudrücken, immer nur aus dem gemeinschaftlichen
Zeichenvorrat schöpfen kann, verlagert sich, so Barthes, seine ganze Macht dar-
auf, „die Schriften zu vermischen und sie miteinander zu konfrontieren, ohne
sich jemals auf eine einzelne von ihnen zu stützen“73. Für Barthes kennzeichnet
es gerade den modernen Schreiber, dass er von dieser kombinatorischen Mög-
lichkeit exzessiven Gebrauch macht. In einem bewussten Akt hebt er die streng
68 Ebd. S. 186.
69 Ebd. S. 190.
70 Ebd. S. 186f.
71 Ebd. S. 188.
72 Ebd.
73 Ebd. S. 190.
Die Poesiemaschine 113
Der Leser ist der Raum, in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusam-
mensetzt, einschreiben, ohne daß ein einziges verloren ginge. Die Einheit des Tex-
tes liegt nicht in seinem Ursprung, sondern in seinem Zielpunkt – wobei dieser
Zielpunkt nicht mehr länger als eine Person verstanden werden kann. Der Leser
ist ein Mensch ohne Geschichte, ohne Biographie, ohne Psychologie. Er ist nur
der Jemand, der in einem einzigen Feld alle Spuren vereinigt, aus denen sich das
Geschriebene zusammensetzt.77
74 Ebd. S. 190f.
75 Ebd. S. 191.
76 Barthes. Tod des Autors [wie Anm. 66]. S. 191.
77 Barthes. Tod des Autors [wie Anm. 66]. S. 192.
78 Benjamin. Begriff der Kunstkritik [wie Anm. 13]. S. 73.
114 Daniel Nachbaur
am Collège de France von 1977, gewinnt es, vermöge der eindringlichen Bild-
sprache, die für Barthes charakteristisch ist, an Plastizität.
3.3. Leçon
bloß auf die Subjektivität seiner eigenen Beobachterposition. Folglich ist sie ihm
ebenso unzugänglich als zutiefst bekannt. Die „Formulierung“, so Barthes also
weiter, nehme es auf sich, „ein Subjekt zu Gehör zu bringen, das hartnäckig ist
und zugleich nicht auszumachen, unbekannt und doch einer beunruhigenden
Vertrautheit gemäß erkannt“.84 Ebenso wie innerhalb der Theorie des ästheti-
schen Reflexionsmediums ist die poetische Mitteilung demnach als medial und
real, oder anders gesagt, als mittelbar und unmittelbar zugleich konzipiert. Der
fundamentale Gegensatz zum Denken der Romantik besteht nun allerdings in
der rein subjektiven Natur jener Unmittelbarkeit, darin, dass diese keinerlei tran-
szendentale Qualität mehr besitzt. Was für die Romantiker der Zusammenhang
der künstlerischen Reflexionen war, der sich in zyklischer Bewegung selbst ver-
deutlichen und durchdringen sollte, ist bei Barthes ein literarischer Diskurs, in
dem immer nur subjektive Rede laut wird, die in ein offenes Unendliches expan-
diert und so jede Konstitution von Bedeutung sogleich wieder konterkariert. Das
wird insbesondere deutlich, wenn Barthes die Praxis des literarischen Schreibens,
anstatt an die Metaphorik des kontinuierlich auszurollenden Formornaments, an
das Paradigma des Feuerwerks und des Festes knüpft und in diesem Zusammen-
hang auch die Symbolik der Maschinerie, die bereits in der „strukturalistischen
Tätigkeit“ erscheint, einer Multiplikation unterzieht: „[…] die Wörter werden
nicht mehr illusorischerweise als einfache Instrumente aufgefaßt, sie werden
hinausgeschleudert wie Projektionen, Explosionen, Vibrationen, Maschinerien,
Reize: die Schreibweise macht aus dem Wissen ein Fest.“85 Die einzelnen Kennt-
nisse bzw. Urteile über die Welt, die im Lichte subjektiver Formulierung aufschei-
nen und aus denen sich das literarische Medium konstituiert, sind – ähnlich wie
im Tod des Autors – blitzartig sich konstituierende Assoziationen und Folgerun-
gen, die im Schein nachfolgender Reflexion bereits verbrennen. Es handelt sich
also nicht eigentlich um Fragmente, deren Substanz sich – wie in der Konzeption
der Romantik – auf dem Niveau nachfolgender Reflexion vervollständigen ließe.
Literarische Praxis ist keine ruhige Genese, sondern ein subversives Geschehen,
das es ermöglicht, „die außerhalb der Macht stehende Sprache in dem Glanz einer
permanenten Revolution der Rede zu hören“.86 Diese grundlegende Divergenz
zur romantischen Ästhetik und Erkenntnistheorie gilt es nun unbedingt im Blick
zu behalten, wenn man Barthes’ Konzept einer Semiologie als Literaturkritik mit
dem romantischen Kritikverständnis abgleicht.
Im Folgenden geht Barthes’ Argumentation zu einem breiten Entwurf des
Bezugssystems über, das die Ebenen der Literatur sowie ihrer Kritik miteinander
vermittelt. Dazu werden drei konzeptionelle Begriffe ins Spiel gebracht, die die
zentralen inneren Triebkräfte des literarischen und literaturkritischen Diskurses
profilieren sollen: Mathesis, Mimesis und Semiosis. Fasst Barthes die Hybridi-
tät der literarischen Schreibweise, ihre Tendenz also, möglichst viele Formen
des Wissens in sich zur Sprache zu bringen, mit dem Begriff der „Mathesis“,
so bezeichnet er die (prinzipiell aussichtslose) Aspiration, die ihm zufolge die
84 Ebd.
85 Ebd. S. 29f.
86 Ebd. S. 23.
Die Poesiemaschine 117
Ein Schriftsteller […] muß die Hartnäckigkeit des Spähers haben, der sich am
Kreuzungspunkt aller anderen Diskurse befindet, in trivialer Position im Verhält-
nis zur Reinheit der Doktrinen (trivialis ist etymologisch das Attribut der Prosti-
tuierten, die an der Kreuzung dreier Wege wartet).90
Jene Immobilität bedroht den privilegierten Ort des Schriftstellers jenseits der
behauptenden und exkludierenden Sprache insofern, als sie die Ausbildung
thematisch und strukturell kalkulierbarer Reflexionssysteme nach sich zieht,
die als solche von der offiziellen Kultur objektiviert, reproduziert und früher
oder später ins System der Gesinnungen einverleibt werden können wie jede
andere Redeweise auch: „Die Utopie verschont natürlich nicht von der Macht:
die Utopie der Sprache wird zurückgewonnen als Sprache der Utopie – die ein
Genre ist wie jedes andere.“91 So sieht der Schreibende sich genötigt, sein the-
matisches Beobachtungsspektrum immer wieder stoßweise zu erweitern und
87 Ebd. S. 25.
88 Ebd. S. 31.
89 Ebd. S. 41.
90 Ebd. S. 39. Deutlich begegnet hier im Begriff des Trivialen, der in Barthes’ Aus
legung das Wortfeld des Unreinen und der Erotik konnotiert, wieder die Vorstellung
von der prosaischen Form des romantischen Romans, die seine Hybridität bedingt.
91 Ebd. S. 37.
118 Daniel Nachbaur
Die Semiologie wäre dann jene Arbeit, die das Unreine der Sprache sammelt, den
Abfall der Linguistik, die unmittelbare Korrumpiertheit der Botschaft: nichts
Geringeres als die Begierden, Ängste, Mienen, Einschüchterungen, Vorgaben,
Zärtlichkeiten, Proteste, Entschuldigungen, Aggressionen, die Musik, aus denen
die aktive Sprache besteht.94
In dieser Miniaturarbeit reaktiviert sie die Polyvalenz des Textes und macht ihn
damit transparent auf seine intertextuellen Bezüge. So trübt sie die vermeint-
liche Klarheit, die über das Werk hergestellt wurde, konsequent ein. Die Uto-
pie der Literatur, die Unendlichkeit des Sinns, respektive das Reale zur Dar-
stellung zu bringen, bleibt dadurch intakt. In diesem Sinne postuliert Barthes
zwischen dem literarischen Text und der Semiologie ein Verhältnis, das bis in
die Metaphorik hinein jener Allianz entspricht, die Benjamin zwischen dem
romantischen Kunstwerk und seiner Kritik konstatiert. Wirkt laut Benjamin
die reflexive Konstruktion des Werks als ein „Sturm, der den Vorhang vor der
transzendentalen Ordnung der Kunst aufhebt“95, sodass der Blick des Kritikers
den Zusammenhang zwischen dem begrenzten Artefakt und der grenzenlosen
Ganzheit der Kunst herstellen kann, so hebt laut Barthes der literarische Diskurs
infolge seiner Polyphonie „leicht und flüchtig den Mantel an aus Allgemein-
heit, Moralität, In-differenz (trennen wir deutlich das Präfix vom Stamm), der
über unserem kollektiven Diskurs liegt“.96 Dadurch eröffnet er dem Semiolo-
gen, dem der Text „als eigentlicher Index der Machtentblößung“97 erscheint, das
unendliche Feld von Bedeutung, jenseits der offiziellen, konformistischen Kul-
tur. Außerdem unterhalten Literatur und Semiologie ähnlich wie die romanti-
sche Kunst und Kunstkritik ebenfalls eine symbiotische Relation, wenn diese
auch nicht eigentlich als komplementär, sondern eher als „korrektiv“98 begriffen
wird. Einerseits werde die Semiologie, indem sie sich mit den hochkomplexen
92 Ebd. S. 39.
93 Ebd. S. 53.
94 Ebd. S. 47.
95 Benjamin. Begriff der Kunstkritik [wie Anm. 13]. S. 86.
96 Barthes. Leçon [wie Anm. 1]. S. 51.
97 Ebd.
98 Ebd.
Die Poesiemaschine 119
Ich wünsche also, dass Sprechen und Zuhören, die sich hier miteinander verflech-
ten, dem Hin und Her eines Kindes glichen, das in der Nähe der Mutter spielt,
sich von ihr entfernt, dann zu ihr zurückkehrt, um ihr einen Stein oder einen
Wollfaden zu bringen, so rings um ein friedliches Zentrum einen Spielraum schaf-
fend, innerhalb dessen der Stein oder der Wollfaden letztlich weniger bedeuten als
das von Eifer erfüllte Geschenk, das daraus gemacht wird.104
4. Schlussbemerkung
Zwischen den theoretischen Konzepten Barthes’ und jenen der Romantiker
bzw. Walter Benjamins mussten im Rahmen dieses Vergleichs selbstverständlich
viele wesentliche Berührungspunkte unberücksichtigt bleiben. So unter ande-
rem die Ähnlichkeiten zwischen Barthes’ Utopie einer außerhalb der Macht
stehenden Sprache und dem romantischen Projekt einer ästhetischen Revolu-
tion oder die Verwandtschaften zwischen Barthes’ Mythologiekritik und Schle-
gels Entwurf einer „neuen Mythologie“. Auf diesen fraglos hochinteressanten
Problemfeldern wäre die ideologiekritische und sozialpolitische Stoßrichtung
insbesondere der romantischen Theorie mit Sicherheit noch unmittelbarer
hervorgetreten als vermittels der Gegenüberstellung von Benjamins formalis-
tischer Interpretation der romantischen Kritiktheorie und Barthes’ Kulturse-
miologie. Dennoch sollte die Auseinandersetzung mit – teilweise gewiss sub-
tilen – epistemologischen Fragestellungen, wie sie hier im Vordergrund stand,
keineswegs als eine Beschäftigung mit „abseitigen“ Sophismen ohne eigentliche
gesellschaftliche Relevanz abqualifiziert werden. Vielmehr ist die Frage, wie das
Verfahren der Reflexion erkenntnistheoretisch konzeptioniert und praktiziert
wird, für die kulturwissenschaftliche Forschung nach wie vor von eminentem
Interesse. Eine Wortmeldung des Schweizer Literaturwissenschaftlers Peter von
Matt, die jüngst im Rahmen seines Essaybandes Das Kalb vor der Gotthardpost.
Zur Literatur und Politik der Schweiz106 abgedruckt wurde, mag das verdeut
lichen. Matt geht der Frage nach, wie ein Land wie die Schweiz seine nationale
Selbstverständigung unter den Bedingungen einer postheroischen Gesellschaft,
die den vaterländischen Diskurs verabschiedet und die nationale Ikonographie
demontiert hat, reorganisiert. Dabei nimmt er ausdrücklich auf das Schema pro-
gressiver Reflexion Bezug, wenn er unter anderem zu dem Ergebnis gelangt, dass
die multiple Spiegelung der überkommenen Symbolik durchaus das Potential
habe, die alte Galerie der Helden zu ersetzen:
106 Peter von Matt. Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der
Schweiz. München: Hanser, 2012.
107 Ebd. S. 111.
108 Ebd. S. 113.
109 Ebd.
122 Daniel Nachbaur
zwischen Einst und Heute: „Diese ganze Bewegung, die noch keinen Namen
hat, arbeitet mit Lust und Schöpferkraft am beschädigten Gedächtnis des Lan-
des. Ihre Vertiefung ins Innere und Einstige […] ist unabdingbar für einen ebenso
schöpferischen und selbstgewissen Aufbruch ins Äußere und Kommende“.110
Eine zeitgemäße Kulturwissenschaft bedarf demnach einer doppelten Strategie:
Sie benötigt einerseits die Courage, die Kultur als ein diskontinuierliches Feld
aus Widersprüchen und Konflikten zu deuten sowie die sinnproduktive Kraft
kulturhistorischer Reflexion zu akzentuieren. Damit gibt sie den Blick frei auf
die ideologische Verfasstheit der wissenschaftlichen Analyse. Andererseits muss
sie es aber auch verstehen, die divergierenden Deutungen der kulturellen Wirk-
lichkeit systematisch aufeinander zu beziehen, sie also in methodische Grad-
netze zu integrieren und so als ein kontinuierliches Ganzes ins Auge zu fassen.
Nur auf diese Weise kann sie kulturelle Inhalte weitervermitteln und damit die
Basis schaffen für Verständigung, Austausch und damit Innovationen. Von der
bei Benjamin dargestellten medialen Reflexionstheorie der Romantik wird sie
daher gleichermaßen profitieren wie von Barthes’ aschematischer Semiologie.
Das Ergänzungsverhältnis dieser beiden epistemologischen Konzepte sichtbar
zu machen, war das Anliegen dieses Beitrags.