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CONRAD-MARTIUS, Hedwig - Die Transzendentale Und Die Ontologische Phanomenologie

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Hedwig Conrad-Martius

DIE TRANSZENDENTALE UND DIE ONTOLOGISCHE


PHÄNOMENOLOGIE

Es ist wohl eine einzigartige geistesgeschichtliche Situation, daß


von einem großen philosophischen Meister nicht nur die
verschiedensten, ja fast einander entgegengesetzten
philosophischen Bewegungen ausgegangen sind, deren Vertreter
sich alle auf diesen Meister als ihren ursprünglichen Lehrer
berufen, sondern daß diese Bewegungen je für sich selber ein
noch Garnichts zu übersehendes Ausmaß an
geistesgeschichtlichem Gewicht gewonnen haben. Schon hieran
sieht man, daß es sich hier und dort nicht um ein bloßes
Missverstehen der originären Lehre handelt, die aus sachlicher
Unzulänglichkeit stammte. Das hat es immer gegeben. Die
unmittelbaren Schüler bedeutender Lehrer sind oft die
schlechtesten Repräsentanten der betreffenden Lehre geworden.
Nein, wir haben drei Strömungen, die einen einzigen Ursprung
besitzen, und von denen doch jede einzelne eine in ihrer Art
großartige und in sich geschlossene philosophische
Gesamtkonzeption vorstellt. Ich spreche von den drei bekannten,
von Husserl ausgegangenen Richtungen: der transzendental-
philosophischen, deren Hauptvertreter Eugen Fink und Ludwig
Landgrebe waren und sind; der sog. München-Göttinger Schule,
zur ich mit vielen anderen gehöre; und von der
Existenzphilosophie Heideggers. Es ist nicht zu bezweifeln, daß
die an erster Stelle Genannten die wahre philosophische
Intention von Husserls gewaltigem Werk im ureigentlichen Sinne
verstanden und fortgeführt haben. Von Heideggers Ruf und
Ruhm ist hier nicht zu sprechen. Heidegger und die große sich
an ihn anschließende Bewegung hat sich schließlich, wenn auch
nicht anfänglich, am weitesten von Husserls Intentionen entfernt.
Uber die Göttinger Schule lesen wir immer wieder, daß sie nur
einzelne von [175] den Hauptmotiven ihres Meisters
aufgenommen und außerdem — weitgehend missverstanden
habe (die sogen. Wesensschau, die Evidenz, das „Zurück zu den
Sachen”, die Abwehr jeder Art von Psychologismus u.a.) und
daß sie daher nicht eigentlich als eine historisch bedeutsame
Gruppe in der wahren Nachfolgerschaft Husserls genannt
werden könne. Es kommt hier äußerlich hinzu, daß die
Göttinger Bewegung, die in ausgesprochenstem Maße
eine ,,Schule”” während Husserls Lehrtätigkeit in Göttingen
bildete, durch den ersten Weltkrieg, Husserls Berufung nach
Freiburg, und schließlich — nach seinem Tode — den zweiten
Weltkrieg mit allen politischen Voraussetzungen und Folgen
völlig auseinandergerissen und dezimiert wurde. Jedenfalls
verschwand sie in Deutschland von der Oberfläche der
Öffentlichkeit. In Freiburg hat sich keine eigentliche Schule
mehr gebildet. In den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens
vereinsamte Husserl mehr und mehr, von einzelnen, zum Teil
schon genannten Repräsentanten und Schülern abgesehen.
Husserl spricht am Schluß seines Nachworts zu den Ideen
I, das erst 1930 veröffentlicht worden ist1 von „dem unendlich
offenen Land der wahren Philosophie”, dem ,,Gelobten Land”,
das er ausgebreitet vor sich liegen sehe und wohl selbst nicht
mehr als schon durchkultiviertes erleben werde. Er meinte hier-
mit selbstverständlich die von ihm mit immer tieferer
Erschütterung entdeckte transzendentale Phänomenologie, durch
die auf Grund der transzendentalen Reduktion der gesamte
Sinn- und Geltungsbereich alles und jeden Seienden in seiner
ursprungshaften Konstitution erklärt werde. Merkwürdigerweise
ist uns Göttinger Phänomenologie, die wir nichts weniger als
transzendentale Phänomenologie waren, die von Husserl
ebenfalls entdeckte, aber von ihm weitaus geringer bewertete
rein-eidetische ontologische Phänomenologie (Wesensforschung)
ebenfalls immer wie ein unendlich offenes, ja — philosophisch
gedacht — „gelobtes Land” erschienen. Und erscheint sie so
heute noch, nicht nur den Wenigen, die aus jener Zeit
übriggeblieben sind, sondern auch all denjenigen, denen
plötzlich ,,der phänomenologische Star gestochen ist”. Die auf
solche Weise in den Blick tretende Phänomenologie scheint
1
Im Jahrbuch für Philos. u. phänomenolog. Forschung.
nichts, aber auch Garnichts mit der Husserlschen
Transzendentalphilosophie zu tun zu haben. Was ihre letzte [176]
Philosophische Zielrichtung betrifft, erscheint sie als ihr direktes
Gegenteil. Für Husserl bildete das „Zurück” in die
letztkonstituierenden Ursprungsgründe des transzendentalen
Bewusstseins, das ,,Zurück” also in die ,,absolute Subjektivität”,
das Zentrum einer alles klärenden und begründenden prima
philosophia. Für uns bedeutete und bedeutet das, wie es scheint,
vollkommen entgegengesetzte ,,Hin zu den Sachen selbst” den
Durchbruch zu einer völlig neuen und endgültigen
philosophischen Grundeinstellung und mit ihr die Erlösung von
allen kritizistischen, erkenntnistheoretischen, psychologistischen,
historistischen und sonstigen durch Traditionen festgelegten
Vorurteilen, ja die Erlösung von allem Vor-geurteilten
schlechthin. Husserl selber betont zwar oft, daß der wahre
Philosoph ein „Anfänger”” sein und bleiben müsse, weil er
immer wieder die ,,Sache”, um deren Klärung es geht, mit
eigenen Augen zu sehen verpflichtet ist und sich in seiner
Wesensdeutung derselben nicht auf irgendeine eigene oder
fremde vorgefasste Meinung verlassen darf. Von ihm stammt
also diese Devise: ,,Zu den Sachen selbst!” Ist und bleibt es aber
nicht eine vollkommen gegensätzliche Intention, einerseits zu
letzter transzendentaler Subjektivität zurückzuführen,
andererseits an jeder Seins stelle und im Ganzen des Seins
selber zu höchster, nicht überbietbarer, weil wesensgegründeter
Objektivität hinaufzuführen? Doch müssen hier irgendwelche
Interpretationsirrtümer auf einer der beiden oder allen beiden
Seiten obwalten — sonst konnten wir alle, Transzendentalsten
wie Ontologen, nicht dennoch Phänomenologie sein. Man hat
es oft so auffassen wollen, als ob es sich einfach um
verschiedene Phasen in Husserls eigener Philosophie handelte.
In der Tat: Schon der 2. Band der Logischen Untersuchungen,
erst recht aber die Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie erschienen uns unmittelbaren
Schiilern als eine unverständliche Riickkehr Husserls zum
Transzendentalismus, Subjektivismus, wenn nicht gar
Psychologismus. Wir waren so hingerissen vom Husserlschen
Durchbruch zur reinen Objektivität und Sachlichkeit, daß unsere
damaligen Seminare in einem fast bestindigen, von unserer
Seite her oppositionellen Disput mit dem großen Lehrer
bestanden. Was von uns in so negativer Weise bewertet wurde,
wurde auf der Seite des kritischen Idealismus (Neukantianismus,
Rickertschule usw.) durchaus positiv bewertet. [177] Endlich
schien Husserl den Eingang zu einer wahren erkenntniskritischen
Philosophie gefunden zu haben. Allerdings wurden die letzteren
verwirrt durch die anscheinenden Reste von Ontologismus und
Intuitionismus, welche ,,Reste” uns gerade die Hand des
Meisters wieder mit Freude spüren ließen. Gab es doch keinen
Satz in seinen mündlichen und schriftlichen Ausführungen, der
nicht aus voller Evidenz wahrer, anschaulicher
Selbstgegebenheit zu fließen und jede bloße Konstruktion
sorgfältig zu vermeiden schien. In seinen späteren Freiburger
Jahren verloren viele von uns, schicksalsmäßig gezwungen,
Husserl aus den Augen. Jedenfalls ging es mir so. Aber es kam
bei mir - und wohl auch bei anderen —hinzu, daß ich bei einem
gelegentlichen Zusammentreffen mit Husserl gegenüber dem
immer tieferen Ausbau und der immer reineren Begründung von
Husserls Transzendentalismus immer ratloser wurde. Es erschien
mir wie eine Spekulation, die ihn ständig mehr umgarnte und
gerade das verloren hatte, was uns alten Phänomenologie das
philosophisch Teuerste war: die radikale Sachlichkeit, um
welche Gebiete es sich immer handeln mochte, das unbeirrbare,
stets neue Anfangen angesichts irgendeiner aufgegriffenen
Problematik. Mein eigenes Philosophieren wandte sich dabei
immer intensiver einer Thematik zu, die mich vom Anfang
meines selbstindigenen Philosophierens her gefangen genommen
hatte: der Wesensfrage nach dem realen Sein als solchen, im
speziellen der Natur. Natürlich hielt ich mich dabei streng im
Rahmen der Wesensforschung. Was ist überhaupt Realität? Was
ist das Wesen von Natur? Was folgt wesensmäßig daraus, wenn
empirische Welt und empirische Natur mit allen ihren möglichen
Beständen als real vorhandene angesetzt werden?
War es aber nicht gerade diese Realität, die in Husserls
berühmter Reduktion eingeklammert werden sollte? Gewiss
nicht negiert oder auch nur bezweifelt. Husserl hat niemals an
der Realität von Welt, Natur, ja Uber Natur gezweifelt. Aber
innerhalb des unter stets neuen Aspekten durchforschten
gewaltigen Gebiets der wie auch immer noetisch - Noema tisch
dahinströmenden intentionalen Sinnfülle des Bewusstseins mit
ihren unendlich vielen Schichtungen, Implikationen und
Einwurzelungen sollte die Frage, ob dieses Noema tische Welt
auch wirklich wirklich ist, völlig dahingestellt bleiben. Dabei
sollte es sich um das [178] ,,wirkliche” Sein in jeder Beziehung,
nicht nur um das reale der konkreten empirischen Natur handeln.
Das Wort Epoche drückt das hierbei Gemeinte am besten aus. Es
handelte sich nicht um eine erkenntnistheoretische Frage oder
gar Behauptung. Es handelte sich auch nicht, wie ich lange
gedacht habe, um eine thematisch-phänomenologische
Einengung: so, als ginge es eben bei Husserl allein um die
Wesensdurchforschung des Bewusstseins in allen seinen
möglichen Bezügen, während die reale oder auch in sonstigem
Sinn seiende Welt ausgeschaltet bleibt. Denn in der universalen
Sinnverflechtung und Sinneinheit des Bewusstseins Stromes
liegt ja doch das Seiend-Sein der Welt mit darin. Etwas für
wirklich zu halten, zu sehen, zu vermuten, an die Wirklichkeit
zu glauben, sei es bewusst oder unbewusst, sei es in schlichter
Lebenshaltung oder wissenschaftlicher Abstraktion, sind selber
Vermeintheiten, sind Noemata mit ihrem je eigensten Sinn. Wie
sollte das Noema des Seiend-seins nicht zum Gesamtsinn des
absoluten Bewusstseins gehören? Wie ist es möglich, den
Verzicht auf das vielgestaltige Seins Noema zur Voraussetzung
einer universalen phänomenologischen Philosophie zu machen?
Es geschah das auch keineswegs. Die Husserlsche
Urteilsenthaltung (Epoche) bezieht sich nicht auf die zu
irgendeinem Noema tischen Sinn gehörigen Seins vermeint Heit.
Sie bezieht sich nur darauf, ob solcher wie auch immer
gestalteten Seins vermeint Heit ein wirkliches Sein, eine
wirkliche Wirklichkeit entspricht. Es ist nicht möglich, die
eigentümliche Problematik anders als in terminologischer
Verdoppelung des Ausdrucks zu kennzeichnen: ,,wirkliche
Wirklichkeit”’! Husserl benutzt sie öfter, wenn auch nicht in
explizit geklärter Weise. In meinen eigenen ontologischen
Wesensanalysen habe ich sie seit langem eingeführt. Ihre
sprachliche Notwendigkeit ergibt sich aus dem Mangel an immer
neu differenzierenden Kategorien. In unserem Fall geht es um
die, Wirklichkeit” als einen Noema tischen Bestand einerseits,
um die Bewusstseins transzendente Wirklichkeit des
noematischen Wirklichkeitsmomentes andererseits. Das letztere
ist eben die wirkliche Wirklichkeit. Sie kann niemals zum
noematisch-phänomenalen Gesamtbestand der Welt gehören,
weil es sich in ihr um das faktische ,,Auf-sich-selber-Stehen”
oder um das serienmäßige ,,In-sich-selber-Gegründet-sein” [179]
der Welt und aller ihrer Bestände handelt. Hierin liegt die
wirkliche Wirklichkeit der Welt, mag es sie faktisch geben oder
nicht. Bei Husserl kommt das merkwürdigerweise nirgends klar
zum Ausdruck. Aber ich glaube nicht, daß man das hier liegende
Problem anders lösen kann als dadurch, daß man das Wesen von
Realität (wirklicher Wirklichkeit) als solcher in den Blick
bekommt. Husserl sagt oft mit Nachdruck, daß ein
bewusstseinsunabhängiges Sein und Seiendes einen Nonsens
darstelle. Das ist gewiss wahr, solange es um Sein und Seiendes
geht, das zum noematischen Bewusstseins bestände, selber
gehört. Ja, dann ist es eigentlich eine Tautologie. So wie die
Bewusstseins Unabhängigkeit eines seins mäßig in sich selbst
Gegründeten —wesensmäßig! —eine Selbstverständlichkeit ist.
Etwas ganz anderes aber ist hier und dort die Frage, ob es eine
auf sich selber stehende Realität, die als solche eines
Bewusstseins transzendente Realität ist, wirklich gibt. Diese
erkenntnistheoretische Frage, ob dem noematischen Sein ein
faktisches Sein entspricht, wurde von Husserl ganz auf die Seite
geschoben. Es ging ihm fast ausschließlich um die
wesensmäßige Durchforschung des riesenhaften Gebietes
sinnhaft geeinter, sich wechselseitig begründender und aus
letzten originären, deshalb absolut evidenten Gegebenheiten, das
universale Phänomen ,,Welt” konstituierenden Intentionalität
selbst.
Es scheint mir, daß der ebenfalls benutzte
Ausdruck ,,Reduktion” (anstatt Epoche) die transzendentale
Stellung Husserls noch viel stärker zum Ausdruck bringt: Die
Welt wird als eine von jeder Seins Setzung reduzierte gesehen.
Das ist um eine Nuance mehr als Enthaltung von allen Urteilen
über Sein und Nicht- sein. Im Fall der Epoche bleibt die Welt
innerhalbihrer universalen Gegebenheitsweise genau dieselbe,
die sie vorher war, während sie durch die Reduktion zu einem
Weltphänomen wird — ganz abgesehen davon, ob ihr faktisch
eine Wirklichkeitswelt entspricht oder nicht. Man kann aber von
der Epoche aus einem ganz anderen, entgegengesetzten Weg
gehen. Es wird in diesem Fall die Welt mit allen ihren Beständen
als hypothetisch seiende angesetzt. Auch hier ist
Urteilsenthaltung geübt. Auch hier wird über Sein und Nichtsein
in keiner Weise entschieden. Auch hier bleibt die
erkenntnistheoretische Frage außer Betracht. Aber anstatt das
wirkliche Sein hypothetisch einzuklammern und dadurch die
Welt (in der Reduktion) der wirklichen Wirklichkeit [180]
enthoben zu sehen, wird nunmehr das wirkliche Sein der Welt
hypothetisch gesetzt und sie dadurch mit der selbsthaften
eingesenkt Heit ins Sein vorgestellt. Wenn wir aber in solcher
Weise zwar Epoche, aber nicht Reduktion üben, so ergibt sich
die schon erwähnte folgenreiche Frage in Bezug auf alles
empirisch Gegebene: was folgt daraus für die nähere ontische
Konstitution der zunächst durch die Epoche nur phänomenal
gegebenen Welt? Das ist kein einfach zu beantwortender,
ebenfalls universaler Fragekomplex. Es lässt sich zeigen, daß
eine empirische Natur in wirklicher Wirklichkeit Garnichts
bestehen kann ohne ontische Selbstverwurzelung in einer über-
und unterphysischen Potenzialitätssphäre, in der die aktuelle
Welt vorgegeben ist. Der Raum, um ein anderes, mir im
Augenblick naheliegendes Beispiel zu nennen, so wie er uns in
unmittelbarer Lebensempirie gegeben ist, kann ebenfalls nicht
als seiend seiender bestehen ohne ontologische Zurückführung in
einen Unter- und Über Raum.
Das entscheidende Wort ist gefallen. Transzendentale und
ontologische Phänomenologie haben sich geschieden. Beide
haben es nur mit Wesensforschung zu tun. Beide stellen die
erkenntnistheoretische Frage beiseite, Üben Epoche in Bezug auf
die Faktizität der phänomenal gegebenen Wirklichkeit und
überhaupt alles Seienden. Beide behalten alles, was es gibt,
schlechthin alles, im Auge, ohne irgend etwas an thematischem
Gehalt abzuziehen. In beiden Fällen geht es nicht um einen
Gegensatz von Objektivität und Subjektivität, bzw. um einen
Gegensatz von Empirie und Transzendentalismus. Bei der
ontologischen Phänomenologie (Wesensforschung)
selbstverständlich nicht. Bei der transzendentalen
Phänomenologie hat diese irrtümliche Auffassung allezeit sehr
nahe gelegen. Dadurch gerade wurden Husserls Intentionen
völlig verfälscht. Fink erwähnt in seinem ausgezeichnet
orientierenden Artikel Die Phänomenologie Husserls in der
gegenwärtigen Kritik2, daß die Husserlsche Phänomenologie
unter dem Gegensatz von ,,mundan” und ,,transzendental” stehe,
nicht wie die kritische Philosophie unter dem Gegensatz von
„empirisch“ [181] und ,,transzendental”’, erst recht nicht unter
dem Gegensatz von „objektiv” und ,,subjektiv”. Für Husserl
gebe es eine notwendige Bezogenheit auf eine ,,innerweltliche”,
sei es auch apriorisch subjektive Immanenz überhaupt nicht. Es
gibt für ihn nur eine Welt vor Gängigkeit der durch die
Reduktion überhaupt erst entdeckten und in einem völlig
neuen, ,,metaphysischen” Sinne zu nehmende Subjektivität.
„Welt” heißt hier alles: auch das Psychische in jeder Form, auch
die menschliche Person, auch die letzte positiv-wissenschaftlich
zu erreichen- de Subjektivität. Wir befinden uns vor dem
tiefsten, vor allem von uns ontologischen Phänomenologie fast
nie verstandenen Punkt des Husserlschen
Transzendentalismus. ,,Transzendental” im Sinne der
transzendentalen Kritik und ,,transzendental” im Sinne der
Husserlschen Phänomenologie haben völlig verschiedene
Bedeutungen. Die ganze physische und psychische, empirische
und ideale bzw. kategoriale Welt muss in der Husserlschen
Phänomenologie nach rückwärts ins — sei es individuell oder
gemeinschaftlich — Subjektive unterstiegen werden, um zu
dem geheimnisvollen ,,ego” zu gelangen, aus dessen lebendigem
,,Fungieren” die gesamte Seins- und Sinngeltung der Welt
schlechthin ableitbar ist. Deshalb heißt die Husserlsche
Philosophie: ,,Ursprungsphilosophie”. Wir können hinter dieses
ego nicht zurück. Es gibt für die in ihm liegenden Momente nicht
einmal ,,Namen”, da alle Namen aus einem Bewußtseinsfluß
stammen, in dem schon „Zeit’” konstituiert ist. Das ego aber ist
dasjenige, was alles und jedes, so auch die Zeit, allererst
konstituiert. Es selber ist also ,,zeitlos”3.

2
In den Kantstudien 1933, 38. Husserl sagte von diesem Finkschen Aufsatz, den er selber
noch redigierte und mit einem Vorwort versah, daß in ihm kein Satz sei, den er nicht
ausdrücklich als seine eigene Überzeugung anerkennen könne, Übrigens ist das beste
Belegstück für die nahe Übereinstimmung der Finkschen Ausführungen mit Husserls eigenen
Anschauungen die letzte große Arbeit Husserls: Die Krisis der europäischen Wissenschaften,
deren Hauptmanuskript 1035/36 entstand und als Bd. VI der Husserliana von W. Biemel
herausgegeben wurde (Haag 1954).
Ich habe die zwei großen, einander entgegengesetzten
Richtungen der Husserlschen Phänomenologie von der
Wegscheide der Epoche aus andeutend zu charakterisieren
versucht. Mehr als kürzeste Andeutungen kann ich natürlich hier
nicht geben. Aber eine wesentlichste Frage steht vor uns auf.
[182] Ist es denn möglich, daß die gesamte Sinn- und Seine
Geltung der in weitester Bedeutung genommenen Welt des
Seienden sowohl aus einer nach rückwärts nicht untersteigbarer
egologischer Subjektivität wie auch aus einer nach vorwärts
nicht übersteigbarer ontologischer Objektivität entspringen
kann? „Entspringen” nicht im theologischen, sondern im
philosophischen Sinne? Noch dazu, da beides den wohl zu
rechtfertigenden Anspruch erhebt, keinen Schritt ohne
Verifizierung in anschaulicher Evidenz zu tun. Widerspricht sich
beides nicht radikal? Ich glaube es nicht. Der gleiche Logos, der,
in denkbar universellstem Sinne gedacht, nach Wesen und Sein
die Welt durchwaltet, liegt mit gleicher Universalität auch in der
menschlichen Vernunft verborgen. Hier kann sich nichts
widersprechen, nur in wunderbarer Weise entsprechen. Das
Letztere ist die metaphysisch-egologische oder metaphysisch-
transzendentale ,,Objektivation” (Husserl) der Welt; das Erstere
ist die metaphysisch-ontologische oder metaphysisch-
transzendente Objektivation (Aktualisierung) derselben. Ich
spreche von einer ,,transzendenten“ Objektivation. Hier liegt
eine fundamentale Problematik, die zu Husserls Zeit kaum
schon in den philosophischen Blickbereich treten konnte.
Husserl kannte — wie seine ganze Zeit — nur die, klassische”
Welt empirischer Aktualität. Für ihn war diese aktuelle Welt
einfach empirisch gegeben. Sie ursprungsmäßig zu ,,hinter”-
steigen — es sei denn in einem außerphilosophischen Sprung
zu Gott hin —lag nicht innerhalb der Möglichkeit
wissenschaftlich philosophischer Problematik. Man kannte nur
den Rückgang ins Transzendentale. Heute ist die gesamte
3
Vgl. L. Landgrebe, ,,Husserls Phänomenologie”, Revue Internationale de Philosophie,
1938, den ein Jahr nach Husserls Tode erschienenen ergreifenden Gedenk- band für ihn.
Landgrebe weist hier mit Recht darauf hin, da Husserls Schrift Vorlesungen aber das innere
Zeitbewußisein, an deren Vorarbeiten er sofort nach dem Erscheinen der Logischen
Untersuchungen ging und die im Jahrb. f. Phil. w. Phän. Forschung, Bd. 9, 1928 von
Heidegger herausgegeben wurde, schon vieles vorgedeutet liegt, was seine endgültige
Transzendentalphilosophie später ausmachte. Und daß die wesentliche Vertiefung, die Husserl
damals dem Begriff der Intentionalität gab (als eines Leistungsbegriffs) von keinem
seiner ,,ontologischen“ Schüller verstanden wurde.
Sachlage völlig verändert. Die neue Physik hat Türen
aufgebrochen, die zu den weiten (real-) potenziellen
Begründungsbereichen der Welt führen. Auch für die
Kennzeichnung dieser ontischen (transphysischen)
Begründungsbereiche bedarf es neuer, nichtklassischer, vorläufig
noch ,,namenloser” Kategorien. Auf solche Weise können sich
erst ontologischer und transzendentaler Logos nach ihrem
universalen Umfang entsprechen.
Noch einmal: sowohl die transzendentale wie die
ontologische Phänomenologie stehen in der Haltung der
Epoche. Sie haben beide nichts mit einer Behauptung oder
Bezweiflung des Seins dieser Welt zu tun. Denn die wirkliche
Wirklichkeit kann niemals evident erkannt werden. Allerdings
gibt es hier eine wesentliche Ausnahme. [183] Das cartesische
cogito hat tatsächlich seine Seins Evidenz in sich selbst. Ich
kann nicht daran zweifeln, daß ich bin. Immer aber ist es
möglich, am wirklichen Wirklich sein der Welt oder ihrer
Bestände zu zweifeln. Diese erkenntnistheoretische Einsicht war
in der Tat der ursprüngliche Ausgangspunkt für Husserls
Transzendentalismus, weshalb er auch immer wieder auf
Descartes zurückkam. Daß es Husserl jedoch thematisch allein
mit der ursprungshaften Konstitution der Welt von der
subjektiven Vernunftseite her zu tun hatte, besitzt seinen Grund
wohl auch in diesem Tatbestand. Aber seine faktischen Analysen
waren dann doch niemals erkenntnistheoretisch orientierte,
sondern einzig und allein eidetisch durchgeführte. Im Grunde
war ihm die Erkenntnistheorie ebenso gleichgültig, wie sie uns
ontologischen Phänomenologie seit eh und je gleichgültig war.
Auch das hatten wir von unserm Meister gelernt.

München

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