EDMUND HUSSBRL
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ERSTE PHILOSOPHIE (1923/24)
Erster Teil
HUSSERLIANA
EDMUND HUSSERL
GESAMMELTE WERKE
BAND VII
ERSTE PHILOSOPHIE (1923/24)
Erster Teil
AUF GRUND DES NACHLASSES VERÖFFENTLICHT IN
GEMEINSCHAFT MIT DEM HUSSERL-ARCHIV AN DER
UNIVERSITÄT KÖLN VOM HUSSERL-ARCHIV (LOUVAIN)
UNTER LEITUNG VON
H. L. VAN BREDA
EDMUND HUSSERL
ERSTE PHILOSOPHIE (1923/24)
ERSTER TEIL
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE
HERAUSGEGEBEN
VON
RUDOLF BOEHM
Ouvrage pr£par£ sous les auspices du Conseil international
de la Philosophie et des Sciences Humaines et de la
F6d6ration internationale des Soci£t6s de Philosophie avec
l'aide de l’U.N.E.S.C.O.
HAAG
MARTINUS NIJHOFF
1956
£ °i
l\C, HSo
Copyright 1956 by Martinus Nijhoff, The Hague, Netherlands
All rights reserved, including the right to translate or to
reproduce this book or parts thereof in any form
PRINTED IN THE NETHERLANDS
INHALT
Einleitung des Herausgebers . xi
ERSTE PHILOSOPHIE (1923/24)
Erster Teil
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE
Erster Abschnitt : Von Platons Idee der Philosophie zu den An¬
fängen ihrer neuzeitlichen Verwirklichung bei Descartes 1). . . . 3
Erstes Kapitel: Die Idee der Philosophie und ihre geschichtliche
Herkunft. 3
1. Vorlesung: Über die geschichtliche Aufgabe, der Phäno¬
menologie die Entwicklungsgestalt einer Ersten Philoso¬
phie zu geben. 3
2. Vorlesung: Platons Dialektik und die Idee der philosophi¬
schen Wissenschaft. 11
Zweites Kapitel: Die Begründung der Logik und die Grenzen der
formal-apophantischen Analytik. 17
3. Vorlesung: Die aristotelisch-stoisch-traditionelle Logik der
Konsequenz oder Einstimmigkeit. 17
4. Vorlesung: Exkurs: Über die universale Logik der Konse¬
quenz als analytische Mathematik, die korrelative Behand¬
lungsweise der formalen Ontologie und das Problem einer
Logik der Wahrheit. 24
Drittes Kapitel: Die durch die sophistische Skepsis veranlaßten ersten
Besinnungen auf die erkennende Subjektivität. 31
5. Vorlesung: Die Entdeckung der Ideenerkenntnis und die
J) Dieser und sämtliche Titel der Abschnitte, Kapitel und Vorlesungen der Ersten
Philosophie, wie sie hier erscheint, stammen vom Herausgeber; ebenso zahlreiche der
Überschriften für die Ergänzenden Texte. Vgl. die Einleitung des Herausgebers,
S. XIV, sowie die Textkritischen Anmerkungen, besonders S. 420 und S. 441. Im Text
selbst wurden die nicht von Husserl selbst formulierten Titel in Keilklammern < >
gesetzt.
VI INHALT
griechischen Anfänge philosophischer, rationaler Wissen¬
schaften . 31
6. Vorlesung: Die in der Platonischen Idee der Dialektik
implizierte Forderung nach einer Theorie der Erkenntnis. 37
7. Vorlesung: Systematischer Entwurf der vollen Idee der
Logik — einer Logik der Wahrheit — als einer Wissen¬
schaft von der erkennend und überhaupt leistenden Sub¬
jektivität. 44
Viertes Kapitel: Die geschichtlichen Anfänge der Wissenschaft von
der Subjektivität. 51
8. Vorlesung: Aristoteles’ Begründung der Psychologie und
das Grundproblem einer Psychologie überhaupt. 51
9. Vorlesung: Der Skeptizismus — die grundsätzliche Be¬
deutung seiner „Unsterblichkeit” in der Geschichte der
Philosophie. Der entscheidende Schritt Descartes’ .... 58
10. Vorlesung: Die Cartesianischen Meditationen. 63
11. Vorlesung: Erster wirklicher Ausblick auf die Transzen¬
dentalwissenschaft. Übergang von den Cartesianischen Me¬
ditationen zu Locke. 70
Zweiter Abschnitt : Die Anfangsgründe des Versuches einer Ego-
logie bei Locke und ihre bleibende Problematik. 78
Erstes Kapitel: Die grundsätzliche Beschränkung von Lockes Ge¬
sichtskreis und ihre Gründe. 78
12. Vorlesung: Der naive Dogmatismus des Objektivismus. . 78
13. Vorlesung: Die empiristischen Vorurteile — der Psycholo¬
gismus in der Erkenntnistheorie. 87
14. Vorlesung: Die Vorbildlichkeit der neuzeitlichen Natur¬
wissenschaft als hemmendes Motiv für die Ausbildung einer
echten intuitionistischen Bewußtseinswissenschaft .... 93
Zweites Kapitel: Kritische Erschließung der in Lockes Forschungen
verborgenen echten und bleibenden Problematik.102
15. Vorlesung: Das Problem der Immanenz und der syntheti¬
schen Einheit im Bewußtsein. 102
16. Vorlesung: Die Irrealität der immanenten Gehalte der Be¬
wußtseinssynthesis in ihrer Ich-Gegenstand-Polarisierung
und das Problem der Intersubjektivität. Bemerkungen zu
Berkeleys Kritik an Locke.110
17. Vorlesung: Zur Frage der Konstitution der „Äußerlich¬
keit”: die cartesianische Evidenz der Selbstgegebenheit
der Dinge in der Wahrnehmung.116
Drittes Kapitel: Die Abstraktionstheorie des Empirismus als Index
seiner Verfehlung der Idee einer eidetischen Wissenschaft vom
reinen Bewußtsein.126
18. Vorlesung: Die Verkennung der intuitiven Selbstgegeben¬
heit der allgemeinen Wesenheiten. 126
INHALT VII
19. Vorlesung: Die Notwendigkeit der Extension der Idee der
Anschauung. 132
Dritter Abschnitt : Die Ausbildung skeptischer Vorformen der
Phänomenologie durch Berkeley und Hume und der dogmatische
Rationalismus.141
Erstes Kapitel: Von Locke zu Berkeleys radikaler Konsequenz einer
rein immanenten Philosophie. 141
20. Vorlesung: Die positive geschichtliche Bedeutung der Er¬
neuerung des Skeptizismus durch Locke und seine Nach¬
folger . 141
21. Vorlesung: Berkeleys Entdeckung und — naturalistische
Mißdeutung des Problems der Konstitution der realen Welt 148
22. Vorlesung: Berkeleys monadologischer Ansatz; Vergleich
mit Leibniz. Übergang zu Hume. 152
Zweites Kapitel: Humes Positivismus — die Vollendung des Skepti¬
zismus und zugleich der entscheidende vorbereitende Schritt zu
einer transzendentalen Grundwissenschaft. 157
23. Vorlesung: Humes nominalistische Reduktion aller Ideen
auf Impressionen und der Widersinn in diesem Prinzip. . 157
24. Vorlesung: Die notwendige Eidetik der Bewußtseinswis¬
senschaft und der induktiv-empirische Objektivismus bei
Hume. 166
25. Vorlesung: Das Konstitutionsproblem bei Hume — aber
sein Enden im vollkommenen Skeptizismus. 173
Drittes Kapitel: Rationalismus und Metaphysik der Neuzeit.... 182
26. Vorlesung: Die Grundzüge der positiv aufbauenden Linie
des neuzeitlichen Rationalismus und sein Dogmatismus . 182
a) Überblick über die durch den Mangel einer transzenden¬
talen Grundwissenschaft beeinträchtigte Vorbereitung
einer zukünftigen echten Metaphysik ........ 182
b) Kritische Bemerkungen über das regressive Verfahren
in den rationalistischen Konstruktionen seit dem Okka¬
sionalismus. Die Aufgabe progressiver Forschung . . . 188
27. Vorlesung: Über Metaphysik und Erkenntnistheorie. Die
Bedeutung der Monadologie Leibniz’ und der Vemunft-
kritik Kants. 191
ERGÄNZENDE TEXTE
A. Abhandlungen.203
Die Idee einer philosophischen Kultur. Ihr erstes Aufkeimen in der
griechischen Philosophie (1922/23) *). 203
J) Zu diesem und den ferner im Inhaltsverzeichnis für die Ergänzenden Texte ange¬
gebenen Entstehungsdaten sind des näheren die Ausführungen zu Beginn der Text¬
kritischen Anmerkungen zu einem jeden der Texte zu vergleichen.
VIII INHALT
Kants kopernikanische Umdrehung und der Sinn einer solchen ko-
pemikanischen Wendung überhaupt (1924). 208
Kant und die Idee der Transzendentalphilosophie (1924). 230
Vorwort. 230
Kant und die Idee der Transzendentalphilosophie ...... 239
I. Die Revolution der natürlichen Denkungsart. 240
II. Die Selbstverständlichkeiten der Welt und das Bewußt¬
seinsleben . 243
III. Die Erschließung des Reiches der transzendentalen Er¬
fahrung . 248
a) Das reine subjektive und intersubjektive Bewußtsein 248
b) Transzendentale Wesensforschung und transzenden¬
tale Tatsachen Wissenschaft. 256
c) Natürliche und transzendentale Reflexion und der
Untergrund der Intentionalität. 259
d) Natürliche Reflexion und das Unzureichende psycho¬
logischer Reduktion. 267
IV. Der Sinn des „In-Frage-stellens” der Welt. 270
V. Die Rechtfertigung des transzendentalen „Idealismus”:
seine systematische wissenschaftliche Durchführung. . 277
VI. Kants Entwurf eines ersten Systems wissenschaftlicher
Transzendentalphilosophie. 280
VII. Die geschichtliche Entwicklung der Transzendental¬
philosophie und ihre praktische Bedeutung. 282
VIII. Der Sinn einer Nachfolge Kants. 284
Problem einer nicht historischen sondern idealen Genesis der Idee
strenger Wissenschaft (1925). 288
B. Beilagen.298
Beilage I: Inhaltsübersicht, zusammengestellt von Ludwig Land¬
grebe (1924). 298
„ II: Zur Installierung der Idee der Philosophie (1910/11) . 305
„ III: Definitionen der Philosophie (1910/11).310
„ IV: Die universalistische Tendenz des theoretischen Inter¬
esses und der Anfang der Philosophie (1910, 1924) . 311
,, V: Bemerkungen zum Entwicklungszug von Parmenides
über Platon (1923). 315
,, VI: Probleme, die der Philosophie durch ihre griechische
Urkonzeption aufgegeben sind (1926). 316
,, VII: Platon und die Begründung der Ideenmathematik
(1924). 327
,, VIII: Notizen zur Lehre des Plotin (1913).328
,, IX: Der Cusaner über Wesensschau (1923). 329
,, X: Descartes und die Skepsis (1920). 330
,, XI: Ein schwieriger Punkt der Kritik Descartes’ (1923). . 335
INHALT IX
Beilage XII: Wege und Irrwege der neuzeitlichen Egologie von Des-
cartes bis Hu me (1923). 343
,, XIII: Über die Bedeutung Descartes’, Lockes, Leibniz’ und
Brentanos für die Entwicklung der Phänomenologie
(1926). 349
,, XIV: Grundsatz Humes (1916).350
,, XV: Hume und Kant. Einwände gegen Kants Problem der
synthetischen Urteile a priori und gegen das Schema
seiner Lösung (1903). 350
„ XVI: Gegen Kants anthropologische Theorie (1908). . . . 357
,, XVII: Kants Begriff des Faktums (der Tatsache) (1908). . . 365
,, XVIII: Zur Kritik Kants und Leibniz’(1924) .. x ... . 365
,, XIX: Hat Kant wirklich das Grundproblem der Erkenntnis¬
kritik getroffen ?(1908).377
,, XX: Zur Auseinandersetzung meiner transzendentalen
Phänomenologie mit Kants Transzendentalphiloso¬
phie (1908). 381
,, XXI: Kant und die Philosophie des Deutschen Idealismus
(1915).395
,, XXII: Exzerpte und Notizen zur nachkantischen Philosophie
(1914).408
TEXTKRITISCHER ANHANG
Textkritische Anmerkungen.415
Vorbemerkung .415
Textkritische Anmerkungen zum Haupttext.418
Textkritische Anmerkungen zu den Ergänzenden Texten. . . 438
A. Abhandlungen.438
B. ^eilagen.451
Nachweis der Originalseiten.465
Namenregister.467
Zwischen S. 416 und S. 417 finden sich Reproduktionen von Original¬
seiten aus den dieser Ausgabe zugrundeliegenden Manuskripten Husserls.
Erläuterungen zu den Reproduktionen S. 417.
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
Aus der Zeit zwischen dem Erscheinen des Buches I der Ideen
zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso¬
phie * * 3 4 S. *) (1913) und der Ausarbeitung der Formalen und transzen¬
dentalen Logik 2) Ende 1928 fehlt bislang der Öffentlichkeit jedes
belangreiche Zeugnis der Arbeit Husserls. Er selbst hat in dieser
Periode nur einige kleinere Abhandlungen dem Druck über¬
geben, die zudem an entlegener und teilweise für Abendländer
sogar unzugänglicher Stelle erschienen und so denn auch fast
unbekannt blieben 3). Die editorische Arbeit des Husserl-Archivs
ihrerseits mußte zunächst darauf abgestellt sein, die von Husserl
ursprünglich bereits zur Veröffentlichung bestimmten und im
Hinblick auf sie vorbereiteten Werke zugänglich zu machen 4);
auch nicht eines von ihnen entstand in der bezeichneten Periode.
Freilich stammt „die späteste und vollkommenste Ausarbeitung”
der unterdes herausgegebenen Bücher II und III der Ideen aus
den Jahren 1924/25, und auf diese Ausarbeitung stützt sich auch
die Edition in den Husserliana; aber weit ältere Texte liegen ihr
letztlich zugrunde 8). Dergleichen Verweise auf die Arbeit
*) Zuerst im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, hrsg. von
Edmund Husserl, Bd. I und separat, bei Max Niemeyer, Halle (Saale), 1913; 2. und
3. unveränderte Auflage 1922 und 1928; neue, auf Grund der handschriftlichen Zu¬
sätze des Verf. erweiterte Auflage hrsg. von Walter Biemel, Husserliana Bd. III, bei
Martinus Nijhoff, Den Haag, 1950.
а) J. /. Phil. u. phän. F., Bd. X und separat, bei Max Niemeyer, Halle (Saale), 1929.
*) Die Idee einer philosophischen Kultur, in Japanisch-deutsche Zeitschrift für Wis¬
senschaft und Technik, Bd. I, Heft 2, Lübeck, 1923; siehe im vorliegenden Bde.
S. 203 ff. und vgl. Anmerkungen dazu im Textkritischen Anhang. — Erneuerung. Ihr
Problem und ihre Methode, in der japanischen Zeitschrift The Kaizo, Tokio, 1923,
Heft 3, S. 92 ff. (auf deutsch); 1924, Heft 2, S. 116 ff. (auf japanisch); 1924, Sonder¬
heft (April), S. 31 ff. (auf japanisch).
*) Über die Tätigkeit des Archivs vgl. jetzt H. L. Van Breda und R. Boehm, Aus
dem Husserl-Archiv zu Löwen, im Philos. J. d. Görres-Ges., LXII (1953), S. 241 ff.;
derselbe Artikel auf frz., Les Archives Husserl d Louvain, in Les Etudes Philosophiques,
Nouvelle Serie IX (1954), S. 3 ff.
б) Ideen usw., Zweites und Drittes Buch, hrsg. von Marly Biemel, Husserliana
Bde. IV und V, bei Martinus Nijhoff, Den Haag, 1952; vgl. besonders die Einleitung
des Hrsg, in Bd. IV.
XII EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
Husserls in der fraglichen Zeit, mögen sie nun vor- oder zurück¬
weisend sein, enthalten aber vielleicht alle bekannt gewor¬
denen Werke Husserls von den Ideen selbst an.
Der Zeitraum zwischen den Ideen einerseits und der Formalen
und transzendentalen Logik und den Cartesianischen Meditatio¬
nen x) andererseits ist fast identisch mit dem durch die folgenden
äußeren Daten in Husserls Leben begrenzten: seine Berufung
als Ordinarius an die Universität Freiburg i.B., wo er im Som¬
mer-Semester 1916 seine Vorlesungen zu halten begann, und seine
Emeritierung im Jahre 1928; vom Winter-Semester 1928/29 an
tritt seine Lehrtätigkeit in Vorlesungen und Übungen an der
Universität stark zurück, zum Winter-Semester 1929/30 kündigt
er zum letzten Male Lehrveranstaltungen an. In dieser Zeit seiner
Freiburger Lehrtätigkeit hat Husserl wie kaum
ein anderer je dem Ideal der ,,E inheit von Lehre und
Forschung” an der deutschen Universität nachgelebt. Es
ist die Zeit einer konzentrierten Lehr- und Forschungsarbeit, die
unmittelbar kein Hervortreten abgeschlossener Werke an die
Öffentlichkeit zeitigte. Die Gedankengänge, die Husserl in den
Vorlesungen dieser Jahre entwickelt, tragen das ganze
Gewicht seiner Ideen und Forschungen. Schon hieraus ist ersicht¬
lich, inwiefern die Kenntnis der „Entwicklungsgestalten” der
Phänomenologie, die sie in Husserls damaligen Vorlesungen ange¬
nommen hat, vielleicht ausschlaggebend für die Einsicht in die
Einheit ihres Gedankens, jedenfalls aber unerläßliche Vorausset¬
zung für jede Beurteilung ihrer Erscheinung sein wird.
Einen Markstein und einen Höhepunkt der Entwicklung der
Phänomenologie auf den Wegen der Gedankengänge Husserls in
dieser Periode bildet die Erste Philosophie, das ausgearbeitete
Manuskript der Vorlesungen, die er unter diesem Titel im Win¬
ter-Semester 1923/24 in vier Wochenstunden an der Universität
Freiburg gehalten hat.
Der Text der Ersten Philosophie 1923/24. — Die Ent¬
stehung des Textes * 2) ist äußerlich durch Merkmale gekennzeich-
*) Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, deutsch zuerst hrsg. von Ste¬
phan Strasser, Husserliana Bd. I, bei Martinus Nijhoff, Den Haag, 1950.
2) Zur Textfrage im einzelnen siehe die Textkritischen Anmerkungen zum Haupt¬
text im Anhang, S. 418 ff.
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS XIII
net, die für alle Arbeiten und selbst Ausarbeitungen Husserls aus
der Zeit der Freiburger Lehrtätigkeit charakteristisch sind. —
Die einzelnen Vorlesungen sind zum allergrößten Teile in der
Semesterarbeit selbst niedergeschrieben, teilweise sogar erst von
Stunde zu Stunde jeweils unmittelbar vor ihrem Vortrag im Hör¬
saal. Gleichwohl haben die Gedankenschritte nicht etwa den Cha¬
rakter von Improvisationen; entwarf doch Husserl seine Darstel¬
lungen im Hinblick auf seit Jahren zuvor konzipierte Programme
und deren damals bereits mehrfach zuvor versuchte Ausführung.
Um welche konkreten historischen Zusammenhänge es sich dabei
handelt, wird noch darzustellen sein. Indessen hat der Gedanken¬
gang insbesondere des Zweiten, „Systematischen” Teiles der Er¬
sten Philosophie einen — in seiner „systematischen” Absicht
selbst begründeten — meditativen Stil, der es z.B. nicht
nur zuläßt, sondern bisweilen fordern kann, ein ganzes Stück des
Gesamtgedankenganges anscheinend abzubrechen und ihm nach¬
träglich eine Umdeutung — insbesondere im Hinblick auf die
dann folgenden neuen Schritte — zu geben, die auf den ersten
Blick nur als Äußerung einer fast vernichtenden Selbstkritik er¬
scheinen kann. In Wahrheit bezeugt sich wohl auch darin nur die
immer erneute Sammlung des Denkens zur ununterbrochenen
Anstrengung der Meditation, zur Strenge der „Meditationen über
die Erste Philosophie”.
Das stenographische Vorlesungskonzept Husserls wird — eben¬
falls zum größten Teil noch während des Winter-Semesters
1923/24—von Ludwig Landgrebe, der damals seine Tätigkeit
als Forschungs- oder Arbeitsassistent Husserls beginnt, mit der
Schreibmaschine abgetippt, dabei hin und wieder stilistisch ge¬
glättet. Husserl hat dann vor allem den in dieser Fassung vorlie¬
genden Text mehrfach überarbeitet; er bringt Korrekturen, Rand¬
bemerkungen, Erweiterungen an; einige Partien, vor allem im
Ersten, „Historischen Teil”, werden völlig neu ausgearbeitet,
werden nochmals von Landgrebe mit der Maschine abgeschrie¬
ben, werden abermals von Husserl überarbeitet; verschiedene
Beilagen werden angelegt. Diese Arbeiten Husserls am Text der
Ersten Philosophie von 1923/24 mögen sich noch bis etwa 1928
fortgesetzt haben.
Bei alledem bleibt der Text beider Teüe ohne jede äußere Mar¬
kierung seiner systematischen Gliederung; lediglich eine von
XIV EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
Landgrebe im Aufträge Husserls angelegte und von diesem hin
und wieder verbesserte Inhaltsübersicht liegt vor *). Das Schreib¬
maschinenmanuskript ist nur nach den Vorlesungen — von der
1. bis zur 27. im „Historischen", von der 28. bis zur 54. Vorlesung
im „Systematischen Teil" —eingeteilt. Vereinzelt finden sich aus
der Zeit der Überarbeitung Hinweise wie.: „Neues Kapitel", ,,§",
„Anmerkung, in kleinerem Druck im Text" * 2).
Der Hrsg, hat so geglaubt, es sich zur Aufgabe stellen zu müs¬
sen, über die kritische Herstellung eines endgültigen Textes hin¬
aus — wobei seine Arbeit durch das Vorliegen einer ersten Tran¬
skription der stenographischen Randbemerkungen usw. Husserls
im Maschinentext, die Stephan Strasser im Husserl-Archiv
zu Löwen bereits angefertigt hatte, erleichtert wurde — zu ver¬
suchen, den umfangreichen Text durch die Anlage einer Disposi¬
tion und die Formulierung von Überschriften für Abschnitte, Ka¬
pitel und Vorlesungen übersichtlicher zu machen; eine Aufgabe,
die übrigens Husserl selbst zu seinen Lebzeiten gewöhnlich seinen
Schülern und Assistenten zu erledigen überlassen hat, freilich
natürlich nicht, ohne deren Vorschläge genau zu prüfen, ehe er sie
billigte. Der Hrsg, hat versucht, im Formellen die Art der Gliede¬
rung möglichst in Analogie zu der in Husserls Schriften gewohnten
zu halten; doch hat er die Einteilung in „Vorlesungen” — ob¬
schon die nach den Umarbeitungen Husserls vorliegenden Texte
vielfach sehr stark dem Umfang und Inhalt nach von dem wirklich
in jenem Winter-Semester im Hörsaal Vorgetragenen abweichen
— als die einzig authentisch überlieferte beibehalten. Des weiteren
wurde bei der Anlage der Disposition nach der Maxime verfahren,
daß die Titel einen Einblick in den Inhalt und die Gedankenfüh¬
rung gestatten sollten, wie ihn Formulierungen zu geben vermö¬
gen, in denen gleichwohl auf jede Absicht der Interpretation
verzichtet wird. Überdies wurde die in den Titeln verwendete
Terminologie soweit irgend möglich der Sprache Husserls und
insbesondere der des vorliegenden Werkes selbst entnommen. —
Ich bin mir dabei gewiß darüber im klaren, daß der Verwirkli¬
chung der guten Absicht des redlichen Historikers — zu disponie¬
ren, ohne zu interpretieren —- hier wie sonst Grenzen gesetzt sein
mögen. Mir bleibt nur, zu hoffen, daß die vorliegende Disposition,
*) Siehe unten Beilage I, S. 298 ff.
2) Vgl. die Textkritischen Anmerkungen zum Haupttext, S. 420 ff.
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS XV
in der Husserls Erste Philosophie erscheint, ihren bescheidenen
Zweck erfüllt. —
Aus den erwähnten Anmerkungen Husserls im Text, die offen¬
sichtlich im Hinblick auf einen Druck gemacht wurden, geht be¬
reits hervor, daß Husserl selbst denn doch wenigstens zeitweise an
eine Veröffentlichung der Ersten Philosophie von 1923/24 gedacht
hat. Es werden dazu noch einige weitere Dokumente beizubrin¬
gen sein. Indessen ist die Veröffentlichung zu Lebzeiten Husserls
und bis heute also unterblieben. Und es muß ausdrücklich darauf
hingewiesen werden, daß die Aufzeichnungen zur Ersten Philoso¬
phie, wie sie nunmehr der Öffentlichkeit vorgelegt werden, sich
nicht in einem Stadium der Reife der Ausführung befinden, in
dem Husserl selbst sie für der Publikation fähig gehalten hätte. —
Das Publikum, dem die Erste Philosophie bisher bekannt wur¬
de, waren Husserls Hörer im Winter-Semester 1923/24; es waren
ferner diejenigen seiner Freunde und Schüler, denen er die Ab¬
schrift Landgrebes seinerzeit zur Lektüre zur Verfügung gestellt
haben mag; es waren schließlich diejenigen, die gelegentlich eines
Besuches beim Husserl-Archiv zu Löwen in die Manuskripte Ein¬
blick genommen haben.
Für Husserl selbst wurden die Ansätze, Ausführungen und Re¬
sultate der Ersten Philosophie 1923/24 schließlich ,,nur” Aus¬
gangspunkte oder -wege zu neuen, und vielleicht radikal erneuer¬
ten Forschungen und Fragestellungen und Meditationen 1). An
dieser Stelle nun sollen aber nicht so die neuen Ideen, Motive,
Probleme, Lösungen und Entwürfe, die in der Ersten Philosophie
entwickelt sind, untersucht werden. Diese Einleitung hat viel¬
mehr vor allem die Aufgabe, historische Daten anzuführen, die
auf die Einheit des Zusammenhanges in Husserls Verfolgung sei¬
ner Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi¬
schen Philosophie aufmerksam zu machen vermögen. Der Zusam¬
menhang soll dabei so dargestellt werden, wie Husserls eigene
i) Vgl. dazu insbesondere die Ergänzenden Texte in Band VIII der vorliegenden
Ausgabe. — Eine der wesentlichsten durch die Erste Philosophie — ihren „Systemati¬
schen Teil” -— eingeleiten Forschungsrichtungen war die der „Phänomenologischen
Psychologie”. Über ihre Probleme hat Husserl im Sommer-Semester 1925, im Win¬
ter 1926/27 und wieder im Sommer 1928 grundlegende Vorlesungen gehalten. Die
Manuskripte zu ihnen liegen im Husserl-Archiv zu Löwen unter den Signaturen
FI 36, F I 33 und F I 44 vor. Die Edition eines Husserls Phänomenologischer Psycho¬
logie gewidmeten weiteren Bandes der vorliegenden Ausgabe wird z. Z. von Walter
Biemel vorbereitet.
XVI EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
Interpretation der Entwicklung seines Gedankens ihn sehen läßt.
In dieser Selbstinterpretation der Phänomenologie nimmt denn,
wie sich zeigen läßt, die Vorstellung der Phänomenologie als Erste
Philosophie geraume Zeit die beherrschende Stellung derjenigen
,,Zweckidee” ein, durch deren Verwirklichung die Phänomenologie
erst eigentlich philosophisch wird und ist, und zwar eben Philoso¬
phie im allerersten Sinne.
Der Titel und die Idee der „Ersten Philosophie”. —
,, ,Erste Philosophie’ ist, wie bekannt, als Name einer philosophi¬
schen Disziplin von Aristoteles eingeführt, in der nach¬
aristotelischen Zeit aber durch den zufällig in Gebrauch geratenen
Ausdruck .Metaphysik’ verdrängt worden” *). So beginnt Husserl
die Vorlesungen des Winter-Semesters 1923/24. Er fährt sogleich
fort: „Wenn ich den von Aristoteles geprägten Ausdruck wieder¬
aufnehme, so ziehe ich gerade aus seiner Ungebräuchlichkeit ...
sehr erwünschten Vorteil...”2). Denn für Husserl ist gerade
nicht die Metaphysik die Erste Philosophie, sondern diese muß
„eine universale Theorie der erkennenden, wertenden und prak¬
tischen Vernunft” 3) sein. So finden Husserls Meditationes de
prima philosophia, wie er sie selbst auch ausdrücklich nennt 4),
einen engeren Anschluß an diejenigen des Descartes; aber
auch diese noch waren Meditations metaphysiques 5). Nicht zwar
daß Husserl die Metaphysik etwa schlechterdings „ablehnte”;
doch ist es ein Hauptpunkt seiner Kritik an Descartes, daß dieser
„auf den Weg einer dogmatistischen Metaphysik” geriet 6), indem
er Metaphysischem in den Anfangsgründen der Ersten Phi¬
losophie Raum gab.
Husserls Erste Philosophie ist „transzendentale Erkenntnis¬
theorie”; und diese „ist die jeder Metaphysik vorangehende Be¬
dingung ihrer Möglichkeit, und sie begleitet, nachdem sie ausge¬
bildet ist, notwendig die gesamte metaphysische Arbeit in der
beständigen Funktion der Normierung hinsichtlich aller objekti-
>) s. 3.
2) eb.
3) S. 6.
4) S.u. in dieser Einleitung, unter Der Ort der Ersten Philosophie in Husserls Werk;
vgl. ferner den Titel der Cartesianischen Meditationen Husserls, a.a.O.
6) In der ersten, von Descartes selbst revidierten französischen Übersetzung des
Herzogs von Luynes, Paris 1647, lautet der Titel des Werkes: Les Meditations Meta¬
physiques de Rene Des-Cartes, Touchant La Premiere Philosophie usw.
6) S. 183.
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS XVII
ven Sinngebung und Methode. An diesem durch den Sinn einer
Erkenntnistheorie und Metaphysik apriorisch vorgezeichneten
Verhältnis ist schlechthin nichts zu ändern, solange eben diese
und jene ,als Wissenschaft sollen gelten können’ ” * 2 3 4). Wie
selbst schon die zuerst zitierte, so verweist nun deutlicher noch
diese zweite Definition der Ersten Philosophie eher auf Kant.
Wiederum bestimmt Husserl die Erste Philosophie als „eine
Wissenschaft von der Totalität der reinen (apriorischen) Prinzi¬
pien aller möglichen Erkenntnisse und der Gesamtheit der in die¬
sen systematisch beschlossenen, also rein aus ihnen deduktibeln
apriorischen Wahrheiten” 2). Demgegenüber bildet auch „die
Gesamtheit der .echten’, d.i. der in rationaler Methode .erklären¬
den’ Tatsachenwissenschaften... die Einheit eines rationalen
Systems, sie sind Disziplinen der einen .zweiten Philosophie’,
deren Korrelat und Gebiet die Einheit der faktischen Wirklich¬
keit ist” 3). Und letztlich ist „Faktizität ... das Feld nicht der
Phänomenologie und Logik, sondern das der Metaphysik”4).
Deren „Problematik” — sie ist „Metaphysik in einem neuen
Sinne” — ist „die der Irrationalität des transzendentalen Fak¬
tums, das sich in der Konstitution der faktischen Welt und des
faktischen Geisteslebens ausspricht” 5). „Der Geist in einer Natur
und Anpassung des Geistes an seine Natur, Entwicklung von
erkennenden Geistern, Entwicklung von Wissenschaften und Kul¬
turtaten der Menschheit überhaupt — das hat auch seine philoso¬
phischen Seiten; aber keine erkenntnistheoretischen, keine sol¬
chen, die zur Ersten Philosophie gehören; nicht zur ersten, sondern
zur .letzten Philosophie’, würde ich sagen” 6).
So könnte Husserls „Idee einer notwendigen Begründung und
Gliederung der Philosophie in zwei Stufen, einer sozusagen .ersten’
und einer .zweiten’ Philosophie” 7), welch letztere schließlich
Metaphysik ist, in etwa an Schellings Unterscheidung der
„positiven” von der „negativen Philosophie” erinnern 8).
») S. 369.
2) S. 13 f. — Die Rede von „deduktibeln apriorischen Wahrheiten” an dieser Stelle
steht nicht im Widerspruch zu der Darstellung der Ideen-, vgl. dazu S. 187 f., Note.
3) S. 14.
4) S. 394.
6) S. 188, Anm.
6) S. 385.
■>) S. 14.
8) „Eben damit stellt sich auch das Logische als das bloß Negative der
Existenz dar, als das, ohne welches nichts existieren könnte, woraus aber noch
Husserliana VII
XVIII EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
Die Bestimmung des Verhältnisses Husserls zu Schelling wäre
freilich eine rein interpretative Aufgabe; die Dokumen¬
te einer historisch-faktischen Beziehung sind äußerst spärlich.
Wir weisen nachdrücklich darauf hin x). Wir dürfen hier Schelling
nur um des „ideengeschichtlichen” Zusammenhanges willen er¬
wähnen, in dem alsdann E. von Hartmann, zu dem eben¬
falls Husserl nur sehr wenige historisch nachweisbare Beziehun¬
gen hatte 1), wohl als erster die „Erkenntnistheorie” als die
„Erste Philosophie” angesprochen hat 2). Er nämlich beabsich¬
tigte zweifellos damit — wie überhaupt — an die Einsichten des
späten Schelling anzuknüpfen und so auch den Sinn eines „Neu¬
kantianismus” zu verstehen. Gleichzeitig verschiebt sich aller¬
dings auch bei ihm wie dann radikaler noch im Neukantianismus
selbst der Sinn der Schelling’schen Unterscheidung, indem die
Vorläufigkeit der „Negativen Phüosophie” sich in den
Vorrang der „Erkenntnistheorie” verwandelt.
Ergiebiges historisches Material liegt erst wieder für Husserls
Verhältnis zu den Neukantianern, insbesondere zu Paul N a-
t o r p 3), vor. Und hier ist es merkwürdig, zu verzeichnen, daß es
dieser, und nicht Husserl selbst war, der zuerst die „neue Phäno¬
menologie” in dem ihr innerlich notwendigen Anspruch erkannte,
lange nicht folgt, daß alles auch nur durch dieses existiert. Es kann alles in der
logischen Idee sein, ohne daß damit irgendetwas erklärt wäre, wie z.B. in der
sinnlichen Welt alles in Zahl und Maß gefaßt ist, ohne daß darum die Geometrie oder
Arithmetik die sinnliche Welt erklärte. Die ganze Welt liegt gleichsam in den Netzen
des Verstandes oder der Vernunft, aber die Frage ist eben, wie sie in diese Netze
gekommen sei, da in der Welt offenbar noch etwas Anderes und etwas mehr
als bloße Vernunft ist, ja, sogar etwas über diese Schranken Hinausstrebendes”:
„etwas über den Begriff Hinausgehendes, welches die Existenz ist”. — Schelling,
WW., hrsg. von K. F. A. Schelling, 1856-1861, II, III, 57 f.
') Siehe auch unten in dieser Einleitung, unter Die Ergänzenden Texte; vgl. das
Namenregister, S. 467 f.
2) „Die Erkenntnistheorie ist die wahre philosophia prima; mit der richtigen oder
falschen Stellung zu den erkenntnistheoretischen Problemen ist von vornherein die
Entscheidung darüber gefallen, ob der betreffende Denker in seiner Bemühung um
die Lösung der metaphysischen Probleme auf dem richtigen oder falschen Wege ist,
und dies gilt mehr als jemals von einem System der gegenwärtigen Zeit, welche sich
die zuerst von Kant in das rechte Licht gestellte Wichtigkeit der Erkenntnistheorie
zu vollem Bewußtsein gebracht hat..— E. von Hartmann, Philosophie des Unbe¬
wußten, Berlin, 8. Aufl. 1878, Vorwort zu dieser, 1. Bd., S. XXV.
s) Husserl, der die Arbeiten weniger seiner Zeitgenossen mit solchem Interesse
verfolgte wie die Natorps, stand mit ihm von spätestens 1894 bis 1924, dem Todes¬
jahr Natorps, in lebhafter Korrespondenz, die besonders in der uns hier interessierenden
Periode vielfach Philosophisches zum Gegenstand hatte. — Eine Mitteilung über das
Verhältnis Husserls zu Natorp und seine Bedeutung im ganzen beabsichtigt der Hrsg,
an anderer Stelle.
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS XIX
eine Erste Philosophie zu begründen, und dies mit eben diesem
Worte aussprach. In seiner kritischen Studie Zur Frage der logi¬
schen Methode. Mit Bezug auf Edm. Husserls ,,Prolegomena zur
reinen Logik” 1), also zum 1. Band der Logischen Untersuchun¬
gen2), schrieb Natorp: „Wer eine Logik der gegenständlichen
Wahrheit rein theoretisch und unabhängig zu begründen für mög¬
lich hält, wird nicht leicht daneben noch eine Metaphysik gelten
lassen, sondern behaupten, daß die Metaphysik eben damit
in die Logik, die alte ,Ontologie’, wie schon Kant sagte, in die
.Analytik des reinen Verstandes’ aufgelöst sei; ganz abgesehen
davon, daß die Erkenntniskritik als philosophische Grundwissen¬
schaft auf den Titel einer ngcorr] (pdoootpta doch wohl berechtigten
Anspruch hat” 3). Diesem ihrem eigenen inneren Anspruch genüg¬
ten freilich, nach Natorp, die Prolegomena Husserls noch nicht,
denn es bliebe hier noch „unaufgelöst bestehen der Gegen¬
satz des Formalen und Materialen, des Apriorischen und Empi¬
rischen, damit auch des Logischen und Psychologischen, des Ob¬
jektiven und Subjektiven; oder, um es mit einem Wort und zu¬
gleich in seiner eigenen Terminologie zu sagen: des Idealen und
Realen” 4).
Husserl hat von diesen Ausführungen Natorps frühzeitig
Kenntnis genommen 5). In einem Brief an seinen Freund Gustav
Albrecht vom 22.VIII.1901 nimmt er auf sie Bezug und notiert:
„Natorp hat richtig bemerkt, daß die Ziele, die ich der reinen
Logik stelle, sich im wesentlichen mit denjenigen der Kan tischen
Erkenntniskritik decken” 6). Der entsprechende Satz Natorps
findet sich in Husserls persönlichem Exemplar des Artikels von
seiner Hand unterstrichen, ebenso, u.a., die Worte „Erkenntnis¬
kritik” und ,,7iQ(orrj cpdooocpia” an der oben zitierten Stelle 7).
Im Entwurf zu einer Vorrede zu einer Neuausgabe der Logi-
7) Kant-Studien VI (1901), S. 270—283.
2) Logische Untersuchungen, 1. Bd., bei Max Niemeyer, Halle (Saale), 1. Aufl. 1900.
а) a.a.O., S. 271.
«) a.a.O., S. 282
s) Auch Husserls um das Jahr 1900 einsetzende eingehendere Beschäftigung mit
Kant dürfte durch sein Verhältnis zu Natorp in dieser Zeit mit angeregt worden
sein. Vgl. diese Einleitung, unter Die Ergänzenden Texte, S. XXVI ff.
б) Die Originale der — größtenteils stenographischen — Briefe Husserls an seinen
langjährigen Freund Gustav Albrecht befinden sich im Husserl-Archiv zu Löwen
unter der Signatur RIA.
7) Der Sonderdruck des zitierten Artikels Natorps, den dieser Husserl zusandte,
befindet sich im Husserl-Archiv zu Löwen.
XX EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
sehen Untersuchungen ist Husserl dann ausführlich auf Natorps
Hinweise und Kritiken in jener Studie eingangen 1). Natorp, heißt
es hier, habe ,,in meisterhafter Weise” in seiner ,.bedeutsamen
Anzeige der Prolegomena” die „Situation” der anfangenden Phä¬
nomenologie gekennzeichnet2). Husserl wehrt seine Kritiken ab.
In demselben Zusammenhänge aber findet sich der Hinweis:
„Erst viel später, etwa im Jahre 1908, wurde die wichtige Er¬
kenntnis gewonnen, daß zwischen transzendenta¬
ler Phänomenologie und rationaler Psy¬
chologie ein Unterschied zu machen sei, der ...
von größter Bedeutung ist für die transzendentale Philosophie
im echten Sinn und im besonderen für die Funktion der Phäno¬
menologie als der wahren .ersten' Philosophie”3). Wir
möchten dem hier nur die Wahrscheinlichkeit entnehmen, daß
Husserl in der Tat den Gedanken oder doch die Formel der
„transzendentalen Erkenntnistheorie” (transzendentalen Phäno¬
menologie) als Erster Philosophie von Natorp übernommen hat.
Andererseits ist noch darauf hinzuweisen, daß der Unterschied
zwischen transzendentaler Phänomenologie und „rationaler Psy¬
chologie” nicht etwa ohne weiteres identisch ist mit jener Unter¬
scheidung von Erster und Zweiter Philosophie 4).
Der Ort der Ersten Philosophie 1923/24 in Husserls
Werk. — Wie dem auch sei, wir dürfen also annehmen — wofür
vor allem auch der Inhalt der Ersten Philosophie 1923/24 selbst
spricht —, daß Husserls Konzeption der Phänomenologie als Er¬
ster Philosophie zusammenfällt mit der Entdeckung des Prinzips
der transzendentalen Reduktion, die jene Unterscheidung der
„transzendentalen” Phänomenologie von einer „rationalen Psy¬
chologie” bewirkte. Sie dürfte also kaum in die Zeit vor den von
Walter B i e m e 1 edierten Fünf Vorlesungen über Die Idee der
Phänomenologie von 1907 zurückgehen5 6). Doch bereits in den
’) E. Husserl, Entwurf einer ,,Vorrede" zu den ,,Logischen Untersuchungen” (1913),
hrsg. von E. Fink, Tijdschrift voor Philosophie I (1939), S. 106-133 und S 319-339
2) a.a.O., S. 113.
. 3) a.a.O., S. 337 f.; . .ersten’ Philosophie” ist vom Hrsg, unterstrichen.
4) Vgl. dazu Husserls doppelte Unterscheidung von „den zwei Gegensatzpaaren:
Tatsache und Wesen, Reales und Nicht-Reales”, Ideen usw., Erstes Buch, a.a.O., S. 7.
6) Husserliana Bd. II, bei Martinus Nijhoff, Den Haag, 1950; vgl. ebenda die Ein¬
leitung des Herausgebers, Walter B i e m e 1; dort auch eine Erwähnung der Göttin¬
ger Vorlesungen von 1909.
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS XXI
Göttinger Vorlesungen des Sommer-Semesters 1909, angekündigt
unter dem Titel Einführung in die Phänomenologie der Erkenntnis,
von Husserl im Manuskript Idee der Phänomenologie und ihrer
Methode betitelt, ist der Gedanke ausgesprochen, im Text in eini¬
gem ausgeführt und alsdann in einer Inhaltsbezeichnung auf
einem später (nach 1921) von Husserl hinzugefügten Umschlag
eigens hervorgehoben: Phänomenologie als ,,Erste Philosophie” x).
Es soll dies aber noch lange der Titel einer Aufgabe, nicht eines
vollendeten Werkes bleiben; in gewisser Weise vielleicht für
immer.
In seiner Einleitung zum Gesamtwerk der Ideen, die deren 1913
erscheinendem Ersten Buch vorangestellt ist, kündigt der Verf. an:
,,Ein drittes und abschließendes Buch ist der Idee der
Philosophie gewidmet. Es wird die Einsicht erweckt werden, daß
echte Philosophie, deren Idee es ist, die Idee absoluter Erkenntnis
zu verwirklichen, in der reinen Phänomenologie wurzelt, und dies
in so ernstem Sinn, daß die systematisch strenge Begründung und
Ausführung dieser ersten aller Philosophien die
unabläßliche Vorbedingung ist für jede Metaphysik und sonstige
Philosophie —, die als Wissenschaft wird auftreten kön¬
nen’ ” * 2).
Vor allem auf Grund der Forschungen von Marly B i e m e 1,
deren Ergebnisse in der Einleitung zu ihrer Edition des Zweiten
und Dritten Ruches der Ideen niedergelegt sind, ist die Literar-
geschichte der Ideen und insbesondere das Schicksal des zitierten
Planes zum Gesamtwerk, der in Husserls Einleitung von 1913
entworfen ist, gut bekannt 3). Bei der letzten Ausarbeitung —
1924/25 — eines Zweiten und eines Dritten Buches der Ideen hat
Husserl den ursprünglichen Plan fallen gelassen. Das Zweite und
Dritte Buch der Ideen, die dann auf Grund des Nachlasses heraus¬
gegeben wurden, fungierten im ursprünglichen Plan als 1. und 2.
Teil des Zweiten Buches. In der heute vorliegenden Ausgabe des
Gesamtwerkes hat somit das Dritte Buch — gemäß dem von
Marly Biemel formulierten Titel — das Thema: Die Phänomeno-
1) Das stenographische Ms. der Vorlesung findet sich im Husserl-Archiv zu Löwen,
unter den Signaturen F I 17 und F I 18.
2) Ideen usw., Husserliana Bd. III, S. 8; „ersten aller Philosophien” vom Hrsg,
unterstrichen.
3) a.a.O., insbesondere S. XIV ff.; beim Hinweis auf die Erste Philosophie S. XVI
steht irrtümlich anstelle 1923/24 die Jahreszahl 1922/23.
XXII EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
logie und die Fundamente der Wissenschaften — nicht dasjenige
der Phänomenologie als Erster Philosophie.
Noch 1922 wenigstens hat Husserl an dem ursprünglichen Plan
der Ideen festgehalten. Und daß er ihn fallen läßt, bedeutet
nun keineswegs, daß er jene Aufgabe beiseite- oder auch nur
zurückgestellt hätte. Vielmehr nimmt er sie genau zur selben Zeit
mit aller und erneuter Konzentration in Angriff; alsbald verbin¬
det sich mit der Arbeit der Plan zur Veröffentlichung eines neuen
grundlegenden Werkes der Phänomenologie — anstelle der Fort¬
setzung der Ideen. So entstehen die Entwürfe der Vorlesungs¬
manuskripte, die zur Ausführung der Ersten Philosophie von
1923/24 führen.
1922 hält Husserl in London vier Vorlesungen unter dem Titel:
Phänomenologische Methode und phänomenologische Philosophie,
kurz die Londoner Vorlesungen genannt1). Ihr Entwurf bildet
das Grundstück einer jahrelangen Entwicklung. Kurze Zeit
scheint Husserl schon an die Veröffentlichung dieses Textes
gedacht zu haben. Am 31 .VIII. 1923 schreibt er indessen an seinen
Schüler und Freund Roman Ingarden: „Die Londoner Vor¬
lesungen habe ich nicht gedruckt. Ich erweiterte sie zu einer
4-stündigen Wintervorlesung, und im nächsten Winter vertiefe ich
sie noch mehr und bereite sie mit meinem Arbeitsassistenten zum
Drucke vor. Es wird ein.Entwurf zu einem System der Phi¬
losophie im Sinn der Phänomenologie und in Form von meditatio-
nes de prima philosophia, die als .Anfang’ die wahre Philosophie
wesensmäßig eröffnen müssen" 2).
Die erste der beiden erwähnten Wintervorlesungen ist die un¬
mittelbar „auf Grund der Londoner Vorlesungen” — unter teil¬
weise wörtlicher Verwendung ihres Textes, aber in bedeutender
Ausarbeitung und Erweiterung ihres Gedankenganges — im Win¬
ter-Semester 1922/23 in Freiburg gelesene Einleitung in die Philo¬
sophie 3).
*) Die Mss. zu den Londoner Vorlesungen befinden sich im Husserl-Archiv zu
Löwen unter den Signaturen F II 3 und M II 3/F II 3.
2) Eine Abschrift der hier zitierten Briefe Husserls an Ingarden, die Herr Professor
Ingarden liebenswürdigerweise dem Husserl-Archiv zu Löwen zur Verfügung gestellt
hat, befindet sich dort unter der Signatur R I I. Die Punkte in der hier angeführten
Briefstelle bezeichnen ein oder einige in der Abschrift dieses Briefes fehlende Worte
des Originals.
a) Die Mss. zur Einleitung in die Philosophie 1922)23 befinden sich im Husserl-
Archiv zu Löwen unter den Signaturen B I 37, B IV 2, F I 29 und F I 29/M I 2; zu
ergänzen durch die Mss. der Londoner Vorlesungen, siehe die vorstehende Anm. J).
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS XXIII
Bei der anderen handelt es sich um die Erste Philosophie, die
1923/24 unter diesem Titel vorgetragen wurde. In ihrer 1. Vor¬
lesung ist auch ausdrücklich auf die zugrundegelegte Vorarbeit der
„Einleitungsvorlesung des vorigen Winters” Bezug genommen1).
In einem weiteren Brief an Ingarden 2) spricht Husserl ferner
wie folgt über „die beiden einander ergänzenden Fundamental¬
vorlesungen: die eine .Erste Philosophie’, die eine radikalste phä¬
nomenologische Begründung des Sinnes und der Tragweite der
phänomenologischen Reduktion brachte; die andere ein Entwurf
einer Kritik der transzendental-phänomenologischen Erkenntnis,
als letztes Fundament einer jeden objektiven Erkenntniskritik.
Ich glaube darin und in vielem sonst große Fortschritte gemacht
und die phänomenologische Philosophie auf eine neue Stufe geho¬
ben zu haben . .. Jetzt arbeite ich diese Entwürfe für das Jahr¬
buch aus — ,meditationes de prima philosophia , unter universal¬
sten und radikalsten Gesichtspunkten. Ich denke, jetzt wird es
gelingen”.
Es ist bekannt, daß die in den 20er Jahren vorgesehenen Ver¬
öffentlichungen unterblieben sind; es kann kein Zweifel über den
Grund bestehen: Husserl selbst hielt die Form der ausgearbeite¬
ten Texte noch immer für unzureichend.
1929 erscheint dann die Formale und transzendentale Logik,
deren Manuskript bereits in der freien Arbeitszeit des emeritier¬
ten Professors entstand, die Husserl zu einer Vollendung seiner
Lebensarbeit zu nutzen entschlossen ist. Er schreibt am 15.III.
1930 an seinen englischen Freund G. Dawes Hicks: „Eine
erste, und nicht die wichtigste Frucht dieser Lebensernte war
mein logisches Buch . . . Wichtiger ist mir die endliche literari¬
sche Ausarbeitung und konkrete Durchführung des Gedanken¬
ganges meiner ... Londoner Vorlesungen, welchen ich auch
meinen Vorlesungen Ende Februar 1929 an der Sorbonne zu¬
grundegelegt hatte” 3).
Die Entstehung der erst posthum dann vom Husserl-Archiv im
1) Siehe unten S. 6.
2) Ingarden datiert den Brief auf „wahrscheinlich gegen Weihnachten 1924”;
seinem Inhalt nach ist das Datum zumindest auf das Ende des Winters-Semesters
1923/24 anzusetzen.
3) Eine Abschrift des Briefes an Hicks, unter dessen Ägide Husserl 1922 seine
Londoner Vorlesungen gehalten hat, befindet sich im Husserl-Archiv zu Löwen unter
der Signatur R I H.
XXIV EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
deutschen Original herausgegebenen Cartesianischen Meditatio¬
nen aus den Pariser Vorträgen, zu deren Kenntnis man die Einlei¬
tung des Herausgebers dieser Texte, Stephan Strasse r,
vergleichen möge 1), liegt nach dem angeführten Zeugnis also
noch immer in derselben Entwicklungslinie, an deren Anfang die
Londoner Vorlesungen standen. Die Cartesianischen Meditationen
sind die Erste Philosophie in der Form, in der Husserl zuletzt ihre
Veröffentlichung vorgesehen hat.
Aber auch der Versuch einer Kritik der logischen Vernunft 2),
den die Formale und transzendentale Logik darstellt, ordnet sich
in den gleichen Zusammenhang ein, der bereits zwischen der „Kri¬
tik der transzendental-phänomenologischen Erkenntnis” der Ein¬
leitungsvorlesung von 1922/23 und der Ersten Philosophie von
1923/24 besteht. Man vergleiche nur die Einleitung Husserls zur
Logik, in der der systematische Ort dieses Werkes unter histori¬
schen Gesichtspunkten ausdrücklich in Beziehung auf die Idee
der Ersten Philosophie erläutert ist, mit den entsprechenden Par¬
tien des „Historischen Teils” der Vorlesungen von 1923/24.
Weitere Einblicke in die angedeuteten Entwicklungslinien der
phänomenologischen Philosophie gewährt das Nachwort zu den
Ideen von 1930 3).
Die Verbindung der Ersten Philosophie ig2j/24 zu den späteren
und mittlerweile veröffentlichten Werken Husserls stellen sich
damit als so nahe dar, daß zum mindesten eine nähere verglei¬
chende Erörterung des Verhältnisses des „Systematischen Teiles”
der Vorlesungen zu den Cartesianischen Meditationen von 1929
am Platze scheinen möchte. Sie soll ihren Ort in den besonderen
Vorbemerkungen finden, die der Hrsg, dem folgenden Bande
VIII der Gesammelten Werke voranstellen möchte, der den
„Systematischen Teil” der Ersten Philosophie, die Theorie der
phänomenologischen Reduktion, enthalten wird 4).
Der Aufbau der Vorlesung. — Hier eine Skizze des Gesamt¬
planes beider Teile der Ersten Philosophie ig2j/24. — Ist der
ö a.a.O.
2) Untertitel der Formalen und transzendentalen Logik, a.a.O.
3) Nachwort zu meinen Ideen usw., deutsch zuerst im J. f. Phil. u. phän. F., Bd. XI,
S. 549 ff. und separat, bei Max Niemeyer, Halle (Saale), 1930; jetzt auch in Husser-
liana, Bd. V, S. 138 ff.
4) Siehe das Vorwort des Herausgebers in Husserliana Bd. VIII.
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS XXV
Titel „Erste Philosophie” ein solcher für die grundlegende Diszi¬
plin der Philosophie, so beschließt sein Gebrauch naturgemäß in
sich eine Bestimmung über das Wesen der Philosophie überhaupt.
Und so bedeutet Husserl die Rede vom ,.Ersten” der Philosophie
dies allem voran ihr als solcher Wesentliche, daß sie von ihren
ersten Anfängen an Wissen aus letzter Rechtfertigung will und
sein will. In diesem Sinne will Husserl mit dem Namen ,,Erste
Philosophie” das Wesen der Philosophie selbst — wenigstens in
der Idee (der ,,Zweckidee”) — genannt wissen. Daß diese Idee
das Wesentliche der Philosophie ausmacht und wie sie konkre¬
ter aufzufassen und auf welchen Wegen sie schon ihrer Verwirk¬
lichung entgegenzugehen vermochte und entgegengehen mußte,
zeigt die kritisch-ideengeschichtliche Abhandlung des Ersten Teiles
der Vorlesungen, eine Darstellung der Geschichte der Philosophie
von Sokrates und Platon bis L e i b n i z und Kant.
Aus Gründen, die Husserl selbst ausdrücklich dar legt, fällt in ihr
das Hauptgewicht auf die Erörterung des Denkens L o c k e s,
Berkeleys und Humes. Die eigentümliche Methode der
Philosophiegeschichtsforschung in diesem ,,Historischen Teil” ist
dabei aus seiner angegebenen Bestimmung zu verstehen.
Die geschichtlichen Besinnungen über die Idee der Philosophie
geben dem „Selbstdenker” die Motivation zum radikalen Neu¬
anfang und die notwendige Einsicht in die „absolute Situation”,
aus der heraus er allein in wirklich letzter Verantwortlichkeit mit
der Philosophie den Anfang machen kann. Mit der Aufklärung
dieser Situation setzt der „Systematische Teil” ein. Dem Anfang
in der „absoluten Situation”, den die Idee der „Ersten Philoso¬
phie” fordert, entspricht dann ein weiteres Vorgehen, das, wie
Husserl sich hier ausdrückt, durch die kritische Methode einer
„apodiktischen Reduktion” bestimmt sein muß. Es zeigt sich
alsbald, daß eine apodiktische Reduktion nicht statthaben kann
ohne eine ihr schon vorausgegangene „transzendentale Reduk¬
tion”, die allererst das Erfahrungsfeld einer transzendentalen Sub¬
jektivität eröffnet und freilegt; dieses ist dann mögliches und not¬
wendiges Thema einer „apodiktischen Kritik”, in der die „Erste
Philosophie” sich zu begründen hat. Die apodiktische Reduktion
selbst ist freilich in der Darstellung der Ersten Philosophie von
1923/24 nicht mehr durchgeführt. Entscheidend ist aber hier auch
zuerst ein anderes: die transzendentale Reduktion, die als erstes
XXVI EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
von der Idee der Philosophie als „Erster” gefordert ist, ist keine
andere — das bedarf durchaus eines eigenen Nachweises — als die
„phänomenologische Reduktion”. Damit wäre gezeigt,
daß die Idee der Philosophie von ihr selbst her sich in einer Theorie
der phänomenologischen Reduktion systematisch auslegen und
entwickeln muß, die dann für die Phänomenologie selbst ihrerseits
die Bedeutung hat, daß sie sie aus ihrer „höheren”, der „transzen¬
dentalen Naivität” auf das Niveau einer phänomenologischen
Philosophie erhebt. Theorie der phänomenologischen Re¬
duktion ist der Titel des Zweiten Teiles der Vorlesungen 1).
Die Ergänzenden Texte. — Der vorliegende Band VII der
Gesammelten Werke enthält den Ersten, „Historischen Teil” der
Vorlesungen, von Husserl Kritische Ideengeschichte betitelt, sowie
„Ergänzende Texte” dazu im Umfange des Haupttextes selbst.
Das editionstechnische Verfahren der Verbindung von „Haupt¬
texten” mit ergänzenden Abhandlungen und Beilagen in diesem
Umfang, seine Absicht und seine Prinzipien wurden bereits an
anderer Stelle erläutert und übrigens auch schon in Band VI
dieser Ausgabe verwirklicht2). Von diesen Prinzipien weicht die
Anwendung des Verfahrens in unserem Falle nur in einem Punkte
ab: die Entstehungszeit der Abhandlungen und Beilagen, die im
vorliegenden Bande als Ergänzende Texte abgedxuckt sind, liegt
in keinem Falle wesentlich später als die des Haupttextes, doch
in einigen Fällen beträchtlich früher; sie erstreckt sich von 1903
bis 1926 3). Zu diesem Abweichen von der Regel, an der die Her¬
ausgeber gleichwohl grundsätzlich durchaus festhalten, schien die
besondere Sachlage zu berechtigen.
Die Kritische Ideengeschichte von 1923 aus der Ersten Philoso¬
phie stellt die vollständigste erhaltene zusammenhängende Nie¬
derschrift von Husserls philosophiegeschichtlichen Auseinander¬
setzungen dar. Es sei hier darauf hingewiesen, daß Husserls Be¬
schäftigung mit den Philosophien und den Philosophen der Ver-
') Siehe diesen Zweiten Teil der Vorlesungen, die Theorie der phänomenologischen
Reduktion, in Bd. VIII der Husserliana, der sich in Vorbereitung befindet.
s) Siehe Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phäno¬
menologie, hrsg. von Walter Biemel, Husserliana Bd. VI, bei Martinus Nijhoff, Den
Haag, 1954. — Vgl. die Einleitung des Herausgebers, Walter Biemel, sowie H. L. Van
Breda und R. Boehm, Aus dem Husserl-Archiv zu Löwen, a.a.O.
3) Alles nähere zur Datierung usw. der Ergänzenden Texte siehe im Anhang beiden
Textkritischen Anmerkungen zu den Ergänzenden Texten, S. 438 ff.
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS XXVII
gangenheit zwar in seinen Arbeiten — und bis zuletzt, trotz der
Krisis — einen durchaus untergeordneten Platz einnahm, gleich¬
wohl aber weit umfassender war, als man gemeinhin annimmt.
Allein seine Lehrverpflichtungen begründeten dies. So hat Hus-
serl im Laufe seiner Hallenser, Göttinger und Freiburger Lehr¬
tätigkeit die folgenden Vorlesungen philosophiegeschicht¬
lichen Inhalts angekündigt:
Geschichte der Philosophie Halle 1897/98, 1899, 1900, 1901; Allgemeine
Geschichte der Philosophie Göttingen 1902, 1903, 1904, 1905, 1906, 1907,
1908, 1909, 1915, FreibuTg 1916/17; Allgemeine Geschichte der Philosophie
von den ältesten Zeiten bis zum Anfang des ig. Jahrhunderts Göttingen
1911, 1912, 1913; Allgemeine Geschichte der Philosophie (bis Kant incl.)
Göttingen 1914; Geschichte der Philosophie von den ersten Anfängen bis
zum Beginn des ig. Jahrhunderts Freiburg 1918/19. Ferner: Die Philoso¬
phie der Renaissance Göttingen 1903; Kants Philosophie Halle 1900/01,
Kants Transzendentalphilosophie Freiburg 1917; Geschichte der neueren
Philosophie von Kant einschließlich bis zur Gegenwart Göttingen 1903/04;
Kant und die Philosophie der Neuzeit Göttingen 1913/14, 1915/16; Kant
und die nachkantische Philosophie Halle 1898, 1899/1900, Göttingen
1905/06, 1907/08, 1909/10, 1911/12; Geschichte der neueren Philosophie
Halle 1890/91, Freiburg 1921, 1922, 1924/25, 1926/27, 1927/28. Außerdem
Geschichte der Religionsphilosophie seit Spinoza Halle 1895/96, (Allgemeine)
Geschichte der Pädagogik Göttingen 1903/04, 1910, 1913/14, 1915/16 x).
Übungen philosophiegeschichtlichen Inhalts 2) veranstal¬
tete Husserl — soweit den Ankündigungen zu entnehmen — im
Anschluß an:
Berkeleys Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Er¬
kenntnis Göttingen 1901/02, 1907, Freiburg 1916/17, 1924/25; Descar-
tes’ Meditationen Halle 1892, 1896/97, Göttingen 1916; in Verbindung
mit L o c k e s Versuch über den menschlichen Verstand Göttingen 1913/
14; Ficht es Bestimmung des Menschen Göttingen 1903, 1915, Frei¬
burg 1918; Humes Dialoge, Halle 1895/96, Traktat über die mensch¬
liche Natur Halle 1899, Göttingen 1902/03, 1904/05, 1907/08, 1910/11,
1914/15, Freiburg 1921, Essay über die Prinzipien der Moral Göttingen
1908/09; Kants Prolegomena Halle 1897/98, 1899/1900, in Verbindung
mit der Kritik der reinen Vernunft Göttingen 1905/06, Kritik der reinen
*) Hier und im folgenden bezeichnen einfache Jahreszahlen (z.B. 1908) das Som¬
mer-Semester des betreffenden Jahres, doppelte (z.B. 1907/08) das Winter-Semester.
£) „Philosophiegeschichtlichen Inhalts” hier in einem weiteren Sinn verstanden;
wir berücksichtigen in der Aufstellung auch Übungen im Anschluß an Arbeiten von
Zeitgenossen Husserls. — Wir zitieren hier übrigens der Einfachheit halber durchweg
die deutschen Titel der behandelten Werke, obwohl sich in Husserls Ankündi¬
gungen bisweilen für fremdsprachige Werke, besonders englische, die Originaltitel
finden.
XXVIII EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
Vernunft Halle 1889, 1900/01, Göttingen 1902, 1909/10, 1911/12, Frei¬
burg 1917, 1918/19, Kritik der praktischen Vernunft und Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten Göttingen 1906, 1909, 1914; L e i b n i z’ Versuch
über den menschlichen Verstand, in Verbindung mit dem L o c k e s, Göt¬
tingen 1904; Lockes Versuch über den menschlichen Verstand Halle
1891/92, 1989/99 (vgl. ferner unter Descartes und unter Leibniz); Lot-
zes Logik Göttingen 1912; Machs Analyse der Empfindungen Göt¬
tingen 1911; Mills Logik Halle 1895; Schopenhauers Welt als
Wille und Vorstellung Halle 1892/93 sowie eine ausgewählte Schrift, Halle
1897; Spinozas Ethik Halle 1900 *).
Soweit für diese Vorlesungen und Übungen von Husserl auch
ausgearbeitete Texte vorbereitet wurden, so finden sich Spuren
von ihnen im Husserl-Archiv nur mehr in Bruchstücken. Auch
diese und weitere vorhandene Aufzeichnungen Husserls mit Be¬
zug auf die Geschichte der Philosophie, die nicht so im engsten Zu¬
sammenhang mit der Lehrtätigkeit entstanden sind, sind zwar
noch immer umfangreich genug, beschränken sich aber doch auf
eine im Verhältnis zum Gesamtnachlaß geringe Anzahl von Ma¬
nuskripten.
Die Ausgabe der Kritischen Ideengeschichte von 1923 bot die
Möglichkeit, wurde sie mit einer geeigneten Auswahl von Ergän¬
zenden Texten aus allen Perioden des Denkens Husserls verbun¬
den, einen — unter Hinzuziehung der historischen Partien der
Arms-Abhandlung2) — in großer Annäherung vollständigen
Überblick über die Zeugnisse seines selbstbewußten Verhältnisses
zur Geschichte der Philosophie zu geben. Insofern uns das gelang,
dürfte dieser Band dann auch außerhalb seiner einleitenden Stel¬
lung im Entwurf der Ersten Philosophie eine selbständige doku¬
mentarische Bedeutung und ein spezielles Interesse des Husserl-
Forschers in Anspruch nehmen können.
Ergänzen also dergestalt z.B. die Abhandlung über Die Idee
b Wir entnehmen diese Zusammenstellung von Husserls Lehrveranstaltungen philo¬
sophiegeschichtlichen Gegenstandes einer unveröffentlichten Arbeit von L. Gelber,
die sich hierfür vor allem auf Nachforschungen und Aufzeichnungen von H. L. Van
Breda stützen konnte. — Es ist möglich und wahrscheinlich, daß Husserl zumal einen
Teil der angekündigtenÜbungen nicht abgehalten oder anderenGegenständen gewidmet
hat. Über den Charakter der Übungen im Anschluß an philosophische Texte, die Hus¬
serl veranstaltete, vermag eine Nachschrift, die Professor H. Spiegelberg freundlicher¬
weise dem Husserl-Archiv zur Verfügung stellte, Aufschluß zu geben; es handelt sich
hierbei um Husserls letzte Übung dieser Art, im Anschluß an Berkeley, Freiburg
1924/25.
2) Die Krisis der europäischen Wissenschaften usw., a.a.O.; besonders die Teile II
und III A.
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS XXIX
einer 'philosophischen Kultur x) und die Beilagen IV bis VII * 2) das
Bild des Bezuges Husserls zur „griechischen Urkon-
zeption” der Philosophie, die Beilagen X bis XIII 3) die Aus¬
führungen des Haupttextes zur neuzeitlichen Philosophie von
Descartes bis H u m e, so bezeichnen freilich andere
Stücke, die wir eben dieserhalb gleichfalls zum Druck bestimmt
haben, eher die Grenzen des Eingehens Husserls auf die Ge¬
schichte der Philosophie, ja seiner Kenntnisnahme in ihrem Felde.
Die Beilage VIII 4) bietet einen in dieser Hinsicht interessanten
Text, in dem Husserl sich auf P 1 o t i n bezieht, die Beilage
IX 5) einen anderen, der sein Verhältnis zu Nicolaus von
C u e s dokumentiert. Dem Leser, den die Dürftigkeit dieser No¬
tizen erstaunt und ihre Bestimmung zum Druck verwundert,
wollen wir nichts erwidern. Der dokumentarische Wert der kur¬
zen Texte ließ es uns gerechtfertigt scheinen, ihnen die knapp drei
Druckseiten einzuräumen, die sie in Anspruch nehmen.
Es bleiben offene Stellen im Bilde. Zur Philosophie des M i t-
telalters hatte Husserl keinerlei auf eigene historische und
Textstudien gegründetes Verhältnis 6). — Die verstreuten Zeug¬
nisse der Beziehungen Husserls zu seinen philosophischen Zeit¬
genossen wollten und konnten wir hier nicht berücksichtigen,
zumal die wichtigsten unter ihnen nicht als Forschungsmanuskripte
sondern in Form von Briefen und handschriftlichen Marginalien in
den Schriften der betreffenden Autoren vorliegen7). — Bedauern
wird man, daß schließlich nicht viel zur Klärung des Verhältnisses
Husserls zur Philosophie des Deutschen Idealismus
beigetragen werden konnte. Das Schlußkapitel der Kritischen
Ideengeschichte 8) selbst gibt wenig Aufschluß, kaum mehr das
von Husserl aufbewahrte Schlußstück seiner früheren routine¬
mäßigen Vorlesung über Allgemeine Geschichte der Philosophie,
») Siehe S. 203 ff.
2) Siehe S. 311-328.
3) Siehe S. 330-350.
4) Siehe S. 328 f.
6) Siehe S. 329 f.
6) Bekannt ist, wie gleichwohl durch die Vermittlung F. Brentanos scho¬
lastische Ideen einen gewissen Einfluß auf Husserls „neue Phänomenologie” gewon¬
nen haben.
-■) Das Husserl-Archiv zu Löwen ist im Besitz von Husserls philosophisch-wissen¬
schaftlicher Privatbibliothek.
6) Siehe S. 182-199.
XXX EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
das als Beilage XXI*) abgedruckt ist, und die Noten in den Bei¬
lagen II, III, IV * 2) und XXII 3). Tatsächlich stehen wir auch hier
an einer Grenze des ausdrücklichen geschichtlichen Selbstver¬
ständnisses des „phänomenologischen Idealismus”. Näheres Do¬
kumentarische beizutragen vermöchten hier im wesentlichen
wohl nur noch Husserls Vorlesungen über Fichtes Menschheits¬
ideal von 1917 und 1918 4), die vielleicht in einen späteren Band
der Ausgabe werden aufgenommen werden können, alsdann ev.
eine Prüfung so vager Anhaltspunkte wie die Anzeichnungen in
seiner Ficht e-Ausgabe und schließlich nur noch eine Berück¬
sichtigung der indirekten Bezugnahme auf den Deutschen Idealis¬
mus in Husserls Auseinandersetzung mit seinen — besonders den
neukantianischen — Zeitgenossen.
Wenn wir so von Husserls Verhältnis zur Philosophie des Deut¬
schen Idealismus sprechen, so verstehen wir diese Benennung
dabei im engeren Sinne, demgemäß das Denken Kants ihr
nicht eigentlich zuzurechnen ist. Denn für Husserls Anknüpfung
an Kant und seine Auseinandersetzung mit ihm verfügen wir
über reichhaltiges Material. Die vom Hrsg, daraus ausgewählten
Texte finden sich in den Beilagen XV bis XX 5) sowie in den Ab¬
handlungen über Kants kopernikanische Umdrehung und den Sinn
einer solchen kopernikanischen Wendung überhaupt 6) und über
Kant und die Idee der Transzendentalphilosophie 7). Die Berück¬
sichtigung ergänzender Texte zu diesem Punkte in solchem Um¬
fang schien nicht nur angezeigt, weil der „Historische Teil” der
Ersten Philosophie 1923/24 nur noch eben bis an Kant heranführt,
sondern auch des sachlich bedeutenden Interesses wegen.
Die älteste dieser Kant-Studien Husserls, die wir abdrucken,
stammt aus dem Jahre 1903 und aus einer seiner frühesten Kant-
*) Siehe S. 395-408. — Das Schicksal des Ms. zur Vorlesung über Allgemeine Ge¬
schichte der Philosophie im ganzen vermochten wir trotz Auffindung einiger Spuren
nicht zu ermitteln; wahrscheinlich ist es — mit Ausnahme einiger Reste, wie z.B. den
Blättern der Beilage XXI — vernichtet oder verloren. Nach 1924 scheint Husserl für
seine Allgemeinen Geschichtsvorlesungen das Ms. des „Historischen Teils” der Ersten
Philosophie benutzt zu haben. — Vgl. die Textkritischen Anmerkungen zur Beilage
XXI, S. 462, sowie auch zur Beilage XI, S. 456 f.
2) Siehe S. 305-315.
3) Siehe S. 408-412.
4) Drei Vorlesungen des Jahres 1917, 1918 wiederholt; im Husserl-Archiv unter der
Signatur F I 22.
5) Siehe S. 350-395.
6) Siehe S. 208-229.
7) Siehe S. 230-287.
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS XXXI
Vorlesungen (Beilage XV). Die Beilagen XVI, XVII, XIX und
XX geben sämtlich Aufzeichnungen aus der Zeit um 1908 wieder.
Sie entstanden also gleichzeitig mit den ersten Entwürfen Hus-
serls zur grundsätzlichen methodischen Bestimmung seiner eige¬
nen „kopernikanischen Wendung” — ihrer Bestimmung durch
die Idee der „phänomenologischen Reduktion”. Die Bedeutung
dieser Gleichzeitigkeit verdient Beachtung *). Etwa zur Zeit der
Kritischen Ideengeschichte selbst wurde die Studie über Leibniz
und Kant geschrieben, die wir als Beilage XVIII geben. Unmittel¬
bar nach Abschluß des Winter-Semesters 1923/24 und der Vor¬
lesungen über die Erste Philosophie widmete Husserl sich erneut
eingehenden Kant-Studien, die ihren ersten Niederschlag in der
Abhandlung über Kants kopernikanische Umdrehung fanden und
ihren äußeren Anlaß übrigens in der Verpflichtung Husserls hat¬
ten, zur Kant-Feier der Universität Freiburg gelegentlich der
zweihundertsten Wiederkehr des Geburtstages des Philosophen
die Gedenkrede zu halten. Den Text dieser Rede, die er am 1. Mai
1924 hielt, bearbeitete Husserl während des Jahres 1924 weiter
und weiter, in der Absicht, ihn in ausgeführterer Form in seinem
Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung zu
veröffentlichen. Es entstand schließlich das umfangreiche Ma¬
nuskript, betitelt Kant und die Idee der Transzendentalphilosophie,
das wir ebenfahs in den Ergänzenden Texten abgedruckt haben.
Die Abhandlung erscheint damit erstmals im Druck, obwohl
Husserl schon am 16.VI. 1924 an Ingarden geschrieben hat: „Bald
hoffe Ich Ihnen einen S.A. meiner Kantrede — Kant und die
Idee der Transzendentalphilosophie — senden zu können. Sie soll
bald gedruckt werden” * 2). Damals unterblieb also die Veröffent¬
lichung. Für die zeitweilige Publikationsabsicht gibt aber noch
das Vorwort des hier gedruckten Textes ein Zeugnis ab 3).
In mehrfacher Hinsicht scheint uns die Abhandlung über Kant
und die Idee der Transzendentalphilosophie von besonderem Inter¬
esse zu sein. Das soeben schon erwähnte Vorwort enthält eine
Darstellung Husserls der Entwicklung der Phänomenologie von
1) Vgl. die Hinweise Walter Biemels in seiner Einleitung zu Die Idee der Phäno¬
menologie, a.a.O., S. VII f., sowie unsere Bemerkungen in dieser Einleitung, unter Der
Titel und die Idee der Ersten Philosophie, S. XVI ff.
2) a.a.O.
3) Siehe S. 230.
XXXII EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
den Logischen Untersuchungen x) an bis zu den Entwürfen der
Ersten Philosophie ig23l24. Die Abhandlung ist ja nach Abschluß
auch des „Systematischen Teils” dieser Vorlesungen niederge¬
schrieben und ausgearbeitet, setzt darum übrigens teilweise auch
in ihren Thesen und Ausführungen die Resultate der Untersu¬
chungen zur Theorie der phänomenologischen Reduktion bereits
voraus. Insbesondere gibt nun jenes Vorwort eine weitere Recht¬
fertigung für die Annahme einer unmittelbaren Verbindung zwi¬
schen dem ursprünglichen Plan der Ideen und den Ausführungen
der Ersten Philosophie. Uber die Ideen zu einer reinen Phänomeno¬
logie und phänomenologischen Philosophie sagt es, unter Hinweis
auf den vollen Sinn dieses vollständigen Titels des Werkes: „Vor¬
gedeutet ist (und nicht nur im Titel) die Bestimmung” der
„eidetisch-deskriptiven Phänomenologie als an sich erste Phi¬
losophie, und damit als Anfangs- und Grundstück einer univer¬
salen Philosophie, d.i. einer aus absolut letzten Quellen begründeten
Universalwissenschaft; die Ausgestaltung der deskriptiven Phä¬
nomenologie im Hinausgehen über die bloße Deskription, aber
unter Verbleiben in der eidetischen Einstellung führt zum System
aller apriorischen Wissenschaften; das Übergehen vom transzen¬
dentalen Apriori zum transzendentalen Faktum zum System
aller empirischen Wissenschaften in transzendentaler Fundie¬
rung” * 2). Die gesamte Abhandlung, insbesondere aber ihr zentra¬
ler III. Abschnitt 3), gibt weitere Aufschlüsse über den Sinn der
Ersten Philosophie als Begründung einer „transzendentalen Tat¬
sachenwissenschaft”, den Sinn also, der dem ursprünglich geplan¬
ten Dritten Buch der Ideen zugedacht gewesen war. In der Ein¬
leitung zum Gesamt werk der Ideen hieß es: „Inwiefern...
transzendentale Phänomene als ... Fakta einer Forschung
zugänglich sind und welche Beziehung eine solche Tatsachenwis-
senschaft zur Idee der Metaphysik haben mag, das wird erst in
der abschließenden Reihe von Untersuchungen seine Erwägung
finden können” 4).
Zum anderen aber, wenn schon überhaupt der Hinweis vom
Inhalt des vorliegenden Bandes auf den der letzten großen Arbeit
*) Logische Untersuchungen, bei Max Niemeyer, Halle (Saale), 1900/01, 2., umge¬
arbeitete Aufl. eb. 1913, 3. und 4. unveränderte Aufl. 1922 und 1928.
2) Siehe S. 324.
3) Siehe S. 248-270, besonders S. 256—259.
4) Ideen usw., Husserliana Bd. III, S. 7.
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS XXXIII
Husserls, über Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die
transzendentale Phänomenologie, naheliegt, so erinnert die Abhand¬
lung über Kant und die Idee der Transzendentalphilosophie in be¬
sonderer Deutlichkeit an parallele Ausführungen in der Krisis.
Und insofern der Übergang von der Studie aus dem Jahre 1924
zu der Kant-Auseinandersetzung der Krisis vom Jahre 1936/37
kontinuierlich ist, ergibt sich so ein durchgängiger Zusammenhang
der Entwicklung von Husserls Verhältnis zu Kant von der
Zeit unmittelbar nach den Logischen Untersuchungen an bis zum
Ende.
Erwähnung verdient hier vielleicht noch der Umstand, daß,
wie später Husserl das Problem der Vorgegebenheit der „Lebens¬
welt” im Zusammenhang mit seiner Kritik an Kant entwickeln
wird1), so in der Kant-Abhandlung von 1924 schon — wenn¬
gleich an unscheinbarer Stelle noch und ohne den Rang eines
maßgeblichen Grundbegriffes — der Terminus „Lebenswelt”
auftritt 2).
Doch wichtiger noch für ein Verständnis des Zusammenhanges
der Kritischen Ideengeschichte von 1923 mit der Amts-Problema¬
tik von 1934—37 ist wohl die im vorliegenden Bande ebenfalls —
als vierte Abhandlung der Ergänzenden Texte — abgedruckte
Studie zum Problem einer nicht historischen sondern idealen Gene¬
sis der Idee strenger Wissenschaft3). Wenn für die Entwicklung
der geschichtsphilosophischen Ideen Husserls, wie sie in der
Krisis entfaltet sind, der Übergang zur Geschichtsphi¬
losophie vom Nachdenken über die Philosophiege¬
schichte charakteristisch ist, so finden wir für diesen Über¬
gang — von der Kritischen Ideengeschichte zur späteren Einlei¬
tung in die phänomenologische Philosophie 4) — im Ausgang vom
Problem der „Krisis des europäischen Menschentums” — eines
J) Vgl. Die Krisis usw., Husserliana Bd. VI, Abschnitt III A, S. 105 ff. — Wir
erwähnen hier, daß die Amts-Abhandlung in einem besonderen Verhältnis zu Hu-
serls Idee einer Ersten Philsophie insofern steht, als sie sich im Untertitel ausdrück¬
lich als Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie darstellt. Deren Idee
wird allerdings hier mit dem Titel einer „Transzendentalphilosophie”, nicht mehr mit
dem einer „Ersten Philosophie” bezeichnet. Beide Terme sind für Husserl wohl
äquivalent.
2) S. 232: „Die Welt gewann eine unendliche Weite, sobald die wirkliche Lebens¬
welt, die Welt im Wie der Erlebnisgegebenheit betrachtet war”.
8) S. 288-297; auch hier finden sich übrigens Hinweise auf das Problem der Welt
„des natürlich-praktischen Lebens”, S. 293.
*) Die Krisis usw., Untertitel.
XXXIV EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
der ersten Zeugnisse in der genannten Studie zum Problem einer
Genesis, die in Wahrheit nicht nur „nicht historisch, sondern
ideal”, sondern historisch und ideal zumal ist *)• Doch dies zu
interpretieren, ist hier nicht der Ort.
Vermerken wir noch, daß der Hrsg, in ähnlicher Weise, wie es
oben für den Haupttext dargelegt wurde, in den Ergänzenden
Texten hier und da Dispositionen von Abschnitten getroffen und
von ihm formulierte Titel eingefügt hat. So hat insbesondere in
diesem Bande jede der Beilagen eine Überschrift. Auch diese
„Eingriffe” sind nur als Beiträge zur Übersichtlichkeit der Texte
gemeint.
Ich schließe mit einem Wort des Dankes, das ich auch an dieser
Stelle zu sprechen nicht versäumen möchte: er gilt den Mitarbei¬
tern des Husserl-Archivs in Löwen und in Köln: Frau Marly und
Dr. Walter Biemel, Fräulein Dr. Seeger und meiner Frau — für
ihrer aller mannigfache Mitarbeit und Hilfe.
Den Herren Professoren L. Landgrebe (Kiel) und S. Strasser
(Nimwegen) sowie Frau Dr. L. Gelber (Löwen) gebührt der Dank
für vieles, was der Edition an Vorarbeiten zugrundegelegt werden
konnte; Herrn Professor Landgrebe darüber hinaus für seine aus¬
führlichen wertvollen Mitteilungen aus der Entstehungszeit der
Ersten-Philosophie-V orlesungen.
Es sei dem Herausgeber auch gestattet, dem Direktor des Hus-
serl-Archivs zu Löwen, Professor Pater H. L. Van Breda, für seine
intensive Anteilnahme an der Arbeit und die großzügige und
freie Weise ihrer Leitung, Beratung und Förderung zu danken.
Löwen, im Sommer 1955. Rudolf Boehm.
l) Denn „das Problem der idealen Genesis” ist selbst „das Problem,
die Notwendigkeiten zu verstehen, die im Historischen im verborgenen be¬
stimmend waren”; S. 296.
ERSTE PHILOSOPHIE (1923/24)
Erster Teil *)
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE
< Erster Abschnitt
VON PLATONS IDEE DER PHILOSOPHIE ZU DEN ANFÄNGEN
IHRER NEUZEITLICHEN VERWIRKLICHUNG BEI
DESCARTES >
< Erstes Kapitel
Die Idee der Philosophie und ihre geschicht¬
liche Herkunft >
1. Vorlesung: <Über die geschichtliche Aufgabe, der Phänomenologie
die Entwicklungsgestalt einer Ersten Philosophie zu geben.>
„Erste Philosophie” ist, wie bekannt, als Name einer philo¬
sophischen Disziplin von Aristoteles eingeführt, in der nach¬
aristotelischen Zeit aber durch den zufällig in Gebrauch geratenen
Ausdruck „Metaphysik” verdrängt worden. Wenn ich den von
5 Aristoteles geprägten Ausdruck wiederaufnehme, so ziehe ich
gerade aus seiner Ungebräuchlichkeit den sehr erwünschten
Vorteil, daß er nur die wortwörtliche Bedeutung in uns weckt,
und nicht die vielfältigen Sedimente der historischen Überlie¬
ferung, die als die vagen Begriffe von Metaphysik Erinnerungen
10 an die mannigfaltigen metaphysischen Systeme der Vorzeit
durcheinandergehen lassen. Dieser wortwörtliche Sinn diente
dereinst, wie es bei einer ursprünglichen terminologischen
Prägung wohlverständlich ist, als formale Vorzeichnung der
theoretischen Absicht, welche die neue Disziplin mit ihrem
15 nachher erst bestimmter zu definierenden Problemgehalt ver¬
wirklichen sollte. Wie weit auch die Wissenschaft, der unsere
Vorlesungen gewidmet sein sollen, in ihrem Problemgehalt von
demjenigen der aristotelischen Ersten Philosophie sich ent-
*) Vgl. Beilage I, S. 298 ff. — Anm. d. Hrsg.
4 ERSTE PHILOSOPHIE
femt, jene formale Vorzeichnung kann auch uns vortrefflich
dienen, und darum übernehmen wir das Wort und knüpfen
daran unsere ersten Überlegungen.
Erste Philosophie — was muß aus dem wörtlichen Sinn heraus-
5 gelesen werden? Offenbar müßte es eine Philosophie sein, die
unter den Philosophien überhaupt, welche in ihrer Gesamtheit
und Ganzheit die eine Philosophie ausmachen, eben die erste ist.
Da Wissenschaften nicht in freier Kombinatorik und nach Be¬
lieben Ordnung annehmen, sondern in sich selbst Ordnung, also
10 Prinzipien der Ordnung tragen, so wird Erste Philosophie
natürlich diejenige heißen, die ,,an sich”, d.i. aus inneren Wesens¬
gründen die erste ist. Es kann dabei gemeint sein, daß sie die
erste sei an Wert und Würde: gleichsam das Allerheiligste der
Philosophie in sich tragend, während die übrigen, die ,.zweiten”
15 Philosophien, nur die notwendigen Vorstufen, gleichsam die
Vorgemächer jenes Allerheiligsten darzustellen hätten. Die
Bedeutung kann aber auch eine andere sein, und eine aus Wesens¬
gründen sogar näherliegende. Jedenfalls sei sie die hier von uns
zu bevorzugende. Wissenschaften sind aus zwecktätiger Arbeit
20 entsprungene Werkgebilde; Einheit eines Zweckes schafft in der
rationalen Folge zugehöriger Zwecktätigkeiten Einheit der
Ordnung. Jede Wissenschaft für sich bietet uns eine endlose
Mannigfaltigkeit geistiger Gebilde, wir nennen sie Wahrheiten.
Aber die Wahrheiten einer Wissenschaft sind nicht ein zusam-
25 menhangloser Haufen, so wie korrelativ das Tun des Wissen¬
schaftlers nicht ein vereinzeltes und planloses Suchen und Er¬
zeugen von Wahrheiten ist. Alle einzelnen Erzeugungen stehen
unter höheren leitenden Zweckideen, und zuletzt unter der
obersten Zweckidee der Wissenschaft selbst. Wie damit der
30 gestaltenden Arbeit die Regel vorgezeichnet ist, so nehmen auch
alle einzelnen Wahrheiten eine systematische und d.i. eine ihnen
aufgeprägte teleologische Gestalt an. In festen Ordnungen treten
Einzelwahrheiten in Wahrheitsverbände niederer und höherer
Zweckform; sie verbinden sich z.B. zu Schlüssen, Beweisen,
35 Theorien, und zuoberst gehört zur ganzen Wissenschaft eine
ideelle Alleinheit der Theorie, einer in der endlos fortstrebenden
Wissenschaft sich endlos erweiternden und immer höher ge¬
staltenden universalen Theorie x).
*) jVgl. Beilage II, S. 305 ff. — Anm. d. Hrsg.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 5
Das wird also auch von der Philosophie, sofern wir sie uns ja
als eine Wissenschaft denken, gelten müssen. Danach muß sie
einen theoretischen Anfang haben für alle ihre Wahrheitser¬
zeugungen und erzeugten Wahrheiten. Der Name „Erste Phi-
5 losophie würde dann hindeuten auf eine wissenschaftliche
Disziplin des Anfangs; er würde es erwarten lassen, daß die
oberste Zweckidee der Philosophie für den Anfang oder für ein
geschlossenes Gebiet der Anfänge eine eigene, in sich geschlossene
Disziplin fordere, mit einer eigenen Problematik der Anfänge,
10 nach geistiger Vorbereitung, nach exakter Formulierung und
dann wissenschaftlicher Lösung. Aus innerer unablöslicher Not¬
wendigkeit würde diese Disziplin allen anderen philosophischen
Disziplinen vorangehen, sie methodisch und theoretisch fun¬
dieren müssen. Die Eingangspforte, der Anfang der Ersten Phi-
15 losophie selbst wäre danach der Anfang aller Philosophie über¬
haupt. Im Hinblick auf das philosophierende Subjekt müßten
wir demnach sagen: im wahren Sinne Anfänger der Philosophie
ist derjenige, der die Erste Philosophie von ihrem Anfänge an
wirklich, also in absolut standhaltender Wahrheit bzw. in voll-
20 kommenster Einsicht, gestaltet. Solange das nicht in ursprüng¬
licher Forschung gelungen ist, gibt es in diesem Sinne noch keinen
Anfänger der Philosophie, wie keine Erste Philosophie selbst in
wirklicher Realisierung. Ist sie aber einmal gelungen, dann kann
es auch Anfänger der Philosophie in dem gemeinüblichen, ande-
25 ren Wortsinn geben, nämlich als Lehrlinge, die die von anderen
vorgedachten Wahrheiten im eigenen einsichtigen Denken
nacherzeugen und damit in sich selbst einen Anfänger der Ersten
Philosophie nachgestalten.
Mit diesen an dem Wortsinn „Erste Philosophie” sich orien-
30 tierenden Ausführungen ist zugleich die erste formale Vorzeich¬
nung für die Absicht meiner Vorlesungen gegeben. Es soll ein
ernster Versuch sein, der Idee einer Ersten Philosophie genug¬
zutun, und in der lehrhaften Darstellung zugleich der Versuch,
den selbsttätig mitdenkenden Hörer Wege der Notwendigkeit
35 zu führen, auf denen er im wahren Sinne zum Mitanfänger der
Ersten Philosophie selbst und damit zum anfangenden Philoso¬
phen überhaupt werden kann. Vorweg muß ich sagen, daß das
Desiderat einer Ersten Philosophie keineswegs längst schon in
irgendeinem der historisch überlieferten philosophischen Systeme
6 ERSTE PHILOSOPHIE
erfüllt ist, nämlich erfüllt in Form einer echten Wissenschaft von
zwingender Rationalität. Es handelt sich hier also nicht bloß
darum, altes historisches Erbgut zu verlebendigen und dem
Studierenden in dieser Hinsicht die Arbeit geistiger Zueignung
5 nur zu erleichtern. Natürlich ist damit zugleich gesagt, daß ich
außerstande bin, irgendeine der historischen Philosophien über¬
haupt als eine Philosophie endgültiger Form, d.h. der für eine
Philosophie unbedingt geforderten Form strengster Wissen¬
schaft anzuerkennen. Ohne einen streng wissenschaftlichen
10 Anfang gibt es keinen streng wissenschaftlichen Fortgang. Erst
mit einer strengen Ersten Philosophie kann eine strenge Phi¬
losophie überhaupt, eine philosophia perennis in Erscheinung
treten, als immerfort werdende zwar, sofern Unendlichkeit zum
Wesen aller Wissenschaft gehört, aber doch in der Wesensform
15 der Endgültigkeit.
Andererseits bin ich der Überzeugung, daß sich im Durch¬
bruch der neuen transzendentalen Phänomenologie schon ein
erster Durchbruch einer wahren und echten Ersten Philosophie
vollzogen hat; aber sozusagen nur in einer ersten, noch unvoll-
20 kommenen Approximation. In mehreren Freiburger Vorlesungen
habe ich in verschiedenen Formen Versuche gemacht, die Ap¬
proximation auf eine möglichst hohe Stufe zu heben, die Leit¬
ideen, die Methoden, die Grundbegriffe zu vollkommenster
Klarheit zu bringen, und zugleich Versuche, der Phänomenologie
25 die von der Idee einer Ersten Philosophie her geforderte Ent¬
wicklungsgestalt zu geben, nämlich die Gestalt einer sich im
radikalsten philosophischen Selbstbewußtsein, in absoluter
methodischer Notwendigkeit selbstgestaltenden Philosophie der
Anfänge. In der Ejnleitungsvorlesung des vorigen Winters 1)
30 meinte ich dieses Ziel in der Hauptsache erreicht zu haben. In
der jetzigen Vorlesung hoffe ich noch weitere Vereinfachungen
und Besserungen durchführen zu können. Von neuem jedenfalls
hoffe ich zeigen zu können, daß die Idee der Ersten Philosophie
sich stufenweise erweitert; daß sie die notwendige und echte
35 Idee einer universalen Wissenschafts-Lehre verwirklicht, daß sie
damit die gesamte Theorie eines Vemunftlebens umspannt, also
eine universale Theorie der erkennenden, wertenden und prak¬
tischen Vernunft. Und wieder, daß sie dazu berufen ist, unser
*) Einleitung in die Philosophie (1922/23). — Anm. d. Hrsg.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 7
ganzes Wissenschaftsgetriebe zu reformieren und uns von allem
wissenschaftlichen Spezialistentum zu erlösen.
Ich schicke zunächst eine Einleitung voraus, die uns die
unentbehrlichen inneren Voraussetzungen für unser Unter-
5 nehmen verschaffen soll. Wir wissen bisher nicht einmal, welchen
der vielen und leider sehr wenig klaren Begriffe von Philosophie
wir zur Leitung wählen sollen. Welchen immer wir wählten, er
käme uns zunächst nur als ein leer abstrakter, formaler Wort¬
gedanke entgegen 1). So hätte er nicht die Kraft, unsere Seelen
10 in Schwung, unsere Willensenergien in Bewegung zu setzen. Es
handelt sich, wie gesagt, um nichts Geringeres als um eine Re¬
form der ganzen Philosophie und, darin beschlossen, um eine
universale Reform aller Wissenschaften überhaupt. Wo es sich,
in welchem Kulturreiche immer, um eine radikale und universale
15 Reform handelt, da ist die Triebkraft eine tief bewegende geistige
Not; die allgemeine geistige Lage erfüllt die Seele mit so tiefer
Unbefriedigung, daß in ihren derzeitigen Formen und Normen
weiterzuleben nicht mehr möglich ist. Sollen aber die Möglich¬
keiten einer Änderung dieser Lage, der Bildung befriedigender
20 Ziele und Methoden des geistigen Lebens der betreffenden Sphäre
erwogen werden, dann bedarf es offenbar ein dringender Besin¬
nungen über die inneren Motivationsquellen solcher Lage und
über das ganze geistige Gefüge der hier sich in einer festgewor¬
denen Typik geistigen Wirkens friedlos abmühenden Menschheit.
Solche Besinnungen aber gewinnen volles Licht erst aus der
25 Geschichte, die, von der Gegenwart her interpretiert, umgekehrt
wieder die Gegenwart verständnisvoll erleuchtet. So wollen wir
von den verwirrenden Mannigfaltigkeiten, die uns Wissenschaft
und Philosophie der Gegenwart darbieten, zurückgehen auf
Zeiten primitiver Anfänge. Ein historischer Rückblick soll uns
30 also zunächst zur seelischen Vorbereitung dienen; er soll ur-
kräftige Motivationen wecken, die unser Interesse und unseren
Willen in Bewegung setzen können.
Sollte ich heute, unter dem Aspekt der mir in Jahrzehnten
zugereiften Überzeugungen, sagen, welche Philosophen mir im
35 Rückblick auf die gesamte Historie der europäischen Philosophie
vor allen entgegenleuchten, so würde ich zwei bzw. drei nennen:
es sind die Namen der größten Anfänger, Wegeröfriier der Phi-
x) Vgl. Beilage III, S. 310 f. — Anm, d. Hrsg.
8 ERSTE PHILOSOPHIE
losophie. An erster Stelle nenne ich Platon, oder vielmehr
das unvergleichliche Doppelgestim S o k r a t e s-P 1 a t o n.
Die Schöpfung der Idee wahrer und echter Wissenschaft oder,
was für lange Zeit genau dasselbe besagt, der Idee der Philoso-
5 phie sowie die Entdeckung des Problems der Methode führt
auf diese Denker, und als vollendete Schöpfung auf Platon
zurück.
An zweiter Stelle nenne ich Descartes. Seine Meditationes
de 'prima philosophia bedeuten in der Geschichte der Philosophie
10 dadurch einen völlig neuen Anfang, daß sie in einem bis dahin
unerhörten Radikalismus den Versuch machen, den absolut
notwendigen Anfang der Philosophie zu entdecken und dabei
diesen Anfang aus der absoluten und völlig reinen Selbsterkennt¬
nis zu schöpfen. Von diesen denkwürdigen „Besinnungen über
15 die Erste Philosophie” stammt die durch die ganze Neuzeit
hindurchgehende Tendenz zur Neugestaltung aller Philosophie
in eine Transzendentalphilosophie. Damit ist aber nicht nur ein
Grundcharakter der Philosophie der Neuzeit, sondern, wie nicht
mehr zu bezweifeln ist, derjenige aller wissenschaftlichen Phi-
20 losophie überhaupt und für alle Zukunft bezeichnet.
Betrachten wir zunächst den älteren Sokratisch-Platonischen
Anfang zu einer echten und radikalen Philosophie. Dazu einige
Vorworte 1). Die erste, naiv außenweltlich gerichtete Philosophie
der Griechen 2) erfuhr in ihrer Entwicklung einen Bruch durch
25 die sophistische Skepsis. Die Ideen der Vernunft in
allen ihren Grundgestalten erschienen durch die sophistischen
Argumentationen entwertet. An sich Wahres in jedem Sinn — an
sich Seiendes, Schönes, Gutes — hatten sie als trügerischen Wahn
hingestellt, durch eindrucksvolle Argumentationen als ver-
30 meintlich erwiesen. Damit verlor die Philosophie ihren Zielsinn.
Für ein prinzipiell nur subjektiv-relativ Seiendes, Schönes, Gutes
konnte es keine an sich wahren Sätze und Theorien geben, keine
Wissenschaft oder, was damals dasselbe besagte, keine Philoso¬
phie. Indessen nicht nur die Philosophie war betroffen. Das
35 gesamte handelnde Leben war seiner festen normativen Ziele
*) Der hier folgende Text bis S. 10 ,,... von solchem Wesen überhaupt.” ist von
H. mit geringen Abänderungen aus seinem Aufsatz Die Idee einer philosophischen
Kultur in die Vorlesung übernommen worden. Vgl. die genannte Abhandlung in den
Ergänzenden Te. S. 203 ff. - Anm. d. Hrsg.
s) Vgl. Beilage IV, S. 311 ff. — Anm. d. Hrsg.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 9
beraubt, die Idee eines praktischen Vernunftlebens verlor ihre
Geltung. Sokrates zuerst erkannte die in den sophistischen
Paradoxien leichtfertig abgetanen Probleme als Schicksalspro¬
bleme der Menschheit auf ihrem Wege zu echter Humanität.
5 Er reagierte gegen die Skepsis, wie bekannt, nur als praktischer
Reformator.
Platon verlegte dann das Schwergewicht dieser Reaktion
in die Wissenschaft und wird zum wissenschaftstheoretischen
Reformator. Zugleich leitet er, die Sokratischen Impulse nicht
10 fahrenlassend, den Weg der autonomen Menschheitsentwicklung,
im Sinne ihrer Entwicklung zu einer Vernunftmenschheit, zuerst
über die Wissenschaft, über die im neuen Geiste aus radikaler
Einsicht in die Methode reformierte Wissenschaft.
Erläutern wir der Reihe nach und in den entscheidenden
15 Hauptlehren den Sinn der Sokratischen und dann der Plato¬
nischen Lebensarbeit. Hinsichtlich der ersteren folgen wir der
reichen Vorzeichnung, die uns Platon überliefert hat.
Sokrates’ ethische Lebensreform kennzeichnet sich da¬
durch, daß er das wahrhaft befriedigende Leben als ein Leben
20 aus reiner Vernunft deutet. Das besagt: ein Leben, in dem der
Mensch in unermüdlicher Selbstbesinnung und radikaler Rechen¬
schaftsabgabe Kritik — letztauswertende Kritik — an seinen
Lebenszielen und dann natürlich, und durch sie vermittelt, an
seinen Lebenswegen, an seinen jeweiligen Mitteln übt. Solche
25 Rechenschaftsabgabe und Kritik vollzieht sich als ein Erkennt¬
nisprozeß, und zwar nach Sokrates als methodischer Rückgang
auf die ursprüngliche Quelle alles Rechtes und seiner Erkenntnis:
— in unserer Sprache ausgedrückt — durch Rückgang auf voll¬
kommene Klarheit, „Einsicht”, „Evidenz”. Alles wache Men-
30 schenleben vollzieht sich als äußeres und inneres Streben und
Handeln. Alles Handeln aber ist bewegt von Meinungen, Über¬
zeugungen : Seinsmeinungen, bezogen auf umweltlich reale Wirk¬
lichkeiten, aber auch Wertmeinungen, Meinungen über schön
und häßlich, über gut und schlecht, nutzbar oder nutzlos usw.
35 Zuallermeist sind diese Meinungen völlig vage, jeder ursprüng¬
lichen Klarheit ferne. Die sokratische Erkenntnismethode ist
eine Methode vollkommener Klärung. In ihr wird dem bloß als
schön und gut Vermeinten das in der vollendeten Klärung her¬
vorgetretene Schöne und Gute selbst normierend gegenüberge-
10 ERSTE PHILOSOPHIE
stellt und dadurch von ihm ein wahres Wissen gewonnen. Dieses
durch vollkommene Evidenz sich ursprünglich erzeugende echte
Wissen ist es allein, lehrt nun Sokrates, das den Menschen wahr¬
haft tugendhaft macht; oder, was gleichwertig ist, das, was ihm
5 allein wahre Glückseligkeit, größtmögliche reine Befriedigung zu
verschaffen vermag. Echtes Wissen ist die notwendige (und nach
Sokrates auch die hinreichende) Bedingung eines vernünftigen
oder ethischen Lebens. Die Unvernunft, das blinde Dahinleben
in der Unklarheit, die träge Passivität, die es unterläßt, sich
10 klärend um das echte Wissen vom Schönen und Guten selbst zu
bemühen, das ist es, was den Menschen unselig macht, was ihn
törichten Zielen nachjagen läßt. In der reflektiven Evident-
machung dessen, worauf man eigentlich hinaus will, und all
dessen, was man dabei unklar vorausgesetzt hat an vermeint-
15 liehen Schönheiten und Häßlichkeiten, Nützlichkeiten und
Schädlichkeiten, scheidet sich Wahres und Falsches, Echtes und
Unechtes. Es scheidet sich, weil eben in der vollendeten Klarheit
der Wesensgehalt der Sachen selbst zur anschaulichen Ver¬
wirklichung kommt, und damit in eins Wertsein und Unwertsein
20 selbst.
Jede solche Klärung gewinnt alsbald exemplarische Bedeu¬
tung. Was im individuellen Einzelfall des Lebens, der Geschichte,
des Mythos als das Wahre oder Echte selbst und als Maß der
unklaren bloßen Meinung zur Erschauung kommt, das bietet
25 sich ohne weiteres als Exempel für ein Allgemeines dar. Es wird
in der naturgemäß sich einstellenden reinen Wesensintuition —
in der alles empirisch Zufällige den Charakter des Außerwesent¬
lichen und frei Variablen annimmt — als wesensmäßig Echtes
überhaupt erschaut. In dieser reinen (oder apriorischen) Allge-
30 meinheit fungiert es als gültige Norm für alle erdenklichen Ein¬
zelfälle von solchem Wesen überhaupt x). Denkt man also, kon¬
kreter gesprochen, anstelle des Exempels aus dem täglichen
Leben, aus Mythos oder Geschichte an ,,irgendeinen Menschen
überhaupt”, als wertenden und strebenden in derartigen Lagen
35 überhaupt, zugewendet so gearteten Zielen, handelnd auf so
gearteten Wegen überhaupt, so wird es generell evident, daß so
geartete Ziele und Wege überhaupt echte oder, im Gegenfalle,
daß sie generell unechte, unvernünftige sind, das letztere na-
J) Siehe Anm. *) d. Hrsg, auf S. 8. — Anm. d. Hrsg.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 11
türlich dann, wenn das Schöne und Gute selbst, das in der Klä¬
rung auftritt, evident widerstreitet dem im voraus Vermeinten
und damit die Meinung als rechtlos aufhebt.
2. Vorlesung: < Platons Dialektik und die Idee der philosophischen
Wissenschaf t.>
Fassen wir zusammen: Sokrates, der ethische Praktiker,
5 stellte in Reaktion gegen die jeden vernünftigen Lebenssinn
bestreitende Sophistik den Grundgegensatz alles wachen persön¬
lichen Lebens, den zwischen unklarer Meinung und Evidenz, in
den Brennpunkt des — ethisch-praktischen — Interesses. Er
zuerst erkannte die Notwendigkeit einer universalen Methode
10 der Vernunft, und erkannte den Grundsinn dieser Methode,
modern ausgedrückt, als intuitive und apriorische Kritik der
Vernunft. Oder, genauer bezeichnet, er erkannte ihren Grundsinn
als Methode klärender Selbstbesinnungen, sich vollendend in der
apodiktischen Evidenz als der Urquelle aller Endgültigkeit. Er
15 zuerst erschaute das Ansichbestehen reiner und genereller Wesen¬
heiten als absoluter Selbstgegebenheiten einer reinen Wesensin¬
tuition. Mit Beziehung auf diese Entdeckung gewinnt die von
Sokrates für das ethische Leben allgemein geforderte radi¬
kale Rechenschaftsabgabe eo ipso die bedeutungsvolle Gestalt
20 einer prinzipiellen Normierung bzw. Rechtfertigung des tätigen
Lebens nach den durch reine Wesensintuition herauszustellenden
generellen Ideen der Vernunft.
Mag dies alles bei dem bekannten Mangel an theoretisch-wis¬
senschaftlichen Absichten bei Sokrates einer eigentlich wissen-
25 schaftlichen Fassung und einer systematischen Durchführung
als wissenschaftlicher Theorie der Methode echter Lebenspraxis
entbehren: es darf doch als sicher gelten, daß bei Sokrates in der
Tat die Keimformen für die vemunftkritischen Grundgedanken
liegen, deren theoretische und technologische Gestaltung und
30 höchst fruchtbare Fortbildung der unvergängliche Ruhm
Platons ist.
Ihm wenden wir uns jetzt zu.
Er übertrug das Sokratische Prinzip radikaler Rechenschafts¬
abgabe auf die Wissenschaft1). Theoretisches Erkennen, For-
») Der hier folgende Text bis S. 17. einer letztnormierenden Autorität.” ist
von H. aus seinem Aufsatz Die Idee einet philosophischen Kultur in die Vorlesung
12 ERSTE PHILOSOPHIE
sehen und Begründen ist ja zunächst nur eine besondere Art
strebenden und handelnden Lebens. Es bedarf also auch hier der
radikalen Besinnung über die Prinzipien seiner Echtheit.
War Sokrates’ Lebensreform gegen die Sophisten inso-
5 fern gerichtet gewesen, als sie durch ihren Subjektivismus die
allgemeinen ethischen Gesinnungen verwirrten und verdarben,
so richtet sich Platon gegen sie als Verderber der Wissen¬
schaft (der „Philosophie”) 1). In beiderlei Hinsicht fanden die
Sophisten so wenig Widerstand und übten sie so schädliche Wir-
10 kungen, weil es, wie an einem echten Vernunftleben überhaupt,
so an einem echten wissenschaftlichen Erkenntnisleben noch
fehlte. Auch hier war alle Vernünftigkeit bloß naive Prätention,
in sich unklar über letzte Möglichkeit und Rechtmäßigkeit ihrer
Endziele und Wege.
15 Ein echtes Vernunftleben, im besonderen ein echt wissenschaft¬
liches Forschen und Leisten, muß die Stufe der Naivität durch
radikal klärende Besinnung ganz und gar übersteigen, es muß —
ideal gesprochen — für alle Schritte die voll zureichende Recht¬
fertigung bereit haben, zuhöchst aber die Rechtfertigung aus
20 einsichtig geschöpften Prinzipien.
Durch den hohen Ernst, in dem Platon die wissenschafts¬
feindliche Skepsis in diesem sokratischen Geiste zu überwinden
sucht, wird er zum Vater aller echten Wissenschaft. Er wird es
dadurch, daß er die sophistischen Argumentationen gegen die
25 Möglichkeit einer an sich gültigen Erkenntnis und einer jeden
Vernünftigen bindenden Wissenschaft, statt sie leicht zu nehmen,
vielmehr einer tief eindringenden prinzipiellen Kritik unterzieht;
daß er in eins damit die positive Ergründung der Möglichkeit
solcher Erkenntnis und Wissenschaft unternimmt, und das (von
30 dem tiefsten Verständnis sokratischer Mäeutik geleitet) im Geiste
einer intuitiven Wesensklärung und der evidenten Herausstel¬
lung ihrer generellen Wesensnormen; und endlich dadurch, daß
er sich mit allen Kräften bemüht, auf Grund solcher prinzipiellen
Einsichten echte Wissenschaft selbst auf die Bahn zu bringen.
35 Man kann sagen, daß erst mit Platon die reinen Ideen:
echte Erkenntnis, echte Theorie und Wissenschaft und — sie
übernommen worden. Vgl. die Wiedergabe der genannten Abhandlung in den
Ergänzenden Texten, S. 203 ff. — Anm. d. Hrsg.
J) Vgl. Beilage V, S. 315 f. — Anm. d. Hrsg.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 13
alle umspannend — echte Philosophie, in das Bewußtsein der
Menschheit traten; wie er auch der erste ist, der sie als die philo¬
sophisch wichtigsten, weil prinzipiellsten Forschungsthemen
erkannt und behandelt hat1). Platon ist auch der Schöpfer des
5 philosophischen Problems und der Wissenschaft von der Methode;
nämlich der Methode, die im Wesen der Erkenntnis selbst ange¬
legte oberste Zweckidee der ,,Philosophie” systematisch zu ver¬
wirklichen. Echtes Erkennen, echte Wahrheit (an sich gültige,
endgültig bestimmende), in wahrem und echtem Sinne Seiendes
10 (als identisches Substrat endgültig bestimmender Wahrheiten)
werden für ihn zu Wesenskorrelaten. Der Gesamtinbegriff aller
in möglichem echten Erkennen zu erzielenden an sich gültigen
Wahrheiten bildet notwendig eine theoretisch verbundene und
methodisch ins Werk zu setzende Einheit, die einer univer-
15 salen Wissenschaft. Das ist im Sinne Platons die Philosophie. Ihr
Korrelat ist also die Totalität alles wahrhaft Seienden.
Eine neue Idee der Philosophie tritt damit, die ganzen weite¬
ren Entwicklungen bestimmend, auf den Plan. Sie soll nunmehr
nicht bloß überhaupt Wissenschaft, naives Gebilde eines rein auf
20 Erkenntnis gerichteten Interesses sein; auch nicht bloß, wie
schon vordem, universale, sondern zugleich absolut gerechtfer¬
tigte Wissenschaft. Eine Wissenschaft soll sie sein, die in jedem
Schritte und in jeder Hinsicht Endgültigkeit anstrebt, und zwar
auf Grund wirklich betätigter Rechtfertigungen, die vom Erken-
25 nenden (und von jedem Miterkennenden) in vollendeter Einsicht
als absolute jederzeit zu verantworten sind.
Es deutet sich schon mit der Platonischen Dialektik, diesem
Anfang einer neuen Epoche, an, daß eine Philosophie dieses
höheren und echten Sinnes nur möglich ist auf Grund prinzipiel-
30 1er Voruntersuchungen der Bedingungen der Möglichkeit einer
Philosophie. Darin liegt, alswie in einem lebendigen Keime be¬
schlossen, die in Zukunft bedeutungsvolle Idee einer notwendigen
Begründung und Gliederung der Philosophie in zwei Stufen, einer
sozusagen ,.ersten” und einer „zweiten” Philosophie. Als Erste
35 Philosophie geht voran eine sich selbst absolut rechtfertigende
universale Methodologie; oder, theoretisch gefaßt: eine Wissen¬
schaft von der Totalität der reinen (apriorischen) Prinzipien aller
möglichen Erkenntnisse und der Gesamtheit der in diesen syste-
J) Vgl. Beilage VI, S. 316 ff. — Anm. d. Hrsg.
14 ERSTE PHILOSOPHIE
matisch beschlossenen, also rein aus ihnen deduktibeln apriori¬
schen Wahrheiten. Wie einzusehen ist, umgrenzt sich damit die
durch die Wesensverknüpfung aller prinzipiellen Grundwahr¬
heiten untrennbar verknüpfte Einheit aller je zu verwirklichen-
5 den apriorischen Wissenschaften.
In der zweiten Stufe ergibt sich die Gesamtheit der „echten”,
d.i. der in rationaler Methode „erklärenden” Tatsachen Wissen¬
schaften. In allen ihren rechtfertigenden Begründungen auf die
Erste Philosophie, auf das apriorische System möglicher ratio-
10 naler Methode überhaupt zurückbezogen, schöpfen sie aus ihrer
beständigen Anwendung eine durchgängige Rationalität, eben
die jener spezifischen „Erklärung”, die jeden methodischen
Schritt aus apriorischen Prinzipien (also jederzeit in der Einsicht
apodiktischer Notwendigkeit) als endgültig gerechtfertigt aus-
15 zuweisen vermag. Zugleich gewinnen diese Wissenschaften —
immer ideal gesprochen — aus der erkannten systematischen
Einheit der obersten apriorischen Prinzipien selbst die Einheit
eines rationalen Systems, sie sind Disziplinen der einen „Zweiten
Philosophie”, deren Korrelat und Gebiet die Einheit der fakti-
20 sehen Wirklichkeit ist.
Doch kehren wir zu Platon selbst wieder zurück, so ist jetzt
auch zu betonen, daß er keineswegs bloß Reformator der Wis¬
senschaft sein wollte. In seinem letzten Absehen blieb er auch in
seinen wissenschaftstheoretischen Bemühungen allzeit Sokratiker,
25 also im universalsten Sinne ethischer Praktiker. So hatte seine
theoretische Forschung noch eine tiefere Bedeutung. Kurz gesagt
handelt es sich um folgende, in ihrem vollen Sinn, ihrer ganzen
und rechtmäßigen Tragweite noch lange nicht ausgemessene
Grundüberzeugung: endgültige Begründung, Sicherung, Recht -
30 fertigung jedweder menschlichen Vernunfttätigkeit vollzieht sich
in den Formen und durch das Medium der prädikativ urteilenden
theoretischen Vernunft — und vollzieht sich letztlich mittels der
Philosophie. Die Emporbildung der Menschheit zur Höhe wahren
und echten Menschentums setzt voraus die Entwicklung der
35 echten Wissenschaft in ihrer prinzipiell verwurzelten und ver¬
knüpften Totalität. Sie ist die Erkenntnisstätte aller Rationali¬
tät; aus ihr schöpfen auch die berufenen Führer der Menschheit
— die Archonten — die Einsichten, nach denen sie das Ge¬
meinschaftsleben rational ordnen.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 15
Durch solche Anschauungen zeichnet sich die Idee einer neu¬
artigen Kultur vor; nämlich als einer Kultur, in der nicht nur
unter anderen Kulturgestaltungen auch die der Wissenschaft
erwächst und immer bewußter ihrem Telos „echter” Wissenschaft
5 zustrebt, sondern in der die Wissenschaft die Funktion des
Yjyegovixov alles Gemeinschaftslebens und damit aller Kultur
überhaupt zu übernehmen berufen und immer bewußter be¬
strebt ist — ähnlich wie in der Einzelseele der vou<; gegenüber den
anderen Seelenteilen. Die Menschheitsentwicklung als Prozeß
10 der Kultivierung vollzieht sich nicht nur als Entwicklung im
Einzelmenschen, sondern als Entwicklung in der Kultivierung
des „Menschen im großen”. Die oberste Bedingung der Möglich¬
keit seiner Kultivierung zu einer wahren und „echten” Kultur
ist die Schöpfung echter Wissenschaft. Sie ist das notwendige
15 Mittel für die Erhöhung und bestmögliche Erzielung aller ande¬
ren echten Kultur und zugleich selbst eine Gestalt einer solchen
Kultur. Alles Wahre und Echte muß sich als solches ausweisen
lassen und ist selbst nur als ein freies, aus der Evidenz der Ziel¬
echtheit entsprungenes Erzeugnis möglich. Letzte Ausweisung,
20 letzte Erkenntnis alles Echten nimmt die Gestalt urteilender
Erkenntnis an und steht als solche unter wissenschaftlichen
Normen. Sie hat ihre höchste rationale Gestalt durch prinzipielle
Rechtfertigung, also als Philosophie.
Auch solche (hier natürlich fortgebildeten) Gedanken hat Pla-
25 ton in wesentlichen Zügen vorgebildet, sie vorbereitet, aber auch
in ihren primitiven Formen begründet. Und sicherlich, die für die
europäische Kultur vor allem charakteristische Tendenz auf uni¬
versale Rationalisierung durch eine zunächst sich selbst rational
gestaltende Wissenschaft erwachte zuerst im Genius Platons. Und
30 sie nimmt, nur als Folge seiner Nachwirkung, die immer kräftiger
sich herausbildende Form einer im allgemeinen Kulturbewußtsein
selbst anerkannten Norm und schließlich (in der Aufklärungs¬
epoche) die Form einer die Kulturentwicklung auch bewußt
leitenden Zweckidee an.
35 In diesen Beziehungen bahnbrechend war insbesondere die
Erkenntnis, daß der Einzelmensch und sein Leben notwendig
betrachtet werden muß als funktionierendes Mitglied in der Ein¬
heit der Gemeinschaft und ihres Gemeinschaftslebens und daß
somit auch die Idee der Vernunft nicht eine bloß einzelmensch-
16 ERSTE PHILOSOPHIE
liehe sondern eine Gemeinschaftsidee ist, unter der also auch die
sozial verbundene Menschheit und die historisch gewordenen
Formen sozialer Lebensgestalten normativ zu beurteilen sind.
Platon nennt bekanntlich das Gemeinwesen im Hinblick auf
5 dessen normale Entwicklungsgestalt, den Staat, den „Menschen
im großen”. Offenbar leitet ihn die natürlich erwachsene, das
Denken und Handeln des praktisch-politischen Lebens allgemein
und unvermeidlich bestimmende Apperzeption, welche die Ge¬
meinden, Städte, Staaten analog wie Einzelmenschen als denkend,
10 fühlend, sich praktisch entschließend, handelnd — als so etwas
wie Personalitäten ansieht. Und in der Tat, wie alle ursprüng¬
lichen Apperzeptionen hat auch diese ein ursprüngliches Recht in
sich. So wird Platon zum Begründer der Lehre von der sozialen
Vernunft, von einer wahrhaft vernünftigen Menschengemein-
15 schaft überhaupt bzw. von einem echten sozialen Leben über¬
haupt — kurzum der Begründer der Sozialethik, als der vollen
und wahren Ethik. Diese hatte für Platon, ganz im Sinne der
obigen Ausführungen, ein besonderes Gepräge durch seine prinzi¬
pielle Idee der Philosophie. Nämlich: hatte Sokrates das
20 vernünftige Leben auf sich einsichtig rechtfertigendes Wissen ge¬
gründet, so tritt nun bei Platon für dieses Wissen die Philo¬
sophie ein, die absolut gerechtfertigte Wissenschaft; zudem dann
für das vernünftige Einzelleben das Gemeinschaftsleben, für den
Einzelmenschen der Mensch im großen. So wird die Philosophie
25 zum rationalen Fundament, zur prinzipiellen Bedingung der
Möglichkeit einer echten, wahrhaft vernünftigen Gemeinschaft
und ihres wahrhaft vernünftigen Lebens. -— Ist dies auch bei
Platon auf die Idee der Staatsgemeinschaft beschränkt und zeit¬
lich bedingt durchdacht, so ist die universale Extension seiner
30 Grundgedanken auf eine beliebig weit zu fassende vergemein-
schaftete Menschheit leicht auszuführen. Es ist damit der Idee
einer neuen Menschheit und Menschheitskultur die Bahn gebro¬
chen, und zwar als einer Menschheit und Kultur aus philosophi¬
scher Vernunft.
35 Wie diese Idee in reiner Rationalität weiter auszugestalten
wäre, wie weit ihre praktische Möglichkeit reicht, inwiefern sie
als höchste praktische Norm anzuerkennen und zur Wirksamkeit
zu bringen ist, das sind hier offene Fragen. Jedenfalls aber üben
die platonischen Grundgedanken einer strengen Philosophie als
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 17
Funktion eines durch sie zu reformierenden Gemeinschaftslebens
de facto eine unablässige und sich steigernde Wirkung. Bewußt
oder unbewußt bestimmen sie den Wesenscharakter und das
Schicksal der europäischen Kulturentwicklung. Die Wissenschaft
5 verbreitet sich über alle Lebensgebiete und beansprucht überall,
so weit sie gediehen ist oder es zu sein glaubt, die Bedeutung
einer letztnormierenden Autorität x).
< Zweites Kapitel
Die Begründung der Logik und die Grenzen
der fo rm a1- ap o phant isc h en Analytik>
3. Vorlesung: <Die aristotelisch-stoisch-traditionelle Logik als Logik
der Konsequenz oder Einstimmigkeit.>
Wir haben in der letzten Vorlesung die Platonische Idee der
Philosophie kennengelemt. Was uns jetzt vor allem interessiert,
10 ist die Entwicklung der europäischen Wissenschaft: wie und
inwieweit sich die Platonischen Impulse ausleben.
Die von Platons Dialektik ausgehende neue Philosophie,
die Logik, die allgemeine Metaphysik (Aristoteles’ Erste
Philosophie), die Mathematik, die Natur- und Geisteswissen-
15 schäften in ihren verschiedenen Disziplinen (wie Physik, Biologie,
Psychologie, Ethik und Politik), waren nur unvollkommene
Verwirklichungen der Platonischen Idee der Philosophie als sich
absolut rechtfertigender Wissenschaft. Man kann sagen, der
Radikalismus der Platonischen Intention auf volle und letzte
20 Rationalität aller wissenschaftlichen Erkenntnis schwächte sich
gerade dadurch, daß Unterstufen der Rationalität erklommen
wurden — und zwar sowohl in der systematischen Ausgestaltung
einer Logik mit der Funktion einer berufsmäßig der konkreten
wissenschaftlichen Arbeit vorleuchtenden allgemeinen Methoden-
25 lehre als auch in der Ausführung einzelner wissenschaftlicher
Disziplinen selbst. Diese erwuchsen jetzt wirklich, unter steter
kritischer Vor- und Nacherwägung ihrer Methoden. Sie gewannen
in dieser Hinsicht — insbesondere in den von vornherein be¬
vorzugten mathematischen Erkenntnissphären — alsbald eine
30 Rationalität, welche weit über das hinausging, was die berufene
*) Siehe Anm. *) d. Hrsg, auf S. 11. — Anm. d. Hrsg.
Husserliana VII 2
18 ERSTE PHILOSOPHIE
Führerin Logik aus wissenschaftlich fixierten Normgesetzen
rechtfertigen konnte. Begreiflicherweise ging übrigens eines und
das andere, Entwicklung der Logik und Entwicklung der Wissen¬
schaften, von vornherein Hand in Hand. In der Einstellung auf
5 kritische Rechtfertigung und dabei auf das Prinzipielle, also auf
reine Allgemeinheiten, mußte sich schon an den primitiven
theoretischen Leistungen der ältesten Mathematik, an ihren
Schlüssen und Beweisen, ein festes Gefüge idealer Formen und
Formgesetze aufdrängen. Es mußte auffallen, daß die in den
10 Urteilstätigkeiten erwachsenden elementaren und komplexen
Urteilsgebilde in evidenter Notwendigkeit an feste Formen
gebunden sind, wenn sie überhaupt sollen wahr sein, als ihren
Sachverhalten angemessen sollen einsehbar sein können. In echt
platonischem Geiste kamen, wenn auch nicht vollständig, die
15 reinen Urteilsformen zu ideal-begrifflicher Fassung, und es wur¬
den die in ihnen gründenden rein rationalen Gesetze entdeckt, in
denen sich formale Bedingungen der Möglichkeit der Urteils¬
wahrheit (und ebenso der Urteilsfalschheit) aussprechen. So
erwuchsen Grundstücke einer reinen, und zwar formalen Logik
20 oder, wie wir auch sagen können, Grundstücke einer rein ratio¬
nalen Wissenschaftslehre, deren Normen eben vermöge ihrer
formalen Allgemeinheit von schlechthin universaler Gültigkeit
sein mußten. Wissenschaft überhaupt, jede erdenkliche Wissen¬
schaft, will ja Wahrheiten erzielen; sie will in ihrem aussagenden
25 Tun Aussageinhalte erzeugen, die nicht bloß überhaupt von den
aussagenden Subjekten geurteilte sondern von ihnen evident
bewährte und jederzeit wieder evident bewährbare Urteile sind.
Somit ist es klar, daß die formallogischen Gesetze eben als die die
reinen Formen möglicher wahrer Urteile bildenden Gesetze für
30 alle erdenklichen Wissenschaften normative Bedeutung und für
sie alle schlechthin notwendige Gültigkeit haben müssen.
Die den großen Wurf der Aristotelischen Analytik
fortgestaltende Stoische Logik hat das große Verdienst,
zuerst die notwendige Idee einer wirklich strengen formalen
35 Logik in einiger Reinheit herausgearbeitet zu haben. Sie legte
den Grund dazu durch ihre bedeutsame — allerdings beiseite¬
geschobene, ja völlig in Vergessenheit geratene — Lehre vom
Aextov. In ihr wird zuerst die Idee des Satzes, als des im Urteilen
geurteilten Urteils (Urteil im noematischen Sinn), präzis heraus-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 19
gefaßt, und auf seine reinen Formen werden die syllogistischen
Gesetzmäßigkeiten bezogen.
Im wesentlichen war diese und war die ganze Logik der Tra¬
dition nicht eine eigentliche Logik der Wahrheit sondern eine
5 bloße Logik der Widerspruchslosigkeit, der Einstimmigkeit, der
Konsequenz. Genauer gesprochen, es waren die durch die Jahr¬
tausende sich fortpflanzenden rationalen Theorien, welche den
Kernbestand der wie immer sonst sich abwandelnden Logik
ausmachten, eingeschränkt auf die formalen Bedingungen der
10 Möglichkeit, die einmal gefällten Urteile ihrem bloß analytischen
Sinn gemäß konsequent festzuhalten, vor allem Fragen nach
ihrer sachlichen Wahrheit oder Möglichkeit. Da es sich hier um
eine höchst bedeutsame Unterscheidung handelt, auf die < schon >
Kants Lehre vom analytischen Denken zwar abzielte, die
15 aber weder von ihm noch von den späteren zu der sehr nötigen
wissenschaftlichen Klärung gebracht worden ist, will ich hier
einen systematischen Exkurs folgen lassen, der allen Bedürf¬
nissen nach prinzipieller Durchsichtigkeit genugtun dürfte.
Denken wir uns, irgendjemand urteile nacheinander und reihe
20 Urteil an Urteil, derart, daß ihm die schon gefällten Urteile
innerlich fortgelten; dann erwachsen nicht bloß überhaupt Reihen
von Urteilen, sondern solche Reihen, die immerfort gemeint
bleiben in der Einheit einer Zusammengeltung, eines Gesamtur¬
teils: eine Urteilseinheit geht durch alle einzelnen Urteile hin-
25 durch. Es sind nicht Urteile, die im bloßen Nacheinander in
einem Bewußtseinsstrom auftreten. Vielmehr bleiben sie nach
der aktuellen urteilenden Erzeugung fortgesetzt im geistigen
Griff und so, im Nacheinander zusammengegriffen, in einem
Griff: sie haben eine Urteilssinn mit Urteilssinn verknüpfende,
30 sich im Fortgang des Urteilens sinnvoll aufbauende Einheit, die
eines zusammengesetzten, übergreifenden, in den einzelnen
Urteilen fundierten Urteils, das ihnen allen Einheit einer inner¬
lich zusammengehörigen Geltung erteilt. In dieser Art haben
die mannigfaltigen Aussagen einer Abhandlung und hat in ihrer
35 Art jede Theorie und jede ganze Wissenschaft allübergreifende
Urteilseinheit.
Innerhalb jeder solchen umspannenden Urteilseinheit können
Urteile mit Urteilen einsichtigerweise in besonderen Beziehungen
stehen, oder nachträglich in solche treten. Sie können Urteils-
20 ERSTE PHILOSOPHIE
einheiten besonderer Art bilden, nämlich die Einheiten der Kon¬
sequenz und Inkonsequenz. So ist jeder Schluß eine Urteilsein¬
heit der Konsequenz. Es tritt im Schließen das sogenannte
erschlossene Urteil nicht bloß nach den Prämissenurteilen
5 auf; es wird nicht bloß nacheinander geurteilt, sondern aus
den Prämissenurteilen wird das Schlußurteil herausgeurteilt. Es
wird ,,erschlossen”, was in ihnen schon — und zwar urteilsmäßig
— beschlossen ist. Was durch sie schon „präjudiziert” ist, wird
nun wirklich und explizite judiziert. Z.B. urteilen wir, und zwar
10 in eins: jedes A ist B, und jedes B ist C, so mag es sein, daß wir
,,daraufhin” und als darin offenbar mitbeschlossen urteilen: jedes
A ist C. So ist der Schlußsatz nicht ein Urteilserzeugnis für sich,
sondern ein aus den Prämissen heraus erzeugtes Urteil. Solange
wir bei diesen Prämissen als unseren Meinungen bleiben, solange
15 wir sie in ihrer Geltung für uns festhalten, können wir nicht
nur überhaupt so weiterurteilen: jedes A ist C, sondern sehen,
daß dieses Urteil aus jenen Prämissen jederzeit herauserzeugbar
ist, also „in” ihnen in gewisser Weise „liegt”, als „präjudiziert”.
Mitunter gehen wir urteilend von irgendwelchen Prämissen zu
20 einem neuen Urteil fort in der Meinung, daß es darin liege. Aber
sehen wir uns die Prämissenurteile, die wir vorher geurteilt
hatten, und dieses neue Urteil selbst genau an, machen wir
unsere Urteilsmeinungen deutlich, so sehen wir mitunter, daß
das Schlußurteil nicht wirklich in ihnen beschlossen ist. In
25 anderen Fällen aber, so bei jedem einsichtig fortgehenden Schlie¬
ßen, können wir sehen, daß der Schlußsatz wirklicher Schlußsatz
dieser Prämissen, wirklich durch ihr urteilendes Setzen als
mitzusetzender bestimmt ist. Wir erkennen so, daß das Be¬
schlossensein eine relative Beschaffenheit ist, die dem Schlußur-
30 teil als identischem Aussagesatz in Relation zu den Prämissenur¬
teilen als solchen wirklich zukommt, wie umgekehrt, daß diese
die entsprechende und ihnen als identischen Urteilen ihres Sinnes
an sich selbst zukommende Eigenheit haben, dieses Schlußurteil
in sich geborgen zu tragen; daß sie Ausgangsurteile sind für
35 einen jederzeit möglichen, in aktuellem Urteilen zu vollziehenden
evidenten Übergang, in dem das Schlußurteil in seinem Charak¬
ter der Konsequenz evident hervortritt.
Der Gegencharakter der schließenden Konsequenz, wie sie
rein zu Urteilen als Urteilen gehört, ist die Inkonsequenz oder
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 21
dev Widerspruch. Hatten wir z.B. geurteilt, jedes A ist B, so
mag es weiterhin kommen, während wir noch diese Überzeugung
haben, daß wir, etwa weil eine besondere Erfahrung es lehrt,
urteilen: dieses A hier ist nicht B. Sowie aber der Blick auf das
5 frühere Urteil zurückgeht und es seinem Sinne nach deutlich
wird, erkennen wir, daß das neue Urteil dem früheren wider¬
spricht, wie umgekehrt das frühere dem späteren. Müssen wir,
etwa auf Grund der Erfahrung, das neue Urteil festhalten, so
erfolgt alsbald angesichts dieser Sachlage eine Preisgabe des
10 früheren Urteils und eine Verwandlung desselben in das nega¬
tive: nicht jedes A ist B.
Endlich haben wir noch ein mit den beiden Verhältnissen des
Beschlossenseins und Ausgeschlossenseins bzw. des Einschlusses
und Ausschlusses sich mitergebendes weiteres Verhältnis zu
15 nennen: Sätze, etwa A und B, können sich so zueinander ver¬
halten, daß sie weder in einem Einschluß- noch in einem Aus¬
schlußverhältnis zueinander stehen, so z.B. die Sätze: U ist X,
und Y ist Z; sie haben dann die Verträglichkeit, die da Wider-
spruchslosigkeit heißt.
20 Wir erkennen sogleich, daß das nicht zufällige empirische
Vorkommnisse in unserem urteilenden Leben sind, sondern daß
es sich hier um Wesensgesetze, generell einsehbare und rein ideale
allgemeine Gültigkeiten handelt, reine Gesetze, welche sich auf
Konsequenz, Inkonsequenz und Widerspruchslosigkeit beziehen,
25 und daß für diese Gesetze ausschließlich die reinen Urteilsf o r-
m e n bestimmend sind. So z.B. erkennen wir im vorhin betreffs
der Inkonsequenz Gesagten alsbald das Gesetz: widerspricht B
dem A, ist es durch A „ausgeschlossen”, und ist A gesetzt, so ist
die Setzung von B aufgehoben. Solchen Gesetzen nachgehend,
30 erkennen wir, daß Urteilskonsequenz und Widerspruch, urteils¬
mäßig Eingeschlossensein, Ausgeschlossensein und Verträglichkeit
Urteilsrelationen sind, welche miteinander durch übergreifende
ideale Gesetze in Verbindung stehen. Es scheiden sich zudem,
näher besehen, mittelbare und unmittelbare Konsequenzen und
35 Widersprüche, und wir kommen, das alles berücksichtigend,
systematisch den verschiedenen Urteilsformen und Formen von
möglichen Prämissenkombinationen folgend, auf eine vielge¬
staltige Gesetzlichkeit, die sich zusammenschließt zur Einheit
einer abgeschlossenen systematischen Theorie.
22 ERSTE PHILOSOPHIE
Es ist nun von Wichtigkeit, folgendes zu beachten. Die reine
Urteilskonsequenz und der Widerspruch als Inkonsequenz sowie
die Verträglichkeit betreffen die Urteile rein als Urteile, und ohne
Frage danach, ob sie auch nur möglicherweise wahr oder falsch
5 sind. Wir müssen hier zweierlei scharf unterscheiden:
1) Das Einsichtigmachen der Urteile im Sinne der Bewährung,
dadurch daß man sich durch Rückgang auf die „Sachen selbst"
überzeugt, ob sie wahr sind oder nicht, desgleichen das einsich¬
tige Klarmachen der Urteile in der Weise, daß man ihre Möglich-
10 keit, ihre mögliche Wahrheit oder Falschheit, ev. ihre apriorische
Möglichkeit oder ihre apriorische Unmöglichkeit (Widersinnig¬
keit) herausstellt.
2) Etwas ganz anderes ist es, sich Urteile bloß „analytisch
deutlich” zu machen, indem man zusieht, was in ihnen rein als
15 Sätzen in Konsequenz mitgeurteilt ist oder was durch sie als
Widerspruch ausgeschlossen ist. Ich spreche vom analyti¬
schen Urteilssinn (der bloßen Bedeutungseinheit) des
Aussagesatzes; ich verstehe darunter die aus jedem Urteilen bzw.
Aussagen herauszufassende und in der Wiederholung immer
20 wieder evident zu identifizierende Urteilsmeinung, deren evi¬
dente Herausfassung ganz unempfindlich dagegen ist, ob man
auf die beurteilte Sachsphäre durch klärende und bewährende
Anschauung rekurriert oder nicht.
Wir scheiden damit, wie wir auch sagen können, daß „bloße
25 Urteil” (die bloße Bedeutungseinheit) von der ihm entsprechen¬
den sachlichen Möglichkeit oder gar Wahrheit, die andere
Begriffe des äquivoken Ausdrucks „Sinn” bezeichnen.
Die ganze traditionelle Syllogistik, also fast die ganze traditio¬
nelle formale Logik nach ihrem apriorischen Kemgehalt, spricht
30 eigentlich nur Gesetze aus über die Bedingungen der Erhaltung
der Widerspruchslosigkeit, bzw. Gesetze der Herausstellung und
Richtigerhaltung von Konsequenzen, des Ausscheidens der In¬
konsequenzen. Danach gehört der Begriff der Wahrheit und ge¬
hören die Begriffe der Möglichkeit, Unmöglichkeit, Notwendig-
35 keit in die hier rein abzugrenzende formale Disziplin von den
Wesensbedingungen durchgängiger Widerspruchslosigkeit und
dem Denken in reiner Konsequenz eigentlich nicht herein. Die
rationale Gesetzmäßigkeit der Konsequenz wird eingesehen,
indem man nur auf die Urteile als die puren Aussagebedeutungen
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 23
überhaupt hinblickt und ihre reinen Formen sich zu voller Deut¬
lichkeit bringt. Wie Urteile aber zur sachlichen Angemessenheit
kommen können, wie man über Wahrheit und Falschheit, sach¬
liche Möglichkeit und Unmöglichkeit entscheiden kann, das
5 bleibt hier außer Erwägung.
Freilich sind Wahrheit und Wahrheitsmodi einerseits und bloße
Urteilsinklusion, -exklusion und -koexistenz nicht ohne nahen
Zusammenhang. Er stellt sich dadurch her, daß z.B. kein Urteil,
auch kein synthetisch einheitliches Urteilssystem, das ja zugleich
10 e i n Urteil darstellt, also z.B. keine Theorie wahr sein kann,
worin ein Widerspruch nachweisbar ist.
Jeder Widerspruch ist falsch: wir verstehen dabei unter
einem Widerspruch schlechthin ein aus Urteilen zusammengesetz¬
tes Urteil, unter dessen Urteilsgliedem irgendeines mindestens
15 ein anderes ausschließt, ihm widerspricht. Wir können aber auch
das Gesetz formulieren: widerspricht B dem A und ist A wahr, so
ist B falsch, und ist B wahr, so ist A falsch. Entsprechende Ge¬
setze gelten, wenn wir statt Wahrheit Möglichkeit und Notwen¬
digkeit bzw. ihr Gegenteil nehmen. Ähnliche Gesetze haben wir
20 ferner für das Verhältnis der Konsequenz, des puren Urteilsein¬
schlusses. Vor allem das Grundgesetz: ist der beschließende
Satz wahr (möglich), so ist der beschlossene Satz wahr (möglich),
und ist ein beschlossener Satz falsch (unmöglich), so ist der be¬
schließende Satz, sind seine gesamten Prämissen falsch. Alle
25 solche Verbindungsgesetze müssen sorgsam und als eigene, von
den puren Konsequenzsätzen getrennte Prinzipien aufgestellt
werden. In reiner Begriffsbildung muß man dann auch die ver¬
schiedenen Sphären angehörigen Begriffe der Geltung scheiden.
In der Konsequenzlogik heißt das Gesetz: gilt der Schlußsatz
30 nicht, so gelten auch die Prämissen nicht, nur soviel: die Preis¬
gabe des erschlossenen Urteils bedingt die Preisgabe des beschlie¬
ßenden. Es hängt das zusammen mit dem anderen Gesetz, daß
jedes Verhältnis des Schlusses umkehrbar ist; die Negation des
Schlußsatzes hat als Konsequenz die Negation der Prämissen. In
35 der Wahrheitslogik ist aber nicht die Rede von demjenigen Gelten
und Nichtgelten, das ein mögliches Urteil zum Urteil macht oder
ihm als schon geurteiltem die Urteilssetzung versagt, sondern
von der Gültigkeit als Wahrheit und als der ihrer Derivate.
Mit Beziehung nun auf solche Gruppen von formalallgemeinen
24 ERSTE PHILOSOPHIE
Verbindungsgesetzen erweist sich freilich eine formale Logik der
bloßen Konsequenz und Widerspruchslosigkeit als eine wertvolle
Unterstufe der Logik der Wahrheit; aber doch nur eine Unter¬
stufe. Auf Ermöglichung von wahren Urteilen und durchgängig
5 Wahrem geht aber das eigentliche Erkenntnisinteresse, und zu¬
höchst auf Ermöglichung einer universalen Erkenntnis, der
Erzeugung eines Systems universaler und absolut gerechtfertig¬
ter Wahrheit, einer Philosophie im Platonischen Sinn. Demge¬
mäß bedurfte es über die freilich höchst rationale, in reinen
10 Wesensgesetzen sich bewegende Konsequenzlogik hinaus einer
rein rationalen Methodenlehre der Erzielung der Wahrheit. In
dieser Hinsicht kam man aber nicht weit, selbst nicht in Hinsicht
auf die allgemeinsten, und in der Tat schwer genug zugänglichen
Probleme der Ermöglichung einer Wahrheit überhaupt — zu-
15 nächst abgesehen von den schon viel weiter gehenden Problemen
einer Ermöglichung echter Wissenschaft und gar einer Philosophie.
4. Vorlesung: <Exkurs: Über die universale Logik der Konsequenz als
analytische Mathematik, die korrelative Behandlungsweise der formalen
Ontologie und das Problem einer Logik der Wahr heit. >
In der letzten Vorlesung charakterisierten wir die rationalen
Theorien der formalen Logik, die, von Aristoteles unter
dem Titel Analytik konzipiert und in der Folgezeit ergänzt und
20 gereinigt, sozusagen den eisernen Bestand der traditionellen
Logik ausmachten. Dem Hauptkerne nach war diese Logik eine
rationale Systematik der Wesensgesetzlichkeiten, welche Konse¬
quenz, Inkonsequenz, Widerspruchslosigkeit beherrschen. Ich
versuchte klarzumachen (was freilich die Tradition selbst nicht
25 gesehen hatte), daß sich damit eigentlich eine eigene Diszi¬
plin abgrenzte, die, wenn man ihren Sinn rein faßt, in ihrem
eigenen theoretischen Bestände den Begriff der Wahrheit und
seine verschiedenen Derivate und Modalitäten noch gar nicht
mitbefaßt. Derivate der Wahrheit sind dabei Begriffe wie Mög-
30 lichkeit (als mögliche Wahrheit), Notwendigkeit, Wahrschein¬
lichkeit usw. mit ihren Negationen.
Unsere Abscheidung einer Logik der Konsequenz war, um noch
einmal darauf zurückzukommen, darin gegründet, daß Urteile
als bloße Urteilssinne (Sätze) — oder, wie wir in der
Sphäre aussagenden Urteilens auch sagen können, i d e n t i-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 25
sehe Bedeutungen von Aussagesätzen —
durch ,,bloße Verdeutlichung” evident herauszufassen sind.
Diese Evidenz liegt, zeigten wir, vor aller Frage nach möglicher
oder wirklicher Wahrheit; oder, was äquivalent ist, sie ist
5 unabhängig davon, ob das Urteil in Beziehung auf seinen Sach¬
verhalt ein anschauendes ist und ob dann seine Meinung mehr
oder minder gesättigt ist mit der Fülle der Anschauung oder
nicht.
Es macht das Wesen dieser Evidenz bloßer Ver-
lOdeutlichung aus, daß es für sie durchaus nicht darauf
ankommt, daß man die jeweiligen Aussagebedeutungen auf ihre
Wahrheit oder auch nur auf ihre mögliche Wahrheit hin prüft,
d.i. zur klärenden oder bewährenden Veranschaulichung dieser
Aussagebedeutung (also dessen, was man da urteilend meint)
15 übergeht. Damit wäre vielmehr eine Evidentmachung einer ganz
anderen Art und Richtung geleistet. Terminologisch unterschei¬
dend können wir gegenübersetzen analytische Verdeut¬
lichung, welche den identischen „analytischen” Sinn der Aus¬
sage herausstellt, z.B. in der Aussage „2 ist kleiner als 3”, gegen-
20 über der sachlichen Klärung oder Bewährung und
der darin hervortretenden Möglichkeit oder Wahrheit. Hier be¬
zeichnet sich ein ganz anderer Begriff von Sinn; insbesondere in
der negativen Rede heißt es dann z.B. „2 ist größer als 3”, das
„hat keinen Sinn”, d.h., es hat natürlich einen analytischen
25 S i n n, es ist ein Satz, der nach dem, was da im urteilenden
Aussagen gemeint wäre, ganz und gar deutlich ist; aber der
sachliche Sinn, Möglichkeit und Wahrheit, ist hier zu
vermissen, wie in der Klärung, im Rückgang zur sachlichen
Veranschaulichung des „2” und „3” und „größer” evident wird.
30 Für die auf den analytischen Sinn gerichtete Evidenz, die der
analytischen Verdeutlichung, genügt, könnten wir auch sagen,
ein bloß symbolisches, bloß verbales Ur¬
teilen, das seinerseits gar nichts für Möglichkeit und Wahr¬
heit, ebenso nichts für Notwendigkeit, Wahrscheinlichkeit der
35 Geltung ergibt und für deren Gegenteil.
Und nun hieß es mit Beziehung auf diese Scheidung: die ganze
Syllogistik, rein gefaßt, ist, wenn wir das Aristotelische Wort
verwenden wollen, „Analytik”, sie betrifft die bloßen identischen
idealen Aussagebedeutungen oder Urteile als Bestände analyti-
26 ERSTE PHILOSOPHIE
scher Verdeutlichung: eben weil Relationen wie die Konsequenz
und Inkonsequenz, das Eingeschlossensein und Ausgeschlossen¬
sein, desgleichen in der Weise der Widerspruchslosigkeit analy¬
tisch Verträglichsein ausschließlich diese Urteile als pure Ur-
5 teilsmeinungen, -sinne betreffen.
Die traditionelle Logik wollte nun aber nicht
bloß Logik analytischer Konsequenz und Widerspruchslosigkeit
sein. Sie sprach ja beständig von Wahrheit und ihren
Derivaten — und das nicht bloß anbei in Zusammenhängen mit
10 der Konsequenz, sondern sie wollte die Methode der Wahrheit
sein. Und selbstverständlich konnte sie ersteres nicht einmal
wollen, weil sie sich die doppelte zum Urteilen gehörige Evidenz
theoretisch nicht zugeeignet hatte, von der wir vorhin sprachen,
und damit nicht die verschiedenen zugehörigen Begriffe von
15 Urteilssinn. Demnach gab sie nicht in einer notwendigen metho¬
dologischen Scheidung der Konsequenz, was der Konsequenz
zugehört, und dann in Sonderung der Wahrheit und den Wahr¬
heitsmodalitäten, was eben diesen spezifisch zugehört, was also
aus der Evidenz der sachlichen Adäquation für Urteile ausgesagt
20 werden kann in Gestalt von apriorischen Gesetzen von formaler
Allgemeingültigkeit.
Eine große Unvollkommenheit des methodischen Verfahrens
haftet danach der historischen Logik an, ihr, die doch als univer¬
sale und prinzipielle Methodenlehre aller Erkenntnis in ihrem
25 eigenen Verfahren den höchsten methodischen Anforderungen
genügen sollte. Blieb sie in Bezug auf sich selbst in Unklarheiten
und Halbheiten stecken, so mußten ihre methodischen Normen
für alles Erkennen überhaupt selbst unzureichend, unklar,
stückweise bleiben.
30 In der Tat kam die Logik nicht sehr weit, abgesehen von dem
Ausgeführten. Sie blieb unzulänglich selbst in der, wie wir sehen
werden, prinzipiell einseitigen Dimension, in der allein sie sich
theoretisch entfaltete. Ein sehr bedeutsamer Mangel unzulässiger
Beschränkung ist hier festzustellen. Die traditionelle Logik zeigte
35 sich nicht fähig, der Korrelation zwischen prädikativ bestim¬
mendem Urteil und Urteilssubstrat theoretisch genugzutun, und
demgemäß auch nicht der Korrelation zwischen prädikativer
Wahrheit und wahrhaft seiender Gegenständlichkeit. Der Sinn
jeder prädikativen Aussage bezieht sich (in sich selbst) auf
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 27
irgendwelche Gegenstände, worüber er aussagt, die er urteils¬
mäßig nennt und worüber er das und das bestimmt. Formale
Theorien, welche Konsequenz und Wahrheit prädikativer Ur¬
teile überhaupt betreffen, fordern korrelativ auch formale
5 Theorien für nominale Gegenständlichkeiten als solche möglicher
Urteile, als in reiner Konsequenz oder Widerspruchslosigkeit
denkbare, d.i. urteilsmäßig setzbare, und dann ebenso Theorien
für nicht nur einstimmig denkbare, sondern in möglicher Wahr¬
heit seiende Gegenstände überhaupt.
10 Etwas näher erläutert: es kann gefragt werden, was a priori
und in formaler Allgemeinheit für Gegenstände überhaupt gilt;
in formaler Allgemeinheit, d.i. für alle erdenklichen Gegenstände
überhaupt, und rein als erdenkliche; d.h. aber nichts anderes
als für Gegenstandssinne, so wie sie in möglichen Urteilssinnen
15 (in Sätzen im logischen Sinn) als Substrate der ihnen (schlechthin
oder hypothetisch oder bedingt, in Gewißheit, Vermutlichkeit,
Wahrscheinlichkeit usw.) zugedachten Eigenschaften, relativen
Beschaffenheiten usw. auftreten mögen. Jedes Urteil ist Urteil
über dieses und jenes, und die betreffenden Substrate gehören
20 als Sinnesmomente, als Gegenstandssinne, selbst in den Verband
der Einheit des Sinnes, die da Urteil heißt. Nichts anderes als
solche Gegenstandssinne sind es, welche die analytische Mathe¬
matik (in der Mengenlehre, Arithmetik, Mannigfaltigkeitslehre)
als Denkgegenstände bezeichnet. Des näheren ist hierbei nicht
25 nur die Frage nach den möglichen synthetischen Verknüpfungen
möglicher Urteile, die durch identische Substrate (sinngemäß
als identisch vermeinte) verbunden sind, sondern nach solchen
synthetischen Verbindungen, in denen die Urteile einstimmig
verbunden, also korrelativ die identischen Gegenstände durch
30 widerspruchslose Bestimmungen bestimmt gedacht sind. Denkt
man Gegenstandssinne in formaler Allgemeinheit als Substrate
von Urteilssinnen beliebiger Sinngestalten überhaupt oder ge¬
wissen aus den a priori möglichen und begrifflich konstruier¬
baren Gestalten ausgewählten Gestalten, so ist dann also die
35 Frage nach den apriorischen Gestaltsystemen, in denen dieselben
Substrate in Einstimmigkeit setzbar sind, und den einstimmigen
Bestimmungsformen, die sie in diesen annehmen. Jede Form
einstimmiger Bestimmung ist zugleich ein Gesetz für Gegen¬
stände überhaupt, nämlich als in solcher Form widerspruchslos
28 ERSTE PHILOSOPHIE
bestimmbare. Die systematische Aufstellung der unmittelbar
evident einstimmigen Systeme von Bestimmungsweisen möglicher
Gegenstände überhaupt und die konstruktive analytische De¬
duktion aller darin in Konsequenz beschlossenen Bestimmungs-
5 gestalten ist die Aufgabe der Mannigfaltigkeitslehre. Die Lehre
von dem Etwas oder den Etwas überhaupt, d.i. von Gegenständen
überhaupt als Substraten möglicher prädikativer Sinne, die sollen
in fortgehender Prädikation einstimmig urteilbar sein können,
ist die formale Ontologie. Sie ist nur eine korrelative
10 Betrachtungsweise der Lehre von den einstimmigen Urteilen
überhaupt und den Formen, in denen sie sich zu konsequent ein¬
stimmigen Urteilssystemen zusammenschließen. Eine voll
umfassend gedachte apophantische Logik ist von selbst eine
formale Ontologie, und umgekehrt eine voll ausgeführte for-
15 male Ontologie von selbst eine formale Apophantik.
Die kategorialen Begriffe, d.i. die a priori möglichen Bestim¬
mungsformen, durch die sich Denkgegenstände in möglichen ein¬
stimmig zu urteilenden Urteilen bestimmen, unterscheiden sich
von den Begriffen, durch die sich die Urteile selbst bestimmen,
20 und so stehen sich ontologische Kategorien und apophantische
gegenüber. Andererseits ist aber „Satz” oder „Urteil” — wir
können dafür auch sagen „Denksachverhalt” oder „gedachter”
Sachverhalt als solcher — selbst eine ontologische Kategorie,
sofern jeder Urteilsbildungen ermöglicht, in denen er als Bestim-
25 mungssubstrat fungiert. Alle möglichen Gestalten von Erzeugnis¬
sen, durch die aus Denkgegenständen Denkgegenstände erwach¬
sen, und die für sie sich ergebenden Bestimmungen zu erforschen,
ist natürlich selbst mit die Aufgabe einer formalen Ontologie.
Sie befaßt alle möglichen Urteilsgestalten, in denen andererseits
30 alle möglichen Bestimmungen von Denkgegenständen Vorkom¬
men müssen.
Doch genug, man sieht, daß hier untrennbare Korrelationen
Gegenstand und Urteil verbinden (oder „Gegenstände” und
„Sachverhalte” — beides in der jetzigen Einstellung als bloße
35 Setzungssinne, als bloße „Gedachtheiten”) und daß eine einzige
apriorische Wissenschaft es ist, welche, auf sich selbst zurück¬
bezogen, Gegenstände und Sachverhalte behandelt, bald speziell
auf die Sachverhalt- oder Urteilsgestalten und die zu ihnen ge¬
hörigen Konsequenzgesetze sich richtend, bald auf Gegen-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 29
standssubstrate und ihre konsequente Bestimmung. Alle hier
auftretenden Begriffe, die analytisch-logischen Kategorien, sind
Begriffe, die rein aus den „Sinnen” geschöpft werden. Wie für
die Sätze nur von Einstimmigkeit, und nicht von Wahrheit die
5 Rede ist, so für die Gegenstände nur von ihrer widerspruchslosen
Denkbarkeit, und nicht von ihrer sachlichen Möglichkeit oder
Wirklichkeit. So ist die gesamte formale Ontologie oder
formale Apophantik, jede wirklich vollumfassend genommen,
Analytik.
10 Wie unvollkommen die traditionelle Logik methodisch zu
Werke ging, wie ferne ihr diese erst eigentlich im L e i b n i z’-
schen Geiste unter dem Titel mathesis universalis sich unvoll¬
kommen durchringende Idee einer universalen formalen Logik
und einer darin beschlossenen formalen Ontologie blieb, geht
15 daraus hervor, daß unter den sich der Logik gegenüberstellenden
spezialwissenschaftlichen Disziplinen auch einzelne, und zwar
mathematische Disziplinen auftraten, die, wie
die Arithmetik, durchaus unter die Idee der formalen
Ontologie fallen, als wichtige, aber kleine Zweige derselben.
20 Was also im historischen Bewußtsein der wissenschaftlichen
Menschheit auseinanderlag unter den Titeln Logik und Arithme¬
tik, und so weit auseinanderlag wie Logik und Physik oder Logik
und Politik, das gehörte eigentlich ganz eng zusammen; Arith¬
metik und apophantische Logik (z.B. Syllogistik) ordnen sich als
25 Zweigdisziplinen beide unter die vollständige Idee einer, und
sogar schon einer rein analytisch zu fassenden Logik. Anderer¬
seits, was im historischen Bewußtsein innig eins war, wie Arith¬
metik und Geometrie, das mußte getrennt werden. Die Geometrie
bedarf der räumlichen Anschauung, ihre Begriffe müssen auf
30 eine sachhaltige Sphäre, auf die der Räumlichkeit zurückgehen. In
der Arithmetik hingegen sind es Begriffe, die Modalitäten des
Etwas überhaupt ausdrücken, wie Menge und Anzahl, und prinzi¬
piell ist die Evidenz, die hier erforderlich ist, von derselben Art
wie die, welche die logisch-apophantischen Begriffe der Urteils-
35 konsequenz gewinnen läßt. Genau besehen, ist die ganze Arith¬
metik und so die ganze analytische Mathematik in der Tat eine
nur anders gerichtete Analytik, eine nur anders gerichtete Logik
der Konsequenz; nämlich statt auf prädikative Setzungen, auf
Urteile, ist sie vielmehr bezogen auf Setzung von „Denkgegen-
30 ERSTE PHILOSOPHIE
ständen”. Doch ich darf hier nicht weitergehen und muß mich
mit diesen bloßen Andeutungen begnügen.
Die bezeichneten Mängel der traditionellen Logik hängen nun
eng zusammen mit gewissen ganz radikalen methodologischen
5 Mängeln, an welchen die Behandlung der Idee der Wahr¬
heit und des wahren Seins sowie der übrigen mit diesen
Ideen wesensmäßig zusammenhängenden sonstigen Ideen, der
modalen Abwandlungen, zu leiden hatten. Wenn die Logik
in der Tat, und in Auswirkung der großen Intentionen der Plato-
lOnischen Dialektik, eine universale und radikale
Methodenlehre für die Erzielung der Wahrheit sein
wollte, dann durfte die Forschung nicht bloß thematisch gerich¬
tet sein auf die vorhin bezeichnete Korrelationsebene Wahrheit
und wahres Sein, sondern noch ein anderes korrelatives Paar,
15 selbst mit dem vorigen in Korrelation stehend, mußte zum The¬
ma werden. Urteil ist Geurteiltes im urteilen¬
den Tun, und dieses ist ein subjektives Le¬
ben. Ursprünglich wahr urteilen ist in Einsicht sich bestätigen¬
des, und wahrhaft seiende Gegenständlichkeit ist im erfahrenden
20 oder sonstwie selbst erschauenden und erfassenden Erleben dem
erfahrenden Subjekt sich gebende Gegenständlichkeit, und sich
bestimmende in einsichtigem Urteilen. Objektiv wahres Urteilen
< ist > ein notwendig für jedermann sich einsichtig bestätigendes
oder bestätigen könnendes usw. Es bedarf einer Urteils- und
25 Wahrheitsforschung, einer Gegenstands- und Wirklichkeitsfor¬
schung nicht nur in Hinsicht auf Urteile als identische Aus¬
sagesinne und in Hinsicht auf Gegenstände als identische Sub¬
stratsinne, sondern auch in Hinsicht auf das Subjektive
des Urteilens, des Einsehens, des intersubjektiv und
30 endgültig sich Bewährens, des Gegenstandsetzens und Gegen¬
standerfahrens, und dabei insbesondere auf die subjektiven Modi,
in welchen sich im erkennenden Erleben, im Bewußtsein
alles dergleichen, wie vermeinter und wahrer Gegenstand selbst,
Urteil als Satz und Wahrheit, selbst gibt.
35 Seit den bahnbrechenden und höchst bewunderungswürdigen
Untersuchungen des Aristoteles im Organon ging die
logische Forschung der Hauptsache nach fort in der Dimension,
die die Begriffe Satz, wahrer Satz, Gegenstand,
wirklich seiender Gegenstand anzeigen. Und in der Tat, das war
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 31
ein ganz natürliches Fortgehen, nachdem ein Stück subjektiv-
reflektiver Besinnung seinen Dienst getan hatte. Wer sich als
Wissenschaftler gegen eine universale Skepsis zu wehren hat —
und die Abwehr der sophistischen Skepsis war ja das historische
5 Motiv, das dem griechischen Denken die Entwicklung einer prin¬
zipiellen Methodenlehre aufdrängte —, wer also anfängt, sich
radikal zu besinnen, inwiefern im erkennenden Tun Wahrheit
und wahres Sein erzielbar sei, wird zwar zunächst auf die präten¬
dierten Gehalte wissenschaftlicher Leistung, auf die Sätze
lOund Theorien hinblicken, aber notwendig wird er dann in
subjektiv gerichtete Besinnungen hineingezogen, welche die Er¬
kenntnisseite zum Ziele haben. Da macht er sich die Unterschiede
der Evidenz und des blinden Meinens, des einstimmigen und
widerspruchsvollen Urteilens u.dgl. klar, und daraus erwächst
15 eine erste Weise der Rechtfertigung der Erkenntnis, und das
bricht einer ersten Begründung der Wissenschaft Bahn.
< Drittes Kapitel
Die durch die sophistische Skepsis veranlaßten
ersten Besinnungen auf die erkennende
Subj ektivität)
5. Vorlesung: <Die Entdeckung der Ideenerkenntnis und die griechi¬
schen Anfänge philosophischer, rationaler Wissenschaften.>
In den Schlußworten der letzten Vorlesung begann ich davon zu
sprechen, daß sich die Forschungen der Platonischen Dialektik,
diese radikalen methodologischen Besinnungen, zwar bald in
20 einer Logik, einer wissenschaftlichen Methodenlehre auswirkten,
daß diese Logik aber um ihrer Einseitigkeit willen keineswegs
die intendierte Idee einer voll zureichenden Methodenlehre und
einer durch sie zu erwirkenden Philosophie, einer Philosophie
Platonischen Sinnes, verwirklichte. Als Einseitigkeit charakteri-
25 sierte ich, daß diese Logik nie zu einer wissenschaftlichen Theore-
tisierung der thematischen Ebene gelangte, die durch das Korre¬
lationspaar Wahrheit und wahres Sein und, allgemeiner noch,
Urteil (Satzbedeutung) und Urteilsgegenstand bezeichnet ist. Ich
wies aber zugleich auf eine zweite Korrelation hin, die diese ide-
30 alen Einheiten in Bezug setzt zur erkennenden Subjektivität, oder
32 ERSTE PHILOSOPHIE
darauf hin, daß das Identische, das wir Aussagesatz nennen und
Wahrheit in mannigfachen Urteilsmodis, in subjektiven Weisen
des Wie subjektiven Erlebens gegeben ist, ebenso Urteilsgegen¬
stand in verschiedenen Weisen, wie er klar oder unklar, erfahren
5 oder sonstwie bewußt ist. Versetzen wir uns in die Motivation des
Anfangs, hier in die historische Motivation, welche die Sokratisch-
Platonische Reaktion bestimmte und damit die Idee einer Philo¬
sophie neuen Sinnes und einer ihr dienenden Methodenlehre zur
Entwicklung brachte. Wer als Wissenschaftler vor der Tatsache
10 der Skepsis steht, mit ihrer Bestreitung der Möglichkeit jedweder
objektiven Erkenntnis unter dem Titel „Wissenschaft” oder
Philosophie, wird zunächst zwar den Blick auf die Gehalte der
zeitgenössischen oder überlieferten Philosophie, also auf ihre
Lehrsätze und Theorien richten. Aber notwendig wird er alsbald
15 in subjektive Besinnungen hineingezogen werden, welche die
Erkenntnisseite dieser Theoreme angehen, das Wie ihres subjekti¬
ven Entspringens. Zunächst wird er sich doch dies klarmachen:
daß Urteilen überhaupt, urteilende Sätze hinstellen, und sei es in
noch so lebhafter Überzeugung, noch nicht vernünftiges Urtei-
20 len sei, noch nicht Erkennen im echten Sinn. Er wird sich ein¬
sichtiges, die Sachen und Sachverhalte selbst erschauendes und
im Erschauen bestimmendes Urteilen kontrastieren mit vagem,
sachfemem „Meinen”. Er wird sich sagen: ein solches bloßes
Meinen muß erst seinen Wahrheitswert ausweisen und kann es
25 nur durch Anmessung an entsprechende, die Sachen selbst vor
Augen stellende Anschauung, und nicht durch eine beliebige,
sondern eine besondere, kurzweg also durch Evidentmachung
usw. Ebenso wird er, und in gleicher Absicht, nachsinnen über
den Wert der sachgebenden Anschauung oder eventuell deren
30 bloße Prätention; so z.B. im Falle der äußeren Erfahrung. Er
wird sich vielleicht klarmachen, daß die äußere Erfahrung zwar
subjektiv sich gibt als ein Erschauen und Erfassen des Erfah¬
rungsgegenstandes selbst, daß aber der Erfahrende dabei im¬
merzu nur ein fließendes, und niemals ein endgültiges Sein
35 selbst in die Hand bekommt, daß, was er dabei jeweils in der
Hand hat, doch immerfort mit bloßer Meinung behaftet ist, die
nie zu wirklicher Fülle des Seins selbst kommt, auch nicht
im eifrigsten Fortgang zu ergänzenden Erfahrungen; und daß
somit äußere Erfahrung niemals ein Bewußtsein ist, daß seiner
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 33
Prätention des Selbst-habens, Selbst-erfassens des Gegenstandes
selbst genugzutun vermag. Wissenschaft geht aber nicht über¬
haupt auf Wahrheit im gewöhnlichen laxen Sinn, sondern auf
objektive Wahrheit. Was gehört zu dieser Erzielung einer
5 Objektivität?
Also zu solchen Reflexionen nötigte die S o p h i s t i k, als
eine universale Skepsis, welche die Möglichkeit der Erkenntnis
objektiver Wahrheit überhaupt und jedweden wahren Seins
überhaupt negierte; der Zweck dieser Reflexion war Rechtferti-
10 gung, bzw. eine allgemeine reflektiv-kritische Besinnung über
das, was erlebnismäßig im Erkennen selbst vorliegt, in den sehr
verschiedenen Weisen des Vorstellens und Urteilens, des An¬
schaulichen und Unanschaulichen; und was darin Grund abgab,
von verschieden vollkommener oder echter und unvollkommener
15 Erkenntnis zu reden — zuhöchst aber von wissenschaftlich ob¬
jektivem Erkennen; und was schließlich allen normativen Begrif¬
fen möglichen Sinn geben mußte.
Standen in dieser Art Erkenntnisreflexionen, mit der Blick¬
richtung auf die subjektiven Modi der Gegebenheit des in Erfah-
20 rung und Urteil Gemeinten, an der Spitze der Entwicklung, so
ist damit aber nicht gesagt, daß es sehr bald zu einer umfassenden
erfolgreichen theoretischen Bearbeitung dieser
hier eröffneten Sphäre der subjektiven Erkenntnismodi und so
der erkennenden Subjektivität überhaupt und als solcher ge-
25 kommen wäre: ja es vergingen Jahrtausende, ehe man die Me¬
thode für die in dieser subjektiven Richtung liegenden zu Zwecken
einer kritischen Selbstrechtfertigung der Erkenntnis notwendigen
Forschungen ausbilden und damit zur Entwicklung einer radi¬
kalen und echten Methodenlehre der Erkenntnis durchdringen
30 konnte. Nicht, als ob die ersten erkenntniskritischen Besinnun¬
gen, als ob schon die unermüdlichen und tiefsinnigen Vorunter¬
suchungen Platons und die nie wieder fallengelassenen
Erkenntnisbesinnungen seiner großen Nachfolger ohne wissen¬
schaftliche Frucht geblieben wären: ganz im Gegenteil. Nur das
35 soll gesagt werden, daß es an der notwendigen Auswirkung in
Form einer wahrhaft rationalen Wesenslehre der Erkenntnis in
subjektiver Hinsicht fehlte und es statt dessen relativ schnell zur
Ausbildung von Spezialwissenschaften kam, deren relativ be¬
friedigende Vollkommenheit keineswegs zur Minderung jenes
Husserliana VII 3
34 ERSTE PHILOSOPHIE
Manko beitrug. Wie viel das bedeutet, werden wir bald verstehen
lernen.
Zunächst einiges zur näheren Ausführung. Die ersten tieferen
Besinnungen über die subjektive Art echter Er-
5kenntnis führten als größten und frühesten Erfolg mit sich
die Entdeckung der Ideenerkenntnis als einer Erkenntnis von
apodiktischer Wahrheit. Es gibt eine ursprünglich einsichtige
Erzeugung — auch eine vollkommene — von reinen Wesensbe¬
griffen, und in ihnen gründen Wesensgesetze, Gesetze von ein-
10 sehbarer apodiktischer Allgemeinheit und Notwendigkeit. Diese
Entdeckung wirkte sich alsbald aus in der Reinigung und prin¬
zipiellen Vollendung der schon vorhandenen Mathematik, in ihrer
Umschöpfung in eine reine Mathematik, als reine Ideenwissen¬
schaft.
15 Es sei hier beachtet, daß man die Geschichte der strengen und
vorzüglich die der im engsten Verstände exakten Wissenschaften
zwar mit gutem Grund weit hinter die Platonische Epoche zu¬
rückverfolgt, daß aber ihren vorplatonischen Bildungen nur der
Charakter wissenschaftlicher Vorformen zuzubilligen ist. So ge-
20 winnt vor allem die Mathematik erst dank der in der Platonischen
Dialektik geleisteten subjektiv-methodologischen Vorarbeit ihr
spezifisches wissenschaftliches Gepräge. Erst dadurch wird sie zu
einer reinen Geometrie und Arithmetik 1), die es mit ideal
möglichen Raum- und Zahlengebilden zu tun hat, in norma-
25 tiver Beziehung gedacht auf intuitiv herauszuschauende Limes¬
ideen, gegen die sich all solche Möglichkeiten approximieren. Und
auf diese reinen Approximationsideale („reine” Einheiten, „reine”
Gerade usw.) werden nun unmittelbare Wesensbegriffe und
Wesensgesetze bezogen, die ihrerseits als „Axiome” den ganzen
30 Bau reiner Deduktion tragen. Der erste klassische Systematiker
der reinen Mathematik, Euklid, war bekanntlich Platoniker.
Er gibt, gestützt auf große Vorgänger wie E u d o x o s, in den
Elementen den ersten durchgeführten Entwurf einer rein ratio¬
nalen Wissenschaft nach dem Ideal der Platonischen Schule;
35 doch müßten wir genauer sagen: die Geometrie war die erste
außerhalb der allgemeinen Methodenlehre gemäß dem von dieser
begründeten Ideal der Rationalität entworfene und gelingende
Wissenschaft. Es war die erste Wissenschaft, die in
*) Zum folgenden Text gibt die Beilage VII, S. 327 f., eine Variante. - Anm. d. Hrsg.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 35
reiner Ideenschau ihre Grundbegriffe schuf und Ideengesetze,
Wesensgesetze gestaltete, Gesetze, die in apodiktischer Evidenz,
also als unbedingt gültige Notwendigkeiten einleuchten. Es ist
die erste Wissenschaft, die systematisch geordnet unmittelbare
5 Wesensgesetze zugrundelegt und, in den Formen reiner Konse¬
quenz systematisch emporbauend, alle darin mittelbar beschlos¬
senen Wesensgesetze erschließt, die danach alles Besondere und
in ihrer Anwendung vorzulegende Faktizitäten aus diesen Be¬
ständen rein rationaler Gesetzlichkeiten rational erklärt, als
10 apriorische Notwendigkeiten einsichtig macht.
Andererseits ist aber hervorzuheben: das in den erkenntnis¬
kritischen Voruntersuchungen entsprungene Ideal der Rationali¬
tät verschafft sich innerhalb der Methodenlehre selbst eine syste¬
matische Auswirkung, und zwar gleichzeitig mit jener Umge-
15 staltung der Mathematik in eine rein rationale Mathematik. Ich
meine hier natürlich die schon von Aristoteles, dem per¬
sönlichen Schüler Platons, begründete Analytik, die bei
aller Unvollkommenheit ihrer weiteren Ausgestaltung als formale
Logik der Sätze, der Wahrheiten, des wahren Seins doch von
20 vornherein Grundstücke einer im selben Sinne rationalen Diszi¬
plin ausbildete, eine systematische und deduktiv fortschreitende
Herausstellung der Wesensgesetze der Konsequenz und Wahr¬
heit, dazu methodologisch bestimmt, das besondere und fak¬
tische Urteilen nach seinen vermeinten Wahrheiten und Möglich-
25 keiten, nach seinen vermeinten Konsequenzen und Inkonse¬
quenzen usw. rational zu normieren.
Also die allgemeine Methodenlehre der Er¬
kenntnis begann als eine die bestrittene Möglichkeit echter
Erkenntnis durchdenkende, über sie in allgemeinen Reflexionen
30 meditierende Voruntersuchung; sie gewann aus dieser ein
erstes Ideal der Rationalität. Und, dieses nun
in ihrem eigenen methodologischen Kreis in einer gewissen Rich¬
tung realisierend, begann sie, sich selbst in dieser Richtung —
nämlich in der durch die Ideen Urteil, beurteilter Gegenstand,
35 Wahrheit, wahres Sein bezeichneten Dimension — zu einer
rationalen Methodenlehre zu gestalten. Aus ihrer im¬
manenten, in ihr selbsttätig erzeugten Motivation war damit eine
Entwicklung inauguriert, in der sie anfing, sich selbst zu einer
rein rationalen wissenschaftlichen Disziplin zu gestalten,
36 ERSTE PHILOSOPHIE
einer rein rationalen gemäß der von ihr selbst vorher entworfenen
Idee, ganz so, wie derselben Idee gemäß außerhalb der Methoden¬
lehre Arithmetik und Geometrie als rationale und
echte Wissenschaften entworfen wurden und ebenso in weiterer
5 Folge andere Wissenschaften. Hier ist zu nennen die ihren ersten
und freilich primitivsten Anfängen nach schon im Altertum zur
Ausgestaltung drängende rational erklärende Na¬
turwissenschaft, Anfänge der Physik und Astronomie.
Freilich, diese Naturwissenschaft konnte nicht selbst eine rein
10 rationale Wissenschaft werden, aber sie hatte doch (lange genug
unverstanden) die neue Gestalt rationaler Tat¬
sachenerklärung, soferne sie, durch Verwendung der
reinen Mathematik als Instrument der Methode, der empirischen
Erkenntnis Anteil an der prinzipiellen Notwendigkeit verschaffte.
15 Die rationalen Wissenschaften, die in dieser Art sowohl inner¬
halb als außerhalb des Rahmens der Methodenlehre zur Schöp¬
fung kamen, waren Wissenschaften eines historisch völlig neuen
Typus. Sie verkörpern ein vorgebildetes methodologisches Ideal
(es freilich in ihrer Verkörperung erst voller bestimmend), das
20 für die ganze weitere Zukunft und so noch heutzutage den Be¬
griff echter Wissenschaft ausmacht. Aber wie Großes sie auch
leisteten und wie sehr allen voran die reine Mathematik die Idee
echter Wissenschaft für das allgemeine Bewußtsein sozusagen
u r b i 1 d 1 i c h repräsentierte und jahrtausendelang als höchst
25 bewundertes Vorbild für neu zu begründende Wissenschaften
fungierte—: sie und alle die nachkommenden Wissenschaften
waren bloß „Spezialwissenschaften” oder, wie wir
besser sagen, waren nur dogmatische Wissenschaf¬
ten, die wir mit gutem Grunde den philosophischen Wissen-
30 schäften gegenübersetzen müssen.
Was soll dieser Gegensatz dogmatischer und philo¬
sophischer Wissenschaften besagen ? Unser bisheriger Gang
gibt uns im voraus die Leitung, ein noch unerfülltes aber not¬
wendiges Desiderat an aller dogmatischen Rationalität wenig-
35 stens vorahnend zu verstehen. Philosophische W i s-
senschaften — das kann für uns, solange wir die Plato¬
nische Idee der Philosophie als oberste Zweckidee der Erkennt¬
nis festhalten, nur bedeuten: Wissenschaften aus absolu¬
ter Rechtfertigung, also Wissenschaften, die ihre
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 37
Erkenntnis in jeder Hinsicht vertreten können oder, anders
gesagt, in denen der Wissenschaftler jedes Erkenntnisgebilde in
jeder erdenklichen Hinsicht voll zu rechtfertigen vermag, so daß
keine Rechtsfrage, die hierbei zu stellen ist, unbeantwortet, keine
5 für derartige Fragen irgend relevante Eigenheit der Erkenntnis
unberücksichtigt bleibt, mag sie den analytischen Sinn der Aus¬
sagen betreffen oder die entsprechenden intuitiven Sachgehalte
oder die verschiedenen subjektiven Modi, in denen sich das Er¬
kennen abspielt und in denen allein Ausgesagtes und Erkanntes
10 auftreten kann.
Wie es nun mit dieser in jeder Beziehung letztrechtfertigenden
Rationalität bei den neu auftretenden Wissenschaften stand, das
wird für uns die nächste Frage sein.
6. Vorlesung: <Die in der Platonischen Idee der Dialektik implizierte
Forderung nach einer Theorie der Erkenntnis. >
Wir schlossen die letzte Vorlesung mit der Frage, wie es mit
15 der Rationalität der Wissenschaften des neuen Typus steht, jener
Wissenschaften, die sich selbst „rationale” zu nennen liebten.
Entsprachen sie wirklich, entsprach selbst die Euklidische Geo¬
metrie, dieses wahre Weltwunder der Rationalität, der Platoni¬
schen Idee einer philosophischen Disziplin als einer solchen, die
20 wahres und echtes Wissen schafft und uns damit in jedem wahren
Satze letztlich sagt, was das Seiende in Wahrheit ist? Letzt¬
lich -— d.i. in einer Weise, daß dabei alles vernünftige
Fragen sein Ende hat.
Überlegen wir. In der ursprünglichen Begründung und über-
25 nehmenden Nacherzeugung der wissenschaftlichen Theorien, die
unter den Titeln formale oder reine Logik, reine Arithmetik,
Geometrie, erklärende Naturwissenschaft herangewachsen waren,
wurden die Sätze nicht etwa aufs Geratewohl hingestellt oder in
blindem Meinen hingenommen. Es wurde da nicht bloß überhaupt
30 geurteilt, sondern einsichtig geurteilt, sei es in unmittel¬
barer Einsicht oder in der Einsicht mittelbarer Konsequenz, also
im Bewußtsein der Notwendigkeit der Folge. Einsichtig waren
dabei die jeweiligen Urteilsgedanken, die Bedeutungsgehalte der
jeweiligen Aussagen angepaßt den Gegenständlichkeiten selbst,
35 den Sachverhalten selbst der jeweiligen Gebiete, auf die sich
38 ERSTE PHILOSOPHIE
die betreffenden wissenschaftlichen Bemühungen richteten, in
sichtlich vollkommener Adäquation.
Was also da gewonnen wurde, wurde im Bewußtsein gelingen¬
der Leistung gewonnen, und daß sie gelingende sei, davon über-
5 zeugte sich der Forschende und Begründende selbst in begleiten¬
der reflektiver Nachprüfung. Was konnte da mehr gefordert
werden? Indessen — sollte hier nicht in der Tat ein Mehr denkbar
sein, eine höhere Leistung gegenüber jenen prüfenden Reflexio¬
nen, die der Wissenschaftler während seiner Denkarbeit immer-
10 fort vollzieht? Solche Reflexionen bestehen in einem bloßen Hin¬
sehen auf den Gang und Ausgang der Denkhandlung, auf die sich
erzeugenden Bedeutungsgehalte, auf die herbeigeführten und
selbsttätig vollzogenen Erfahrungen oder sonstigen klärenden
und bewährenden Anschauungen; und insbesondere darauf, ob
15 hierbei die Bedeutungsgehalte sich gewissermaßen mit entspre¬
chenden anschaulichen Gehalten sättigen und ob somit das Ge¬
meinte rein als solches, das, was wir den bloßen analytischen
Sinn nannten, sich dem anschaulich Vorliegenden in der Fülle
des Sinnes genau anpaßt oder ob es am Ende da und dort nicht
20 paßt und die Meinung aufgegeben oder geändert werden muß.
Immer ist er <der Wisschenschaftler) dabei auf den einen Gegen¬
stand gerichtet, den theoretisch zu bestimmen er sich zum Ziele
gesetzt hat; aber im Verlaufe seines Verfahrens kann er sich fragen,
ob z.B. er ihn schon von nahe genug gesehen hat, ob er ihn nicht
25 noch von der anderen Seite betrachten muß usw., und wenn
infolge solcher neuen Betrachtungen Änderungen in der Be¬
stimmung des Gegenstandes sich als notwendig heraussteilen, so
rechtfertigt er diese vor sich damit, daß er z.B. sagt: ,,der Gegen¬
stand ist in Wirklichkeit nicht so, wie ich zuerst meinte, darüber
30 hat mich ein neuer Aspekt, den ich von ihm gewonnen habe, be¬
lehrt” usw. Aus solchen Überlegungen wird es klar, daß der
Wissenschaftler in gelegentlich zwecks Rechtfertigung seines
Tuns vorgenommenen reflektiven Blick Wendungen sich deutlich
macht, daß ihm bei seiner Bestimmung des Gegenstandes, den
35 als den einen und selben er immer im Auge hat, doch dessen
mannigfaltige subjektive Erscheinungsweisen, in denen er sich
ihm darstellt, maßgebend sind. Das mag er je nach Bedürfnis
mehr oder minder sorgsam und tief dringend tun, in jedem Falle
ist es ein bloßes Hinschauen und ein im Rahmen dieses subjektiv
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 39
gerichteten Schauens sich haltendes praktisches Tun des Aner-
kennens und des sich einprägenden Festhaltens oder des Ver-
werfens und Besinnens. Immerfort haftet solches Schauen und
Tun am einzelnen Fall, wie es ja selbst Bestandstück des sin-
5 gulären wissenschaftlichen Handelns ist.
Aber sollte hier nicht mehr gefordert werden? Könnte und
müßte man da nicht allgemeine Fragen stellen ? Handelt
es sich hier nicht um allgemein zu umschreibende Vorkommnisse
des erkennenden Lebens in möglichen Erkenntnissubjekten über-
lOhaupt, um Vorkommnisse, die eines eigenen theoretischen In¬
teresses höchst würdig sind? Fallen doch bei den vom Wissen¬
schaftler gelegentlich angestellten rechtfertigenden Überlegun¬
gen nur Streiflichter auf die Vorgänge in der erkennen¬
den Subjektivität. Was er da fallweise in den Blick bekommt an
15 Aspekten des Gegenstandes, das sind nur einige wenige unter den
unzähligen Modis, in denen ihm der Gegenstand immer, solange
er ihn als den einen und selben im Auge hat, gegeben ist; als der
eine und selbe, den er bald von vorne, bald von hinten sieht, ein¬
mal in der Wahrnehmung vor sich hat, das andere Mal in der
20 Erinnerung, auf den er, in seine Forschung vertieft, ausschlie߬
lich hinblickt, der dann wieder, bei einer Ablenkung, in den Hin¬
tergrund des Bewußtseins tritt, der bald klar und deutlich, bald
verschwommen vor Augen steht usw.
Müßte da nicht eine theoretische Erforschung alles dessen,
25 eine Forschung, die erkennendes Tun überhaupt
nach all seinen Modis zum theoretischen Thema
macht, und dann weiter erkennendes Tun der allgemeinen Artung,
das da wissenschaftliches heißt — müßte eine solche Forschung
nicht allgemeine Einsichten liefern, die auch für den jeweils ar-
30 beitenden Wissenschaftler der verschiedenen Wissenschaften von
großem Nutzen sein, ja ihm vielleicht eine Rechtferti¬
gung höheren Stiles, eine prinzipielle Normierung
seines singulären Tuns ermöglichen würden ? Er selbst also, der
Wissenschaftler jeder Wissenschaft, ist hier gar sehr interessiert.
35 Handelt es sich doch um die theoretische Erforschung der großen
Mannigfaltigkeiten des im erkennenden V issenschaftler während
seiner Denkarbeit ablaufenden lebendigen Lebens, in
dem, während es ihm verborgen bleibt, sein erkennendes Leisten
selbst besteht, oder in dem das Innerliche des Gestaltens
40 ERSTE PHILOSOPHIE
desjenigen besteht, was ihm als Erkenntnisgebilde, als Erkennt¬
nisziel und Erkenntnisweg fortlaufend im Blicke liegt. Theore¬
tisch denkend und theoretische Leistungen vollziehend, lebt
er in diesen Prozessen, die er dabei selbst nicht sieht. Was
5 er im Blick hat, sind die in ihnen sich gestaltenden Ergebnisse
und Ergebniswege: das im wechselnden Erfahren, in wechselnden
subjektiven Ansichten, Perspektiven als ein und selbiges Ding
sich gebende Erfahrene oder das im wechselnden aussagend ur¬
teilenden Tun als ein identisches sich gebende Urteil, als ein und
10 derselbe Satz, etwa ,,2x2 = 4”, auf den man immer wieder
zurückkommen kann; dann, im ausweisenden Erkennen, die
Sätze in ihrer Anpassung an gegenständlich Geschautes, der in
jeder Ausweisung sich identisch herausstellende Charakter der
Richtigkeit usw. Nur wenn der Wissenschaftler von diesem naiv
15 vollziehenden Denken in die neue reflektive Einstellung über¬
geht, deren er für den Zweck subjektiver Rechtfertigung seines
Tuns auch bedarf , tritt einiges aus dem vordem verborgenen sub¬
jektiven Leben, treten diese oder jene ihn interessierenden Mo¬
mente der subjektiven Gegebenheitsweise seiner Erfahrungs-
20 gegenständlichkeiten, der Urteile, der Richtigkeit dieser Urteile
in den erfassenden Blick; aber, wie wir vorhin sagten, bloß fall¬
weise, in konkreter Einzelnheit, und nichts weniger denn als
theoretisches Thema.
Es ist aber klar und uns durch die genauere Vergegenwärti-
25 gung dessen, was im Erkennen als wissenschaftlichem Leisten
vorliegt, als ein großes Desiderat empfindlich geworden, daß die
theoretische und dann abseitige Erforschung dieses erkennenden
Lebens, dieser überaus vielgestaltigen Erkenntnistätigkeiten des
Vorstellens, Urteilens, Begründens, prüfenden Rechtfertigens
30 und wie sonst die vagen, allgemeinen Titel der Sprache hier lauten
mögen, höchst notwendig ist. Es sind doch Lebenstätigkeiten,
in denen sich für jeden Erkennenden in verschiedenen und immer
neu ins Spiel zu setzenden Akten die identischen Erkenntnisein¬
heiten, die identischen Erfahrungs- und Denkgegenstände, die
35 identischen Aussagesätze und schließlich auch die identischen
Wahrheiten und Falschheiten subjektiv bewußtseinsmäßig
herausgestalten. Was er hat, hat er nur als Gehabtes seines Ha¬
bens, als Erfahrenes seines Erfahrens, denkmäßig Zusammen¬
gebautes seines Denkens, als etwas, was sich in seinem subjek-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 41
tiven Leben irgendwie ,,macht”. Und heißt es dabei „eines” und
„selbiges”, dieser eine und selbe Wahmehmungsgegenstand, auf
den neue Wahrnehmungen und Erinnerungen zurückgreifen
können, dieses eine und selbe Urteil, diese selbe, in wiederholter
5 Einsicht gewonnene Wahrheit, so heißt es doch „selbiges” nur
dank dem subjektiven Identifizieren, in dem verschiedene sub¬
jektive Akte, Lebensmomente, zur Synthesis kommen; also
dank einem Einheitsbewußtsein, in dem sich dieses „Identische”
subjektiv irgendwie gestaltet. Für den Erkennenden kann nur
10 etwas sein, kann es nur „eines” und „Identisches” heißen, weil
es gerade in solchem subjektiven Erleben, genannt Identifizieren,
entspringt. Dieselben Erkenntniseinheiten und dann wieder
dieselben Arten, Gattungen von Erkenntniseinheiten (Dinge
überhaupt, Gegenstände überhaupt oder Erfahrungssätze über-
15 haupt, noch allgemeiner: Sätze überhaupt) weisen uns hierbei
von vornherein darauf hin, daß die mannigfaltigen subjektiven
Modi, in denen sie im erkennenden Leben sich bewußtseinsmäßig
gestalten können, in einer festen und sich entsprechenden Art
und gattungsmäßigen Typik verlaufen. Es ist im voraus zu er-
20 warten, daß der Allgemeinheit der Erkenntnis¬
einheiten eine Allgemeinheit geregelter Ty¬
pik der subjektiven Erkenntnismodi korre¬
spondieren wird, in denen allein solche Einheiten sich subjektiv
geben können.
25 Wir finden es selbstverständlich, daß jeder Gegenstand, den
wir vorstellen, den wir denken, für jedermann vorstellbar,
denkbar sei, ebenso, daß jeder Urteilsgedanke, jede beliebige
Aussagebedeutung, von jedermann und immer wieder nach-
verstehbar sei. Darin liegt doch, daß in jedem gleichwertige
30 subjektive Erlebnisse des vorstellenden, verstehenden, Sinn kon¬
stituierenden Bewußtseins möglich sind, in dem sich derselbe
Sinn herausbilden würde. Wir finden es selbstverständlich, daß
eine Wahrheit, die wir einsehen, jedermann einsehen könnte. Die
Allgemeingültigkeit der Wahrheit ist allgemeine und
35 jederzeitige Nacherzeugbarkeit der entsprechenden subjektiven
Erlebnisse der Einsicht; und so für alles Objektive und Logische.
Darin liegt doch im voraus der Hinweis darauf, daß das in der
Regel verborgene Spiel subjektiven Lebens, in dem vermeinte
Gegenstände, vermeinte Urteilsinhalte, erkannte Wahrheiten,
42 ERSTE PHILOSOPHIE
erschlossene Konsequenzen usw. bewußt werden, in bestimmten
typischen Gestalten verläuft, und so verlaufend im¬
mer wieder dasselbe leistet, und daß also in der Tat eine g e-
regelte Korrelation obwaltet zwischen Typik des
5 Erkennens und Einheitsgestalt des Erkannten. Besondere Cha¬
raktere des „wirklich Seiend”, des „Wahr” treten an den ideal¬
einheitlichen Bewußtseinssinnen auf, am identisch Vermeinten,
in sogenannter Einsicht; hier wird das erkennende Leben unter
dem Titel „Einsicht”, „Evidenz” eine besondere Gestalt haben
10 müssen, die der Vernünftigkeit, die Art des Recht
schaffenden Lebens, des Erkennens im prägnanten Sinn. Welches
seine wesentlichen Gestalten sind und wie sie theoretisch gefaßt
werden müssen, das werden besonders wichtige Fragen sein.
Welches ist nun die Wissenschaft, wo ist sie,
15 die in dieser Richtung ihr thematisches „Gebiet” hat? Natürlich
die Logik, wird derjenige sagen, der gewohnt ist, die Logik als
universale Methodenlehre der Erkenntnis zu fassen, also darunter
die volle in der Platonischen Dialektik angelegte Wissenschaft
verstanden wissen will.
20 Indessen, die von der Aristotelischen Analytik ausgehende
formale Logik ist diese Wissenschaft jedenfalls nicht, mindestens
nicht, wenn wir ihr die durchaus notwendige reinliche Abgren¬
zung geben, die wir früher besprochen haben. Sie ist dann eine
fest abgeschlossene rationale Wissenschaft, die als ihr Gebiet,
25 ihre thematische Ebene, die Korrelation von Gegenstand über¬
haupt und Urteil überhaupt hat, möglicherweise seiendem Ge¬
genstand überhaupt, wahrem Urteil überhaupt, mit allen zuge¬
hörigen formalen Abwandlungen. Aber apriorische Gesetze für
Denkgegenstände und mögliche Gegenstände überhaupt auf-
30 stellen, das heißt nicht, Gesetze aufstellen für subjektive Modi,
in denen Gegenstände bewußt werden, in welchen Modis sie sich
in der subjektiven Erkenntnis geben. Und ebenso, apriorische
Gesetze für Urteile überhaupt, Urteilsrelationen der Konsequenz
überhaupt, der Wahrheit von Urteilen überhaupt aufstellen, das
35 heißt nicht, die subjektiven Modi, in denen Urteile in dem Vollzug
urteilender Tätigkeiten auftreten, oder die Evidenzmodi, in
denen sie als Wahrheiten oder Wahrscheinlichkeiten sich sub¬
jektiv charakterisieren, zum Thema haben und darüber aprio¬
rische Gesetze aufstellen. „Urteil” in der formalen Logik besagt
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 43
ja die in mannigfaltigen subjektiven Akten des Aussagens sich
herausstellende und jederzeit herauszuerkennende identische
Aussagebedeutung, den identischen Satz z.B. ,,2x2 = 4”.
Sätze überhaupt in apriorischer Allgemeinheit, wie sie für die
5 formale Logik das Thema sind, bilden eine eigenartige Sphäre
idealer Gegenständlichkeiten, so gut wie in der Arithmetik die
Zahlen. Ähnlich wie ein Satz so ist eine Zahl ein identisch Ideales,
hier ein Identisches in subjektiv sehr verschiedenen Modis des
Zählens und Zahlendenkens. Also wie in der Arithmetik rein die
10 Zahlen und nicht das subjektive Tun im Zählen und sonstigen
arithmetischen Bewußtsein die thematische Sphäre bilden, so in
der formalen Apophantik die Sätze.
Überhaupt sehen wir, daß die rein formale Logik als
rationale Disziplin in dieser Hinsicht allen sonstigen Wissen-
15 schäften des neuen rationalen Sinnes gleichsteht; wie sie alle ist
sie ontisch, nicht epistemologisch, nicht auf
erkennende Subjektivität und subjektive Modi gerichtet. Das
gilt also nicht nur für diejenigen rationalen Disziplinen, welche
nach unseren Andeutungen mit der zuerst sich ausbildenden
20 Syllogistik oder besser der apophantischen Logik von vornherein
bei genauer Betrachtung thematisch zusammengehören, also
nicht nur für die Arithmetik und für alle anderen Disziplinen der
formalen analytischen Mathematik. Wenn die enger oder weiter
gefaßte formale Logik eine ausgezeichnete Stellung gegenüber
25 allen anderen Wissenschaften hat, wenn sie in den Rahmen einer
universalen Methodenlehre für alle Wissenschaften überhaupt
hineingehört, wenn sie ideale Gesetze ausspricht, von denen alle
Wissenschaften ev. Gebrauch machen können und an die sich alle
gebunden wissen, so liegt das daran, daß die Logik und die sie
30 umspannende mathesis universalis eben von Gegenständen über¬
haupt und Urteilen bzw. Wahrheiten überhaupt spricht, und
von allen Modis, in denen Gegenstände denkbar sind, und allen
Formen möglicher Urteile, in betreff welcher Gegenstände immer.
Natürlich bauen sich aber in allen Wissenschaften Theorien, also
35 Urteilsgebilde auf, in allen werden Gegenstände beurteilt; also
muß eine formale Logik und müssen alle logisch-mathematischen
Disziplinen für alle Wissenschaften, für alle erdenklichen Wissen¬
schaftsgebiete und für alle erdenklichen wissenschaftlichen Sätze
und Theorien gelten, oder, wie wir auch sagen können, formal
44 ERSTE PHILOSOPHIE
logische Gesetze, einmal gefunden, müssen den Beruf haben, alle
Wissenschaften hinsichtlich ihrer theoretischen Gehalte zu nor¬
mieren und so für sie als Prinzipien der Rechtfertigung zu fun¬
gieren.
5 Andererseits aber steht, wie gesagt, die formale Logik, zuge¬
rechnet die mathematische Analysis, allen anderen Wissenschaf¬
ten darin gleich, daß sie so wenig wie sie alle ihr Forschungs¬
gebiet in der Erkenntnissubjektivität hat. Jedoch das Postulat
einer auf das Subjektive der Erkenntnis bezogenen Wissenschaft
10 ist uns durch diese Betrachtung empfindlich geworden, einer
Wissenschaft, welche das Subjektive der Erkenntnis überhaupt
und der Erkenntnis aller Gegenstands- und Wissenschaftsge¬
biete systematisch erforscht. Sie tritt aus der Reihe aller sonstigen
Wissenschaften durch die einzigartige Eigentümlichkeit heraus,
15 daß sie in völlig gleicher Weise auf alle erdenklichen Wissen¬
schaften bezogen ist und in Beziehung auf sie alle die gleiche
Aufgabe hat: ihre subjektive Erkenntnisseite zu erforschen.
7. Vorlesung: <Systematischer Entwurf der vollen Idee der Logik —
einer Logik der Wahrheit — als einer Wissenschaft von der erkennend und
überhaupt leistenden Subjektivität. >
Die von uns postulierte Wissenschaft vom Erkenntnis-Subjek¬
tiven befindet sich in einer gewissen Parallele mit der formalen
20 Logik; aber die Weise, in der sie sich auf alle Wissenschaften
bezieht und alle umspannt, ist eine total andere. Alle Wissen¬
schaften beziehen sich erkennend und im Gehalte ihrer Theorien
sinngemäß auf Gegenstände. In allen sind die Gegenstände
Gegenstände wirklicher und möglicher Urteile, Substrate wirk-
25 licher und möglicher Wahrheiten. Alle diese theoretischen Ge¬
halte haben aber als Erkenntnis einheiten eine ursprüng¬
liche und immerfort bleibende Beziehung auf wirkliche und mög¬
liche erkennende Subjekte, welche die identischen Gegenstände,
dieselben Urteile, Wahrheiten in mannigfaltigen subjektiven
30 Erkenntnisweisen in sich bewußtseinsmäßig gestalten und jeder¬
zeit gestalten können. Eine universale Wissen¬
schaft von diesem Bewußtseinsmäßigen und einer Subjekti¬
vität überhaupt, die und sofern sie jederlei „Objektives”, objek¬
tiven Sinn und objektive Wahrheit jeder Art, im Erkenntnis-
35 leben gestaltet, umspannt also thematisch alles mögliche
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 45
Subjektive des Erkennens aller Wissenschaften in ähnli¬
cher Weise, wie eine Logik in ihren Begriffen und Gesetzen
thematisch alles mögliche Objektive aller Wissenschaften
umspannt. Anders ausgedrückt, eine Logik als rationale Wissen-
5 Schaft von der Objektivität überhaupt — wie weit ihre Idee zu
erweitern wäre (und vielleicht noch über eine mathesis universalis
hinaus) — hätte als notwendiges Gegenstück eine Logik des
Erkennens, eine Wissenschaft, und vielleicht auch eine
rationale Wissenschaft von der Erkenntnissubjektivität über-
10 haupt; beide Wissenschaften, und vielleicht beide in zusammen¬
gehörige Gruppen von einzelnen Disziplinen sich gliedernd, stän¬
den im Verhältnis notwendiger Korrelation. Das Wort „Logik”
würde insofern passen, als Logos nicht nur in der objektiven
Hinsicht das Erkannte, die Aussagebedeutung, den wahren
15 Begriff u.dgl. andeutet, sondern auch Vernunft, und so die sub¬
jektive, erkenntnismäßige Seite.
Hierbei ist noch folgendes zu bemerken. Wird in dieser Logik
des Erkennens eben dieses, das Erkenntnissubjektive, zum
Thema, so wird es das natürlich wiederum in einem Erkennen.
20 Es ist dann Gegenstand für neue Aussagen und Wahrheiten, die
ihrerseits wieder in einem Erkennen des Wissenschaftlers in
wechselnden subjektiven Modis sich gestalten. Danach ist es
klar, daß die postulierte universale Wissenschaft vom Erkennt¬
nissubjektiven auch die merkwürdige Eigentümlichkeit hat, daß
25 sie sich auf sich selbst, nämlich auf ihr eigenes Erkenntnissub¬
jektives bezieht. Sie steht darin abermals mit der objektiven
Logik in Parallele, die sich als objektive universale Wissenschaft
auf sich selbst, aber nur insofern bezieht, als sie selbst in ihren
Begriffen und Sätzen Objektivitäten herausstellt. Jedes Gesetz,
30 auch jedes logische Gesetz, ist ein Satz. Ist es ein logisches Ge¬
setz wie das Prinzip vom Widerspruch, das für alle Sätze über¬
haupt eine Wahrheit aussagt, so bezieht es sich auf sich selbst
zurück, sofern es selbst ein Satz ist. Das Gesetz vom Wider¬
spruch sagt aus: wenn ein Satz wahr ist, so ist sein kontradikto-
35 rischer Gegensatz falsch — als gültig für alle erdenklichen Sätze.
Aber dieses Gesetz ist auch ein Satz und fällt somit unter die
allgemeingültige Wahrheit, die es selbst ausspricht. Und so ist
auch die objektive Logik als Ganzes auf sich selbst thematisch
zurückbezogen. Eine ähnliche, nur eine korrelative Rückbezie-
46 ERSTE PHILOSOPHIE
hung auf sich selbst müßte offenbar für die Logik der erkennen¬
den Subjektivität gelten. Unter die allgemeine Gesetzmäßigkeit
subjektiver Erkenntnistätigkeiten, die sie aufstellt, müßten
auch alle die Erkenntnistätigkeiten fallen, durch die diese Gesetze
5 erkennbar werden.
Noch eine weitere Bemerkung drängt sich hinsichtlich der
geforderten Erkenntniswissenschaft auf. Wenn wir sie als eine
auf das subjektive Erkenntnisleben gerichtete Logik fassen, so
denken wir von vornherein an allgemeine Einsichten, die als
10 Prinzipien der Rechtfertigung, und hier eben in subjektiver Hin¬
sicht, dienen könnten. Und wir denken von vornherein auch
an wissenschaftliches Forschen und Denken, mit
dem Ziele wahrer Theorie für ein in seinem wahren Sein und
Sosein zu bestimmendes Gegenstandsgebiet. Indessen nicht nur,
15 daß echtes Erkennen sich nicht normieren und zu Normierungs¬
zwecken erforschen läßt ohne gründliches Studium des u n-
echten Erkennens, das doch immer nach allgemeinsten Gat¬
tungscharakteren ein „Erkennen” heißen darf; es ist auch darauf
Rücksicht zu nehmen, daß, was wir theoretisches oder
20 wissenschaftliches Erkennen nennen, nur eine ausgezeich¬
nete Höhengestaltung ist, die sich auf niedere Er¬
kenntnisstufen zurückbezieht: so auf das vielgestaltige sinnliche
Anschauen und sinnliche Phantasieren, mit zugehörigen sinnlich
anschaulichen Urteilsweisen, die nicht nur den wissenschaftlichen
25 historisch vorangehen als typische Formen des Erkenntnislebens
der vorwissenschaftlichen Menschheit und sich sogar schon bei
Tieren finden, sondern die für das wissenschaftliche Denken selbst
als immer und notwendig mitfungierende Unterlagen und Ein¬
schläge ihre Rolle spielen. Natürlich müßte die volle Gestalt einer
30 Wissenschaft von der erkennden Subjektivität so weit reichen,
als die sachlichen Zusammenhänge ihres Gebietes überhaupt zu
verfolgen sind; und schon dieses Gebiet müßte so weit gefaßt
werden, als gattungsmäßig-sachliche Gemeinschaft irgend rei¬
chen kann. Niemand wird ja auch sonst etwa eine Wissenschaft
35 von den Dreiecken und daneben eine eigene Wissenschaft von
den Kreisen etablieren wollen; und so wird man auch hier nicht
bloß eine Wissenschaft von der erkennenden wissenschaftlichen
Vernunft statt einer vollumfassenden Wissenschaft vom E r-
kennen überhaupt in dem weitest zu fas-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 47
senden Sinne fordern, in welcher die Gesamtheit noch so
primitiver Gestaltungen der Wahrnehmung, Erinnerung, spielen¬
den Phantasie ebenso theoretisch in Frage ist wie jede Gestalt
apriorischen und empirischen wissenschaftlichen Theoretisierens.
5 Aber schließlich werden wir noch weiter getrieben. Wer könnte
die erkennende Subjektivität trennen wollen von der fühlenden,
strebenden, begehrenden, wollenden, handelnden Subjektivität,
von der in jedem niederen und höheren Sinn wertenden und
zwecktätig leistenden Subjektivität? Theoretische Vernunft
10 stellt man in Parallele zur wertenden, z.B. ästhetisch wertenden
Vernunft, und wieder zur praktischen Vernunft, wobei man insbe¬
sondere an die rechte Weise ethischer Lebensgestaltung denkt.
Aber die Subjektivität zerfällt nicht danach in getrennte Stücke,
die äußerlich in derselben Subjektivität nebeneinanderliegen.
15 Elemente des Fühlens und Strebens, ev. des zielbewußten Wol-
lens liegen in der Erkenntnis, Elemente der Erkenntnis in allen
anderen Akt- und Vernunftarten. Überall treten, und innig
ineinander verflochten, parallele Probleme auf, Probleme von
demselben Typus, den wir für die Erkenntnis kennengelernt
20 haben. Die Korrelation zwischen subjektivem Erkenntnisleben
und in ihm bewußt werdenden Erkenntniseinheiten hat ihre of¬
fenbare Parallele in der Korrelation zwischen fühlend-wertendem
und werktätig schaffendem Leben und den in ihm bewußt wer¬
denden Werteinheiten und Zweckeinheiten. Unterschieden wir
25 z.B. in der Erkenntnissphäre das vielgestaltige subjektive Er¬
fahren von dem bewußtseinsmäßig einen und selben Erfahrungs¬
objekt, wiesen wir darauf hin, daß es, während es als dieses eine
und selbe sichtlich dasteht, ein endlos wechselndes subjektives
Aussehen hat, und für uns selbstverständlich nur bewußt sein
30 kann eben dadurch, daß es irgendwie für uns aussieht; unterschie¬
den wir so Subjektives und Objektives, dann müssen wir natür¬
lich analog auch bei einem Kunstwerk, einer Symphonie, einer
Plastik, unterscheiden. Das schöne Gebilde ist für uns als Schönes
nur da, wofern unser Gefühl, und in gewissen subjektiven Weisen,
35 spricht, und das wieder setzt voraus, daß die Töne der Symphonie
in gewissen subjektiven Erscheinungsweisen, in gewissen subjek¬
tiv empfundenen Intensitäten, in einem gewissen subjektiven
Tempo bewußt sind; oder, für Plastik, daß das Marmorbild sub¬
jektiv von gewissen Seiten, in gewissen Perspektiven, in gewissen
48 ERSTE PHILOSOPHIE
subjektiv wirksamen Beleuchtungen u.dgl. gesehen wird; nur
dann spricht das Gefühl, und spricht es gerade in der Form ästhe¬
tisch fühlenden Bewußtseins. Im ästhetischen Genuß, im Be¬
wußtsein, indem das Kunstwerk für uns in voller Aktualität da
5 ist, läuft ein gewisser Rhythmus von Vorstellungsweisen und da¬
durch fundierten Gefühlsweisen, ein bestimmt geordnetes sub¬
jektives Erleben ab. Aber das Schöne selbst, das dabei bewußt
ist, ist nicht dieses vielgestaltige Leben, dieses Bewußtsein,
in dem es bewußt ist. Was der Betrachter bewußt vor sich
10 hat und ästhetisch genießt, ist dieses eine, dieses schöne Gebilde
und seine ästhetischen Werteigenheiten, während das subjektive
und vielgestaltige Erkenntnis- und Gefühlsleben, in dem das
ästhetische Bewußthaben des Gebildes besteht, ihm natürlich
verborgen ist.
15 Sie sehen, daß wir in der Tat für ästhetische Ein¬
heit und ästhetische Subjektivität auf ähn¬
liche Probleme, und auch Probleme einer ästhetischen Ver¬
nunft, bezogen auf Wahrheit oder Echtheit
des Schönen, stoßen, und so offenbar überall,wo in
20 irgendeinem Sinne von Vernunft die Rede
ist. Alle diese Probleme sind in der Lösung miteinander ver¬
flochten, die erkennende, die ästhetische, die ethische Subjektivi¬
tät vollzieht nicht, unter den Titeln Erkennen, Fühlen, Werten,
Handeln, getrennte, inhaltlich einander fremde, sondern sich
25 innerlich verflechtende, beständig ineinander fundierte Akte, mit
Einheitsleistungen, die selbst entsprechende Fundierungen auf¬
weisen. So wird es also, das sehen wir im voraus, nur eine voll¬
ständige Wissenschaft von der Subjektivität geben, und zwar von
der Subjektivität, welche und sofern sie alle möglichen Einheiten
30 des Bewußtseins in sich als Einheiten der Meinung und ev. ver¬
nünftigen Bewährung gestaltet. Sprechen wir von Bewußtsein
als Bewußthaben von etwas: von einem Ding, einer Zahl, einem
Satz, einem Schönen und Guten, einem Zweckgebilde, einer werk¬
tätigen Handlung, so ist das nicht ein überall gleiches, in sich
35 unterschiedsloses Haben solcher Einheiten, sondern je nach diesen
Einheiten, ja schon bei einer und derselben, ist es, wie schon die
flüchtigste Reflexion zeigt, ein überaus vielgestaltiges subjektives
Leben. Es ist ein Leben, das in der Art, wie es im Subjekt ver¬
läuft, die Einheit als die jeweilig vermeinte und für es ev. in der
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 49
Weise der Wahrheit und Echtheit erschaute zustandebringt.
Bewußt-haben ist nur als Bewußtseinsleistung.
Noch ein Punkt bedarf der Erörterung. Die jetzt erwogene
Wissenschaft soll die universale Wissenschaft vom Subjektiven
5 überhaupt sein, als demjenigen, worin alles Objektive zum Be¬
wußtsein kommt und je kommen kann. Oder: wir stellen ihr das
Thema, alles auf Bewußtseinssubjekte und auf Bewußtsein selbst
als Bewußtsein von etwas Bezügliche zu erforschen. Sie hätte
jede erdenkliche Weise, wie Subjekte sich als bewußtseinstätig
10 zeigen können und wie sie dadurch sich selbst, etwa als vernünf¬
tig oder unvernünftig erkennende, wertende, wollende, bestim¬
men, in Erwägung zu ziehen, sie hätte alle unterscheidbaren Gat¬
tungen und Arten des Bewußtseins bestimmend zu erforschen,
und zwar unter beständigem Hinblick auf die
15 B e w u ß t s e i n s o b j e k t e, auf die im Bewußtsein selbst
jeweils vermeinten so oder so bewußten Einheiten.
Dieselben Einheiten sind ev. Themen anderer Wissenschaften,
der objektiven, oder auch Themen des praktischen Lebens, näm¬
lich als das, worum man sich gerade sorgt, was man praktisch
20 bedenkt und ev. handelnd bearbeitet. Aber ein anderes ist es,
objektives Thema, theoretisches oder praktisches, sein — und
ein anderes, als Objektives mannigfaltig darauf bezogenen Be¬
wußtseins (subjektives) Thema der Wissenschaft von der Be¬
wußtseinssubjektivität sein; und insbesondere, in ihr unter dem
25 Gesichtpunkt erwogen sein, wie die vielfältigen subjektiven
Erscheinungsweisen, apperzeptiven Gestalten, subjektiven Cha¬
raktere aussehen und sich bestimmen, in denen ein und dasselbe
Objektive der oder jener Art im Bewußtsein sich gibt.
Wir haben Wissenschaften, die wir objektive nennen, und alle
30 Gegenstände oranen sich in objektive Wissenschaften ein: und
doch gehören auch alle. Gegenstände zugleich in unsere Wissen¬
schaft von der Bewußtseinssubjektivität. Als Gegenstände objek¬
tiver Wissenschaften sondern sie sich in wissenschaftlich ge¬
trennte Gebiete. Jede solche Wissenschaft hat ihr Gebiet, jede
35 andere ein anderes. Aber zugleich gehören alle Gegenstände
aller Wissenschaften in e i n s in jene universale Wissen¬
schaft von der Erkenntnissubjektivität und Bewußtseinssubjek¬
tivität überhaupt. Objektive Wissenschaften wollen die Gegen¬
stände ihres Gebietes auf Grund einstimmiger Erfahrung in theo-
Husserliana VII 4
50 ERSTE PHILOSOPHIE
retischer Wahrheit bestimmen, so die Naturwissenschaft die der
Natur, die Sprachwissenschaft die der Sprache usw. Erforscht
die Bewußtseinswissenschaft dieselben Gegenstände und dabei
alle Arten von Gegenständen in eins, so hat das einen anderen
5 Sinn und besagt ein Forschen ganz anderer Art. Nicht, was die
Gegenstände, die in einstimmiger Erfahrung ihrem wirklichen
Sein nach erfaßt werden, einzeln und in Relation zueinander in
theoretischer Wahrheit sind, ist hier die Frage, sondern, w i e
das Erkennen aussieht und sich theoretisch bestimmt,
10 und jederlei mögliches Bewußtsein sonst sich bestimmt, in wel¬
chem solche Gegenstände und Gegenstände überhaupt als Ein¬
heiten, als identische Gegenstände bewußtwerden können. Das
sagt also z.B., wie das Erfahren aussieht und Erfahrungseinstim¬
migkeit aussieht, in der Erfahrenes als Wirklichkeit und fortge-
15 setzt bestehende Wirklichkeit bewußt wird, aber auch, wie ein
Erfahrungsgang aussieht, in dem Erfahrenes hinterher als Illusion
diskreditiert wird, welche Erscheinungsweisen von Raumdingen,
welche subjektiven Unterschiede des Hier und Dort, des Rechts
und Links oder welche subjektiven Unterschiede der Gestalt und
20 Farbenperspektive u.dgl. in Betracht kommen könnten als sub¬
jektive Weisen, wie Objektives dem Erfahrenden und dann
weiter dem urteilend Denkenden sich darbietet und darbieten
muß.
Also unsere Wissenschaft behandelt jederlei Objekt i-
25 v e s als Objektives des Bewußtseins und als in
subjektiven Modis sich Gebendes; Bewußtseinssubjekt und Be¬
wußtsein selbst wird nicht vom bewußten Gegenständlichen
getrennt betrachtet, sondern im Gegenteil, Bewußtsein trägt
Bewußtes selbst in sich, und so, wie es das in sich trägt, ist es
30 Forschungsthema. Lind das gilt nicht nur für Erkenntnisgegen¬
stände in irgendeinem beschränkten Bewußtseinssinn, sondern
auch für das wertende und praktische Bewußtseinsleben jeder
Art und Besonderheit.
Doch ist zugleich zu bemerken, daß alle Arten von Bewußt-
35 seinseinheiten jederzeit für eine mögliche Erkenntnis bereitliegen,
also auch zu theoretischen Objekten werden können, so daß sich
Wissenschaften auf sie alle beziehen können und in der Tat schon
beziehen; so z.B. Wissenschaften von ästhetischen Objekten, wie
es die Kunstwissenschaft ist, von den wirtschaftlichen Gütern
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 51
usw. Danach wird also eine vollständige Wissenschaft von der
erkennenden Subjektivität auch aus diesem Grunde und eo ipso
sich über alle Weisen des Einheiten welcher Art immer gestalten¬
den Bewußtseinslebens erstrecken müssen.
5 Sind wir so weit, so ist es an der Zeit zu fragen — und damit
münden wir wieder in die historische Betrachtung ein —: mußte
nicht schon das griechische Altertum Bedürfnis nach einer solchen
Wissenschaft von der Subjektivität, der unter dem Titel Be¬
wußtsein Bewußtseinseinheiten leistenden, empfinden? Ging
10 doch die griechische Philosophie in ihrem universalen Erkennt¬
nisstreben mit der Begründung immer neuer Wissenschaften in
allen Richtungen voran.
Konnte es ihr entgehen, daß das im natürlichen naiven Fort¬
gang des Lebens den Erkenntniseinheiten, den Wert- und Zweck-
15 einheiten ausschließlich preisgegebene Interesse auch eine Rück¬
wendung erfahren kann, in welcher das vordem, im naiven Be¬
wußtseinsvollzug, sich selbst verborgene Bewußtsein dem Ich
sichtbar und erforschbar wird ?
Konnte ihr entgehen, daß hierdurch an alle Arten von Gegen-
20 ständen Fragen gestellt werden, die keine der rationalen objek¬
tiven Wissenschaften von diesen Gegenständen beantwortet, und
daß eine sonst noch so rationale Wissenschaft, die für ihre Gegen¬
stände eine ganze Dimension von Fragen unbedacht läßt, un¬
möglich der Idee einer philosophischen Wissenschaft voll genügen
25 konnte?
<Viertes Kapitel
Die geschichtlichen Anfänge der Wissen¬
schaft von der Subjektivität)
8. Vorlesung: <Aristoteles’ Begründung der Psychologie und das Grund¬
problem einer Psychologie überhaupt. >
Darauf haben wir zu sagen: von der Logik her, die als
Methodenlehre echter Erkenntnis und echter Wissenschaft im
Werden war, und parallel von der Ethik her, die sich ebenso
als Methodenlehre des praktisch vernünftigen, des „ethischen”
30 Handelns zu entwickeln begonnen hatte, wurde man von vorn¬
herein dazu bestimmt, der erkennenden und handelnden Sub¬
jektivität in ihrem vernünftigen und unvernünftigen Tun ein
52 ERSTE PHILOSOPHIE
theoretisches Interesse zuzuwenden. Die Art der sophi¬
stischen Angriffe gegen die Möglichkeit der Erkenntnis
mußte gerade in dieser Hinsicht motivierende Kraft haben. Der
einzuschlagende Weg war durch die natürliche naive Weltbe-
5 trachtung vorgezeichnet. Vernunft und Unvernunft jeder Art
sind Namen für menschliche Seelenvermögen, Vermögen für ge¬
wisse in Wissenschaft, in praktischer Weisheit und Tugend, in
Politik, in Staatsverfassungen u.dgl. sich auswirkende geistige
Leistungen. Das führt also auf den Menschen und sein See-
10 lenleben als wissenschaftliches Thema, von da
aus hinsichtlich der Unterstufen solchen Lebens auch auf die
Tiere und tierisches Seelenleben; die psychologische
Theoretisierung vollzog sich hier im Zusammenhang
der logischen und ethischen Problematik.
15 Alsbald wurde man aber auch abgesehen von den vernunft¬
theoretischen Bedürfnissen dieser Methodenlehren auf das D e-
siderat einer Psychologie geführt. Nachdem durch
Platon und in fruchtbarer Fortführung durch Aristoteles die allge¬
meine Idee einer rationalen Wissenschaft entworfen und durch-
20 gedrungen war, standen die Geister in dem Bann der die ganze
Weiterentwicklung bestimmenden Aufgabe, diese Idee in immer
neuen rationalen Wissenschaften zu verwirklichen, sei es durch
logische Umgestaltung der alten Philosophien oder Wissenschaf¬
ten in rationale, sei es durch Begründung völlig neuer, in allen
25 erreichbaren Gebieten. Natürlich mußten also wie für die phy¬
sische Natur so für die lebendige Natur, für Tiere und Men¬
schen, dann für das gesellschaftliche Leben neue Wissenschaften
geschaffen werden; im Interesse allen voran ging da die Wissen¬
schaft vom Menschen, die Anthropologie, die psychische natür-
30 lieh verflochten mit der physischen, da ja in der natürlichen
objektiven Betrachtung seelisches und leibliches Sein in der ani¬
malischen Einheit real verflochten sind.
So erwuchs schon im Altertum, im gewaltigen Geiste eines
Aristoteles, ein erster Entwurf einer univer-
35 s al e n Wissenschaft von der Subjektivität,
nämlich als eine Psychologie, und sie hatte, wie alle seelischen
Funktionen, so die Funktionen menschlicher Vernunft zu be¬
handeln; eine der objektiven Wissenschaften in der Reihe der
Erfahrungswissenschaften, die das Weltall behandeln, eine neben
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 53
anderen, tritt so in eine ausgezeichnete Beziehung zur Logik und
Ethik, und durch sie hindurch zu allen anderen Wissenschaften
und ihren Gebieten.
Freilich so, wie die Psychologie auf den Plan tritt, ist sie eigent-
5 lieh ein beständiges Kreuz der philosophischen Geister.
Von Anfang an vermochte sie sich gerade der Problematik nicht
zu bemächtigen, welche uns in den letzten Vorlesungen in unse¬
rem Ausgang von der Erkenntnis und den Erkenntniseinheiten
und im Zusammenhang mit den methodologischen Disziplinen
10 der Logik und dann auch der Ethik zugewachsen ist. Es fehlte,
so viel man von den Vermögen erkennender und praktischer Ver¬
nunft auch sprach, an der Methode, die Akt sphären,
auf welche sich diese Vermögen doch beziehen, und demnach
überhaupt das Bewußtsein als Bewußtsein von
15 etwas in richtiger Weise systematisch deskriptiv
herauszustellen und in einen theoretischen Griff zu be¬
kommen. Das war aber ein radikaler Mangel, der die Entwicklung
der Psychologie zur festen Gestalt einer echten, in rationalen
Beschreibungen und Erklärungen fortschreitenden Wissenschaft
20 unmöglich machen mußte. In jedem Lebenspuls ist doch mensch¬
liches und tierisches Seelenleben Bewußtsein von dem und
jenem. Als ganzes ist es zu charakterisieren als kontinuierlich
einheitlicher Strom sich immer neu gestaltenden Bewußtseins,
vorstellenden, urteilenden, fühlenden, strebenden, handelnden
25 Bewußtseins, eines Bewußtseins, das überaus mannigfache For¬
men hat, in dem, immerfort wechselnd nach Gegenständen und
subjektiven Erscheinungsweisen, einerseits subjektive Erlebnisse
selbst bewußt werden, wie Empfindungsdaten, Gefühle, Wollun-
gen, andererseits aber auch, und in eins damit, Dinge im Raum,
30 Pflanzen und Tiere, mythische Mächte, Götter oder Dämonen,
mannigfaltige Kulturgestalten, Sozialitäten, Werte, Güter,
Zwecke usw. Wie könnte eine Psychologie auf die rechte
Bahn kommen, ohne zu einer systematischen
Elementaranalyse des Bewußtseins als Be-
35 w u ß t s e i n s von etwas durchzudringen, als
gewissermaßen dem ABC des Seelenlebens!
Aber uns interessiert hier der Mangel in der Bewußtseinsfor¬
schung keineswegs als bloßer Mangel, welcher der Psychologie an
und für sich, als einer objektiven Wissenschaft unter anderen,
54 ERSTE PHILOSOPHIE
anhaftete, als ein Mangel der Methode, der sie hinderte, die Stufe
einer echten rational erklärenden Wissenschaft zu erklimmen,
also zur würdigen Genossin der mathematischen Naturwissen¬
schaft zu werden. Bewußtseinsforschung kommt ja für die Logik
5 und Ethik in Frage, und da interessiert uns der Anspruch der
Psychologie in dieser Hinsicht, Fundament für diese prinzipiellen
Methodenlehren zu sein, ihr Anspruch, die ursprüngliche Kraft¬
quelle für alle prinzipiellen Normierungen in Wissenschaft und
Lebenspraxis zu sein und dadurch über alle anderen, ihr sonst
10 gleichgeordneten objektiven Wissenschaften emporzuragen.
Mochte es auch zunächst ganz selbstverständlich erscheinen,
daß die Psychologie diejenige Wissenschaft von der Subjektivität
sei, aus welcher eine Methodenlehre des Erkennens und Handelns
theoretisch zu schöpfen hat, wirklich selbstverständlich war das
15 nur, wenn Logik und Ethik nicht mehr sein wollten und nicht
mehr sein konnten als empirisch-technische Regelsysteme für
menschliche Verfahrungsweisen im wissenschaftlichen und ethi¬
schen Tun. War aber die Logik in der Tat nur als eine empirische
Technologie des Erkennens gemeint, als eine empirische Kunst-
20 lehre etwa nach Art der Architektur? Ihrem Ursprung nach
sicherlich nicht. Die Logik bot doch von Anfang an apriorische
Gesetze für Gegenstände überhaupt, Sätze und Wahrheiten über¬
haupt und zielte danach auch in subjektiver Hinsicht und ganz
offenbar auf apriorische Normen für das Erkennen, für das Ur-
25 teilen und Einsehen überhaupt. Die Frage liegt hier nahe: Könn¬
ten solche apriorischen Gesetze, d.i. Sätze, zu deren rein idealem
Sinn unbedingte Allgemeinheit und Notwendigkeit der Geltung
gehört, abhängig sein von der zufälligen Faktizität des Menschen,
dieser faktischen animalischen Spezies homo innerhalb des Fak-
30 tums dieses Weltalls ? Mußte nicht eine solche Abhängigkeit
besagen, daß alle logischen Gesetze eben nur die Gültigkeit zoolo¬
gischer Gesetze haben; mußte also nicht darin liegen, daß eine
Änderung der menschlichen Spezies, eine passende Änderung
der faktischen Regelverläufe menschlichen erkennenden Tuns
35 auch eine Änderung der logischen Gesetze mit sich führen
könnte und würde ? Geben wir damit aber die absolute Geltung
dieser Gesetze preis, so geraten wir in arge Verlegenheiten. Wie
steht es, wenn wirklich logische Gesetze eine bloß empirisch¬
anthropologische Gültigkeit haben, mit dem Faktum der mensch-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 55
liehen Spezies selbst, und in ihren biologischen Eigenheiten,
darunter auch der psychologischen, die hier vorausgesetzt wer¬
den? Und wie steht es mit dem Faktum der ganzen Welt, die hier
nicht minder vorausgesetzt ist ? Wissen von ihr gibt die Wissen-
5 schaft, und speziell für den Menschen die physische und psychi¬
sche Anthropologie. Nur wenn diese Wissenschaft wirklich Gül¬
tigkeit hat, können wir in der Tat und in Wahrheit sagen, der
Mensch ist und untersteht den und den psychologischen Gesetzen.
Wenn aber das, was dieser wie aller Wissenschaft überhaupt von
10 Anfang bis Ende prinzipielles Recht gibt, nämlich die Logik durch
ihre logischen Prinzipien, selbst vom Faktum des Menschen ab-
hängen sollte, dann hinge sie doch von dem ab, was erst durch
sie überhaupt als rechtmäßig seiend gültig sein könnte. Ein offen¬
barer Zirkel. Ja der Zirkel tritt schon vor, wenn wir auch nur das
15 allererste logische Prinzip heranziehen: hätte der Satz vom Wider¬
spruch eine bloß empirisch-relative, vom Faktum der mensch¬
lichen Spezies abhängende Geltung, so läge darin, es sei eine Ände¬
rung dieser Spezies denkbar derart, daß er nicht mehr gelte. Dann
wäre aber auch von diesem andersartigen Menschen zu sagen, er
20 sei und sei nicht, sei so und nicht so, er sei andersartiger Mensch
und nicht andersartiger usw.
Wir sehen, die Selbstverständlichkeit, mit der jedwede Wissen¬
schaft ohne weiteres auf die Welt bezogen wird, wobei diese Welt
als fraglose Tatsache der Erfahrung vorausgesetzt wird, führt
25 Schwierigkeiten mit sich; so hier vor allem die Selbstverständ¬
lichkeit, in der die Logik als auf das Faktum dieser Welt und
speziell das Faktum erkenntnisfähiger Menschen bezogen gilt.
In ihrer ursprünglichen Anlage und Bestimmung als platonischer
Dialektik sollte die Logik die radikale Wissenschaft von der
30 Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt sein. Von der Möglichkeit,
in erkennendem Tun Wahrheitsleistungen zu erzielen, wollte sie
ganz prinzipiell handeln; sie wandte sich ja gegen die Sophistik,
die schlechthin und ganz allgemein diese Möglichkeit leugnete.
Also, wurde sie wirklich radikal entworfen, dann mußte sie von
35 Anfang an und ganz prinzipiell die Möglichkeit jeder Erkenntnis
und Wahrheit in Frage stellen; darin liegt aber, sie durfte nicht
einmal die Existenz des Menschen und das vermeinte selbstver¬
ständliche Dasein einer Welt als eine ausgemachte Tatsache der
Erfahrung benutzen. Denn auch diese ist nur Tatsache aus der
56 ERSTE PHILOSOPHIE
Erkenntnis her und muß als Erkenntnistatsache ihrer Möglich¬
keit nach in Frage gestellt werden.
Wie sehr Platon sich bemühte, in diesem radikalen Geiste
eine Logik zu begründen, zu den notwendigen Anfängen und
5 Methoden drang er nicht durch, und schon Aristoteles
verfiel in die sehr natürliche Selbstverständlichkeit einer vorge¬
gebenen Welt, eben damit jede radikale Erkenntnisbegründung
preisgebend. So kam es, daß die antike Wissenschaft bei all ihrer
Prätention, Philosophie, sich wirklich letztrechtfertigende und
10 voll befriedigende Wissenschaft zu sein, bei all ihren bewunde¬
rungswerten Leistungen doch nur das zustandebrachte, was wir
dogmatische Wissenschaft nennen und nur als eine Vorstufe ech¬
ter philosophischer Wissenschaft statt ihrer selbst gelten lassen.
Solange nicht die erkennende Subjektivität, die zu allen wirk-
15 liehen und möglichen Erkenntnissen und Wissenschaften als
Wesenskorrelat hinzugedacht werden muß, erforscht ist, solange
nicht eine allgemeine und reine Wissenschaft von allem möglichen
erkennenden Bewußtsein begründet wird, in dem alles wahre
Sein sich als subjektives Leisten herausstellt, solange ist keine
20 sonst noch so rationale Wissenschaft in vollem und jedem Sinne
rational. Allen Wissenschaften steht gegenüber, wie wir be¬
sprachen, eine Wissenschaft von der Erkenntnissubjektivität,
und diese, weitest verstanden, ist eine Wissenschaft, die von
Bewußtseinssubjekt, Bewußtsein und bewußtseinsmäßig ver-
25 meinter Gegenständlichkeit überhaupt handelt. Diese Wissen¬
schaft steht allen anderen als Korrelat in der Weise gegenüber,
daß sie alles, was diese in jedem Schritte, und schon nach den
untersten Erfahrungen, bewußtseinsmäßig leisten, nach diesem
subjektiven Leisten prinzipiell verständlich macht und dadurch
30 erst letzt-rational. Sowie man diese Wissenschaft mit der Psycho¬
logie identifiziert, sowie man die prinzipielle Eigenstellung dieser
Wissenschaft verkennt, die radikale Methode, die ihr Gebiet
eröffnet, verfehlt, ist alle Wissenschaft und ist alle Erkenntnis¬
gegenständlichkeit, also das Weltall selbst, mit Dunkelheiten,
35 Rätseln, Widersprüchen behaftet, die uns den reinen und echten
Sinn der Welt und alles Seins versperren. Wissenschaft kann eben
nur dann Wissenschaft im letzten Sinn, Philosophie sein, wenn
sie die Welt und so alle Erkenntnisgegenständlichkeiten in solcher
Weise theoretisch bestimmt, daß jede wahre Aussage, die da zur
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 57
Erkenntnisleistung kommt, frei ist von allen erdenklichen Dun¬
kelheiten und Widersprüchen, die den Erkenntnisgegenstand in
irgendeiner Richtung verwirren.
Aber zunächst bleibt die Notwendigkeit und Eigenart einer
5 solchen Wissenschaft dem ganzen Altertum unsichtbar, während
sich gleichwohl ihr Mangel immerfort irgendwie fühlbar macht,
also sich fühlbar macht die Unzulänglichkeit bisheriger Wissen¬
schaft. Der historische Index dieser Sachlage ist sozusagen die
Unsterblichkeit des Skeptizismus. Als unbe-
lOsieglicher Geist der Verneinung begleitet er die blühende Ent¬
wicklung der antiken Wissenschaften, darin unermüdlich, jeder
neuen Gestalt der Philosophie eine neue der Antiphilosophie
gegenüberzustellen. Allgemein gesprochen, er bleibt beharrlich
dabei, mit feinstgesponnenen Argumenten die Unmöglichkeit
15 jedweder Philosophie, d.i. die Unmöglichkeit einer sich letzt¬
rechtfertigenden Wissenschaft zu erweisen, und das trotz all der
Widerlegungen, durch die man sie in den Philosophenschulen
überwinden zu können vermeinte. Der skeptischen Hydra wach¬
sen immer neue Köpfe, und selbst die abgeschlagenen wachsen
20 alsbald wieder nach. Jedenfalls ist dieses üppige Fortleben der
Skepsis, die in ihren Argumentationen keine der Einzelwissen-
schaften, und selbst die exakteste Mathematik nicht verschont,
ein Zeugnis dafür, daß die nachplatonische Wissenschaft in Wahr¬
heit nicht leistete, was sie ihrer Prätention nach als Philosophie
25 leisten sollte, Erkenntnis aus absoluter Rechtfertigung. Sie hätte
ja sonst einen skeptischen Betrieb unmöglich machen, sie hätte
seine Paradoxa reinlich auf lösen müssen. Durch Rückgang auf
die letzten Quellen ihrer verführenden und subjektiv überzeugen¬
den Kraft hätte sie dem, was an ihnen wahre Kraft war, genugtun
30 müssen in der Positivität ihrer eigenen prinzipiellen Rechtferti¬
gungen. So viele und wertvolle Einsichten die Philosophie diesem
ständigen Kampf gegen den Skeptizismus auch verdankte J) —
sozusagen ins Herz treffen konnte sie ihn nicht, solange er seine
Kraft im geheimen aus derjenigen Dimension bezog, für die die
35 Philosophie noch gar nicht sehend geworden war, nämlich <der>
des reinen Bewußtsein.
») Vgl. Beilage VIII, S. 328 f. — Anm. d. Hrsg.
58 ERSTE PHILOSOPHIE
9. Vorlesung: <Der Skeptizismus — die grundsätzliche Bedeutung
seiner ,,Unsterblichkeit” in der Geschichte der Philosophie. Der ent¬
scheidende Schritt Descartes’. >
Schon hinter den ältesten skeptischen Argumentationen, denen
der alten Sophistik, steckte ein Wahrheitsgehalt, dessen sich die
Philosophie niemals bemächtigen konnte. Schon in diesen älte¬
sten Sophismen pochten höchst bedeutsame philosophische Motive
5 an die Pforte, und es ward ihnen nicht aufgetan. In dem Moment,
in dem dies geschah, eröffnete sich ein neues Erkenntnisreich, und
dasjenige, von dem aus alle Erkenntnis letztlich ihre Dignität
ausweisen mußte. Hier ist es nun unerläßlich, uns den tiefsten
Wahrheitssinn der sophistischen Argumentationen zuzueignen.
10 Das Wesen alles Skeptizismus ist Subjektivismus; ursprüng¬
lich repräsentiert ist er durch die beiden großen Sophisten Pro¬
tag o r a s und G o r g i a s. Das Prinzipielle, das sie, wie es
scheint, zuerst geltend machten, liegt in folgenden Gedanken:
1) Alles Objektive ist für den Erkennenden nur dadurch ur-
15 sprünglich vorhanden, daß er es erfährt. Er erfährt es, das sagt
aber, daß es ihm subjektiv irgendwie in diesen oder jenen Er¬
scheinungsweisen erscheint. Einmal sieht das Ding so aus, das
andere Mal anders, und jedermann sieht es so, wie es für ihn im
jeweiligen Erfahren des Momentes aussieht. Worüber jeder
20 zweifellos aussagen kann, ist das jeweilig wirklich Gegebene, das
so Aussehende als so Aussehendes. Das Seiende an sich selbst
(oder ein Seiendes selbst), losgelöst von jedem Aussehen, an sich
seiend, mit sich selbst absolut identisch, ist nicht erfahren und
nicht erfahrbar. Hier könnte sich der Gedanke nach zwei Rich-
25 tungen wenden: ein Seiendes an sich ist prinzipiell unerfahrbar
oder, was dasselbe ist, ist undenkbar. Ein wahrhaft Seiendes, auf
das sich die subjektiven Erscheinungen als ihr Objektives be¬
ziehen, ist ein Nonsens. Oder es könnte gemeint sein, es mag wohl
so etwas geben, aber kein Subjekt kann, als auf Erfahrungen, also
30 wechselnd Erscheinendes angewiesen, je etwas davon wissen.
2) G o r g i a s; der radikalere und darum philosophisch der
vornehmlich interessante, vertritt die erstere, extremere These;
aber, im Sinne des von ihm überlieferten Hauptarguments (des
zweiten der an seinen Namen geknüpften Trias von Argumenten),
35 ohne sich auf die vorhin besprochene und an sich bedeutsame
Erkenntnis des Protagoras zu stützen, nämlich daß alles Ding-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 59
liehe (oder wie wir ganz wohl allgemeiner sagen können, alles
Gegenständliche überhaupt) für ein Erkenntnissubjekt nur in
wechselnden subjektiven Erscheinungsweisen erfahrbar ist. Der
Gedanke des Gorgias war einfach der folgende: Selbstverständ-
5 lieh ist alles, was ich als seiend erkenne, meine Erkenntnis, Vor¬
stellung (im Sinne von Vorgestelltem) meines Vorstellens, Ge¬
danke meines Denkens. Wenn aber ein Vorstellen ein ,,Äußeres'’,
dem VorsteUen Transzendentes vorstellig macht, so ist es eben
das Vorstellen in sich selbst, welches dieses ,,Außen”-sein vor-
10 stellt. Es ist in dieser Hinsicht gleich, ob das Vorgestellte als
Erfahrenes oder als Fingiertes, etwa als Wagenkampf auf dem
Meere, bewertet wird. Verfolgt man diese (nicht ganz klar über¬
lieferte) Argumentation des Gorgias bis in ihre letzte Konsequenz,
dann müßte man, in der Ichrede ausgedrückt, sagen: wenn ich
15 ,,bewährende” Erfahrung an Erfahrung messe, wenn ich eine im
vernünftigen Denken resultierende Einsicht eben als „Einsicht”,
als „Evidenz”, als £7u<rry)g?), gegenüber einer blinden Meinung,
einer bloßen 8o£a, unterscheide und bevorzuge, so bleibe ich doch
notwendig im Rahmen meiner Subjektivität. Und daran ändert
20 sich nichts, ob ich dafür welche Charakterisierungen immer, Ge¬
fühle der Denknotwendigkeit, Bewußtsein unbedingter Allge¬
meingültigkeit u.dgl. setze. Innerhalb meines Vorstellens, meines
subjektiven Bewußtseins treten alle Unterschiede, alle Vorzugs¬
charaktere auf, die ich je soll konstatieren können. Ist dem aber
25 so, ist alles als „wahr”, als „notwendig”, als „Gesetz”, als „Tat¬
sache”, als wie immer sonst zu Charakterisierende so nur cha¬
rakterisiert in meinem „Vorstellen”; und ist so überhaupt nur
setzbar Vorgestelltes meines Vorstellens, anderes aber gar nicht
denkbar — so hat es eben keinen Sinn, ein Seiendes an sich an-
30 zunehmen, etwas, das angeblich ist, ob es vorgestellt sei oder
nicht.
In dergestalt geistreichen Paradoxien, in skeptischen Argumen¬
tationen, von denen man nicht recht weiß, wieweit sie wirklich
ernst gemeint sind, tritt, noch in primitiver und vager Form, ein
35 völlig neues Motiv von universalster Bedeutung in das philoso¬
phische Bewußtsein der Menschheit. Zum ersten Male wird die
naive Vorgegebenheit der Welt problematisch, und von da her
sie selbst nach prinzipieller Möglichkeit ihrer Erkenntnis und
nach dem prinzipiellen Sinn ihres Ansichseins. Anders ausge-
60 ERSTE PHILOSOPHIE
drückt: zum ersten Mal wird das reale Weltall und wird in späterer
Folge die Allheit möglicher Objektivität überhaupt „transzen¬
dental” betrachtet, als Gegenstand möglicher Erkenntnis, mög¬
lichen Bewußtseins überhaupt. Es wird betrachtet in Beziehung
5 auf die Subjektivität, für die es bewußtseinsmäßig soll dasein
können, und rein in dieser Beziehung: d.i., auch die Subjektivität
wird rein als solche transzendentalen Funktionen übend be¬
trachtet, und ihr Bewußtsein, die transzendentale Funktion
selbst, als dasjenige, in dem oder wodurch alle erdenklichen Ob-
10 jekte als solche für ein Bewußtseinssubjekt jedweden Gehalt und
Sinn erhalten, den sie für dieses Subjekt sollen haben können.
Im Altertum kommt, wie aus unseren früheren Ausführungen
hervorgeht, gerade dieser transzendentale Impuls der Sophistik
und der von ihr ausgehenden Skepsis nicht zur Auswirkung. Die
15 blühende Philosophie in ihrem spezialwissenschaftlich erfolg¬
reichen dogmatischen Objektivismus, aber auch die skeptische
neue Philosophie erheben sich nicht zum Verständnis des sach¬
lichen Ernstes der Problematik, die hier zu Tage tritt und radi¬
kaler Verarbeitung bedarf.
20 So bleibt es im wesentlichen bis zur Neuzeit. Mögen die Hi¬
storiker darüber streiten, inwieferne die altbeliebte Scheidung der
europäischen Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit
ihre inneren Gründe hat; was die Philosophie, was die Geschichte
der wissenschaftlichen Kultur anlangt, kann es einen Streit nicht
25 geben. Hier ist es zweifellos, daß die Philosophie der Neuzeit eine
im Grundcharakter neue Entwicklungsreihe bezeichnet gegen¬
über der Philosophie seit Platon, und daß Descartes
mit seinen Meditationes de prima philosophia die neue Epoche
begründet, dem Strome philosophiegeschichtlichen Werdens die
30 völlig neue Wendung gegeben hat.
Das Neue der Cartesianischen und damit der ganzen neuzeit¬
lichen Philosophie x) besteht darin, daß sie den Kampf gegen den
Skeptizismus, den in der allgemeinen Entwicklungslage noch
immer unüberwundenen, von neuem und in einem völlig neuen
35 Geiste aufnimmt, daß sie ihn wirklich radikal bei seinen letzten
prinzipiellen Wurzeln zu fassen und von daher endgültig zu
überwinden sucht. Innerlich leitend ist dabei die Überzeugung,
daß eine solche Überwindung nichts weniger als die Funktion hat,
J) Vgl. Beilage IX, S. 329 f. — Anm. d. Hrsg.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 61
bloß lästige Negationen aus der Welt zu schaffen, um die sich
doch eine erfolgreich schaffende objektive Wissenschaft nicht zu
kümmern brauchte; sondern, daß in den skeptischen Argumen¬
tationen Motive von schicksalhafter Bedeutung für eine objektive
5 Wissenschaft und eine universale Philosophie liegen, und des
näheren die Überzeugung, daß sich in diesen Argumentationen
radikale Unklarheiten, methodische Unvollkommenheiten der
objektiven Wissenschaften fühlbar machen und daß die Reini¬
gung und theoretische Entfaltung des wertvollen Kernes dieser
10 Argumentationen dazu führen mußte, die bisherige Wissenschaft
zugleich zu sichern und mit einem neuen Geiste zu erfüllen, sie
in neuer Weise zu Klarheit und Selbstrechtfertigung zu bringen.
All das aber mündet schließlich in die Überzeugung, daß wir auf
diesem Wege allein befähigt würden, der ursprünglichen und
15 durchaus notwendigen Idee einer universalen Philosophie fort¬
schreitende Realisierung zu verleihen.
Von der vollzogenen Entwicklung her können wir auch sagen:
der tiefste Sinn der neuzeitlichen Philosophie ist der, daß ihr
innerlich die Aufgabe zugewachsen ist, deren Triebkraft, sei es
20 auch ungeklärt, sie immerfort in Bewegung setzt: nämlich, den
radikalen Subjektivismus der skeptischen Tradition in einem
höheren Sinn wahrzumachen. M.a.W., ihre Entwicklung geht
dahin, den paradoxen, spielerischen, frivolen Subjektivismus, der
die Möglichkeit objektiver Erkenntnis und Wissenschaft leugnet,
25 durch einen neuartigen, ernsten Subjektivismus, durch einen in
radikalster theoretischer Gewissenhaftigkeit absolut zu recht¬
fertigenden Subjektivismus zu überwinden, kurz gesagt, durch
den transzendentalen Subjektivismus x).
Mit Descartes beginnt die Neuzeit, weil er zuerst dem
30 unzweifelhaft Wahren, das den skeptischen Argumentationen
zugrundeliegt, theoretisch genugzutun suchte; er zuerst machte
sich den allgemeinsten Seinsboden theoretisch zu eigen, den
selbst die extremsten skeptischen Negationen voraussetzen und
auf den sie argumentierend sich zurückbeziehen, nämlich die
35 ihrer selbst gewisse erkennende Subjektivität. In gewisser Weise
zugeeignet hatte sich ihn freilich schon Augustin, schon er
hatte auf die Zweifellosigkeit des ego cogito hingewiesen. Aber
die neue Wendung entspringt bei Descartes dadurch, daß er aus
!) Vgl. Beilage X, S. 330 f. — Anm. d. Hrsg.
62 ERSTE PHILOSOPHIE
einer antiskeptischen Pointe einer bloßen Gegenargumentation
eine theoretische Feststellung macht. Soferne er diese transzen¬
dentale Subjektivität unter dem Aspekt der durch die Skepsis
geweckten Frage nach der Möglichkeit einer Philosophie betrach-
5 tet, wird sie ihm notwendig eben zu einem theoretischen Funda¬
mentalthema.
Es ist hier zu beachten, daß das cogito in seiner Zweifellosigkeit
freilich ohne weiteres das spielerische Extrem eines absoluten
Negativismus widerlegt, der jederlei Wahrheit überhaupt, also
10 nicht nur objektive Wahrheit, sondern auch jederlei subjektive
Wahrheit des Titels ego cogito selbst leugnet. Aber nicht diejenige
Skepsis ist damit schon widerlegt, die sich traditionell gegen die
Möglichkeit einer Philosophie wendet, und eigentlich nur gegen
sie wenden wollte: gegen die Möglichkeit einer Erkenntnis von
15 „Wahrheiten an sich” in betreff von „an sich” seienden Gegen¬
ständen. Das beträfe also vor allem eine „objektive”, an sich
seiende Welt, nahe zusammenhängend dann aber auch an sich
seiende platonische „Ideen”, an sich gültige logische und mathe¬
matische Prinzipien, an sich gültige Wissenschaften jeder Art
20 oder, wie wir auch sagen, objektive Wissenschaften. Diese Skepsis
und nur sie hatte die große historische Mission, die Philosophie
in die Bahn einer Transzendentalphilosophie zu zwingen. Im
Sinne Descartes’, aber nicht im Sinne Augustins, ist das
„Ich denke” der „archimedische Punkt”, auf den gestützt ein
25 systematischer und absolut gesicherter Aufstieg der wrahren Philo¬
sophie selbst erfolgen soll. Auf dem absoluten Grunde reiner
Selbsterkenntnis und vermöge eines im Rahmen dieser Selbst¬
erkenntnis in absoluter Selbstrechtfertigung vollzogenen Denk¬
prozesses soll die echte Philosophie als immanentes Erzeugnis
30 erwachsen; eben erwachsen als vom absoluten Anfang an und in
jedem Schritte absolut sich selbst rechtfertigendes Tun. So soll
das ego cogito das erste und einzige Fundament für eine sich rein
darauf erbauende Philosophie, für eine sapientia universalis sein.
Andererseits ist aber auch noch folgendes hervorzuheben: Die
35 Cartesianischen meditationes wollen nicht zufällige subjektive
Besinnungen Descartes’ sein oder gar eine literarische Kunstform
für die Übermittlung der Gedanken des Autors. Vielmehr geben
sie sich offenbar als die in der Art und Ordnung ihrer Motivatio¬
nen notwendigen Besinnungen, die das radikal philosophierende
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 63
Subjekt als solches notwendig durchmachen muß; es muß sie
machen als Subjekt, das die Idee der Philosophie als leitende
Zweckidee seines Lebens erwählt hat und das also eben daran,
daß es sie in seinem Erkenntnisleben selbsttätig realisiert, zum
5 echten Philosophen werden soll. Darin also liegt die Ewigkeits¬
bedeutung der Cartesianischen meditationes. Sie zeichnen oder
versuchen zu zeichnen den notwendigen Stil des philosophischen
Anfangens. Nur meditierend kann der Philosoph anfangen, aber
der Gang, die Methode dieser Meditation hat eine notwendige
10 Gestalt. Andererseits und korrelativ muß hierbei in objektiv
theoretischer Hinsicht der Anfang der Philosophie selbst erwach¬
sen, die anfangende Theorie, die Methode und die Richtlinien
ihrer Problematik. Beides in eins muß im Werden sich abzeich¬
nen, und beides in seiner Art wissenschaftlich.
10. Vorlesung: (Die Cartesianischen Meditationen. >
15 Daß hierdurch ein gewaltiger Anstoß gegeben war, sich alsbald
in einem großen Werden und der völligen Neugestaltung der
Entwicklung auswirkend, zeigt ein Blick in die Geschichte. Seit
den Meditationes erschöpft sich die Philosophie in dem unabläs¬
sigen Bestreben, die sich zunächst unklar emporringenden neuar-
20 tigen Probleme auf diejenige Stufe prinzipieller Klarheit und
Reinheit zu bringen, welche eine wirklich fruchtbringende Bear¬
beitung derselben erst möglich macht. Freilich gelingt ihr das
trotz immer neuer Ansätze und gewaltiger Kraftanstrengungen
nicht in einer völlig befriedigenden Weise. Schon der Ausgangs-
25 punkt der ganzen Entwicklung ist mit verhängnisvollen Un¬
klarheiten behaftet. In den beiden ersten und wichtigsten der
sechs Meditationen liegt zwar eine große Entdeckung, und gerade
diejenige, die allererst gemacht sein mußte, damit eine Transzen¬
dentalphilosophie beginnen konnte: nämlich die Entdeckung der
30 transzendental reinen, in sich absolut geschlossenen Subjektivi¬
tät, die ihrer selbst jederzeit innewerden kann, in absoluter
Zweifellosigkeit. Aber des eigentlichen Sinnes dieser Entdeckung
konnte sich Descartes selbst nicht bemächtigen. Hinter der
scheinbaren Trivialität ihres allbekannten Ausspruches ego cogito,
35 ego sum eröffnen sich in der Tat allzu große und dunkle Tiefen.
Es ging Descartes wie Columbus, der den neuen Kontinent ent-
64 ERSTE PHILOSOPHIE
deckte, aber davon nichts wußte und bloß einen neuen Seeweg
nach dem alten Indien entdeckt zu haben meinte. Das lag bei
Descartes daran, daß er den tiefsten Sinn des Problems einer neu
und radikal zu begründenden Philosophie nicht erfaßte, oder, was
5 im wesentlichen damit eins ist, den echten Sinn einer im ego cogito
verwurzelten transzendentalen Erkenntnis- und Wissenschafts¬
begründung. Das aber hat wieder seinen Grund darin, daß er
nicht in der rechten Weise bei der Skepsis in die Lehre gegangen
war.
10 Vergegenwärtigen wir uns, dieses zu erläutern, zunächst in
rohen Strichen den Cartesianischen Gang der Meditationes, der
uns bei der Inszenierung unserer eigenen strengen Begründungs¬
weise echter Philosophie noch einmal gründlicher beschäftigen
wird 1).
15 Alle bisherige Wissenschaft, sagt Descartes, ist noch keine
wahrhaft strenge, absolut gegründete Wissenschaft. Um zu einer
solchen zu gelangen, um in einem absolut zuverlässigen und sy¬
stematischen Aufbau eine universale Wissenschaft, eine Philo¬
sophie zu gewinnen, müssen wir reinen Tisch machen, müssen
20 wir alle bisherigen Erkenntnisse überhaupt in Frage stellen.
Unser Prinzip sei, nichts gelten zu lassen, was nicht so fest steht,
daß es jedem auch nur erdenklichen Zweifel absolut widersteht.
Dann verschwindet aber sofort aus unserem Kreis anzuerkennen¬
der Geltung das gesamte Weltall im gewöhnlichen Sinn, diese
25 gesamte durch unsere Sinnlichkeit gegebene Welt. Denn Sinn¬
lichkeit kann, wir gestehen das alle zu, trügen; jederzeit ist die
Möglichkeit offen, daß wir, ihr folgend, irren. Wenn ich nun aber
an aller Welt zweifeln kann und vielleicht gar zweifle, eins ist
unzweifelhaft: eben dieses, daß ich zweifle, und weiter dies,
30 daß mir diese Welt sinnlich erscheint, daß ich jetzt die und die
Wahrnehmungen habe, so und so darüber urteile, fühlend werte,
begehre, will usw. Ich bin; sum cogitans, ich bin Subjekt dieses
dahinströmenden Bewußtseinslebens mit diesen Wahrnehmun¬
gen, Erinnerungen, Urteilen, Gefühlen usw., und bin desselben
35 im Strömen absolut sicher, in absoluter Zweifellosigkeit. Ich
bin, selbst wenn das Weltall, auch mein Leib eingeschlossen, nicht
wäre; ich bin, mag diese zweifelsmögliche Welt sein oder nicht
l) Vgl. Erste Philosophie II, in Bd. VIII der vorliegenden Ausgabe. — Anm. d. Hrsg.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 65
sein. Also ergibt sich mein absolutes Sein und Fürmichsein mit
meinem absoluten Leben als ein in sich absolut abgeschlossenes
Sein, und eben dieses ist es, das wir unsererseits vorhin als die
transzendentale Subjektivität bezeichnet haben.
5 Offenbar ist dieses Ich gar nichts anderes als das rein gefaßte
konkrete Ich als Ich, das rein geistige Subjekt, von dem alle
Mitsetzung von solchem ferngehalten ist, was es nicht selbst und
in sich ist. Wenn nun aber dieses pure Ich in seinem Bewußtsein
eine objektive Welt sinnlich erfährt und in seinen Erkenntnis-
10 akten Wissenschaften baut, inwiefern ist das kein bloß inneres
Haben subjektiver Erscheinungen und subjektiv erzeugter Ur¬
teile in subjektiven Evidenzen? Ist es die Evidenz, die Einsicht
der Vernunft, die wissenschaftlichen Urteilen, gegenüber den va¬
gen und blinden des Alltags, den Vorzug gibt, so ist sie selbst doch
15 ein subjektives Bewußtseinsvorkommnis. Was berechtigt, diesem
subjektiven Charakter den Wert eines Kriteriums für eine an sich
gültige Wahrheit zu geben, als eine solche, die über das subjektive
Erleben hinaus eine Geltung beanspruchen darf ? Und nun gar, wo
das Erkennen auf eine angeblich außersubjektive Welt geht, was
20 kann mich da berechtigen, da ich nur meiner selbst und meiner
subjektiven Erlebnisse unmittelbar und zweifellos gewiß bin,
dem Glauben, es sei diese Welt und es gelte wirklich diese objek¬
tive Wissenschaft, einen außersubjektiven Wert zu geben, den
er fordert?
25 Descartes verliert sich hier, im Versuch, das Recht der Evidenz
und ihrer transsubjektiven Tragweite zu beweisen, in früh gesehene
und viel beklagte Zirkel. Er erschließt, gleichgültig wie, aus der
endlichen Eigenart des menschlichen reinen ego das notwendige
Dasein Gottes — daß Gott uns mit dem Evidenzkriterium nicht
30 betrügen könne; nun ist der Gebrauch dieses Kriteriums erlaubt,
und, von ihm geleitet, wird auf die objektive Geltung der Mathe¬
matik und mathematischen Naturwissenschaft geschlossen,
damit auf das Wahrsein der Natur, so wie diese Wissenschaft sie
erkennt. Es wird dann die Zwei-Substanzen-Lehre begründet,
35 wonach die wahre objektive Welt in letzter philosophischer
Wahrheit aus materiellen Körpern besteht und den mit ihnen
kausal verbundenen geistigen Wesen, jedes in sich und für sich
absolut seiend, nach Art meines ego x).
*) Vgl. Beilage XI, S. 335 ff. — Anm. d. Hrsg.
Husserliana VII 5
66 ERSTE PHILOSOPHIE
So sieht also der Gedankenzug aus, der die neue Entwicklung
bestimmt. Sein erster Gipfelpunkt, das ego cogito, war nun sicher¬
lich eine bis zu einem gewissen Grade allverständliche Ent¬
deckung. Es war eine so neue und so unvergleichlich bedeutsame
5 Einsicht, daß sie ihre gewaltige und dauernde Wirkung nicht ver¬
fehlen konnte. Herausgestellt war zum ersten Male, und fest um¬
rahmt, die ihrer selbst in ihrem Insich- und Fürsichsein unmittel¬
bar bewußte, für sich selbst absolut zweifellos erfahrbare Subjek¬
tivität, in ihrem reinen Fürsichsein, in ihrem Bewußtseinsstrom,
10 der ihr reines Leben ausmacht; und sichtlich war gemacht, daß,
was immer für ein Ich da und irgend setzbar, denkbar ist, es nur
ist als in seinem Bewußtseinsleben Erscheinendes, ihm subjektiv
irgendwie Bewußtes. Es war damit genau der Bereich jenes
,,bloß Subjektiven” wissenschaftlich herausgestellt, auf das der
15 skeptische Relativismus alles erkennbare Sein — nur eben skep¬
tisch — reduzierte; nämlich in dem Gedanken: wenn alles Denk¬
bare, Erkennbare Erscheinendes ist, so sind nur subjektive Daten,
genannt Erscheinungen, erkennbar, und es gibt keine Erkennt¬
nis eines an sich Seienden, eines Wahren.
20 Nun sagte ich schon, es fehlte bei Descartes an einer Vertiefung
in den eigentlichen Sinn der durch diesen Relativismus der Philo¬
sophie gestellten und ganz unabweislichen Aufgabe: der Philo¬
sophie, der Wissenschaft überhaupt, die nun nicht mehr im
naiven Selbstvertrauen der Vernunft, im Vertrauen auf die Evi-
25 denz ihres methodischen Vorgehens in lauter Naivität fortarbei¬
ten durfte.
Was war durch die Skepsis in Frage gestellt? Die allgemeine
Möglichkeit objektiver Erkenntnis, die Möglichkeit, über das
momentane Bewußtsein und die momentan ihm selbst einwoh-
30 nenden Meinungen und Erscheinungen hinausreichende Erkennt¬
nisse zu gewinnen, als solche, die an sich seiende Gegenstände,
an sich bestehende Wahrheiten zu erkennen prätendierten. Sowie
durch die Skepsis der Übergang aus der naiven Erkenntnishin¬
gabe an die sich darbietenden Gegenstände in die reflektive Ein-
35 Stellung vollzogen war, in der das erkennende Bewußtsein in den
Blick tritt und das Erkannte als Einheit mannigfaltigen Erken-
nens und in Beziehung zu ihm betrachtet werden mußte, da
mußte alsbald Möglichkeit und Sinn eines Ansichseins und -gel-
tens rätselhaft werden. Einerseits stand man vor der Tatsache,
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 67
daß alle Gegenstände für den Erkennenden bedeuten, was sie
bedeuten, gelten, was sie gelten, sind, was sie sind, durch sein Er¬
kennen, durch die Sinngebung und Urteilsleistung, die sich in
mannigfaltigen Gestalten in ihm selbst bewußtseinsmäßig voll-
5 zieht. Andererseits aber forderte die Welt als selbstverständli¬
che Tatsache ihr Recht, und man sah sich zu der Frage gedrängt:
wie steht es denn mit Sinn und Recht „äußeren” realen Seins,
und nicht minder mit dem Ansichsein idealer Gegenständlichkei¬
ten? Was kann eine rein innere Erkenntnisleistung für eine
10 außerseelische Existenz, für etwas, das an und für sich irgendwo
„draußen” ist, und für sonstiges an und für sich Seiendes, jederlei
sonstigen Sinnes, bedeuten ? Hier hätte man doch schließlich ein¬
mal zur Besinnung darüber kommen müssen, daß auch diese Rede
von Äußerem und Ansichsein ihren Sinn ausschließlich aus der
15 Erkenntnis schöpft und daß jede Behauptung, Begründung,
Erkenntnis eines äußeren Seins eine innerhalb der Erkenntnis
selbst sich vollziehende Urteils- und Erkenntnisleistung ist.
Mindestens tritt das doch ganz evident hervor in dem Moment,
wo durch Descartes die reine Subjektivität, das in sich abgeschlos-
20 sene ego cogito herausgestellt war. Mußte man dann aber nicht
sagen, daß alle Unklarheiten und Verlegenheiten, in die man hier
durch Beachtung des erkennenden Bewußtseins und durch die
notwendig gewordene Rückbeziehung aller Gegenständlich¬
keiten und Wahrheiten auf mögliche Erkenntnis hineingeriet,
25 daß alle Unverständlichkeiten und Rätsel, in die man sich immer
tiefer hineinverstrickte, daher stammten, daß man eben das
Bewußtsein als leistendes Bewußtsein noch gar nicht studiert
hatte ?
Alle wissenschaftlichen Studien waren bisher objektiv gerich-
30 tet, hatten überall Objektivität in naivem Erfahren und Erken¬
nen im voraus gehabt, vorausgesetzt. Aber nie war prinzipiell
dieses zum Thema und zum reinen Thema gemacht worden, wie
die erkennende Subjektivität in ihrem reinen Bewußtseinsleben
diese Sinnesleistung, Urteils- und Einsichtsleistung „Objektivi-
35 tät” zustandebringt; nicht, wie sie eine Objektivität, die sie im
voraus in der Erfahrung und im Erfahrungsglauben hat, theore¬
tisch fortschreitend bestimmt, sondern, wie sie schon in sich zu
diesem Haben kommt. Denn sie hat nur, was sie in sich leistet;
schon das schlichteste Ein-Ding-sich-gegenüber-haben des Wahr-
68 ERSTE PHILOSOPHIE
nehmens ist Bewußtsein und vollzieht in überreichen Strukturen
Sinngebung und Wirklichkeitssetzung: nur, daß Reflexion und
reflektives Studium dazu gehört, davon etwas, und gar etwas
wissenschaftlich Brauchbares, zu wissen. Erst die Cartesianische
5 Herausstellung der reinen Subjektivität und damit des rein in
sich, in seiner immanenten Abgeschlossenheit zu betrachtenden
Zusammenhanges des Bewußtseins ermöglichte es, den Sinn
dieser Aufgabe unverwirrt zu erhalten gegenüber der Aufgabe
aller objektiven Forschung. Will diese dem Erkennenden vorgege-
10 bene Gegenstände theoretisch bestimmen, so will die jetzt not¬
wendig gewordene transzendentale Forschung so sehr anderes, daß
sie ein Vorgegeben-haben, ein Schlechthin-da-sein von Objekten
prinzipiell nicht gelten lassen darf. Ihre Aufgabe besteht ja
darin, allgemein und in jeder Art und Stufe zu erforschen, wie
15 in der Erkenntnis Objektivität als solche und Objektivität jeder
Kategorie sich als solche subjektiv, für den Erkennenden und
in seinem erkennenden „Haben”, konstituiert: wie also Erkennt¬
nis schon als schlichteste Wahrnehmung Vorgegebenheit von dem
und jenem Objekte leistet und wie sie daraufhin höhere Erkennt-
20 nisleistungen vollzieht.
So hat in der Tat die transzendentale Wissenschaft ein total
anderes Thema als alle objektiven Wissenschaften, von ihnen
allen getrennt, und doch als Korrelat auf sie alle bezogen. Alles
hängt, das sehen wir im voraus, für diese neuartige Wissenschaft
25 davon ab, daß sie ihre Aufgabe rein und somit ihre Forschung von
allen Rückfällen in die naiv-objektive Forschungseinstellung
freihalten kann. Das aber ermöglicht in wirksamer Weise eben
erst die Cartesianische, wie wir noch hören werden, allerdings
wesentlich zu reinigende Entdeckung und ihre Methode.
30 Gehen wir noch ein Stück fort in unseren Überlegungen, deren
Stil es ist, die transzendentale Motivation, die in der Skepsis ver¬
borgen lag, zu vollendeter Klarheit zu bringen, und das in der
Meinung, damit nur Erkenntnisse herzustellen, die für Descartes,
nachdem er in den beiden ersten Meditationen die transzendental
35 reine Subjektivität herausgestellt hatte, bereits im Horizont la¬
gen, so daß er gewissermaßen nur hätte zuzugreifen brauchen.
Sind die vorhin gewonnenen Einsichten nämlich richtig, so er¬
geben sich, sage ich, bald weitere Konsequenzen. Es wird nun
auch völlig klar, daß und warum objektive Wissenschaft, und
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 69
sei es noch so exakte, noch keine Philosophie im Sinne der Pla¬
tonischen Idee ist, nämlich keine Wissenschaft, die uns letzte
Antworten zu geben und sich absolut zu rechtfertigen vermag.
Das vermag objektive, und selbst rein rationale Wissenschaft
5 nach Art der Mathematik nicht, und in keinem einzigen ihrer noch
so evidenten Sätze. Erst wenn die Rationalität der geraden For¬
schungsrichtung, zwar nicht bestritten, aber nach ihrem prinzi¬
piellen Sinn, nach Wesen (Vermöglichkeit) ihrer Leistung in Frage
gestellt und nun diejenige Rationalität gewonnen ist, welche aus
10 dem Studium der transzendentalen Erkenntnisleistung entspringt,
erst wenn alle Verwirrungen und Mißdeutungen, die aus dem Un¬
verständnis der Wesensbeziehungen zwischen objektivem Sein,
objektiver Wahrheit und erkennend-leistendem Bewußtsein er¬
wachsen, durch die positiven Aufklärungen der transzendentalen
15 Wissenschaft beseitigt sind, kann eine Philosophie erwachsen.
Es handelt sich hier gar nicht etwa um geringfügige Klärungen,
die den objektiven Wissenschaften so nebenher beigefügt werden
könnten und sie im Grunde nicht eben viel angingen. Solange der
Sinn für sich seiender Gegenständlichkeit unklar und rätselhaft
20 ist, als ein solcher, der doch nur aus dem erkennenden Bewußt¬
sein herstammen kann, so ist auch der Sinn des in naiver Selbst¬
verständlichkeit vorgegebenen Weltalls und so schließlich der
Sinn all der in den objektiven Wissenschaften erkannten Wirk¬
lichkeiten und Wahrheiten unklar. Wo Unklarheit waltet, da ist
25 auch der Widersinn nicht ferne. In der Tat hinderte die Rationali¬
tät selbst der allervollkommensten objektiven Wissenschaften,
auch der Mathematik, nicht eine Fülle von widersinnigen Theo¬
rien, die sich im Lauf der Zeiten wechselnd an ihre Ergebnisse
anhefteten und die durchaus in transzendentalen Mißverständ-
30 nissen ihre Quelle haben. Schon die skeptischen Negationen be¬
schlossen als Korrelat eine das All zu erkennender Realität be¬
treffende widersinnige Position, nämlich die des Solipsismus: Das
Weltall reduziert sich auf mich selbst, ich bin allein, alles sonst
ist in mir subjektive Fiktion; mindestens, nur von mir kann ich
35 Wissen haben. — Aber auch diejenigen, die objektive Wissen¬
schaften anerkennen und hochschätzen, verfallen in immer neue
widersinnige Theorien, heißen sie nun Materialismen, mannig¬
fache Idealismen, Psychomonismen, platonisierende Realismen
usw.
70 ERSTE PHILOSOPHIE
Daß man über eine Physik hinaus eine Metaphysik braucht und
sucht und so ähnlich für jede andere Wissenschaft, das hat zu
einem Hauptteile jedenfalls seine Quelle darin, daß sich mit den
sonst ihren eigenen methodischen Gang verfolgenden objektiven
5 Theorien und Wissenschaften transzendentale Deutungen und
Mißdeutungen verhaften und schließlich oft genug ihre eigene
Methodik selbst verwirren. Sollte es aber sein, daß es in recht¬
mäßiger wissenschaftlicher Erkenntnis eine notwendige Abstu¬
fung gibt, nach welcher über einer Unterstufe von Wissenschaften
10 sich eine höhere unter dem Titel „Metaphysik” baute, die ge¬
wisse höchste und letzte Fragen, welcher Art immer, zu behan¬
deln hätte, so ist uns jedenfalls das im voraus gewiß, daß eine
solche (wie immer zu verstehende) Metaphysik, wenn sie wirk¬
lich Wissenschaft vom Letzten und wirklich absolut gegründete
15 Wissenschaft sein soll, der Wissenschaft von der transzendentalen
Subjektivität bedarf, und daß <sie> nicht etwa sie begründen, zu
ihr irgendwelche Voraussetzungen beisteuern kann. Das gilt für
sie wie für jede Wissenschaft.
11. Vorlesung: <Erster wirklicher Ausblick auf die Transzendental¬
wissenschaft. Übergang von den Cartesianischen Meditationen zu Locke. >
Eine Wissenschaft darf keine ungelösten oder gar ungefragten
20 Fragen haben, von deren Beantwortung Sinn und Erkenntnis¬
wert aller ihrer Aufstellungen, von der ersten und primitivsten an,
abhängt, und damit der Sinn des gesamten Seins, das sie zu er¬
kennen beansprucht. Solche Fragen sind aber die transzenden¬
talen Fragen, und sie sind schon aus diesem Grunde von einer so
25 ausgezeichneten Art, daß sie allen objektiven, allen nicht tran¬
szendentalen Fragen vorangehen müssen, und somit auch die Wis¬
senschaft von der transzendentalen Subjektivität allen anderen,
den objektiven Wissenschaften; vorangehen natürlich nicht im
Sinn der historischen Genesis, sondern derjenigen, welche die Idee
30 der Philosophie, also die notwendige Idee einer echtesten und
strengsten Wissenschaft vorschreibt. Denn was eine solche will,
ist nicht mehr und nicht weniger, als ihren Sinn als Wissenschaft
wirklich zu erfüllen; und das sagt, sie will sich selbst solange nicht
als Wissenschaft gelten lassen, solange sie sich selbst, ihre Me-
35 thode und Ergebnisse, nicht versteht, solange sie also noch in
einer Verfassung ist, beständig über Sachen zu sprechen und für
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 71
sie Theorien aufzustellen, deren prinzipieller Sinn ihr unver¬
ständlich bleibt.
Die Meinung ist hier also keineswegs bloß die, daß es die Funk¬
tion der Transzendentalwissenschaft sei, von allen Wissenschaf-
5 ten (und in reflektiver Rückbeziehung von sich selbst) gewisse
unangenehme Mißdeutungen fernzuhalten, die sei es ihrer Me¬
thode, sei es dem Sinn des in ihr erkannten gegenständlichen
Seins sich anheften könnten. Das wäre ja fast so, als ob eine gut
festsitzende Blende gegen alles Transzendentale oder ein sorgsam
10 kluges hixieren des Blickes auf die in gerader Blickrichtung und
Evidenz sich ergebenden sachlichen Zusammenhänge unter
strenger Vermeidung aller Begriffe und Gedanken, die irgend
der Rücksichtnahme auf das erkennende konstituierende Be¬
wußtsein entstammen, schon strengste vollzureichende Wis-
15 senschaft schaffen könnte. Aber das Fehlen von Mißdeutungen
besagt noch nicht ein Gewinnen richtiger Deutungen, und unge¬
fragte Fragen, und vielleicht allerdringlichste, sind auch unbe¬
antwortete Fragen.
Vielleicht ist das Anlegen der transzendentalen Scheuklappen
20 zeitweise nützlich, ja notwendiges Hilfsmittel, um in objektiver
Blickrichtung das große Erzeugnis der wissenschaftlichen Theo¬
rie, der objektiv wissenschaftlichen, zustandezubringen. Wächst
aber gleichsam diese geistige Scheuklappe fest an, wird das Ig¬
norieren des Transzendentalen zur gewohnheitsmäßigen Blind-
25 heit, dann ist der Vorteil fehlender Mißdeutungen sehr teuer
erkauft; denn nun entfällt jedwede, und auch diejenige Deutung,
die vollzogen sein muß, damit wir wissen, woran wir eigentlich
und letztlich mit der Welt sind und welche Art praktisch-ethi¬
sche Stellungnahmen sie von uns letztlich fordert.
30 In der Tat ist es keineswegs so, daß die Rückbeziehung der in
naiver Erfahrungssetzung für uns schlechthin daseienden Welt
auf die erkennende Subjektivität (zumal wenn diese cartesianisch
als die reine erschaut ist) für das wahre Sein selbst und ihren ab¬
soluten Sinn nichts zu sagen hätte. L e i b n i z meinte in seinem
35 genialen Apergu einer Monadenlehre: nach seinem letzten wahren
Sein reduziere sich alles Seiende auf Monaden, und d.h. nichts
anderes als auf cartesianische ego’s. Es könnte am Ende sein, daß
eine transzendentalphilosophisch begründete Weltbetrachtung
gerade eine solche oder ähnliche Interpretation als schlechthin-
72 ERSTE PHILOSOPHIE
nige Notwendigkeit forderte. Und so rechtfertigt sich vielleicht
doch, wenn man transzendentale Betrachtung der Erkenntnis
und Metaphysik in nächste Beziehung bringt; wie dann letzte,
absolut gegründete, also transzendentale Wissenschaft eo ipso
5 das leisten muß, uns mit ihrer Sinnesklärung des Seins auf letzte
Auskunft über dieses Sein zu führen. —
Nachdem wir den Horizont philosophischer Problematik durch¬
schritten haben, der sich von dem Cartesianischen ego cogito aus
eröffnet hat und der zugleich die Motivation der Skepsis zur vol-
10 len Auswirkung kommen läßt, gehen wir wieder zu Descartes
selbst, diesem großen Anfänger der Neuzeit, zurück.
Da müssen wir nun leider konstatieren, daß er von dieser
großen Problematik, die doch greifbar in seinem Horizont lag,
nichts weiß. Von der Notwendigkeit und Idee einer transzenden-
15 talen Bewußtseinswissenschaft, einer transzendentalen Egologie,
wie wir auch sagen könnten, hat er keine Ahnung: er, der doch
den unsterblichen Ruhm hat, durch die Entdeckung dieses tran¬
szendentalen ego das Thema und in den Mannigfaltigkeiten des
reinen Bewußtseinslebens das Arbeitsgebiet für eine solche Wis-
20 senschaft freigelegt zu haben.
Das ihn treibende Bewußtsein des Ungenügens aller bisherigen
Wissenschaften und der Notwendigkeit einer absoluten, gegen
jede mögliche Skepsis gesicherten Wissenschaft wirkt sich zwar
in einem großzügigen und höchst eindrucksvollen Gedankengang
25 und System aus, aber von vornherein nicht in den Meditationen,
die hier die geforderten waren, und nicht in einem System, das
mindestens nach seinem Stil die künftige Philosophie antizi¬
pieren konnte. Nicht bot er Meditationen, welche den innersten
Sinn der durch die Skepsis geweckten Problematik (als einer
30 transzendentalen) und den innersten Sinn der dogmatischen
Naivität objektiver Wissenschaft und endlich den innersten Sinn
vollgenügender Wissenschaft klargelegt hätten und welche den
notwendigen Weg zu ihr hin, zu ihr als transzendentaler, ent¬
worfen hätten. Descartes ist der echte Anfänger der Philosophie,
35 der Philosophie selbst, der wahren, aber nur im Anfänge des An¬
fanges. Nämlich nur der Anfang seiner Meditationen, der im ego
cogito gipfelt, zeichnet, trotz seiner immernoch naiven und rohen
Gedankenführung, schon den notwendigen Stil vor, der für ntedi-
tationes de prima philosophia der klassische ist. Ich sagte, trotz
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 73
einer noch naiven und rohen Gedankenführung: denn es waltet
in ihr statt der letztklaren Einsicht in das, was hier im Werke ist,
der bloße Instinkt des großen Genius.
Descartes ist vor der von ihm eröffneten Pforte der transzen-
5 dentalen Philosophie, der allein wahrhaft radikalen Philosophie,
stehen geblieben; den Gang in das nie betretene aber sehr wohl
zu betretende ,,Reich der Mütter” hat er nicht angetreten. Sein
philosophischer Radikalismus versagte. Seine Überzeugung, man
müsse auf die Urgründe aller Erkenntnis in der transzendentalen
10 Subjektivität zurückgehen, brachte für ihn und die Folgezeit
nicht die rechte Frucht, weil er es eben nicht vermochte, dem
tieferen Sinn eines solchen Radikalismus genugzutun. Er mißver¬
steht seinen eigenen guten Anfang, weil er die klärende Besin¬
nung nicht bis zum erfüllenden Ende forttreibt. Daher erliegt er
15 alsbald Problemen, die für ihn sonst als widersinnige erkennbar
gewesen wären. Eben damit hängt all das große Unheil zusam¬
men, das Descartes in eins mit den neuen und segensreichen Im¬
pulsen der neueren Philosophie gebracht hat. Seine Unklarheiten,
seine Scheinprobleme, seine verkehrte Zwei-Substanzen-Lehre,
20 auf dem Untergründe einer nicht minder verkehrten Begründung
der mathematischen Wissenschaften, bestimmen und beirren die
Zukunft. So wenig wird Descartes zum Begründer einer auf dem
transzendentalen Boden, dem ego cogito, gebauten und dann
wirklich transzendentalen Philosophie, daß er durchaus im ob-
25 jektivistischen Vorurteil befangen bleibt. Sein ganzer Apparat
philosophisch meditierender Methodik dient schließlich dazu,
die objektive Welt, das Substrat der objektiven Wissenschaften,
und diese selbst gegenüber den Angriffen der Skepsis zu retten;
insbesondere geht sein Absehen dahin, der Mathematik und
30 mathematischen Naturwissenschaft, in der Form und Methode,
in der sie im neuen Werden waren, das Recht absoluter Gültig¬
keit und die Rolle des Prototyps für alle echten Wissenschaften
zuzusprechen.
Das von ihm entdeckte reine ego ist ihm nichts anderes als die
35 reine Seele, als das jedem Erkennenden in absoluter Zweifellosig-
keit gegebene, und in Unmittelbarkeit einzig gegebene
Stückchen der objektiven Welt, von dem aus es gilt, sich schlie¬
ßend der übrigen Welt zu versichern. Eben weil ihm die eigentliche
transzendentale Problematik, auf die er doch mit dem Evidenz-
74 ERSTE PHILOSOPHIE
problem stößt, nicht zum Verständnis gekommen ist, sieht er
nicht den Widersinn dieser ganzen Auffassung und der sie be¬
gründenden Evidenztheorie. Er sieht nicht den Widersinn der
Auffassung der Evidenz als eines Kriteriums, als eines bloßen
5 Index der Wahrheit und den Widersinn jedes Beweises, der nun
wieder die Rechtmäßigkeit dieser Indizierung sichern soll. Und
er sieht nicht den Widersinn aller vermeintlichen Schlüsse, die
von der transzendentalen Sphäre, aus dem reinen ego, in die ob¬
jektive Sphäre hinüberleiten sollen. Als ein böses Erbteil geht
10 dieser Widersinn durch die Neuzeit hindurch, in Form aller
Theorien eines transzendentalen „Realismus”, und gehen die
sonstigen Widersinnmotive in die Zukunft ein. Die objekti¬
vistische Grundhaltung der Cartesianischen Phi¬
losophie und der ganze Stil ihrer Wissenschaftsbegründung gaben
15 den neuen exakten Wissenschaften und allen weiteren ihrem Vor¬
bilde nachstrebenden positiven Wissenschaften ein scheinbares
Recht, sich für absolute Wissenschaften zu halten und sich
schließlich der Philosophie als ursprünglich eigenständige Wis¬
senschaften gegenüberzustellen. Dieser objektivistische Zug for-
20 derte die Ausbildung psychologistischer und naturalistischer
Theorien der Vernunft, mit deren verborgenem Widersinn sich
nun die Jahrhunderte mühen mußten.
Die Lage hatte einige Ähnlichkeit mit der nachplatonischen im
Altertum, in der wir ganz wohl schon von Psychologismus und
25 Naturalismus sprechen können. Hier wie dort bezeichnen diese
Worte grundverkehrte Theorien der Vernunft, entspringend aus
Vermengungen transzendentaler Fragestellungen mit psycholo¬
gischen oder biologisch-naturwissenschaftlichen. Im Altertum
ist Platon der Anfänger, der, auf die Skepsis blickend, die
30 Möglichkeit der Erkenntnis radikal in Frage stellt und über ihre
positive Lösung unter dem Titel „Dialektik” meditiert und erste
Entwürfe versucht. Aber schon seit Aristoteles schwächt
sich, so zeigten wir, der Schwung dieses Radikalismus, unter dem
Eindruck eben erst gelingender objektiver Wissenschaften, die
35 zu eindrucksvoll waren, als daß man noch viel Neigung haben
mochte, noch so ernst den Tiefen der skeptischen Problematik
nachzusinnen. Und demgemäß empfindet man wenig den in der
antiken Logik und Ethik steckenden Psychologismus.
In der Neuzeit, sage ich, geht es einigermaßen ähnlich. Der
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 75
Cartesianische Radikalismus, nicht tief genug eindrin¬
gend, findet keine ernstliche Nachfolge, da doch die Wissen¬
schaften sich so herrlich und selbständig in eigener Methode ge¬
stalten. Freilich, und wieder ähnlich wie im Altertum, ist doch
5 das Erkenntnisproblem so wuchtig ins Spiel gesetzt worden, daß
es gegenüber den positiven Wissenschaften nicht verschwinden,
und immer wieder das Interesse auf sich lenken konnte und
mußte. Wieder wirken sich seine theoretischen Behandlungen in
psychologistischen und naturalistischen Gestalten aus.
10 Von besonderer Bedeutung für das Schicksal der weiteren Ent¬
wicklung wird der Lock e’sche Versuch über den menschlichen
Verstand, das Grundwerk der neuzeitlichen sensualistischen Psy¬
chologie auf dem Grunde innerer Erfahrung und in eins damit
das Grundwerk des erkenntnistheoretischen Psychologismus.
15 Eine merkwürdige und lehrreiche Verschiebung vollzieht sich
hier. Von einer radikalen Philosophie, von einer systematischen
Begründung einer im voraus radikal in Frage gestellten Wissen¬
schaft auf absolut sicherem Grunde ist ernstlich keine Rede mehr.
Die Welt steht fest, und die Möglichkeit objektiver Wissenschaft
20 im Grunde auch. Aber es gilt, ihr Werkzeug, den menschlichen
Verstand, in rechter Weise zu studieren, um sie fördern zu kön¬
nen. Was dabei das selbstverständliche und konkret genommene
Thema sein muß, ist nach Locke nichts anderes als das Car¬
tesianische ego, nur freilich in natürlich objektiver Weise gefaßt
25 als die menschliche Seele, rein in sich, unser menschlicher Geist,
wie er sich selbst in evidenter innerer Erfahrung finde. Hatte
Descartes es unterlassen, was im Zusammenhang seiner radikalen
Erkenntnisbegründung verhängnisvoll genug war, das ego cogito
zum Thema einer eigenen Wissenschaft zu machen, so ist es das
30 Neue Lockes, daß er dies tut, aber, ganz naturalistisch eingestellt,
das ego als Seele in der vorgegebenen Welt.
Was Locke anstrebt, ist nicht eine Psychologie im vollen Sinn;
ausdrücklich schließt er alle psychophysische oder, wie er sich
ausdrückt, die ,,physische” Betrachtung des Geistes aus; aber
35 freilich doch eine Disziplin, die sich einer ganzen Psychologie als
ein geschlossener Zusammenhang einordnet. Nämlich die Seele
gehört zur Welt als Seele ihres Leibes, sie steht also in der Ver¬
flechtung psychophysischer Kausalität, und sie sowohl nach
ihrer Innerlichkeit als auch nach den kausalen äußeren Ver-
76 ERSTE PHILOSOPHIE
flechtungen zu erforschen, die der allverbindenden Kausalgesetz¬
lichkeit unterstehen, ist die Aufgabe der vollständigen Psycho¬
logie. Locke aber will eine bloße Geschichte der Seele geben, er
will die Seele in ihrem eigenen inneren Sein und rein auf Grund
5 der inneren Erfahrung in bloß „historischer” Weise studieren.
Dieser Vergleich mit dem Historischen weist darauf hin, daß es
sich um eine deskriptive Betrachtung der rein seelischen Inner¬
lichkeit handelt, und dabei um eine systematische Deskription
der seelischen Entwicklung, angefangen vom ersten Erwachen des
10 Seelenlebens. Und doch bezeichnet das noch nicht, worauf er
eigentlich hinaus will, denn andererseits weist der Titel Versuch
über den menschlichen Verstand darauf hin, daß die Entwicklung
des Verstandes, des Erkenntnisvermögens es ist, worauf Locke
sein eigentliches Absehen richtet. Eben auf diesem Wege will
15 Locke, und das ist das eigentliche Thema des Werkes, Wesen,
Möglichkeit, Tragweite, Umfang und Grenzen der Geltung der
Erkenntnis und aller deskriptiv unterscheidbaren Erkenntnis¬
arten verständlich machen und in weiterer Folge Wesen, Grund¬
arten, Rechtssphären möglicher und berechtigter Wissenschaften
20 und der für sie konstitutiven Methoden einer Aufklärung unter¬
ziehen und mittels derselben Normen gewinnen, die den Menschen
als verständiges Wesen im wissenschaftlichen Tun zu leiten ha¬
ben. Ähnliches hat er dann auch im Auge für menschliches ethi¬
sches Tun und dessen Normierung.
25 Locke sieht nicht, daß die Erkenntnisprobleme möglicher Gel¬
tung, in ihrer Reinheit und prinzipiell gefaßt, mit dem Objek¬
tivismus seiner Methode unverträglich sind, daß sie es eo ipso
fordern, das Universum der Objektivität — wie das schon Des-
cartes getan hatte — radikal in Frage zu stellen und sich ganz
30 ausschließlich auf dem Boden des reinen Bewußtseins zu halten.
Und erst recht sieht er nicht, was schon Descartes entgangen war
und was ihn eine wahre transzendentale Wissenschaft hatte ver¬
fehlen lassen, daß die eigentliche Aufgabe hier die ist, systema¬
tisch das Bewußtsein als Bewußtsein von etwas zu er-
35 forschen, und insbesondere in Hinsicht auf die ausgezeichneten
Bewußtseinszusammenhänge, in denen für den Erkennenden
unter den Titeln Evidenz und einsichtige Begründung das Be¬
wußtsein ursprünglich in seinem eigenen Zusammenhang das
Selbsthaben und Selbst-sich-bewähren eines Gegenständlichen
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 77
herstellt. Er sieht nicht, daß wahre Objektivität etwas ist, das
nur im Bewußtsein Sinn und ursprüngliche realisierende Be¬
währung erfahren kann, oder daß wahres Sein eine dem Subjekt
immanente Teleologie anzeigt, die sich nach Wesenseigenheiten
5 und Gesetzen intuitiv verstehen läßt, und daß es eben dies ist,
was hier geleistet werden muß.
<Zweiter Abschnitt
DIE ANFANGSGRÜNDE DES VERSUCHES EINER EGOLOGIE
BEI LOCKE UND IHRE BLEIBENDE PROBLEMATIK.)
(Erstes Kapitel
Die grundsätzliche Beschränkung von
Lockes Gesichtskreis und ihre Gründe)
12. Vorlesung: {Der naive Dogmatismus des Objektivismus. >
Das am Schluß der letzten Vorlesung Gesagte können wir auch
in folgender Weise ausdrücken: Locke hat das radikale Er¬
kenntnisproblem, das durch den antiken Skeptizismus gestellt
war, nicht gesehen, und somit ist es natürlich nicht Thema seines
5 Essay. Und doch will dieser eine Theorie des Verstandes, eine
Erkenntnistheorie sein, und zwar eine solche Erkenntnistheorie,
welche den endlosen Streitigkeiten der Metaphysik ein Ende
machen und allen Wissenschaften die zu ihrer Vollkommenheit
notwendige, zu ihrer Vervollkommnung erforderliche Klärung
10 über den wahren Sinn ihrer Leistungen, über die letzte Quelle
ihrer Grundbegriffe und Methoden verschaffen will. Das Absehen
geht dabei auf das Prinzipielle, sowohl auf das allen Wissen¬
schaften überhaupt und als solchen Gemeinsame wie auf das,
was Unterschiede von wesentlich sich sondernden Wissenschafts-
15 typen bestimmt, wie den Unterschied der empirischen und rein
rationalen Wissenschaften.
War Descartes im Streben nach einer wahren und echten Phi¬
losophie als dem System absolut gegründeter, sich absolut recht¬
fertigender Wissenschaften auf die Erkenntnisprobleme gestoßen
20 und hatte auch er schon eine Theorie des Verstandes mindestens
gefordert, die allen echten Wissenschaften vorangehen sollte;
so will eben Locke eine solche Theorie, und zwar zu eben solchen
Zwecken, wirklich ausführen. Und doch ist Locke nicht der
rechtmäßige Erbe des Cartesianischen Geistes, und den wert-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 79
vollsten Impuls, der in den Meditationen lag, hat er nicht auf¬
genommen. Descartes selbst mußten wir zwar ebenfalls den Vor¬
wurf machen, daß er auf das transzendentale Erkenntnisproblem
stieß, aber es selbst doch eigentlich nicht sah, es mißverstand,
5 und daß er daher mit seinem Entwurf einer radikal begründeten
Universalwissenschaft oder Philosophie scheitern mußte. Statt
einer transzendentalen Egologie und der in ihr beschlossenen
echten transzendentalen Theorie der Erkenntnis gerät er auf den
Irrweg einer theologischen Erkenntnistheorie und einer dogma-
10 tischen Metaphysik. Locke gibt aber auch das Große und Be¬
deutsame des Cartesianischen Anfanges preis, und damit
gerade die Quellstätte der unmittelbaren Motivation, von der
geleitet man jederzeit zu einem besseren Aufstieg, zu einer Phi¬
losophie, und zunächst einer transzendentalen Erkenntnistheorie
15 hätte übergehen können *).
Statt wie Descartes damit zu beginnen, alle Wissenschaften
und die Erfahrungswelt selbst in Frage zu stellen, setzt Locke
ganz naiv die Geltung der neuen objektiven Wissenschaften
voraus, und erst recht gilt ihm als selbstverständlich das Dasein
20 der erfahrenen Welt. Er sieht nicht den Widersinn und Zirkel,
der in seiner und jeder ähnlichen Erkenntnislehre beschlossen ist;
und es ist von entscheidender Wichtigkeit, sich dessen ganz zu
versichern. Was in den erkenntnistheoretischen Schriften seit
Locke Thema ist, kann vorweg mit einem unbestimmt allge-
25 meinen Ausdruck bezeichnet werden als „Klärung objektiver
Erkenntnis überhaupt”. Erkenntnis ist dabei zunächst ein all¬
gemeinster Titel, um all die mannigfaltigen Weisen subjektiven
Bewußthabens von Objektivem zu bezeichnen, in denen das be¬
treffende Ich eben das erlebt, was es allgemeinst mit den Worten
30 ausdrücken kann: ich bin mir eines Objektiven bewußt, und was
es je nachdem mit den besonderen Ausdrücken bezeichnet: ich
nehme Dinge, Menschen u.dgl. wahr, ich erinnere mich ihrer oder
erwarte sie, ich stelle sie unklar vor; ich tue all dergleichen in
Gewißheit oder in Ungewißheit, sie sind mir als bloße Möglich-
35 keiten bewußt, oder, ich vermute, daß sie da oder dort sind, oder,
ich war gewiß und werde nun zweifelhaft oder ende in der Über¬
zeugung des Nichtseins. Natürlich gehören hierher auch alle
x) Vgl. Beilage XII, S. 343 ff. — Anm. d. Hrsg.
80 ERSTE PHILOSOPHIE
prädikativen (begreifenden) und speziell die theoretisch-wissen¬
schaftlichen Urteilsakte.
All solchem Bewußthaben, das im weitesten Sinn ein „Ver¬
meinen” heißt des und des Sinnes und der oder jener Gewißheits-
5 modi, steht gegenüber das bloße Phantasieren oder Fingieren,
das kein wirkliches Vermeinen ist, sondern eben ein Sich-hinein-
phantasieren in ein Meinen. Auch das zieht der Titel Erkennen
in seinen Kreis, und aus leicht ersichtlichen Gründen, die wir hier
nicht erörtern müssen. Erkenntnis dieses Kreises vollziehen, also
10 irgendeines Objektiven in diesem oder jenem Sondermodus des
Bewußtseins eben bewußt zu sein, heißt nicht, dieses Bewußt¬
haben selbst im aktuellen Erkenntnisbereich haben; es heißt, mit
dem betreffenden Objekt thematisch beschäftigt sein, nicht aber,
das Bewußthaben des Objektes zum Thema haben. Die Aufgabe
15 der Klärung der Erkenntnis, deutlicher gesprochen: des erken¬
nenden Erlebens, hat also ihre Quelle und ihren Sinn darin: das
Dessen-innewerden zu sein. Im normalen Erkennen, geradehin
auf die Objekte gerichtet, mögen sie in verschiedenen Stufen
bekannt und erkannt werden und ihre Klarheit, ihre Evidenz
20 gewinnen; aber unerkannt, unklar bleibt dabei das Erkennen
selbst, als das subjektive Erleben, und in all seinen wechselnden
subjektiven Modis, in dem für uns das Objekt eben zum Objekt
wird.
Aber das besondere Ziel der Erkenntnistheorie geht, auf dem
25 Untergründe des allgemeinen Studiums der Erkenntnisgestal¬
tungen in diesem weitesten Sinn, darauf, diejenige besondere
Erkenntnisaktivität zu erklären, die in den Erkenntnisleistungen
im prägnanten Sinn vorliegt. Vermeinen überhaupt, Be¬
wußtsein überhaupt jeder Art und Sondergestalt untersteht einer
30 möglichen teleologischen Beurteilung. Es hat entweder von vorn¬
herein oder kann in sich aufnehmen ein Sich-richten des Ich auf
ein Telos, auf das Objekt selbst in seinem wahren Sein und Sosein.
Es scheiden sich vermeinte Erkenntnis (als Meinen überhaupt)
und Erkenntnis im prägnanten Sinn, als diejenige Erkenntnis
35 (dasjenige ausgezeichnete Meinen), in dem der Erkennende das
Bewußtsein hat, am Ziele selbst zu sein. In Zusammenhang damit
gehören zu den bloßen Meinungen, der Gestalt bloß abzielenden
(bloß intendierenden) Bewußtseins, Übergangsgestalten des Be¬
wußtseins: die Bewährungen und ihr negatives Gegenstück, die
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 81
Widerlegungen; ein einheitliches Bewußtsein, ein Erkenntnisweg
führt das bloße Abzielen in das erfüllende Abzielen über oder,
im Gegenfalle, in ein anderes Endbewußtsein, in dem ein Selbst¬
erfaßtes, ein erzieltes Ziel hervortritt, dem das vordem abzie-
5 lende Meinen widerstreitet und an dem es sich „aufhebt”. Auch
solche ausgezeichneten Prozesse des Erkennens im prägnanten
Sinne, die teleologischen Prozesse des Vernunftleistens, sind im
natürlichen Vollzug verborgen, unbekannt und nicht selbst
wieder erkannt. Sie bedürfen der klärenden Herausstellung, der
10 auf sie thematisch gerichteten Reflexion, die sie zur klaren Selbst¬
erfassung bringt, und sie bedürfen einer auf sie gerichteten syste¬
matisch erkennenden Erforschung, damit verstanden wird, was
daserkennende Leisten von Objektivem eigentlich ist und wie es
das macht, ein Objektives erzielend hereinzubekommen, oder,
15 wie Objektives einmal als bloß Vermeintes und das andere Mal
als wahrhaft Seiendes, als erzieltes — und dann jederzeit erziel¬
bares — Ziel zu verstehen ist.
Unverständlich ist z.B., wie in unserem äußeren Erfahren, einem
Strome subjektiven Erlebens, der in unserem wachen Bewußt-
20 seinsleben eine beständige Schichte ausmacht, eben diese Lei¬
stung zustandekommt, die den Ausdruck ermöglicht: „ich erfahre
beständig eine raum-zeitliche Natur”, „ich erfahre die und die
Dinge” usw. Im jeweiligen Erfahren selbst liegt als Meinung:
dort ist ein Ding, ein Objektives, so und so beschaffen, so und so
25 sich verändernd, auf jenes andere Ding dort wirkend usw. Im
Erfahren selbst liegt, daß in all seinem subjektiven Wechsel
dieses Ding dort ein und dasselbe Objektive sei, daß es, jetzt in
die Erfahrung tretend, nicht erst jetzt geworden sei, daß es sei
und an und für sich zu sein fortfahre, auch wenn ich „wegsehe”
30 usw. Fragt man, wie kann, was an und für sich ist, mir in meinem
subjektiven Erfahren selbst gegeben, selbst erfaßt, eben erfah¬
rend mein Eigen sein, so zeigt die Frage, daß hier unklar, unver¬
ständlich ist, was Erfahren in sich selbst ist und wie es in sich
selbst Objektives hat, an sich Seiendes bewußt macht und be-
35 wußtseinsmäßig ausweist. Das sagt aber: im Erfahren wird das
Erfahrene bekannt, nicht aber das Erfahren, nicht Wesen und
Sinn erfahrenden Leistens. Das aber ist ganz natürlich, da das
subjektive Leben, das da Erleben heißt, in seinem eigenen Wesen
verborgen und nie studiert worden ist. Dasselbe gilt von den
Husserliana VII 6
82 ERSTE PHILOSOPHIE
mannigfachen subjektiven Erlebnissen, in denen sich das theore¬
tische Denken vollzieht. Auf Grund der Erfahrungen Begriffe
bildend, prädikativ urteilend, gestalten wir Sätze als theoretische
Einsichten, verknüpfen sie zu immer höheren Gestalten. Was wir
5 so gewinnen, nennen wir Wahrheiten über die wahrhaft seienden
Objekte und sind überzeugt, daß sie, die in unserem subjektiven
Tun gebildeten, ,,an sich” Geltung haben, ähnlich, wie erfahrene
Objekte von uns bei durchgehender Einstimmigkeit der Erfah¬
rungsbewährung gemeint sind als an sich seiende. Wieder be-
10 darf es aufklärender, auf das erkennende Leben und Leisten prä¬
dikativ gerichteter Untersuchung, uns erst verständlich zu ma¬
chen, was in der Immanenz dieses erkennenden Lebens eigentlich
zur Leistung kommt als vermeinte und erzielte theoretische
Wahrheit bzw. als objektives Sein, als Substrat theoretisch wah-
15 rer Bestimmung.
Haben wir uns soweit klar gemacht, worauf alle erkenntnisthe¬
oretischen Fragestellungen abzielen, was für Unverständlich¬
keiten es sind, die in prinzipieller Allgemeinheit objektiver
Erkenntnis überhaupt anhaften und die in eben dieser Allge-
20 meinheit in theoretische Verständlichkeiten und Klarheiten zu
verwandeln die erkenntnistheoretische Aufgabe ist — so muß
uns nun auch völlig klar und gewiß sein, daß in einer Erkenntnis¬
theorie jedwede Inanspruchnahme der vortheoretischen Gege¬
benheiten der objektiven Erfahrung und jedwede Prämisse aus
25 objektiven Wissenschaften unzulässig ist. Eine solche Inan¬
spruchnahme würde offenbar eine widersinnige [xeTaßam^ be¬
sagen. Das universale Thema der Erkenntnistheorie, der Theorie
der erkennenden „Vernunft”, befaßt alle Objektivität als er¬
kannte möglichen Erkennens, und doch keine Objektivität
30 schlechthin. Objektivität aus Erfahrung oder schon aus theo¬
retischem Denken hergeben und mittels des schon erworbenen
immer neuen Erkenntnisbesitz erwerben, das ist, in naiv-natür¬
licher Weise von Kenntnisnahmen, von begreifenden Urteilen
und Einsichten zu neuen und schließlich zu Theorien, Wissen-
35 schäften fortschreiten. Aber eben dieses ist ja, und in jedem
Schritt, ein Rätsel. Das Getane, die Tat ist in jedem solchen
Schritt „da”, sie allein steht im Blick, ist allein „Thema”, wäh¬
rend das bewußtseinmäßige Leben und Leisten, in dem das Tun
selbst besteht, eben gelebtes, aber nicht thematisches ist. Es
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 83
erfahrend und theoretisierend in den Blick und in Arbeit zu stel¬
len, das im aktuellen Leben ungesehene und daher unverständ¬
liche Leben zum Verständnis, zur theoretischen Aussprache zu
bringen — das ist ja die neue Problematik gegenüber allen und
5 jeden Problemen natürlicher Einstellung auf Objektivität. Es ist
also klar, daß es ein durchgängig und radikal anderes ist, objek¬
tive, „positive” Wissenschaft zu treiben und — im Rahmen der
reinen Subjektivität alles bewußtseinsmäßige Haben, Kenntnis¬
nehmen, Erwerben von Objektivem, aber auch alles bewußt-
10 seinsmäßige Vermeinen und Erzielen von prädikativen Wahr¬
heiten, Theorien als rein subjektives Leisten verständlich zu
machen. Diese radikale und ganz unüberbrückbare Scheidung
würde offenbar bestehen, auch wenn nie aus dem ersten verwor¬
renen Innewerden und Noch-nicht-verstehen des Subjektiven,
15 in dem Objektives sich dem Erkennenden zugestaltet, skeptische
Motive erwachsen wären, Neigungen, eine transzendente Welt zu
leugnen oder mindestens sie für imerkennbar zu halten und somit
die Möglichkeit einer Wissenschaft vom objektiv Seienden zu
bezweifeln. Geschieht dies, so ist erst recht klar, daß, wo die Welt
20 nach Sein oder Erkennbarkeit in Frage gestellt ist, während das
Bewußtsein von ihr unbetroffen bleibt, kein objektives Sein und
keine Prämisse objektiver Wissenschaft vorausgesetzt werden
kann, und zwar in Untersuchungen, die dem Skeptizismus durch
Aufklärung des Sinnes, den Objektivität und ihre Erkenntnis
25 rein aus dem Bewußtsein her haben, begegnen wollen.
Wollte Locke, was er und alle nachkommenden Erkenntnis¬
theoretiker unzweifelhaft wollten, das generelle Wesen der Er¬
kenntnisleistung klarlegen, wollte er, daß, um prinzipielle Nor¬
men für das erkennende Tim zu gewinnen, Unvollkommenes ver-
30 vollkommnet und somit allererst echte Wissenschaft, Wissen¬
schaft aus prinzipieller Selbstverantwortung ermöglicht werden
konnte: dann mußte er den Sinn seines Vorhabens zu unverwirr-
barer Klarheit bringen und ihn darin halten; also in unverwirr-
barer Klarheit, was die Frage nach Wesen, Leistung oder Geltung
35 der Erkenntnis in diesem Zusammenhang eigentlich meint. Er
mußte sehen, daß die eigene Leistung der Erkenntnis, der echten,
sogenannten vernünftigen Erkenntnis, nichts minderes ist, als
für den Erkennenden Objektivität jeder Art und Gestalt, wahr¬
haft Seiendes, wahre Aussage, wahre Theorie und Wissenschaft
84 ERSTE PHILOSOPHIE
erzielend zu konstituieren. Es mußte gesehen und in radikalem
Zugriff festgehalten sein, daß Objektivität als ein in der Subjek¬
tivität Erzielbares nirgendwo sonst seine Stätte haben
kann als eben in ihrem Bewußtseinsbereich selbst (dem des wirk-
5 liehen und möglichen Bewußtseins) und daß es keinen Sinn haben
kann, sie außer alles mögliche Bewußtsein zu stellen, als etwas,
wonach sich das Bewußtsein, etwa durch Abbildung oder Indi¬
zierung, richten könnte. Als ob das, wonach ein Bewußtsein sich
richtet, sei es auch ein abbildendes und indizierendes, sich woan-
10 ders ausweisen könnte denn im Bewußtsein und als ob das Sich-
richten selbst sich anders aktualisierte denn als in Synthesen
erfüllender Identifizierung. Es muß dabei vor allem auch gesehen
sein, daß alles schlicht und selbstverständlich als daseiend Vor¬
gegebene das nur ist als Erfahrenes erfahrender Akte und nur aus
15 ihnen Sinn und Geltung schöpft.
War das cartesianische cogito mit seinem bedeutsamen Unter¬
grund einer generell in Frage gestellten Welt und Wissenschaft
schon entdeckt, so konnte das, sollte man meinen, bei einiger Ver¬
tiefung leicht gesehen werden. Aber zu stark ist die Tendenz des
20 Rückfalles in die natürlich-naive Denkeinstellung; und reichte
schon ein Cartesianischer Radikalismus hier nicht aus, wie erst
Locke, dem so etwas wie Radikalismus von vornherein fremd
war. Dadurch daß er schon den Cartesianischen Anfang, die¬
sen wirklichen Anfang einer Überwindung des naiven Dogmatis-
25 mus, verständnislos fallen ließ, ganz und gar in Naivität ver¬
sinkend, erschwerte er es der Zukunft ganz außerordentlich, sich
zu jener Grundeinsicht durchzuarbeiten, von der doch jeder
Anfang einer widersinnsfreien Erkenntnistheorie und damit auch
Philosophie abhängt; nämlich der Einsicht in den reinen Sinn
30 der Fragestellung selbst.
Locke, in seiner naiv dogmatischen Einstellung fest beharrend,
will doch die prinzipiellen Probleme des Verstandes, der Ver¬
nunft lösen; sie werden ihm dann ganz selbstverständlich zu
psychologischen Problemen. Die Begründung echter objektiver
35 Wissenschaft und Philosophie vollzieht sich auf dem Boden einer
selbst objektiven Wissenschaft: der Psychologie; selbstverständ¬
lich bietet sie sich für den natürlich Eingestellten als die Wissen¬
schaft dar, innerhalb deren das Wesen und die Normen echter
Erkenntnis und wissenschaftlicher Methode zu erforschen seien.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 85
Grundverschiedene Probleme mengen sich so in der ganzen von
Locke geleiteten Neuzeit durcheinander, sich im Doppelsinn der
Namen „Erkenntnistheorie”, „Theorie der Vernunft” wider¬
spiegelnd, — von prinzipieller Verschiedenheit, und doch inner-
5 lieh wesentlich zusammenhängend; zwei Aufgaben, deren Son¬
derung und andererseits verständnisvolle Aufeinanderbeziehung
von nun ab die Aufgabe der weiteren philosophischen Entwick¬
lung war; ihre Aufgabe, wenn in dem Durcheinander der Philoso¬
phien die eine wahre und echte Philosophie je entspringen sollte.
10 Erkenntnistheorie, Theorie des Verstandes, der
Vernunft, das kann nämlich besagen, und rechtmäßig be¬
sagen : eine Psychologie des menschlichen Er¬
ke n n e n s bzw. der menschlichen Vernunft als eines mensch¬
lichen Seelenvermögens, das im ganzen Zusammenhang des
15 menschlichen Seelenlebens ein Bestandstück ausmacht, wie die
Psychologie der Erkenntnis ein Bestandstück der vollen Psycho¬
logie. Andererseits können dieselben Worte auch besagen: eine
transzendentale Erkenntnis- und Vernunftlehre; für
welche jede Psychologie nicht Heimatstätte, nicht eine Stätte
20 benützbarer Prämissen, sondern wie jede objektive Wissenschaft
und jedes ihr zugeordnete Seinsgebiet problematisch ist, nämlich
mit zum Problem gehört.
Wie verhängnisvoll mm auch diese Vermengung für die Folge¬
zeit gewesen ist und solange sie auch den Weg in eine echte Theo-
25 rie der Vernunft versperrt hat, völlig abgelenkt hat sie die Ent¬
wicklungsrichtung der neueren Philosophie doch nicht. Ich be¬
rührte ja vorhin schon neben der Sonderung der beiderseitigen
Problematik auch ihren inneren Zusammenhang. Eine durch
Jahrtausende hindurchgehende Vermengung, in der die Probleme
30 immer nur als zweiseitig schillernde oder schielende in Behand¬
lung sind, muß natürlich ihre Gründe in inneren Beziehungen, in
Wesenszusammenhängen haben; und diese mußten sich, nach¬
dem das erkenntnistheoretische Interesse zu solcher Lebendig¬
keit gekommen war, auch wirksam erweisen, sie mußten Möglich-
35 keiten für Übergänge von der Psychologie in die transzendentale
Problematik offenhalten. In der Naivität der objektiven psycho¬
logischen Methode konnten bei aller Umdeutung und Vieldeutig¬
keit aus jenen Wesensbeziehungen herstammende wertvolle Mo¬
mente liegen, und damit wertvolle Triebkräfte in die Zukunft.
86 ERSTE PHILOSOPHIE
Und so haben wir allen Grund, zur Schilderung der Motivation,
welche die Zukunftsentwicklung bewegt und sie der Begründung
einer transzendentalen Verstandestheorie und Philosophie ent¬
gegentreibt, von Locke noch weiter zu sprechen.
5 In gewisser Weise war dieser Psychologismus doch ein Fort¬
schritt, nämlich als Reaktion gegen den Cartesianischen
und Cambridger Platonismus der Lehre von den
ideae innatae. Wir können ganz wohl auch diese Lehre als Psy¬
chologismus, und bestimmter als theologischen Psy-
10 chologismus chrakaterisieren. Was in ihr erkenntnistheoretisch
in Frage ist, das ist die ganz ausgezeichnete Stellung gewisser
Begriffe als Grundbegriffe und zu ihnen gehöriger Sätze als axio-
matischer Grundsätze für alle Wissenschaften, als die berufenen
prinzipiellen Normen, an die alle wissenschaftliche Theorie bzw.
15 alles theoretisierende Tun ganz prinzipiell gebunden ist. Es han¬
delt sich natürlich um alle logischen, aber auch die formalen
mathematischen und wieder die ethischen Grundbegriffe. Denn
offenbar eine analoge Stellung haben zur gesamten Lebenspraxis,
wie die logischen Begriffe zur Leistung der Wissenschaft, die
20 Grundbegriffe und Grundsätze der Ethik: sie geben sich als ab¬
solut gültige prinzipielle Normen, an die alle vernünftige Praxis
gebunden ist. Demgemäß heften sich an sie parallele Fragestel¬
lungen für eine Theorie der praktischen Vernunft. Jeder eignet
sich all diese prinzipiellen Bestände subjektiv in eigenem Denken
25 zu und erfaßt in apodiktischer Evidenz ihr absolutes Recht. Die
letzte Quelle des absoluten, übersubjektiven, sich in apodiktischen
Evidenzen aussprechenden Rechtes ist aber nach dem theolo¬
gischen Psychologismus — Gott, der sie jeder Seele ursprünglich
eingepflanzt hat; also eine theologisch-psychologische Erklärung
30 der übersubjektiven Geltung prinzipieller Elemente aller Theo¬
rien bzw. aller vernünftigen Praxis.
Gegen diese Lehre, mit der bei Descartes die schon erwähnte
theologische Evidenzlehre zusammenhängt, reagiert Locke in
seinem berühmten und in seiner Zeit so wirksamen ersten Buch
35 des Essay. Was er diesem theologischen Psychologismus nun
selbst gegenübersetzt, ist der neue, der naturalistische Psycholo¬
gismus. Seine Psychologie und psychologische Begründung der
Erkenntnistheorie schließt alle theologischen Prämissen aus; so
wie die neue Naturwissenschaft ist sie Wissenschaft rein aus
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 87
Erfahrung oder, präziser ausgedrückt, rein induktive Tatsachen¬
wissenschaft.
Aber, wie wir schon wissen, es ist eine Psychologie von be¬
sonderer Begrenzung, die ausschließlich der Lösung der Probleme
5 erkennender und praktischer Vernunft dienen sollte und um
dessentwillen auf alle psychophysischen Fragestellungen ver¬
zichtete ; also eine Psychologie rein auf dem Grunde innerer Er¬
fahrung. Darin lag insofern ein bedeutsames Motiv, als es Locke
offenbar fühlbar war (und durch seine konkreten Darstellungen
10 erst recht seinen Lesern fühlbar gemacht wurde), daß nur eine
deskriptive Methode für die Erkenntnisprobleme in Frage käme.
Es war fühlbar geworden, daß eine Lösung von Erkenntnispro¬
blemen, und letztlich von Problemen vernünftiger Geltung, ihrem
Sinne nach nur auf dem Grund direkt anschaulicher Betrachtung
15 der Erkenntnisphänomene selbst gewonnen werden könne, daß
sie sich also in dem Kreis des cartesianischen ego cogito, auf dem
zweifellosen Boden der Selbstgegebenheit der Erkenntniserleb¬
nisse für den Erkennenden, bewegen muß. In der Tat, wo die
wirkliche und mögliche Geltung jedweder Art objektiver Er-
20 kenntnis in Frage gestellt und einer Kritik zu unterziehen ist,
ist ja das erkennende Leben selbst seinem wirklichen und mög¬
lichen Sein nach unfragliche Tatsache, als das in jeder kritischen
Frage Vorausgesetzte, in diesem Sinn Zweifellose, jederzeit re-
flektiver Betrachtung unmittelbar Zugängliche. Wie sehr von
25 seiten Lockes das ego cogito objektivistisch, nämlich anthropolo¬
gisch-psychologisch, mißdeutet war, es war doch ein großer Fort¬
schritt, daß nun die von Descartes versäumte Ausbildung einer
reinen Egologie, mindestens in psychologischer Umwendung und
Mißdeutung, somit als eine psychologische Egologie, als eine Art
30 Historie der menschlichen Innerlichkeit, versucht wurde.
13. Vorlesung: (Die empiristischen Vorurteile — der Psychologismus
in der Erkenntnistheorie. >
Und in der Tat, wäre es bei Locke wirklich zu den hier metho¬
disch geforderten Beschreibungen der immanent anschaulichen
Bewußtseinsbestände eines sich selbst reflektiv und rein inner¬
lich beschreibenden ego gekommen, zu einer echten Elementar-
35 analyse des Bewußtseinslebens und einer echten Aufweisung seines
Baues aus dem Elementaren, so wäre diese Leistung nicht nur
88 ERSTE PHILOSOPHIE
für eine echte Psychologie sondern auch für eine transzendentale
Egologie von endgültiger Bedeutung gewesen. Der wesentliche
Gehalt der Beschreibungen wäre nach Klärung der Mißdeutungen
und unter entsprechender Weiterbearbeitung der transzenden-
5 talen Wissenschaft zugute gekommen.
Was hier fehlte, liegt, genauer bezeichnet, in verschiedenen
Linien. Die eine betrifft den Grundmangel der empirisch-induk¬
tiven Betrachtungsweise. Die neue Psychologie, wie sie schon
durch Descartes selbst und seinen Zeitgenossen H o b b e s im
10 Werden ist, konstituiert sich als eine der neuen Naturwissen¬
schaft nachgebildete rein induktive Wissenschaft, wir
könnten sagen, als eine „Naturwissenschaft” vom Seelischen.
Das bleibt sie auch, wenn für gewisse philosophische Zwecke
Wert darauf gelegt wird, sie zunächst als bloß deskriptive Natur-
15 geschichte des Seelenlebens im Rahmen innerer Erfahrung aus¬
zubilden, wie das Locke zuerst tat.
Nun ist aber zu bedenken, daß wie die analytische Logik so die
mit ihr historisch in unklarer Verflechtung auf tretende Vemunft-
theorie als prinzipielle Doktrin, ja als die denkbar prinzipiellste,
20 ihrem eigenen Sinn nach eo ipso eine apriorische Theorie werden
mußte, eine apriorische im ursprünglichen Platonischen Sinn
einer aus eidetischer Intuition schöpfenden Ideenwissenschaft.
Es gibt sicherlich auch eine empirische Verstandeslehre und eine
empirische Typik des menschlichen Verstandes, sei es ganz all-
25 gemein bezogen auf die empirische Spezies Mensch oder auch be¬
zogen in Sondertypen auf Rassen, Völker, Zeitalter, Stände,
Individuen, Lebensalter usw. Dergleichen Typen lassen sich em¬
pirisch deskriptiv und induktiv erforschen, und man kann von
diesen Forschungen ev. auch Nutzen ziehen: individualpädago-
30 gisch, nationalpädagogisch u.dgl. Aber wenn man dabei überall
von Verstand bzw. Unverstand, von größeren und geringeren Ver¬
standesleistungen, von typischen Irrtümem usw. spricht, so steht
hinter oder über allem als sinnbestimmend und normierend eine
reine Logik, und für ein tiefstes und letztes Verstehen solcher
35 Leistung aus dem im Bewußtseinsleben unerkannt sich vollzie¬
henden Leisten eine transzendentale Theorie, die, als das prinzi¬
pielle Wesen aufklärend, a priori ist.
Findet man eine Schwierigkeit darin, daß es doch zur univer¬
salen Aufgabe einer solchen Theorie selbst gehört, das Wesen
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 89
apriorischer Erkenntnis aufzuklären, ebensogut wie andererseits
das Wesen der empirischen Erkenntnis als solcher, und findet
man schließlich überhaupt in der jeder in vollster Universalität
verstandenen Erkenntnistheorie auferlegten Rückbezogenheit
5 auf sich selbst Schwierigkeiten, so ist jedenfalls doch im voraus
soviel zu sehen, daß, wenn sie überhaupt unternommen werden
soll, sie nur in der Form und der Prätention einer Ideenwissen¬
schaft, einer rein rationalen Wissenschaft vom Wesen der Er¬
kenntnissubjektivität und ihren möglichen Leistungen unter-
10 nommen werden kann. Immerhin ist es aber denkbar, daß jemand
meint, empirische Erkenntnis zu vollziehen, z.B. Erkenntnis¬
psychologie, und in Wahrheit Erkenntnis von apriorischer Not¬
wendigkeit gewinnt. So gibt es in unserem positivistischen Zeit¬
alter Mathematiker genug, die ihre rein apriorischen und von
15 ihnen de facto in reiner Allgemeinheit und Notwendigkeit ein¬
gesehenen Erkenntnisse für empirische halten, indem sie, über
ihr klares Tun unklar reflektierend, Modetheorien unterliegen.
In diesem Sinne meinte ich, daß Lockes immanente Deskrip¬
tionen sehr wohl hätten erkenntnistheoretisch fruchtbringend
20 sein können, bei aller Mißdeutung ihres prinzipiellen Sinnes. Und
so stünde es in der Tat, wenn Locke wirklich methodisch richtige
Bewußtseinsanalysen ausgeführt hätte, wenn er in rein gehal¬
tener innerer Erfahrung und innerer Phantasie die sich darbie¬
tenden konkreten Gestalten wirklicher und möglicher immanen-
25 ter Erlebnisse einer systematischen Elementaranalyse unterzogen
und hierdurch unter sorgsamer, terminologisch festhaltender
Begriffsbildung exakte Deskriptionen zustandegebracht hätte.
Zu solchen Deskriptionen kam es aber nicht, weder bei Locke
noch bei anderen Psychologen und psychologischen Erkenntnis-
30 theoretikern.
Das ist freilich eine der merkwürdigsten Tatsachen in der Ge¬
schichte der Wissenschaften. Daß theoretische Erklärungen, die
sich auf Unendlichkeiten von mathematischer Form (mathema¬
tische Mannigfaltigkeiten) beziehen, sehr schwer gelingen, Er-
35 klärungen, die nur durch höchst zusammengesetzte und stufen¬
artig aufeinandergebaute, höchst kunstvolle Begriffsbildungen
und deduktive Theorien geleistet werden können, das ist nicht
erstaunlich. Aber was scheint methodisch einfacher und leichter
denn Deskription! Allerdings auch die Systematik der Deskrip-
90 ERSTE PHILOSOPHIE
tion in der Bewältigung großer Weltgebiete, die, wie die natur-
historischen, überreich sind an überaus kompliziert gebauten
Gestaltungen, bietet dem wissenschaftlichen Geist Schwierig¬
keiten. Aber hier handelt es sich um objektive Deskriptionen,
5 deren jede in jedem Zuge und hinsichtlich der Feststellung der
objektiv geregelt zusammengehörigen speziellen Merkmale viel¬
fältiger objektiver Beobachtungen und Induktionen zualledem
große Veranstaltungen wie Entdeckungsreisen u.dgl. voraussetzt.
Anders in der rein subjektiven Sphäre. Hier bemächtigt sich doch
10 jede Beschreibung, sowie sie anfängt, in adäquater Erfahrung
ihres Gegenstandes. Das erfahrende Erfassen kann doch nicht
selbst schon ein Milieu besonderer Schwierigkeiten sein, nämlich
als ob prinzipielle Gefahren bestünden, die zu beschreibenden
Gegenstände ganz zu verfehlen. Aber gerade das ist merkwür-
15 digerweise die Sachlage in der Locke’schen Psychologie und
Erkenntnistheorie. Man behauptet, in rein innerer Erfahrung
Erfahrenes zu beschreiben, und hat nie solche reine Erfahrung
wirklich vollzogen, nie ihre echten Bestände wirklich gesehen, nie
in ihrem Kreis eine wirkliche Analyse zu vollziehen und daher
20 nie eine echte systematische Deskription zu leisten vermocht.
Das Versagen der Locke’schen Methode hat tiefe, im Wesen der
zugleich beschreibenden und beschriebenen Subjektivität selbst
liegende Gründe. Also die Schwierigkeiten sind keineswegs zufäl¬
lig. Äußere Erfahrung, überhaupt objektive Erfahrung, ist Er-
25 fahrung der natürlichen Einstellung; dazu gehört auch die ge¬
meine Selbsterfahrung des Menschen. Es ist diejenige Selbster¬
fahrung, die er, in seinem praktisch-tätigen Leben, im Verkehr
mit seinen Nebenmenschen immer wieder auf sich selbst zurück¬
gewiesen, in Abwechslung mit bloßer Dingerfahrung vollzieht,
30 als natürliche, freie und wie von selbst ablaufende Lebensbe¬
tätigung. Wenn nun die Psychologie als Erfahrungswissenschaft
Beschreibungen und Erklärungen sucht, so dient ihr diese natür¬
liche Selbsterfahrung, so wie dem Naturwissenschaftler die raum¬
dingliche, die sogenannte „sinnliche”, „äußere” Erfahrung.
35 Welche methodischen Gründe ganz allgemein die Psychologie
hatte und überhaupt eine echt wissenschaftliche Psychologie
haben mußte, Deskriptionen im Rahmen der rein immanenten
Selbsterfahrung, der rein inneren, zu vollziehen, also im wesent¬
lichen im Rahmen der von Descartes geltendgemachten, aber
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 91
vielleicht kritisch zu begrenzenden Evidenz zweifelloser Selbst¬
gegebenheit, geht uns an dieser Stelle nicht an. Für Locke und
die psychologisierende Erkenntnistheorie liegen solche Gründe,
wie wir schon hörten, in der Problematik der Erkenntnis nach
5 Wesen und verstandesmäßiger Geltung. Da leitet der sicher
zweifellose Gedanke, daß man die Leistungen der Erkenntnis nur
aufklären könne, wenn man sie sich selbst ansehe, sie sich in
fixierender Analyse auseinanderlege, daß also wissenschaftliches
Aufklären nur erfolgen könne auf Grund wissenschaftlicher De-
10 skriptionen. Dann ist aber selbstverständlich das Objekt dieser
Beschreibungen die Erkenntnis, wie sie in reiner Eigenwesent¬
lichkeit ist und in dieser Eigenwesentlichkeit nur im reinen ego
cogito oder, wie Locke sagt, in der inneren Erfahrung gegeben ist.
Aber hier bestehen eben in der Natur der Beschreibungslage
15 selbst liegende Gründe, die dem Vollzug einer wirklich reinen
inneren Erfahrung, und einer selbstverständlich beobachtenden,
fixierenden, entgegenstehen. Beredet wurden die Schwierigkeiten
einer inneren Beobachtung im Lauf der Zeiten und besonders in
den neuesten genug: veranlaßt dadurch, daß die Beschreibungen
20 verschiedener Beobachter — ganz anders wie bei solchen im
Reich äußerer Erfahrung (obschon diese gar nicht zweifellose
Evidenz für sich beansprucht) — so wenig harmonieren wollten.
Jeder Versuch einer einwandfreien, wirklich überzeugenden Her¬
ausstellung eines deskriptiven Befundes als des an sich wahren,
25 durch welche gegebenenfalls der Streit entschieden werden konn¬
te, versagte. Aber alles Bereden der Schwierigkeit half wenig,
solange man eben in Wahrheit gar keine innere Erfahrung und
keine reine Deskription der entsprechenden reinen Innerlichkeit
hatte. Sie bedarf, wie wir später ausführlich zeigen werden, um
30 überhaupt erst zustandezukommen, um ihre Reinheit zu erhalten
und wissenschaftliche Sicherheit der Erhaltung dieser Reinheit
mit sich zu führen, einer eigenen Methode, der Methode der phä¬
nomenologischen Reduktion. Nämlich nur, wenn die natürliche
objektivistische Einstellung mit allen ihren Gegebenheiten unter-
35 bunden ist (was eben diese Methode zu leisten lehrt), nur, wenn
demgemäß die sonst unvermeidliche Einmengung von objektiv
Erfahrenem (oder, was dasselbe ist, der reinen Innerlichkeit
Transzendentem) ganz unmöglich gemacht wird, kann diese
Schwierigkeit überwunden werden. Erst dann kann in der Tat
92 ERSTE PHILOSOPHIE
gesehen werden, was unter dem Titel des „Innerlichen”, also <des>
rein in der Evidenz des ego cogito Beschlossenen, vorliegt. Und
dann erst tritt hervor, kann und muß gesehen werden, wofern
nicht Vorurteile in einer Art Hypnose für das wirklich Gesehene
5 wieder blind machen, daß das ganze Innenleben durch und durch
Bewußtsein und zugleich Bewußtes und daher nur als solches zu
beschreiben ist.
Freilich zeigt sich dann sogleich, daß die echte „innere Erfah¬
rung” nicht wie in der Locke’schen tafew/a-rasa-Auffassung so
10 etwas wie ein Feld, wie eine Ebene oder ein Raum ist, worüber
ein beweglicher geistiger Blick nur allseitig hinglitte, darin auf¬
tretende Gegebenheiten, geleitet von der raumartigen Ordnungs¬
folge, nacheinander schlicht erfassend und fixierend. Sondern in
immer neu ansetzenden Reflexionen und in Reflexionen ver-
15 schiedener Stufe, die an schon reflektiv Gegebenes ansetzen, tritt
die ungeheure Fülle von Bewußtseinsmodis hervor; in vielen,
sehr verschiedenen Weisen kann Bewußtsein selbst wieder als
Bewußtes von Bewußtsein erscheinen, und dieses wieder in fort¬
schreitender Implikation; ja selbst vielfältige Kontinuen treten
20 auf, Kontinuen des Bewußtseins von Bewußtsein von Bewußt¬
sein usw. Hier gehört das Wahmehmen, in dem die inneren Be¬
stände erfaßt werden, selbst mit zu den innerlich wahrnehmbaren
Beständen; es kann darauf ja reflektiert werden, und nur darum
wissen wir davon und rechnen es beschreibend selbst mit zum
25 Reich der „inneren Erfahrung”; ebenso natürlich auch das Be¬
schreiben, das Theoretisieren; im tätigen Vollzug unerfaßt, un¬
beobachtet, wird es selbst reflexiv erfaßbar und beschreibbar,
dieses Beschreiben höherer Stufe wieder usw. Immerfort hat das
innerlich Erfahrene oder Erfahrbare, als Bewußtes, die untrenn-
30 bare Beziehung zu seinem Bewußtsein, durch das es auch un¬
beobachtet, unerfaßt der rein immanenten Sphäre zugehört. Die¬
ses Bewußtsein seinerseits ist nicht etwas Hinzukommendes und
von seinem Erlebnisgehalt Gesondertes, sondern Bewußtsein ist
Bewußtsein von seinem Gehalt und der Gehalt Gehalt seines
35 Bewußtseins: beide untrennbar eins. Welche Füllen deskriptiver
Eigenheiten einer solchen Konkretion „Bewußtsein von etwas”
zugehören, komplizierteste Strukturen schon in einfachsten Fäl¬
len, das ist hier gar nicht anzudeuten.
Von all dem hat Locke und hat die Folgezeit keine Ahnung. Es
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 93
ist höchst merkwürdig, und doch wieder nach Kenntnis der in¬
neren Gründe und der historischen Hemmungen verständlich,
daß eine Psychologie und Erkenntnistheorie jahrhundertelang
immerzu sprechen konnte von Gegebenheiten einer inneren Er-
5 fahrung, von den verschiedenen Arten und Gattungen dieser
Gegebenheiten — als da sind Wahrnehmungen, Vorstellungen,
Urteilsakte, Willensakte, Gefühle usw. —, daß man all das in de¬
skriptiven Begriffen wissenschaftlich fixiert zu haben meinte, wo
man, was da in Reinheit vorliegt und was in reiner Innerlichkeit
10 wirklich zu fixieren ist, überhaupt nie gesehen, auch nie zu sehen
gelernt hatte. Es besserte daran nichts, daß man die Methode
nicht als bloße Methode der inneren Wahrnehmung sondern als
solche der Erfahrung im weiteren Sinn, also vornehmlich der
inneren Erfahrung verstanden wissen wollte — und dabei die
15 absolute Evidenz der inneren Erinnerung preisgab; denn die
prinzipielle Lage ist für die Erinnerung dieselbe wie für die Wahr¬
nehmung. Ist es wahr, daß eine Psychologie nicht denkbar ist,
die nicht ihr gesamtes System von konstitutiven Urbegriffen (als
denjenigen Begriffen, aus welchen alle psychologischen Begriffe
20 sich aufbauen) aus rein innerer Erfahrung als der einzigen Quelle
schöpfte, so bietet die neuzeitliche Psychologie das sonderbare
Schauspiel, daß sie als Wissenschaft wohlgegründet zu sein, ihr
Begriffsmaterial zu haben, es sogar deskriptiv aus innerer Er¬
fahrung geschöpft zu haben meint, und doch in Wahrheit das
25 Reich rein innerer Erfahrung, das allein die echten Begriffe her¬
geben kann, nicht erkannt hat. Mutatis mutandis wäre dasselbe
auch für die neuzeitliche Erkenntnistheorie, und nicht etwa bloß
für die psychologistische der Locke’schen Richtung, zu sagen.
14. Vorlesung: <Die Vorbildlichkeit der neuzeitlichen Naturwissen¬
schaft als hemmendes Motiv für die Ausbildung einer echten intuitioni-
stischen Bewußtseinswissenschaft. >
Doch es gibt, wie schon angedeutet, auch historische, aus der
30 ideengeschichtlichen Situation der Neuzeit entsprungene Motive,
welche von vornherein als hemmende Vorurteile fungierten und
es hinderten, daß das in der Blickstellung auf die reine Innerlich¬
keit Gegebene in seiner Eigenheit zur Kenntnis genommen wurde.
In dieser Hinsicht wirkte und wirkt überhaupt auf die Psycho-
35 logie höchst schädlich die Vorbildlichkeit der neuen Naturwissen-
94 ERSTE PHILOSOPHIE
schaft. Bis zu welchem Maße sie selbst geniale Denker blenden
konnte, sieht man schon an H o b b e s. Ihm gilt die Naturwis¬
senschaft so sehr als der Prototyp wahrer und philosophisch letzt¬
möglicher Wissenschaft, daß er nicht nur der materiellen Natur
5 absolutes Sein beimißt sondern auch umgekehrt alles absolute
Sein, auch das innerlich erfahrene seelische Sein, auf Natur redu¬
ziert. Hatte Descartes das rein gefaßte ego mit seinen cogitationes
als geistige Substanz absolut gesetzt, so sieht Hobbes das subjek¬
tive Innenleben als bloß subjektiven Schein an, dessen wahres
10 Sein in den materiellen psycho-physischen Korrelaten liegt. Er
wird damit zum Vater des neuzeitlichen Materialismus und damit
auch der neuen materialistischen Psychologie.
In dieser Art freilich läßt Locke die Vorbildlichkeit der Natur¬
wissenschaft nicht auf sich wirken. Aber verhängnisvoll wird sie
15 auch für ihn, obschon in anderer Weise. Zunächst: auch er ver¬
absolutiert sie und verabsolutiert die Natur in den naturwissen¬
schaftlichen Bestimmungen seiner Zeit, und so, wie er diese ver¬
steht. Also: materielle Körper sind absolute Realitäten in ihrer
Zeitlichkeit und Räumlichkeit, in ihren physikalischen Eigen-
20 schäften, also ausschließlich in geometrisch-mechanischen Be¬
stimmungen. Locke scheidet hier primäre Eigenschaften und
Kräfte. Die primären oder ursprünglichen Eigenschaften, Größe,
Gestalt, Lage, Bewegung oder Ruhe, sind die dem materiellen
Körper in jedem Zustande untrennbar anhaftenden Qualitäten.
25 Mittels ihrer übt er auf andere Körper und unsere Sinne Kraft¬
wirkungen aus. Betrachten wir nun die Erfahrungsanschauungen
von Körpern, die „Ideen”, in denen uns die materiellen Dinge
außer uns sinnlich erscheinen, sich in uns subjektiv darstellen, so
enthalten diese Ideen auch primäre Qualitäten als Analoga der
30 äußeren; aber andererseits auch spezifisch sinnliche Qualitäten,
wie Farbe, Töne, Wärme und Kälte usw., denen gleichartige den
materiellen Realitäten nicht zukommen: sie sind nur subjektiv,
und nur insofern objektiv bedeutsam, als sie vermöge der Zu¬
sammenhänge psycho-physischer Kausalität geometrisch-mecha-
35 nische Eigenschaften anzeigen. Die empfundenen Töne
weisen auf Luftschwingungen gewisser Regelformen hin und wer¬
den durch sie kausal „erklärt”, ebenso die empfundenen Farben
durch Emanationen der Körper oder sonstige physikalische Be-
wegungsvorgänge; und so überall. Die an sich seienden materiel-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 95
len Körper sind, sagt Locke, nicht nur Substrate primärer Quali¬
täten, sondern auch Substrate von Kräften. Diese werden von
Locke als Analoga der in innerer Erfahrung ursprünglich er¬
fahrenen seelischen Kräfte angesehen. Qualitäten und zugehörige
5 Kräfte sind nicht selbständige Elemente, welche die materiellen
Realitäten in der Weise bloßer Komplexe oder Konglomerate
zusammensetzen, sondern sie subsistieren an einem einheitlichen
Substrat, einer Substanz, die ein völlig Unbekanntes, ein Je ne
sais quoi ist.
10 Diese Interpretation der Naturwissenschaft und ihrer natur¬
wissenschaftlichen Natur sowie des Verhältnisses der letzteren,
der wahren Natur, zur Natur im Sinn der äußeren Erfahrung
wirkt vermöge der Vorbildlichkeit der Naturwissenschaft auf die
Interpretation der Psychologie und die Interpretation der Seele
15 und der Gegebenheiten der inneren Erfahrung zurück; bei Locke
bekanntlich auch in dem Sinne metaphysischer Bedeutung der
Psychologie, daß so wie den physischen auch den seelischen Ak¬
ten und Zuständen ein unbekanntes Substrat, eine seelische Sub¬
stanz als Träger zugrundeliegt, woraus sich ihm ergibt, daß man
20 nicht wissen könne, ob sie nicht dieselbe sei, die in der wissen¬
schaftlichen Bearbeitung äußerer Erfahrung als materielle Sub¬
stanz zugrundegelegt werde.
Diese Art des Einflusses der neuen Naturwissenschaft und der
mit ihr vermengten Metaphysik auf Locke und die Verstandes-
25 theorie der ganzen Neuzeit bedarf hinsichtlich der besonderen
von da her übernommenen Vorüberzeugungen keiner eingehen¬
den kritischen Prüfung. Hier ist ja die Kritik schon durch den
allgemeinen Hinweis auf den fehlerhaften Zirkel erledigt, der
darin liegt, daß eine Theorie der Vernunft ihrem eigenen Sinne
30 gemäß Kritik der Vernunft überhaupt ist, und nicht Kritik im
gewöhnlichen Sinn einer Prüfung des Rechtes besonderer Er¬
kenntnis auf dem Grunde als selbstverständlich zugestandener
Vorausstzungen ist; m.a.W., daß ihr Absehen dahin geht, klarzu¬
machen, wie im unüberschreitbaren Medium subjektiven Mei-
35 nens welcher Gestalten immer (wie erfahrenden, theoretisieren-
den, urteilenden, wertenden, praktischen Meinens) so etwas wie
objektives Recht in sogenannten Aktionen der Vernunft zutage¬
tritt, wie es ursprünglichen Sinn in einem besonderen Geltungs¬
modus, dem der Einsicht, gewinnt und wie von da her die Kraft
96 ERSTE PHILOSOPHIE
einer unabänderlichen Norm, einer Norm sei es der Wahrheit
schlechthin, sei es der Möglichkeit, der Wahrscheinlichkeit usw.,
entspringt. Vemunfttheorie entspringt ja aus dem Innewerden,
daß in der Abgeschlossenheit des „kogitierenden” ego sich ah sein
5 Bewußtsein, all sein Meinen, und so all sein Meinen jeder Art von
Objektivem vollzieht, und daß alle Reden von Wahrheit und
Recht ihren Sinn in der Subjektivität selbst aus einem gewissen
besonderen, dem Einsicht begründenden Meinen schöpfen, das je
nach den besonderen Arten des Meinens und Gemeinten seine
10 verschiedenen Sinnesgestalten hat. Erwächst mit Beziehung auf
die Verborgenheit des während des Vohzuges objektiven Er-
kennens sozusagen anonym bleibenden erkennenden Lebens das
Bedürfnis, diese Anonymität zu lüften, erwachsen aus den Un¬
klarheiten Rätsel und Zweifel und wird objektive Erkenntnis und
15 objektive Leistung der Vernunft zum Thema einer Theorie der
Vernunft, so betrifft solche Unklarheit und somit das Vemunft-
problem selbst alles Erkennen, alles objektive Meinen und Be¬
gründen in gleicher Weise. Es ist also jedwede objektive Über¬
zeugung in der Universalität des Problems mitbeschlossen. Die
20 objektive Voraussetzungslosigkeit einer Theorie der Vernunft
besagt also das Selbstverständliche und nichts anderes, als daß
man beständig des Sinnes der vernunfttheoretischen Fragestel¬
lung als einer prinzipiell universalen eingedenk bleiben und dem¬
gemäß im besonderen nichts voraussetzen dürfe, was selbst in
25 der Allgemeinheit des Problems mit in Frage gestellt worden ist.
In Lockes Vorgehen so wie in dem aller naturalistischen (an-
thropologistischen, psychologistischen) Vemunfttheorien liegt
also eine Art widersinniger Zirkel. Es setzt als geltend Natur,
Naturwissenschaft voraus, während es zugleich nach der Möglich-
30 keit ihrer Geltung fragt.
Doch der Einfluß der Naturwissenschaft und der durch sie
geheiligten naturalistischen Denkweise zeigt sich noch in einer
anderen und sehr bedeutsamen Eigenheit der Locke’schen Er¬
kenntnistheorie, die in besonders verhängnisvoller Weise die
35 Zukunftsentwicklung bestimmt hat; nämlich in dem, was wir die
Naturalisierung des Bewußtseins nennen. Was wir hier meinen,
bedarf einer genaueren Ausführung.
Nach dem soeben Festgestellten findet bei Locke der Carte-
sianische Versuch, in einem rein auf das ego cogito sich gründen-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 97
den Verfahren die Möglichkeit objektiver Erkenntnis und Wis¬
senschaft begreiflich zu machen und sie selbst absolut zu begrün¬
den, keine Nachfolge; also der Versuch, das Recht der reinen
Subjektivität herauszustellen, in der sich alle Erkenntnis voll-
5 zieht, und transzendente, objektive Erkenntnis jeder Art nicht
früher gelten zu lassen, als bis sie im Rahmen des ego cogito ihre
Möglichkeit und ihr Recht ausgewiesen hätte. Andererseits bleibt
doch der Gedanke der reinen Immanenz, in der sich alle Tran¬
szendenz bekunden und ausweisen muß, auch für Locke, bei aller
10 naiven Inkonsequenz des dogmatistischen Verfahrens, maßge¬
bend. Das einzig unmittelbar Gegebene für den Geist sind seine
eigenen Ideen — das ist ein oft wiederholter Grundsatz im Locke’-
schen Essay. Was Descartes unter dem Titel der cogitatio mit
ihrem cogitatum qua cogitatum rein umgrenzt hatte, als unmittel-
15 bare, absolut zweifellos gesicherte Gegebenheit, als clara et dis-
tincta perceptio, die das ego reflektierend im reinen Bewußtsein
vollzieht, das heißt bei Locke in eben dieser Unmittelbarkeit
„Idee”.
Auf das Reich dieser „Ideen” bezieht sich jene „Geschichte”
20 des Bewußtseins, die Locke geben und durch die er die erkennt¬
nistheoretischen Probleme lösen will. Zweifellos bedeutsame, und
doch nicht zur letzten Reife kommende Motive leiten ihn in den
Ausgängen und seiner weiteren Methode und wirken auch fort
in der Zukunft („Erkenntnistheorie”). Warum verlaufen, so
25 fragte sich Locke (er deutet dies selbst, obschon etwas vage, als
Urmotiv seines ganzen Unternehmens an), die Streitigkeiten der
Metaphysiker so unbefriedigend, warum kommen sie in ihren
Bemühungen so gar nicht zu sicheren und wechselseitig über¬
zeugenden Ergebnissen? Weil sie mit vagen Vorstellungen von
30 Gott und Welt, über Körper und Geist, über Substanz und Akzi¬
dens, über Raum und Zeit, über Zahl und Größe, Kraft, Ursache,
Wirkung usw. operieren, ohne nach ihrem Ursprung, ihrem kla¬
ren, ursprünglichen Sinn zu fragen, d.i. ohne sich zu überzeugen,
ob diese Vorstellungen und die mit ihnen entworfenen meta-
35 physischen Gedankengebilde nicht vielleicht jeder Möglichkeit
entbehren, an der klaren Anschauung selbst realisiert zu werden;
oder, wie Locke sich ausdrückt, ob sie nicht die Grenzen über¬
steigen, die der menschlichen Erkenntnis ihrer Natur nach ge¬
steckt sind. Und demgegenüber will Locke alle Metaphysik zu-
Husserliana VII 7
98 ERSTE PHILOSOPHIE
rückschieben (was er freilich so wenig wahr gemacht hat) und
allem voran eine „Geschichte der ersten Anfänge menschlichen
Wissens” entwerfen. Er will, was für ihn dasselbe ist, auf die
Ideen, als die unmittelbaren Objekte der inneren Wahrnehmung
5 und die unmittelbarsten Objekte des Denkens, zurückgehen,
systematisch die einfachen Ideen aufweisen und die geistigen
Operationen beschreiben, die der Geist an diesen übt; dann zu
den höheren Wissensgestaltungen fortschreiten und so überhaupt
zeigen, wie der Geist stufenweise alles Wissen ursprünglich ge-
10 staltet, zu dem er überhaupt befähigt ist. Das ist die „historische”
Untersuchung, die Locke auch der psycho-physischen Erklärung
gegenübersetzt und als die erkenntnistheoretische Aufgabe an¬
sieht.
Es ist hierbei aber noch folgendes erläuternd und ergänzend
15 beizufügen: „Ideen” in ihrer ursprünglichen Form, so wie sie in
der inneren Erfahrung zuerst auf treten, sind leicht zu unter¬
scheiden, sind nach ihren Übereinstimmungen und Unterschieden
leicht zu erkennen. Hier fließen keine Irrtumsquellen. Aber nach
dem ursprünglichen Auftreten kehren sie in bloß reproduktiven
20 Gestalten, mehr oder minder matt, unklar zurück und laufen
dann leicht ungeschieden ineinander. Damit hängt auch die Ge¬
fahr des sonst so nützlichen sprachlichen Denkens zusammen.
Wir Menschen haben die Fähigkeit, scharf unterscheidbare sinn¬
liche Ideen, sogenannte Worte, als Zeichen für jederlei sonstige
25 Ideen zu gebrauchen, und in sprachlicher Form zu denken. Sind
die Wortbedeutungen nach klaren Anschauungen orientiert und
sind wir weiterhin imstande, jederzeit von den matten Repro¬
duktionen, in welchen diese Bedeutung gebenden Anschauungen
uns gedächtnismäßig verbleiben, zu den ursprünglich klaren
30 Ideen wieder zurückzugehen, also uns die Bedeutungen zur Klar¬
heit zu bringen, dann wird unser sprachliches Denken Sinn und
Wahrheit haben und seine Wahrheit jederzeit vertreten können.
Operieren wir im Denken aber fortgesetzt mit unklaren Worten
und Wortbedeutungen, bilden wir aus ihnen immer neue Wort-
35 gedanken und Meinungen, ohne uns durch Rückgang auf die
ursprüngliche Anschauung zu überzeugen, ob diesen Gebilden
ein möglicher klarer Sinn, eine Wahrheitsbedeutung entspricht,
dann ist das Denken wertlos.
Hier erwächst nach Locke die große Aufgabe der Aufklärung
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 99
aller unserer seJbsterworbenen oder überkommenen Begriffe,
nämlich der mehr oder minder verworrenen Bedeutungsvorstel¬
lungen, mit denen wir in unserem Leben operieren; vor allem
aber der Grundbegriffe, der Grundvorstellungen unserer ge-
5 samten natürlichen und wissenschaftlichen Weltauffassung, die
also in allen Wissenschaften eine universale und dominierende
Rolle spielen; das sind eben die vorgenannten Begriffe, Geist und
Körper, Ding und Eigenschaft, Raum und Zeit usw. Alle diese
Begriffe entbehren der Klarheit und Deutlichkeit, und die hier-
10 aus entspringenden Irrtümer müssen offenbar besonders weit-
tragende Folgen haben. Es ist also die wichtigste Aufgabe, gerade
bei diesen Begriffen klärend auf die ursprünglichen Ideen zurück¬
zugehen, ihnen nach diesen Ideen neue Begrenzung und feste
Gestalt zu geben und sie womöglich in ihre letzten, ursprünglich
15 klaren Begriffselemente zu analysieren.
Hier erwächst Locke der bei aller bedenklichen Unklarheit
seiner Darstellungen doch im Kern bedeutsame Gedanke: könn¬
ten wir systematisch alle elementaren Ideen (hier verstanden als
cogitata qua cogitata) aufweisen, die in ursprünglicher Anschau-
20 lichkeit im reinen Bewußtsein erwachsen; könnten wir ferner
systematisch die Weisen der ursprünglich anschaulichen Zu¬
sammenbildung dieser einfachen Ideen zu komplexen Ideen her-
ausstellen, so wäre damit das gesamte Universum möglicher
menschlicher Erkenntnis im voraus entworfen; wir hätten näm-
25 lieh im voraus für alle möglichen Begriffe, für alle möglichen
Wortbedeutungen das Ideenmaterial bestimmt, sozusagen als das
ABC der Elementarideen und der rechtmäßigen Begriffe. Und
wir hätten auch die den Ideen selbst abgenommenen Modi der
Verknüpfung zu wirklich anschaulichen komplexen Ideen, also
30 sozusagen das ABC der Bildungsweisen, wodurch alle möglichen
wahren Gedanken umgrenzt wären.
Daß in diesem methodischen Entwürfe ein bedeutsames Motiv
nach Gestaltung drängt und von da her einer Erkenntnistheorie
ein Ziel zu geben wäre, ist unverkennbar. Wir werden uns über-
35 zeugen, daß hier nichts geringeres vorliegt als eine Vorahnung
des echten Intuitionismus, der zum Wesen der transzendentalen
Erkenntnisbegründung gehört: es ist die Vorahnung des metho¬
dischen Stiles einer echten Erkenntnistheorie und einer von ihr
abhängigen Neubegründung aller Wissenschaften, durch welche
100 ERSTE PHILOSOPHIE
sie allererst zu strengen Wissenschaften in einem tiefsten und
letzten Sinn werden. Denn mit der Erstarkung der transzenden¬
talen Erkenntnistheorie leuchtet offenbar ein neues Wissen¬
schaftsideal auf: nämlich das einer bis in die letzten Ursprungs-
5 quellen aller Erkenntnisgebilde, und damit auch des ursprungs¬
echten Sinnes alles darin erkannten Seins, sich selbst verstehen¬
den und selbst verantwortenden Wissenschaft.
Aber zu einer fruchtbaren Auswirkung dieser — durch unsere
Verdeutlichung natürlich schon weit überschrittenen — Vorah-
10 nung konnte es nicht kommen. Jeder Weg, dieser Idee einer uni¬
versalen Erkenntniserklärung selbst die sehr nötige Klarheit zu
verschaffen, war verbaut durch die naive Naturalisierung des
Bewußtseins, in die Locke sogleich verfällt.
Sie erwächst daraus, daß das Reich der rein inneren Erfahrung,
15 dieses sogenannte Reich von „Ideen”, ganz nach Analogie der
Raum weit, als des Reiches der äußeren Erfahrung, gedacht wird.
Bezeichnend ist das berühmte tabula-rasa-Gleichnis, das Locke
aus antiker Tradition wiederauf nimmt. Die Seele gleicht, wenn
sie zu Bewußtsein erwacht, einem unbeschriebenen weißen Pa-
20 pier, auf das die Erfahrung Zeichen anschreibt. Was da in der
Seele oder vielmehr in der inneren Erfahrungssphäre auf tritt,
sind in der Folge immer neue solche Zeichen, immer neue Ideen 1).
In diesem Gleichnis drückt sich die Tendenz zu einer Verding¬
lichung aus, die in der Fortentwicklung der Locke’schen Philoso-
25 phie immer schärfer sich auswirkt. Zeichen auf einer Schreibtafel,
Kreidestriche oder Tintenstriche sind dingliche Vorkommnisse
0 Nicht übersehen sei die Verwirrung, die Locke in seiner Gegenüberstellung von
Sensation und reflection angerichtet hat und die mit seinen sonstigen Verwirrungen in
die psychologische und erkenntnistheoretische Tradition übergegangen ist. Man
übersetzt gewöhnlich: äußere und innere Erfahrung, beachtet aber nicht, selbst in der
Unklarheit befangen, daß die Sensation doppelt fungiert: fürs erste als cogitatio im
Cartesianischen Sinn, mit ihrem sensationellen cogitatum, das, als Phänomen, als idea
auf der Bewußtseinstafel, davon unbetroffen bleibt, ob die betreffenden erfahrenen
Dinge existieren oder nicht existieren und ob die ganze Welt, wie Descartes es will,
als möglicher transzendentaler Schein in „Zweifel” bleibt. Die Existenz dieses sen¬
sationellen cogito mitsamt seinem cogitatum ist die von Locke nicht bestrittene
zweifellose Evidenz des ego cogito, und eben darum gehört sie zu den Ideen der Be¬
wußtseinstafel: bilden wir den korrekten Begriff der reinen Bewußtseinserfahrung
oder, wenn man will, „inneren” Erfahrung, so umspannt er also alle „Ideen”, auch
die Ideen der Sensation in diesem Sinne. Andererseits ist diese Sensation keineswegs
äußere Erfahrung, deren Gegenstände nicht Ideen, sondern die „durch” die sinnlichen
Ideen erfahrene Raumdinge <sind>. Wie immer es mit diesem,,durch” stehen mag und
dem Verhältnis des reinen Dingphänomens als Idee und dem in der natürlichen Ein¬
stellung äußerer Erfahrung erfahrenen Ding: es ist sicher, daß hier zweierlei, und im
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 101
und symbolisieren auch nur Dingartiges. Wie der Raum das
Seinsfeld der physischen Dinge ist, so ist das Bewußtseinsfeld,
die leere Schreibtafel, eine Art Raum für innerseelische Dinglich¬
keiten. So wie die Naturwissenschaft, zunächst die beschreibende
5 und dann die erklärende, von den Dingen und Vorgängen der
äußeren Erfahrung, denen des äußeren Raumes handelt, sie be¬
schreibt und kausal erklärt, so hat die Psychologie im Bewußt¬
seinsfeld die analogen Aufgaben für die Ideen und Ideengebilde.
Die neue, vielbewunderte Naturwissenschaft war zum Proto-
10 typ echter Wissenschaft überhaupt geworden, und das wirkte
sich auch in der Weise aus, daß man wie selbstverständlich nun
auch den Typus der raum-dinglichen Realität zum Prototyp jeder,
auch der seelischen Realität nahm. Das war schon die Quelle des
Cartesianischen Dualismus, des H o b b e s’schen Mate-
15 rialismus, des Spinozistischen Parallelismus gewesen
und hatte bei Locke selbst zur Interpretation des Bewußt¬
seinslebens als eines akzidentellen Seins auf dem tragenden oder
gar erwirkenden Grunde einer Seelensubstanz (geführt) — in Ana¬
logie mit der materiellen Substanz, die den Komplexen sinnlicher
20 Ideen oder Eigenschaften unterzulegen sei. Aber hier liegt auch
die Quelle der Naturalisierung der Gegebenheiten der inneren
Erfahrung in der Locke’schen tabula-rasa-Auffassung des Reiches
der „Ideen”.
Übergang vom Einen zum Anderen eine Einstellungsänderung vorliegt; in der einen
Einstellung vollziehen wir den Wahrnehmungsglauben und „haben” dieses daseiende
Ding, in der anderen wird dieser Glaube inhibiert, und wir haben statt des Dinges das
„Dingphänomen”. Somit dürfen wir nicht beides äußere Erfahrung (äußere Wahrneh¬
mung und ihre Derivate) nennen. Selbstverständlich ist der korrekte Begriff der der
(im Glauben vollzogenen) Dingerfahrung, während der andere Begriff eine besondere
Gestalt „innerer” Erfahrung ergibt, nämlich der Erfahrung von Dingphänomenen,
und reflektiv von wahrnehmendem Meinen, Glauben von Dingen. Haben wir diese
Verwirrung aufgeklärt, so ist gleichwohl das Locke’sche Verfahren zu bezeichnen als
Reduktion aller Erkenntnisprobleme auf den Boden der inneren Erfahrung, der
reinen Ideenerfahrung oder Bewußtseinserfahrung: all das in dem rechten Sinn ver¬
standen. Natürlich dürfen dann unter dem Titel sinnliche Ideen nicht immerfort
äußerlich erfahrene Dinge (ja selbst die unerfahrbaren und in angeblicher Notwendig¬
keit substruierten Substanzen) und zugleich die Dingphänomene als „Ideen” be¬
zeichnet werden. Diese radikale Vermengung geht, sich auf die Dingeigenschaften
(gegenüber Eigenschaftsphänomenen mit ihren abschattenden Empfindungsdaten
usw.) übertragend, noch heute durch die Literatur der Psychologie und Erkenntnis¬
theorie — und trotz meiner längst gegebenen Nachweisungen — hindurch.
102 ERSTE PHILOSOPHIE
<Zweites Kapitel
Kritische Erschließung der in Lockes For¬
schungen verborgenen echten und bleiben¬
den Problematik)
15. Vorlesung: <Das Problem der Immanenz und der synthetischen
Einheit im Bewußtsein.')
Wäre die seelische Realität wirklich von demselben ontolo¬
gischen Typus wie die Natur, dann müßte in der Tat die Psycho¬
logie, als Wissenschaft streng und exakt ausgeführt, ganz so aus-
sehen wie eine Naturwissenschaft. Sie müßte eine Wissenschaft
5 rein induktiver Zusammenhänge sein, und eine von Grund aus
andere Art, sich mit den induktiven nur verflechtender Zusam¬
menhänge und demgemäß eine wesentlich andersartige Methode
psychologischer Forschung und Theorie müßte prinzipiell ausge¬
schlossen sein. Dieser von der Vorbildlichkeit der Naturwissen-
10 schaft empfohlene Typus einer rein naturalistischen, rein induk¬
tiven Psychologie erhielt nun eine besondere Prägung, nachdem
Locke die tabula rasa der inneren Erfahrung als das notwendig
erste Erkenntnisfeld der Psychologie und Erkenntnistheorie her¬
ausgestellt zu haben schien, als das selbstverständliche Grund-
15 feld, auf dem alle Deskriptionen und induktiven Theoretisierun-
gen zu bauen hätten. Freilich, Locke selbst, der überhaupt nicht
der Mann rücksichtsloser Konsequenz war, hat eine solche Psy¬
chologie und Erkenntnistheorie nicht durchgeführt. Das hat erst
H u m e getan, und wir werden hören, was das philosophisch
20 bedeutete und daß es nichts geringeres war als das Ende aller
Philosophie und Wissenschaft selbst: mit einem Worte, ein von
Grund aus widersinniger Skeptizismus, merkwürdig nur durch
seinen völlig neuen historischen Stil. In Lockes Werk liegt
nur sozusagen der Anfang von diesem Ende, zunächst ganz un-
25 schuldig aussehend, aber durch seine tiefer Denkenden empfind¬
lichen Unausgeglichenheiten zu neuen Gestaltungen forttreibend.
Die innere Erfahrung befaßt für Locke die Gesamtheit der un¬
mittelbaren Gegebenheiten, die das Ich, der „Geist” jeweils hat.
Selbstverständlich sind diese Gegebenheiten reale Vorkommnisse
30 im Rahmen der Subjektivität, ganz so wie die Gegebenheiten der
äußeren Erfahrung reale Ereignisse in der äußeren Natur. Aber
diese Parallelisierung hat ihre Tücken, die schon in den Locke’-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 103
sehen Deskriptionen fühlbar werden. Verschiedene Blickrich¬
tungen kommen hier in Frage. Einerseits die Ich seite der
tabula rasa: wenn diese das Feld der inneren Erfahrung ist, so ist
sie doch Feld des erfahrenden Ich, und das innere Erfahren ist
5 das Bewußthaben des Ich von den Vorkommnissen dieses
Feldes.
Ferner: das Ich hat nicht nur Bewußtes als innerlich Er¬
fahrenes, es wird auch von diesem, es wird von den Zeichen auf
der Bewußtseinstafel affiziert, und reagierend übt es auch
10 Tätigkeiten, es expliziert Eigenschaften, es macht sich klar, es
holt dunkel Erinnertes zu Tage, es kolligiert, vergleicht, bezieht
usw. Locke in seiner Redlichkeit gibt Gesehenes niemals ganz
preis, er macht daher selbst die Tätigkeiten des „Geistes” geltend,
und auch dies, daß diese Tätigkeiten nicht nur überhaupt statt-
15 haben sondern dem „Geiste” auch unmittelbar bewußt werden,
also als Ideen selbst wieder auf der Bewußtseinstafel eingezeich¬
net sind. Aber wie steht es bei all dem mit dem Ich, von dem
hierbei implizite beständig die Rede ist, und bei der Beschreibung
der inneren Erfahrung immer die Rede sein muß ? Locke spricht
20 von ihm, oder, wie er sagt, vom Geiste, fast so, als ob vor der
Bewußtseinstafel ein Mensch stünde, der sich mit den Zeichen
zu schaffen machte — was doch fühlbar ein Unsinn ist —, und im
übrigen interpretiert er es als unerkennbare Substanz. Bald
nennt er es eine Idee und bald leugnet er, daß es eine Idee sei.
25 Das letztere ist seine eigentliche Meinung, und ist nach ihm das
Feld der Ideen (der eigentlichen Ideen) der Bereich möglichen
Wissens, so reduziert sich das Ich auf den Komplex von Bewußt¬
seinserlebnissen wie anders das Ding auf den Komplex der „Ei¬
genschaften” oder, in der uns bekannten Verwechslung, auf den
30 Komplex sinnlicher Ideen. Aber das ist unbehaglich; denn das
Ich als Subjekt der Tätigkeiten und als Wahrnehmendes hin¬
sichtlich aller Ideen ist nicht wegzuleugnen, so, wie nicht das
identische Ding der wechselnden sinnlichen Komplexe. In letzter
Hinsicht erscheint zudem die fühlbare Schwierigkeit, daß Ideen-
35 komplexe überhaupt, auch die sinnlichen, doch innerhalb der
Subjektivität liegen.
Descartes hatte bekanntlich nicht nur auf die Evidenz
der cogitatio sondern auch auf die des ego der cogitatio Wert ge¬
legt — und auf die letztere Evidenz sogar den Hauptnachdruck
104 ERSTE PHILOSOPHIE
gelegt. Aber als was ist dieses ego, und wie ist es gegeben ?
Ist es eine metaphysische substantia cogitansl Ist es, im Sinne
Lockes gesprochen, ein Jene sais quoi, ein Etwas, das wir not¬
wendig zu den Erlebnissen des inneren Bewußtseins, zu denen
5 der tabula rasa, hinzudenken, hinzupostulieren müssen, so, wie
zu den Daten der äußeren Dingerfahrung, nach der Parallele der
Locke'sehen Lehre, das unerkennbare materielle Substrat ? Aber
ist es nicht unmittelbar evident, daß ich, reflektierend auf meine
Akt-Erlebnisse des gewahrenden Wahrnehmens, des Urteilens,
10 des Wertens, des Wollens, sie nie und nimmer als ichlose Tat¬
sachen finde, sondern notwendig in der allgemeinen Form ego
cogitol Untrennbar und ganz unmittelbar finde ich an oder in
ihnen das überall identische Bewußtseins-Ich. Jedes solche Akt¬
erlebnis ist, wenn ich es als Akt des Ich erschaue, seinerseits
15 Thema eines reflektiven Aktes, und nun abermals reflektierend,
erkenne ich es als Akterlebnis des Ich, identisch desselben, das in
ihm vollziehendes ist. Ja, und nun in vollster Allgemeinheit: jedes
beliebige Bewußtseinserlebnis, auch ein solches, das nicht Akt
des Ich ist, ist in eben dieser Weise mein Erlebnis; z.B. erkenne
20 ich das Hören einer Melodie, auf das ich während desselben nicht
in einem gewahrenden Akte gerichtet war und dessen ich hin¬
terher als ungewahrendes Hörens (bzw. der Melodie als unge-
wahrter Melodie) in einem rückschauenden Erschauen innewerde,
in ähnlicher Weise in evidenter Reflexion als mein Erlebnis, und
25 im synthetischen Vollzug solcher Reflexionen als desselben Ich
aller Erlebnisse, die ich die meinen je nenne und je soll nennen
können, die ich so nur nennen kann auf Grund solcher Reflexionen
und Synthesen, unter steter evidenter Identifizierung des einen
und selben Ich, des, der ich bin. Warum, frage ich, wird all das
30 nicht als Grundtatsache ausgesprochen innerhalb der Deskrip¬
tionen innerer Erfahrung, warum wird nicht gesagt: im Reich
des inneren Bewußtseins finde ich vielerlei wechselnde Erlebnisse,
aber jedes als das meines Ich, und dieses Ich ist in absoluter
Identität —?
35 Freilich, dieses Ich in seiner absoluten Identität macht Schwie¬
rigkeiten. Man mochte es mit der wohlbekannten Person, Ich,
der ich mich doch aus der Erfahrung meines Lebens kenne, iden¬
tifizieren. Aber von einer absoluten Evidenz hinsichtlich meiner
Charaktereigenschaften, welche die personale Realität bestim-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 105
men, ist doch keine Rede. Gleichwohl, ist es nicht ganz korrekt
von Descartes, für das reine ego, als das des reinen cogito, die
stärkste aller Evidenzen zu beanspruchen ? Es ist also keineswegs
eine leere und gar metaphysische Substruktion, obschon ich in-
5 nerhalb der absoluten Evidenz fast nichts von ihm aussagen
kann, ausgenommen das eine, daß es allen erdenklichen Erleb¬
nissen, die ich die meinen soll nennen können, als unverlierbarer
und numerisch identischer Subjektpol zugehört. Aber ja nicht
als Teil; jeder Teil eines Erlebnisses verschwindet mit ihm selbst,
10 und kein neues Erlebnis kann einen Teil mit dem vorigen reell
identisch haben.
Ist man von vornherein naturalistisch präokkupiert, also nur
auf Analoga äußeren Seins eingestellt und, wenn nicht auf innere
Dinge, da von verharrenden Dingen hier ja von vornherein keine
15 Rede sein kann, so doch auf Analoga realer Ereignisse gerichtet,
so ist freilich mit dem ,,reinen Ich” nicht viel anzufangen. Man
kann doch nicht die Erlebnisse naturalisieren und ihnen einen
solchen naturalen Nonsens wie ein numerisch identisches Ich
einlegen, ein absolut Identisches, das zu allem evident gehört
20 und doch kein Reales, kein realer Teil, kein realer Annex selbst
ist. Wir verstehen hier den Grund, warum alle unter dem natura¬
listischen Vorurteil stehende Psychologie — und das betrifft fast
die gesamte der Neuzeit — blind wird für das reine Ich; warum
sie blind werden muß, wenn die Seele rein natural als eine der
25 physischen parallele Realität und wenn die Sphäre des inneren
Bewußtseins als ein Feld realer Erlebnisse gedacht werden soll.
Locke selbst ist noch nicht geradezu ichblind, aber weiß mit
dem Ich nichts anzufangen. Hatte er die naturalistische Denk¬
richtung eingeschlagen und hielt er doch am Ich fest, so gab das
30 eine Spannung unverträglicher Motive, die aufgehoben werden
mußte. Wenn der Naturalismus bestimmend blieb, mußte es in
der weiteren Entwicklung der naturalistischen Doktrinen zur
Ausschaltung des Ich bzw. der ihm substruierten seelischen Sub¬
stanz kommen.
35 Noch in anderen Beziehungen zeigte sich die Verkehrtheit der
Naturalisierung des Bewußtseins und verwickelte in widersinnige
Auffassungen und Theorien, deren Widersinn im Medium der all¬
gemeinen Unklarheit zwar keine Enthüllung finden konnte, aber
als innere Spannung empfindlich wurde.
106 ERSTE PHILOSOPHIE
Hier ist zunächst auszuführen, daß die Naturalisierung des
Bewußtseins nicht nur für das Ich sondern für alles, was dem
Bewußtsein als Bewußtsein wesenseigen ist, blind macht. Wie
Bewußtsein nicht denkbar ist ohne Ich, ist es auch nicht denkbar
5 ohne irgendetwas, ohne irgendwelche „Gegenständlichkeit”, die
in ihm bewußte ist. Also keine Deskription, geschweige denn
höhere Theoretisierung des Bewußtseins ist möglich, die nicht
das Ich und das in ihm Bewußte als Bewußtes dieses Bewußtseins
mitbeschreibt und mittheoretisiert. Bewußtsein „bezieht sich”,
10 so ist eine natürliche und übliche Ausdrucks weise, auf irgend¬
welche Gegenständlichkeit, und dabei bezeichnet das Wort „Be¬
wußtsein” Erlebnisse, wie irgendeine Wahrnehmung von etwas,
eine Erinnerung an etwas, das Erleben eines Zeichens als Zeichens
von etwas, eines Gefallens als Gefallens an etwas usw. Handelt
15 es sich um Ich-Akte, wie: ich gewahre und nehme Kenntnis von
etwas Gegenwärtigem, oder, ich nehme mich erinnernd und dem
Erinnerten erfassend zugewandt Kenntnis von einem Vergan¬
genen usw., so heißt es im besonderen Sinn: ich beziehe mich auf
das betreffende Gegenständliche, oder auch, ich bin darauf ge-
20 richtet; Ich dritter Person: das jeweilige Ich bezieht oder richtet
sich, während andererseits das Akterlebnis selbst immer noch in
seiner Weise auf das entsprechende Etwas bezogen heißt. Diese
Beziehung, die nach Brentano als intentionale bezeichnet
wird (und wonach auch die Erlebnisse von mir „intentionale Er-
25 lebnisse” genannt wurden), hat einen wesentlich anderen Sinn als
die sonstigen Beziehungen, die wir sei es Gegenständen unter¬
einander, sei es dem Ich oder dem jeweiligen Bewußtsein zu
irgendwelchen Gegenständen zuschreiben. Das Objekt der inten¬
tionalen Beziehung als derjenigen, die rein im Akte, im inten-
30 tionalen Erleben selbst beschlossen ist, ist das bloße intentionale
Objekt, das immanente, wie es Brentano im Anschluß an die
Scholastik auch einführt. Es ist das im Akt Vermeinte rein a 1 s
Vermeintes, ohne Frage und Entscheidung darüber, ob es in
Wahrheit, ob es „wirklich” sei oder nicht. Wo wir schlechthin,
35 im normalen und modifizierten Sinn, eine Beziehungsaussage
machen, da erhebt sie ihrem eigenen Sinn gemäß den Anspruch,
Seiendes zu Seiendem in Beziehung zu setzen, und die Beziehung
selbst ist hingestellt, behauptet als Beziehung zwischen wirklich
seienden Gegenständen (gleichgültig ob es reale oder ideale sind).
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 107
Für die im Akte selbst liegende Beziehung auf sein Objekt steht
es damit, wie wir sehen, anders; der Gegenstand, auf den er sich
bezieht, ist und bleibt sein Gegenstand, wie immer es mit dessen
wahrem Sein stehen mag. Allerdings beziehe ich mich wahmeh-
5 mend auf irgendein Objekt meiner Umwelt, etwa auf diesen Baum
dort am Bach, und sage ich danach aus: ich sehe diesen Baum,
so ist freilich im normalen Sinn solcher Rede gelegen, daß der
Baum in Wahrheit dort sei, während er andererseits zugleich
als in diesem Wahrnehmen Wahrgenommener gemeint ist. Hier
10 haben wir also eine normale Beziehungsaussage, in der zugleich
eine intentionale Beziehung miteingeschlossen und mitausgesagt
ist. Stellen wir aber die Existenz des Baumes in Frage oder ent¬
halten wir uns willkürlich jeder Stellungnahme in Bezug aufseine
Existenz, so ändert das nichts daran, daß das Wahmehmungser-
15 lebnis in sich selbst Wahrnehmung von ,,diesem Baum” ist, und
es bleibt, was es ist, Wahrnehmung von demselben, in sich selbst
auf seinen immanenten Gegenstand bezogen, auch wenn sich
nachträglich herausstellte, daß diese Wahrnehmung als Illusion
zu bewerten sei. Um der Deutlichkeit willen werden wir danach
20 guttun, zu scheiden: den immanenten Gegenstand des jeweiligen
Bewußtseins (den immanenten intentionalen), als den in der
Immanenz dieses Bewußtseins bewußten als solchen, und den
Gegenstand schlechthin, als den in der normalen Aussage als Sub¬
stratgegenstand (als das Worüber) Ausgesagten, ausgesagt also
25 mit dem Sinn, daß er in Wahrheit sei. Sind wir <im) Seinsglauben,
gilt er uns als wirklich Seiender — wie, wenn wir schlicht er¬
fahrend ,,den” Baum, diesen dort, gegeben haben —, dann sagen
wir in normaler Einstellung und Rede schlechthin aus: „dieser
Baum..und jede solche Aussage meint dann selbstverständ-
30 lieh den Baum als wirklichen.
Es bedarf also einer Änderung der Einstellung, des Vollzuges
einer Sinnesmodifikation, um den in der puren Immanenz des
Erlebnisses selbst „vermeinten Gegenstand als solchen” — „un¬
angesehen der Existenz oder Nichtexistenz” —, also unter Ent-
35 haltung von jeder Stellungnahme zu ihm erkenntlich zu machen.1)
Durch diese sehr notwendigen Klärungen versteht sich erst der
rechte Sinn dessen, was als Bewußtseinsgegenständlichkeit (als
immanent intentionale) von jedem Bewußtsein unabtrennbar ist.
*) Vgl. Beilage XIII, S. 349 f. — Anm. d. Hrsg.
108 ERSTE PHILOSOPHIE
und so versteht sich auch der Sinn einer rein immanen¬
ten Deskription. Er wird überschritten und aufgehoben,
wenn das jeweilig Vermeinte nicht genau so, wie es in dem be¬
treffenden Bewußtsein an und für sich Vermeintes ist, beschrie-
5 ben wird, wie, wenn wir, in die natürliche Einstellung — in der
wir unser ganzes Wissen für das Aussagen bestimmend werden
lassen — zurückfallend, in die Beschreibung des intentionalen
Gegenstandes solche Merkmale einbeziehen, die eben aus ander¬
weitigen Überzeugungen, aus unserem sonstigen, übrigens noch
10 so berechtigten Wissen herstammen.
„Trägt” jedes Bewußtseinserlebnis seinen immanenten Gegen¬
stand in sich, so ist nun auch zu beachten, daß dieses In-sich-
tragen nicht den Sinn einer reellen Immanenz haben kann, als
ob der immanent intentionale Gegenstand seinem Bewußtsein
15 als reales Stück, als reales Moment, als Teil einwohnte. Esso an¬
zusehen, wäre offenbar Widersinn; z.B. die Vergangenheit, deren
wir uns entsinnen, ist im Erinnern selbst, wie wir schon sagten,
erinnerte Vergangenheit, die Zukunft, die wir erwarten, im Erwar¬
ten selbst vorausgesehene Zukunft: aber so wenig <wie> die wirk-
20 liehe Vergangenheit oder Zukunft ist die „vermeinte als solche”,
die „immanent intentionale”, in dem gegenwärtigen Erleben
reelles Bestandstück. Reelles Stück des Erlebnisses als Datums
des immanenten Zeitstromes ist jede selbst immanente zeitliche
Komponente des Erlebnis Vorganges. Aber die mannigfaltigen
25 Erinnerungen oder Erwartungen, in denen wir uns desselben
wiedererinnem oder dasselbe vorerwarten, sind in der immanenten
Zeitlichkeit getrennte Erlebnisse und können kein Stück gemein¬
haben. Das belegt sich an beliebigen anderen Beispielen. Z.B.
der Bewußtseinsakt, den wir Erinnerung nennen, ist in sich selbst
30 Bewußtsein der und der erinnerten Vergangenheit; ebenso das
Bewußtsein, das wir äußeres Wahmehmen nennen, in sich selbst
Bewußtsein von dem wahrgenommenen Äußeren. So überall.
Diese wesensmäßig unabtrennbare Immanenz ist also keine
reelle Immanenz, kein reelles Enthaltensein; es so anzusehen,
35 wäre evidenter Widersinn. Das schließt nicht aus, daß Bewußt¬
sein auch nach seinen reellen Stücken, seinen Teilen, befragt und
beschrieben werden kann. Offenbar hat ja z.B. ein prädikatives
Urteil seine abgesetzten Schritte und Stücke, als innere Zeitvor¬
gänge, seine Subjektsetzung, seine darauf bezogene Prädikatset-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 109
zung usw. Ebenso können sich auch gesonderte Bewußtseinser¬
lebnisse zu einem Ganzen verbinden, reell verbinden. Ande¬
rerseits aber muß eben gesehen werden, daß Verbindung von
Bewußtsein mit Bewußtsein auch für die intentionale Gegen-
5 ständlichkeit etwas bedeutet, und als Verbindung von Bewußt¬
sein eine Leistung vollzieht, die im Naturalen ohne Analogie sein
muß. Diese Leistung besteht darin, daß sie als ,,Synthesis” eine
einheitliche intentionale Gegenständlichkeit herstellt, die für das
verbundene Bewußtsein als ein Bewußtsein die seine ist. Doch
10 legen wir vielleicht besser noch den Ton auf dieses letztere, näm¬
lich daß Bewußtsein und Bewußtsein sich nicht nur überhaupt
verbindet sondern sich — eine an sich merkwürdige Eigenheit —
zu einem Bewußtsein verbindet, das als solches seine im¬
manente Gegenständlichkeit hat; diese Gegenständlichkeit der
15 Synthesis hat dann notwendige Fundierung in denen der ver¬
knüpften Bewußtseinserlebnisse. Synthesis wie eine Art reeller
Verknüpfung behandeln (etwa in moderner Weise ihr mit reellen
Verbindungsformen — „Gestaltqualitäten” — genügtem wollen),
das heißt für das Eigentümliche des Bewußtseins blind sein und
20 in Widersinn verfallen.
In Zusammenhang damit muß ferner gesehen werden, daß be¬
wußtseinsmäßige Identität eines Gegenstandes, eben das, was
die Rede von einem Gegenstände begründet, auf eine
Synthesis zurückweist, in der mannigfaltiges Bewußtsein, z.B.
25 verschiedene und vielfältige Wahrnehmungen, sich synthetisch
verknüpfen zu einem Bewußtsein von dem Einen und selbigen
Gegenstände, wobei dieses „Eins und dasselbe” selbst bewußt¬
seinsmäßig mit da, selbst intentional ist. Und wieder muß gese¬
hen werden, daß parallel mit derjenigen beständig waltenden
30 Art der Synthesis, die Einheit und Selbigkeit dieses oder jenes,
und so überhaupt Gegenstände, als Gegenstände für das
Ich, bewußtmacht, umgekehrt das Ich selbst der Index einer
universalen Synthesis ist, durch die all das unendlich
mannigfaltige Bewußtsein, das das meine ist, eine universale
35 Einheit hat, nicht die gegenständliche, sondern die ichliche;
bzw. es muß gesehen werden, daß durch diese Art der Synthesis
das „stehende und bleibende Ich” dieses Bewußtseinslebens im¬
merfort konstituiert und bewußtgemacht ist.
110 ERSTE PHILOSOPHIE
16. Vorlesung: <Die Irrealität der immanenten Gehalte der Bewußt¬
seinssynthesis in ihrer Ich-Gegenstand-Polarisierung und das Problem
der Inter Subjektivität. Bemerkungen zu Berkeleys Kritik an Locke. >
Diese doppelte Polarisierung unter den Titeln Ich und G e-
genstand, die alles Bewußtseinsleben als solches in abso¬
luter Notwendigkeit hat, ist von einer Art, daß ihr Analoges in
einer Naturrealität zu denken Widersinn wäre. Reales hat reale
5 Bestandstücke, reale Teile und Momente, reale Verbindungsfor¬
men. Aber Bewußtseinssynthesis hat in Form dieser Pole imma¬
nente Gehalte, die irreal sind. Wenn man überhaupt ange¬
fangen hat, hier zu sehen, angefangen hat, zu erkennen, daß
diese Irrealitäten als unabtrennbare Beschlossenheiten des Be-
10 wußtseins mitbeschrieben werden müssen, und zwar in all den
wechselnden Modis, in welchen sie zu dem jeweiligen Bewußtsein
gehören, so öffnen sich wahre Unendlichkeiten deskriptiver Ar¬
beit.
Vor allem wird man dann aufmerksam auf die Mannigfaltig-
15 keiten möglicher Reflexionsrichtungen, mit denen auch erst klar
hervortritt, daß Bewußthaben von etwas, z.B. Wahrnehmen
eines Wahrgenommenen, Erwarten eines Erwarteten, Urteilen
eines Geurteilten u.dgl., nicht ein Leeres oder deskriptiv Arm¬
seliges ist gegenüber dem darin Bewußten und allenfalls nur
20 qualitative Unterschiede hat; als ob z.B. Wahmehmen und Er¬
innern sich nur durch eine unsagbare „Qualität der Bewußt¬
heit” unterschieden.
Es sind vielmehr höchst komplizierte Bewußtseinsweisen, in
sehr verschiedenen Dimensionen sich abwandelnd und immer
25 neue intentionale Leistungen vollziehend, die schon unter jedem
einzelnen dieser grob bezeichnenden Namen stehen, wie Wahr¬
nehmen und spezieller noch Ding-Wahmehmen oder Sich-erin-
nern, Erwarten, Urteilen, Begreifen, aber auch Werten, Wün¬
schen, Wollen usw. Niemals ist Bewußtsein, und sei es das schein -
30 bar schlichteste Wahrnehmen oder ohne jedes Darauf-achthaben
Bewußthaben, ein leeres Haben von etwas, als ob das Subjekt
hierbei seine intentionalen Gegenstände wie in einer Tasche eben
bloß darinhätte.
Es fällt aber Locke und seinen Nachfolgern gar nicht ein,
35 dieses Haben einmal ernstlich in Augenschein zu nehmen und es
als <das>, was es wesenhaft ist, wirklich zu beschreiben. Daß der
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 111
Naturforscher, wenn er Erfahrungen vollzieht, ganz ausschlie߬
lich auf die darin erfahrenen Dinge und Vorgänge hinsieht und
sie nimmt, wie er sie erfahrend hat, und dann nur darauf aus¬
geht, dieses Gehabte beschreibend und erklärend zu theoreti-
5 sieren, ist verständlich. Es ist ein wesentliches Stück naturwissen¬
schaftlicher Methode, ausschließlich auf Objektivität gerichtet zu
sein. Dazu gehört es, das Subjektive außer Frage, und selbst
absichtlich außer Spiel zu lassen. Aber für den Psychologen und
Erkenntnistheoretiker ist doch alles Subjektive mit zum Thema
10 gehörig; und somit ist das subjektive Haben von Objektivem
nicht etwas für ihn zu Mißachtendes. Es ist selbst etwas, aber
von ihm ist das Gehabte als solches untrennbar, nach seinem
eigenen Wesen zu beschreiben.
Betrachten wir irgendein intentionales Erlebnis, wie etwa ein
15 schlichtes äußeres Erfahren, so zeigt die reflektive Betrachtung,
daß da vielerlei zu sehen ist; wieviel schon an dem bloßen Sehen
eines Dinges als solchem! — die unendlich wechselnden subjek¬
tiven Anblicke des Gegenstandes, die doch nichts in der Natur,
im Raume selbst sind, sondern eben subjektive Anblicke von
20 dem Ding. Das wahmehmungsmäßig vermeinte Ding kann gar
nicht anders wahmehmungsmäßig bewußt sein, wie ich früher
schon einmal erwähnte, ohne irgendwie auszusehen; und damit
ist schon ein Thema reichhaltiger Beschreibungen angedeutet.
Solcher Themen subjektiver Deskriptionen gibt es nicht nur bei
25 der Dingwahmehmung sehr vielfältige. Es zeigt sich ein gleiches
für jedes Bewußtsein. Auch jenes universale Bewußthaben, durch
das alles einzelne Erleben seinerseits bewußt ist, das sogenannte
„innere” Bewußtsein, ist ein wahrer Wunderbau feinster inten¬
tionaler Strukturen, obschon freilich tief verborgener.
30 Um keine Verwirrungen aufkommen zu lassen, möchte ich hier
darauf aufmerksam machen, daß der Begriff des Bewußtseins
ein vieldeutiger ist, somit als Thema der hier fraglichen Analysen
Verschiedenes besagen kann, nämlich 1) das universale Bewußt¬
sein des Ich, dasjenige, in dem das Ich alles und jedes, was für
35 es in irgendeinem Sinn vorhanden und erfaßbar ist, bewußt hat,
in dem es dies alles in die universale Einheit eines Blickfeldes
befaßt: Äußeres und Inneres, Nicht-ichliches und Ichliches, in¬
tentionale Einzelerlebnisse verschiedenster Stufen und ihre reel¬
len und ideellen Gehalte; 2) das Bewußtsein im eigentlich Carte-
112 ERSTE PHILOSOPHIE
sianischen Sinn, also das durch das ego cogito der cartesianischen
Evidenz bezeichnete. Hier ist das transzendente Sein, etwa die
physische Natur, nicht als Wirlichkeit gesetzt und <als> seiend
hingenommen, vielmehr in künstlicher Weise außer Geltung ge-
5 lassen; 3) die intentionalen Erlebnisse, die da einzeln als Wahr¬
nehmungen, Wünsche, Wollungen usw. im cartesianischen Feld
auftreten.
Die Seelen-Blindheit für das eigentümliche Wesen des Be¬
wußtseins in allen diesen universalen und einzelnen Gestalten
10 zeigt sich für jeden, der einmal echte Beschreibungen kennen-
gelemt hat, darin, daß die Locke’schen Beschreibungen wie
die seiner Nachfolger es nicht einmal zu einer korrekten reellen
Analyse und Beschreibung bringen konnten, nämlich der nach
reellen Teilen und Verbindungen, weil sie die intentionalen Be-
15 schlossenheiten, die natürlich unabtrennbar mit da und in ge¬
wisser Weise notwendig gesehen sind, immer wieder als reelle
Beschlossenheiten mißdeuten. Durch solche Mißdeutung ent¬
springen dann grundverkehrte Probleme, welche die Jahrhun¬
derte hoffnungslos bemühen. Grundirrtümer dieser Art liegen in
20 einer ganz anderen Linie als diejenigen dogmatischer Präsuppo-
sitionen, denen gemäß z.B. eine objektive Welt und psychophy¬
sische Kausalitäten in erkenntnistheoretischen Untersuchungen
vorausgesetzt werden, die ihre Möglichkeit allererst verständ¬
lich machen sollten — obschon sich übrigens die eine und <andere>
25 Art der Mißdeutung wechselseitig fordern und in den Theorien
innig verbinden.
Um das Gesagte an einem Beispiel zu verdeutlichen, weise ich
auf die allbekannt und allherrschend gewordene Locke’sche
Lehre von den primären und sekundären Qualitäten hin. Die
30 äußere Erfahrung, als ein immanentes Erlebnis, also als Datum
der inneren Erfahrung betrachtet, ist Erfahrung von Dingen, von
Pflanzen, Himmelskörpern usw. Aber diese Dinge sind, sagt man
sich, nicht selbst in der äußeren Erfahrung, in dem subjektiven
Erlebnis. Also selbstverständlich, was wir innerlich haben, ist ein
35 inneres Wahrnehmungsbild, dem das äußere Ding nur mehr oder
minder vollkommen entspricht. Die uralte kindliche Bildertheorie
wird also aus dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit in die
Lehre von der inneren Erfahrung hineingenommen. Nach der
Locke sehen Interpretation der neuen Naturwissenschaft und
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 113
derjenigen der Naturwissenschaftler selbst ist das innere Wahr¬
nehmungsbild ein Gemisch von eigentlichem Bild und von kau¬
salem Anzeichen; das erstere hinsichtlich der sogenannten pri¬
mären oder ursprünglichen Qualitäten der in der äußeren Wahr-
5 nehmung sinnenanschaulich erscheinenden Gegenstände: die ge¬
sehene Ausdehnung ist wirklich als inneres Bild und ist wirklich
Bild, sofern ein Analogon der Ausdehnung an den äußeren Din¬
gen selbst ist. Nach naturwissenschaftlicher Lehre sind sie ja an
sich selbst ausgedehnt. Ebenso ist es mit der Größe, Gestalt,
10 Lage, Bewegung, Zahl u.dgl. Dagegen die spezifischen Sinnes¬
qualitäten, die sogenannten „sekundären”, „abgeleiteten”, sind
ohne Analogie mit irgendwelchen Qualitäten der Naturdinge
selbst, diese haben keine visuellen, akustischen usw. Eigenschaf¬
ten; in der Natur selbst sind gewisse BewegungsVorgänge, sind
15 überhaupt gewisse ausschließlich mit primären Qualitäten, mit
mathematisch-mechanischen, ausgestattete Dinge, und diese sind
nun durch solche Eigenschaften und ihnen zugehörige Kausali¬
täten die erklärenden Ursachen für die in unserem Wahmeh-
mungsbilde aufweisbaren Empfindungstöne, Empfindungsfar-
20 ben usw.
Es ist merkwürdig, daß der vollendete Widersinn dieser Lehre
ihrer fast allgemeinen Geltung so wenig geschadet hat; Ber¬
keley hat ihn zuerst erkannt, aber auch nur unvollkommen
klarlegen können; einen partiellen Widersinn der Lehre hat er
25 unwiderleglich herausgestellt, nämlich durch den Hinweis auf
die Undenkbarkeit einer Ausdehnung ohne irgendwelche spezi¬
fische sinnliche Qualifizierung, also überhaupt von primären
Qualitäten ohne sekundäre. Aber Letztklärendes konnte er, der
Schüler des Locke’schen immanenten Naturalismus, nicht sagen.
30 Er sagt zwar noch weiteres Gute, mit seinem genialen Blick er¬
schaut er auch den Widersinn der Locke’schen Lehre von der
äußeren Existenz und den eines jeden Kausalschlusses, der in
das Transzendent-Physische führt. Das innere Wahmehmungs-
bild des äußeren Dinges soll nach Locke ein assoziativer Kom-
35 plex von Sinnesdaten der verschiedenen Sinne sein, die von den
äußeren Naturdingen kausal herstammen. Der Geist kann nicht
anders, als solch einem assoziativen Komplex ein Je ne sais quoi
als „Träger” unterlegen, wobei ein Kausalschluß von der Wirkung
auf eine transzendente Ursache seine Rolle spielt. Vortrefflich
Husserliana VII 8
114 ERSTE PHILOSOPHIE
wendet Berkeley ein, ein solcher Schluß sei unausweisbar und
unausdenkbar. Nämlich auf dem Grunde der nach Locke einzig
unmittelbaren Gegebenheiten, derjenigen der tabula rasa, zu der
alle sinnlichen Daten gehören, ist es wohl verständlich, wie von
5 gegebenen psychischen Daten assoziativ-induktiv auf neue Da¬
ten, von gegebenen sinnlichen Komplexen auf neue Komplexe
geschlossen wird; oder auch, wie geschlossen wird von einer
sinnlich erfahrenen Leiblichkeit auf ein nicht erfahrenes fremdes
Seelenleben — nach Analogie der erfahrenen Einheit von eigener
10 Leiblichkeit und eigenem Psychischem. Aber sinnlos ist ein
Schluß auf ein Je ne sais quoi, ein prinzipiell Unerfahrbares, wo¬
für in der eigenen immanenten Sphäre jedes Analogon fehlt. So
sehr Berkeley mit dem Hauptzuge solcher Gedanken auf dem
guten Wege war, eine wirkliche Aufklärung und eine Theorie der
15 intentionalen Konstitution der Äußerlichkeit in der Innerlich¬
keit konnte er nicht geben, da er selbst für die Intentiona¬
lität ebenso blind war wie Locke und daher eine intentionale
Problemlage auch nicht enthüllen konnte.
Zunächst wird man sich doch darüber wundem müssen, daß
20 Locke und die mit ihm gleich interpretierenden Naturwissen¬
schaftler so wenig Anstoß an der Verdoppelung, ja Vertausend-
fachung der Welt nahmen. Einerseits hätten wir die sogenannte
Natur selbst, das angebliche Urbild, andererseits hätten wir in
jedem Subjekt ein eigenes System von Wahmehmungsbildem,
25 das aber, mit einigem Unterschiede von der Natur, selbst doch
ebenfalls eine Natur, eine reale Welt für sich wäre. Und zudem
hätten wir die Kuriosität, daß die Subjekte als Menschensub¬
jekte zugleich durch ihre Leiber Glieder der objektiven Welt sein
sollen, so daß die subjektiven Welten in die sogenannte objektive
30 Welt zugleich eingeflochten wären. Man mag einwenden, es seien
nicht Welten, sondern nur Bilder von Welten, und es seien
eigentlich nur assoziative Empfindungskomplexe in den einzel¬
nen Subjekten; assoziative Komplexe aber seien keine Dinge.
Ganz wohl, antworte ich, aber wodurch sollen sich denn die Dinge
35 von den assoziativen Komplexen unterscheiden? Nimmt man
Lockes Lehre an, dann müßte man doch sagen: müssen wir uns
zu den allein gegebenen inneren Komplexen von Empfindungs¬
daten als Ursachen äußere Komplexe, Analoga jener inneren
denken, und ist es wahr, daß wir einen solchen wahren äußeren
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 115
Komplex nicht denken können ohne eine tragende Substanz,
warum müssen wir dann für den inneren Komplex, der doch
prinzipiell von gleicher Art ist, nicht auch eine innere Substanz
denken? So wären also in der Tat und unabweisbar die inneren
5 Gesamtbilder nichts anderes als innere Dinge, in denen sich
äußere abbilden.
Und dasselbe wird doch wohl gelten müssen für jede andere Art,
in der wir die transzendente Natur denken mögen, also auch, wenn
wir das Je ne sais quoi Lockes preisgeben. Es wird gelten müs-
10 sen, wenn wir eben dabei bleiben, eine wenn auch nur unvollkom¬
mene Bildartigkeit von Innensein und Außensein anzunehmen,
Hat nicht Berkeley prinzipiell recht, zu sagen: Empfindungen
analog können nur Empfindungen sein, Analoga von assoziativen
Empfindungskomplexen sind notwendig selbst wieder assoziative
15 Empfindungskomplexe, und Empfindungen sind undenkbar ohne
eine empfindende Subjektivität —? So hätten wir die Zahl der
Subjekte nur um ein weiteres vermehrt, als Korrelat zugehörig
der sogenannten objektiven Natur, ohne daß wir den Sinn des
Vorzuges der angeblich urbildlichen Objektivität gerade dieses
20 einen Komplexes ,,objektive Natur” im mindesten verständlich
gemacht hätten. Es ist doch auch zu beachten, daß jedes Sub¬
jekt rein in sich selbst Natur erfährt, daß es also über seine so¬
genannten Bilder nie hinausgeht. Indem es Erfahrungen mit
Erfahrungen verknüpft, das Zusammenstimmen seiner Bilder
25 erlebt, m.a.W. sich von dem rechtmäßigen Dasein der Dinge, der
Natur überhaupt überzeugt, kann es offenbar nie einen Anlaß
finden, jene aus Mißverständnis entsprungenen und erfundenen
Schlüsse ins Transzendente zu unternehmen. So als einzelnes Ich
in eigener direkter Erfahrung. Die einzige Weise, die eigene Sub-
30 jektivität und selbsterfahrene Natur zu transzendieren, ist die
Einfühlung in eine andere Subjektivität, die innerlich motivierte
Setzung von analoger Geistigkeit und analogen sinnlichen „Bil¬
dern” wie den selbst erfahrenen. Aber warum nennen wir diese
dann dieselben Dinge, als welche w i r sehen, warum sprechen
35 wir von einer Natur, die wir alle sehen? So hätte Locke
überlegen und fragen müssen.
Indessen, soweit gekommen, sind wir vorbereitet genug, uns
die Sachlage selbst, die intentionale, anzusehen und die radikale
Blindheit der ta&wfo-rasa-Psychologisten zu verstehen.
116 ERSTE PHILOSOPHIE
17. Vorlesung: <Zur Frage der Konstitution der ,,Äußerlichkeit”: die
cartesianische Evidenz der Selbstgegebenheit der Dinge in der Wahrneh¬
mung. >
Haben wir schon ein Auge für die Intentionalität, für Be¬
wußtsein als Bewußtsein von etwas, gewonnen, so werden wir
unsererseits ein wenden: diese gesamten inneren Bilder und Zei¬
chen auf der tabula rasa, Bilder und Zeichen für eine transzen-
5 dente Natur, sind Erfindungen einer irregeleiteten Reflexion.
Plausibel sind sie nur in den allerersten Stufen erkenntnistheore¬
tischer Primitivität, die entweder die reine Subjektivität noch
gar nicht kennt oder mit ihr als Bewußtseinssubjektivität nichts
anzufangen weiß. Daß die Bildertheorie schon in der ältesten
10 griechischen Philosophie auf tritt, weist nur darauf hin, daß das
erste anfängerhafte Verlassen der Einstellung des natürlichen
Weltlebens mit seiner natürlichen Hingegebenheit an die erfah¬
renen Äußerlichkeiten und das erste Übergehen in eine philoso¬
phische Reflexion, die das Innen und Außen in Beziehung setzt,
15 alsbald zu solchen Konstruktionen hin drängt.
Nutzen wir aber die Cartesianische Methode der Herausstellung
der reinen cogitatio aus, die das jeweilige subjektive Erlebnis als
ein absolut evidentes ergibt und im Rahmen absoluter Evidenz
nach reellen Stücken und intentionalen Beständen zu analysieren
20 gestattet; und nutzen wir diese Methode für Erlebnisse des
Typus äußere Wahrnehmung: ist es dann nicht absolut evident,
daß, wenn ich z.B. einen Tisch, ein Haus, einen Baum sehe, ich
nicht so etwas wie subjektive Empfindungskomplexe oder so
etwas wie innere Bilder von ... oder Zeichen für einen Tisch
25 oder ein Haus usw. sehe, sondern eben den Tisch selbst, das
Haus selbst sehe ?
Gewiß, das wahrgenommene Ding könnte, obschon ich es wahr¬
nehme, ein illusionäres sein, ich unterliege vielleicht einer Täu¬
schung. Mit gutem Grunde scheide ich zwischen bloß vermeintem
50 Wahmehmungsding und wirklichem Ding. Aber wo liegt dieser
gute Grund anders als innerhalb meines erfahrenden Lebens,
desselben inneren Lebens, das ich nach seinem absolut evidenten
eigenen Bestände jederzeit in dieser Methode befragen und stu¬
dieren kann? Im eigenen Übergange von Wahrnehmung zu
35 Wahrnehmung, sofern er sich als Einheit einstimmiger Synthesis
stetig vollzieht, sage ich dann, daß das einmal als leibhaft selbst
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 117
daseiend Gesetzte, etwa dieser Tisch, als das eine und selbe sich
immerzu gibt und daß sich die setzende Intention immerfort be¬
stätigt. In anderen Fällen aber mag es sein, daß diese erfahrend-
identifizierende Setzung plötzlich einen unerwarteten Bruch
5 durch Unstimmigkeit erleidet und <(ich> ev. sehe, daß das bisher
als daseiend Wahrgenommene nun den Charakter der Nichtig¬
keit erhält, oder daß der bisher unberührte Daseinscharakter
sozusagen mit dem Nichtigkeitsstrich durchstrichen wird. So¬
lange das letztere aber nicht eingetreten ist, solange Erfahrung
10 ihre Einstimmigkeit in ihrer synthetischen Einheit bewahrt, so¬
lange ist das Wahrgenommene eben als normal Wahrgenommenes
einfach ,,daEs ist schon vorauszusehen, daß ich unter seinem
wahren Sein gar nichts anderes verstehen könnte als die aus Be¬
ständigkeit der Bewährung erwachsene Idee einer im Gang künf-
15 tiger Erfahrung nie und nimmer zu durchbrechenden Bewährung,
so daß die Erfahrung, die ich einmal von einem Ding erworben
habe, durch keine spätere Erfahrung preisgegeben werden könnte,
sondern nur durch sie ergänzt und zugleich bestätigt würde.
Evident ist jedenfalls, daß, wenn das Ding wirklich ist, das wirk-
20 liehe Ding selbst kein anderes ist als das wahrgenommene und
daß es grundverkehrt ist, zu sagen, das Wahrgenommene als
solches sei bloß ein Bild oder Zeichen für ein an sich seiendes
wahres Ding, das, als was es selbst ist, nicht in meine Wahr¬
nehmung falle.
25 Bedenken wir hier noch folgendes. Wann kann ich sagen, ich
habe in meiner Anschauung ein Analogon oder ein bloßes Bild
einer Sache und nicht die Sache selbst? Da ist zu sagen: Ein
Analogon ist ein Analogon eines anderen, etwas, was ihm gleicht,
ihm mehr oder minder ähnlich ist. Also statt einer Sache habe ich
30 eine andere, ihr mehr oder minder gleichende. Aber Bäume und
Häuser, die ich jetzt sehe, sind nicht darum, weil sie anderen
Häusern und Bäumen gleichen, für sie Analoga. Ein Analogon
ist etwas, worin sich ein anderes verähnlicht, als ein Gegebenes,
das für ein anderes Ähnliches Repräsentant, Ähnlichkeitssymbol
35 ist, hat darin nicht eine objektive Eigenschaft, sondern eine
eigentümliche Weise, in subjektivem Auffassen zu fungieren. Es
setzt also ein besonderes Bewußtsein der Analogisierung voraus,
in dem allein das Analogon seine wirkliche Sinnesstätte hat.
Und erst recht beim eigentlichen Bilde. Ein Bild ist Bild nur
118 ERSTE PHILOSOPHIE
für den, der ihm in einem eigenartigen Bewußtsein, einem ab¬
bildenden, die Bedeutung als Bild abgewinnt; bewußtseinsmäßig
muß sich mir in einem anschaulich Gegebenen oder den sich
konkret darbietenden Einzelzügen desselben ein Anderes, selbst
5 nicht Gegebenes darstellen, wie in der malerisch oder zeichne¬
risch erscheinenden Landschaft als anschaulich vorschwebender
die nicht selbst gesehene sondern sich hier nur veranschauli¬
chende abbildlich darstellt. Wahrnehmungsmäßig gegenwärtig ist
hier das Ding, das an der Wand hängt, die eingerahmte Leinwand,
10 oder das Kupferstichblatt, das auf dem Tisch liegt. Das male¬
rische Bild ist ein in eins mit dieser Wahrnehmung bewußt wer¬
dendes Fiktum und ist selbst nur für mich da vermöge eines
eigenartigen Bewußtseins, durch das in solcher Fundierung durch
Wahrnehmung das Fiktum miterscheint. Soll sich mir in diesem
15 Fiktum ein Anderes, ein Seiendes, aber nicht Gegenwärtiges,
vergegenwärtigen, so muß ich eben das entsprechende Bewußt¬
sein der abbildenden Vergegenwärtigung vollziehen, worin dem
anschaulichen Fiktum die Bedeutung und Geltung einer ver¬
gegenwärtigenden Darstellung zuteil wird.
20 Offenbar sind hier grundverschiedene Bewußtseinsweisen im
Spiele gegenüber der schlichten Wahrnehmung, von welchen,
wenn wir einfach ein Ding sehen, keine Rede sein kann. Und
ebenso verhält es sich mit dem Haben eines Zeichens für Anderes
gegenüber dem Haben der Sache selbst. Zum Zeichen als solchen
25 gehört das spezifische Bewußtsein des Zeichenseins für ein An¬
deres, ein Bewußtsein von ganz eigentümlicher intentionaler
Struktur.
Soll man nun aber sagen: ja, das gewöhnliche Wahrnehmen ist
freilich nicht von vornherein ein analogisierendes Repräsentieren
30 oder ein Repräsentieren durch Bild oder Anzeige. Es ist Wahr¬
nehmen und nichts weiter. Aber was da wahrgenommen ist, ist
eben nicht das äußere Naturding selbst, und wir müssen, um die
richtige Sachlage zu gewinnen, eben diese neuen Bewußtseins¬
weisen ins Spiel setzen —-?
35 Indessen hier gilt es allem voran, getreu zu beschreiben, was da
das unmittelbar Wahrgenommene ist, rein nach dem eigenen
Sinn der Wahrnehmung. Es gilt festzustellen, daß es nicht ein
Komplex von sinnlichen Daten ist, die der jeweiligen Wahrneh¬
mung als reelle Bestandstücke zugehören, also mit ihr entstehen
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 119
und mit ihr verschwinden, sondern daß es nichts anderes ist als
etwa dieser Tisch hier, nur einmal von dieser und dann von jener
Seite zur Wahrnehmung kommend und im Fortgang synthetisch
sich vereinheitlichender Wahrnehmungen immer reicher, immer
5 vielgestaltiger sichtlich werdend. Aber immer er selbst, dieser
Tisch (die synthetische Einheit, der bewußtseinsmäßig Eine und
selbe Gegenstand) ist es, der im Fortgang seinen Seinsgehalt vor-
und ausweist und sein wirkliches Dasein bestätigt; nur voraus¬
gesetzt, daß nicht eintretende Unstimmigkeit uns nötigt, sein
10 Dasein gleichsam durchzustreichen und zu sagen: es war eine
bloße Illusion. Was da jede erdenkliche Bestätigung, Wirklich¬
keitsausweisung ausweist, das ist also, wie gesagt, die in der
Wahrnehmung im Bewußtseinscharakter des Selbstdaseins be¬
wußte synthetische Einheit und nichts anderes als das Äußere
15 s e 1 b s t, das Raumding selbst, es ist von vornherein das Tran¬
szendente selbst. Woher sonst soll je ein Wissen davon kommen ?
Wie könnte sich ein Wissen davon je anders ausweisen als durch
Wahrnehmung und durch kontinuierliche Bestätigung der Wahr¬
nehmungen selbst im einstimmigen Wahmehmungszusammen-
20 hang? Was kann Analogisierung, Abbildung, Anzeige leisten?
Nichts ohne Wahrnehmung. Habe ich schon Dinge selbst erfah¬
ren und in der Erfahrung direkt ihr Dasein gegeben und aus¬
gewiesen, habe ich so in denkbar ursprünglichster Weise Kennt¬
nis der Außenwelt gewonnen, so kann ich durch gegebene Dinge
25 andere analogisieren, abbildlich darstellen, durch Anzeige ver¬
gegenwärtigen, wie etwa ein Flaggensignal die Ankunft eines
Schiffes. Aber welchen Sinn könnte es haben, was noch nie selbst
und in seiner Seinsart erfahren war, allererst durch dergleichen
Analogie und Symbole gewinnen zu wollen? Das ihnen Sinn
30 gebende Bewußtsein weist doch selbst nach Ursprung und Art
seiner erfüllenden Bestätigung auf mögliche Wahrnehmung zu¬
rück, und auf eine Wahrnehmung von Transzendentem, wenn
sie Transzendentes soll anzeigen können.
Also es ist ein Unsinn, dem, was man evidenterweise in der
35 Wahrnehmung als Wahrgenommenes bewußt hat, ein Analogon
oder ein Zeichen für etwas Anderes, und nun gar ein Unerkenn¬
bares, Unwahrnehmbares zu unterschieben. Daß man auf diesen
Einfall kommen und darin eine verständliche Theorie finden kann,
kommt offenbar daher, daß man, naiv naturalisierend, im Be-
120 ERSTE PHILOSOPHIE
reich der inneren Erfahrung nur so etwas wie Daten einer Be¬
wußtseinstafel sehen will und nun unvermerkt, und gar sehr naiv,
hinter die Tafel ein ganzes Menschensubjekt stellt, das natürlich
außer der Tafel die Welt sonst sieht, das nun, herüber und hin-
5 über blickend, die Zeichen auf der Tafel zu der ihr äußeren Welt
in Beziehung setzt, vergleicht, die wechselseitigen Kausalitäten
erkennt und danach aus Daten der tabula Analoga oder Kausal¬
zeichen für seinen Erkenntnisgebrauch machen kann. Statt Ana¬
lysen in der immanent psychologischen und erkenntnistheore-
10 tischen Inneneinstellung zu machen, statt in das rein gefaßte
Bewußtsein selbst sich zu vertiefen, in das reine ego cogito und
seine intentionalen Gehalte, nimmt man in der natürlich naiven
Außenbetrachtung sich und andere Menschen als Stücke der
vorgegebenen Welt und nimmt ihr Innenleben, da es mit den
15 Leibern in der Räumlichkeit sich mit lokalisiert, als wäre es selbst
so etwas wie Raumdingliches, wie eine bloße Komplexion realer,
durch reale Einheitsformen — in moderner Auffassung und Rede
„Gestaltqualitäten” — verbundener oder verschmolzener Daten,
in ihrem beständigen Wandel ausschließlich geregelt durch eine
20 naturale, d.i. bloß induktiv erkennbare Kausalität. Man hat kein
Auge dafür, daß, was sich in rein „innerer Erfahrung”, also in
rein schauender Hingabe der Reflexion an das Gegebene als
Strom der cogitationes gibt, gegenüber allem Naturalen eine völ¬
lig andersartige Seinsweise zeigt; daß es eben durch und durch
25 cogitatio, Bewußtsein von immanent-intentionalen „Gegenstän¬
den” im Wie mannigfaltig wechselnder „Erscheinungsweisen”
ist, und universal zentriert durch das, was wir oben Ichzen-
trierung nannten.
Freilich ist es nichts weniger als eine einfache Sache, zu ver-
30 stehen, wie sich im erfahrenden Bewußtseinsstrom selbst und sei¬
nen synthetischen Zusammenhängen Äußerlichkeit konstituiert,
wie dann dem Unterschied zwischen vermeintem und wahrem
Sein genugzutun ist, wie dem echten Unterschiede subjektiver
Erscheinungsweisen und des Erscheinenden selbst und diesem
35 Selbst in seiner Wahrheit; und weiter, wie dann in höherer
Stufe Möglichkeit, Wesen, Leistung wissenschaftlicher Erkennt¬
nis zu letztaufklärendem Verständnis zu bringen ist. Aber nur
eine Wesensdeskription des reinen Bewußtseins selbst in allen
solchen Leistungen kann dieses Verständnis ergeben. Dies g e-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 121
ahnt zu haben, in der Form der Forderung einer Verstandes¬
untersuchung auf dem Boden der inneren Erfahrung, macht
immerhin das nicht geringe Verdienst Lockes aus. Aber nicht
eine naturalistisch mißdeutete innere Erfahrung kommt hier in
5 Frage, sondern eine im Rahmen der immanenten Evidenz ver¬
laufende Feststellung dessen, was Bewußtseinsleben als Be¬
wußtseinsleben in allen seinen Typen in sich ist und leistet, ein¬
zeln und nach seinen synthetischen Zusammenhängen und nach
seinen intentionalen Motivationen. Keine Feststellung darf hier
10 aus der Einstellung reiner Immanenz herausfallen, was aufge¬
wiesen wird, muß genau so genommen und gelten gelassen wer¬
den, wie es im reinen Bewußtsein selbst liegt, und darin Ver¬
meintes genau so, wie es vermeint ist. Also z.B. Wahrgenomme¬
nes genau so, genau in dem Sinn, in dem es als Wahrgenommenes
15 sich gibt, oder den Wahrnehmung selbst ihm erteilt; also etwa in
zeitlicher Hinsicht den Sinn zeitlich gegenwärtigen Daseins;
ebenso Erinnertes genau so, wie es als Erinnertes sich gibt, hier
also mit dem Sinn „gewesener Vorgang”, der nur aus dieser Sinn¬
gebung eben Sinn gewinnt, und so überall; wie hier individuelle
20 Gegenstände ihre subjektiven Zeitmodi aus gewissen Bewußt¬
seinsweisen gewinnen und, nach dem früher gelegentlich Erörter¬
ten, aus anderen Bewußtseinsweisen subjektive Modi wie Ana¬
logon, Bild, Zeichen ihren Sinn gewinnen.
Also Gegenstände schlechthin, in jeder Hinsicht und jedem
25 erdenklichen subjektiven und objektiven Sinn rein sachlich,
objektiv genommen, haben ihren sie als, und <als> so bestimmte
Gegenstände konstituierenden Sinn aus dem sinngebenden Be¬
wußtsein, durch das sie für das Bewußtseinssubjekt eben bedeu¬
ten, was sie bedeuten, und nach Möglichkeit oder Wirklichkeit
30 sind, was sie sind. Für jede Grundart von Gegenständlichkeit
müssen die korrelativen Grundarten des Bewußtseins und der
Bewußtseinssynthesen nach ihrem Bau studiert werden, in denen
sich als Bewußtseinsleistung gerade eine so geartete Gegenständ¬
lichkeit als Einheit der Geltung konstituiert. Zu diesem Bau ge-
35 hören natürlich die schon oft betonten Gegebenheitsmodi immer
neuer Stufen; so hinsichtlich der dem immanent intentionalen
individuellen Gegenstand zugehörigen Zeitlichkeit: die Modi des
Jetzt, des Soeben, des Kommend; oder hinsichtlich der Raum¬
dinge und ihrer Räumlichkeit: die Modi der Orientierung nach
122 ERSTE PHILOSOPHIE
hier und dort, nach links und rechts usw., die Gegebenheitsmodi
mannigfacher Perspektive, derjenige der Raumgestalt, aber auch
der über sie sich „ausdehnenden” Färbungen; oder die Gegeben¬
heitsweisen nach wechselnden dinglichen Seiten kurz all das
5 „bloß Subjektive”, das naturwissenschaftliche Betrachtungs¬
weise ausschaltet. Aber alle und jede Gegenständlichkeiten, auch
die idealen, sind Einheiten mannigfaltiger Gegebenheitsweisen.
Parallel mit den konkreten Bewußtseinserlebnissen, deren imma¬
nent-intentionale Gegenstände sie sind, kommen auch die „Ge-
10 genständlichkeiten im Wie” zu „synthetischer Einheit”. Das
aber muß in jeder Hinsicht in schauender Reflexion enthüllt,
exakt beschrieben und damit verständlich werden.
Für alle solchen Probleme der Korrelation von erkennendem
und sonstigem Bewußtsein einerseits und „seiner” Gegenständ-
15 lichkeit andererseits, der subjektiven Konstitution der Welt in
der erkennenden Subjektivität; m.a.W. für alle Probleme der
Subjektivität als Quelle aller Sinngebung und Geltung ist eine
naturalistische Psychologie und Erkenntnistheorie prinzipiell
blind. Und das heißt, sie ist blind für die eigentlich erkenntnis-
20 theoretischen und, in empirischer Wendung, selbst für die eigent¬
lich psychologischen Erkenntnisprobleme. Verkannten wir also
auch nicht den Fortschritt, der in Lockes Essay dadurch inaugu¬
riert war, daß er gegenüber Descartes eine Wissenschaft von den
Gegebenheiten des ego cogito zu begründen unternahm, so ist es
25 nun klar, daß er zu der echten Grundwissenschaft für alle Er¬
kenntnis und andererseits auch zu einer echten objektiven Psy¬
chologie auf dem Grunde innerer Erfahrung nicht vorzudringen
vermochte.
Die Kritik, die wir abgeschlossen haben, zeigte uns in einer
30 problematischen Hauptlinie den methodologischen Widersinn
des immanenten Naturalismus der Locke’schen Erkenntnistheo¬
rie. Klar ist dabei auch geworden, daß selbst, wenn man, in der
natürlichen objektiven Einstellung verbleibend, eine objektive
Psychologie ausbilden will, die Blindheit für das Intentionale,
35 den Grundcharakter des seelischen Bewußtseinslebens, eine wirk¬
liche Psychologie unmöglich machen muß. Eine naturalistische
tabula-rasa-Vsychologie, wie sie Locke in die Wege geleitet und
wie sie durch die Jahrhunderte sich fortgebildet hat, mußte ver¬
sagen, mußte an induktiven Äußerlichkeiten hängen bleiben.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 123
Alles für ein geistiges Leben ursprünglich Wesentliche; all die
höchst merkwürdigen Eigenheiten des Bewußtseins als Bewußt¬
seins von etwas und als Bewußtseins eines Ich; all die Wunder
vielfältiger Synthesen, die dem Bewußtseinsstrom nach Wirk-
5 lichkeiten und Möglichkeiten, nach Passivitäten und freien Akti¬
vitäten den Charakter einer verständlichen Einheit und einer
verständlichen Genesis geben, die es zur Stätte einer durchgängig
rationalen Gesetzmäßigkeit machen — all das blieb außer Spiel,
es konnte sich höchstens in naturalistischen Verkleidungen und
10 Mißdeutungen unwillkürlich und unwissenschaftlich gelten ma¬
chen.
Es blieb außer Spiel, obschon es doch in der Reichweite der
Anschauung und der Fähigkeiten anschaulicher Explikation der
im Bewußtsein jeweüs implizierten Meinungen und Vermeint -
15 heiten lag. Die Methode der Naturwissenschaft macht eben blind
für die im tätigen Leben und in allen Geisteswissenschaften be¬
ständig geübte geistige Erfahrung und geübte Methode der Ent¬
hüllung geistiger Motivationen, verborgener Mitmeinungen, theo¬
retischer und praktischer Prämissen usw. Erfahrung und Erfah-
20 rungsmethode durfte nur von einer Art sein, sie mußte durchaus
derselben Wesensart wie die naturwissenschaftlich geübte sein.
Allerdings ist hier die Frage rechter psychologischer Methode
nicht die unsere. Unser Interesse ist die Möglichkeit einer abso¬
luten, aus letzter Selbstverständigung der Erkenntnis über ihre
25 eigene Leistung entsprungenen Wissenschaft, also nur die Be¬
gründung einer echten Theorie der Vernunft. Ist nun durch dieses
Interesse auch jede Inanspruchnahme objektiver Psychologie
wie objektiver Wissenschaft überhaupt ausgeschlossen, so zeigt
sich hier nun doch eine so innige Interessengemeinschaft objek-
30 tiver Psychologie und reiner Theorie der Vernunft und der Sub¬
jektivität überhaupt, daß wir nicht ohne Grund auch einige
Blicke auf die von Locke ausgehende Psychologie werfen und
werfen müssen.
Überlegen wir den Erwerb unserer kritischen Darstellung der
35 Locke’schen Methode einer Theorie der Vernunft, so verfällt sie
einerseits in Widersinn durch ihren Objektivismus und „Psycho¬
logismus”, dadurch also, daß sie überall die objektive Welt und
die objektiven Wissenschaften voraussetzt und ihre Theorie der
Vernunft auf Psychologie, Psychologie als objektive, mit den
124 ERSTE PHILOSOPHIE
sonstigen objektiven Wissenschaften verflochtene Wissenschaft,
gründet. Um einen wichtigen Punkt besonders herauszuheben,
verfällt sie in Widersinn durch die ganze Art, wie sie ihr höchst
bedeutsames Leitmotiv versteht und auswirkt: wir meinen na-
5 türlich das Motiv, den Ursprung aller Begriffe und Erkenntnis¬
gebilde überhaupt im Bewußtsein aufzusuchen, auf die unmittel¬
bare Anschauung der „Ideen” selbst und der immer neue Ideen
erzeugenden Akte zurückzugehen — in der jetzt üblichen Rede,
auf die „innere” oder „Selbsterfahrung”. Diese Erfahrung inter-
10 pretiert sie ganz naiv, und dem eigentümlichen Sinne der Ver¬
nunftproblematik zuwider, als Selbsterfahrung im natürlich
objektiven Sinne einer Komponente der psychophysischen Er¬
fahrung (als Erfahrung des mit Leiblichem objektiv verbundenen
Seelischen).
15 Unsere letztdurchgeführte Kritik betraf aber einen anderen,
in den Folgen noch bedeutsameren Widersinn. Denn noch schlim¬
mer als dieses Unvermögen, psychologische und transzendentale
Selbsterfahrung auseinanderzuhalten, und damit auch psycholo¬
gische und transzendentale Einheit eines Bewußtseinsstromes,
20 ist das Unvermögen, das Bewußtsein in seiner Wesenseigenheit
als Bewußtsein zu sehen und als solches der reinen Erfahrungs¬
analyse zu unterwerfen, und in weiterer Folge der rein intuitiven
Analyse überhaupt, der Analyse der möglichen Bewußtseinsge¬
stalten und ihrer wesensgesetzlichen Modifikationen, Implikati-
25 onen und Synthesen. Die ungeheuren Aufgaben, die der Titel
Intentionalität, Bewußtsein als Bewußtsein von... eröffnet,
bleiben natürlich verschlossen, wenn man, wie Locke und die
ganze nachfolgende Psychologie, für diese Grundeigenart alles
Bewußtseinslebens blind ist, und es durch das naive Vorurteil
30 ist, das wir Naturalisierung des Bewußtseins nannten. Wir cha¬
rakterisierten es als Auffassung des Bewußtseinsstromes als ein
Zusammensein von „Ideen”, von „Daten”, als wie physische
Daten auf einem anfangs unbeschriebenen weißen Papier oder in
einem „dunklen Raum”, wobei dann die Teile als reelle Teile,
35 die Verbindungen als reelle Verbindungen, die Einheitsformen
als reelle Einheitsformen, und nur als solche gemeint werden.
Von intentionalen Beständen wird zwar, wie unvermeidlich,
immer wieder gesprochen, aber nie auf Grund einer systematischen
Wesenserschauung und fixierenden Deskription, in der sie als
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 125
systematisch festzustellende und in ihren intentionalen Verwick¬
lungen zu verfolgende thematisch geworden wären.
Darin besteht der von Locke der Zukunft vererbte „Sensua¬
lismus” — denn nichts anderes als der prinzipielle Sinn oder
5 vielmehr Widersinn aller erkenntnistheoretisch abwegigen tra¬
ditionellen Lehren von äußeren und inneren Sinnen und damit
alles Operierens mit „Daten” äußerer und innerer Erfahrung ist
durch unsere Kontrastierung bloßgelegt. Dieser Sensualismus
lähmte die beiden von dem Locke’schen Werk ausgehenden Ent-
10 Wicklungen, die einer Psychologie als objektiver Wissenschaft
wie die der Vernunftheorie als philosophischer Grundwissen¬
schaft. Ohne Überwindung des „Psychologismus” und des Ob¬
jektivismus (<ohne> Positivismus in einem guten Sinn) über¬
haupt ist freilich keine Philosophie der Vernunft möglich — und
15 das sagt ebensoviel wie eine Philosophie schlechthin. Aber ohne
die Überwindung des Sensualismus, des Bewußtseins-Naturalis¬
mus, ist nicht einmal eine Psychologie als echte objektive Wissen¬
schaft möglich. Eine Psychologie, die das Grundfeld aller psycho¬
logischen Erfahrungstatsachen, das des Bewußtseins, nur in na-
20 turalistischer Mißdeutung, also seinem ursprünglichen Wesen
nach überhaupt nicht kennt, werden wir uns weigern müssen,
als eigentliche Wissenschaft anzuerkennen.
Soll sie als das überhaupt anfangen können, so muß sie es in
der Gestalt einer systematischen und rein immanenten Bewußt-
25 seinsanalyse tun — einer psychologischen „Phänomenologie”.
Phänomenologische Elementaranalysen und -deskriptionen schaf¬
fen für sie das ABC. Die Erforschung dieses ABC und der aus
ihm a priori zu bildenden Gestalten bzw. der ihm zugehörigen
strukturellen und genetischen Wesensgesetze macht — wie sich
30 erst in der Gegenwart zeigte — eine ganze Wissenschaft aus, und
dabei eine apriorische. In Notwendigkeit geht diese einer jeden
Erfahrungspsychologie (einer Wissenschaft von den Tatsachen
psychologischer Empirie) voraus — „die als strenge Wissenschaft
soll auftreten können”. Sie ist eben nichts anderes als die Wissen-
35 schaft vom ureigenen Wesen des Psychischen als solchen. Ein
Psychologismus auf dem Grunde einer solchen phänomenologi¬
schen Psychologie (und selbst einer solchen, die ihren apriori¬
schen Charakter verkannt hätte) ist heilbar. Er hätte die Ausbil¬
dung einer echten Vernunfttheorie und Philosophie wohl geschä-
126 ERSTE PHILOSOPHIE
digt, ja im Prinzip unmöglich gemacht, und doch wäre er ein
relativ leicht zu bessernder Irrtum gewesen — wenn nur die Be¬
wußtseinsanalysen aus wirklicher Intuition geschöpft und wirk¬
lich intentionale Analysen waren. Durch Veränderung der Ein-
5 Stellung aus der natürlichen in die transzendentale, durch „Ein¬
klammerung” aller vorangesetzten und mitzusetzenden Objek¬
tivität blieben doch alle immanenten Analysen in ihrem Wesens¬
kern erhalten und erkenntnistheoretisch nutzbar.
Andererseits ist ein sensualistischer Psychologismus unheilbar.
10 Seine Aufstellungen über das Psychische selbst sind von vorn¬
herein keine wirklichen Feststellungen, keine aus dem eigenen
Wesen des Bewußtseinslebens selbst geschöpften. Intentionali¬
tät enthüllen ist geistig verstehen, Erkenntnis und ihre
Gebilde verstehen, darin im besonderen die Gebilde Wahrheit,
15 Recht verstehen, das ist intentionale Gebilde durch methodische
Enthüllung der intentionalen konstitutiv-bildenden Zusammen¬
hänge verstehen. Es wissenschaftlich deskriptiv tun ist, sie wis¬
senschaftlich verstehen. Wo hingegen man noch nicht einmal
angefangen hat, die Art intentionaler Implikation zu sehen, also
20 Elemente eines Verstehens zu schaffen, gibt es überhaupt nichts
Verstehbares und somit Verständliches. Aber auch psycholo¬
gische Genesis ist ihrem Wesen nach verständliche Genesis, und
so bietet notwendig jede naturalistische Psychologie nur eine
Scheinerklärung psychologischer Genesis.
(Drittes Kapitel
Die Ab st rak t i o ns t he orie des Empirismus
als Index seiner Verfehlung der Idee einer
eidetischen Wissenschaft vom
reinen Bewußtsein)
18. Vorlesung : <Die Verkennung der intuitiven Selbstgegebenheit der
allgemeinen Wesenheiten. >
25 Ein besonderes Substrat unserer Kritik war oben Locke’s
Lehre von den materiellen Substanzen und von ihren Qualitäten
bzw. sein Versuch, zu zeigen, wie die wahre Äußerlichkeit sich
innerlich im Ideengebiet darstellt, wie das Subjekt, das unmittel¬
bar nur die tabula rasa seiner Ideen hat, auf ihr ein Bild der
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 127
Äußerlichkeit und Überzeugung von ihrem wahren Sein gewinnt.
In gleichem Sinne könnte unsere Kritik dann fortgehen zu der
ganzen Linie von Ausführungen Locke’s, die sich anschließend
auf die konstitutiven Kategorien der Naturerkenntnis beziehen,
5 auf Raum, Zeit, Kraft, Ursache, Wirkung usw. — es hat für uns
kein erhebliches Interesse, in dieser Richtung fortzugehen.
Ganz anders steht es mit den Locke’schen Kapiteln über
Sprache und Denken, über Wahrheit und Wissen, Wissenschaft
u.dgl. — <mit Lockes Abstraktionstheorie). Steckte
10 hinter Untersuchungen der ersten Art die Problematik der Kon¬
stitution der Natur, der an-sich-seienden Welt im erkennenden
Bewußtsein, so handelt es sich jetzt um die Problematik des
spezifischen Logos, um das formale Gerüste logischer Kategorien,
das die erfahrene Welt mit ihren realen Kategorien annehmen
15 muß, um zur wissenschaftlich wahren Wirklichkeit, der in theore¬
tischer Wahrheit sich bestimmenden, zu werden.
Hier gilt es jetzt, einen neuen Typus von Grundirrtümern her¬
auszustellen, die von dem englischen Empirismus her die ganze
neuzeitliche Philosophie verhängnisvoll bestimmten. Sie sind
20 freilich ein altes Erbübel, Erbe des antiken Skeptizismus und
mittelalterlichen Nominalismus, der mit H o b b e s in den neu¬
zeitlichen sogenannten Empirismus überströmt. Unser neues
Thema ist die Blindheit füi Ideen und Idealgesetze im richtig
verstandenen Platonischen Sinn.
25 Was den traditionellen Empirismus sozusagen definitorisch
charakterisiert, ist das prinzipielle Vorurteil, daß nur Individu¬
elles ursprünglich anschaulich sein könne. Mit der Leugnung der
anschaulichen Erfaßbarkeit geht Hand in Hand die Leugnung
des möglichen Seins von Allgemeinheiten; selbstverständlich
30 unter der Leitung des intuitionistischen Gedankens, rechtmäßiges
Denken müsse sich anschaulich ausweisen; was sich nicht an¬
schaulich vorstellen läßt und, wo ein wirkliches Sein in Frage ist,
sich nicht wahrnehmen läßt, das kann auch nicht sein.
Diese scheinbar selbstverständliche Identifikation von An-
35 schauung und individueller Anschauung, selbsterfassender An¬
schauung und Wahrnehmung geht auf den Empirismus der neuen
Locke’schen Prägung, den des immanenten Naturalismus über.
Eine Erschauung begrifflicher Wesenheiten, der Korrelate all¬
gemeiner Worte, und andererseits also auch das Sein solcher
128 ERSTE PHILOSOPHIE
Wesenheiten selbst wird nicht anerkannt. Das Universum an¬
schaulicher Erkenntnis ist die Gesamtheit der auf der Bewußt¬
seinstafel aufweisbaren Ideen. Anschauung und „Wahrnehmung”
bzw. „Erfahrung” ist einerlei. M.a.W. die Data dieser Tafel sind
5 ebenso wie Data der Natur durchaus zeitlich einzelne Tatsachen,
psychisch Individuelles, gegeben in einer immanenten Erfahrung,
die von derselben Art ist wie die äußere.
Scheinbar widerspricht dem Lockes ausführliche Lehre von den
„allgemeinen Ideen”, desgleichen seine Lehre von der intuitiven
10 und demonstrativen Erkenntnis und die darauf gegründete An¬
erkennung der reinen Logik, reinen Mathematik und reinen
Moral in scharfer Unterscheidung von den empirischen Wissen¬
schaften. Sieht man aber näher zu, so ist nach Locke eine ab¬
strakte Idee nur ein aus einem beliebigen Einzelding aus einer
15 Mannigfaltigkeit einander gleichender Dinge herauszuhebendes
individuelles Einzelmoment, das in ihnen allen in Gleich¬
heit sich wiederholt, und zudem bezeichnet abstrakte Idee eine
gewisse repräsentierende Funktion, die wir ihm in Aussagen und
Denken nutzbringend geben. Sind z.B. mehrere Dinge einander
20 als rote gleich, so können wir das Moment der Übereinstimmung,
das in allen in gleicher Weise wiederkehrt, für sich ablösen als
eigene Idee, die natürlich ein Individuelles ist. Aber dieses Ein¬
zelne benützt der Geist als Repräsentanten oder Musterbild, um
danach jedes vorkommende konkrete Ding, das ein solches Mo-
25 ment Rot ebenfalls in sich hat, als ein rotes zu denken, nämlich
es als ein Ding zu denken, das ein dem abstrakten Musterbild
Rot gleiches Moment Rot in sich habe; erst das ermögliche die
so überaus nützliche allgemeine Bezeichnung, die Bildung und
den Gebrauch allgemeiner Worte, wie rot, rund usw., und da-
30 nach allgemeines Aussagen.
Aber so sehr hier auf Bewußtseinsfunktionen rekurriert wird,
auf Akte der Vergleichung, Abstraktion, Repräsentation, Nor¬
mierung, und so ausführlich Locke auch sonst von psychischen
Akten, wie Kolligieren, Beziehen, Verknüpfen, Unterscheiden,
35 Identifizieren usw. handelt, so ist doch von einer Analyse und
Deskription des Allgemeinheits-Bewußtseins als Bewußtseins
von. . . und von einer intentionalen Klärung seiner objektivieren¬
den Leistung hier wie in allen ähnlichen Fällen keine Rede.
Es fehlt ganz und gar das Verständnis für die Problematik der
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 129
Intentionalität. Er erkennt also auch nicht, daß in den Funk¬
tionen allgemeinen Denkens als ihre spezifisch objektivierende
Leistung eigentümliche Gegenständlichkeiten in stufen¬
weiser Implikation erwachsen, und zwar in den originalen Formen
5 dieses Denkens ursprünglich anschaulich, nämlich als unmittel¬
bare Selbstgegebenheiten. Kommt es bei Locke schon nicht zur
deskriptiven Feststellung, daß verschiedene Bewußtseinserleb¬
nisse des sinnlichen Wahmehmens in ihrer Immanenz numerisch¬
identisch dasselbe Ding bewußthaben können, entgeht es ihm
10 schon, daß ein Reales, ein individuell Transzendentes nicht fälsch¬
lich, sondern ganz wörtlich in leibhafter Selbstheit in der Wahr¬
nehmung als ihr Wahrgenommenes auftreten kann, so sieht er
erst recht nicht, daß ganz Analoges für das allgemeine Erschauen,
in Beziehung auf allgemeine Wesenheiten, Platonisch gesprochen,
15 für „Ideen" gilt und daß es nicht minder gilt für das Einsehen
von allgemeinen Sachverhalten oder Ideenverhalten. Das bleibt
auch ungesehen im ganzen Empirismus, und welche Modifika¬
tionen immer die Locke’sche Abstraktionslehre in den späteren
Zeiten bis zum heutigen Tage erfährt, es bleibt ungesehen, was
20 bewußtseinsmäßig, und als unleugbarer Sinn, in allem allgemei¬
nen Denken und Aussagen liegt, und im einsichtigen Aussagen
als zweifellose Selbstgegebenheit liegt.
Auch allgemeine Wesenheiten sind Gegenstände, werden be¬
wußtseinsmäßig als Gegenstände gemeint, ^s wird von ihnen
25 prädiziert, in Richtigkeit und Unrichtigkeit, einsichtig oder un¬
einsichtig, wie über Gegenstände sonst und insbesondere wie über
individuelle Gegenstände. Wie sonstige, wie individuelle Gegen¬
stände sind sie Einheiten in mannigfaltigem sie und nichts an¬
deres meinenden Bewußtsein und können auch wie sonstige Ge-
30 genstände ev. in der ausgezeichneten Weise bewußt sein, in der
sie zu unmittelbarer Selbsterfassung kommen: also ganz analog
wie in der Wahrnehmung wahrgenommene Dinge. Kann ein
Ding bald unklar oder leer unanschaulich, bald in selbsterfassen¬
der Wahrnehmung oder in frühere Selbsterfassung wieder ver-
35 gegenwärtigender Erinnerung bewußtwerden, so nicht minder
auch ein Allgemeines, ein begriffliches Wesen verschiedener All¬
gemeinheitsstufen, wie Farbe und Ton überhaupt, wie Dreieck,
Figur überhaupt u.dgl. Es kann bald unklar bedacht und beredet,
bald klar und in voller Intuition als es selbst, und als seiendes All-
Husserliana VII 9
130 ERSTE PHILOSOPHIE
gemeines erschaut und erfaßt sein. Und auch hier wird es in der
entsprechenden Synthesis der Identifizierung evident, daß das
einmal so und das andere Mal anders, und jedenfalls das in ver¬
schiedenen und getrennten Erlebnissen Bewußte numerisch-
5 identisch eins und dasselbe sei, ev. dasselbe einmal bloß Ver¬
meinte und dann selbst Gegebene. Auch hier ist die ErfüHungs-
synthesis, die Vermeintes auf Selbsterfaßtes zurückführt, Syn¬
thesis der bewährenden Bestätigung, das „Recht” der Vormei¬
nung herausstellend; und auch hier kann die Meinung im Rück-
10 gang zu selbstgebenden Anschauungen im Widerstreit zerschel¬
len, z.B. die Nichtigkeit des vermeinten regelmäßigen Dreiecks
sich herausstellen.
Die synthetisch sich im Selben deckenden Erlebnisse haben
damit, daß sie Allgemeines meinen, als Erschauungen des All-
15 gemeinen es originaliter in sich tragen, nicht etwa ein reelles
Stück gemein, ganz so wie z.B. mehrere Dingerfahrungen als
Erfahrungen vom selben Ding; nur mit dem offenbaren Unter¬
schied auf Seiten des Bewußtseins von Allgemeinheiten: wäh¬
rend die Erlebnisse selbst natürlich individuelle immanente
20 Daten sind, ist das Allgemeine, das sie intentional in sich meinen
oder selbst haben, nicht ein Individuelles sondern eben ein All¬
gemeines. Also daß es im wahren und wirklichen Sinn allgemeines
Denken, allgemeines Vorstellen, allgemeines Anschauen gibt, ist
nicht die Erfindung eines verstiegenen Platonismus, sondern
25 eine Lehre, die uns das Bewußtsein selbst gibt, wofern wir es
nur befragen, und nach dem befragen, was in ihm selbst als
Meinung und Leistung in absoluter Evidenz Hegt.
Keine Theorie der Vernunft, keine Philosophie ist wissenschaft¬
lich überhaupt möghch, die im Sinne der allgemeinen Tradition
30 dabei bleibt, über Evidenz, Einsicht zwar viel zu reden, aber
unfähig ist, in der Weise intentionaler Deskription das Evidenz¬
bewußtsein zu befragen, es nicht erkennt als das, was es seinem
Wesen nach ist: Selbstgebung bzw. Selbsterfassung von Gegen-
ständhchkeiten, die im Prozeß des ursprünglich eigenthchen, d.i.
35 hier aktiv sie selbst gestaltenden Denkens als sie selbst, sozu¬
sagen leibhaftig bewußt werden. Erfassung von Selbstgegebenem
ist aber dasselbe wie unmittelbare Anschauung, und es wäre ein
törichter Einwand gegen diese Erweiterung des Begriffes der
Anschauung, mit ihrer Unmittelbarkeit, wenn man (wie das
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 131
geschehen ist) sagen würde, Denken sei ein mittelbares Bewußt¬
sein, gegenüber der unmittelbaren Anschauung. Anschauung be¬
sage Passivität, besage Hinnehmen eines Gegebenen. Denken
sei aber eine von derart Gegebenem ausgehende mannigfaltige
5 Aktivität. Und sollten wir etwa aufhören, Begriffsbildung und
gar das Schließen, Beweisen mittelbar zu nennen? Der Einwand,
sage ich, ist töricht. So, wie in ihrer Art auch die „Passivität”
der äußeren Erfahrung ihre vielfältige Implikation hat, die z.B.
im wechselnden Wahmehmen, auch im zeitlichen Nacheinander
10 vielfältige Apperzeptionen zur Synthesis bringt, während doch
der erfahrene Gegenstand „unmittelbar” angeschauter, eben
selbstgegebener ist; so ähnlich im Denken. Hierzu gehört eben,
wie ich das ja ausführlich wiederholt dargelegt habe, eine Man¬
nigfaltigkeit von Akten, verknüpft zu einer synthetischen Akt-
15 einheit, dazu, um Einheit des Gegenstandes bewußtzumachen,
und haben die Akte die Form der Eigentlichkeit und Ursprüng¬
lichkeit, so konstituieren sie erzeugend die Einheit des Gegen¬
standes, der in dieser Erzeugung selbstgegebener ist. Dieser ganze
Bau aktiver Synthesis ist hier die Einheit der Selbstgebung,
20 leistet hier unmittelbar anschauliches Bewußtsein von dem Ge¬
genständlichen, das hier in Frage ist, z.B. der gegenständlichen
Einheit der schließenden Folge oder eines ganzen Beweiszusam¬
menhanges, einer ganzen Theorie. Dergleichen könnte auch ein
Gott unmittelbar nur gegeben haben, wenn er diesen Aktzusam-
25 menhang wirklicher Erzeugung vollzieht, auch er kann Gedanken
nur haben, wenn er denkt, und all das in Verknüpfung denkt,
was die Verknüpfungseinheit des Gedankens fordert. Jede Art
Gegenständlichkeit hat ihre Unmittelbarkeit der Gegebenheit,
ihre Art der Anschauung, der selbstgebenden Evidenz. Statt
30 dessen kommen die Jahrhunderte eigentlich nicht über das
hinaus, was die mittelalterliche Rede vom lumen naturale schon
bildlich besagt: ein rätselhafter lichtartiger Charakter, ein „Ge¬
fühl” der Denknotwendigkeit usw. mache den Vorzug evidenten
Denkens aus, wobei dann das absurde Problem der Frage nach
35 dem Grunde auftritt, warum diese Auszeichnung die W a h r-
h eit anzeigen muß. Und so sind wir seit Descartes’ Rekurs
auf die göttliche veracitas noch in der alten Verlegenheit.
132 ERSTE PHILOSOPHIE
19. Vorlesung: <Die Notwendigkeit der Extension der Idee der An¬
schauung. >
Was insbesondere das schauende Erfassen des Allgemeinen
anlangt, das wir als genaues Analogon der Wahrnehmung von
individuell Gegenwärtigem oder der Erinnerung an eine indivi¬
duelle Vergangenheit in Anspruch nehmen, so ist es ja sicher,
5 daß während der allgemeinen Anschauung konkrete Einzelan¬
schauungen im Bewußtseinsfeld liegen, ja daß sie als notwendig
fungierende Unterlagen der allgemeinen Anschauung selbst in sie
mithineingehören. Sicher ist dabei auch, daß die Weise, wie hier¬
bei Einzelanschauungen vollzogen, und etwa bei der Intuition
10 eines Roten überhaupt rote Einzeldinge bewußt sind, eine wesent¬
lich andere ist als da, wo die Einzelanschauungen eben nicht in
solcher Funktion stehen, nicht dazu dienen, auf ihrem Grunde
Allgemeines herauszugestalten und schauend zu erfassen. Denn
ist sonst das individuelle Einzelding als dies da erfaßt, gemeint,
15 gesetzt, so ist jetzt das Allgemeine, Rot überhaupt, und nur dies
gemeint, als seiendes Allgemeines erschaut und erfaßt.
Wir, die wir die Blickstellung auf das Bewußtsein selbst und
seine intentionalen Gehalte bereits gewonnen haben und in dieser
Blickstellung solche Aussagen machen, hätten jetzt das weitere
20 Vorgehen klar vorgezeichnet. Es wäre jetzt die Aufgabe, diese
verschiedenen Bewußtseinsweisen gegeneinander zu charakteri¬
sieren und analytisch zu beschreiben, was für Abwandlungen das
einzelanschauende Bewußtsein erfährt, in welcher Art, durch
welche Strukturen es die neue Leistung vollzieht, welche da all-
25 gemeines einsichtiges Erschauen heißt. Es wird dabei Rücksicht
zu nehmen sein auf die hier wie überall möglichen Vollkommen¬
heitsstufen der Klarheit oder Anschaulichkeit, ihre Eigenart, und
schließlich auf das so wichtige unanschauliche Denken und seine
Modi, seine Art, einen unanschaulichen Sinn, eine vermeinte All-
30 gemeinheit in einem bloßen leeren Vorgriff in sich meinend zu
konstituieren. Natürlich muß dann aber auch all den wesentlich
zusammengehörigen allgemeinsten Gestalten, in denen Allge¬
meines im Denken gemeint, im einsichtigen Denken selbst er¬
schaut und gegeben ist, genuggetan werden, aber auch den Son-
35 dertypen, die nur in besonderen Sphären auftreten. Urteile ich:
Rot ist eine Art Farbe, das Dreieck ist eine Art der Gattung
geradlinige Figur, so sind Arten und Gattungen Gegenstände
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 133
„worüber”..., Substratgegenstände. Urteile ich aber: ein Drei¬
eck überhaupt hat als Winkelsumme zwei Rechte, nämlich jedes
Dreieck, oder, ein rotes Band, im Plural rote Bänder flattern im
Winde, so habe ich statt des universellen „ein” und „überhaupt”
5 das partikuläre, ebenfalls eine Form der Allgemeinheit, gedacht.
In allen, in „das Rot”, „irgendein Rot”, „jedes Rot”, steckt
etwas Gemeinsames, und doch sind die Bewußtseinsweisen ver¬
schieden, und dann auch die Weisen ursprünglich evidenter
Selbstgebung.
10 In ganz anderer Richtung liegen die Untersuchungen, welche
das Allgemeine der ausgezeichneten Gestalt „reine oder ideale
Gerade”, und so überhaupt die „ideale” Reinheit der geometri¬
schen Begriffe und Wesenheiten betreffen, gegenüber begrifflichen
Allgemeinheiten, wie sie die deskriptiven Allgemeinbegriffe der
15 Botanik etwa zeigen, jene ebenfalls natürlich intuitiv zu erfassen¬
den Typen, die z.B. die Worte traubenförmig, doldenförmig,
auch kreisförmig, elliptisch etc. ausdrücken, wo alle geometrische
Idealität durchaus ferne und außerhalb der Meinung ist. So nicht
nur für Raumgestalten sondern in allen individuellen und als
20 solchen zu typisierenden Sphären. Ideale Begriffe und Typen
werden, obschon sie keine Einzeldinge sind, in ihrer Weise ge¬
sehen, in ihrer Weise auch zeichnerisch dargestellt. Auch für
diese und alle Sondergestalten des Allgemeinen müssen die ana¬
logen Probleme der Aufklärung des sie konstituierenden Be-
25 wußtseins gestellt und gelöst werden.
So stellt sich die Problematik, eine endlos fortschreitende, dar
für den, der Bewußtsein als Bewußtsein zu fassen und beschrei¬
ben gelernt hat.
Ganz anders die empiristische Abstraktionslehre seit Locke.
30 Sie eskamotiert das Allgemeinheitsbewußtsein und das Allge¬
meine selbst dadurch weg, daß sie auf die bei wirklich evidentem
anschaulichen Denken notwendig fungierenden Einzelanschau¬
ungen hin weist und dann sagt: darüber hinaus liege „nichts
weiter” vor als bloße Repräsentation. Beispielsweise das gesehene
35 oder fingierte Dreieck dient im geometrisch anschaulichen Den¬
ken als Repräsentant für jedes beliebige Dreieck. Aber was ist
diese „bloße Repräsentation” ? Genau besehen, wenn wir uns an
das betreffende einsichtige Denken selbst, etwa im Beispiel „ein
Dreieck überhaupt”, halten, an es selbst, wie es in unmittelbarer
134 ERSTE PHILOSOPHIE
Reflexion zu befragen ist, ist diese Repräsentation gar nichts
anderes als das geleugnete allgemeine Anschauen selbst — mag
dabei das vieldeutige Wort Repräsentation auch wenig passend
sein. Die naturalistische Einstellung ist es aber, die dafür theore-
5 tisch blind macht. Es ist natürlich auch vom Empiristen erlebt
und in gewisser Weise gesehen, aber es wird nicht gelten gelassen.
Überall will man, geblendet von dem Vorbild naturwissenschaft¬
licher Erklärung, in gleicher Weise erklären. Den Problemen des
erkenntnistheoretischen Ursprungs, denen der Aufklärung des
10 jede Art Objektivität konstituierenden Bewußtseins, unterschiebt
man Probleme einer naturalen und kausalen Erklärung, indem
man das Reich der inneren Erfahrung wie ein geschlossenes
Sachenfeld ansieht, mit zugehörigen erklärenden Naturgesetzen.
Statt transzendental reine Selbsterkenntnis zu vollziehen, als
15 rückschauende Betrachtung, Analyse und unmittelbare Beschrei¬
bung der die Bewußtseinsintentionalität und ihre Leistung ver¬
ständlichmachenden Gehalte, verfällt man in psychologisch¬
kausale Konstruktionen auf dem Grunde einer natural mißdeu¬
teten inneren Erfahrung; so auch hier für das Reich der allgemei-
20 nen Gegebenheiten und des Allgemeinheitsbewußtseins. Und
dabei beziehen doch alle solchen Konstruktionen den Schein der
Erklärung, der ihnen anhaftet, aus dem theoretisch mißachteten
Bewußtsein, dessen Sinnesgehalte sich mit den kausal substruier-
ten schillernd mengen.
25 Die prinzipielle Verkehrtheit nicht nur der Locke 'sehen
Abstraktionstheorie, sondern auch der hochberühmten Ber¬
keley 'sehen und der aller späteren betrifft nicht das Denken
an einem einzelnen Punkt. In gleicher Weise betroffen ist viel¬
mehr das gesamte Reich des Logos. Somit ist alle und jede Denk-
30 leistung, alle und jede Theorie und Wissenschaft unverständlich
geworden; ja noch mehr, für den, der Konsequenzen zu sehen
vermag, ist die Möglichkeit aller Wissenschaft prinzipiell aufge¬
hoben. Der ta&M/a-rasa-Psychologismus und Empirismus ist schon
durch seine Theorie des Denkens ein extremer, obschon sich
35 selbst verborgen bleibender Skeptizismus und unterliegt dem
Vorwurf des denkbar radikalsten Widersinns, der allem echten
Skeptizismus in irgendeiner Form eigentümlich ist. Nämlich ent¬
hüllt man, was in seinen Theorien konsequent beschlossen ist,
dann ist es evidentzumachen, daß er durch den Gehalt dieser
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 135
Theorien die Möglichkeit aller Denkleistungen überhaupt und
prinzipiell negiert, und damit das negiert, was er in seinem eige¬
nen denkenden Tun, im Gestalten seiner eigenen Theorie als
mögliche und wirklich vollbrachte Leistung in Anspruch nimmt.
5 Selbst H u m e, sozusagen der Skeptiker von Metier, hat zwar
in anderen Beziehungen die skeptischen Konsequenzen des Em¬
pirismus enthüllt, aber in Hinsicht auf das allgemeine Denken
hat er die radikale skeptische Konsequenz nicht gesehen — falls
er sie nicht absichtlich verschwiegen hat, um seine skeptischen
10 Theorien nicht um allen Eindruck zu bringen und sie von vorn¬
herein als gegenstandslos und lächerlich erscheinen zu lassen.
Jedenfalls Locke und alle sonstigen Naturalisten der inneren
Erfahrung meinen ehrlich, die Leistung des Denkens und des
Denkens der Wissenschaften nicht preisgegeben, sondern nur
15 psychologisch erklärt, verständlich gemacht zu haben; und ganz
besonders die Leistungen des reinen Denkens in den rein ratio¬
nalen Wissenschaften.
Es ist, da hier die Kritik der Jahrhunderte im Grunde versagt
hat, von großem Interesse, an einem prinzipiellen Fundamental-
20 punkt, an den axiomatischen Erkenntnissen und Wahrheiten, die
skeptische Lage aufzuzeigen. Wir kritisieren hier also m.a.W. die
historisch unter dem H u m e 'sehen Titel der Erkenntnis von
Ideenrelationen berühmte Lehre, die Hume selbst als Funda¬
ment für seine skeptischen Argumentationen benützt. In allem
25 wesentlichen stammt die Lehre aber von Locke.
Unmittelbar und völlig evident sind gewisse Sätze von niederer
und höherer Allgemeinheit, Sätze, die man ansehen kann als all¬
gemeine Sätze über Relationen; z.B., rot ist verschieden von
grün, 2 < 3 u.dgl. Dem Dogma der empiristischen Lehre gemäß
30 ist anschaulich gegeben und wirklich seiend nur einzelnes; also
jeweils habe ich, solche generellen Sätze einsehend, wirklich ge¬
geben nur individuelle Relationen individueller Daten. Es gibt
kein Sehen des Überhaupt und von Relationen überhaupt. Aber
was soll uns nun ein Recht geben, solche allgemeinen Sätze zu
35 behaupten ? Kann hier die mythische Repräsentation, in Über¬
tragung auch auf die Allgemeinheit des relationellen Sachver¬
haltes etwas helfen — wenn sie eben verbunden sein soll mit der
Behauptung, daß das Allgemeine als solches nicht selbst erschaut
sei ? Woher weiß ich, daß ich so die individuell gesehene Relation
136 ERSTE PHILOSOPHIE
„dieses Rot und dieses Grün” als „Repräsentanten” für beliebige
ähnliche Fälle in dem Sinn in Anspruch nehmen kann, der hier in
Frage ist? Es liegt doch im Sinn solcher Sätze, daß, wann immer
ich ein Rot und wo immer ich ein Grün je vorstelle, unweigerlich
5 die betreffende Relation besteht. Interpretiert man, zur Natur
eines gesehenen oder phantasiemäßig anschaulichen Rot und
eines ebensolchen Grün gehört es, im menschlichen Bewußtsein
zusammen gegeben, nur in dieser relationellen Verknüpfung auf-
treten zu können, so wollen wir gar nicht fragen, wo und auf
10 Grund welcher Induktionen dieses psychologische Gesetz heraus¬
gestellt worden ist und woher der Empirist davon als Naturgesetz
etwas weiß. Jedenfalls wer schlicht urteilt und einsieht, was das
Axiom sagt, der spricht nicht über die Seele, die eigene und
fremde der Gegenwart und aller Vergangenheit usw., und über
15 psychologische Gesetze, sondern von nichts weiter als von dem,
was er sieht und einsieht, ganz unmittelbar, und das lautet ein¬
fach: rot ist verschieden von grün u.dgl. Und ist es nicht klar,
daß jedes Hereinziehen psychologischer Gesetze den Sinn der
Axiome völlig ändert; und zudem: wäre es ein seelisches Natur-
20 gesetz, daß solche relationeilen Verbindungen sich immer ein¬
stellen, wo die Beziehungspunkte bewußt sind: im gegebenen
Einzelfall soll ja nur die einzelne Relation da sein, und was
in Frage ist, ist nicht, wie der bloße Einzelfall, sondern wie ein
allgemeines Gesetzeswissen, und gerade das axiomatische, als
25 echtes möglich ist.
Im Grunde ist es also immer dieselbe Methode, die hinter die
Bewußtseinstafel ein Subjekt stellt, das all das weiß und denkend
leistet, was eben auf der Tafel selbst, d.i. im inneren Bewußtsein
selbst, als Bewußtseinsleistung auftreten müßte, was man aber
30 gewaltsam wegdeuten möchte.
Der Empirismus ist also, sehen wir, nur ein Scheinintuitionis¬
mus oder nur ein Scheinempirismus, denn es ist nur Schein, daß
er sein Prinzip, nichts aus<zu>sagen, was er nicht aus der An¬
schauung schöpfe, durchführt; es ist nur Schein, daß er auf Er-
35 fahrung, auf selbsterfassendes Erschauen zurückgehe und jedes
Ausgesagte an den Sachen und Sachverhalten selbst abmesse.
Wir überzeugen uns davon nicht nur an psychologistischen In¬
terpretationen des axiomatischen und dann überhaupt des ratio¬
nalen Denkens, die, emstgenommen, zu seiner offenen Verwer-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 137
fung führen müßten, und überzeugen uns dabei nicht bloß von der
widersinnigen Skepsis, die darin liegt, und dadurch in extremster
Form in ihr liegt, daß ja nun auch die Erkenntnis und Geltung
der rein logischen Axiome, wie des vom Widerspruch, davon be-
5 troffen ist; nein, wir überzeugen uns auch davon, daß im Grunde
genommen nach dem Empirismus nicht einmal die Möglichkeit
eines Urteils über Individuelles uns verständlich und erhalten
bleibt.
Wir müssen nur folgendes beachten: Eine individuelle Aussage,
10 wie „dieser Ton ist höher als jener Ton”, hat einen einheitlichen
Aussagesinn, dessen Wahrheit ich unmittelbar erkenne, wenn
ich eben das selbst unmittelbar erkenne, was ausgesagt ist, also
den Sachverhalt selbst. Nun sei zunächst darauf Nachdruck ge¬
legt, daß hier die Begriffe „Ton” und „Höhersein” auftreten als
15 Bestandstücke des Aussagesinnes und, in Anmessung an die
Anschauung, als Bestandstücke des ausgesagten Sachverhaltes
selbst. Sinngemäß erfüllen sich die Wortsinne „Ton” und „höher”
durch Anschauung, aber doch nicht durch die bloß sinnliche
Erfahrung zweier Töne und einer sinnlichen Verbindung beider,
20 sondern die anschauliche Erfüllung betrifft diese sinnlichen Ein¬
zelheiten eben als Einzelheiten von Allgemeinheiten. Die Skepsis
gegen das Allgemeine hebt aber auch das Allgemeine am ein¬
zelnen Falle auf, und da individuelle Aussagen ohne mitgemeinte
begriffliche Allgemeinheiten undenkbar sind, so würde das schon
25 genügen, um zu erkennen, daß der Empirismus nicht einmal
singuläre Aussagen über Individuelles verständlich und möglich
erscheinen läßt.
Aber von größerem Interesse ist hier noch folgendes: wie steht
es denn mit den gesamten grammatischen Formen der Aussagen,
30 und schon individueller Aussagen, mit der Subjektform und
Prädikatform, mit dem Ist und dem Nicht, mit dem Und und
dem Oder, dem Wenn und dem So usw. ? Wir sagen in gewöhn¬
licher Rede: ich sehe, daß dieses Haus ein rotes Dach hat, ich
höre, daß dieser Ton höher ist als jener; und wir sprechen nicht
35 bloß vom Sehen bzw. Hören des Hauses, Daches, Tones selbst.
In der Natur sind Dinge, aber in der Natur sind doch nicht diese
Sachverhalte mit ihren Subjekt- und Prädikatformen, die Rela¬
tion des Höher und andererseits als ein anderes Ding die Gegen¬
relation des Tiefer, die in jedem Falle selbst wieder unselbstän-
138 ERSTE PHILOSOPHIE
diges Moment im Anschaulichen des ganzen Satzes, im Sach¬
verhalt ist. In der Tat, „Erfahren” ist nicht bloß individuelle
Daten Erfahren, Erfahren ist Bewußtsein der Selbstgebung, des
Selbsterfassens, Selbsthabens, und zwar von solchem, was über-
5 haupt und in irgendwelchen Bewußtseinsgestalten gemeint, in
unzähligen Aussagegestalten mit Einzelformen gemeint, und
dann genau in dieser Sinnesformung eben gegeben, selbst er¬
schaut und als wahrhaft seiend erfaßt sein kann. Ohne diese
Extension der Idee der Anschauung, die sich dem bewußtseins-
10 mäßigen Meinen, dem ev. ganz unanschaulichen, in allen Ge¬
stalten genau anmißt, ist von einer Beschreibung der Erkennt¬
nislage und einer Verständigung über Erkenntnis und wahres
Sein keine Rede.
Es ist klar, nur wenn wir uns entschließen, alle Vorurteile
15 beiseitezutun und Erfahrung oder Anschauung mit Evidenz, mit
Erkenntnis im prägnanten Sinn zu identifizieren, und nur, wenn
wir dessen innewerden, daß diese erweiterte „Erfahrung” nichts
anderes ist als Selbsterfassung des Gemeinten genau so, wie es
gemeint ist; nur dann können wir ernstlich daran denken, Er-
20 kennen zu verstehen; also zu verstehen, wie nicht nur die Welt
schlichter begriffloser Erfahrung sondern auch die logische Ob¬
jektivität, und so die Objektivität jeder Art und Stufe mit allen
ihren realen und idealen Formen, für uns Sinn und ausweisbares
Sein haben kann. Bewußtsein in sich selbst, in seinen Wesens-
25 gestalten, schafft Sinn, und in den Evidenzgestalten möglichen
und wahren Sinn, als Gestalt möglicher Erfüllung von unerfüll¬
ten Denkintentionen, einer Erfüllung in der Gestalt der Selbst¬
gebung, bzw. in „Anmessung” an solche Gestalt.
Klar ist aber auch auf Grund unserer kritischen Analysen die
30 einzig mögliche Methode, die dienlich sein kann, um die vom
alten Skeptizismus her und in seiner Fort Wirkung vom neueren
Empirismus her sich so empfindlich aufdrängenden Probleme
nach Möglichkeit und Sinn der Erkenntnis in Angriff zu nehmen,
ja, vorher schon, sie aus den Verwirrungen, Vagheiten, wider-
35 spruchsvollen Unklarheiten zu befreien, sie in die echten und
reinen Probleme zu verwandeln, als welche sie allen objektivi¬
stischen Problemen gegenüberzustellen sind. Es ist keine andere
Methode als die, auf den Cartesianischen Boden, auf
die reine Erkenntnissubjektivität und ihr reines Bewußtsein zu-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 139
rückzugehen und dann das Bewußtsein selbst zu befragen nach
dem ihm evident eigenen Sinn und nach den Wesensgestalten
seiner möglichen Sinneserfüllung oder Evidenz, in der sich Ob¬
jektivität jeder Art ursprünglich bewußtseinsmäßig konstituiert,
5 als in der Selbsterfassung erfaßtes Selbst.
Aber nicht nur das. Noch ein großer Schritt wird sich als not¬
wendig erweisen. Die Fragen möglicher Erkenntnis, die Auf¬
klärung des Wie der ursprünglichen Bewußtseinskonstitution
sind historisch nicht aufgetreten als Fragen, die sich an singuläre
10 Gegenstände und ihr Bewußtsein adressierten; rätselhaft wurde
durch die skeptischen Negationen die Möglichkeit einer Erfah¬
rung und eines Wissens überhaupt von an-sich-seienden
Dingen überhaupt; ebenso später das x\llgemeinheitsbe-
wußtsein überhaupt und die Seinsart der Idee überhaupt, Evi-
15 denz überhaupt, bezogen auf Wahrheit überhaupt usw. Hier ist
soviel klar, daß, wenn man einmal reine Ideen hat, wie die ma¬
thematischen Ideen und die Ideen der rein apophantischen Lo¬
gik, die reine Allgemeinheit auf gegenständlicher Seite ebenso
reine Allgemeinheit für die Bewußtseinsseite mit sich führen
20 muß; m.a.W. man wird dessen inne, daß das transzendentale
Bewußtsein in seinen Grundgestaltungen und seinen transzen¬
dentalen Leistungen in der Methode der Wesensintui¬
tion betrachtet werden kann und muß, also, wie wir sagen
können, in der rein gefaßten platonischen Methode.
25 Jede reine Idee einer Gattung oder einer mathematischen Form
von Gegenständlichkeiten überhaupt weist zurück auf eine eide-
tische Problematik der auf so geartete oder geformte Gegen¬
ständlichkeit bezogenen Bewußtseinsweisen, und dabei sind diese
Bewußtseinsweisen selbst in eidetischer Allgemeinheit gedacht
30 und müssen in der wirklichen Untersuchung in eidetischer Me¬
thode aufgewiesen sein als „Ideen”.
So zeichnet sich also hier von der Kritik des Empirismus aus
der Gedanke einer ganz anderen Wissenschaft von der Subjekti¬
vität aus rein „innerer Erfahrung” ab, einer eidetischen Wissen-
35 schaff von einem Ich überhaupt, möglichem reinen Bewußtsein
überhaupt, möglichen Bewußtseinsgegenständen überhaupt, wo¬
bei alle Faktizität ausgeschaltet und nur im Umfang freier Mög¬
lichkeiten als eine derselben mitbeschlossen ist. Bei tieferem
Eingehen stellt es sich sogar heraus, daß alle transzendentalen
140 ERSTE PHILOSOPHIE
Fragen, die an individuelle Gegenstände und individuell be¬
stimmtes Bewußtsein, etwa dieser Menschen und dieser Welt,
zu stellen sind, nur so behandelt werden können und dürfen,
wie geometrische Fragen in Betreff eines bestimmten Naturdings
5 und der bestimmten Natur überhaupt. Das sagt: die notwendige
Methode ist die, daß der Einzelfall als Einzelfall apriorischer
Allgemeinheit betrachtet und so das Problem aus dem Faktum
in das Reich reiner Möglichkeiten und ihres Apriori versetzt wird.
Transzendentale Philosophie ist zuerst, und mit Notwen-
10 digkeit, apriorische Philosophie, und dann Anwendung auf
das Faktum.
Wie das aber gemeint ist, kann hier noch nicht in Erörterung
treten. Jedenfalls halten wir fest, was uns, freilich noch ganz von
ferne, aufleuchtet: die Idee einer universalen Wesenswissenschaft
15 von der reinen Subjektivität und ihrem reinen Bewußtseinsleben,
einer Wissenschaft, die als eidetische („apriorische’') das Uni¬
versum idealer Möglichkeiten solchen Lebens und der in ihm
nach idealer Möglichkeit sich konstituierenden Gegenständlich¬
keiten systematisch erforscht: kurz, einer eidetischen
20 Wissenschaft vom ego cogito.
<Dritter Abschnitt
DIE AUSBILDUNG SKEPTISCHER VORFORMEN DER PHÄNO¬
MENOLOGIE DURCH BERKELEY UND HUME UND DER
DOGMATISCHE RATIONALISMUS)
<Erstes Kapitel
Von Locke zu Berkeleys radikaler Konse¬
quenz einer rein immanenten Philosophie)
20. Vorlesung: <.Die positive geschichtliche Bedeutung der Erneuerung
des Skeptizismus durch Locke und seine Nachfolger. >
Unsere Kritik an der Locke ’schen Philosophie ist insofern
zu einem natürlichen Abschluß gekommen, als wir an ihr kri¬
tisch aufgewiesen haben, was ohne Zwang, und ohne irgend¬
welchen weiteren Entwicklungen vorzugreifen, an ihr selbst auf-
5 gewiesen werden konnte. Wir haben die Kritik immerzu in einer
gewissen Distanz geführt, so daß sie zur Kritik jeder Philosophie
von dem neuen durch Locke begründeten Typus wurde. Eben
dieser neue und für das gesamte Bild der neuzeitlichen Philoso¬
phie wesentlich bestimmende Typus, der eines erkenntnistheo-
10 retischen ta&^a-rasa-Psychologismus, ist es, der uns mit gutem
Grunde so lange fesselte und uns in seiner weiteren, nur konse¬
quenten Ausgestaltung zu einer sogenannten immanenten Philo¬
sophie oder einem immanenten „Positivismus’' noch weiter fes¬
seln muß. Diese Entwicklung knüpft sich an die beiden genialen
15 Schüler Lockes, Berkeley und H u m e. In untrennbarer
historischer Einheit mit diesen beiden Denkern, sich sozusagen
in ihnen vollendend, ist Locke eine der Hauptquellen des Geistes
der lebendigen philosophischen Gegenwart.
Gerade diese Quelle aber interessiert uns nach dem ganzen
20 Gang und Sinn unserer ideengeschichtlich-kritischen Betrach¬
tungen vor allem anderen. Denn es handelt sich uns in diesen
Betrachtungen um nichts geringeres als darum, die Einheit der
142 ERSTE PHILOSOPHIE
durch Jahrtausende hindurchgehenden Motivation bloßzulegen,
welche als Entwicklungstrieb in aller Philosophie lebte, sofern
sie zur wahren Philosophie, und in aller philosophischen Methode,
sofern sie zur wahren Methode werden wollte. In einigen Philoso-
5 phien zeitweilig relativ befriedigt, und doch nie letztbefriedigt,
wird die Philosophie zu immer neuen methodischen Besinnungen
fortgetrieben; sie nimmt immer neue methodische Gestalten an
und kommt dabei doch nie zu Ende. Sie kommt nie zu dem
Ende, das da heißt: wahrer Anfang eines wahren Werdens aus
10 der Kraft der einen wahren Methode. Wahre Methode kann hier
aber nur diejenige heißen, die in absolut zweifelloser Evidenz
verstanden und betrachtet werden kann als die den Sinn der
Philosophie einzig erfüllende, durch sie einzig geforderte.
Es gilt zum Verständnis zu bringen, daß die Philosophie nach
15 ihrer methodischen Leitidee als sich absolut rechtfertigender
Wissenschaft in dem frühzeitig erwachsenen methodischen Ideal
objektiv-rationaler Wissenschaft nicht Genüge finden konnte,
daß sie vielmehr eine völlig neuartige Weise methodischen Vor¬
gehens forderte, ohne das sie, und damit echte Wissenschaft
20 überhaupt, nimmer werden konnte, ja auch nur anfangen konnte,
solche zu werden. Es gilt zu zeigen, daß gewisse Hemmungen,
in der Natur der Erkenntnislage selbst gründend, in der alles
Philosophieren wurzelt, das Geistesauge von der Blickrichtung
auf das reine Bewußtsein ablenken, und damit von der berufenen
25 Werkstätte ablenken, in der alle grundlegende Arbeit getan wer¬
den muß. Und weiter müssen die Hemmungen gezeigt werden,
welche das Erfassen der evidenten intentionalen Bestände ver¬
hindern und so die Ausbildung der echt intentionalen Methode,
in der hier allein gearbeitet werden kann. Natürlich gilt es, die
30 Entwicklungsstadien klarzulegen, in denen die werdende Philo¬
sophie allmählich dieser reinen Bewußtseinssphäre innewurde,
wie sie sie dann als notwendige Arbeitsstätte erkannte, während
sie zunächst doch für ihr eigentümliches Wesen und die ihr eigen¬
tümliche Arbeitsweise blind blieb; so bis zum endgültigen Durch-
35 bruch der wahren Methode und des ersten Anfangens wirklicher
Philosophie in den letzten Jahrzehnten, und zwar, wie ich über¬
zeugt bin, in Gestalt der neuen Phänomenologie.
So wird uns verständlich, daß Locke in unserem Zusam¬
menhang von ganz besonderer historischer Bedeutung war. Er
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 143
mag noch so langweilig und weitschweifig sein, und er ist es
reichlich, er mag an metaphysischem Tiefsinn, an weltanschau¬
licher Intuition noch so arm sein, arm an all dem, was Herzen
emporreißen oder sie an die Tragik des Weltschicksals im ringen-
5 den Menschheitsleben mahnen kann; sein Empirismus und der
seiner Schule mag noch so anstößig sein, wie er es in allen Zeiten
auch empfunden wurde; gleichwohl, die Locke’sche Philosophie,
sowohl in ihrem ursprünglichen Typus als in ihrem weiterhin
zur immanenten Philosophie fortgebildeten Typus, war eine
10 wesentliche Etappe auf dem dornigen Wege zur wahren Methode.
Schon dadurch muß sie unser Interesse erregen, daß sie, wie
wir nach weisen könnten, ein — sich selbst freilich verhüllter —
Skeptizismus ist, der sich in der Tat in der weiteren Fortent¬
wicklung, obschon nicht in jeder Richtung, enthüllt hat und
15 nun als H u m e'scher Skeptizismus an die neue Philosophie
die große Forderung stellt, ihn in der Form zu überwinden, die
für jeden radikalen Skeptizismus die notwendige ist, nämlich
ihn in einem höheren Sinne wahrzumachen.
Der Locke’sche Psychologismus interessiert uns also schon als
20 eine neue Form des Skeptizismus, neu gegenüber dem antiken
Skeptizismus, der, wie wir zeigten, so bedeutsam war für die
Entwicklung der antiken Philosophie. Erwächst doch in Reaktion
gegen seine Urform, gegen die Sophistik, allererst die Idee und
das Problem der Philosophie als Wissenschaft aus absoluter
25 Rechtfertigung.
Bringen wir uns Bekanntes zur Wiedererinnerung. Wir über¬
zeugten uns, daß das Altertum trotz heißen und in gewisser
Hinsicht relativ sehr erfolgreichen Bemühens dieser Idee nicht
wirklich genugzutun vermochte. Es schuf die objektive rationale
30 Wissenschaft, eine Wissenschaft, die scheinbar voll befriedigend
war, aber doch bei aller Leistung innerlich skeptisch belastet
blieb, nämlich unfähig blieb, Rätselfragen zu beantworten, die an
ihre Gegenstände in Bezug auf ihre Erkenntnis gestellt werden
konnten, eben die transzendentalen Fragen. So blieb im Alter-
35 tum der Skeptizismus als breiter Strom bestehen und blieb in
der Tat unüberwindlich.
Was die Neuzeit anlangt, so beginnt sie, wie wir sahen, als
Renaissance der Platonischen Intentionen. D e s c a r-
t es erneuert mit Urkraft die Idee einer sich radikal recht-
144 ERSTE PHILOSOPHIE
fertigenden universalen Wissenschaft und versucht sie in neuer
Methode ins Werk zu setzen. Das Unternehmen mißlingt, ob¬
schon er den ersten absolut notwendigen Schritt tut und im
ego cogito wirklich den archimedischen Punkt oder vielmehr
5 archimedischen Boden entdeckt, den absolut sicheren und not¬
wendigen Arbeitsboden der ersten Grundlegungen. Aber gerade,
daß er Arbeitsboden sei und was da Art und Methode der Arbeit
sein müsse, das entdeckt Descartes nicht, und so gibt er
nur einen gewaltigen Anstoß, der sich allererst historisch aus-
10 wirken muß. Er begeht dabei den Grundfehler, objektive Wissen¬
schaft, so wie sie als antiker Wissenschaftstypus geschaffen wor¬
den ist, allenfalls in der neuen Gestalt rationaler Naturwissen¬
schaft, nur durch eine stützende Grundlage sich absolut recht-
fertigen zu lassen, ohne sie selbst methodisch zu ändern. Gerade
15 dadurch — die Grundbetrachtung und die theologisch-metaphy¬
sischen universalen Perspektiven, die sie eröffnete, schienen für
die positiv-wissenschaftliche Arbeit doch entbehrlich — hat
Descartes einem neuen Dogmatismus den Weg freigemacht, hat
den positiven Wissenschaften die Freiheit gegeben, sich auf sich
20 selbst zu stellen und ein Übriges einer sie ergänzenden Metaphy¬
sik zu überlassen, einer genau so objektivistisch-dogmatischen
Wissenschaft wie diese einzelnen Wissenschaften selbst.
Nach Descartes ist aber ein neuer großer Schritt zuerst
durch Locke vollzogen. Er ist der erste, der vom cartesiani-
25 sehen cogito den Weg sucht zu einer Wissenschaft vom cogito,
und der erste, der die methodische Forderung erhebt, eine uni¬
versale intuitionistische Erkenntnis- und Wissenschaftsbegrün¬
dung zu vollziehen: nämlich alle Erkenntnis auf ihre intuitiven
Urquellen im Bewußtsein, in der inneren Erfahrung zurückzu-
30 führen und aus diesen aufzuklären. Bei aller Unreife und Un¬
klarheit sieht er doch, daß, wenn alles, was für ein Subjekt sich
als Wirklichkeit und Wahrheit bietet, sich in seinem eigenen
Bewußtseinsleben bietet und nur da bieten kann und, wenn alle
Ausweisung von Recht und Unrecht, von Wahr und Falsch, von
35 Wahrscheinlich und Unwahrscheinlich nur in der Immanenz des
Bewußtseins sich vollziehende Leistung, eine vom Subjekt (voll¬
zogene) und im Subjekt sich vollziehende Leistung ist: daß dann
nur ein systematisches Studium der Bewußtseinssphäre, des
Reiches cartesianischer unmittelbarer Evidenz, die Erkenntnis-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 145
probleme zur bestimmten Formulierung und zu wirklicher Lö¬
sung bringen kann. Die naive, und in dieser Entwicklungslage
unvermeidliche Übertragung der apperzeptiven Gewohnheiten
objektiver Natur- und Weltbetrachtung auf das cartesianische
5 Reich unmittelbarer Evidenz führt ihn zum naturalistischen
Psychologismus der tabula-rasa-Interpretation, der, wie unsere
Kritik zeigte, schon seinem Typus nach notwendig Skeptizismus
war, sich also in Widersinn aufhebt.
Und nun ergibt sich mit Beziehung auf diesen neuartigen
10 Skeptizismus und mit Rücksicht auf die Tatsache, daß er trotz¬
dem Epoche machen und die Neuzeit bis zur Gegenwart fort¬
dauernd bestimmen konnte, für die Neuzeit bis zur Gegenwart
ein ähnliches Bild wie Tür das Altertum. Wie dort dem Platonis¬
mus und dem Strom der von ihm ausgehenden rationalistischen
15 Philosophie immerfort parallel lief der Strom skeptischer Schu¬
len, so in der Neuzeit dem Cartesianismus und dem von ihm aus¬
gehenden Strom rationalistischer Philosophie der Gegenstrom
der empiristischen Philosophien. Man kann dann sagen: beider¬
seits beweist die Unausrottbarkeit des Skeptizismus, daß der
20 Rationalismus noch nicht rechter Rationalismus war, d.h.
daß er die Idee einer wahrhaft rationalen, einer im vollen, abso¬
luten Sinn sich rechtfertigenden Wissenschaft, und dann erst
recht eines universal vereinheitlichten Systems solcher Wissen¬
schaften, nicht zu realisieren vermochte.
25 Aber soviel Wahrheit in dieser Parallelisierung hegt, sie ist
doch nicht die volle Wahrheit. Der antike Skeptizismus ist ja
beständig und bewußt Negativismus, die Antiphilosophie, welche
keine Philosophie überhaupt, und das beschließt: keine objek¬
tive überhaupt, als echte gelten läßt und keine prinzipiell für
30 möglich erklärt. Er hat keine Sphäre positiver Erkenntnis und
Arbeit, er kennt keine wahre Methode, es sei denn seine Tech¬
nik der Konstruktion von skeptischen Paradoxien. Davon ist
nur der Empirismus der späteren medizinischen Empiriker aus¬
zunehmen, der aber das Gesamtbild der alten Philosophie wenig
35 bestimmte.
Anders steht es mit dem neuzeitlichen Empirismus. Sehen wir
von dem isolierten großen Phänomen H u m e ab, so wollte der
Empirismus nicht Negativismus sein, und wollte nicht einmal
Skepsis sein. Selbst die späteren Nachbildner oder Nachahmer
Husserliana VII 10
146 ERSTE PHILOSOPHIE
Humes, die Philosophen des „Als ob”, wollten der objektiven
Wissenschaft nicht ihre Ehre nehmen, sondern sie nur in rechter
Weise interpretieren. Ja Hume selbst findet sie völlig vernunft¬
los, aber preisgeben will er sie nicht. Mag in der empiristischen
5 Philosophie des Locke ’schen tabula-rasa-Typus auch noch so
viel Widersinn stecken, und alles in allem skeptische Konsequenz,
es ist doch eine Erkenntnistheorie und Psychologie, die eine Me¬
thode hat und in ihrer Methode wirklich etwas tut. Es ist nicht
einfach leere Konstruktion, es ist keine Begriffsscholastik. Der
10 Empirist ist durchaus auf konkret greifbare Probleme gerichtet,
und auf ihre wirkliche Erledigung durch selbst zugreifende Ar¬
beit. Er hat auch wirklich etwas in den Händen, und ganz ohne
Frucht ist seine Arbeit nicht, es gestaltet sich ihm etwas in den
Händen; und darum kann man aus Locke und seinen Nach-
15 folgern etwas lernen; man sieht immer, was sie sehen, und daß
sie etwas sehen und daß etwas dabei sich gestaltet, in ausführen¬
der Arbeit.
Aber wie verträgt sich das mit unserer Kritik, mag man fragen.
Ich antworte: das Große, und nicht bloß faktisch Epochemachen-
20 de, sondern bleibend Bedeutende, ist der erste Durchbruch der
Methode eines Intuitionismus, eben des besprochenen Prinzips,
auf die Urquellen der Anschauung, der Evidenz zurückzugehen,
und das in einem systematischen Verfahren, alle Erkenntnis aus
diesen Urquellen klärend. Es ist hier die Einsicht bestimmend,
25 daß es unter dem Titel ego cogito ein in sich geschlossenes Reich
aller Urquellen gibt, das Reich des einzig absolut Selbstgegebenen
und unmittelbar Evidenten, das zum Urfeld aller Studien werden
muß. In diesem Formalen besteht das bleibende Recht des Em¬
pirismus. Wenn er nun auch unfähig ist, das Bewußtsein rein als
30 Bewußtsein zu verstehen und es, wie wir uns ausdrückten, selbst
zu befragen nach Wesen und intentionalen Leistungen, wenn er
auch naturalisierend mißdeutet und naturalistische Konstruk¬
tionen dem wirklich Gesehenen unterschiebt, so bewegt er sich
doch de facto im großen und ganzen auf dem Boden, den er sich
35 selbst erwählt hat, und bei allen Mißdeutungen und selbst bös-
artigen Konstruktionen sind gesehene Zusammenhänge die Un¬
terlage. Sie werden auch sichtlich für jeden, der aufmerksam liest.
Nur freilich, sie sind nicht, sie sind niemals wissenschaftlich ge¬
faßt, in ihrem reinen Sinn und Sinneszusammenhang beschrieben
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 147
und überhaupt in der durch das Wesen der Intentionalität ge¬
forderten Methode behandelt. Nur so verstehen sich die ungeheure
Kraft des Empirismus der Neuzeit und die unablässigen Ver¬
suche, ihn zu bessern, durch ihn eine wirklich wissenschaftliche
5 Psychologie und Erkenntnistheorie zustandezubringen.
Und so versteht sich das vorwiegende Interesse, das für uns
Locke und seine Schule hat. Es versteht sich, weil wir auf dem
Wege sind, von immer neuen Seiten und am historisch-kritischen
Material zu zeigen, daß der Sinn der Philosophie selbst und der
10 durch diesen Sinn geforderten Methode zu einem Intuitionismus
treibt, daß aber die wahre Methode, der echte Intuitionismus,
nicht derjenige L o c kes ist, auch nicht derjenige der aus
ihm hervorgegangenen immanenten Philosophie — eine solche
endet notwendig in Skeptizismus und Widersinn — sondern der
15 Intuitionismus der transzendentalen Phänomenologie, d.i. der¬
jenigen Wissenschaft vom ego cogito oder, wie wir auch sagten,
derjenigen Egologie, welche das ego und cogito und cogitatum
genau so nimmt, wie es sich in der Intuition wirklich gibt, das
lebendig strömende Bewußtseinsleben und das in ihm Bewußte in
20 seiner konkreten Lebensfülle, und nun die reinen Methoden in¬
tentionaler Analyse und der Enthüllung verborgener Intentiona¬
litäten ausbildet, die in absoluter und unerschrockener Vorur¬
teilslosigkeit vorgehen und in jedem Schritt mit rein Geschau¬
tem, mit absolut zweifellos Gegebenem sich decken.
25 Radikale Kritik des Empirismus der inneren Erfahrung ist also
mehr als eine sonstige philosophische Kritik. Es ist eine Kritik,
die, aufzeigend, was der Empirist wirklich in absoluter Gegeben¬
heit vor Augen hat und was er andererseits substruiert, uns von
den objektivistischen Vorurteilen befreit, die uns für das spezi-
30 fisch Transzendentale blind machen, für die reine Subjektivität
und das unter dem Titel reinen Bewußtseins sich vollziehende
Leben und Leisten, in dem sich alle mögliche Objektivität Sinn
und Sein für ein mögliches Ich zueignet. Eben damit eröffnet die
Kritik den Weg zu derjenigen Leistung der Überwindung wie
35 aller, so der empiristischen Skepsis, die wir vorhin mit den Wor¬
ten andeuteten, einen radikalen Skeptizismus überwinden heiße,
ihn in einem guten Sinne wahrmachen. Das Wahr-machen selbst
und im vollsten Sinn, das sagt natürlich: die wirklich ausfüh¬
rende Arbeit, deren Methode und Horizonte die Kritik nur im
148 ERSTE PHILOSOPHIE
allgemeinen sichtlich machen konnte. Aber schon die Kritik
macht den Empirismus insofern wahr (und in höherem Sinn als
etwa ein kritischer Übergang von der Sophistik zu Sokrates
oder Descartes diese wahrmacht), als sie dem empirischen
5 Intuitionismus als Intuitionismus zu seinem wahren Rechte ver-
hilft und somit den Empirismus gleichsam gegen ihn selbst ver¬
teidigt, gleichsam sein wahres Ich und seine Leitidee zum Worte
kommen läßt, oder aus dem Scheinempirismus den wahren und
echten Empirismus herauspräpariert.
21. Vorlesung: <Berkeleys Entdeckung und — naturalistische Mißdeu¬
tung des Problems der Konstitution der realen Welt. >
10 Um unsere ideengeschichtlichen Betrachtungen ihrem Ab¬
schluß entgegenzuführen, habe ich zunächst von der Entwicklung
des Locke 'sehen Psychologismus in eine rein immanente Phi¬
losophie zu sprechen.
Die widerspruchsvolle Art, in der Locke das Dasein einer
15 transzendenten Welt, die neue Naturwissenschaft, die unter den
Naturwissenschaftlern überlieferte Interpretation subjektiver und
objektiver Qualitäten der sinnlich anschaulichen Dinge als Vor¬
gegebenheiten voraussetzte, während er doch andererseits seinen
Intuitionismus auf eine methodische Analyse der reinen Gegeben-
20 heiten innerer Erfahrung anlegte, mußte Anstoß erregen; in
diesem Intuitionismus lag doch an sich und auch für die Zeit
das Neue, Bedeutsame des Locke’schen Werkes. Unmittelbar
gegeben sind nur unsere eigenen ,,Ideen”, ist nur das Feld unserer
unmittelbar evidenten inneren Erfahrung. Das muß also das ur-
25 sprüngliche Feld wissenschaftlich-psychologischer Forschung sein,
und so auch der wissenschaftlichen Aufklärung aller Erkenntnis¬
probleme. Das war einleuchtend. An der Naturalisierung des
Bewußtseins konnte niemand Anstoß nehmen, sie entsprach dem
natürlichen Denkzuge. Also einleuchtend war auch das weitere
30 methodische Verfahren Lockes, die Gegebenheiten der inneren
Erfahrung auf ihre Elemente hin anzusehen und sie einer gene¬
tischen Ursprungsanalyse zu unterziehen: die im entwickelten
Bewußtsein auftretenden komplexen Bestände müssen genetisch
aus den Elementen aufgebaut und dabei in eins deskriptiv und
35 entwicklungsmäßig verständlich werden.
Es war dann eigentlich selbstverständlich, daß die bewußt-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 149
seinstranszendente Objektivität, die äußere Realität, in dieser
intuitionistisch-genetischen Methode nur in Frage kam als Innen¬
phänomen der tabula rasa, also nicht als Realität selbst, sondern
als Erfahrungsinhalt, als sinnliche Erscheinung. Und wieder:
5 wenn nur dieses Phänomen ursprünglich allein gegeben und
evident ist und alle Erkenntnis, also selbst die in der Erfahrung
liegende, erst ihrer Möglichkeit nach durch solche Innenanalyse
erklärt werden soll, durfte keine Objektivität vorausgesetzt wer¬
den. Also das lag im Horizont jedes sich auf den Boden der in-
10 tuitionistischen Methode stellenden und prinzipiell klar denken¬
den Lesers.
So war in Lockes Werk selbst die Tendenz auf eine rein imma¬
nente Philosophie angelegt. In vielen, breiten Einzelausführun¬
gen tritt sie auch schon bei Locke deutlich zutage, so in seiner
15 ausdrücklichen Lehre, daß Erkenntnis als Innewerden einer
Wahrheit nur zu definieren sei als Wahrnehmung der Überein¬
stimmung oder Nichtübereinstimmung unserer eigenen Ideen;
worin doch lag, daß eine Erkenntnis von prinzipiell Transzenden¬
tem undenkbar sei, womit Lockes Lehre von der Transzen-
20 d e n z freilich wenig stimmen wollte. Es lag also sehr nahe, den
Locke’schen Intuitionismus methodisch zu reinigen und unter
strenger Ausschaltung transzendenter Präsuppositionen die Pro¬
blematik der Erkenntnis der Transzendenzen unter ausschlie߬
licher Voraussetzung der immanenten Gegebenheiten durchzu-
25 denken: freilich in der naturalistischen Einstellung, da noch
nicht die Zeit war, Bewußtsein als Bewußtsein zu sehen und
intentionale Methode üben zu können.
Hier setzt nun Berkeley ein, einer der radikalsten und
in der Tat genialsten Philosophen der Neuzeit. Die moderne
30 empiristische Erkenntnistheorie und die moderne Psychologie
verehrt in ihm ihren größten Bahnbrecher; aber das Beste seines
Geistes, das, was über seine allerdings bewundernswerten Fort¬
bildungen der naturalistischen Innenanalysen Locke’s hinaus¬
liegt, hat, wie mir scheinen möchte, die Neuzeit nicht zu erfassen
35 vermocht.
Von der für ihre Zeit bewunderungswürdigen Kritik, einer
Prinzipielles berührenden, obschon nicht prinzipiell erschöpfen¬
den Kritik, die Berkeley an der Locke’schen Lehre von den
materiellen Substanzen und ihren primären Qualitäten geübt hat,
150 ERSTE PHILOSOPHIE
haben wir schon früher gesprochen. Sie dient Berkeley zur Be¬
gründung der ersten immanenten — obschon naturalistischen —
Theorie der materiellen Welt. In eins damit, und allgemeiner
gesprochen, ist es der erste systematische Versuch, die Konstitu-
5 tion der realen Welt (der physischen und animalisch-mensch¬
lichen) in der erkennenden Subjektivität theoretisch begreiflich
zu machen. Ja selbst das Problem ist eigentlich erst von Berkeley,
wenn auch in einer bloß primitiven Anfangsgestalt, gesehen
worden. Zwar eine Keimform des Problems liegt schon in den
10 Cartesianischen Meditationen, sofern ja ihre erste Aufgabe die
ist, aufzuzeigen, wie das ego von dem unmittelbar evidenten
Bereich seiner cogitationes zu dem Glauben an eine transzendente
Objektivität, an eine Außenwelt und Gott, kommt. Aber so sehr
hier der Anfang der ganzen neuen Erkenntnistheorie und der
15 Keim auch des konstitutiven Problems liegt, so fehlt doch die
Einsicht, daß es hier zunächst gilt, das unmittelbare Bewußt¬
seinsfeld selbst in systematische Arbeit zu nehmen, es selbst zu
befragen und aus ihm selbst her, sofern es doch allein in seinen
Phänomenen eine Außenwelt bewußtmacht, den Sinn dieser
20 äußeren Welt zu ergründen.
Auf diesen Weg leitet L o c k e s Intuitionismus, wenn er eben
rein gefaßt wird, und nur, wenn er es wird. Sowie Berkeley die
reine Inneneinstellung herstellt, erschaut er alsbald das Problem
und versucht seine Lösung. In genialer Kühnheit restituiert er
25 das Recht der natürlichen Erfahrung. Rein immanent, als Er¬
lebnis des ego genommen, gibt sich die äußere Erfahrung als
Erfahrung der Außenwelt selbst. Das Gesehene, Gehörte, sinn¬
lich Erfaßte gibt sich als Natur selbst, sie selbst, originaliter,
und nicht irgendwelche Abbilder. Wahrnehmung substruiert
30 nicht, macht keine Schlüsse.
Andererseits bleibt Berkeley im Naturalismus der tabula-rasa-
Auffassung befangen. Sensualistisch verwechselt er das jeweilig
wahrgenommene Ding in seiner Evidenz der Wahrgenommenheit
mit dem jeweiligen Komplex von Empfindungsdaten, von visuel-
35 len,taktuellen, akustischen und sonstigen Daten, ohne dessen inne¬
zuwerden, daß das in der Kontinuität des Wahrnehmens evident
gegebene identische Ding eben als evident identisches
unmöglich der beständige Wandel der sinnlichen Daten sein
kann. Ihm wie allen Sensualisten, ja allen Psychologisten der
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 151
naturalistischen Schule entgeht die evidente und innerhalb der
Immanenz zu erfassende Unterscheidung zwischen dem Wandel
der Erscheinungsweisen, der sich stetig verschiebenden Aspekte,
der schon jedes einzelne Dingmerkmal betrifft, und dem erschei-
5 nenden Ding selbst und seinen erscheinenden Merkmalen, und
zwar rein als erscheinenden. Läßt man diese abschattenden Er¬
scheinungen als Empfindungsdaten gelten, so besagt also die
Berkeley’sche These, daß die erfahrene Welt des Erkennenden
nichts anderes sei als seine jeweiligen Empfindungskomplexe,
10 daß er der Einheit des erfahrenen Dinges unterschiebt die Man¬
nigfaltigkeit seiner abschattenden Erscheinungen, was eben da¬
mit zusammenhängt, daß er blind ist für das Dingbewußtsein
als Einheitsbewußtsein und für die im kontinuierlichen Erfahren
waltende Bewußtseinssynthesis und für das erfahrene Ding selbst
15 als synthetische Einheit in der Kontinuität der mannigfaltigen
Meinung x).
Was den in sich getrennten Daten der verschiedenen Sinnes¬
gattungen Farbe, Töne usw. Erfahrungseinheit gibt, ist also für
den Sensualisten die bloße Assoziation. Die Dinge sind nichts
20 anderes als assoziative Komplexe, die gewohnheitsmäßig auf¬
einander hinweisen, die empirisch geregelt in Koexistenz und
Sukzession in der sinnlichen Erfahrung auftreten. Schon für
Berkeley reduziert sich die Kausalität der Natur auf bloß
gewohnheitsmäßige Erwartungen. Assoziation ist das Prinzip
25 aller Erfahrungsschlüsse; schließen kann ich so von immanenten
Daten auf immanente Daten, nie auf Transzendentes, auf Un-
perzipierbares; so wie eine transzendente Natur als ein Reich
x) Die Verwechslungen sind alt, wie sie andererseits unausrottbar noch die heutige
Psychologie und Erkenntnistheorie verwenden; vielleicht ist eben darum noch ein
Wort der Erläuterung nützlich. H o b b e s (wie nachher auch Locke) identifiziert
das Wahrnehmungsding — die Substrateinheit wahrgenommener Eigenschaften —
mit dem in der Empfindungsreflexion jederzeit sichtlich werdenden Komplex
sensueller Daten, der seine einzelnen Daten als kollektive Elemente, aber nichts
weniger denn als Eigenschaften „hat”. Es ist scharf im Auge zu behalten, daß schon
jede einzelne Eigenschaft in der Kontinuität ihrer Wahrnehmung als evidente syn¬
thetische Einheit gegeben ist. Z.B. ist die wahrgenommene Dingfarbe, die ich unver¬
ändert sehe, während ich normalerweise die Augen bewege, näher herantrete usw.,
eben als diese identische gesehen, während die Empfindungsdaten, die diese selbe
Farbe von Moment zu Moment darstellen (die Abschattungen der Farbenperspektive)
beständig wechseln. In der Einstellungsänderung, im Übergang vom echten auf das
wahrgenommene Ding und die wahrgenommenen Eigenschaften, auf die perspekti¬
vischen Darstellungen derselben, wird dieser Zusammenhang — und als notwen¬
diger — evident.
152 ERSTE PHILOSOPHIE
der transzendent materiellen Existenzen in einem transzenden¬
ten Raum eine Fiktion ist und nur auf die erfahrene Natur sich
reduziert, die nichts anderes ist als die immanenten, assoziativ
geeinten Empfindungskomplexe, so reduziert sich die Natur-
5 gesetzlichkeit auf eine induktive Gesetzlichkeit dieser Komplexe,
und letztlich auf eine assoziative Regelung im Kommen und
Gehen der sensuellen Daten im Bewußtsein. Hier gibt es kein
eigentliches Wirken und Gewirktwerden, keine eigentliche Kau¬
salität, nur regelmäßiges Antezedieren für ein regelmäßiges, in-
10 duktiv zu erwartendes Folgen. Wirkliche Kausalität ist nur Ich-
Kausalität.
22. Vorlesung: <Berkeleys monadologischer Ansatz; Vergleich mit
Leibniz. Übergang zu Hume.y
Sinnesdaten, Sinneskomplexe sind nur denkbar als perzipiert,
als in einem Subjekt bewußt. Es hat keinen Sinn, für sie eigene
materielle Substanzen anzunehmen, deren Undenkbarkeit schon
15 das Locke 'sehe Je ne sais quoi andeutet. Sie bedürfen für ihr
Sein nur des Geistes, der ihrer bewußt ist. Andererseits — der
Geist selbst ist Substanz, er ist das einzig denkbare Sein, das
selbständig für sich ist, und sein Sein ist, Bewußtsein zu haben,
zu perzipieren, und andererseits, aktiv zu sein, echte Kausalität
20 zu üben. Die wahre Wirklichkeit reduziert sich auf Geister.
Aber woher weiß ich, dem doch unmittelbar nur mein eigenes
Ideenfeld gegeben ist, vom Sein anderer Ichsubjekte? Ist es nicht
verkehrt, die Möglichkeit einer Überschreitung des Ideenfeldes
zugunsten einer transzendenten Natur leugnen zu wollen und
25 andererseits doch Transzendentes, nämlich in Form fremder Ich,
zuzulassen ? Aber der Schluß auf Geister außer mir hat ganz an¬
dere Grundlagen als der auf eine materielle Transzendenz und
unterliegt keinen ernstlichen Bedenken. Berkeley behan¬
delt dieses Problem der geistigen Außenwelt leider nicht in dem
30 fast ausschließlich beachteten Treatise, wohl aber in den Dialogen
zwischen Hylas und Philonous. Sein Gedankengang, der des Inter¬
esses sehr würdig ist, sei hier in freier (etwas verschärfter) Weise
dargestellt.
So wie Dinge einander assoziativ-induktiv indizieren können,
35 so können sie auch spezifisch Ichliches, Ichakte, Ichmeinungen,
Urteile usw., indizieren; es können sich auch in dieser Hinsicht
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 153
gewohnheitsmäßige Verbindungen und Erwartungen ausbilden.
Gewisse Sinnendinge in meinem Bewußtseinsfeld können nun
vermöge der Ähnlichkeit mit dem Ding, das ich meinen Leib
nenne, Geistiges, Ichakte, subjektive Erlebniszusammenhänge in-
5 dizieren, die nicht die meinen sind. Mein Leib ist, als immerfort
in meinem Bewußtseinsfeld bleibend, mit meinem geistigen
Leben innig assoziiert. Begreiflicherweise wird ein Ding, das
ihm in seiner Art und seinem Gehaben hinreichend gleicht, ein
analoges Seelenleben indizieren. Der Schluß ist ganz verständ-
10 lieh und geht nicht auf ein Unerkennbares, sondern von Analogon
auf Analogon. Damit aber, daß ich fremde Subjekte mit Bezie¬
hung auf ihre Leiber gegeben habe, mitgegeben in der Weise der
empirischen Indikation, ist auch dies indiziert, daß die fremden
Subjekte ihre sinnlichen Perzeptionen haben, daß sie ebensolche
15 Komplexe von Sinnendingen erfahren wie ich, daß sie mit mir
,,ein und dieselbe” Welt oder Natur ,,gemein” haben: was aber
nur eine fa$on de parier ist: in substanzieller Wirklichkeit gibt es
nur mich und die anderen, und jeder von uns hat seine Perzep¬
tionen, seine sinnlichen Komplexe, in jedem sind seine Komplexe
20 induktiv geordnet und als Naturordnung erkennbar: nur, daß
wunderbarerweise, wie das Wechselverständnis der Subjekte
lehrt, in allen die eine und völlig gleiche Natur, mit den gleichen
Empfindungskomplexen und Ordnungen, konstituiert ist. Der
Schöpfer dieser wunderbaren intersubjektiven Ordnung oder der
25 allgemeinsamen Natur ist Gott, auf den gerade aus dieser Tat¬
sache geschlossen werden muß, und damit haben wir den imma¬
nenten Typus eines teleologischen Beweises.
So primitiv diese ganze Theorie ist, so sehr sie einer bis ins
einzelne gehenden und wissenschaftlich sorgsamen Durchführung
30 entbehrt, es ist doch eine erste Theorie der Transzendenz auf dem
Boden der Immanenz, der erste Versuch, aus den notwendigen
theoretischen Forderungen, welche die immanent verlaufenden
Erfahrungen selbst ergeben, und rein aus ihnen selbst, den
Sinn der erfahrenen Welt wissenschaftlich zu bestimmen. Darin
35 sehen wir auch den wesentlichen Unterschied der Berkeley
sehen Theorie von der gleichzeitigen L e i b n i z 'sehen Mona¬
dologie. So nahe verwandt sie im Ergebnis sind, so verschieden
sind sie in ihrer Anlage und ihrer Begründungsweise.
L e i b n i z ’ Monadenlehre hat den Stil einer metaphysischen
154 ERSTE PHILOSOPHIE
Deutung der mathematischen Naturwissenschaft und der in
ihren exakten Theorien sich in Wahrheit, in naturwissenschaft¬
licher Wahrheit bestimmenden materiellen Natur. Ihm gilt es,
diese naturwissenschaftliche Wahrheit zu versöhnen mit der reli-
5 giösen und theologischen Wahrheit; den von der Naturwissen¬
schaft bestimmten Sinn der Natur, diese Mechanik der Atome,
in Einklang zu bringen mit dem von der Religion geforderten
teleologischen Sinn alles weltlichen, also auch alles naturalen
Seins und Geschehens. L e i b n i z gibt in seiner Monadologie
10 ein geniales Apertju. Er findet die Möglichkeit der Versöhnung
durch eine geistige Interpretation der Natur, die dem natur¬
wissenschaftlichen Sinn einen inneren monadologischen Sinn
deutend unterlegt und dafür Argumente sammelt.
Berkeley andererseits, der Bischof von Cloyne, ist natür-
15 lieh auch theologisch interessiert, sogar ausschließlich theologisch,
und nicht, wie Leibniz, doppelseitig, theologisch und naturwissen¬
schaftlich; denn er ist keineswegs auch Naturforscher. Aber das
Neuartige bei ihm ist, daß er nicht metaphysisch und theologisch
interpretiert, sondern ein Stück voraussetzungsloser systema-
20 tisch-wissenschaftlicher Untersuchung gibt, für welche die für
sie ursprünglich bestimmenden theologischen Interessen ganz
irrelevant sind. Die Kritik Lockes gibt ihm den rein immanenten
Boden, und auf dem versucht er eine deskriptive und genetische
Aufweisung der rein immanenten Eigenheiten der äußeren Wahr-
25 nehmung, Eigenheiten, in denen der jederzeit evident auf weis¬
bare Sinn der erfahrenen und erfahrbaren Natur als solcher im¬
manent beschlossen ist. Also er interpretiert und substruiert
nicht, sondern er weist auf, und sucht weiter zu zeigen, daß auf
diesen immanenten Sinn der äußeren Erfahrung sich alle Natur-
30 Wissenschaft bezieht, daß die Dinge, die sie erkennt, keine ande¬
ren sind als die wirklich und direkt perzipierten und daß da¬
durch allem wissenschaftlichen Verfahren der Naturforscher ge¬
nuggetan werden kann.
Hier zuerst zeichnet sich, wie wir bereits im voraus andeuteten,
35 wenn auch in allzu primitiver und mit naturalistischem Wider¬
sinn behafteter Form, das Problem einer konstitutiven Theorie
der Äußerlichkeit als Phänomen der rein in sich abgeschlossenen
Bewußtseinsinnerlichkeit ab. Dieses Problem lag Leibniz
nahe genug, es lag gewissermaßen in seinem Sehfeld. Aber die
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 155
zentrale philosophische Bedeutung dieses Problems hat er wohl
nicht gesehen; die Idee einer systematischen und streng wissen¬
schaftlichen Erforschung der reinen Bewußtseinssphäre und der
sich in ihrer reinen Immanenz vollziehenden Sinngebungen wird
5 für ihn nicht zur Triebkraft seines Philosophierens. In der B e r-
k e 1 e y’schen Reinigung der verworrenen Lock e’schen An¬
sätze zu einem immanenten Intuitionismus liegt aber der erste
Keim zu einer neuartigen Bewußtseinswissenschaft, die sich als
Wissenschaft vom reinen Bewußtsein notwendig von der gesam-
10 ten traditionellen Psychologie als objektiver Welt Wissenschaft
trennt, wie sehr auch jede Psychologie es mit Bewußtseinserleb¬
nissen zu tun hat. Doch Berkeley selbst hat eine systematische
Bearbeitung dieser reinen Bewußtseinswissenschaft, ja schon
eine Absteckung ihrer vollen Idee als Fundamental Wissenschaft
15 für alle Erkenntnis und Wissenschaft überhaupt noch nicht voll¬
zogen, obschon sein Treatise, seine Dialoge, ja auch seine geniale
Erstlingsschrift über Theorie des Sehens (letztere mit einigen
nötigen Modifikationen) die Idee dieser Wissenschaft vorberei¬
ten und sich ihr als primitive Voranschläge einordnen.
20 Der Vollender Berkeleys, ihn im immanenten Naturalismus
aber noch weit übersteigend, ist David Hume. Seine ein¬
zigartige Bedeutung in der Geschichte der Philosophie liegt zu¬
nächst darin, daß er in Berkeleys Theorien und Kritiken
den Durchbruch einer neuartigen Psychologie erschaut und in
25 ihr die Grundwissenschaft für alle möglichen Wissenschaften
überhaupt erkennt; ferner, daß er diese Wissenschaft, unter Be¬
nützung der von Berkeley und, in unreiner Form, z.T. auch von
Locke getanen Arbeit, systematisch zur Ausführung zu bringen
sucht, und zwar im Stile eines immanenten Naturalismus von
30 schärfster Konsequenz. Eben damit hat Hume einen radika¬
len Psychologismus eines wesentlich neuen Typus begründet, der
alle Wissenschaften auf Psychologie, aber auf eine rein imma¬
nente und zugleich rein sensualistische Psychologie gründet.
Gerade in diesem entscheidenden Punkt ist Hume stets miß-
35 verstanden worden. Man hat von seinen Theorien sozusagen
nichts verstanden, wenn man unter der Hume’schen Psychologie
die Psychologie im gewöhnlichen Sinne einer objektiven Wissen¬
schaft vom Seelenleben des Menschen in der objektiven Welt
versteht. Freilich, Humes eigene Rede ist mißleitend, und nie
156 ERSTE PHILOSOPHIE
hat er die notwendige Kontrastierung vollzogen. Man muß aber
den Sinn seiner Psychologie aus seinem fast ganz konsequenten
methodischen Verfahren herauslesen und ihn zudem aus dem
historischen Zusammenhang heraus interpretieren. Wenn man
5 im Vorworte seines Treatise liest: die Lehre vom Menschen ist
die einzige feste Grundlage für die anderen Wissenschaften, oder
liest: es gibt keine Frage von Bedeutung, deren Lösung in der
Lehre vom Menschen nicht mit inbegriffen wäre, und keine kann
mit einiger Sicherheit entschieden werden, solange wir nicht mit
10 dieser Wissenschaft vertraut geworden sind; wenn es weiter
heißt, daß in der Klarlegung der Prinzipien der menschlichen
Natur das vollständige System der Wissenschaften beschlossen
sei, wenn man dazu auch andere Sätze liest, die es bestätigen,
daß keine erdenkliche Wissenschaft hier ausgeschlossen bleiben
15 solle und selbst die letzte Begründung der Mathematik und
Naturwissenschaft durch die Lehre vom Menschen zu erfolgen
habe — wenn man, sage ich, all das liest, so steht man vor einem
krassen Anthropologismus, der für keine andere Interpretation
Raum zu lassen scheint.
20 Und doch, wenn man das denkwürdige Werk selbst näher
studiert und teils hinblickt auf die Methode, in der nichts weiter
als Vorkommnisse in der Sphäre der Perzeptionen vorausgesetzt
bzw. theoretisch festgestellt werden, und andererseits auf die
Ergebnisse, durch die nicht nur die transzendente physische
25 Natur, sondern alle objektive Welt, mit allen ihr zugehörigen
kategorialen Formen, als fiktives Gebilde in der perzeptionalen
Sphäre erwiesen werden soll; dann ist es doch klar, daß das alles
ist, nur nicht eine gewöhnliche Psychologie; also nichts weniger
als eine Erfahrungswissenschaft auf dem Boden der als seiend
30 gegebenen und als seiend gelten gelassenen raum-zeitlichen realen
Welt. Eine Wissenschaft, die beweist, daß die ganze Welt, ein¬
geschlossen die Menschen, die menschlichen Seelen, die Personen,
personalen Verbände usw. nichts als Fiktionen seien, kann keine
Wissenschaft vom Menschen und der menschlichen Seele usw.
35 im gewöhnlichen Sinne sein, keine Wissenschaft, welche die Er¬
fahrungswirklichkeit von Menschen voraussetzt. Ein solcher Un¬
sinn kann einem H u m e nicht zugemutet werden, und er hegt
auch nicht in seinem Werke selbst.
In Wahrheit ist diese Hum e’sche Psychologie der erste
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 157
systematische Versuch einer Wissenschaft
von den reinen Bewußtseinsgegebenheiten,
ich würde sagen, es ist der Versuch einer reinen Egologie, wenn
nicht Hume auch das Ich als bloße Fiktion hingestellt hätte. Es
5 ist eine ta&w/a-rasa-Psychologie, die, in radikaler Enthaltsam¬
keit, nichts verwerten will als die immanenten Vorfindlichkeiten
der tabula rasa, also nur die unmittelbar evidenten Bewußtseins¬
bestände, und nun in diesem Bereich (also im sensualistisch
gedeuteten Bereich des ego cogito) psychologische Gesetze sucht,
10 nach denen psychologische Erklärung zu gewinnen sei. Wir kön¬
nen auch sagen, es ist der erste systematische und universale
Entwurf der konkreten konstitutiven Problematik, die erste kon¬
krete und rein immanente Erkenntnistheorie. Allenfalls könnten
wir auch sagen, Humes Treatise ist der erste Entwurf einer
15 reinen Phänomenologie, aber in Gestalt einer rein sensualisti-
schen und empirischen Phänomenologie.
<Zweites Kapitel
Humes Positivismus — die Vollendung des
Skeptizismus und zugleich der entschei¬
dende vorbereitende Schritt zueiner
transzendentalen Grundwissenschaft)
23. Vorlesung: <Humes nominalistische Reduktion aller Ideen auf
Impressionen und der Widersinn injliesem Prinzip. >
Erst in Hume kommt der Sensualismus zu vollbewußter
und universaler Entfaltung. Berkeley war nur Sensualist
gewesen in der Interpretation der Anschauungen von der äuße-
20 ren Natur. Dinge sind Komplexe von sensuellen Daten, die in
der Immanenz des Bewußtseins selbst gegeben sind. Die tran¬
szendenten materiellen Dinge sind Fiktionen, es gibt keine mate¬
riellen Substanzen. Aber die sinnlichen Perzeptionen setzen nach
Berkeley voraus das perzipierende Subjekt, das Ich; für Berkeley
25 ist das Ich nicht eine bloße Bezeichnung für das Kollektivum
etwa bloß assoziierter psychischer Erlebnisse. Vielmehr haben
alle sinnlichen Perzeptionen, aber auch alle sonstigen subjektiven
Geschehnisse, alle Ichakte und -zustände, im Ich als geistiger
Substanz ein Prinzip der Einheit. Aber gerade das leugnet
158 ERSTE PHILOSOPHIE
H u m e: was finde ich reflektierend vor, als bewußtseinsmäßig
aufweisbar, wann immer ich mich über mich selbst besinne ? Per¬
zeptionen von Hitze und Kälte, Licht und Schatten, Liebe und
Haß u.dgl., aber so etwas wie ein Ich, einen besonderen „Ein-
5 druck”, der diesem Wort entspricht, kann ich nicht finden. Ich,
das ist nichts weiter als ein Bündel verschiedener Perzeptionen,
die einander in unbegreiflicher Schnelligkeit folgen. Folglich liegt
hier für Hume selbst nachher ein großes Problem: wie kommt es,
daß ich mich für ein identisches Ich halte und daß jeder sich
10 nicht bloß als einen Haufen von Erlebnissen sondern als eine
und selbe Person auffaßt, bei diesem beständigen Wechsel der
Perzeptionen? Aber jedenfalls, wie die körperlichen Substanzen,
als den sinnlichen Daten zugrundeliegende Einheiten, so werden
auch die geistigen Einheiten, die den sämtlichen seelischen Er-
15 lebnissen zugrundeliegenden Einheiten, weggestrichen. Die Seele
kann nun nicht einmal mit einer tabula rasa verglichen werden,
oder mit einer Bühne, auf der allerlei flüchtige psychische Ge¬
stalten auftreten. Denn dieser Tafel, dieser Bühne entspricht
20 nichts Reales, sie ist nicht ein Ding, in dem die Erlebnisse sind,
sondern das einzig Verbindende ist die Gesetzmäßigkeit, welche
die psychischen Erlebnisse rein sachlich, nach Koexistenz und
Sukzession, regelt.
So hat der Sensualismus der Weltinterpretation seine volle
25 Extension und Geschlossenheit erlangt. Alles Sein, das Sein der
Körper wie der Geister, reduziert sich auf psychische Daten,
auf Haufen von ichlosen Perzeptionen1). Die Analogie mit der
atomistisch-mechanistischen Naturauffassung der anfangenden
exakten Naturwissenschaft springt in die Augen. Die physische
30 <Natur> wird gedacht als ein zeit-räumliches Zusammen von für
sich seienden Atomen, umspannt nur von der Einheit der Natur¬
gesetzlichkeit, welche alles physische Geschehen, alle Atombewe¬
gungen eindeutig regelt. So löst der Bewußtseinsnaturalismus die
Subjektivität in ähnlicher Weise in Bewußtseinsatome auf, in
35 letzte sachliche Elemente, unter bloß sachlichen Gesetzen der
Koexistenz und Sukzession. Diese Bewußtseinsatome sind die
Perzeptionen (was bei Hume dasselbe besagt wie bei Locke
„Ideen”), den äußeren Naturgesetzen entsprechen hier die inne-
ren Gesetze der Assoziation und Gewohnheit und einige mit
l) Vgl- Beilage XIV, S. 350. — Anm. d. Hrsg.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 159
ihnen nahe zusammenhängende Gesetze von ähnlichem Typus.
Aber das sind nicht eigentlich einander gegenüberstehende paral¬
lele Gesetze, sondern die psychischen Gesetze sind die wahren
Radikalgesetze alles Seins; auf Perzeptionen und Gebilde aus
5 Perzeptionen vermöge der innerpsychischen Gesetze reduziert
sich alles und jedes Sein mit aller zugehörigen und vermeintlich
eigenständigen Gesetzlichkeit.
Doch Hume setzt das nicht voraus, sondern er beweist es eben
mittels einer systematisch fortschreitenden und voraussetzungs-
10 losen Psychologie, die von den unmittelbaren psychischen Ge¬
gebenheiten ausgeht und die für sie bestehenden Grundgesetze —
Gesetz der Assoziation, der Wiedererinnerung u.dgl. — als Ur-
gesetze aller innerpsychischen Genesis empirisch feststellt. Alles,
was für das jeweilige Subjekt unter dem Titel Erfahrungswelt
15 der Körper und der Geister da ist, all die wohl vertrauten objek¬
tiven Formen Raum, Zeit, Kausalität, Ding, Kraft, Vermögen,
Person, Gemeinschaft, Staat, Recht, Moral usw., müssen durch
diese Psychologie erklärt werden, ebenso wie Methode und
Leistung aller Wissenschaften, die da prätendieren, diese ganze
20 Welt oder einzelne Weltgebiete zu erkennen. Freilich, das Re¬
sultat dieser tiefsten psychologischen Erklärung alles Seins und
aller Wissenschaften lautet: die ganze Welt mit allen Objektivi¬
täten ist nichts als ein System von Scheingebilden, von Fiktionen,
die in der Subjektivität notwendig nach immanent psycholo-
25 gischen Gesetzen erwachsen; und Wissenschaft ist eine Selbst¬
täuschung der Subjektivität, oder eine Kunst, Fiktionen für
Lebenszwecke nützlich zu organisieren.
Doch es ist jetzt nötig, die vermeinte Voraussetzungslosigkeit
und radikale Sachlichkeit und überhaupt die ganze methodische
30 Form der Hume’schen Psychologie und Erkenntnistheorie ein
wenig näher in Augenschein zu nehmen. Zunächst bemerken wir,
daß jede Fundamentalbetrachtung, wie sie Descartes zur
systematischen Begründung einer Philosophie für nötig hält,
gänzlich fehlt. Für Descartes war sie eine so große Angelegenheit,
35 daß er sie in immer neuen Gestalten versuchte, wie sein Discours
und seine Meditationes <und> seine Principia einerseits und seine
nachgelassenen Schriften andererseits erweisen. Da Philosophie
als eine absolut sich rechtfertigende universale Wissenschaft
werden soll, so will die Fundamentalbetrachtung die grund-
160 ERSTE PHILOSOPHIE
legende Meditation sein, die das Vorgehen einer universalen
und absoluten Erkenntnisrechtfertigung als einer systematisch
alle wissenschaftliche und überhaupt echte Erkenntnis umspan¬
nenden erwägt und das notwendige Vorgehen als solches ent-
5 wirft und rechtfertigt. — Eine solche radikale Besinnung über
die Methode letzter Begründung fehlt, wie gesagt, bei Hume,
und sein Radikalismus ist also nicht jener echte Radikalismus,
der letzte Selbstverantwortung aus letzter Selbstbesinnung und
Selbstklärung bedeutet. Die Evidenz der unmittelbaren Gegeben-
10 heiten, nämlich der jeweils vorfindlichen eigenen Erlebnisse, ist
ein als selbstverständlich übernommenes und nicht in sorgsamer
Kritik selbst erworbenes Erbteil; und ebenso das empiristische
Prinzip der Begründung aller Erkenntnis durch Erfahrung. Der
Sinn dieses Prinzips bestimmt sich aus dem Lock e’schen In-
15 tuitionismus der Klärung.
In einer eindrucksvollen Scheinklarheit präsentiert sich das
Prinzip bei Hume in der methodischen Form der Reduktion
aller Ideen auf Impressionen. Impressionen sind die ursprünglich
lebendigen und kräftigen Perzeptionen, von denen, nachdem sie
20 vorüber sind, mattere Nachbilder, Abbilder, reproduktiv wieder¬
kehren, die von Hume so genannten Ideen. Indem sie sich mit¬
einander mischen, im sogenannten Denken zu neuen Ideen ver¬
bunden werden, erwachsen nun Ideen, Gedanken, die als Ab¬
bilder anmuten, während sie als diese Gebilde nicht selbst von
25 ursprünglichen Impressionen herstammen und auch nicht auf ev.
hinterher nachweisbare wirkliche Impressionen zu beziehen sind.
Darin liegt die Quelle aller Irrtümer, aller Verkehrtheiten eines
sachfernen Denkens. Erkenntniskritik üben besagt danach, alle
unsere Gedanken, unsere ,,Ideen”, daraufhin untersuchen, ob
30 und inwieweit ihnen ursprüngliche Impressionen entsprechen,
für sie solche Impressionen nachweisbar sind. Unverkennbar
maßgebend ist hier, in rohester sensualistischer Vergröberung,
der den Lock e’schen Intuitionismus wie allen Empirismus
leitende Gegensatz von unklaren, sachfernen Meinungen, von
35 leeren, wenn auch künstlichen Gedankenbildungen — wie etwa
bei den in scholastische Wortsubtilitäten sich verstrickenden
Spekulationen — und demgegenüber von klaren Anschauungen,
mit klarer Anschauungsfülle gesättigten Urteilen; Urteilen, die
aussagend genau das zum Ausdruck bringen, was sie anschaulich
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 161
selbst gegeben haben. Alles wirkliche Bewähren von Meinungen
muß darin bestehen, sie an selbstgebenden Anschauungen zu mes¬
sen, sie evidentzumachen.
Hier bedürfte es für eine immanente Erkenntnispsychologie,
5 die ernstlich die Erkenntnis theoretisch aufklären wollte, doch
einer sorgsamen Beschreibung alles dessen, was diese prinzipielle
Grundauffassung (die ja doch nichts anderes ist als die Ausein¬
anderlegung der Erkenntnisleistung selbst) an Wesensstücken
voraussetzt und geltend macht; so der Beschreibung der Syn-
10 thesis der Klärung und Bewährung, der Berechtigung und ihres
negativen Gegenstückes, der Entrechtung; es bedürfte der ge¬
nauen Beschreibung des synthetischen Bewußtseinsüberganges,
in dem ein unklarer Gedanke sich erfüllende Klarheit und das
ihn bestätigende Recht oder Richtig zueignet; wie er ebendas-
15 selbe, was er vordem „bloß meinte”, nun „selbst” hat, und genau
so hat, wie er es meinte, und das hinsichtlich aller Gliederungen
und Formen dieses Meinens; oder, im Gegenfalle, müßte gezeigt
werden, wie die Entrechtung aussieht, wie hier eine Meinung an
eine Anschauung herankommt, auf die sie hin weist und die doch
20 nicht zu ihr paßt, sondern sie aufhebt, und was all das letztere
besagt. Aber all dem vorangehen müßte natürlich eine sorgsame
und wissenschaftlich strenge Beschreibung der zunächst nur in
vager Allgemeinheit bezeichnenden Titel „bloße Meinung”, leerer
Gedanke, leerer Wortbegriff u.dgl. — und dem gegenüber „An-
25schauung”; die grundwesentlichen und überall mitspielenden
Besonderungen dieser Bewußtseinstypen müßten präzise auf¬
gewiesen und beschrieben werden.
Aber davon ist bei Hume und in der weiteren Psychologie und
Erkenntnistheorie sensualistischen Stiles nichts zu finden. Alles
30 ist roh nivelliert in der Rede von Impression und Idee und in
der Forderung, für alle Ideen entsprechende Impressionen nach¬
zuweisen. Nicht einmal zur grundwesentlichen Scheidung von
Idee als immanentem Erinnerungsbild oder Phantasma und Ge¬
danke in dem Sinn, der das in spezifischem Sinn urteilende Den-
35 ken und alle seine Komponenten auszeichnet, dringt dieser Sen¬
sualismus durch. Und ebenso steht es mit der sogenannten Im¬
pression, in der individuell Anschauliches, wie es vor jeder denk¬
mäßigen Formung gegeben ist, nicht unterschieden wird von
Anschaulichem mit dieser Formung. Die naturalistische Vorein-
Husserliana VII 11
162 ERSTE PHILOSOPHIE
genommenheit ist es, die für alles Grundwesentliche und psycho¬
logisch wie erkenntnistheoretisch Entscheidende blind macht,
blind für das, was Sein als Bewußtsein und als im Bewußtsein
Bewußtes zu einem toto coelo Andersartigen macht gegenüber
5 dem, was in natürlich objektiver Weltbetrachtung sich als reale
Sache darbietet.
Die ganze Unterscheidung zwischen Impressionen und Ideen
und die Forderung einer Zurückführung der Ideen auf Impres¬
sionen wird völlig sinnlos, wenn diesen Bewußtseinstypen psy-
10 chische Sachen unterschoben werden, die bloß ihre sachlichen
Eigenheiten haben. Hume und der ihm folgende Positivismus
macht aus den Charakteren Impression und Idee sachliche Merk¬
male. Sein Gedanke ist: alles, was für mich dasein oder als seiend
gelten soll, muß sich in meinem Bewußtsein ausweisen. Mein
15 Bewußtsein, das Reich der unmittelbaren Vorfindlichkeiten, ist
ein Reich unmittelbar erfahrenen Seins, das in „theorienfreier”,
„metaphysikfreier” Sachlichkeit betrachtet werden muß und da¬
nach als ein bloßes Sachenfeld zu gelten hat. So wird der Unter¬
schied von Impression und Idee als ein bloßer Sachenunterschied
20 angesehen. Erlebnisse, Tondaten, Tastdaten u.dgl., treten erst¬
malig in urkräftiger Frische und Lebendigkeit auf, mit sachlichen
Merkmalen, etwa solchen der Intensität u.dgl.; und nach sach¬
licher Gesetzmäßigkeit, derjenigen der Reproduktion und Asso¬
ziation, treten später, als von ihnen sich ableitende Abbilder,
25 schwächere Nachklänge auf; das sind die Ideen.
Schon die ersten Schritte, die im Treatise als grundbestimmende
vollzogen werden, sind methodisch widersinnig. Sie täuschen nur
den Schein methodisch wissenschaftlicher Feststellungen vor;
woher kommt es z.B., daß eine mattschwache Rotperzeption so
30 viel mehr bedeutet als eben eine mattschwache Rotperzeption ?
Wie kommt es zur Behauptung, daß sie „Nachbild einer früheren
Perzeption” ist, und als wäre das nicht etwas total Neues, näm¬
lich, daß jemand ein jetziges mattes Rot als etwas ganz anderes
erlebt als ein „früheres”, und zudem nicht mattes, sondern leb-
35 haftes, als eine frühere „Impression”? Und wieder, wie kommt
es, daß gegenwärtiges Mattes als Vorbild eines Künftigen an¬
gesprochen wird? Ferner, wie versteht sich, daß ein gegenwär¬
tiges Mattes bald als Erinnerung an ein Starkes, bald als solche
an ein Schwaches, und so in verschiedenen Besonderungen gilt ?
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 163
Aber da reden wir ja von einem Als-etwas-gelten, von einem
Meinen mit dem oder jenem Sinn.
Wir werden auch darauf aufmerksam, daß <wir> auch dem Un¬
terschiede zwischen Erinnerung bzw. Erwartung und bloßer
5 Phantasie, sei es von Vergangenem oder Gegenwärtigem oder
Künftigem, genugtun müssen und daß in der Wiederholung von
„Ideen”, die Ideen von demselben sind, sehr verschiedene „Enti¬
täten” dazu dienen, ein und dasselbe vorzustellen, daß dabei
dieses selbe Vorstellen bewußtseinsmäßig ein Meinen desselben
10 ist, ev. eines sich immer klarer Herausstellenden, Bestimmenden
und Ausweisenden usw. All das, was gerade als erstes und im
Cartesianischen Sinn Zweifelloses gegeben ist, nämlich
gegeben vor allen objektiven Tatsachen und Hypothesen, vor
allen zu substruierenden und erklärenden Theorien, das Als-das-
15 und-jenes-Vorstellen, Für-das-und-das-halten als solches, kurz,
das Bewußtsein, fällt sozusagen unter den Tisch, und somit
gerade das, was Subjektivität zur Subjektivität, subjektives
Leben zu subjektivem Leben macht.
Also Impression ist eine Sache und als solche durch sachliche
20 Merkmale ausgezeichnet — und nichts minderes verschwindet,
als daß sie Erfahrung von Erfahrenem, von Selbstgegebenem ist.
Es verschwindet, und wird doch vorausgesetzt, schon dadurch,
daß man doch immerfort prätendiert, daß diese Daten in un¬
mittelbarer Evidenz Gegebenes sind. Aber bloße Sachen sind,
25 was sie sind, in ihren sachlichen Eigenschaften, als Sachen
sind sie, aber bedeuten sie nichts, meinen sie nichts,
tragen nichts in sich von Sinn, nichts von Unterschieden
zwischen Meinung und Gemeintem, von Leervorstellung oder
Selbsterfassung, von Selbigem, das wiederholt gemeint und ge-
30 geben oder zugleich gemeint und gegeben ist. All dergleichen in
Sachen oder als sachliche Eigenschaften finden zu wollen, ist
Widersinn.
Gewiß haben immanente Erlebnisse, sofern sie ausschließlich
als Ereignisse betrachtet werden, die in der universalen Form
35 der immanenten Zeit verlaufen, sich durch eine immanente Zeit¬
strecke hindurch dehnen, auch eine Art Aufbau aus reellen Teilen
und Eigenheiten, die eine Art sachlicher Beschreibung ermög¬
lichen. Zu solchen dem zeitlichen Verlauf, seinen Gliederungen
und zeitgestaltigen Charakteren folgenden Beschreibungen ge-
164 ERSTE PHILOSOPHIE
hört sicherlich die, daß „Ideen” flüchtiger zu sein pflegen als
Impressionen; ob man ernstlich auch intensitätsartige Unter¬
schiede der Lebendigkeit hierher rechnen darf und ob nicht
schon hier ein Modus der intentionalen Anschaulichkeit ver-
5 wechselt wird mit einem Modus des individuellen Quasiseins in
der immanenten Zeitlichkeit, wäre noch ernstlich zu erwägen.
Aber selbst wenn es richtig wäre, wie grundverkehrt bleibt doch
eine Beschreibung, die uns lehren will, was Impression zur Im¬
pression und Idee zur Idee macht, sei nichts anderes als solche
10 sachlichen Momente! Wie sollte eine relativ sehr matte und
flüchtige Rotperzeption mehr und anderes sein als eben eine
matte und flüchtige Rotperzeption, und eine starke und stand¬
haltende mehr als eine starke und standhaltende? Warum in
aller Welt schon die Rede von Perzeption, die so vielsagend ist
15 und soviel mehr als ein Sachliches ausdrückt! Und wie kommt
speziell die eine Perzeption dazu, Impression von etwas zu
heißen und, näher besehen, für uns Bewußtsein eines leibhaft
gegenwärtigen Rot zu sein, und wie die andere Perzeption, Idee
und näher Erinnerung oder Erwartung zu heißen und je nach-
20 dem für uns Bewußtsein zu sein von einem vergangenen Rot
oder Voranschauung von einem künftigen und etwa jetzt eben
kommenden Rot und wieder, als pure Phantasie, Anschauung
von einem fingierten Rot, einem vergegenwärtigtem und keines¬
wegs gegenwärtigen ? Welcher Unsinn ist es, zu sagen, die Impres-
25 sion, die wahrnehmend vergegenwärtigt als leibhaft Gegenwärtiges,
sei bloß etwas Starkes, Lebhaftes, oder was immer in ähnlichem,
sachbeschreibendem Stile, und das Sammelsurium Idee, mit so
tiefgreifenden Unterschieden wie Erinnerung, Fiktion, und so
überhaupt Vergegenwärtigung so vielfältiger Arten, sei nichts
30 anderes als ein Mattes u.dgl.!
Natürlich hilft es gar nichts, zu sagen, es seien eigenartige,
womöglich einzigartige Lebendigkeiten oder Flüchtigkeiten oder
was immer dieses Stiles sonst. Es ist geradezu grotesk, wie hier
nicht nur die Hume’sche sondern die ganze psychologische Ana-
35 lyse der Neuzeit versagt hat, die immerfort sachliche Beschrei¬
bung versucht, wo jeder Schritt über das Formale der Zeit¬
verteilung hinaus alsbald in intentionale Analysen hineinführt,
in denen so viel in einem geistigen Sinn zu schauen und zu
fixieren ist, daß man wirklich sagen muß, daß die Psychologie
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 165
vor lauter psychologischem Bäumen den Wald nicht sieht. Es
hilft hier sehr wenig, daß man wie William James, durch
die ersten Hinweise Brentanos auf die Eigenheiten der
Intentionalität aufmerksam gemacht, dieser Eigenheit durch
5 sachliche ,,Färbungen”, durch fringes, ,,Obertöne'’ genugzutun
sucht, und ähnliche Gleichnisreden, die eben nur auf sachliche
Charaktere, wenn auch unerhört einzigartige, hinweisen. Man
braucht gar keine Bilder, nichts anderes tut not, als das Be¬
wußtsein jeder Art selbst als Bewußtsein zu befragen und seine
10 Aussagen zu hören. Sowie man aber das tut, ist mit einem Male
und ganz von selbst eine neuartige, und die einzig mögliche
Psychologie im Werden, eine Psychologie, in der die Methode
ganz selbstverständlich von dem einen großen Thema, dem un¬
endlich vielfältig sich verzweigenden Thema Bewußtsein, Inten-
15 tionalität bestimmt ist; was aber nicht ausschließt, daß Zeit¬
verteilung und damit zusammenhängende sachliche Eigenheiten
und insbesondere induktive Betrachtungsweisen eine gewisse, aber
doch nur sekundäre Rolle immer spielen müssen.
Ergänzend füge ich noch bei: Impression ist für Hume der
20 erkenntnistheoretische Titel für die zur Bewußtseinsleistung der
Evidenzbewährung berufenen Anschauungen. Das setzt eviden¬
terweise voraus, daß diese in sich als selbstgegeben bewußthaben
die jeweiligen Gegenstände, begrifflichen Wesen, individuellen
oder allgemeinen Urteilsinhalte, an denen sich die anzumessenden
25 bloßen Meinungen sozusagen sättigen können. Impression ist also
in Wahrheit ein Titel für Evidenzbewußtsein überhaupt oder, im
weitesten Sinn gesprochen, Selbstanschauung überhaupt, als
mögliche Unterlage für jederlei Evidentmachung, für jederlei
Bewährung. Eine reale Sache, die als solche bloß ist, bewährt
30 nichts und hat in sich selbst nichts Bewährendes. Nicht die
Sache kann bewähren, sondern nur die Selbstanschauung von
der Sache, die Wahrnehmung oder Erinnerung von Realem kann
bewähren, und sie kann es, weil sie eben Selbsterfassung der
Sache ist, mit jeder entsprechenden bloßen Meinung von der-
35 selben Sache sich in einem höheren, synthetischen Erlebnis ver¬
einigen kann, in dem dasselbe zugleich bewußt ist als Vermeintes
und als Wahres, Bewährendes selbst.
Impression, so verstanden, wie sie verstanden werden muß,
hat also eine Doppelseitigkeit, eben als selbstgebendes Bewußt-
166 ERSTE PHILOSOPHIE
sein von dem ihm Selbstgegebenen. Diese Doppelseitigkeit ist
nicht eine fagon de parier, sondern eine doppelte Richtung sehr
inhaltsreicher deskriptiver Momente; und Analoges gilt natürlich
für den Gegentitel „Idee”, als Titel für alle bewährbaren und
5 bewährungsbedürftigen Meinungen: eine jede ist doppelseitig
Bewußtsein von darin Bewußtem, darin Gemeintem, aber nicht
Selbstgegebenem. So müssen alle Deskriptionen, insbesondere
die der Synthesen, selbstverständlich diese Doppelseitigkeit
haben.
10 Beachten wir noch dies: Selbst wenn man auf die in den ein¬
zelnen verschiedenartigen Erlebnissen liegenden intentionalen
Beziehungen, auf ihre Gegenständlichkeiten, nicht achtet und
diese Erlebnisse als bloße zeitliche Daten in der immanenten
Zeit betrachtet, als bloße sogenannte Empfindungen, so ergibt
15 es Widersinn, wenn man in der üblichen Weise das unmittelbare
Gegebenhaben dieser Daten zu einem Nichts macht. Dieses un¬
mittelbare Haben ist wiederum Bewußthaben; die Erlebnisse
sind nicht in einem Nirgendheim. Ihr Sein ist wesensmäßig
Bewußtsein, und alle Erlebnisse, die die meinen sind, sind es in
20 der allumspannenden Einheit meines Bewußtseins, und so sind
sie für das Ich in Sonderreflexionen zugänglich.
So könnten wir Schritt für Schritt Widersinn aufweisen, der
darin besteht, daß in der Tat Bewußtseinsvorkommnisse The¬
mata für die Beschreibungen, daß intentionale Leistungen dabei
25 beständig in Rede und in Anspruch genommen sind, während
alle vermeintlich rein objektive Deskription darauf ausgeht, von
all diesen intentionalen Vorkommnissen nichts zu fixieren, ja es
prinzipiell nicht als etwas Ernstzunehmendes und Wirkliches
gelten zu lassen. So liegt schon in der Methode ein prinzipieller
30 Skeptizismus beschlossen, und es ist kein Wunder, daß dann
alles darauf hinausläuft, die Erkenntnisleistung des intentionalen
Lebens, die objektive Welt und Wissenschaft als bloße Fiktionen
zu erklären.
24. Vorlesung: <Die notwendige Eidetik der Bewußtseinswissenschaft
und der induktiv-empirische Objektivismus bei Hume.y
Wir haben noch eine Seite der Hume’schen Methodik zu be-
35 sprechen: sie betrifft die induktive Empirie, aus der die Grund¬
begriffe und die erklärenden Grundgesetze seiner Psychologie
KRITISCHE IDEEN GESCHICHTE 167
und Erkenntnistheorie geschöpft werden. Im Vorwort wird das
empiristische Prinzip wie eine Selbstverständlichkeit, über die
kein Streit sein kann, ausgesprochen, mit den Worten: „wie die
Lehre vom Menschen die einzig feste Grundlage für die anderen
5 Wissenschaften ist, so liegt die einzig sichere Grundlage, die
wir dieser Wissenschaft geben können, in der Erfahrung und
Beobachtung”. Die Berufung auf Bacon, Locke und an¬
dere der Neueren genügt. Aber hier vor allem rächt sich der
Mangel einer radikalen Besinnung über die Methode, die der
10 Sinn der von Hume geplanten Grundwissenschaft fordert, und
zunächst schon über den Sinn dieser Grundwissenschaft selbst.
Überlegen wir: was war es, das eine solche Grundwissenschaft
motivierte? Oder: was war es eigentlich, was der Erkenntnis
dieser reinen Subjektivität den Vorzug gab, um dessentwillen
15 sie allen anderen Erkenntnissen und Wissenschaften vorangehen
und für sie letztbegründend fungieren mußte? Ferner: welcher
Art mußte die Begründung dieser Erkenntnis selbst sein, also
die Begründung dieser neuartigen Psychologie im Felde reiner
Subjektivität, um ihr den Vorzug vor allen anderen Wissen-
20 schäften und deren Begründungen geben und sinnvoll alle an¬
deren auf sie gründen zu können?
Für uns ist die Antwort klar. Auf die reine Subjektivität, auf
das ego cogito zurückgehen, das heißt, sich auf das Letztunfrag¬
liche, Letztzweifellose besinnen, als das seinerseits in jedem In-
25 Frage- und In-Zweifel-stellen vorausgesetzt ist. Sowie man aber
diese reine Subjektivität erfaßt hat, wird man auch dessen inne,
daß sie in ihren reinen Bewußtseinserlebnissen die Urquelle aller
Sinngebungen ist, die Urstätte, in der alles Gegenständliche, das
für das erkennende Ich etwas bedeuten und als seiend gelten soll,
30 seine Bedeutung erhält, seine Geltung erhält. Das sagt: Gegen¬
stand ist für mich nichts anderes und kann nichts anderes sein
als Erscheinendes meiner mannigfaltig wechselnden Erscheinun¬
gen, Bewußtes meiner mannigfaltig wechselnden Bewußtseins¬
erlebnisse, des Anschauens, des symbolischen Vorstellens, des
35 Denkens usw. Nur in solchem subjektivem Erleben entspringt
alle Art Gegenständlichkeit, als Sinnesgehalt jeweiligen Bewußt¬
seins; und dieses Gegenständliche als solches gilt mir je nachdem
als seiend oder nichtseiend, als möglich, als wahrscheinlich usw.;
weist sich dann eventuell auch aus — wieder in den und jenen
168 ERSTE PHILOSOPHIE
Gestalten des Bewußtseins — als wirklich und wahr¬
haft seiend, nicht seiend, möglicherweise seiend usf. Im Be¬
wußtseinsleben selbst liegt das subjektive „Gelten” (urteilend
Meinen) und das besondere Subjektive: sich mir als rechtmäßig
gültig, objektiv gültig, als wahre Wirklichkeit ausweisen, oder
5 aber als Trug und Schein. Wenn dann Wissenschaft in Frage ist,
so ist Wissenschaft doch durch und durch Leistung in der er¬
kennenden Subjektivität und empfängt also wieder, als Wissen¬
schaft, von ihr aus, von ihrem jeweiligen wissenschaftlichen
Erkennen aus, Sinn und Wahrheitsausweisung.
10 Hier entquillt aber — und schon wenn man dieser Sachlage in
der ersten, noch vagen Antizipation, in der Weise einer bloßen
Vorschau innegeworden ist — der notwendige Leitgedanke: will
ich die Leistung der Erkenntnis überhaupt und insbesondere der
wissenschaftlichen Erkenntnis verstehen, so muß ich sie selbst
15 in ihrer reinen Eigenheit, also an der Urstätte der reinen Sub¬
jektivität studieren. Dies aber tun, ist etwas ganz anderes als
gemeine „objektive”, „positive” Wissenschaft betreiben. Für
diese ist ein jeweiliges Gegenstandsgebiet• schlechthin gegeben,
und was sie will, ist, Sein und Sosein dieses Gebietes theoretisch
20 heraussteilen. Was liegt in diesem „schlechthin gegeben” ? Das
ist kein Problem der objektiven Wissenschaft. Daß alles ihrer
theoretischen Verarbeitung Vorgegebene, das gegenständliche
Gebiet mit allen jeweils zu Sonderthemen werdenden Gegen¬
ständen, ein im Bewußtseinsgestalten der reinen Subjektivität
25 immanent konstituierter Sinn ist, davon weiß objektive Wissen¬
schaft nichts. Andererseits eine Wissenschaft von der reinen,
der transzendentalen Subjektivität hat gerade reines Bewußt¬
seins überhaupt, bzw. dieses konstituierende reine Gestalten
zum Thema. Eben damit hat sie wie alles vermeinte, so alles
30 ausgewiesene und ausweisbare Gegenständliche nicht in naiver
Verabsolutierung, sondern als beschlossen in der für sie thema¬
tischen Konkretion wirklichen und möglichen Bewußtseins, als
dessen intentionale Leistung (zum Thema); und das Wie dieser
Leistung, ihr rein subjektives Zustandekommen in den und den
35 Bewußtseinsweisen, ist ihr Problem.
Von hier aus versteht sich für uns vollkommen der Sinn der
Forderung einer letzten Begründung aller Erkenntnis und Wis¬
senschaften auf jener eigentümlichen „Psychologie”, d.i. auf der
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 169
transzendentalen Wissenschaft von der „reinen” Subjektivität,
und versteht sich zugleich der Sinn eines radikalen Intuitionis¬
mus und seiner Forderung einer letzten Aufklärung der Erkennt¬
nis, einer Klärung der Grundbegriffe und überhaupt aller „Grund-
5 lagen” aller Wissenschaften. Denn alle Wissenschaften — ge¬
meint sind natürlich alle vortranszendentalen Wissenschaften,
die historisch erwachsenen „objektiven” oder „positiven” Wis¬
senschaften — haben in der Naivität, in der sie Vorgegebenheiten
hinnehmen (diese und jene Realitätsgebiete und eine ganze sie
10 umspannende Welt) und in der sie Begriffe, Grundsätze, ja ideale
Wissenschaften, ideale Gegenstandsreiche gestalten, einen radi¬
kalen Mangel. Nur dadurch können sie zu absolut begründeten
Wissenschaften werden, daß von ihren Anfängen und Gründen
aus ein Abstieg erfolgt zu den Urgründen, Uranfängen, zu den
15 wahren apxah Diese aberliegen sämtlich im reinen Bewußtsein,
in dem alles möglicherweise Seiende nach Gehalt oder Sinn und
nach Seinswert der Wirklichkeit und Wahrheit sich subjektiv
konstituiert in wesensmäßig zugehörigen Bewußtseinsgestaltun¬
gen. Solange die im reinen Bewußtsein selbst sich vollziehende
20 oder zu vollziehende Sinngebung und bewährende Leistung nicht
verstanden ist, in der Sein selbst und Wahrheit selbst für jedes
mögliche Erkenntnissubjekt ursprünglich hervorgeht, solange
Bewußtsein nur gelebt, Evidenz nur objektiv betätigt ist, aber
nicht selbst in reflektiver Evidenz erschaut und wissenschaft-
25 lieh studiert: solange hat alle Wissenschaft und alle in ihr theore-
tisierte Objektivität eine ungeheure Dimension von Unverständ¬
lichkeiten, also von möglichen Fraglichkeiten und Zweifeln. Das
lehrt eindringlich genug jeder offene oder verborgene Skeptizis¬
mus, der ja seine Waffen nur gewinnt aus sozusagen räuberischen
30 Einbrüchen in die transzendentale Sphäre. Dergleichen aber
bleibt allzeit möglich, solange sie nicht in der reflektiven Evidenz
ihre eigene Wesenheit enthüllt hat, und sie theoretisch enthüllt
hat in adäquaten Begriffen und Einsichten.
Haben wir uns auf diese Weise, in einem rekapitulierenden
35 Zusammenschluß des von uns längst Erkannten, den Sinn einer
transzendentalen Grundwissenschaft vor Augen gestellt, dann
beantwortet sich auch leicht die weitere Frage, in welcher Me¬
thode eine solche Wissenschaft zu begründen sei, welche durch
ihren Sinn als einzig mögliche vorgezeichnet sei. Von vornherein
170 ERSTE PHILOSOPHIE
merklich ist, daß es auf allgemeine Aufklärungen über Erkennt¬
nis und Erkenntnisgegenständlichkeit, Erkenntnis der und jener
allgemeinen Erkenntnistypen, bezogen auf Gegenständlichkeiten
der und jener Arten und Formen, abgesehen sein wird. Nach
5 welcher Methode sind, fragt es sich also, allgemeine und gesetz¬
liche Eigenheiten der transzendentalen Sphäre festzustehen ?
Hier ist es klar, daß diese ganze Idee einer absoluten Erkennt¬
nisbegründung ein leerer Wahn wäre, wenn es an Möglichkeiten
fehlte, allgemeine Wesenseigenheiten, Wesensgesetzlichkeiten als
10 Prinzipien aller weiterhin zu leistenden Aufklärungen in zweifel¬
loser Weise zu begründen. Die zweifellose Aufweisung des reinen
Bewußtseins als angeblichen Urbodens aher Erkenntnisklärung
kann nur dann zu solcher Klärung dienlich sein, wenn auf ihm
eine zweifellose Wissenschaft, zunächst ein System absolut zwei-
15 felloser unmittelbarer Bewußtseinswahrheiten etabliert werden
kann.
So müßte also jene immanente Psychologie aussehen, die nach
Hume als Grundwissenschaft für ahe anderen Wissenschaften,
ob nun Seinswissenschaften oder Norm Wissenschaften, ob reale
20 Wissenschaften oder ideale, fungieren soll.
Und nun blicken wir wieder auf Humes Treatise hin, und auf
die Art, wie er Grundbegriffe und Grundgesetze gewinnt. Sein
Naturalismus besteht nicht nur darin, daß er das Bewußtsein
versachlicht, als wäre es etwas wie eine Natur, sondern daß er
25 auf dem Boden des inneren Bewußtseins einen schlechten Empi¬
rismus walten läßt, der da meint, was hier allein zu leisten sei,
bestehe darin, innere Erfahrungstatsachen auf empirische Be¬
griffe zu bringen und dann empirische Gesetze induktiv aufstel¬
len zu können. Natürlich weiß Hume sehr wohl, daß induktive
30 Gesetze nicht absolut zu begründen sind, daß jede Induktion nur
vorbehaltliche Gültigkeit haben kann; ja noch mehr, er weiß,
daß alles induktive Schließen auf Assoziation beruht (denn das
zu beweisen, ist ein berühmtes Hauptstück des Werkes selbst),
und weiter weiß er, daß es Notwendigkeit der Geltung nur mit
35 sich führen könnte, wenn die Prinzipien der Assoziation selbst
Notwendigkeiten wären oder, wie wir dafür auch sagen können,
absolut zu begründen wären. Aber gerade diese Urprinzipien
aller Erfahrungsschlüsse, die für ihn letzte Grundgesetze seiner
Psychologie überhaupt sind, werden von ihm bloß als induktiv
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 171
festgestellte in Anspruch genommen. Also auf einem Unter¬
gründe unmittelbarer Evidenz, die aber leider nur eine absolute
Evidenz bloß immanenter Erfahrung ist, werden Gesetze, statt
ebenfalls in absoluter Evidenz, vielmehr in absoluter Irrationa-
5 lität hingestellt. Für die absolute Einsichtigkeit ist das naive
Vertrauen auf Induktion ein schlechter Ersatz. Denn nun steht
die psychologische Grundwissenschaft völlig in der Luft; ist sie
nicht in absoluter Evidenz begründet, sondern in derselben
Naivität wie objektive Wissenschaft, dann verliert ja das ganze
10 Unternehmen letzter Erkenntnisbegründung gerade von diesem
Urboden her jeden Sinn.
Wieder ist hier ein letzter Grund des Etume’schen Skeptizismus
aufgezeigt. Implizite ist die völlige Irrationalität aller Erkenntnis
schon damit vorausgesetzt, daß man das reine Bewußtsein zur
15 Stätte bloßer Irrationalität macht, daß man ihm eine gesetzliche
Regelung wohl zumutet, aber eine solche, die sich nimmer ratio¬
nal einsehen läßt: bloß empirische Gesetze, für die es auf diesem
reinen Boden keine absolut einsichtigen Geltungsgründe gibt.
So hat die Hume’sche Psychologie nun doch mit der gemeinen
20 objektiven Psychologie einen wesentlichen Charakterzug gemein,
sofern sie wie diese induktive Psychologie ist. Aber mit
einem großen Unterschied: denn was für die objektive Psycho¬
logie durchaus rechtmäßig sein kann (nämlich wenn eine erkennt¬
nistheoretische Quellen- und Normenlehre das Recht objektiver
25 Induktionen überhaupt aus apodiktischen Prinzipien rechtferti¬
gen kann) und was für eine objektive Psychologie dann auch
recht ist aus dem Grunde, weil Psychisches im Naturzusammen¬
hang wie alles Naturale nach induktiven Zusammenhängen be¬
trachtet werden muß, das ist für eine subjektive Psychologie,
30 eine rein immanente, prinzipiell unrechtmäßig, ja widersinnig,
wofern diese die Grundwissenschaft, Wissenschaft von Rechts¬
gründen für alle mögliche Erkenntnis und Wissenschaft sein soll.
Das ttpwtov (J;euSoq liegt im Vorurteil des Empirismus, der
als schlechter Intuitionismus nur Erfahrung von individuellen
35 oder zeitlichen Einzelheiten als Selbstgebung kennt und dafür
blind ist, daß Allgemeines, begriffliche Allgemeinheiten und
Sachverhaltsallgemeinheiten, sich unmittelbar einsichtig erschau¬
en lassen; und auch sozusagen beständig erschaut werden. Wir
brauchen in der Tat nur darauf hinzuweisen, daß das Bewußtsein
172 ERSTE PHILOSOPHIE
selbstverständlich eine Stätte von unmittelbaren Wesenseinsich¬
ten von reiner Allgemeinheit und Notwendigkeit ist; wir würden
uns sogar getrauen, dies für die Assoziationsgesetze, die nur
richtiger rein immanenter Fassung bedürften, nachzuweisen. Das
5 klingt heutzutage noch sehr paradox, so sehr ist man seit H u m e
und M i 11 daran gewöhnt — und nicht etwa bloß auf empiri-
stischer Seite — Assoziation als eine empirische Eigenheit mensch¬
lichen Seelenlebens zu betrachten und die Assoziationsgesetze
der seelischen Innerlichkeit mit dem Gravitationsgesetz als Ge-
10 setz der trägen Massen der äußeren Natur zu parallelisieren.
Über die Frage glaubt man allzuleicht hinwegschreiten zu kön¬
nen, ob es denn möglich und nicht vielmehr widersinnig sei, die
letzten Prinzipien des Rechts aller Induktionen selbst wieder
durch Induktionen zu begründen. Aber mindestens die Frage,
15 meinen wir, dürfte doch niemand, der solche Ansichten hat, ab¬
lehnen, wo denn die wissenschaftlichen Induktionen seien, wer
sie je angestellt hätte, denen die Assoziationsgesetze ihre wissen¬
schaftliche Begründung verdanken. Für das Gravitationsgesetz
haben wir die Geschichte der Physik, und wir wissen, welche
20 naturwissenschaftlichen Mühen und Veranstaltungen die Durch¬
führung dieser Induktion gekostet hat. Wo ist da die Parallele
für die Psychologie? Sie fehlt einfach aus demselben Grunde,
warum sie auch für die logischen und arithmetischen Axiome
fehlt, die ein M i 11 ebenfalls als induktive beanspruchen wollte.
25 Sie fehlt, weil es sich um generelle Wesenseinsichten handelt, die
eben nicht induziert, sondern aus rein genereller Induktion ge¬
schöpft sind, geschöpft als ursprünglich selbstgegebene Allgemein¬
heiten. Der extreme Nominalismus, der im Hume'sehen
Empirismus fortlebt, ist völlig blind gegen das allgemeine Er-
30 schauen, und wie wir schon bei der Kritik L o c k e s besprochen
haben, in dieser Blindheit versucht er alles allgemeine Denken
wegzueskamotieren durch Unterschiebung naturaler Zusammen¬
hänge von singulären Einzelheiten — Zusammenhänge, über
die er selbstverständlich allgemeine Aussagen macht, nach deren
35 Recht zu fragen man nur vergessen muß. Und eben das mutet
uns der Treatise wirklich zu, nämlich daß wir ja nicht daran
denken mögen, nach dem Vemunftrecht der Induktion der
grundlegenden Gesetze zu fragen.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 173
25. Vorlesung: <Z)as Konstitutionsproblem bei Hume — aber sein
Enden im vollkommenen Skeptizismus.')
Hat man die methodischen Prinzipien Humes analysiert, so
brauchte man im Grunde gar nicht mehr auf seine Theorien ein¬
zugehen, deren Widersinn nur eine Entfaltung des in den grund¬
legenden Prinzipien beschlossenen Widersinns ist. Was uns be-
5 stimmen muß, doch noch einen Blick auf sie zu werfen, ist nicht
ihre ungeheure historische Wirkung, sondern der Umstand, daß
sich in den Fragestellungen für diese Theorien zum ersten Mal
Probleme von höchster philosophischer Dignität abzeichnen, die
trotz ihrer naturalistisch-skeptischen Entwertung doch als Vor-
10 formen von konstitutiven Hauptproblemen der neuen Phänome¬
nologie anzusehen sind. In gewisser Weise kann man ja freilich
ähnliches auch schon von L o c k e s Problematik sagen. Aber
erst in der B e r k e 1 e y’schen Schwenkung zu einer transzen¬
dentalen Psychologie gewinnen sie eben ein transzendentales Ge-
15 sicht, und in der systematischen Ausführung solcher Psychologie
durch Hume ein neues Relief und eine bedeutungsvolle Ver¬
tiefung zu Problemen synthetischer Einheit. Humes Scharf¬
blick erschaut an den genialen Darlegungen Berkeleys über
Natur und Naturwissenschaft den Mangel an theoretischer Aus-
20 formung. Wo Berkeley fertig zu sein glaubt, eröffnen sich ihm
neuartige und große Probleme.
Sinnesdaten im Bewußtsein assoziieren sich zu Komplexen.
Das sind, sagte Berkeley, die Dinge; ihre Einheit ist ge¬
wohnheitsmäßige Zusammengehörigkeit. Die Komplexe selbst
25 assoziieren sich, da sie faktisch in empirischer Regelmäßigkeit
auftreten, abermals miteinander, wir erwarten daher unter ähn¬
lichen dinglichen Umständen ähnliche Folgen. Darauf reduziert
sich alles, was wir Naturkausalität nennen. Es ist nichts anderes
als ein Verhältnis subjektiv gewohnheitsmäßig geregelter Folge.
30 Auf solche Regelung geht also auch die Naturgesetzlichkeit zu¬
rück, von der die Naturwissenschaft redet. — Aber all das ge¬
nügt doch nicht, selbst für den, der, wie Hume, die sensualistische
Brille trägt. Zunächst, Dinge sollen bloß assoziative Komplexe
sein. Aber so sehr die phänomenalen Dinge in der Wahrnehmung
35 auf Daten der verschiedenen Sinne zurückweisen und, wie Hume
als Sensualist anerkennt, zunächst wirklich nichts anderes sind
als durch Assoziation und Gewohnheit vereinheitlichte Komplexe
174 ERSTE PHILOSOPHIE
solcher Daten; eines ist doch von Berkeley gar nicht ernstlich
erwogen und aufgeklärt worden: wie wir dazu kommen, je einen
solchen Komplex bei dem Wechsel seiner Elemente als das¬
selbe, bald veränderte, bald unveränderte Ding zu sehen; ja
5 noch mehr: wie wir dazu kommen, ihm ein von aktueller Wahr¬
nehmung oder Nicht Wahrnehmung unabhängiges Dasein beizu¬
messen. Warum ist der Tisch hier von mir identifiziert als der
eine und selbe, auch wenn ich das Zimmer zwischendurch verlasse,
da doch der erinnerte Empfindungskomplex und der jetzt neu
10 auftretende nicht derselbe sondern je ein anderer und beide von¬
einander getrennt sind ? Also gerade diese (wie wir sagen würden,
synthetische) Einheit, das erfahrene Ding selbst als Ein¬
heit wirklicher und möglicher Erfahrungen (oder wenn man hier
unterschieben will: der wirklichen und möglichen Komplexe)
15 fällt bei Berkeley unter den Tisch. Eben diese Einheit desselben
Dinges — das bezeichnet eines der Hauptprobleme Humes.
Dazu gesellt sich ihm als paralleles Problem das der Einheit des
Ich, der Person. Hatte er doch eine eigene Impression für das
Ich geleugnet und alle subjektive Einheit zerschlagen in einen
20 Haufen oder ein Bündel von Perzeptionen. Aber jedermann
meint doch, sich selbst als Person zu erfahren, ähnlich wie er
glaubt, einheitliche Dinge zu erfahren; und beiderseits sollen
diese Erfahrungseinheiten auch sein, wenn sie nicht erfahren
sind. Solchen Sinn, den eines Ansichseins, schreiben wir ihnen ja
25 beständig zu.
Ferner: mit der Aufklärung der Naturwissenschaft als Wissen¬
schaft, und zwar als Erkenntnis aus bloßer Gewohnheit, hatte es
sich Berkeley doch zu leicht gemacht. Gewiß, Assoziation schafft
Komplexe der Koexistenz und Sukzession. Aber ist das alles
30 — und wie wäre Naturwissenschaft möglich, wenn das alles ist?
Dann gäbe es ja nur Schlüsse von gewohnheitsmäßigen Umstän¬
den auf gewohnheitsmäßige Folgen, Schlüsse, die wir im Alltag
vollziehen, aber nicht als wissenschaftliche ansehen. Kann man
denn daran zweifeln, daß die Naturwissenschaft echte, also von
35 Rationalität durchleuchtete Wissenschaft ist, daß ihren Schlüs¬
sen Notwendigkeit einwohnt, daß die Gesetze, die sie erkennt,
mathematisch exakte, in strenger Allgemeinheit gültige Gesetze
sind? Wie sollten sie bloße allgemeine Ausdrücke gewohnheits¬
mäßiger Erwartungen sein? Der Rationalismus hatte diesen ra-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 175
tionalen Charakter der neuen Naturwissenschaften aufs lebhaf¬
teste vertreten, sie mit der Mathematik auf eine Stufe gestellt.
Jedenfalls mußte doch dem, was er dafür geltend machte, Rech¬
nung getragen werden.
5 Freilich hatte Berkeley geleugnet, daß Kausalität, die der
Titel aller Erfahrungsschlüsse fit, eine echte Kausalität sei, als
welche nur dem Geiste zu eigen sei, im geistigen Wirken und Er¬
zeugen. Aber wenn er auch darin rechthaben mochte, daß der
ursprünglich geistige Begriff des Wirkens und der Kraft nicht
10 animistisch den materiellen Dingen zugemutet werden dürfe, so
durfte er doch nicht den eigentümlichen Sinn rationaler Notwen¬
digkeit und Gesetzlichkeit übersehen, der zu den naturwissen¬
schaftlichen Begriffen von Ursache, Wirkung, Kraft, Kraftgesetz
gehört und auf den es den Naturwissenschaftlern allein ankommt.
15 Berkeley hat also gar keine verständliche Auskunft über Natur
und Naturwissenschaft gegeben, da er auf den Grundsinn, in dem
beides allgemein genommen wird, keine Rücksicht nahm: Natur
ein Notwendigkeitszusammenhang in Raum und Zeit, bezogen
auf Veränderung und Unveränderung identischer und an-sich-
20 seiender Dinge; und Naturwissenschaft eben Wissenschaft, Er¬
kenntnis rationaler Notwendigkeiten aus apodiktischen Prinzi¬
pien.
Aber wie ist diese Sinngebung aus dem Bewußtsein her zu
verstehen, wie erwächst sie in der Genesis des ursprünglichen
25 Bewußtseins? Für uns, die wir über die historischen Schranken
jener Zeit hinaussehen und eine transzendentale Wissenschaft
vom Bewußtsein als Bewußtsein vor Augen haben, ist es klar,
daß das Problem einer induktiven immanent psychologischen
Erklärung nach Art einer naturwissenschaftlichen Erklärung ein
30 kompletter Widersinn ist. Aber gleichwohl verbirgt sich hinter
dem verkehrten Problem, vorgefühlt und in gewisser Weise vor¬
geformt, das echte und große Problem, das schon als deskriptives
für jede Grundart von Gegenständen, die für den Aufbau der
Welt (und, ideal gesprochen, für den einer Welt überhaupt) kon-
35 stitutiv sind, zu stellen ist und eine gewaltige Fülle von Wesens¬
feststellungen fordert. Nämlich für jede dieser Grundarten von
Gegenständlichkeiten, zuunterst für materielle Gegenständlich¬
keit und physische Natur überhaupt, gilt es, die Wesensgestal¬
tungen des Bewußtseins bestimmt aufzuweisen und einer inten-
176 ERSTE PHILOSOPHIE
tionalen Leistungsanalyse zu unterziehen, in denen sich sogeartete
Gegenständlichkeit überhaupt, zunächst in ursprünglicher Er¬
fahrung, als synthetische Einheit konstituiert. Dann gilt es, die
höheren Gestaltungen des wissenschaftlichen Bewußtseins zu stu-
5 dieren, in denen sich solche Gegenständlichkeiten als Substrate an
sich gültiger Wahrheiten in ihrem theoretisch wahren
Sein bestimmen. Das letztere bezeichnet das transzenden¬
tale Problem der wissenschaftlichen Methode, wie z.B. der
naturwissenschaftlichen. Ist diese Problematik einmal gesehen,
10 so ist sie wesentlich die gleiche für alle obersten Gegenstands¬
regionen und in ihnen zu sondernden Gegenstandsallheiten,
welche die „Gebiete” sich prinzipiell abschließender Wissen¬
schaften sind oder zu werden berufen sind. Das betrifft also
diejenigen, die unter den großen Titeln „Kultur” und „mensch-
15 liehe Gemeinschaft” stehen. Andererseits versteckt sich in dem
Problem der induktiv-psychologischen Genesis das Problem der
Bewußtseinsgenesis, oder das Problem sozusagen der
Geschichte (der eidetischen bzw. empirischen), der rein
transzendental gefaßten Intersubj ektivität und der
20 Geschichte ihrer Leistungen, also der in den reinen Subjekten
individuell und gemeinschaftlich sich konstituierenden realen
und idealen „Welten”.
Es ist ein überaus merkwürdiges Schauspiel, in der Geschichte
der Philosophie, und zwar hier an der Entwicklung eines durch
25 und durch widersinnigen Empirismus, zu beobachten, wie hinter
all den verworrenen und widersinnigen Problemen sehr tiefe,
bedeutsame und sinnvolle Probleme zutagedrängen und wie
eigentlich der suggestive Eindruck, den jene unechten Probleme
mit den ihnen angepaßten Theorien fortdauernd üben und der
30 ihnen Entwicklungskraft und historische Fern Wirkung verleiht,
im Durchfühlen dieser echten Probleme gründet. Das transzen¬
dentale, das Bewußtsein rein a 1 s Bewußtsein, macht sich doch
immerfort geltend und ist geheimer spiritus rector, nur daß eben
die empiristischen Philosophien, nicht imstande, ihm gerecht zu
35 werden, das Gegenteil von dem leisten, was Philosophie ihrem
eigenen Wesen nach leisten wollte, nämlich Wissenschaft im
vollsten und strengsten Sinn zu sein, das aber sagt, meinten wir,
eine Wissenschaft, die nach allen wesensmäßig erdenklichen
Fragedimensionen zu theoretischer Frage und Antwort bereit
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 177
und wohlgerüstet ist, oder, anders ausgedrückt: absolute und in
eins absolut sich rechtfertigende Wissenschaft.
Ich kann hier nicht darauf eingehen, den Fiktionismus
in Ausführlichkeit darzustellen, in den Hume hineingerät, zu-
5 nächst nicht ohne Schrecken über die ihm erwachsenden Konse¬
quenzen; denn diesen gemäß soll selbst die exakte Naturwissen¬
schaft und genau besehen auch die reine Geometrie nichts weiter
sein als Schein einer Wissenschaft, als Fiktion, wie die Natur
selbst und ihr reiner Raum nur ein psychologischer Schein der
10 Imagination sei, den erst der Philosoph enthüllt. Der Schrecken
verliert sich bald, und später scheint Hume sich in der Rolle des
überlegenen Skeptikers allzusehr zu gefallen.
Was für uns von Interesse ist, sind nur die allgemeinsten
Charakterzüge dieser Hume’schen Skeptik. Der ganze Aufbau
15 derselben als einer Theorie, die alle Realität und alle Realitäts¬
wissenschaft als Fiktion zu erweisen sucht, wird nur durch eine
Art intellektueller Unredlichkeit möglich, von der schwer zu
sagen ist, inwiefern Hume sie sich selbst eingestanden und je zu
deutlichem Bewußtsein gebracht hat. Das Fundament seiner
20 berühmten Theorie der transzendentalen Korrelation zwischen
Geltungsquelle der Erkenntnis naturaler Kausalität (Geltung
der Kausalschlüsse) und rechtmäßigem Sinn der Naturkausalität
selbst ist einerseits die Anerkennung rein rationaler Wahrheiten,
wie der rein mathematischen und rein logischen (eben hier liegt
25 die intellektuelle Unredlichkeit), und andererseits ihre Kontra-
stierung mit den bloßen Tatsachenwahrheiten. Deren Rationali¬
tät ist sein Problem, und die Endthese seiner Theorie deren
absolute Irrationalität, wo immer sie im kausalen Schließen über
unmittelbare Erfahrung, als Impression und Erinnerung, hinaus-
30 gehen.
Versuchen wir, uns von der Struktur der Hume’schen Proble¬
matik und Argumentation ein tieferes Verständnis zu verschaffen.
Historisch betrachtet, charakterisiert sich Humes Lehre, vor
allem die seines Essay, als der vernichtende Sieg des Empirismus
35 über den Rationalismus, oder vielmehr über den seit Descartes
vorherrschenden mathematisierenden Rationalismus, dessen We¬
sen in der unterschiedslosen Vermengung rein logisch-mathemati¬
scher und mathematisch-naturwissenschaftlicher Kausalität be¬
stand. Die Erkenntnisleistung der mathematischen Physik hielt
Husserliana VII 12
178 ERSTE PHILOSOPHIE
man für dieselbe wie diejenige der reinen Arithmetik oder Geome¬
trie, man sah sie nur als eine Erweiterung der reinen Mathematik
an, also wie eine Geometrie der materiellen Natur. Die extreme,
und formell konsequente Durchführung des mathematischen Ra-
5 tionalismus lag in Spinozas metaphysischem System vor,
dessen anstößiger Inhalt auch gegen eine rein rationale Methode
Verdacht erregen mußte.
Erst L e i b n i z und sein Zeitgenosse Locke erkannten
den unaufhebbaren Unterschied von rein idealen Wahrheiten
10 (wie Leibniz sagt: von reinen Vernunft Wahrheiten), deren
Negation ein Widersinn, ein Widerspruch ist, und Tatsachen¬
wahrheiten, deren Negation zwar ein Falsches, aber nicht ein
Unvorstellbares, einen Widersinn ergibt. Diese Unterscheidung
übernimmt H u m e als die berühmte Scheidung von Erkennt-
15 nissen über Ideenrelationen und Erkenntnissen von Tatsachen.
Damit erweist sich, daß mathematische Naturwissenschaft als
empirische Wissenschaft zu trennen ist von den mathematisch¬
logischen Wissenschaften, die sich durchaus mit reinen Vernunft¬
wahrheiten, unmittelbaren und mittelbaren, beschäftigen. An-
20 wendung der Mathematik auf die Natur schafft zwar eine höhere
Rationalität, jedoch ihren Wesenscharakter als empirische Wis¬
senschaft kann sie nicht ändern. Aber die ausgezeichnete und so
hoch bewertete Rationalität der mathematischen Naturwissen¬
schaft war damit nicht aufgeklärt, und die Vermengung mit der
25 rein mathematischen Rationalität hatte immerfort einen An¬
halt an der real-kausalen Notwendigkeit, die in allen naturalen
Kausalschlüssen ihre Rolle spielte und von der rationalen Not¬
wendigkeit der Art, die in den mathematischen und logischen
Schlüssen leitete, nicht geschieden wurde.
30 Humes eindrucksvolle, obschon nicht wesentlich neue, Schei¬
dung der kausalen und der rein rationalen Notwendigkeit ist
Ausgang für das Problem der Rationalität dieser letzteren Not¬
wendigkeit überhaupt bzw. das der Rationalität der naturwissen¬
schaftlichen Schlußweisen. Dabei wird so getan, als ob die Ratio-
35 nalität der Ideenrelationen und der zu ihnen gehörigen Vernunft¬
schlüsse kein Problem, also voll verständlich wäre, da eben die
Leugnung hier zum Widersinn führe. Andererseits wird nun die
prätendierte Rationalität der Kausalschlüsse durch Reduktion
auf den völlig irrationalen Ursprung aus der Ideenassoziation in
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 179
Fiktion aufgelöst, in eine psychologisch erklärliche Verwechs¬
lung der assoziativ-gewohnheitsmäßigen blinden Glaubensnöti¬
gung mit jener allein echten Rationalität.
Die skeptische Kunst Humes besteht darin, die menschliche
5 Erkenntnis wie ein Theater zu behandeln, auf dem Vernunft und
Einbildungskraft als Akteure auftreten und sich als unversöhn¬
liche Feinde zunichte machen. Die Vernunft hat ihre fest um¬
grenzte Herrschaftssphäre, ihre Grenzmark trägt die Inschrift:
Widersinn. Innerhalb dieser Rechtssphäre gibt es nur Ideen und
10 Ideenrelationen, aber nichts von einer realen Welt. Diese gehört
in den Bereich eines anderen Vermögens, der ,,Einbildungskraft”,
welche nach immanent-psychologischen Gesetzen, insbesondere
(aber nicht allein) denen der Ideenassoziation und Gewohnheit,
die erfahrene Natur als ihre fiktive Schöpfung hervorbringt, in-
15 dem sie sich dabei im geheimen rechtlose, ja widersinnige Grenz¬
überschreitungen gestattet. Der Prozeß ist dabei immer der, daß
die Imagination nach ihrer blinden Gesetzmäßigkeit zuerst einen
Widersinn erzeugt und dann, um diesen ersten Widersinn
schmackhafter zu machen, einen neuen Widersinn hinzuerdichtet.
20 Das allgemeine Prinzip der Imagination liegt in einer eigentüm¬
lichen zur menschlichen Seele gehörigen Trägheit, vermöge deren
sie, durch bisherige Erfahrungen in einen gewohnheitsmäßigen
Schwung gekommen, nicht halten kann und über die Erfahrung
hinausschießen muß. Wo sich ihr irgendetwas von Regelmäßig-
25 keit der Koexistenz und Folge in wirklicher Erfahrung dargebo¬
ten hatte, muß sie sofort dazu übergehen, diese Regelmäßigkeit
über die bisherige Erfahrung hinaus zu verlängern, sie in die
Zukunft zu projizieren, sie zu verabsolutieren als schlechthin
objektiv bestehende. So erfindet sie auf Grund ungefährer Koexi-
30 stenz von Daten bleibende Dinge als vom Bewußtsein unabhängige,
so erfindet sie kausale Zusammenhänge mit vermeinten Notwen¬
digkeiten usw. Die Vernunft gestattet hier weder, die erscheinen¬
de Welt (die imaginative Dingwelt, die den wirklichen Empfin¬
dungsdaten substruiert wird) in irgendeinem Sinn als seiend
35 gelten zu lassen, noch gestattet sie, diese Welt als Bekundung
eines noch weiter dahinter liegenden Transzendenten anzusehen.
Ein in unserem Bewußtsein nicht Vorfindliches und für sich
Seiendes ist nach Hume höchstens eine leere Denkmöglichkeit.
Der einzige Weg, von Gegebenem auf Nicht-gegebenes zu schlie-
180 ERSTE PHILOSOPHIE
ßen, ist der der Assoziation und Gewohnheit, die aber selbst zu
nichts berechtigt.
Hume meint hier freilich: immerhin sei ein Denken geleitet
von der Imagination und somit im Stile der Induktion „natür-
5 lieh”, während jeder Schluß auf Metaphysisches oder vielmehr
Metapsychisches nicht nur unvernünftig, sondern auch unnatür¬
lich sei. Aber ernst genommen kann das doch nicht werden, da
Natürliches und Unnatürliches in gleicher Weise völlig unver¬
nünftig sein soll und der unvernünftige metaphysische Schluß
10 gegebenenfalls ebenso natürlich nach irgendwelchen psycholo¬
gischen Gesetzen erfolgt wie der unvernünftige Kausalschluß.
Allerdings spricht Hume wiederholt so, als wäre er Agnostiker,
als wäre doch in Wirklichkeit eine unbekannte und unerkennbare
transzendente Welt, die als Seinsprinzip auch für unseren Be-
15 wußtseinsverlauf anzunehmen sei. Aber das widerspricht so kraß
seinen Theorien, daß es nur als Akkommodation an die herr¬
schenden und kirchlich behüteten Auffassungen anzusehen ist.
Die Hume’sche Philosophie ist danach der offene Bankrott
jeder Philosophie, die über „die” Welt durch Naturwissenschaft
20 oder Metaphysik wissenschaftliche Auskunft geben möchte. Phi¬
losophie erweist als letzte Wissenschaft, daß alle Tatsachenwis¬
senschaft unvernünftig, also keine Wissenschaft sei. Der Ab¬
schluß ist natürlich vollendeter Widersinn, da j a Philosophie selbst
als universale Psychologie Tatsachenwissenschaft sein soll.— Man
25 darf nicht sagen, die Skepsis betreffe nur die Wissenschaft
von der transzendenten (naturalen) Realität. Denn man beachte,
daß die ganze Beweisführung der Irrationalität der Erfahrungs¬
schlüsse auf dem immanenten Boden, also so geführt ist, daß sie
sich zunächst überhaupt nur direkt auf Impressionen und Ideen,
30 also auf immanente Perzeptionen beziehen läßt. Einerseits ist
also die Vernünftigkeit der immanenten Psychologie beständig
vorausgesetzt, da durch sie doch die Hum e’schen Theorien
selbst als vernünftige erwiesen werden sollen, andererseits ist
das Resultat dieser Theorien, daß keine Erfahrungswissenschaft
35 überhaupt (also auch nicht diese Psychologie) vernünftig sein
könne.
Vorangestellt hatte ich, daß diese ganzen skeptischen Theorien
sozusagen die Vernünftigkeit der Vernunft selbst voraussetzen,
m.a.W. voraussetzen, daß die den Erkenntnissen über Ideen-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 181
relationen anhaftende Notwendigkeit eine wirklich echte und ver¬
ständliche sei, und als das kenntlich mittelst des selbstverständli¬
chen Kriteriums, daß die Negation solcher Notwendigkeit einen Wi¬
dersinnergebe. Aber gerade hier sehe ich jene früher erwähnte intel-
5 lektuelle Unehrlichkeit (die auch sonst uns von Hume abstoßen
muß). Hume als Skeptiker gleicht nur zu sehr einem bildenden
Künstler, der, um eine ästhetische Wirkung zu erzielen, absicht¬
lich Verzeichnungen macht. Zum Nachweise bedarf es keiner
langen Ausführungen; denn wir wissen ja schon, daß er die
10 Berkeley’sche Abstraktionslehre übernommen, ja übertrieben
hat. Im rein rationalen Urteilen wird doch in reinen Begriffen
über Wesensallgemeinheiten geurteilt, und nicht über die mo¬
mentanen Einzelideen, über die momentan vorschwebenden
Phantasmen. Es wird allgemein geurteilt, die Allgemeinheit wird
15 als sogar reine, unbedingte Allgemeinheit behauptet, und der
Widersinn der Leugnung ist unbedingter und allgemeiner Wider¬
sinn. Auch das reduziert sich gemäß der nominalistischen Deutung
des allgemeinen Denkens auf Assoziationen und sonst zugehörige
psychologische Irrationalitäten. Allgemeine Ideen, allgemeine
20 Einsichten sind im Grunde ein Hume’scher Haupttitel für bloß
subjektive Fiktionen. Wäre Hume als Skeptiker konsequent, so
dürfte er einfach nichts sagen, selbst der allgemeine Satz, daß es
unverständlich sei, wie überhaupt über die jeweiligen Perzep¬
tionen hinaus etwas ausgesagt werden könne, dürfte nicht aus-
25 gesagt werden. Vom Vorzug der reinen Mathematik ist dann
also gar keine Rede. Das Ende ist der absolute Bankrott aller
Erkenntnis.
Und doch ist der empiristische Sensualismus nicht wertlos, und
doch sind Humes Schriften eines genauen Studiums würdig. Fast
30 in allen Ausführungen Humes liegen mitgesehen und mit in den
Gesichtskreis des Lesers tretend phänomenologische Zusammen¬
hänge ; hinter allen naturalistisch mißdeuteten Problemen stecken
wahre Probleme, hinter allen widersinnigen Negationen stecken
Momente wertvoller Position; nur daß sie nicht von Hume selbst
35 zur Geltung gebracht, theoretisch gefaßt, zu theoretischen Fun¬
damentalpositionen gestaltet werden.
Eben das ist für uns das Bedeutsame des Hume’schen Skepti¬
zismus, dieses konsequenten sensualistischen Subjektivismus,
daß er, trotzdem kein Satz darin ist, der wissenschaftlich gehal-
182 ERSTE PHILOSOPHIE
ten werden könnte, doch eine intuitionistische und rein immanente
Philosophie ist, und damit eine Vorform der allein echten intui-
tionistischen Philosophie, der Phänomenologie1).
< Drittes Kapitel
Rationalismus und Metaphysik der Neuzeit»
26. Vorlesung: {Die Grundzüge der positiv aufbauenden Linie des
neuzeitlichen Rationalismus und sein Dogmatismus. >
<a) Überblick über die durch den Mangel einer transzendentalen
5 Grundwissenschaft beeinträchtigte Vorbereitung einer zukünf¬
tigen echten Metaphysik.)
Eine viel weniger eingehende Betrachtung erfordert bei unserer
speziellen Absicht gegenüber dem Empirismus die große und an
so großen Denkern reiche Entwicklungslinie des Rationalismus,
10 die von Descartes über Spinoza, Leibniz zu
Kant und über ihn zu Hegel hin führt. Hatte der Empiris¬
mus in der Neuzeit die große Funktion, der die Begründung einer
Philosophie überhaupt erst ermöglichenden Methode des Rück¬
gangs auf die phänomenologischen Ursprünge aller Erkenntnis
15 zum Durchbruch zu verhelfen und der Forderung einer radikal
intuitionistischen Philosophie Nachdruck zu verschaffen, so liegt
die Funktion des Rationalismus auf einer ganz anderen Seite.
Im beständigen Kampfe mit dem Empirismus, versteht er es nie,
ihm im tiefsten Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, er erfaßt
20 nicht den hinter seinen skeptischen Verkehrtheiten liegenden be¬
deutsamen Wesenskern; er nimmt daher nie einen Anlauf, an¬
stelle der skeptisch widersinnigen eine bessere immanente Philo¬
sophie herauszubilden. An sich wäre er dazu berufen gewesen.
Denn ist der Empirismus im Grunde die Fortsetzung der antiken
25 skeptisch-negativistischen Philosophie, so der Rationalismus die
Fortsetzung des positiv aufbauenden, auf wahre und letzt-voll¬
kommene Wissenschaft und somit auf echte Philosophie gerich¬
teten Entwicklungszuges. Er ist also Fortsetzung des Platonis¬
mus und des mittelalterlichen Realismus; also Feind aller nomi-
30 nalistischen Wegdeutungen der allgemeinen Ideen und jedweder
x) Vgl. Beilage XV, S. 350 ff. — Anm. d. Hrsg.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 183
wahrhaft rationalen Erkenntnis; Verteidiger der ,,ewigen” Wahr¬
heiten und jeder erfahrungswissenschaftlichen Methode, die dem
Empirischen Anteil an der reinen Rationalität verschafft, und
das vor allem in der vorbildlichen Gestalt der mathematischen
5 Naturwissenschaft.
Der Rationahst Descartes eröffnete die Neuzeit gerade
dadurch, daß er den Zugang zur immanenten Sphäre als dem
absoluten Boden aller Erkenntnisbegründung eröffnete. Wer
wäre also berufener gewesen als der Rationalismus, diese neue
10 Sphäre in Arbeit zu nehmen, und in die Arbeit rein rationaler
Begriffsbildungen und Einsichten, also eine Eidetik der tran¬
szendentalen Subjektivität auszubilden! Aber wir wissen es schon,
daß Descartes den eigentlichen philosophischen Sinn seiner Ent¬
deckung nicht verstand und daß sie ihm nur als Ankergrund
15 dienen sollte, um den positiven (,.dogmatischen”) Wissenschaften
Halt zu geben. So führte er die ganze Weiterentwicklung auf den
Weg einer dogmatistischen Metaphysik und dogmatischer Ein¬
zelwissenschaften. Ein unbändiger Wissensdrang und zugleich
die Kehrseite eines mitentfesselten Dranges nach praktischer
20 Natur- und Weltbeherrschung befriedigte sich in immer neuen
Theorien, spezialisierte sich in immer neuen Wissenschaften in
unendlicher Fruchtbarkeit; und über diesen methodisch selbstän¬
digen Einzelwissenschaften erhebt sich eine Metaphysik. Auf sie
alle bezogen, sieht sie darin ihre Funktion, die universale Idee
25 der Philosophie zu vertreten und an die ungespaltene, als volles
Universum genommene Wirklichkeit die sogenannten höchsten
und letzten Fragen zu stellen; es waren Fragen, die, wie schon
die der Aristotelischen allgemeinen Seinslehre, eben nicht an
einzelne Gebiete gebundene Spezialfragen waren, und in theolo-
30 gischen Problemen kulminierten. Diese Metaphysik, die neuzeit¬
liche so wie die antike und mittelalterliche, war aber eine dogma¬
tische Wissenschaft, ganz so, wie es die Naturwissenschaften und
die sonstigen immer neu sich etablierenden Spezialwissenschaften
waren. Ihre Grundbegriffe und Grundsätze, ihre Methoden und
35 Theorien waren nicht aus den letzten Ursprüngen in der tran¬
szendentalen Subjektivität geschöpft und empfingen also nicht
von daher ihren letzten Sinn und ihre letzte Wahrheit. Diese
transzendentale Subjektivität der transzendental durch mög¬
liche Wechselverständigung verbundenen Allgemeinschaft der
184 ERSTE PHILOSOPHIE
transzendentalen Einzelsubjekte blieb unerschaut, im Stande
naiver Anonymität, geschweige denn, daß sie als das radikalste
und wichtigste aller wissenschaftlichen Themen erkannt wurde.
Man sah noch nicht, daß sie das Wesenskorrelat des Alls der
5 Objektivitäten sei, die, als „positive” ausschließlich gesehen,
Themen aller natürlichen Erfahrung und dann ausschließlich
Themen der positiven Wissenschaften waren. „Wesenskorrelat”
drückt aber aus, daß Objektivität ohne transzendentale Subjek¬
tivität schlechthin undenkbar sei. Man merkte eben noch nicht,
10 daß die gesamte natürliche Erfahrung und so überhaupt die ein¬
seitige Blickrichtung auf die Positivitäten (das Weltall und die
mathematische Ideenwelt) eine Art Abstraktion vollzieht und
das philosophische Denken dazu verführt, bloße Abstrakta zu ver¬
absolutieren, und daß also ohne Aufhebung solcher Abstraktion
15 durch eine methodische Abblendung positivistischer Verhaftung,
durch Sichtlichmachung der in der Natürlichkeit sich selbst ver¬
borgenen transzendentalen Subjektivität und durch systemati¬
sches Studium dieser Subjektivität als alle Arten des Positiven
konstituierender eine wirklich konkrete Erkenntnis unmög-
20 lieh ist.
Ein erkenntnistheoretischer Auftrieb war zwar von Descartes’
Meditationen her und als Fort Wirkung der noch älteren Frage
nach der Methode echter Wissenschaftsbegründung immerfort
in Kraft, und die metaphysische Arbeit verflocht sich fast über-
25 all mit erkenntnistheoretischen Zwischenbetrachtungen, so wie
umgekehrt gelegentlich erkenntnistheoretische Untersuchun¬
gen unbedenklich metaphysische und einzelwissenschaftliche
Voraussetzungen machten. Man wußte eben noch nicht, was eine
Erkenntnistheorie, was eine Lehre vom Verstände oder der Ver-
30 nunft zu leisten hatte, und daß hier nichts minderes gefordert
war als eine allen objektiven Erkenntnissen und Wissenschaften
vorangehende, alle in gleicher Weise in Frage stellende, also von
ihnen allen independente Grundwissenschaft. Man sah nicht, daß
ohne eine solche Wissenschaft, deren einziges Arbeitsfeld die rein
35 gefaßte Subjektivität sein mußte, keine Philosophie, keine Wis¬
senschaft von der Natur und vom Geiste, keine Metaphysik als
universale Wissenschaft von den obersten Seinsgründen möglich
war, die als vollseitig und letztbegründete auch letzte Aus¬
kunft über das Seiende im allgemeinen und seine spezialwissen-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 185
schaftlichen Besonderungen zu geben vermochte. Oder vielmehr,
es hatte sich zwar (gemäß unseren obigen Nach Weisungen) in der
auf Descartes folgenden Generation ein gewisses erwachendes Be¬
wußtsein von der Notwendigkeit einer Grundwissenschaft von
5 der reinen Subjektivität auf Seiten des Empirismus schon durch¬
gerungen; aber in Gestalt eines immanenten sensualistischen
Psychologismus, der von den Rationalisten als eine neue Spielart
des von ihrer Seite von jeher bekämpften Nominalismus und
Skeptizismus in scharfer Kritik abgelehnt werden mußte.
10 Aber die rationalistische Kritik erfüllte nicht ihre historische
Funktion; denn wie schon im Altertum gegenüber dem skepti¬
schen Subjektivismus, so war in der Neuzeit gegenüber dem
neuen, dem immanenten Psychologismus die Aufgabe gestellt,
nicht in der bloßen Nach Weisung von Verkehrtheiten und Wider-
15 sinnigkeiten der skeptischen Theorien stecken zu bleiben, sondern
durch eine positive Kritik der wirksamen inneren Motive ihrem
Echtheitsgehalt genugzutun. Es war damit die Aufgabe gestellt,
den Subjektivismus in höherem Sinne wahrzumachen, also den
schlechten Subjektivismus in den notwendig geforderten umzu-
20 gestalten. Aber selbst ein L e i b n i z, der überall und in allen
Philosophien positive Werte sah, vermochte es in seiner ausführ¬
lichen und im einzelnen sehr lehrreichen Kritik L o c k e s nicht,
aus dessen sensualistisch-empiristischem Intuitionismus die echte
Idee eines transzendentalen Intuitionismus herauszuschauen und
25 die für eine wissenschaftliche Philosophie entscheidende Begrün¬
dung einer Wesenswissenschaft von der transzendentalen Sub¬
jektivität anstelle einer immanenten empirischen und gar sensu¬
alistischen Psychologie ins Auge zu fassen x).
Es wäre gleichwohl verkehrt, die ungeheure und für eine wis-
30 senschaftliche Psychologie der Zukunft selbst höchst fruchtbare
Geistesarbeit zu unterschätzen, die in der rationalistischen Philo¬
sophie der Neuzeit wie nicht minder in der des Altertums geleistet
wurde. Das gilt gleich, ob wir Philosophie in dem unentbehrlichen
weitesten Wortsinn verstehen, also die unter der Idee rationaler
35 Begründung sich immer vollkommener ausgestaltenden Wissen¬
schaften mitrechnen; oder ob wir die Philosophie in einem engeren
Sinn verstehen und ihr nur die Disziplinen zuweisen, welche die
allumspannenden Seinsfragen und die prinzipiellen normativen
*) Vgl. Beilage XVI, S. 357 ff. — Anm. d. Hrsg.
186 ERSTE PHILOSOPHIE
Fragen behandeln. Gewiß, für uns, die wir schon eine transzen¬
dentale Philosophie phänomenologischen Stiles als das unum
necessarium für die Ermöglichung letztzureichender Erkenntnis
und letzt wissenschaftlicher Wissenschaft einsehen, ist keine
5 unserer Wissenschaften, heiße sie nun exakte Mathematik und
Naturwissenschaft oder methodisch noch so anerkennenswerte
Geisteswissenschaft, Wissenschaft solchen letzten Sinnes. Und im
Grunde genommen erkennen das alle an, die eine „Philosophie
der Mathematik” außer oder neben der Mathematik, eine „Philo-
10 sophie der Physik” bzw. eine „Philosophie der Natur” neben der
Physik selbst, und so überall den positiven Wissenschaften in
analoger Weise anzuheftende Philosophien für notwendig halten,
und nicht etwa für Felder nutzloser Wortgefechte. Indessen, wir
werden ja wohl im voraus annehmen dürfen, wenn auch in einer
15 gewissen Naivität der Evidenz, daß jene höhere transzendentale
Erkenntnisbegründung an dem Haupt- und Kemstock der theo¬
retischen Methodik der altbewährten objektiven Wissenschaften
nichts Erhebliches ändern würde. Der Gewinn bestände in einer
ursprungsklaren Fundamentierung, in einer wesentlichen Rück-
20 beziehung auf die absolute Subjektivität, wodurch sie um mäch¬
tige Erkenntniszuwächse in der transzendentalen Gegendimen¬
sion bereichert und letzte Sinnesbestimmungen für ihre Gegen¬
standssphären erfahren würden.
Nicht so gut freilich steht es mit den überlieferten philoso-
25 phischen Disziplinen im prägnanten Sinn, und vor allem mit der
Metaphysik, als universaler Seinslehre. Denn hier ist es zu einer
methodisch gefestigten, allgemein anerkannten Wissenschaft nie
gekommen, und konnte es nicht kommen, weil gerade hierzu
eine transzendentale Grundwissenschaft unseres Sinnes uner-
30 läßlich war. Und doch, wertvolle Vorformen metaphysischer
Einsichten und metaphysische Theorien von einem reichen, wenn
auch wissenschaftlich nicht wirklich begründeten Systemgehalt
kamen auch in der Metaphysik zur Entwicklung und fungierten
in einer wirklich aufsteigenden Entwicklung mit dem bleibenden
35 Berufe, eine zukünftige echte Metaphysik vorzubereiten.
Ich möchte dem allgemeinen nach ausführen, wie ich mir das
denke, ohne mich in endlose und zwecklose Einzelkritiken der
Systeme zu verlieren. Solche Kritiken können ja für die rationa¬
listischen Theorien nicht in ähnlicher Absicht in Frage kommen
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 187
wie für die empiristischen. Bei diesen war mit Locke ein
neuer methodischer Typus in Erscheinung getreten, und die Kri¬
tik der Methode hatte für uns das bedeutsame Ziel, hinter der
immanent psychologischen Methode die historische Tendenz auf
5 eine durchaus notwendige und wahre philosophische Methode,
die phänomenologische, sichtlich zu machen. Der Rationalismus
aber, als Dogmatismus, ist gar nicht auf eine immanente Me¬
thode angelegt, und in seiner Methode wirkt sich nicht eine
Tendenz auf die wahre, wenn auch unvollkommen, aus. In dieser
10 Hinsicht ist eben der skeptische Negativismus positiver als der in
positiver rationaler Arbeit fortschreitende Rationalismus. Aber
von Interesse ist hier, zu zeigen, wie dieser Dogmatismus durch
die Cartesianische Erweckung der transzendentalen Subjektivi¬
tät und zugleich durch den neuen Empirismus motiviert wurde,
15 wie er genötigt war, dem Transzendentalen in der dogmatischen
Einstellung Rechnung zu tragen, schließlich dafür zusammen¬
hängende Theorien zu entwickeln, die, obschon sie dem gefor¬
derten Sinn einer immanenten Phänomenologie nicht gerecht¬
wurden, doch manches bringen konnten, was ihm gemäß war.
20 Zudem ist darauf hinzuweisen, daß, was der Rationalismus an
neuen Disziplinen, und zwar den Ontologien, in apriorischem
Verfahren ausbildete, eine bedeutsame Funktion gewinnen mußte
in dem Moment, wo die Aufgabe einer Phänomenologie als rein
immanenter Transzendentalphilosophie recht verstanden und ge-
25 stellt war x).
*) In der Sprache meiner Ideen zu einer reinen Phänomenologie *) gesprochen:
die Grundbegriffe und Grundsätze der Ontologien sind die notwendigen „Leitfäden”
für eine universale Phänomenologie in der höheren Stufe einer Phänomenologie der
Vernunft bzw. für den systematischen Entwurf der konstitutiven Problematik,
welche sich einerseits auf die formal-ontologische quasi-Region „Gegenstand über¬
haupt” und andererseits auf die obersten Regionen von Gegenständlichkeiten be¬
ziehen. Es bedarf also einer systematischen Begründung aller formalen und regio¬
nalen Ontologien und einer sie selbst in der systematischen Gemeinschaft leitenden
universalen „Kategorienlehre”, d.i. der eidetischen Begründung des Systems aprio¬
risch vorgezeichneter Regionen, umrahmt von der formalen Region. Vollzieht sich
auch nach der methodischen Herausstellung des universalen Bodens phänomenolo¬
gischer Forschung (phänomenologischer Reduktion) diese ganze Arbeit innerhalb
der phänomenologischen Einstellung selbst, so ist es doch klar, daß jede in naiv¬
positiver Evidenz entworfene Ontologie oder, was dasselbe, rein rationale Disziplin
in die Phänomenologie zu übernehmen (wenn auch vielleicht durch ihre Ursprungs¬
klärung zu bessern) ist und ihr also vorgetane Arbeit überliefert. Beschränkt man mit
*) Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie, Erstes Buch, zuerst 1913; vgl. die Bde. III-V der vorliegenden Ausgabe. —
Anm. d. Hrsg.
188 ERSTE PHILOSOPHIE
<b) Kritische Bemerkungen über das regressive Verfahren in den
rationalistischen Konstruktionen seit dem Okkasionalismus. Die
Aufgabe progressiver Forschung.)
Schon in der Cartesianischen Schule beobachten wir einen Zug
5 zur Ausbildung einer Metaphysik aus Motiven der Versöhnung
zwischen kausalistischer und theologischer Weltbetrachtung, und
zugleich die Ausbildung einer apriorischen Ontologie in präten¬
diert exakter Methode nach dem Vorbild der Mathematik. In
letzterer Hinsicht ist natürlich Spinoza gemeint, mit seiner
10 Ethica ordine geometrico demonstrata. Ihm blieb jede außertheore¬
tischen Motiven folgende Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse
der positiven Religion und Theologie fern; vielmehr, in schroffer
Rücksichtslosigkeit versucht er eine atheologische Seins- und
Gotteslehre und eine Ethik aus rein axiomatischen Grundbe-
15 Stimmungen und streng deduktiv zu entwickeln.
Anders die Okkasionalisten. Die Cartesianische Phi¬
losophie mit ihrer Zweisubstanzenlehre, die eine Geisteswissen¬
schaft nach derselben Art und Methode wie die Naturwissen¬
schaft forderte und beiden Wissenschaften absolute Bedeu-
20 tung zuerteilte, schien metaphysisch zu einer kausalistischen
Weltauffassung hinzudrängen, welche den Forderungen der Re¬
ligion und den damit verflochtenen ethischen Bedürfnissen nicht
den Ideen den Begriff der Phänomenologie auf eine eidetisch- „deskriptive”, an das
Reich unmittelbarer Intuition sich bindende Grundwissenschaft — die mögliche
Erweiterung über das gesamte Reich mittelbarer Erkenntnis liegt auf der Hand und
führt zu einer universalen phänomenologischen Wissenschaft als alle rationalen Wis¬
senschaften umspannende —, so gehörten in diese deskriptive Phänomenologie selbst
die Grundbegriffe und Grundsätze aller Ontologien und fungierten für ihre kon¬
stitutiven Untersuchungen zugleich als „Leitfäden”. All das überträgt sich dann auf
die positiven Tatsachenwissenschaften, in deren phänomenologischer Interpretation
die letztwissenschaftlichen Tatsachenwissenschaften erwachsen, die in sich selbst
philosophischen, die neben sich keine anzuhängenden Sonderphilosophien mehr dul¬
den. Durch die ihnen in Anwendung der eidetischen Phänomenologie zuwachsende
letzte Interpretation des in ihnen als Faktum erforschten objektiven Seins und durch
die in dieser Phänomenologie mitgeforderte universale Betrachtung aller Regionen
der Objektivität in Bezug auf die universale Gemeinschaft transzendentaler Sub¬
jekte gewinnt das Weltall, das universale Thema der positiven Wissenschaften,
„metaphysische” Interpretation, was nichts anderes heißt als eine Interpretation,
hinter der eine andere zu suchen keinen wissenschaftlichen Sinn gibt. Aber dahinter
eröffnet sich auf phänomenologischem Boden eine weiter nicht mehr zu interpre¬
tierende Problematik: die der Irrationalität des transzendentalen Faktums, das sich
in der Konstitution der faktischen Welt und des faktischen Geisteslebens ausspricht:
also Metaphysik in einem neuen Sinn *).
*) Vgl. Beilage XVII, S. 365. — Anm. d. Hrsg.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 189
genugtun konnte. So erwuchsen schon im Okkasionalismus, und
noch vor der Wirksamkeit des Spinozismus, Versuche, die Meta¬
physik unter Leitung religiös-ethischer Postulate zu gestalten.
Noch stärker wird der Antrieb zu solchen Versuchen seit dem
5 Hervortreten der Ethik Spinozas, die als die reine Konsequenz
der von der neuen mathematischen Naturwissenschaft geleiteten
Metaphysik erschien und größten Anstoß erregen mußte. Aus
Gott war eine Art mathematische Wesenheit geworden, der alle
eigentlich geistigen Prädikate abgingen. Das Hervorgehen der
10 physischen und geistigen Realitäten der gewöhnlichen Weltauffas¬
sung aus dieser absoluten Substanz war mathematisches Hervor¬
gehen mathematischer Folgebestimmungen aus den definitori-
schen Grundbestimmungen geworden. In diesem System starrer
mathematischer Konsequenz war für Freiheit, Zwecktätigkeit,
15 für eine göttliche Teleologie kein Raum. — Die Weiterentwick¬
lung ist wesentlich beherrscht von dem philosophischen Bedürf¬
nis, kausale und finale Weltauffassung, naturale und geistige,
mathematisch-mechanische Notwendigkeit und menschliche und
göttliche Freiheit zu versöhnen. Eben diese Triebkraft der Ver-
20 söhnung gibt den metaphysischen Versuchen einen nicht un¬
wesentlichen methodischen Charakter, der zugleich mitbestimmt
ist durch die Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf das seit
Descartes wirkende Motiv der für sich geschlossenen res cogitans,
des unmittelbar nur seiner selbst bewußten Geistes.
25 Wenn man im 19. Jahrhundert, im Ausgang von der Inter¬
pretation der Kan t’schen Vemunftkritik, von „transzenden¬
taler Methode” spricht, so meint man damit im Gegensatz zu dem,
was wir hier so bezeichneten, eine eigentümlich regressive und
konstruierende Methode, welche den „Bedingungen der Mög-
30 lichkeit” objektiv gültiger Erkenntnis im Sinn der Frage nach¬
geht: was muß für die erkennende Subjektivität vorausgesetzt
werden, wie müssen ihre Erkenntnisvermögen, wie die in ihr
sich abstufenden Erkenntnisfunktionen des Anschauens und
Denkens angenommen werden, wie müssen sie erkenntnisformend
35 wirken, damit Erkenntnis einer wahren Objektivität in Form an
sich gültiger Wahrheiten und Wissenschaften möglich und ver¬
ständlich werden soll? In einem ähnlichen Sinn rekonstruktiv ist
von vornherein die Versöhnungsmetaphysik, und es will mir
scheinen, daß die gewaltige Rolle, welche die Rekonstruktion
190 ERSTE PHILOSOPHIE
für die Erkenntnistheorie gewonnen hat, ihre ursprüngliche hi¬
storische Quelle in dieser rekonstruierenden Metaphysik hatJ).
Was zunächst die letztere anlangt, so stand die Philosophie, die
noch fest im Dogmatismus steckte, einerseits vor der Welt im
5 Sinne der neuen objektiven Wissenschaften: der Mathematik,
der mathematischen Naturwissenschaft und der natural entwor¬
fenen Psychologie und Geisteswissenschaft; und diese Wissen¬
schaften und ihre Welt wollten als absolute gelten. Auf der ande¬
ren Seite war von der Religion und Theologie her vorgegeben
10 Gott als Weltschöpfer, als das letzte Prinzip, von dem die ganze
Welt nach Sinn und Sein entspringt, und in ihr beschlossen die
freien Vernunft wesen, in denen Selbst Verantwortung aus eigenem
logischen und ethischen Gewissen sich mit der Verantwortung
vor Gott, eigene freie Entscheidung und Tat und All-Entschei-
15 düng des letztlich alltätigen Gottes sich verschlingt. In der reli¬
giösen Forderung lag dabei — so wurde sie jedenfalls verstan¬
den —, daß der Inhalt alles tatsächlichen Seins und selbst aller
Gesetzmäßigkeiten dieses Seins, aber auch Sinn und absolute
Gültigkeit aller letzt-rechtgebenden Vemunftnormen seine tele-
20 ologischen Gründe im göttlichen Geiste haben muß. Positive
Wahrheit und theologische wollten und mußten zur versöhnen¬
den Einheit kommen; und damit in eins: göttliches Sein und Sein
der endlichen Wesen; Vernunft und Wille Gottes, Vernunft und
Wille des Menschen. Die Metaphysik als Wissenschaft vom Sei-
25 enden im absoluten Sinn war damit auf den konstruktiven Weg
gedrängt: wie müssen wir uns vor allem die naturale Welt, die
der objektiven Wissenschaften, zurechtlegen, damit sie eine gott¬
gewirkte, eine teleologisch verständliche Welt werden kann?
Das methodische Verfahren ist also ein ähnliches, wie es die Theo-
30 logie allezeit befolgen mußte, wenn sie ihre theologischen Lehren
in der Weise einer sogenannten natürlichen Theologie auch ratio¬
nal verständlich machen wollte. Aber was der Theologie zuge¬
billigt werden kann, steht noch nicht der Philosophie zu. Sie darf
kein vorausgehendes Dogma, keine wie immer geartete Vorüber-
35 zeugung haben. Ihr Wesen ist es ja, absolut gegründete Wissen¬
schaft, oder einfacher, reine Wissenschaft und nichts als
Wissenschaft sein zu wollen. Prinzipiell kann sie nur von absolut
einsichtigen Urgründen ausgehen und in einem absolut vorur-
*) Vgl. Beilage XVIII, S. 365 ff. — Anm. d. Hrsg.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 191
teilslosen, in jedem Schritte aus evidenten Prinzipien sich recht¬
fertigenden Begründungswege emporsteigen. Ihr Verfahren kann
und darf nur progressiv sein.
In gewissem Sinn verfährt ja jeder wissenschaftliche Forscher
5 konstruktiv und regressiv; er tut es in seinen erfindenden Ge¬
dankengängen. Alle Erfindung setzt voraus Antizipation, man
kann nichts suchen und zu erzeugen suchen, ohne im voraus
eine Leitvorstellung für das zu Suchende, zu Erzeugende zu
haben. Und im voraus wird sich der Erfinder mögliche Wege
10 phantasiemäßig zu gestalten versuchen, die über schon fest¬
stehende Wahrheiten als Etappen zu dem antizipierten Resultat
führen dürften. Aber mit all dem ist nur ein Anschlag gewonnen
und eine vorläufige Wahrscheinlichkeit1). Die wirklich erledi¬
gend leistende Arbeit folgt dann nach; progressiv geht sie von
15 fest Begründetem zu darauf Gegründetem über. Indem sie aber
in wirklich aufsteigender Begründungsarbeit vorwärts geht, wird
eigentlich erst die einsichtige und konkret volle Erkenntnis ge¬
wonnen nach Weg und Ziel, eine Erkenntnis, die in beiderlei
Hinsicht in der Regel nicht nur reicher, sondern vielfach auch
20 anders aussieht als der ursprüngliche Anschlag.
27. Vorlesung: <Über Metaphysik und Erkenntnistheorie. Die Be¬
deutung der Monadologie Leibniz’ und der Vernunftkritik Kants. >
Danach verstehen wir es, daß ein dogmatistischer Rationalis¬
mus nie zu einer endgültigen Philosophie führen kann, obschon
aus ganz anderen Gründen als der Empirismus. Rationalismus
ist nichts anderes als die Fortsetzung und Abwandlung des an-
25 tiken Platonismus; beständig wirkt da der bedeutende Urgedanke
fort, daß wahres Sein Korrelat ist des einsichtigen begrifflichen
Denkens, des logischen Urteilens. Aber der neuzeitliche Rationa¬
lismus ist dadurch bestimmt, daß durch Descartes die er¬
kennende Subjektivität — als erfahrende und logisch denkende,
30 aber auch in jedem anderen Sinn meinende und sich entscheiden¬
de — in ihrer reinen Immanenz sichtlich geworden war. Sie for¬
derte nun eine Rücksichtnahme als absoluter Boden, auf oder
in dem sich für das erkennende Ich erscheinende und wahre
Welt konstituiert. Es kam nun alles darauf an, wie diese Forde-
35 rung verstanden wurde.
J) Vgl. Beilage XIX, S. 377 ff. — Anm. d. Hrsg.
192 ERSTE PHILOSOPHIE
Der Versuch Descartes’, das ego cogito zum absoluten Funda¬
ment des Aufbaus aller objektiven Wissenschaften zu machen und
in eins den besonderen Wissenschaften und der sie umspannenden
Metaphysik Einheit und endgültige Begründung zu geben, war,
5 wie wir früher gezeigt <haben>, mißlungen, weil Descartes noch
nicht die Notwendigkeit sehen konnte, das Reich des ego cogito
als Feld einer transzendentalen Erfahrung (bzw. eidetischen An¬
schauung) zum Thema einer deskriptiven Wissenschaft zu ma¬
chen und <in> rein immanenter Forschung zu zeigen, wie hier im
10 reinen Bewußtsein und nach eigenen Wesensnotwendigkeiten
alle Möglichkeiten objektiver Gestaltungen als Erkenntnisge¬
staltungen beschlossen sind.
Die Folgezeit bis Kant kann die immanente Subjektivität
und ihre Evidenz der subjektiven Erlebnis Vorgänge nicht aus
15 dem Auge verlieren, aber sie hat vor sich die anschauliche Welt
und die fertigen objektiven Wissenschaften, die für sie Wahr¬
heiten bestimmen, sie hat ihre religiösen und moralischen Über¬
zeugungen, und sie reflektiert nun über sie: wie die Realitäten
umgedacht, wie sie interpretiert werden müssen, damit den For-
20 derungen der Wissenschaft, der Religion und Moral genuggetan
werden kann — dazu, und nicht zum mindesten, auch den
Forderungen, welche die Immanenz der Erkenntnis geltend
machte. Die Metaphysik als allgemeine Lehre vom Seienden in
seiner absoluten Wirklichkeit wird in letzter Hinsicht von der
25 Interpretation der immanent sich vollziehenden Erkenntnis ab¬
hängig.
Freilich konnte auch, wie eine objektive Wissenschaft von der
Natur und vom Geiste, so auch eine allgemeine Seinslehre g e-
r a d e h i n entworfen werden, also in der Art positiver Wissen-
30 schaft. Nachdem die Scheidung zwischen reiner und angewandter
Mathematik klargeworden war, konnte auch für die Natur, in
Unterscheidung von der empirischen, wenn auch mathematisch
gestalteten Wissenschaft, eine rein rationale, eine aprio¬
rische Naturwissenschaft entworfen werden, m.a.W. eine aprio-
35 rische Ontologie der Natur, eine Wissenschaft nicht von
der faktischen Natur, sondern von einer ideal möglichen Natur
überhaupt; genau in dem Sinne, wie die Geometrie nicht Wissen¬
schaft vom faktischen Raum und seinen Gestalten sondern von
ideal möglichen Raumgestalten und einem ideal möglichen Raum
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 193
ist. Und ebenso konnte eine Ontologie der Seele versucht und
entworfen werden, und schließlich eine allgemeine Onto¬
logie möglicher Realität überhaupt; das aber ganz in der
Naivität, in der Mathematiker ihre apriorischen Wahrheiten her-
5 stellen, unbekümmert um alle Erkenntnistheorie. Andere Aus¬
drücke für solche intendierten ontologische Disziplinen sind meta¬
physische oder rationale Naturlehre und Seelenlehre und, um¬
fassender, rationale Kosmologie und Theologie. Schon Spino¬
zas Ethik ist eine rein rationale Metaphysik, die alle besonderen
10 Ontologien in sich schließen sollte.
Aber gegenüber solchen Versuchen, wenn sie sich als endgültige
Wissenschaften ausgaben, mußte die Naivität empfindlich wer¬
den, in der die absolute Gültigkeit und der metaphysische Wert
der Ergebnisse in Anspruch genommen wurde. Metaphysik war
15 der Titel, unter dem stets letztgültige Seinserkenntnis bean¬
sprucht wurde. Aber seitdem mit Descartes’ Meditationen
das Problem der Möglichkeit objektiver Erkenntnis in der Imma¬
nenz des erkennenden Subjekts aufgetreten war, mußte der Wert
aller objektiven Wissenschaft und somit auch aller naiven Meta-
20 physik problematisch erscheinen. In der Immanenz des erkennen¬
den ego vollzieht sich das ,,klare und deutliche” Erkennen, das
rationale Theoretisieren der Wissenschaft. Das so Erkannte soll
in Wahrheit sein. Was in Wahrheit ist, ist rational erkennbar,
und was rational erkannt ist, ist wahr, ist als das, als was es das
25 Erkenntnisurteil begrifflich bestimmt, „an sich”. Aber wie ist
diese rationalistische Grundüberzeugung, auf der doch alle Wis¬
senschaft fußt, durchzuhalten und erklärlich, wenn der Erken¬
nende mit allen seinen Erkenntnisgestaltungen doch nur in sich
selbst, in seiner reinen Subjektivität gestaltet, was er gestaltet?
30 Alle wissenschaftlichen Aufstellungen, mögen sie nun empirisch
oder a priori sein, mögen sie sich im letzteren Fall vermöge ihrer
prinzipiellen Allgemeinheit und apodiktischen Evidenz als me¬
taphysisch bezeichnen, bedurften einer Interpretation nach
„Sinn” und „Tragweite”, d.i. einer erkenntnistheoretischen In-
35 terpretation. Es mußten in Bezug auf sie die Probleme gestellt
und gelöst werden, welche den „Erkenntniswert” der in der Im¬
manenz des Erkennens sich vollziehenden Erkenntnisleistungen
betreffen.
Also erst dann kann es letzte philosophische Wahrheit geben,
Husserliana VII 13
194 ERSTE PHILOSOPHIE
oder, wenn Metaphysik der Titel für sie und für das Letzt¬
prinzipielle bleibt, erst dann kann es eine wirkliche Metaphysik
geben. Im weiteren Sinn umspannt sie dann alle objektive durch
erkenntnistheoretische Interpretation von ihrer Naivität befreite
5 Wissenschaft. Das sind methodische Überzeugungen, welche sich
als Auswirkungen der Cartesianischen Impulse in der rationa¬
listischen Philosophie früh durchsetzen, schon das ganze Philo¬
sophieren Leibnizens bestimmen, dann in neuer und ge¬
waltiger Kraft in Kants Vemunftkritik wirksam sind und im
10 19. Jahrhundert in den Neukantianischen Schulen,
wenn auch meist verflacht, wieder aufleben x).
Es ist nun aber die Frage, in welcher Methode sich die erkennt¬
nistheoretische Interpretation und die ganze hierbei geleistete
erkenntnistheoretische Arbeit vollzieht. Es ist begreiflich, daß
15 man zunächst damit anfängt, die Wissenschaft gelten zu lassen,
ganz so, wie der natürliche Mensch im Leben die Erfahrungswelt
als selbstverständlich daseiende Wirklichkeit gelten läßt. Er hat
ja im einstimmigen Fortgang der Erfahrung ihre sich bestätigende
Evidenz erlebt — oder vielmehr naiv betätigt, und ihre
20 Kraft liegt im selbstverständlichen, unmittelbaren Für-mich-
dasein der erfahrenen Dinge. Ebenso ist, wer ein Stück Wissen¬
schaft selbsttätig einsichtig durchgearbeitet hat, des theoretisch
Erwiesenen und seiner Wahrheit sicher. Es gibt aber ein gefähr¬
liches und methodisch widersinniges Durcheinander, wenn man,
25 wie es diese Einstellung leicht mit sich bringt, die objektiv wis¬
senschaftlichen Aussagen, die man gelten läßt, mit erkennt¬
nistheoretischen Fragestellungen bemengt, etwa psycho-physi-
sches Wissen als Zwischenglied in erkenntnistheoretische Erwä¬
gungen einflicht. In roher und plumper Form beging der Empi-
30 rist Locke diesen Fehler und begehen ihn — ein Massen¬
phänomen — philosophierende Naturwissenschaftler und natur-
wissenschaftelnde Philosophen noch bis in unsere Tage hinein.
Aber wenn auch dieser Vorwurf den großen Philosophen des
18. Jahrhunderts, einem Leibniz und Kant, nicht ge-
35 macht werden kann, so fehlt bei ihnen doch viel an dem letzten
und reinen Methodenbewußtsein, von dem eine wissenschaftlich
echte erkenntnistheoretische Fundamentierung aller Wissen¬
schaften abhängt. Das, was hier allem voran nottut, ist eine all-
*) Vgl. Beilage XX, S. 381 ff. — Anm d. Hrsg.
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 195
gemeine und sozusagen pedantische methodische Fixierung: alle
Erkenntnis, angefangen von der schlichten Erfahrungserkenntnis
bis hinauf zu aller Wissenschaft, muß als erkenntnistheoretisch
fraglich behandelt werden, und dem Sinn dieser Fraglichkeit
5 gemäß ist in eins alle und jede Erkenntnis (ihr vermeinter Ge¬
genstand ebenso wie die ihn vermeintlich bestimmende Wahrheit)
bloß als Phänomen anzusetzen, statt sie als geltende Erkennt¬
nis zu haben und davon Gebrauch zu machen. Phänomen ist aber
alle Erkenntnis für mich in der transzendentalen Subjektivität,
10 und so erfordert es die echte und reine Methode als erstes, nichts
anderes zu setzen als diese in der Tat an sich erste aller Gegeben¬
heiten, als die „absolut” evidente transzendentale Subjektivität.
Andererseits alles noch so selbstverständlich vorgegebene Ob¬
jektive, die Sinnenwelt und die sie bestimmende Wissenschaft,
15 darf nur gesetzt werden als Erfahrenes des Erfahrens, als Ur¬
teilsinhalt der und der wissenschaftlich geformten Urteilserleb¬
nisse. Ist diese Herausstellung des universalen Reiches der Sub¬
jektivität mit ihren Phänomenen bewußt erfolgt, so liegt doch
der nächste Schritt nahe genug — und vom Empirismus kann
20 man auf ihn sich aufmerksam machen lassen —, nämlich der
Schritt, sich nun zu sagen: hier ist ein mögliches eigenes, ge¬
schlossenes Forschungsfeld, das systematisch erforscht werden
kann und muß.
So verfährt aber die historische Erkenntnistheorie nicht. Mag
25 sie auch de facto ihre problematischen Erkenntnisse, seien es nun
sinnliche Erfahrungen und empirische Urteile, seien es rein ratio¬
nale Begriffe und Urteile, seien es ganze Wissenschaften, wie
Mathematik, exakte Naturwissenschaft, als Phänomen in An¬
spruch nehmen und mag ihre Geltung nur die immanente Eigen-
30 tümlichkeit der subjektiv einsichtigen Begründung ausdrücken:
so ist das Verfahren doch nicht ein methodisch bewußtes, das
sich vorerst der transzendentalen Subjektivität als des Urbodens
versichert und die Erkenntnisgestaltungen auf ihm zum systema¬
tischen Forschungsthema macht. Es ist nicht genug, Erkenntnis-
35 gebilde als Phänomene zu haben und an sie Fragen des Sinnes
ihrer objektiven Gültigkeit zu stellen; man muß sich klarmachen,
daß diese Phänomene als Phänomene erst studiert werden müs¬
sen, und als Phänomene der Intentionalität einer intentionalen
Auseinanderlegung bedürfen.
196 ERSTE PHILOSOPHIE
Natürlich bieten zunächst vortastende ahgemeine Überlegun¬
gen gewisse Leitmotive für Interpretationen; so z.B. wenn
Leib niz über Sinnlichkeit und Denken in folgender Weise
reflektiert: in der bloß sinnlichen Erfahrung bin ich sinnhch
5 affiziert, das Sinnliche affiziert mich als Ichfremdes; im Denken
betätige ich mich rein aus mir selbst, die reinen Begriffe sind
frei von zufälliger Erfahrung, sie sind aus meinem reinen Wesen
geschöpft. In aüen apriorischen Einsichten spricht sich eine zum
reinen Wesen der Subjektivität gehörige Gesetzmäßigkeit aus,
10 die aüen Subjekten als Wesensgesetzmäßigkeit gemein sein muß.
Wie steht es dann mit sinnlicher Erfahrung und den durch sie
bedingten Erfahrungsgesetzen; wie wirken reine Begriffe als Ur¬
formen meines rein intehektiven Wesens formend in der Erfah¬
rungswissenschaft; wie muß, so fortschreitend, Sinnlichkeit in-
15 terpretiert werden, und in weiterer Folge die sinnhch erfahrene
und naturwissenschaftlich erkannte Natur, wenn Erfahrungser¬
kenntnis als objektive verständlich werden soh?
Ich will nicht weiter gehen, aber sichtlich ist, daß weder das
denkende Erkennen rein rationaler Art noch das Erfahren von
20 konkreten Naturobjekten direkt untersucht und einer systema¬
tischen intentionalen Wesensanalyse unterzogen wird und daß
solche Betrachtungsweisen nur als vortastende Antizipationen,
aber nicht als Theorien gelten können. Ohne wirkliche Analyse
werden, während die betreffenden Phänomene in weiter Sach-
25 ferne verbleiben, rekonstruktive Gedankenbildungen vollzogen,
Bedingungen der Möghchkeit für das Zustandekommen dieser
oder jener Erkenntnisleistung oder für Möghchkeit einer rational
verständlichen Erkenntniswelt gesucht, wobei doch die Struktur
der Sinnlichkeit (etwa als verworrenes Denken) und die des Den-
30 kens nicht wirklich untersucht, sondern postuliert wird. Ein
intuitiver Denker wie Leibniz erfindet freilich nichts, wo seine
geniale Phantasie nicht auch passende Anschauung zu antizi¬
pieren vermöchte, und so ist seine ganze Monadenlehre eine der
großartigsten Antizipationen der Geschichte. Wer sie voh ver-
35 steht, kann nicht anders als ihr einen großen Wahrheitsgehalt
beimessen. Leibniz hat bei der Erörterung der Grundeigen¬
schaften der Monade unter den Titeln Perzeption, strebender
Übergang von Perzeption zu Perzeption und insbesondere Re¬
präsentation von reell nicht Gegenwärtigem und doch perzeptiv
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 197
Bewußtem die Grundeigenschaften der Intentionalität erfaßt und
metaphysisch verarbeitet. Aber im ganzen bleibt er doch im
gelegentlichen Apergu, in Antizipation und Konstruktion stecken.
Auch Kant, so sehr er auf systematische Untersuchungen ge-
5 richtet ist und in der Tat in einer tief durchdachten Systematik
fortschreitet, sieht nicht die für eine echte Transzendental Wissen¬
schaft erforderliche Methode. Die seine ist nahe verwandt mit
derjenigen Leibnizens, und wenn er selbst sich von Leibniz weit
entfernt glaubt, so hegt das daran, daß der eigentliche Sinn der
10 Leibniz’schen Philosophie sich erst in unseren Tagen auf Grund
der voheren Kenntnis seiner in Entwürfen, Briefen, kleinen Ab¬
handlungen zersplitterten Gedanken erschließen konnte. Gewiß,
man kann sagen, daß sich faktisch die gesamten Forschungen
Kants auf dem absoluten Grund der transzendentalen Subjekti-
15 vität abspielen. Und zudem hat er mit einer beispiellosen intui¬
tiven Kraft Wesensstrukturen in dieser Subjektivität gesehen,
die von unvergleichlicher Bedeutung sind und die niemand vor¬
dem geahnt hat. In Kants Vernunftkritik liegt eine Kette großer
Entdeckungen ausgebreitet vor uns — und doch nicht nur schwer
20 zugänglich, sondern auch methodisch in einer Gestalt begründet,
daß wir sagen müssen: Kants Vernunftkritik bleibt ebensoweit
entfernt von einer Transzendentalphilosophie als letztbegründen-
der und letztbegründeter Wissenschaft wie diejenige Leibnizens.
Das regressiv methodische Verfahren spielt bei ihm die größte
25 Rolle: wie ist reine Mathematik möglich, wie reine Naturwissen¬
schaft usw.; wie müssen wir uns die Sinnlichkeit denken, damit
rein geometrische Urteile möglich werden; wie muß die Mannig¬
faltigkeit der sinnlichen Anschauung zu synthetischer Einheit
kommen, damit strenge Naturwissenschaft, also Bestimmung
30 von Erfahrungsobjekten in an sich gültigen Wahrheiten mög¬
lich wird? Kant selbst fordert und vollzieht „Deduktionen”, die
von ihm metaphysisch und transzendental genannten Deduk¬
tionen der Anschauungsformen, der Kategorien; deduziert wird
ebenso der Schematismus, die notwendige Geltung der Grund-
35 sätze des reinen Verstandes usw. Es wird freilich nicht bloß, und
natürlich nicht im gewöhnlichen Sinne deduziert. Und doch, es
ist ein konstruktives Denkverfahren, dem nachkom¬
mende Intuition folgt, und nicht ein von unten aufsteigendes,
von Aufweisung zu Auf Weisung intuitiv fortschreitendes Ver-
198 ERSTE PHILOSOPHIE
ständlichmachen der konstitutiven Leistungen des Bewußtseins,
und gar nach allen der Reflexion offenstehenden Blickrichtungen.
Die gewissermaßen innersten Seiten des konstituierenden Be¬
wußtseins werden bei Kant überhaupt kaum berührt; die sinn-
5 liehen Phänomene, mit denen er sich beschäftigt, sind schon
konstituierte Einheiten, von einer überreichen intentionalen
Struktur, die nie einer systematischen Analyse unterzogen wird.
Ebenso spielt zwar das Urteil eine grundbestimmende Rolle,
aber von einer Phänomenologie der Urteilserlebnisse und der
10 Art, wie in ihrem Wandel der Satz und seine Modalitäten des
Seins zur Einheit kommen, ist nichts versucht. Daher ist zwar
an Gestaltungen in der reinen Subjektivität sehr viel gesehen,
und bedeutsame Schichtungen an ihnen sind entdeckt, aber alles
schwebt in einem rätselhaften Milieu, ist Leistung mythisch
15 bleibender transzendentaler Vermögen.
Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn Kant nicht von dem
H u m e des Essay sondern von dem des Treatise aus dem dog¬
matischen Schlummer geweckt worden wäre und wenn er dieses
große Grund werk des englischen Skeptikers genau studiert hätte,
20 vielleicht wäre ihm dann hinter dem skeptischen Widersinn der
notwendige Sinn eines immanenten Intuitionismus aufgegangen
und die Idee eines ABC des transzendentalen Bewußtseins und
seiner elementaren Leistungen, jene Idee, die schon Locke
hatte.
25 In einem Hauptpunkte, der für die Ermöglichung einer wissen¬
schaftlich zureichenden Theorie des transzendentalen Bewußt¬
seins und der Vernunft mitentscheidend ist, bleibt Kant hinter
Leibniz zurück. Dieser hat den Vorzug, in der Neuzeit der erste
gewesen zu sein, der den tiefsten und wertvollsten Sinn des
30 Platonischen Idealismus verstand und demnach Ideen
als in einer eigentümlichen Ideenschau selbstgegebene
Einheiten erkannte. Man kann wohl sagen, für Leibniz war schon
Anschauung als selbstgebendes Bewußtsein letzte Quelle der
Wahrheit und des Sinnes von Wahrheit. Und so hat jede in reiner
35 Evidenz erschaute allgemeine Wahrheit für ihn absolute Bedeu¬
tung. Ihm liegt es daher auch nahe, für Wesenseigenheiten des
Ich, die in solcher Evidenz erschaut sind, eine schlechthin abso¬
lute Bedeutung in Anspruch zu nehmen. Bei Kant aber setzt
uns der Begriff des Apriori in beständige Verlegenheit. Der Cha-
KRITISCHE IDEENGESCHICHTE 199
rakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit, durch den er ihn
kennzeichnet, weist auf absolute Evidenz hin, also, wie wir er¬
warten müssen, wäre es Ausdruck für eine absolute Selbstgebung,
deren Leugnung ein Widersinn wäre. Aber dann sehen wir als-
5 bald, daß das so nicht gemeint ist und daß die apriorische Gesetz¬
mäßigkeit, durch die transzendentale Subjektivität Objektivität
in sich (ihrer rationalen Form nach, die eben Objektivität mög¬
lich macht) gestaltet, doch nur die Bedeutung eines allgemeinen
anthropologischen Faktums hat. So verfehlt Kants Vemunftkri-
10 tik die Idee einer absoluten Grundwissenschaft, die unmöglich
a priori in seinem, sondern nur im echt Platonischen Sinne sein
kann.
Für L e i b n i z lag also der Gedanke nahe, obschon er ihm
nicht nachgegangen ist, eine systematische Wissenschaft von dem
15 reinen und absolut notwendigen Wesen eines ego überhaupt als
Subjekt eines Bewußtseinslebens, und eines in sich selbst Objek¬
tivität konstituierenden, zu konzipieren, eine Wissenschaft, wel¬
che absolute Wahrheiten, und absolut generelle Wahrheiten er¬
schauend und dann systematisch ableitend herausstellt; eine
20 apriorische Wissenschaft, die im guten und einzig wertvollen
Sinn apriorisch ist, sofern sie nichts auf stellt, was ohne Widersinn
zu leugnen wäre, und eine Wissenschaft wäre es, die letzte Quel¬
lenwissenschaft für alle Erkenntnis und Wissenschaft überhaupt
ist — von dem tiefsten Apriori, in dem sich alles andere Apriori
25 erst in höherer Stufe konstituiertx).
*) Vgl. noch die Beilagen XXI, S. 395 ff., und XXII, S. 408 ff. — Anm. d. Hrsg.
ERGÄNZENDE TEXTE
A. ABHANDLUNGEN
DIE IDEE EINER PHILOSOPHISCHEN KULTUR
Ihr erstes Aufkeimen in der griechischen
Philosophie x)
Der Grundcharakter der von Thaies ausgehenden griechi¬
schen Wissenschaft ist „Philosophie”, ist systematische Auswir¬
kung eines von allen sonstigen Abzweckungen befreiten theoreti¬
schen Interesses, des Interesses an der Wahrheit rein um der
5 Wahrheit willen. Reine Wissenschaft in diesem Sinne bezeichnet
aber nicht bloß eine neuartige Kulturgestaltung, den übrigen
Kulturgestaltungen sich bloß anreihend. Sie bereitet für die
Entwicklung der gesamten Kultur eine Wendung vor, die sie als
gesamte einer höheren Bestimmung entgegenführt. Bei der dem
10 rein theoretischen Interesse sozusagen eingeborenen Tendenz zur
systematischen Universalität konnte die Philosophie in der
ersten, wohlbegreiflichen Bevorzugung der kosmologischen
Probleme nicht verbleiben. Wie sehr sich die Welt in der natürli¬
chen Außenbetrachtung als die Totalität aller Realitäten gibt,
15 welche die Menschheit als eine Gruppe untergeordneter Einzel¬
heiten in sich faßt, so ist sie doch im aktuellen Leben für den
Handelnden und im besonderen auch für den forschenden Men¬
schen in der notwendigen Orientierungsform „Ich und meine
Umwelt”, „Wir und unsere (gemeinsame) Umwelt” gegeben.
20 Diese „Prinzipalkoordination” mußte auch für das theoretisch
forschende Interesse wirksam werden. Die Subjektivität als die
erkennende, und zuhöchst als theoretisch erkennende; des
weiteren die Subjektivität als in Wohl und Wehe von der Um¬
welt her affizierte; und schließlich die von innen her frei in die
*) Der Aufsatz wurde von Husserl veröffentlicht in der Japanisch-deutschen Zeit¬
schrift für Wissenschaft und Technik, Bd. I, Heft 2, (Lübeck) 1923. Er entstand 1922
oder 1923. — Anm. d. Hrsg.
204 ERGÄNZENDE TEXTE
Umwelt hinein wirkende und sie zwecktätig umgestaltende
Subjektivität — all das mußte in immer höherem Maße in den
Brennpunkt theoretischer Forschung treten, und es mußten
naiv außengewendete Weltforschung und reflexiv innengewen-
5 dete Geistesforschung sich wechelseitig verflechten und bedingen.
Sowie nun die Forschung die Richtung auf die denktätige und
sonstwie handelnde Subjektivität nahm, mußte sie auf die Fragen
einer letztmöglichen Befriedigung und in Verbindung damit auf
die der Echtheit und Rechtheit der zu wählenden Ziele und Wege
10 stoßen. Darauf mußte sie schon in der Domäne der Wissenschaft
selbst stoßen, da die entworfenen Theorien, alsbald in den Streit
der Systeme hineingezogen, ihr Recht vertreten sollten. Die
beginnende Wissenschaft mußte also, um zu wahrhaft rationaler,
sich einsichtig und endgültig rechtfertigender Wissenschaft
15 werden zu können, die ursprüngliche Werdensform naiver theo¬
retischer Forschung überwinden; sie mußte in wissen¬
schaftstheoretischer Selbstbesinnung die Normen
einer sich endgültig rechtfertigenden Wissenschaft erforschen
und danach schließlich eine wesentlich reformierte Gestalt, und
20 zwar in bewußter Zielstellung anstreben, nämlich die einer Wis¬
senschaft aus wissenschaftstheoretischer Leitung und Recht¬
fertigung.
Ähnliche Normprobleme betrafen aber neben dem erkennend
handelnden Theoretiker den handelnden Menschen überhaupt. So
25 mußte der ganze Komplex der höchsten und letzten Fragen in das
Feld der theoretischen Arbeit treten, abzielend auf die Gesamt¬
heit der absoluten normativen Ideen, welche in ihrer unangreif¬
baren und unbedingten Gültigkeit das menschliche Handeln in
jeder Sphäre prinzipiell bestimmen sollen. Mochten diese Ideen
30 auch, gleichsam als verborgene Entelechien, schon vor ihrer
reinen Erschauung und theoretischen Gestaltung als Entwicklung
bestimmende Kräfte fungieren: nur als bewußt herausgearbeitete
und apodiktisch eingesehene Formen möglicher Rechtmäßigkeit
konnten und können sie „echte Humanität” erwirken; denn was
35 sagt das anderes als eine wahrhaft mündige Menschheit, die als
solche danach strebt, in allzeit wacher Selbst Verantwortlichkeit
zu leben; die allzeit gewillt ist, der „Vernunft” zu folgen, sich
selbst, und nur nach selbstgedachten und selbst eingesehenen
Normen, zu regieren; und die allzeit befähigt und bereit sein
ABHANDLUNGEN 205
möchte, die absolute Normgerechtigkeit ihres Tuns aus letzten
Quellen der Endgültigkeit zu vertreten. In dieser Weise mußte
also der Philosophie — der universalen Wissenschaft — die
Aufgabe Zuwachsen, der blind dahinstrebenden Menschheit zum
5 tiefsten Selbstbewußtsein zu verhelfen, zu dem ihres wahren und
echten Lebenssinnes. Ihre größte Obliegenheit mußte es werden,
vor allem diesem Sinne die letztrationale Gestalt, die einer allsei¬
tig geklärten und begriffenen, in jeder Hinsicht letztgerecht¬
fertigten Theorie zu geben. Diese, systematisch in Prinzipien-
10 Wissenschaften entfaltet, mußte das gesamte Normensystem
begründend heraussteilen, dem eine Menschheit genugtun muß,
um eine wahre und echte Menschheit werden zu können, eine
Menschheit aus reiner praktischer Vernunft. Als Philosophie, im
prägnanteren Sinne einer universalen Prinzipien Wissenschaft,
15 mußte sie selbst im Verbände ihrer letztrationalen Besinnungen
zeigen, daß eine wahrhaft humane Menschheitsentwicklung
nimmermehr in der Weise eines bloß organischen, blind-passiven
Wachstums möglich sei; daß sie vielmehr nur möglich sei aus
autonomer Freiheit, und in erster Linie aus einer wahrhaft
20 autonomen Wissenschaft; zuhöchst aber aus einer uni¬
versalen Philosophie, die sich selbst in ihren prinzipiellen Diszi¬
plinen ihr absolutes Gesetzessystem, das universale Gesetz für alle
möglichen echten Gesetze gegeben hat. Philosophie selbst muß in
letztbezwingender Rationalität zeigen, daß die natürlich gewach-
25 sene historische Kultur die Entwicklungsgestalt einer echt huma¬
nen Kultur nur in der Form einer wissenschaftlich fundierten und
methodisierten Kultur haben kann, und — ideal gesprochen
— in der Form einer sich selbst letzt verstehenden, sich aus letzter
Rationalität, also nach einsichtigen absoluten Prinzipien recht-
30 fertigenden und praktisch gestaltenden philosophischen Kultur.
Man kann das erste Aufkeimen und Durchgestalten dieser für
die Geschichte der Menschheit bedeutungsvollen Überzeugung
im Entwicklungsgänge der griechischen Philosophie aufweisen.
Überhaupt kann man die Geschichte der Philosophie (die, wie sie
35 ursprünglich als universale Wissenschaft erwachsen ist, so ihrem
wesentlichen Sinne nach universale Wissenschaft bleiben muß)
unter dem Gesichtspunkte ihrer größten Menschheitsfunktion be¬
trachten — unter dem Gesichtspunkt ihrer notwendigen Bestim¬
mung, ein universales und letztrationales Selbstbewußtsein der
206 ERGÄNZENDE TEXTE
Menschheit zu schaffen, durch welches sie auf die Bahn einer
echten Menschheit gebracht werden soll. Ein Bruchstück solcher
Betrachtungsart sei im folgenden roh Umrissen, mehr als Auffor¬
derung zu wirklich gründlicher Durchführung denn als Anspruch
5 vollzogener Leistung.
.x)
Fassen wir zusammen. Sokrates, der ethische Praktiker,
stellte zuerst den Grundgegensatz alles wachen persönlichen
Lebens, den zwischen unklarer Meinung und Evidenz, in den
10 Brennpunkt des — ethisch-praktischen — Interesses. Er zuerst
erkannte die Notwendigkeit einer universalen Methode der
Vernunft und erkannte den Grundsinn dieser Methode als intui¬
tive und apriorische Kritik der Vernunft; oder, genauer gesagt,
als Methode klärender Selbstbesinnungen, sich vollendend in der
15 apodiktischen Evidenz, als der Urquelle aller Endgültigkeit. Er
zuerst erschaute das An-sich-bestehen reiner und genereller
Wesenheiten als absoluter Selbstgegebenheiten einer generellen
und reinen Intuition. Mit Beziehung auf diese Entdeckung ge¬
winnt die von Sokrates für das ethische Leben allgemein ge-
20 forderte radikale Rechenschaftsabgabe eo ipso die bedeutungs¬
volle Gestalt einer prinzipiellen Normierung bzw. Rechtfertigung
des tätigen Lebens nach den durch reine Wesensintuition heraus¬
zustellenden generellen Ideen der Vernunft.
Mag dies alles auch bei dem Mangel an theoretischen Absichten
25 bei Sokrates eigentlich wissenschaftlicher Fassung und systema¬
tischer Durchführung entbehren: es darf doch als sicher gelten,
daß bei Sokrates in der Tat die Keimformen für die vernunft-kri¬
tischen Grundgedanken liegen, deren theoretische und techno¬
logische Gestaltung und höchst fruchtbare Fortbildung der
30 unvergängliche Ruhm Platons ist.
Das sokratische Prinzip radikaler Rechenschaftsabgabe über¬
trug Platon auf die Wissenschaft. ... 2)
') Der hier folgende Text des Aufsatzes von „Die erste, naiv außenweltlich gerich¬
tete Philosophie . ..”bis„_von solchem Wesen überhaupt” findet sich in der
1. Vorlesung der Ersten Philosophie, S. 8, 23 bis S. 10, 31. — Anm. d. Hrsg.
*) Der hier folgende Text des Aufsatzes von „Theoretisches Erkennen...” bis
. letztnormierenden Autorität” findet sich in der 2. Vorlesung der Ersten Philo¬
sophie, S. 11,31 bis S. 17, 7. — Anm. d. Hrsg.
ABHANDLUNGEN 207
In diesem Sinne kann also der Grundcharakter der europäi¬
schen Kultur sehr wohl auch als Rationalismus bezeichnet und
ihre Geschichte unter dem Gesichtspunkt des Kampfes um
Durchsetzung und Ausgestaltung des ihr eigentümlichen Sinnes,
5 des Ringens um ihre Rationalität betrachtet werden. Denn alle
Kämpfe für eine Autonomie der Vernunft, für die Befreiung des
Menschen aus den Banden der Tradition, für „natürliche” Reli¬
gion, „natürliches” Recht usw. sind letztlich Kämpfe oder führen
zurück auf Kämpfe um die universale normative Funktion der
10 immer neu zu begründenden und schließlich das theoretische
Universum umspannenden Wissenschaften. Alle praktischen
Fragen bergen in sich Erkenntnisfragen, die ihrerseits sich allge¬
mein fassen und in wissenschaftliche überführen lassen. Selbst die
Frage nach der Vernunftautonomie als oberstem Kulturprinzip
15 muß als wissenschaftliche gestellt und in wissenschaftlicher
Endgültigkeit entschieden werden.
KANTS KOPERNIKANISCHE UMDREHUNG UND
DER SINN EINER SOLCHEN KOPERNIKANISCHEN
WENDUNG ÜBERHAUPT1)
Wie ist Erkenntnis von Gegenständen aus reiner Vernunft
möglich: apriorischer Sätze, Prinzipien, die für Dinge an sich
selbst sollen gelten können? Aber diese Frage birgt alsbald in
sich die Frage: Wie ist Erfahrungserkenntnis von Gegenständen
5 (Objekten) nach Art mathematisch-naturwissenschaftlicher
Erkenntnis möglich?
Gestehen wir die Verständlichkeit schlichter Wahmehmungsur-
teile und durch bloß induktive Verallgemeinerung (empirische
Verallgemeinerung) gewonnener empirischer Allgemeinheiten zu,
10 so sagt das: es ist ganz verständlich, ich finde dabei nichts Ver¬
wunderliches, daß solche Urteile, Einstimmigkeit in der anschau¬
lichen Erfahrung vorausgesetzt, gelten, daß ich sie immerfort
bestätigen kann und daß andere Menschen es ebenso finden
können — natürlich normale Menschen.
15 Aber wie steht es mit den Prinzipien der Methode, nach der wir
exakte naturwissenschaftliche Urteile über Dinge gewinnen, also
mit der exakten Erfahrungswissenschaft — nicht der deskripti¬
ven, an Wahrnehmungsurteilen hängenden Naturwissenschaft,
die eine bloße Vorstufe der exakten Erkenntnis der exakten
20 Naturwissenschaft ist ?
Wahrnehmungsurteile sind bloß subjektiv. Ihre Allgemein¬
gültigkeit bezieht sich auf den Kreis von Menschen, die mit mir in
der Sinnlichkeit übereinstimmen. Und auch abgesehen von
Anderen: jede sinnliche Eigenschaft ist von meinen entsprechen-
25 den Sinnesorganen und der Normalität oder Anomalität ihres
Fungierens abhängig.
Die Methode der neuzeitlichen exakten Naturwissenschaft
macht uns von dieser Relativität unabhängig und macht für die
*) Februar 1924.
ABHANDLUNGEN 209
wahrgenommenen Naturobjekte Bestimmungen, die jeder jeder¬
zeit unabhängig von der Zufälligkeit der Sinnlichkeit nachprüfen
kann. Die spezifischen Sinnesqualitäten fallen dabei aus den Be¬
stimmungen ganz heraus, sie werden nur zu indices, Zeichen für
5 „wahre Qualitäten, welche die Methode ergibt. Umgekehrt, wer
die wahren Qualitäten kennt, weiß, wie die daraus bestimmten
Dinge für ihn aussehen werden, er kann sich im Rahmenseiner
anschaulichen Umwelt eine „Vorstellung” von ihnen machen —
und kann danach sein praktisches Handeln orientieren.
10 Wenn nun die Begriffe betrachtet werden, welche die Methode
bestimmt, so sind es einerseits zeitliche und räumliche Begriffe,
andererseits Begriffe wie Substrat, Eigenschaft, Verbindung,
Ganzes, Einheit und Vielheit u. dgl., logische Begriffe, allgemeine
Urteilsbegriffe, die aber reale Bedeutung haben, dank der natur-
15 wissenschaftlichen Methode. Ein Bestand von Begriffen, kann
man umgekehrt auch sagen, muß a 'priori für jedermann und
allzeit zugänglich sein und die Eignung haben, Dinge zu bestim¬
men, wenn eben Dinge in objektiven Wahrheiten erkennbar sein
sollen.
20 Regressiv: Soll es eine erkennbare reale Wahrheit geben, eine
Wahrheit, die in der Tat Wahrheit ist, also eine einzige, an und
für sich gültige, an der jedermann seine Urteilsnorm haben kann,
so muß es Begriffe geben, die notwendige Beziehung zu Gegen¬
ständen haben und den für sie gültigen Wahrheiten. Sie können
25 nicht von der Zufälligkeit, in der Erkenntnisfunktionen bei
den Einzelsubjekten fungieren, abhängen. Es muß ein Apriori
dasein — als Notwendigkeiten-Sphäre der Intersubjektivität, es
muß, wenn in der Tat doch alle Gegenstände ursprünglich für
uns nur dasind durch sinnliche Wahrnehmung, ein Begriffssystem
30 und ein System ursprünglicher Wahrheiten geben, welche als
Prinzipien eine Methode möglich machen, die für unsere Er¬
kenntnis objektive Naturwahrheit möglich macht: also Bedingun¬
gen der Möglichkeit intersubjektiv gültiger Prädikate, wofern die
Intersubjektivität jeden möglichen Miterfahrenden und Mitur-
35 teilenden befassen soll, der befähigt ist, vernünftig zu erkennen.
Das ist offenbar eine formale Überlegung, und noch reinlicher,
formaler gefaßt, hätte sie zu lauten: Denken wir uns Subjekte
auf eine unendliche Umwelt bezogen, die für sie alle wahrnehm¬
bar ist, und so, daß sie, in Wechselverständigung stehend, ihre
Husserliana VII 14
210 ERGÄNZENDE TEXTE
Wahrnehmungen bzw. Wahrnehmungsurteile austauschen kön¬
nen, daß sie sich dabei in der Tat auf dieselben umweltlichen
Dinge bezogen wissen. Daß „Austausch” möglich ist, das besagt
noch nicht, daß diese Subjekte, selbst wenn sie noch so vernünftig
5 wären, eine wahre. Welt in an sich gültigen Wahrheiten erkennen
könnten. Es genügt dazu nicht, daß sie Verstand haben, urteilen
und Urteilswahrheit haben können, daß sie logische Köpfe sind
(oder gar daß sie sich eine Logik wissenschaftlich ausgebildet
haben; daß sie eine Logik ausbilden können, das liegt schon in
10 der Rede, daß sie Verstand haben, Vernunftsubjekte sind). Aber
das reicht nicht hin für eine prinzipiell erkennbare Welt, eine aus
ihren Wahrnehmungen herauserkennbare. Selbst wenn ihnen
schon eine Welt erscheint, ist noch nicht gesagt, daß für sie und
überhaupt eine Welt existiert und für sie also prinzipiell erkenn-
15-bar ist. Dazu müssen gewisse Bedingungen erfüllt sein. Ich sagte
— selbst wenn ihnen schon eine Welt erscheint: an sich
ist es denkbar, daß selbst das nicht der Fall ist, wobei dann frei¬
lich fraglich ist, ob sie zu wirklich persönlichem Selbstbewußtsein
und zu einer wirklichen Vernunftbetätigung kommen könnten
20 oder die Vernunft für sie eine leere Möglichkeit bliebe. Daß eine
sinnlich anschauliche Welt erscheint, ist selbst eine Bedingung
der Möglichkeit dafür, daß Subjekte sollen eine wahre Welter¬
kenntnis haben können. Und für diese Erscheinung sind
selbst apriorische Bedingungen einzusehen (transzendentale
25 Ästhetik).
Wenn Erscheinungen wirklich Gegenstände erscheinen lassen,
die sie nicht selbst als Erlebnisse sind, und ihnen gegenüber a n
sich sind, also ein Sein in Wahrheit haben, so muß es denkbar
sein, daß sie sich in fortschreitender Wahrnehmung, im Übergang
30 also von Wahmehmungserscheinungen zu Wahmehmungser-
scheinungen, fortschreitend bewähren, und zugleich muß, in
höherer Stufe, eine Weise der Bewährung denkbar sein, die sich
auf ihre Strecken der Unwahrgenommenheit, die im Sinne des An¬
sich gefordert ist, bezieht usw. Es fragt sich, was man daraufhin
35 schließen kann für die Wesensform eines solchen transzendenten
Gegenstandes als Gegenstandes möglicher „Erfahrung”, nämlich
möglicher Bewährung in einstimmiger Wahrnehmung bzw. mög¬
licher Wahrnehmung und ihren Derivaten der Erinnerung und
Erwartung.
ABHANDLUNGEN 211
Es fragt sich aber auch, was man noch weiter vorausgesetzt
hat, ev. was man voraussetzen kann oder muß, z.B. die offene
Unendlichkeit von Gegenständen möglicher Erfahrung und Er¬
fahrungsbewährung, was seine Folge hat für das Verhältnis der
5 immanenten Zeit der Erscheinungen und der objektiven Zeit der
Gegenstände (daß eine solche von der immanenten Zeit unter¬
schieden sein muß). Ferner, da jede Erscheinung mehrfach wie¬
derholt sein kann und die Zeit für ihre Individuation in der
Koexistenz nicht ausreicht, <ist> eine Ordnungsform der objek-
10 tiven Koexistenz (der objektiven Gleichzeitigkeit) <nötig>, die
sich in der Koexistenz der Erscheinungen selbst erscheinungs¬
mäßig darstellen muß, wie die objektive Zeit sich erscheinungs¬
mäßig darstellen muß in der immanenten Folge der Erscheinun¬
gen. Usw. Es müssen also angeschaute und anschaubare offene
15 Formen für alle anschaubaren Gegenstände sein, Ordnungsfor¬
men, darin man sich zurechtfinden kann, und sie müssen schon
zur bloßen Möglichkeit in der Phantasie gehören (in der bloßen
Phantasievorstellung möglicher transzendenter Gegenstände), da
sie eben a priori notwendig zu Erscheinungen als Erscheinungen
20 von transzendenten Gegenständen, von ,.Objekten”, gehören.
Die Raum- und Zeitargumente Kants ziehen ihre Kraft
aus der nicht deutlichgemachten Voraussetzung, daß unter sinn¬
lichen Erscheinungen nicht bloß immanente Empfindungsdaten
und Komplexe von solchen zu verstehen seien, sondern Erschei-
25 nungen von Dingen, die in den Erscheinungen ,,in uns”, d.i.
als unseren Erlebnissen, erscheinen und sollen erscheinen können.
Wir haben m.a.W. äußere Wahrnehmungen, und das sind einerseits
unsere eigenen Erlebnisse — als das „innerlich Wahrnehmbare”,
innerlich Erscheinende —, andererseits sind es eben Wahrneh-
30 mungen von raumzeitlichem Dasein außer uns, und das sagt: Es
stellen sich uns bewußtseinsmäßig, und ganz selbstverständlich,
Dinge dar, jeweils Dinge mit raum-zeitlichen Bestimmungen,
wie Raumgestalt, Zeitgestalt, Raum- und Zeitlage, so und so
sinnlich qualifiziert, die an und für sich sind oder zu sein präten-
35 dieren, die nach allem, was sie sind oder was davon erscheint,
sich erlebnismäßig darstellen, aber nicht selbst Erlebnisse,
Subjektiv-Psychisches sind.
Darüber muß man sich Gedanken machen und sich fragen:
Welche Komponenten des Erscheinenden, und als dem wahrge-
212 ERGÄNZENDE TEXTE
nommenen Ding zugehörig vermeint, sind allgemein zu unter¬
scheiden? Und wenn wir dann zwischen spezifischen Qualitäten,
d.i. solchen Dingqualitäten, die sich in sinnlichen Empfindungs¬
daten psychisch darstellen, und räumlich-zeitlichen Bestimmun-
5 gen unterscheiden werden, ist die weitere Unterscheidung zu
machen zwischen einmaligen und wiederholbaren Bestimmungen.
Da finden wir aber den Unterschied beschränkt auf die raum¬
zeitlichen <Komponenten>: a) die generalisierbare Dauer, Ge¬
stalt usw. überhaupt, b) die individuelle Raum- und Zeitstelle, das
10 principium individuationis. Die allgemeine raum-zeitliche Be¬
stimmung individualisiert sich, und dadurch die sinnlichen
Qualitäten.
Also da ist zu überlegen: Was macht den radikalen Unterschied
zwischen räumlich-zeitlichen und spezifisch qualitativen Be-
15 Stimmungen aus? Hier tritt der Titel „Raum” und der Titel
„Zeit” auf, nicht als Qualitäten, sondern als universale Formen,
in die sich die raum-zeitlichen Qualitäten in gewisser Weise durch
Individuation einfügen. Hier <ist> das Merkwürdige, das in den
Kantischen Argumenten hervortritt: lassen <wir> irgendwie
20 Wahrnehmung phantasiemäßig verschwinden, denken wir das
Wahrnehmungsobjekt weg, so bleibt der „allgemeine” Raum
übrig, von dem seine Gestalt eine bestimmte Stelle deckt. Statt
des Dinges haben wir dann ein Stück leeren individuellen Rau¬
mes. Und tun wir das bei allen Dingen, so bleibt der leere Raum
25 überhaupt übrig, die reine und allgemeine Form individueller
Raum-Zeit-Gestalten und damit möglicher Dinge der Wahrneh¬
mung und möglicher Dinge überhaupt. Jedes Ding führt den all¬
gemeinen Raum mit sich, von jedem Wahmehmungsding ist eine
Grenzenlosigkeit im Fortgang möglicher Anschauung zu voll-
30 ziehen, jedes ist „geometrisch” beweglich, von jedem aus ist
der unendliche Raum konstruierbar, und es ist derselbe Raum,
der von jedem Ding aus erzeugbar ist usw.
Was ist der Sinn der Anschauungsnotwendigkeit des Raumes?
Er ist die notwendige Individualform möglicher Dinge als nur
35 raum-zeitlich anzuschauender Dinge möglicher Wahrnehmung.
Variiere ich frei irgendein wahrnehmungsmäßig Erscheinendes
oder ein möglicherweise Erscheinendes (in reiner Phantasie), so
komme ich im Betreff der optischen, haptischen usw. Qualitäten
zu keiner Notwendigkeit. Höchstens fällt mir hier die Notwendig-
ABHANDLUNGEN 213
keit irgendeiner sinnlichen Qualifizierung auf. Dagegen
komme ich generell auf eine Notwendigkeit hinsichtlich der
Raumgestalt und der Raumlage, nämlich auf die Notwendigkeit,
daß nur die räumliche (und zeitliche) „Qualität” sich stellen-
5 mäßig individualisiert und daß diese Individuation sich im all¬
gemeinen Raum und der Zeit vollziehen muß, dadurch daß sich
alle Gestalten in diese Formen „einzeichnen”. <Ferner komme
ich) auf die notwendige Möglichkeit einer Lagenänderung (Mög¬
lichkeit der anschaulichen Bewegung) unter möglicher identischer
10 Erhaltung der Gestalt, auf die Möglichkeit, die Formen aller
möglichen Lagen, Veränderungen und Gestalten anschaulich
konstruktiv zu erzeugen. Hier stoße ich also auf eine Wesensge-
setzlichkeit, die „intuitiv” ist und den möglichen Abwandlungen
aher vorzugebenden Wahrnehmungserscheinungen (wahrgenom-
15 mener Gegenstände als solcher) und damit allen möglichen
„Erscheinungen” die Regel vorschreibt. (Transzendentale Äs¬
thetik: Bedingungen der Möglichkeit der Wahrnehmbarkeit.)
Wie steht dem gegenüber die transzendentale Logik? Sind
<die> jeweils erscheinenden Objekte, faktisch gegebene, wenn sie
20 den transzendental-ästhetischen Bedingungen (insbesondere den
notwendigen Raum-Zeit-Bestimmungen) genügen, auch schon
exakt-naturwissenschaftlich erkennbare, in ihrem individuellen
Dasein und nach ihren individuellen Bestimmungen bestimmbar ?
Genügen die mathematischen Gesetze als Gesetze der Form
25 möglicher Individuation?
Überlegen wir noch einmal die Grenzen des Transzendental-
Ästhetischen oder was seinen eigentümlichen Sinn bestimmt.
Fingiere ich mich in ein Wahrnehmen hinein und sehe ich mir
das Wahrgenommene in seiner Möglichkeit an, so kann ich die
30 allgemeinen Notwendigkeiten der Gestalt und Lage und Indivi¬
duation, der Gestaltveränderung und Lagenveränderung finden,
die Möglichkeit qualitativer Veränderung usw. Das sagt, ich
bleibe wahrnehmend bei jedem betreffenden Ding, und das ge¬
hört zum Wesen äußerlicher Wahrgenommenheit, daß ich dieses
35 Individuelle und seine Eigenheiten wahrnehme und, während
ich bei ihm bleibe, immer Neues wahrnehmen kann. Freilich,
wenn ich in der Wiederkehr zu dem vordem an ihm Wahrgenom¬
menen das gleiche Merkmal ohne Änderung finde, kann ich da
wirklich schon sagen, daß es sich nicht inzwischen geändert hat,
214 ERGÄNZENDE TEXTE
und nicht in der Veränderung seine alte Qualität <nur> wieder
angenommen hat? Nur Veränderungen, die in meine aktuelle
Wahrnehmung fallen, kann ich konstatieren. Andere supponiere
ich, ohne sie wahrgenommen zu haben, ohne daß ich mich durch
5 Wahrnehmung davon überzeuge oder nachträglich davon über¬
zeugen kann. Jedenfalls aber, soweit Wahrnehmung reicht und
soll reichen können, ja soweit mögliche Wahrnehmung vorausge¬
setzt ist, müssen Notwendigkeiten erfüllt sein: was mir soll er¬
scheinen können, muß „transzendental-ästhetische” Bedingungen
10 erfüllen.
Supponiere ich unwahrgenommene UnVeränderung
oder Veränderung, so liegt darin: ich habe es zwar nicht wahrge¬
nommen, aber ich hätte es bei passender Stellung dazu wahrneh¬
men können, und es mußte dann die ästhetischen Bedingungen
15 erfüllen. Ich kann also freie Variationen fingieren innerhalb der
notwendigen Raumform und die ihr zugehörigen Wesensgesetze
enthüllen als solche, welche Bedingungen der Möglichkeit von
Gegenständen möglicher Erfahrung, als möglicher Wahrneh¬
mung, sind.
20 Jetzt ist aber die Frage: wenn, wie es für Dinge, die sollen
wahrnehmbar sein können, notwendig ist, die ästhetischen Be¬
dingungen erfüllt sind, welche müssen erfüllt sein, damit ein
Dinggegenstand, wenn er in Wahrheit ist, soll erkennbar
sein, auch wenn er nicht wahrgenommen ist? Also schon das
25 Unwahrgenommene eines Dinges kommt in Frage. Ein Ding ist
zeit-räumlich Seiendes, ist an sich, meinen wir, was es ist, in
jedem Zeitpunkt seines dauernden Daseins, und an jedem Raum¬
punkt seiner Gestalt für jeden Zeitpunkt. Da der Erkennende nur
aus seinen Wahrnehmungen und Erinnerungen her überhaupt,
30 daß Dinge in Wahrheit sind, wissen kann, so ist die Frage: Welche
erkennbare Gesetzlichkeit muß erfüllt sein hinsichtlich der Ge¬
genstände, die ästhetisch gegeben sind und waren, damit für den
Erkennenden eine Erkenntnis der ästhetischen Dinge und der
Welt über das Ästhetische hinaus möglich und somit für ihn
35 überhaupt die Wahrheit einer existierenden Welt begründet ist
und sein kann ?
Wie können wir aus dem, was Gegenstände im wahrgenom¬
menen oder erinnerten örtlichen und zeitlichen Sosein zeigen und
ABHANDLUNGEN 215
gezeigt haben, auf das „schließen” 1), was nicht wahrnehmungs¬
mäßig gegeben ist ? (Das ist das H u m e 'sehe Problem der
Tatsachenschlüsse.) Nur wenn dieses möglich ist als Bestimmung
individuellen realen Seins von Unerfahrenem, kann rechtmäßig
5 von einer wahrhaft seienden Welt gesprochen werden, ja allge¬
meiner schon von einer möglicherweise in Wahrheit seienden
(möglichen) Welt.
Oder vielmehr: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein,
welche erkennbaren, und als prinzipielle Notwendigkeiten erkenn-
10 baren Eigenheiten müssen Dinge, Gegenstände möglicher „An¬
schauung” als solche, also in genereller und sozusagen formaler
Allgemeinheit besitzen, damit Gegenstände möglicher Anschauung
zugleich Gegenstände möglicher empirischer Erkenntnis (einer
auf Grund der Empirie, der einstimmigen Wahrnehmung, zu
15 vollziehenden rechtmäßigen Antizipation und Beurteilung) sollen
sein? M.a.W. — damit individuell bestimmende und von jedem
Vernünftigen ausweisbare Wahrheiten erkennbar sein sollen, und
zwar hinsichtlich aller den Dingen selbst zukommenden
Bestimmungen ?
20 Damit verbindet sich, oder darin ist beschlossen auch dieses
Problem: Da die wahrnehmbaren Eigenschaften des Dinges das
ästhetisch Zufällige sind und nur dem Gesetz der Notwendigkeit
unterliegen, raum-zeitlich „geformt” zu sein, so ist schon voraus¬
zusehen, daß den sinnlichen Gegenständen in ihren sinnlichen
25 Eigenschaften a priori vorgeschrieben sein muß, daß sie unter
Regeln stehen müssen — Regeln einer gewissen individuelle
Bestimmungen ermöglichenden Form.
a) Nun finden wir aber am Faktum der gegebenen Wahmeh-
mungsmannigfaltigkeit der uns durch sie gegebenen Welt dieses
30 Merkwürdige, daß für jeden Erkennenden eine Gesetzlichkeit
und geregelte Abhängigkeit besteht, wonach er einen Leib
hat und die Erscheinungen aller anderen Dinge von seinen leib¬
lichen Erscheinungen (erscheinungsmäßigen Merkmalen) ab-
hängen, und die des Leibes von „ihm selbst”.
35 Wohl verstanden: Für das haptisch geänderte Auge, das durch
Schließen der Lider „außer Funktion gesetzt” ist, fallen alle
*) Das „Schließen” ist zunächst ein antizipierendes Gewißsein, hinsichtlich der
Zukunft ein Erwarten. Das aber ist die Voraussetzung für empirisch begründete
prädikative Begriffe und Urteile, also für empirische Wahrheiten über reale Wirk¬
lichkeiten.
216 ERGÄNZENDE TEXTE
visuellen Erscheinungen weg, für den visuell veränderten, „ver¬
brannten” Finger fallen äußere Merkmalerscheinungein aus, und
es treten anomale ein usw. Der Leib ist ein System von Organen,
die in Beziehung aufeinander fungieren, und es bedürfte genauer
5 Beschreibung, wie' da, wenn wir von den Organen selbst zu den
Mannigfaltigkeiten ihrer Erscheinungen übergehen, diese Man¬
nigfaltigkeiten wechselseitig voneinander abhängen.
In diese funktionellen Abhängigkeiten sind aber mitverfloch¬
ten die den eigenen Leib des Erfahrenden und Erkennenden
10 auszeichnenden und nur ihm zugänglichen Innenerscheinungen,
die ihrerseits wieder Zusammenhängen mit dem ganzen übrigen
Getriebe seines Seelenlebens, das wiederum nur ihm unmittelbar
wahrnehmungsmäßig zugänglich ist. So haben wir für jeden
Erfahrenden de facto einen besonderen Relativismus, und er kann
15 immer nur sagen, wie das Ding in Relation zu seinem Leib und
dieser in Relation ,,zu sich selber” ist. Damit ein Ding und eine
Welt für Viele zugleich wahmehmungsmäßig dasein kann, müs¬
sen transzendental-ästhetisch zureichende Bedingungen erfüllt
sein, aber selbst, wenn sie es sind, ist es nicht gesagt, daß das von
20 Vielen identifizierte Ding für alle hinsichtlich jeden Merkmals
der Erscheinung dasselbe ist. Es wäre denkbar, daß eine inter¬
subjektive Verständigung, also eine „gemeinsame äußere Wahr¬
nehmung” Zustandekommen kann, aber nicht alle Wahmehmungs-
aussagen der verschiedenen Subjekte übereinstimmen. Es könnte
25 für einzelne oder für jeden einzelnen in Sonderheit eine einstim¬
mige Wahrnehmungswelt erscheinen und sie als dieselbe von allen
identifiziert werden (wie sie es in erheblichem Umfang muß,
damit sie überhaupt in Einfühlung stehen können), während
doch keine nach allen Merkmalen gemeinsame Welt konstatier-
30 bar wäre. Es könnte andererseits eine solche volle Gemeinsamkeit
bestehen für Viele, aber nicht für Alle, nämlich eine gemeinsame
mit anomalen Ausnahmen. Es könnte jeder seine leibliche
Regel haben, oder im Durchschnitt alle (dieselbe), aber doch
wieder einzelne Ausnahmepersonen nicht usw.
35 Hier ist, genauer überlegt, zu sagen: Wir mußten früher schei¬
den a) Bedingungen der Möglichkeit kontinuierlich einstimmiger
einzelsubjektiver Wahrnehmungen eines Dinges oder Dingzu¬
sammenhanges, ß) Bedingungen der Möglichkeit ebensolcher
ABHANDLUNGEN 217
kontinuierlich einstimmiger Wahrnehmung als kommunikativer
Wahrnehmung (und Erinnerung).
Wir fragen dabei nach den erkennbaren gegenständ¬
lichen Bestimmungen. Welche Struktur müssen solitäre Wahr-
5 nehmungsgegenstände haben, solche eines solitär gedachten
Einzelsubjekts, und zwar welche wahrnehmungsmäßig erfaßbare
Struktur? Weiter, wenn Bestimmungen des Wahrnehmungsob¬
jekts kommunikativ sollen sein können, welche Eigenschaften,
und zwar erkennbare Eigenschaften, müssen die Objekte haben?
10 Hier kommen wir nicht auf Strukturen, die dem anschaulichen
Gegenstand selbst nach seinem anschaulichen Gehalt zukommen,
sondern auf Regeln der Abhängigkeit von der Leiblichkeit des
jeweils Erfahrenden. Die Frage ist dann: Wie weit muß diese
Abhängigkeit reichen, und welche Regel der Harmonie all dieser
15 individuellen Abhängigkeiten ist notwendig (,,a priori”) und muß
prinzipiell erkennbar sein, damit alle anschaulichen Eigenschaf¬
ten trotz dieses Relativismus, der eine Harmonie so vieler Rela¬
tivismen ist als erfahrende Individuen, identifizierbar sein kön¬
nen, etwa so wie ich sage, die Farbe eines Objektes, die ich durch
20 eine blaue Brille hindurch sehe, ist dieselbe wie die, die alle an¬
deren ohne Brille sehen — ?
Hier ist vorausgesetzt das Faktum, der faktische Typus von
Abhängigkeiten der außendinglichen Erscheinungen (äußeren
Wahrnehmungen im ontischen Sinn) von denen des Leibes und
25 seiner Organe; weiter die psychophysischen Abhängigkeiten. Ist
das ein bloßes Faktum, oder bestehen hier Wesensnotwendig¬
keiten, damit überhaupt äußere Erscheinungen möglich, und
Einheit der Erscheinungen in kontinuierlicher äußerer intuitiver
Erfahrung möglich sind ?
30 b) Die neue Frage ist dann die: Welche weiteren Regeln der
Erscheinungen in ihrer räumlichen Koexistenz und zeitlichen
Folge müssen bestehen, also Regeln, die vorschreiben, wie das,
was an Raum- und Zeitstellen individuell verwirklicht ist und sein
kann an anschaulichem Merkmalgehalt, davon abhängt, was an
35 anderen räumlich-zeitlichen Stellen verwirklicht ist und sein
kann; welche Regeln, näher ausgesprochen, die a priori bestehen
müssen, oder vielmehr Formen, Gestalten von besonderen Regeln,
damit der jeweilig Erfahrende einerseits von Angeschautem
seiner Anschauungssphäre auf Nichtangeschautes schließen kann,
218 ERGÄNZENDE TEXTE
und nicht bloß in Ansehung der psychophysischen (und der
somatischen) Abhängigkeiten? Wäre z.B. eine Bestimmung von
unerfahrenen Dingseiten der Vergangenheit oder von überhaupt
unerfahrenen Dinglichkeiten (Vorgängen etc.) des Raumes und
5 der Zeit, eine Konstruktion der unangeschauten Dinggehalte, die
aber hätten angeschaut werden können, ohne Kausalität,
als zwischendingliche Kausalität, denkbar? So für das erfahrende
Subjekt für sich, und so auch für alle Subjekte, die zur Einheit
eines möglichen kommunikativen Zusammenhanges gehören, für
10 den eine erfahrbare gemeinsame Umwelt denkbar sein soll.
Aber noch fehlt ein Wichtiges. Jeder hat seine psychophysische
Regel und seine anschauliche Umwelt, jeder seine Empfindungs¬
daten, seine sinnenanschaulichen Merkmale. Läßt sich eine er¬
kennbare Gesetzmäßigkeit denken, nach der a priori (im voraus)
15 konstruierbar wäre, welche Empfindungsdaten, welche Erschei¬
nungen nach ihrem sinnlichen Gehalt ich und gar jedermann je
haben wird ? x) Eine psycho-physische Regel ist erkenntnismäßig
nur denkbar als induktiv-empirische Regel, die voraussetzt, daß
ich die fraglichen Gattungen und Sonderarten, Typen von sinn-
20 liehen Daten schon hatte, auf die ich, nur etwa in analogischer
Steigerung, schließe. Also ist es undenkbar, daß eine Gesetz¬
mäßigkeit erkennbar sei, nach der jeder Erkennende die unend¬
lich vielen Mannigfaltigkeitsunendlichkeiten (die der offen unend¬
lichen wirklichen und möglichen Subjekte) konstituieren könnte;
25 und auch ein Gott könnte das nicht. Wie ist also Erkennbarkeit
einer Welt, der gemeinsamen Umwelt, für eine offene Unendlich¬
keit miteinander kommunizierendender Erkenntnissubjekte zu
gewährleisten ?
Gewiß gehört dazu, daß alle Erscheinungen, die ein Subjekt
30 für dieses Weltall, also für alle Einzeldinge je haben könnte, und
jedes Subjekt, im voraus bestimmt sind und sogar zugänglich
sind. In seiner Erscheinung eröffnet das Ding dem Erfahrenden,
daß und was es ist, obschon in Bezug auf seine Leiblichkeit und
Subjektivität und auf andere Dinge. Wäre eine Erscheinung
35 unbestimmt, so wäre auch das Ding unbestimmt.
Aber die Konstruierbarkeit des Alls der Erscheinungen, die
*) Darin liegt als ein Apriori, daß Empfindungsdaten geregelt verlaufen, und zwar
so, daß sich Erscheinungen bilden und Erscheinungen sich weiter in Einstimmigkeits¬
zusammenhängen erhalten können. Was für Regeln? Nur die Erscheinungen selbst
können sie zeigen, durch Auseinanderlegung ihrer Sinnes- und konstitutiven Struktur.
ABHANDLUNGEN 219
das Äquivalent ist dafür, daß in allen möglichen Erscheinungen
aller möglichen in möglicher Wechsel Verständigung stehenden Sub-
jekte sich eine und dieselbe wahre und in kommunikativer Erfah¬
rung ausweisbare Welt darstellt, kann auch ein anderes besagen.
5 Nicht daß ich fähig sein muß, alle möglichen Erscheinungen, eigene
und fremde, schlechthin zu konstruieren. Gesetzt den undenkbaren
idealen Fall, daß ich fähig wäre, alle Erscheinungen zu konstru¬
ieren (also alle Arten Empfindungsdaten zu kennen), die jede
mögliche Variation meiner Leiblichkeit, die ihre Selbster-
10 haltung ermöglicht, ergeben könnte; und gesetzt, daß ich dann
alle Erscheinungen konstruieren könnte, die in Relation zu
meiner Leiblichkeit eine einstimmige Welt für mich ergäben:
dann wäre keineswegs schon gegeben, daß ich die Erscheinungen
konstruieren könnte, die alle anderen möglichen Erkenntnissub-
15 jekte in Relation zu dieser Welt (und für mich zugänglich) haben
müßten: wenn sie mit mir dieselbe Welt eben gemeinsam haben.
Sie könnten ja Arten von Leibern haben, mit zugehörigen psy-
cho-physischen Regeln und Empfindungsdaten, die für mich
prinzipiell unzugänglich sind.
20 Aber gesetzt, ich finde eine Erkenntnismethode, die so aus
meinen Erscheinungen außersinnliche dingliche Bestimmungen
gewinnt, daß jeder andere dieselbe Methode an den Sinnen üben
könnte, und weiter so, daß er dieselben außersinnlichen dinglichen
Bestimmungen finden müßte: dann könnte es doch so sein, daß
25 wir alle an diesen Bestimmungen ein Mittel hätten, um
rückwärts, und auf Grund der Methode, die Erscheinungen zu
konstruieren, die zu diesen Bestimmungen gehören, und zwar
jeder die seinen, und vielleicht den anderen unvollkommen oder
gar nicht zugänglichen. Es muß möglich sein, eine Methode und
30 ein System methodischer Urteilsergebnisse zu konstruieren, die,
ungleich den sinnlichen Erfahrungsurteilen, wirklich Gemeingut
aller vernünftig Erkennenden sein können, Urteilsergebnisse,
die, als für jedermann unbedingt gültige Wahrheiten erkennbar,
jedes weltlich Seiende individuell und vollständig bestimmten;
35 aber in dem Sinn vollständig, daß jeder von seiner Anschauung
aus den Anschauungssinn dieser unanschaulichen Bestimmungen
in Form der Konstruktion der zugehörigen anschaulichen Man¬
nigfaltigkeiten, der möglichen Wahrnehmungen, herstehen
könnte.
220 ERGÄNZENDE TEXTE
Endlich ist es aber nicht notwendig, jenen idealen Fall voraus¬
zusetzen. Es genügt, daß jeder Vernünftige, von seinem An¬
schauungskreis ausgehend, in fortschreitender Vollkommenheit
alle hierher gehörigen Regeln der Erfahrung und der Übung der
5 Methode lernen könnte und daß sich die Herrschaft über ein
Reich einstimmiger Erscheinungen immer mehr erweiterte und
durch die Erweiterung selbst die Gewähr für die Möglichkeit
weiterer Fortschritte und weiterer Annäherungen an eine ver¬
nünftig vorauszusetzende Welt an sich als Substrat möglicher
10 Wahrheiten an sich gewönne. Hier ist noch Raum für apriorische
Erwägungen. Insbesondere, es ist nicht notwendig, daß alle
Subjekte vernünftig sind, daß alle über zureichend erkenntnis¬
fähige, für eine objektive Erkenntnis die notwendigen Voraus¬
setzungen liefernde Leiblichkeit verfügten. Es mag leibliche und
15 psychophysische „Krüppel” geben, wenn es nur auch gerad-
wüchsige „Menschen” gibt.
Aber das Sein der Welt setzt voraus vernünftige und normale
Subjektivität.
Das ist freilich das aus dieser ganzen Betrachtung Ersicht-
20 liehe. Und es setzt voraus nicht eine beliebige faktische ver¬
nünftige Subjektivität, sondern eine solche, deren Sinnlichkeit
unter einer universalen Regelung steht, deren Gestalt und Aus¬
druck nur auf dem Wege über die sich konstituierende Welt als
Erkenntnisphänomen formulierbar gedacht werden kann.
25 Die Frage des natürlich eingestellten Menschen nach dem
Grunde des Faktums dieser Welt wird in der transzendentalen
Inneneinstellung zur Frage nach dem Grunde des Seins dieser
faktischen Subjektivitäten und der faktisch in ihnen sich vollzie¬
henden Konstitution der Welt, darin beschlossen aller faktisch
30 erfüllten Bedingungen der Möglichkeit solcher Konstitution.
Welchen Sinn der hier spielende Begriff des „Grundes” haben
kann und was es sein kann, das uns an diesem Faktum nicht
befriedigt ruhen läßt, das ist eine neue Frage, die auf eine höhere
Stufe transzendentaler Forschung verweist.
35 Es ergäbe sich nun die Frage, welche Form eine solche Metho¬
de, als Begründungsweise unbedingt objektiv gültiger Urteile und
Wahrheiten, haben müßte. Es ist im voraus klar, daß alle Begriffe
einer objektiven Theorie rein logische sein müssen, die aber, in
der Methode gewonnen, reale Bedeutung gewonnen haben. —
ABHANDLUNGEN 221
Die Erscheinungen aller Subjekte, die auf ein und dasselbe
Ding, und so auf jedes Ding, bezogen und beziehbar sein sollen,
in möglichem intersubjektiven Austausch, müssen an sich be¬
stimmt sein. Jedes Subjekt muß zu jedem noch unerfahrenen
5 Zugang haben, einen oder viele Wege der Anschauung — und
nicht bloß in dieser leeren Allgemeinheit, als ob freie Phantasie
diese Wege (raum-zeitliche Wege somatischer Funktion) beliebig
mit ästhetisch zusammenstimmenden Anschauungen besetzen
könnte; sondern es müßte die Möglichkeit bestehen, die Erschei-
10 nungen als ganz bestimmte zu antizipieren.
Hier kommt nun die vor allem begreifend-urteilenden Denken
mit Erfahrung als Wahrnehmung und Erinnerung sich notwendig
verwebende Funktion der Erwartung in ihren verschiede¬
nen Modalitäten in Frage. Erwartung hängt mit Assoziation
15 zusammen und steht unter einsehbaren Regeln.
Aber diese in einer Subjektivität sich bildenden Einheiten und
sich ausspannenden Antizipationen der Erwartung genügen
nicht, z.B. Erwartung auf Grund häufiger Folge. Einerseits
stehen wir noch im Einzelsubjektiven, andererseits genügt selbst
20 dann nicht die zufällige Assoziation. Die Folge der Dingerschei¬
nungen (Wahrnehmungen), die einem „wahrhaft seienden” Ding
gemäß sein sollen, muß objektiv bestimmt sein. Zufällige Assozia¬
tion schafft im Einzelsubjekt nur zufällige und sich eventuell
wieder zerstörende Erwartungen.
25 Es muß möglich sein, daß ich im Laufe meiner Erfahrung (als
Erwartungsbildung) mir solche Systeme von Wahrnehmungen
zueigne und in meiner Richtung auf den erscheinenden Gegen¬
stand solche Merkmale und Merkmalkomplexe als wahrnehmungs¬
mäßig eintretende erwarte, daß ich immerzu dabei bleiben kann,
30 ihn als einstimmig erfahrenen, sich erwartungsmäßig bestätigen¬
den zu setzen — sowohl solipsistisch als nachher in der Kom¬
munikation mit Anderen und auf Grund der Kenntnisnahme
ihrer Erfahrungen. x) Das setzt voraus, daß die erscheinenden
Ergänzungsausführungen: Hier wird Rücksicht genommen aut die Erweiterung
des Erfahrungsbegriffes, nämlich durch Antizipation (Erwartung), und in eins damit
auf die Einigungsgestalten in ihrer konstitutiven Bedeutung; demgemäß auf die
Erweiterung des Sinnes einer Einstimmigkeit der Erfahrung, in der der Erfahrungs¬
gegenstand als empirisch wahr ungebrochen setzbar bleibt.
Aber zugleich ist von vornherein Rücksicht zu nehmen auf das, was allem in einem
Bewußtsein Bewußten apriorische Einheit gibt, auf die notwendig mit schon bewu߬
ten, und in eins bewußten Einheiten, gegebenen Einheitsgestalten, Weisen der
Einigung. Das ist Voraussetzung, Grundlage der Assoziation, die selbst eine Weise der
Einheitsbildung ist.
222 ERGÄNZENDE TEXTE
Dinge nach ihren ontischen Merkmalen unter festen Zeitgesetzen
stehen, oder vielmehr zeiträumlich-qualitativen Gesetzen. Asso¬
ziation und Erwartung beziehen sich hier auf wahrnehmungs¬
mäßige und demnach in künftiger Wahrnehmung sicher zu er-
5 wartende Merkmale.
Die Erwartung kann sich ins Intersubjektive spannen, soweit
die kommunikativen Subjektivitäten gleichartige und in einer
Normalität fungierende Leiblichkeiten haben. Die die sinnlichen
Qualitäten umspannende Regelung kann nicht unbedingt inter-
10 subjektiv sein. 1)
Soll aber eine wahre Welt für alle wirklichen und noch mög¬
lichen Subjekte einer fortzuerstreckenden Kommunikation (für
„jedermann”) erkennbar sein, soll also jedermann das Recht
haben, nicht nur zu sagen: ich erkenne eine Welt in meiner Erfah-
15 rung, als Welt für mich, und nicht nur weiter zu sagen:
Andere erkennen auch eine Welt für sich, die aber trotz
der Identifikation in gewissen Bestimmungen doch nicht Wahr¬
heit an sich ist; sondern soll es eine einzige Welt
als individuell und intersubjektiv bestimmbare geben, so muß
20 diese Dingwelt vollzureichend individuell bestimmbar sein durch
außersinnliche Merkmale, durch solche, die nicht von der „zu¬
fälligen Leibeskonstitution” der Erfahrenden abhängen. Diese
Bestimmungen können nicht sinnliche Qualitäten der spezifischen
Art sein, aber auch nicht xotva, nicht Raum- und Zeitgestalt,
25 so wie sie sinnlich erscheinen. Andererseits hat
der Erfahrende doch unmittelbar nichts anderes als Erscheinun¬
gen, teils Wahrnehmungserscheinungen der aktuellen Momentan¬
wahrnehmung 2), teils Reproduktionen solcher als Wiedererin¬
nerungen, teils Erwartungen, als sinnliche Antizipationen von
30 künftigen Erscheinungen, und Abwandlungen solcher Erwar¬
tungen (wie hypothetische Erwartungen unter sinnlich-anschau¬
lichen Umständen). Meine Erwartungen mit ihrem durchaus
sinnlichen Gehalt müssen so laufen, und die eines jeden für sich,
daß sich eine Einstimmigkeit in der Synthesis der Erscheinungen
*) Vorausgesetzt ist da die Beziehung der Sinnlichkeit, der subjektiven Erschei¬
nungen und ihrer Komponenten auf die subjektiven Leiblichkeiten. Also müßte eine
transzendentale Theorie des Apriori, das dem Somatischen und Psycho-physischen
zugrundeliegt, entworfen werden.
2) Ich habe aber nicht sinnlich erscheinende Daten für sich, sondern Einheitsfor¬
men umspannen sie.
ABHANDLUNGEN 223
immer wieder herstellt, trotz gelegentlicher Enttäuschung von
Erwartungen, und daß, je vollkommener die Erfahrung wird, je
inhaltsreicher, sie immerfort die Form hat: ich lerne wirklich
Dinge und eine ganze Welt immer besser kennen und scheide
5 dabei Illusion, Schein als bloß subjektiv aus gegenüber der
rechtmäßigen Wahrnehmung und Erfahrung. Sofern ich in den
Lauf meiner Erfahrung eingreifen, willkürlich den Gang der
Wahrnehmungen mitbestimmen kann, kann ich ihn auch einrichten
auf ein genaueres Kennenlernen der Dinge und der Welt, auf ein
10 kennenlernendes Hinausschreiten in den offenen Raum und die
mit Unbekanntem, ev. Vergessenem usw. besetzte Zeit.
Andererseits ist das fortschreitende „Besser-Kennenlernen”
einer Welt, die die meine ist, noch nicht das Kennenlernen
einer intersubjektiven Welt für Alle.
15 Hier kann nur eins möglich sein: daß alle sinnlichen Bestim¬
mungen in gesetzlichen Zusammenhängen stehen mit nicht¬
sinnlichen Bestimmungen, die allen vernünftigen Subjekten als
Subjekten möglicher Wahrnehmung und Erfahrung notwendig
gemeinsam sind.
20 Notwendig gemeinsam sind die Stellensysteme Raum und
Zeit, sie müssen als Prinzipien der Individuation Titel für in¬
tersubjektive Erkennbarkeit sein, damit überhaupt dasselbe
Dingliche als dasselbe erkennbar sei. Damit müssen aber auch alle
primären Qualitäten — Dauer, Raumgestalt, relative Lagenver-
25 hältnisse — intersubjektiv erkennbar sein, trotz ihrer sinnlichen,
also leiblich-psycho-physisch bedingten Gegebenheitsweise. Im
Denken müssen ihnen, gegenüber bloß sinnlichen Begriffen, not¬
wendig gemeinsame real-mathematische Begriffe entsprechen.
Natürlich haben wir gemeinsam das ganze Material der formal-
30 logischen und formal-ontologischen Begriffe, und natürlich in
ihrem Bezug auf wahrnehmungsmäßig Gegebenes, auf Reales.
Hier kommen aber ganz allgemein in Betracht die zu jeder
erdenklichen Anschauung (und nicht bloß der äußeren) und
zu jedem erdenklichen ursprunggebenden Bewußtsein (als
35 Bewußtsein von einem Gegenständlichen welcher Art immer)
gehörigen Einheitsformen und Entfaltungsformen von Mannig¬
faltigem, wie Gleichheit, Verschiedenheit, Identität, Verbindung
zu einem Ganzen, Teil und Teil im Ganzen, Substrat und Eigen¬
schaft, Relation usw.; auch Bedingung und Bedingtes, Kol-
224 ERGÄNZENDE TEXTE
lektivum, Disjunktivum; kurz all das, was nach Aktivität und
Passivität zu allem möglichen sinnlich Anschaulichen gehört
oder gehören kann, und nicht selbst „Wahrnehmung” ist: wo¬
durch sich freilich ein besonderer Begriff von Wahrnehmung, An-
5 schauung abzeichnet gegenüber einem weiteren x).
All das hier in Betracht Kommende liegt vor der Vernunft¬
funktion der Begrifflichkeit und des Urteils in der Form des
Logos, und in höherer Stufe tritt diese auch hinzu, also etwa statt
einer „sinnlichen Gleichheit”, dieser „g'wasf-Qualitativen”, und
10 des „sinnlich” spontanen Übergangs von diesem Gleichen zu
jenem, in der „sinnlich” spontanen Relationsauffassung — das
begriffliche Gleichheitsurteil, der Logos a = b; und so überall.
Eine reine Sinnlichkeit gibt es nicht, überall Intentionalität,
Spontaneität. Der begreifende „Verstand” ist nicht eigentlich
15 produktiv, es sei denn in der Beistellung einer nachher von An¬
schauung sich trennenden Urteilsfunktion, im analytischen Den¬
ken, vor allem aber, als „Vernunft”, in der Schöpfung der
Idee, und darin liegt: des exakten Begriffes (des rein logischen,
der ein eigentlich logisches Urteil möglich macht) 2). Aber diese
20 Vermögensbegriffe nützen hier wenig.
Was erschauen wir also in der Kantischen Analytik?
Nicht das Triviale: wenn die Erfahrungsgegenstände in ihrer
Wahrheit erkennbar sein sollen, muß es möglich sein, wahre
Urteile über sie zu fällen und diese Urteile auszuweisen. Diese
25 Urteile müssen unter den allgemeinen logischen Urteilsformen
stehen, diese müssen sich in der Anwendung auf die erfahrene
Realität realisierend besondern; die in den logischen Urteilsfor¬
men enthaltenen ontologischen Begriffe, wie Gegenstand, Eigen¬
schaft, Vielheit usw., müssen reale Bedeutung annehmen und sich,
30 um Erkenntnisformen zu werden, irgendwie „schematisieren”
usw.; sondern was die Innerlichkeit und den Wert der Kantischen
*) a) Ich nehme ein Ding wahr, ich bin auf e s gerichtet, indem ich im Fluß der
Wahrnehmungserlebnisse, in denen es fortgesetzt wahrgenommen ist, immer neue
Merkmale, oder vielmehr e s in ihnen als seinen Bestimmungen kennenlerne.
b) Mir tritt „ein Ding in die Erscheinung” und affiziert mich, ich tendiere auf
Wahrnehmung im Sinne von a), ich habe eine potenzielle Wahrnehmung, die in
Auswirkung dieser Tendenz in aktuelle übergeht.
*) Doch das ist etwas viel gesagt. Logische Erkenntnis, nicht als Erkenntnis der
Logik, sondern als wissenschaftlich begründende Erkenntnis, erhebt uns über die
Sphäre der unterlogischen Spontaneität in die der logischen Wissenschaft empor.
ABHANDLUNGEN 225
Gedankenbildung ausmacht und das unerhört Neue in der
Geschichte, daß er zuerst sich das Problem stellt, die apriorischen
Bedingungen der Möglichkeit dafür zu erforschen, daß eine er¬
kennende (kommunikative) Subjektivität zur rechtmäßigen
5 Überzeugung vom Dasein einer realen Welt kommen und sie
erkennen kann.
Die kopernikanische Wendung besteht hier in einem Unschein¬
baren — und doch für echte Philosophie Entscheidendem. Die
Menschheit hatte bisher die gegebene Erfahrungswelt eben als
10 gegebene hingenommen, den Erkennenden als Menschen in die
Welt hineingestellt, wie er sich in der Tat jederzeit als Glied
dieser gegebenen Welt vorfindet. Und danach war nur die Frage,
wie die Erkenntnis selbst als reale Tatsache im Menschen zustan¬
dekommt, auch, wie sie, um rechtmäßig zu sein, technisch zu
15 gestalten sei usw. Die Erkenntnis ist ein praktischer Zweck in der
Welt so wie für den Schuster der Stiefel.
Technische Logik und Erkenntnislehre <fragten nur): Wie ist
Erkenntnis der Wahrheit, des wahren Seins, zweckmäßig zu
gestalten? Das Erzielenkönnen und, in ausgezeichneten Fällen,
20 das Erzielthaben ist das Selbstverständliche, wie im Technischen
sonst. Die Grundregeln, etwa der Widerspruchslosigkeit, der
Axiome, sind Typen der selbstverständlichen Erzielungen oder
Verfehlungen, und in ihrer Allgemeinheit wieder selbstverständ¬
lich. Man hat also Welt, man hat Gegenständlichkeiten vor-
25 gegeben, jeder Art, und fragt, wie sie sind oder wie sie am besten
von schon selbst gegebenen aus zu erreichen sind. Man hat sie
im voraus, man lebt im Glauben.
Für Kant liegt das Problem in einer total entgegengesetzten
und neuen Richtung: Wenn für mich eine Welt selbstverständ-
30 lieh existiert und ich von ihr in der Erfahrung immer Neues vor¬
finde, und mich selbst als leib-seelisches Wesen als Ding unter
Dingen in ihr finde, so ist dieses Für-mich-existieren, und selbst
direkt Vorfinden — selbst ein mundanes Erkennen: und alle
Erkenntnisprozesse, angefangen vom Getriebe schlichter Wahr-
35 nehmung, Erinnerung, Erwartung, Antizipation offener, durch
Erfahrung auszufüllender Horizonte, Aussonderung, Verbindung,
Beziehung, bis hinauf zu den Leistungen des wissenschaftlichen
Erkennens, sind subjektive Prozesse. Es sind Prozesse eines sub¬
jektiven Meinens, eines subjektiven erkennenden Tuns, das gleich-
Husserliana VII 15
226 ERGÄNZENDE TEXTE
wohl öfters als täuschend, als Schein, als Illusion u.dgl. bezeich¬
net wird, eines subjektiven sogenannten Einsehens, Ausweisens,
Urteilens, wissenschaftlichen Begründens. Ist dabei von Gegen¬
ständen und Verhältnissen von Schein, Wirklichkeiten, Wahr-
5 heiten die Rede, so sind es im Subjektiven selbst gesetzte Gegen¬
stände, gesetzte und subjektiv „eingesehene” „Wahrheiten”,
also selbst in die Subjektivität hineingehörig. Auch das Außer-
mir-Sein einer Welt ist ein subjektives Vorkommnis in mir, auch
Raum und Zeit der erfahrenen Welt sind in mir Vorgestelltes,
10 Angeschautes, Bedachtes, also als das subjektiv. Das ist keine
Entwertung, sondern einfach Aufweisung einer unabweisbaren,
notwendigen Sachlage. Und diese führt nun das Problem
mit sich, zu verstehen, in einem eigenen immanenten Erkennen,
das sich auf das naive Erkennen und naiv Erkannte als solches
15 richtet — zu verstehen, wie sozusagen dies aussieht, was die er¬
kennende Subjektivität als Wahrheitsausweisung einer in ihr
erkannten Welt vollziehen kann und vollzieht und welches die
subjektiven Bedingungen der Möglichkeit dafür sind, daß solche
Wahrheitsausweisung a priori möglich sei, daß die Subjektivität
20 also aus eigener Autonomie und sich selbst verstehend recht¬
mäßig das Sein einer Welt, und gerade dieser Welt, erkennt.
Den Schritt zur transzendentalen Umkehrung vollzog Kant,
wie wir aus seiner Entwicklung wissen, völlig originell, in sich
den allgemeinen Entwicklungszug der Philosophie seit Descar-
25 t e s verwirklichend. Eigentlich war das Problem der Neuzeit
durch die Cartesianische Entdeckung des ego cogito aufgegeben,
eigentlich war dies schon die Entdeckung der transzendentalen
Subjektivität, nur war sie als das weder von ihm noch von den
meisten Nachfolgern verstanden. Kant wußte auch nicht, daß
30 schon L e i b n i z’ Monadenlehre in dem ihr von ihrem Schöpfer
gegebenen Sinn ein Anschlag zu einer transzendentalen Theorie
war, und erst recht nicht, daß H u m e, sein großer Gegenspieler
in der Vernunftkritik, in seinem großen Jugendwerke eine nahezu
reine Transzendentalphilosophie, aber in Form eines widersinnigen
35 sensualistischen Skeptizismus, entworfen hatte. Humes Treatise
war im 18. Jahrhundert fast ohne Wirkung geblieben und ist
nie in den Gesichtskreis Kants getreten.
Abgesehen von diesen Vorläufern in der transzendentalen
Einstellung ist Kants Problematik nicht nur völlig originell,
ABHANDLUNGEN 227
sondern neu. Leibniz gab ein transzendentales Apercu und
keine eigentliche systematische Theorie zur Aufklärung der
transzendentalen Subjektivität und der in ihr konstituierten
Welt. H u m e aber war, wie gesagt, Skeptiker; auf dem tran-
5 szendentalen Boden der rein auf sich selbst in der Erkenntnis ge¬
stellten Subjektivität suchte er zu zeigen, daß eine objektiv gültige
Erkenntnis eine illusionäre Täuschung, daß eine wahre Natur
und Welt überhaupt ein in der Subjektivität aus ganz irrationalen
Gründen erwachsendes Wahngebilde sei; es war eine Philosophie
10 des Als-ob, also eine Antiphilosophie.
Kant aber entwarf eine transzendentale wissenschaftliche
Theorie der prinzipiellen Möglichkeit des Aufbaus einer wahren
Objektivität in der transzendentalen Subjektivität, oder viel¬
mehr einen ersten, obschon sehr einseitigen und in der Problema-
15 tik beschränkten Versuch, die hier höchst notwendige Wissen¬
schaft zu schaffen, die uns durch die Aufklärung der Wesensbe¬
dingungen einer in der reinen Subjektivität sich abspielenden
Welterkenntnis die Welt selbst in ihrem eigentlichen und wahren
Sinn verständlich macht.
20 Kants Problematik ist keine vollständige, und darum keine
wirklich reinlich zu lösende. Man kann auf die transzendentale
Subjektivität das an wenden, was Kant für ihre besondere Form
die Vernunft gesagt hat. Im übrigen wußte er sehr wohl, daß hier
Vollständigkeit alles ist. Von der Wolf f'sehen Ontologie
25 kommend, ist er auch in der Transzendentalphilosophie immer
wesentlich ontologisch gerichtet. Er interessiert sich für die not¬
wendigen ontologischen Gestalten, die eine objektive Realität
haben muß, wenn sie erkennbar, in an sich gültigen und erkenn¬
baren Wahrheiten, in strengen Wissenschaften begründbar sein
30 soll. Daß unsere Natur raumzeitliche ist und unter rein ma¬
thematischen Gesetzen steht, daß sie eine kausale ist und für sie
eine empirische, und doch von mathematischer Methodik geleitete
Wissenschaft gilt — das ist kein zufälliges Faktum. Sondern nur,
wenn Gesetzmäßigkeiten dieses Typus bestehen, kann so etwas
35 wie eine Dingwelt erfahrbar und aus Erfahrungen bestimmbar
sein. Also nur darum kann der Erkennende ein Recht gewinnen,
in seinen Erkenntnissen eine wahre Natur anzusetzen, weil die
erfahrenen Gegenstände in der Weise ihrer Erfahrung eine ma¬
thematische und naturwissenschaftliche Struktur haben. Ohne
228 ERGÄNZENDE TEXTE
eine solche ontologische Form könnte sie überhaupt nicht ob¬
jektiv bestimmbar sein.
Aber freilich, baut sich in der Erkenntnis das Erkannte als
Erkanntes selbst auf, in subjektiven Prozessen, wie das der
5 Kantischen Lehre überall selbstverständlich zugrundeliegt, dann
kann eine solche Theorie nur wirkliche Aufklärung und streng
wissenschaftliche Lösung bieten, wenn sie die gesamte in der
Erkenntnis leistende Subjektivität nach allen fungierenden We¬
senskomponenten in Rechnung zieht. Das hat Kant noch nicht
10 tun können, nur kleine Ansätze hat er in der ersten transzenden¬
talen Deduktion gemacht. In weiterer Folge hat er die ganze
somatisch-psycho-physische Verwurzelung der anschauenden und
denkenden Erkenntnis, die er überall voraussetzt, nicht zum
transzendentalen Thema gemacht und ist dadurch in einen schil-
15 lernden Anthropologismus verfallen, der arge metaphysische
Konsequenzen hatte und von Anfang an schon den Begriff des
Apriori, die transzendentalen Vermögensbegriffe, den Begriff der
transzendentalen Apperzeption in ein unwissenschaftliches Dun¬
kel versetzt. In einer Beziehung muß man sagen, Kant hat das
20 Problem zu einfach gestellt, dadurch daß er das ganze System
korrelativer und untrennbar zusammengehöriger Probleme noch
nicht erkannt hat. Und eben daher kommt gerade ein Milieu
tiefsinniger Unklarheit, das sich über das ganze System verbreitet
und das zur reinen Klarheit zu bringen bisher niemand vermocht
25 hat.
Andererseits ist es Kants unsterbliches Verdienst, daß er,
obschon als Kind seinerzeit fast ausschließlich nach der Natur¬
wissenschaft und ihrem Kausalismus orientiert, doch sofort da¬
ran ging, den Gang der transzendentalen Problematik auf alle
30 Formen möglicher Objektivität zu übertragen, und das besagt
für ihn, auf die moralische Welt und die ästhetische. Auch dar¬
über hinaus zieht er die geistige Weltbetrachtung der Teleologie
in den Kreis seiner transzendentalen Betrachtungen. Das war
zwar nicht völlig zureichend, und zu einer konkreten und allsei-
35 tigen transzendentalen Problematik des humanen Kulturlebens,
also der gegebenen Welt, soweit sie nicht bloß Natur sondern
Geisteswelt ist, ist er nicht vorgedrungen. Und doch hat er auch
in dieser Hinsicht die Bahn für die Späteren eröffnet, die nicht
durch naturwissenschaftliche Vorurteile gehemmt und zu einer
ABHANDLUNGEN 229
Überwertung des Seins der Natur weniger geneigt waren. Onto¬
logisch ist er auch in der Kritik der praktischen Vernunft und
Urteilskraft eingestellt. Seine transzendentale Ethik enthält
einen der größten Fortschritte, die die Ethik je gemacht hat;
5 sie ist anzusehen als erster Durchbruch einer formalen Ethik, die
zur konkreten Ethik eine ähnliche Stellung hat wie die formale
Logik zu den sach haltigen Wissenschaften. Aber freilich hat er
sich darin getäuscht, diese leere, und doch theoretisch höchstwer¬
tige formale Ethik schon für Ethik selbst gehalten zu
haben.
KANT UND DIE IDEE DER
TRANSZENDENTALPHILOSOPHIE
Erweiterte Wiedergabe der Gedanken eines Vortrages
zur Kant-Feier der Universität Freiburg am 1. Mai 1924
VORWORT
Die zweihundertjährige Wiederkehr des Geburtstages Im¬
manuel Kants darf auch in unserem phänomenologischen
Jahrbuch nicht ungefeiert vorübergehen. J) Denn in der prinzipi¬
ellen Fortbildung, welche die Phänomenologie in meiner Lebens-
5 arbeit genommen hat, in ihrem Entwicklungsgang von einer
neuartig gestalteten Methode für Ursprungsanalysen — so in
ihrem ersten Durchbruch in den Logischen Untersuchungen — zu
einer neuartigen und im strengsten Sinne eigenständigen Wissen¬
schaft —- der reinen oder transzendentalen Phänomenologie
10 meiner Ideen — hat sich eine offenbare Wesensverwandtschaft
zwischen dieser Phänomenologie und der Transzendentalphilo¬
sophie Kants herausgestellt. In der Tat, meine Übernahme des
Kant’schen Wortes „transzendental”, bei aller Ferne von den
Grundvoraussetzungen, Leitproblemen und Methoden Kants,
15 beruhte von vornherein auf der wohlbegründeten Überzeugung,
daß auf diese neue Grundwissenschaft alle sinnvollen Probleme
zurückzuleiten seien (mindestens bei deren letztgeklärter For¬
mulierung), die Kant und seine Nachfolger unter dem Titel von
transzendentalen theoretisch bearbeitet hatten. Wenn die neue
20 Phänomenologie sich zugleich als Anfangsstück und als univer¬
sale Methodenwissenschaft für eine phänomenologische Philo¬
sophie einführte, so war damit auch schon gesagt, daß eine Phi¬
losophie überhaupt, nach ihrem ganzen System, nur als eine uni¬
versale Transzendentalphilosophie, aber auch nur auf dem Boden
*) Die von Husserl, wie aus diesem Satz ersichtlich, vorgesehene Veröffentlichung
der vorliegenden Abhandlung im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische
Forschung ist unterblieben. Der Text erscheint hier erstmals im Druck. — Anm. d.
Hrsg.
ABHANDLUNGEN 231
der Phänomenologie und in der spezifisch phänomenologischen
Methode die Gestalt einer letztstrengen Wissenschaft annehmen
könne.
Einige Erläuterungen dürften hier nützlich sein.
5 In ihrer ersten Entwicklungsstufe, auf der übrigens eine Reihe
von Phänomenologen stehen geblieben ist, war die Phänomenolo¬
gie eine bloße Methode rein intuitiver Deskription, vor allem
ausgezeichnet durch den Radikalismus, mit dem sie der Forde¬
rung zu genügen suchte, jedes „Phänomen” (jede „Gegebenheit”,
10 jedes unmittelbar Vorgefundene), d.i. alles und jedes, das in den
aufmerkenden Bewußtseinsblick treten mochte, genau so zu
nehmen, wie es sich in ihm gab, und systematisch Begriffe zu
fixieren, welche jedes Gegebene als solches, im Wie seiner Gege¬
benheit, beschreiben konnten: in streng ,,deskriptiven”Begriffen,
15 als aus „reiner Intuition” dieser Gegebenheiten selbst geschöpf¬
ten. Prinzipiell ausgeschaltet waren hierbei alle die Bereiche
reiner Gegebenheit überschreitenden Meinungen und Fragestel¬
lungen.
Jede solche Gegebenheit ist Gegebenheit für die Subjektivität,
20 die auf sie den Blick richtet, sie im gebenden Bewußtsein hat; die¬
ses Bewußtsein in seinen vielfältigen Gestaltungen ist in der dar¬
auf sich richtenden Reflexion selbst wiederum ein „Phänomen”.
Gegeben sind Gegenstände, und sie sind gegeben a 1 s leer vor¬
gemeinte oder als leibhaft daseiende, als symbolisch angezeigte,
25 als im Abbilde abgebildete usw. Gegeben ist ein Gegenstand —
z.B. ein Baum als einer und selbiger — in mehreren in der Einheit
eines Bewußtseinsblickes verlaufenden und erschaubaren Gege¬
benheitsweisen; als derselbe, der einmal indirekt angezeigt, das
andere Mal abgebildet, das dritte Mal direkt anschaulich, das eine
30 Mal als Subjekt prädikativer Aussagen, das andere Mal als Rela¬
tionsobjekt usw. gegeben ist. Gegeben ist auch die auf merkende
Zuwendung des Ich, gegeben sein in Gewißheit Meinen, sein Ver¬
muten, sein Zweifeln, Bejahen und Verneinen, gegeben jeder ver¬
meinte Sinn im Wechsel solcher Modalitäten der „Thesis” usw.
35 Die Phänomenologie fing an mit unermüdlichen Aufweisungen
all solcher subjektiver „Phänomene”, zu denen natürlich auch
alle Geltungsphänomene, die Phänomene der Evidenz und Be¬
währung und ihre Korrelate Wahrheit, wahres Sein, Richtigkeit
usw. jeder Art und Gestalt gehörten. Die Natur als anschauliche
232 ERGÄNZENDE TEXTE
Natur, genau so, wie sie jeweils wahrgenommen ist, mit allen
subjektiven Charakteren, in denen sie gegeben ist (und nicht nur
in den von den Naturforschern methodisch als ,,bloß subjektiv”
ausgeschalteten); das ward alsbald ein großes Thema phänome-
5 nologischer Beschreibungen. Die Welt gewann eine unendliche
Weite, sobald die wirkliche Lebenswelt, die Welt im Wie der
Erlebnisgegebenheit betrachtet war. Die ganze Weite der man¬
nigfaltigen subjektiven Erscheinungen, Bewußtseinsweisen, Modi
möglicher Stellungsnahmen nahm sie an; denn sie war für das
10 Subjekt nie anders als in diesem subjektiven Milieu gegeben, und
bei rein intuitiver Deskription des subjektiv Gegebenen gab es
kein An-sich, das nicht in subjektiven Modis des Für-mich oder
Für-uns gegeben ist, und das An-sich selbst tritt als ein Charakter
in diesem Zusammenhang auf und mußte darin seine Sinnes-
15 klärung erfahren.
Das von vornherein leitende Prinzip, allem in unmittelbarer
Intuition dem Ich Gegebenen und zu Gebenden sein Recht, und
sein Urrecht begrifflicher Fassung zuzuerkennen, führte aber
auch, und schon in den Logischen Untersuchungen, zur Anerken-
20 nung des Urrechts der Gegebenheit wahrhaft seiender idealer
Gegenständlichkeiten jeder Art, und im besonderen der eideti-
schen Gegenstände, der begrifflichen Wesenheiten und der We¬
sensgesetzlichkeiten, womit in selbstverständlicher Folge die
Erkenntnis der universalen Möglichkeit von Wesens wissenschaf-
25 ten für Gegenständlichkeiten aller und jeder gegenständlichen
Kategorien und die Forderung der systematischen Ausbildung
von Ontologien, formalen und materialen, zusammenhing. Für
die Deskription der Unendlichkeit unmittelbarer Gegebenheiten
in ihrem subjektiven Wie ergab sich aber in abermals unmittel-
30 barer Folge die Erkenntnis der Möglichkeit und Notwendigkeit
einer überall durchzuführenden Wesensdeskription; einer eide-
tischen Deskription, die nicht an den empirisch einzelnen
Gegebenheiten hängen blieb, sondern ihren eidetischen Typen und
den zugehörigen Wesenszusammenhängen (als Wesensnotwendig-
35 keiten, Wesensmöglichkeiten, Wesensgesetzlichkeiten) nach¬
forschte. Die Freiheit der verschiedenen Blickwendungen von
geraden zu reflexiven Gegebenheiten und die Erkenntnis der
hierbei hervortretenden Wesenskorrelationen führte zur inten¬
tionalen Wesensanalyse und zu ersten Grundstücken der inten-
ABHANDLUNGEN 233
tionalen Wesensklärung der Vernunft, und zunächst der logisch
urteilenden, der prädizierenden Vernunft, und ihrer Vorstufen.
Wurde in den Anfängen der sich ausbreitenden phänomeno¬
logischen Bewegung die Wesensanalyse und -deskription (bei
5 den psychologisch interessierten Phänamenologen meist ohne
jede Hervorhebung ihres Grundcharakters als einer solchen des
,,Wesens”, des intuitiv zu erfassenden, des echten Apriori) in
verschiedenen Gebieten durchgeführt, so schien Phänomenologie
den meisten entweder eine Fundamentalmethode einer immanent-
10 reinen und. bestenfalls eidetisch-psychologischen Analyse oder —
den vorwiegend wissenschaftstheoretisch Interessierten — eine
philosophische Methode, um für die verschiedenen schon vor¬
handenen Wissenschaften eine Ursprungsklärung ihrer Grund¬
lagen oder eine radikale Neuschöpfung von Grundbegriffen ihrer
15 Theorie und Methode aus den letzten Quellen zu vollziehen.
Gerade die tiefsten und schwierigsten Erörterungen der Logischen
Untersuchungen fanden wenig Nachfolge. In ihnen (vor allem in
der 5. und 6. Untersuchung des II. Bandes) war der Phänomeno¬
logie der logischen Vernunft (und damit auch im Vorbilde aller
20 Vernunft überhaupt) der Weg eröffnet, Anfänge einer intentio¬
nalen Konstitution der kategorialen Gegenständlichkeiten im rei¬
nen Bewußtsein waren freigelegt, und die Methode einer echten
intentionalen Analyse herausgebildet.
Der entscheidende Fortschritt gegenüber der Art, wie mein
25 Lehrer Brentano — der geniale Entdecker der Intentiona¬
lität des Bewußtseins als eines deskriptiven Grundfaktums der
Psychologie — in den methodischen Einstellungen des traditio¬
nellen Sensualismus befangen blieb und in der er die psychischen
Akte ganz wie sinnliche Daten klassifizierend beschrieb, um dar-
30 auf naturalistische, induktive Kausalforschung zu gründen,
blieb wenig verstanden. So erregten die Ideen mit ihrer aus lang¬
jährigen Studien erwachsenen Begründung einer Phänomenolo¬
gie als eigenständiger Wissenschaft, des näheren als einer univer¬
salen eidetischen Transzendentalphilosophie, zunächst vielfachen
35 Anstoß, und selbst bei solchen, die im bisherigen Sinn als ausge¬
zeichnete phänomenologische Mitforscher hervorgetreten waren.
Ein so großer Teil meiner nur in Vorlesungen veröffentlich¬
ten Forschungsergebnisse der Jahrzehnte seit dem Erscheinen
meines ersten phänomenologischen Versuches noch der literari-
234 ERGÄNZENDE TEXTE
sehen Fixierung harrt und bei der ungeheuren zu bewältigenden
Arbeit noch in Fortbildung begriffen ist, es ist doch in den
Ideen die universale Einheit des Reiches unmittelbarer Intui¬
tion und ursprünglichster Deskription in der Methode der phäno-
5 menologischen Reduktion — der prinzipiellsten aller Methoden
— herausgestellt; der tiefste Sinn der cartesianischen Wendung
der neuzeitlichen Philosophie ist damit, wie ich zu sagen wage,
enthüllt, und die Notwendigkeit einer absoluten, in sich geschlos¬
senen eidetischen Wissenschaft des reinen Bewußtseins überhaupt
10 zwingend erwiesen; das aber in Beziehung auf alle im Wesen des
Bewußtseins gründenden Korrelationen, auf seine möglichen reell
immanenten Momente und auf seine intentional-ideal darin be¬
schlossenen Noemata und Gegenständlichkeiten. Sie ist auch
systematisch in werktätige Arbeit genommen, methodisch wie
15 sachlich in die Gestalt strenger stetig fortzubildender Theorie
gebracht. Vorgedeutet ist (und nicht nur im Titel) die Bestim¬
mung dieser eidetisch deskriptiven Phänomenologie als an sich
erste Philosophie, und damit als Anfangs- und Grundstück
einer universalen Philosophie, d.i. einer aus absolut letzten Quel-
20 len begründeten Universalwissenschaft; die Ausgestaltung der
deskriptiven Phänomenologie im Hinausgehen über die bloße
Deskription, aber unter Verbleiben in der eidetischen Einstellung,
führt zum System aller apriorischen Wissenschaften; das Über¬
gehen vom transzendentalen Apriori zum transzendentalen Fak-
25 tum zum System aller empirischen Wissenschaften in transzen¬
dentaler Fundierung.
So wesentlich sich die phänomenologische Transzendental¬
philosophie methodisch und nach dem ganzen Zusammenhang
ihrer Grundfeststellungen und -theorien von allen historischen
30 Philosophien unterscheidet: sie ist aus unabweislicher innerer
Notwendigkeit Transzendentalphilosophie. Mag
der phänomenologische Forscherkreis sich auch ursprünglich in
scharfem Gegensatz zu den Arbeitsweisen Kants und der
nachkantischen Schulen gefühlt, mag er die Versuche, Kant in
35 der Weise einer Renaissance historisch fortzuführen und bloß zu
verbessern (was eine Gemeinsamkeit der Methode voraussetzte),
mit gutem Grunde abgelehnt haben; mag er allem Kantianismus
gegenüber mit gutem Grunde das methodische Prinzip verfoch¬
ten haben: das unbedingte prius für jede echt wissenschaftliche
ABHANDLUNGEN 235
Philosophie sei die allseitige Fundierung durch systematische
Bewußtseinsdeskriptionen, durch eine universale Klarlegung der
Wesenslagen der erkennenden wie der wertenden und praktischen
Subjektivität, nach allen möglichen Gestaltungen und Korrela-
5 tionen — nun, da wir gleichwohl in den wesentlichen Ergebnissen
unserer systematisch von den absolut letzten Quellen aller Er¬
kenntnis emporsteigenden Arbeit uns nach großen Linien mit
Kant einig sehen, gilt es, ihm als dem großen Vorgestalter der
wissenschaftlichen Transzendentalphilosophie die Ehre zu geben.
10 Daß sich niemand, und sei es der extremste Antikantianer, als
Kind der Zeit den Einwirkungen dieses gewaltigen Geistes ent¬
ziehen kann und <jeder> in irgendwelchen Formen die Kraft
der ihn bewegenden und von ihm geweckten Motivationen er¬
fährt, ist eine nahezu triviale Wahrheit. Ihn aber (wie alle großen
15 auf Kant ruhenden Schulen) mit phänomenologischen Augen
sehen, heißt auch, ihn neu verstehen und das Große seiner vor¬
schauenden Intuitionen, deren phänomenologische Quellen fast
in allen seinen Theorien jetzt nachzuweisen sind, bewundern;
obschon es auch jetzt keineswegs heißt, ihn nachahmen und einer
20 bloßen Renaissance des Kantianismus oder des Deutschen Idea¬
lismus das Wort reden. Natürlich müssen wir von vornherein alle
dem phänomenologischen Transzendentalismus, und damit dem
tiefsten Sinn und Recht des Kantischen, widerstreitenden, in der
schlechten Wortbedeutung „metaphysischen” Bestandstücke
25 der Vernunftkritik (wie die Ding-an-sich-Lehre, die Lehre vom
intellectus archetypus, die Mythologie der transzendentalen Ap¬
perzeption oder des „Bewußtseins überhaupt” usw.) übergehen
und seinem noch halb mythischen Begriffe des Apriori den phä¬
nomenologisch geklärten Begriff des allgemeinen Wesens und
30 Wesensgesetzes substituieren (den eigentlich schon H u m e un¬
ter dem Titel relation of idea im Auge, aber sensualistisch und
nominalistisch umgedeutet und entwertet hatte).
Ein transzendentaler Subjektivismus, in der Wesensreinheit
und Wesensnotwendigkeit durchgeführt, <in der) eben das unauf-
35 hebbare Wesen der Subjektivität als der Urstätte und Urquel¬
le aller Sinngebungen und Wahrheitsleistungen und damit aller
wahren Gegenständlichkeiten und wahren Welten (wie nicht
minder aller zu fingierenden) vorgezeichnet ist, läßt keinen
Raum für „metaphysische” Substruktionen eines Seins hinter
236 ERGÄNZENDE TEXTE
uem sich in wirklichen und möglichen Bewußtseinsleistungen
intentional konstituierenden Sein, möge es sich um ein An-sich
der Natur oder um ein An-sich der Seelen, An-sich der Geschich¬
te, ein An-sich eidetischer Gegenständlichkeiten und idealer
5 welcher Art immer handeln. Die Durchführung eines echten und
reinen Transzendentalismus ist freilich nicht die Aufgabe eines
Mannes und ,,Systems”, sondern die überschwenglichste aller
wissenschaftlichen Aufgaben der ganzen Menschheit. Es ist die
Idee eines letzten und darum auf dem letzten, dem transzenden-
10 tal-subjektiven Wissenschaftsgrund ausgeführten Systems aller
möglichen Wissenschaften, also ausgeführt mittels einer de¬
skriptiven Phänomenologie, als der Urwissenschaft aller wissen¬
schaftlichen Methode. Immerhin ist aber der Bannkreis allen
möglichen Sinnes und aller Wahrheit von dieser her und durch
15 die Methode der phänomenologischen Reduktion im voraus be¬
grifflich vorgezeichnet, als der rechte und intuitiv auf gewiesene
Sinn von „Bewußtsein überhaupt” mit allen seinen von ihm nicht
abtrennbaren möglichen Korrelaten. Metaphysik im gemeinen
Sinn, bezogen auf prinzipiell transsubjektive Transzendenzen, ist
20 ein unendliches Reich, aber ein Reich des evidentzumachenden
Widersinns. Also nur, wenn wir von solchen, für Kants Philosophie
freilich nicht gleichgültigen Bestandteilen absehen, werden wir
transzendentale Phänomenologen Kants echte Intuitionen be¬
währen können. Eingehende Studien haben mich in der Tat be-
25 lehrt, daß, wenn von solcher Kant’schen „Metaphysik” abstra¬
hiert wird — und das gibt wirklich einen vollen Zusammenhang
—, Kants Denken und Forschen sich de facto im Rahmen phä¬
nomenologischer Einstellung bewegt und daß die Kraft dieser
echt transzendentalen Theorien in der Tat auf reinen Intuitionen
30 beruht, die in ihren wesentlichen Linien aus ursprünglichen
Quellen geschöpft sind. Freilich ist es zweierlei und macht hin¬
sichtlich der Stufe der Wissenschaftlichkeit einer» wesentlichen
Unterschied: ob man in phänomenologischer Einstellung naiv
theoretisiert oder ob man in radikaler Selbstbesinnung sich über
35 das Wesen dieser Einstellung und das Wesen der in ihr direkt vor
Augen stehenden Unendlichkeit möglichen Bewußtseins über¬
haupt prinzipielle Klarheit verschafft und ob man somit eine in
ursprünglich geschöpften Wesensbegriffen verlaufende Beschrei¬
bung schafft, die über Sinn und Notwendigkeit einer über alle
ABHANDLUNGEN 237
Erkenntnisweise natürlicher Einstellung hinausführenden, also
völlig neuartigen Einstellung und Erkenntnisweise, der „tran¬
szendentalen”, aufklärt. Eine solche Beschreibung für die neu¬
artige Einstellung zu geben, in der sich das Kant’sche Denken
5 und Forschen in der Tat bewegt, heißt eo ipso, über ihn hinaus¬
gehen. Es heißt, in letztem philosophischen Selbstbewußtsein die
Methode der phänomenologischen Reduktion ausbilden, durch
die der konkrete thematische Horizont der Transzendentalphi¬
losophie — die transzendentale Subjektivität in ihrem echten
10 Sinn — umgrenzt und damit zugleich die ihm einzig angemessene
Arbeitsweise, die Ordnung der von den intuitiven Ursprüngen
emporsteigenden Problematik entdeckt wird. Eine Philosophie,
und vor ahem die „erst e” aller Philosophien, die zur „Kritik”
jedweder Vemunftleistungen befähigen soll, muß in methodischen
15 Selbstbesinnungen bis ans letzte gehen; nichts darf sie tun, wo
sie nicht das Methodische dieses Tuns selbst begriffen und nach
seinen Wesensnotwendigkeiten klargelegt hat. Kant konnte das
Reich des reinen Bewußtseins nur darum überschreiten, weil er es
unterlassen hat, dem Quellpunkt der gesamten neueren Philoso-
20 phie, dem cartesianischen ego cogito, seinen letzten Sinn abzunöti¬
gen,den der absoluten, konkret anschaulichen Subjektivität. Durch
diesen Mangel letzter Besinnungen gelangt er auch nicht dazu,
Art und Methode einer Bewußtseinsanalyse — als Aufwickelung
intentionaler Implikationen und Wesenskorrelationen — zu einer
25 wirklichen Ausbildung zu bringen, obschon er selbst in seiner
tiefsinnigen Lehre von der Synthesis die Eigenart intentionaler
Zusammenhänge im Grunde schon entdeckt und echt intentiona¬
le Analysen, in einiger Naivität, schon geübt hat. Wäre Kant der
Notwendigkeit solcher letzter Reflexionen und Wesensdeskrip-
30 tionen innegeworden, ihrer unbedingten Notwendigkeit für die
Ermöglichung einer streng wissenschaftlichen Philosophie, dann
wäre auch seine ganze Vemunftkritik und Philosophie eine an¬
dere geworden. Sie hätte dann notwendig die Wege gehen müs¬
sen, die wir Phänomenologen auf Grund mühevoller Einzelarbeit
35 am Bewußtsein selbst und der Wesenstypik seiner Phänomene
gehen.
Die nachfolgenden Ausführungen über den phänomenologi¬
schen Sinn der Kant’schen Revolution der natürlichen Denkungs¬
art bildeten — selbstverständlich in der entsprechenden Ver-
238 ERGÄNZENDE TEXTE
einfachung, welche die Rücksicht auf den Hörerkreis forderte —
den wesentlichen Gedankeninhalt einer Kant-Rede, die ich bei
der Kant-Feier der Universität <Freiburg> am 1. Mai d.J. gehal¬
ten habe. Für den jetzigen Leserkreis habe ich die Darstellung
5 nicht nur wesentlich vertieft sondern zudem noch einige Bei¬
gaben nachfolgen lassen, die umlaufende Mißverständnisse des
phänomenologischen Transzendentalismus aufhellen können. Zu
erheblichem Teil stammen letztere übrigens davon her, daß in¬
folge des kurz nach Erscheinen des I. Bandes der Ideen aus-
10 brechenden Krieges die Veröffentlichung des mit ihm zugleich
entworfenen II. Teiles verschoben worden und bisher unterblie¬
ben ist. Allzu naiv hat man aus dem im Veröffentlichten noch Feh¬
lenden ein Übersehen gemacht, und wo man nicht sehen konnte,
wie die Fortführung möglich sei, hat man mir widersinnige Kon-
15 Sequenzen zugemutet, wie sie allenfalls dem noch allzu primiti¬
ven Denken und, wo man mich mit vermeinten phänomenolo¬
gischen Auf Weisungen widerlegen wollte, der phänomenologischen
Kindlichkeit der Kritiker gemäß sein möchten.
Phänomenologie ist nicht „Literatur”, durch die man lesend
20 gleichsam spazieren fährt. Man muß schon — wie in jeder ernsten
Wissenschaft — arbeiten, um als ihren Erwerb ein methodisch
geschultes Auge und damit erst die Fähigkeit eigenen Urteils zu
gewinnen.
KANT UND DIE IDEE DER
TRANSZENDENTALPHILOSOPHIE
Die Erinnerungszeit für einen großen wissenschaftlichen Genius
ist für die lebende Generation von Wissenschaftlern, die mit ihm
durch Einheit einer historischen Tradition verbunden sind, eine
Aufforderung zur verantwortlichen Selbstbesinnung. Das wür-
5 digste Thema für wissenschaftliche Gedenkfeiern ist damit dem
allgemeinsten Sinne nach vorgezeichnet. So weckt denn das
Kant-Jubiläum in uns die Frage: was müssen wir heute, nach
andertalb Jahrhunderten einer unsere gesamte Philosophie in
allen ihren Richtungen mitbestimmenden Wirkung Kants, als
10 das ewig Bedeutsame seiner monumentalen Vernunftkritiken
ansehen, somit als das, dessen reine Ausgestaltung uns und aller
Zukunft an vertraut ist? Indessen, Kants gesamtes Lebenswerk
sub specie aeterni auswerten und damit in eins den Sinn unserer
eigenen Gegenwartsarbeit abschätzen und verantworten, das
15 wäre eine allzugroße Aufgabe, als daß wir ihr hier, im begrenzten
Rahmen, genugtun könnten. Versuchen wir uns zu beschränken.
Halten wir uns Kant in einer gewissen Distanz, wie wenn wir ein
mächtiges Gebirge, das wir schon oft, und mit dem unermüd¬
lichen Interesse, es kennenzulernen, durchwandert hatten, von
20 einem fernen Punkt aus überschauen und nun für uns bloß die all¬
gemeine Formation, der Gesamttypus hervortritt. Die allherr¬
schende Gesamtform der Kant’schen Philosophie in ihrem Fern¬
aspekt ist die Idee der Transzendentalphilosophie. Sie bezeich¬
net eine radikal neuartige Form des Philosophierens und, durch
25 sie korrelativ bedingt, einen neuartigen Typus philosophischer
Theorien. Unsere Frage sei die: können wir nicht die Idee einer
allgemeinen, nach Sinn und ewigem Recht in sich verständlichen
Problematik und Wissenschaft zeichnen, welche als das von
Kant’schen Zeitbedingtheiten gereinigte Wesen seiner Tran-
30 szendentalphilosophie angesehen werden muß, als die ihn selbst
240 ERGÄNZENDE TEXTE
im tiefsten Grande treibende Methodenidee — eine Idee, die in
seinen systematischen Theorien, obschon bedingt und getrübt
durch seine historischen Motivationen, die erste konkrete Ver¬
wirklichung gefunden hat ?
I. <Die Revolution der natürlichen Denkungsart.)
5 Kants Transzendentalphilosophie ist, wie hiermit schon ange¬
deutet, nicht eine bloß für ihre Zeit oder nur für eine Entwick¬
lungslinie bedeutsame Leistung, auf die wir, bei aller Bewunde¬
rung, zurückblicken könnten als auf eine längst voll ausgewertete
und inzwischen überholte. Vielmehr, die Revolution der gesamten
10 philosophischen Denkungsart, die Kant forderte und in der er
den gewaltigen und vielleicht auch gewaltsamen Entwurf einer
neuen Wissenschaft entspringen läßt, ist noch die Forderung der
Gegenwart, und diese neue Wissenschaft ist unsere und die für
alle Zukunft nimmermehr preiszugebende Aufgabe.
15 Damit ist bezeichnet, worin die in der Tat ganz einzigartige
Bedeutung Kants in der gesamten Geschichte der Philosophie zu
sehen ist: in nichts anderem, als worin er selbst sie gesehen und
auch wiederholt zu entschiedenem Ausdruck gebracht hat. Seine
Ewigkeitsbedeutung liegt also in der viel beredeten und wenig
20 verstandenen „kopernikanischen” Wendung zu
einer prinzipiell neuen und dabei streng wissenschaftlichen Sin¬
nesdeutung der Welt; zugleich aber in der ersten Begründung der
zugehörigen „ganz neuen” Wissenschaft — der transzendentalen,
die, wie Kant selbst betont, „die einzige ihrer Art ist” und von
25 der, wie er sogar meint, „niemand auch nur den Gedanken vorher
gefaßt hat, wovon selbst die bloße Idee unbekannt war.”
Sicherlich hätte Kant diesen Aussprach in seinem letzten
Stück wesentlich eingeschränkt, wenn er in historischen Studien
der Entwicklung der transzendentalen Idee nachgeforscht hätte.
30 Hauptdokumente dieser Entwicklung sind ihm teils unbekannt
geblieben, teils hat er in Frage kommende Werke nach Durch¬
brach seiner endgültigen Philosophie nicht mehr neu durcharbei¬
ten und neu deuten können. In der Geschichte der philosophischen
Neuzeit, um nur von ihr zu sprechen, muß schon Descartes
35 als transzendentalphilosophischer Vorläufer gewürdigt werden.
Er was es, der durch seine Meditationes diese Neuzeit begründet,
ABHANDLUNGEN 241
ihr die sie auszeichnende Entwicklungstendenz auf eine Tran¬
szendentalphilosophie eingeprägt hat. Das ego cogito, nach seinem
tiefen Sinn verstanden, kann sicherlich als erste Form der Ent¬
deckung der transzendentalen Subjektivität angesehen werden.
5 Wir wissen jetzt auch, daß L e i b n i z keineswegs jener dogma-
tistische Metaphysiker war, als welchen Kant ihn aufgefaßt hat.
Es ließe sich ferner zeigen, daß der Essay D. Humes, von
dem Kant ,,aus dem dogmatischen Schlummer geweckt” wurde,
an philosophischer Bedeutung weit hinter dem systematischen
10 Treatise zurücksteht — den Kant offenbar nicht oder nicht aus
gründlichen eigenen Studien gekannt hat — und daß schon in
diesem genialen Jugendwerk Humes ein ganzes System tran¬
szendentaler Problematik entworfen und in transzendentalem
Geiste durchdacht ist — wennschon in der negativistischen Form
15 eines sich in durchgängigem Widersinn aufhebenden sensuali-
stischen Skeptizismus.
Doch wie immer, Kants Originalität wird dadurch nicht ge¬
schmälert. Nicht nur hat er die seit Descartes immer wieder auf¬
keimende und immer wieder versinkende transzendentale Idee
20 in eigentümlicher Prägung neu entdeckt; ihm gebührt der Ruhm,
daß er in beispielloser Denkenergie von der Idee zur theoretischen
Tat fortschritt und mit dem Verbände seiner drei unerschöpf¬
lichen Grundwerke die Transzendentalphilosophie selbst e r-
stehen ließ; das aber so, wie eine neue Wissenschaft über-
25 haupt und im ernstlichen Sinne ersteht: nämlich in Gestalt einer
systematisch leitenden Problematik und einer systematischen
Einheit positiv lösender rationaler Theorien. Er blieb also nicht,
wie Leibniz, im allgemeinen Apergu stecken, geschweige denn,
daß er, wie Hume — um ein Kantisches Gleichnis zu gebrauchen
30 — statt die gefährliche Fahrt zu gutem Ende zu führen, „sein
Schiff auf dem Strande des Skeptizismus auffahren und verfaulen
ließ”.
Man mag über die Dunkelheiten der Kant'schen Vernunftkri¬
tik, über den rätselvollen Tiefsinn seiner Grundbegriffe und De-
35 duktionen mit Recht klagen; man mag zur Überzeugung kom¬
men, daß der Kant’sche Riesenbau transzendentaler Wissenschaft
noch lange nicht jene Vollendung zwingender Strenge hat, die
ihr Schöpfer selbst ihm glaubt zusprechen zu dürfen; ja sogar,
daß Kant noch gar nicht zu den wahren Fundamenten, zu der
Husserliana VII 16
242 ERGÄNZENDE TEXTE
ursprünglichsten Problematik und zu der endgültigen Methode
einer Transzendentalphilosophie durchgedrungen sei. Eines aber
muß für jeden vorurteilsfreien Selbstdenker, der die entsagungs¬
vollen Mühen des Eindringens in diese geheimnisvollen Tiefen
5 ernstlich auf sich nimmt, schließlich evident werden: daß hier
nicht eine in abstruser Spekulation erfundene, sondern, bei aller
Fremdartigkeit, notwendige Problematik und Wissenschaft zuta¬
gekommt, die, wenn nicht in dieser urtümlichen Gestalt, so in einer
geläuterten und bereicherten für immer unabweislich sein wird.
10 Eine Wissenschaft, die den durch Kant geweckten intellektuellen
Bedürfnissen genugtut und das Gesamtreich transzendentaler
Leistungen der reinen Subjektivität theoretisch verständlich
macht, wird man geradezu als die größte aller theoretischen
Aufgaben bezeichnen müssen, die der neuzeitlichen Menschheit
15 gestellt sein konnten. In der Tat, „Sinn und Erkenntniswert aller
echten Wissenschaften”, so lehrt Kant selbst, und mit vollem
Recht, hängen von dem Gelingen einer Transzendentalphiloso¬
phie ab. Erst wenn also — nichts geringeres ist damit gesagt —
eine Transzendentalphilosophie als strenge Wissenschaft be-
20 gründet und auf die Bahn gebracht ist, können alle anderen
Wissenschaften die höchste und letzte Stufe theoretischer Ratio¬
nalität gewinnen, die sie doch von sich selbst notwendig fordern
müssen.
Mit Befremden muß jedermann, der in den noch in unserer
25 Zeit vorherrschenden Überzeugungen erzogen ist, von solchen
Ansprüchen hören. Im Sinne dieser Überzeugungen wären die
positiven Wissenschaften der Philosophie gegenüber autonom.
Ihre Methoden, ihre Theorien zu gestalten, jeden, auch den letz¬
ten Sinn ihrer gewonnenen Wahrheiten zu interpretieren, sei bloß
30 Sache der fach wissenschaftlichen Arbeit. Mutet sich nicht die
Forderung einer Umkehrung der gesamten in ihnen geübten Den¬
kungsart — wenn auch nicht in der Absicht, ihre Methode preis¬
zugeben, sondern ihr aus noch uneröffneten überfachlichen
Quellen eine neuartige Erkenntnisvollkommenheit zu verschaf-
35 fen — wie eine jener philosophischen „Verstiegenheiten” an, die
das Ansehen der Philosophie in neuen Zeiten so schwer geschädigt
haben ?
Wie wenig ein solches Urteil zutreffend wäre, davon werden uns,
hoffe ich, die nachfolgenden Betrachtungen überzeugen können.
ABHANDLUNGEN 243
II. <Die Selbstverständlichkeiten der Welt und das
BewuBtseinsleben.)
Ich will versuchen, wie schon angedeutet, unter Absehen von
den historisch bedingten Besonderheiten der Kan t’schen
Ausgangspunkte, Begriffsbildungen und Problemprägungen,
zunächst den Grundsinn jener vollkommenen Umwendung der
5 natürlichen Denkungsart klarzulegen, mit welcher sich das vor¬
dem völlig verborgene Reich der „reinen” Subjektivität und die
Unendlichkeit „transzendentaler” Fragestellungen allererst er¬
öffnet. Auf alle Welt, auf alle Wissenschaften, auf alle Arten
menschlichen Lebens, Wirkens, Schaffens sich mitbeziehend, be-
10 faßt es doch keine der Fragen, welche die natürlich eingestellten
Wissenschaften an Welt und Weltleben zu richten haben.
Beginnen wir mit dem menschlichen Leben und seinem natür¬
lichen bewußtseinsmäßigen Ablauf, so ist es ein vergemeinschaf-
tetes Leben menschlicher Personen, die in eine endlose Welt
15 hineinleben, d.i. bald sich vereinzelnd, bald im Miteinander sie
anschauen, sie verschiedentlich vorstellen, sie urteilsmäßig be¬
denken, sie bewerten, sie in Wille und Tat zweckmäßig gestalten.
Diese Welt ist für sie, ist für uns Menschen immerfort und ganz
selbstverständlich da als eine uns allgemeinsame Umwelt; selbst-
20 verständlich da — sie ist ja die in ganz unmittelbarer und frei¬
tätig zu erweiternder Erfahrung direkt greifbare und sichtbare
Welt. Sie umspannt nicht bloß Dinge und Lebewesen, darunter
Tiere und Menschen, sondern auch Gemeinschaften, Gemein¬
schaftsinstitutionen, Kunstwerke, Kulturgebilde jeder Art. Was
25 irgend in unseren Einzeltätigkeiten und Gemeinschaftstätigkeiten
Sinn und Gestalt gewonnen hat, ist alsbald mitzugehörig zur
Welt; es ist mindestens nach prinzipieller Möglichkeit für jeder¬
mann zugänglicher Daseinsbestand und somit von uns einzube¬
ziehen in ein neues mögliches Wirken. Wir Menschen selbst sind
30 Subjekte, die die Welt erfahren, erkennen, bewerten, behandeln;
und zugleich sind wir Weltobjekte und als das eben Objekte un¬
seres Erfahrens, Wertens, Handelns. Speziell als wissenschaft¬
liche Subjekte, theoretischen Interessen hingegeben und in ihnen
alles und jedes, wirkliche und mögliche Welt umspannend, schaf-
35 fen wir in einzelner und vergemeinschafteter Arbeit die Wissen-
244 ERGÄNZENDE TEXTE
schäften. Als Theorien begreifen sie das Weltall, als menschliche
Gebilde sind sie selbst der Welt zugehörig.
Das alles vollzieht sich und versteht sich in der natürlichen
Einstellung; sie ist die Vollzugsform des gesamten natürlich-prak-
5 tisch verlaufenden Menschheitslebens. Sie war die einzige Form
von Jahrtausend zu Jahrtausend, bis eben aus Wissenschaft und
Philosophie eigenartige Motivationen zu einer Umwendung er¬
wuchsen. Das Charakteristische dieser Natürlichkeit zeigt sich
in einer Voraussetzung, die außer jeder Fragestellung verbleibt
10 und die in allem natürlich tätigen Leben und überall mitzugrun-
deliegt, als wesensmäßig zu ihrem eigenen Sinn gehörig. Es han¬
delt sich hier um ein eben vermöge dieser Natürlichkeit absolut
Selbstverständliches, dem natürlich Eingestellten darum auch
Verborgenes. Es formuliert sich so:
15 Unser waches Leben ist, wie es auch war und sein wird, immer¬
fort Erfahren und Erfahren-können „der” Welt, der Allheit der
Realitäten. Allerdings, unser Erfahren ist und bleibt immerfort
unvollkommen. Nur Bruchstücke erfassen wir darin von der Welt,
und selbst diese nur nach Seiten, und wiederum die Seiten nie
20 in endgültiger Angemessenheit. Wohl können wir, anstatt in Pas¬
sivität dem Erfahren seinen Lauf zu lassen, in erfahrender Akti¬
vität darauf ausgehen, in die unbekannten Fernen der Welt
einzudringen oder das schon Erfahrene immer vollkommener in
Erfahrung zu bringen. Aber ein wirklich vollkommenes Erfahren
25 ist unmöglich; denn prinzipiell ist einem Fortschreiten keinerlei
Grenze gesetzt. Kein Ding, keine Dingseite, keine reale Eigen¬
schaft — nichts zur Welt Gehöriges ist, so wie es erfahren ist,
letztgültig Gegebenes; höchstens, daß es uns für den jeweiligen
praktischen Lebenszweck genugtut. Diese wohlbekannte und
30 selbstverständliche Unvollkommenheit stört aber nicht unsere
Überzeugung, daß wir durch die Erfahrung die Welt selbst ken¬
nenlernen und daß sie es ist, die uns reales Dasein ursprünglich
bezeugt.
Doch genauer müssen wir, um nun auch auf eine andere, wie
35 wir überzeugt sind, unüberwindliche Unvollkommenheit Rück¬
sicht zu nehmen, sagen: Nicht beliebige, sondern einstim¬
mige Erfahrung bezeugt. Erfahrung kann ja auch unstimmig
werden, uns in Zweifel und Täuschung verfallen lassen. In jedem
Falle ist aber die Herstellung der Einstimmigkeit, und letztlich
ABHANDLUNGEN 245
der bleibenden Einstimmigkeit der Gesamtheit der Erfahrung
möglich, und nur in ihr vollzieht sich, wie selbstverständlich,
eine durchgängig und bleibend zweifellose Kenntnisnahme der
daseienden Welt selbst.
5 Diese durch unsere kontinuierliche Erfahrung beständig vor¬
gegebene Welt ist dann weiter beurteilbar und in entsprechenden
Methoden theoretisch-einsichtiger Urteilsweise in ihrer objektiven
theoretischen Wahrheit erkennbar; wie andererseits auch zweck¬
tätig in praktischer Vernunft zu gestalten. Die Methoden bilden
10 wir uns in unserem wissenschaftlichen Nachdenken über die
Bedingungen einsichtiger Theoretisierung; die apriorischen Prin¬
zipien der Methode, die Wesensbedingungen vernünftiger Metho¬
de überhaupt, erforschen und gewinnen wir unter dem Titel
Logik. Andererseits aber gestaltet sich die forschende Subjekti-
15 vität in jeder besonderen Realitätswissenschaft ihre besonderen
erfahrungslogischen Methoden. Was wir in dieser Art rein sub¬
jektiv, in uns und unserem „einsichtigen” Denken, auf Grund
wirklicher und möglicher Erfahrung erzeugen, dient uns als Norm
unseres Welterkennens — als Norm der Wahrheit für die Welt
20 selbst, wie sie an und für sich ist; denn selbstverständlich die
Welt ist, was sie ist, an und für sich, ob wir leben oder sterben, ob
wir sie erkennen oder nicht erkennen.
Es besteht also, und ohne Frage, eine Harmonie zwischen der
Welt selbst bzw. den Wahrheiten, die für sie selbst gelten, und
25 unseren Erkenntnisakten und Erkenntnisgebilden. Oder, anders
ausgedrückt: fraglos „richtet sich” unsere Erkenntnis nach der
Welt selbst. Daß unsere theoretische Erkenntnis es tut, setzt
voraus, daß unsere Erfahrung es in ihrer Art tut; daß aber diese,
als einstimmig gestaltete, ihr objektives Recht hat, ist eine frag-
30 lose Selbstverständlichkeit.
Allen „positiven” Wissenschaften liegt, was soeben um¬
schrieben wurde, als nie formulierte „Voraussetzung”
zugrunde, so wie, entsprechend begrenzt, allem sonstigen natür¬
lichen Leben und Wirken. Als prinzipielle „Voraussetzung”, auf
35 deren Grundlage sie ihre Eigenart entfalten und als „positive”
möglich werden, kann sie in ihnen gar nicht als Thema irgend¬
welcher positiver Fragen auftreten. Schon ihre Formulierung
muß dem „natürlich” oder „positiv” Eingestellten als befremd¬
lich, wo nicht als verkehrt erscheinen. Alle positiven Fragen be-
246 ERGÄNZENDE TEXTE
wegen sich im Rahmen der selbstverständlichen Vorgegebenheit
der Welt in der lebendigen Erfahrung und der darauf gebauten
weiteren Selbstverständlichkeiten. Sie gehen also immerfort nur
darauf, wie diese erfahrene und fortschreitend erfahrbare Welt
5 nach Einzelrealitäten, deren Eigenschaften, Verhältnissen, Ge¬
setzen in Wahrheit zu bestimmen sei; und zumal, wie in „ob¬
jektiver” Wahrheit, die unsere Erkenntnis von der Relativität
„bloß subjektiver” Erscheinungsweisen unabhängig macht. Eben¬
so gehen alle praktischen Fragen des äußerlich werktätigen
10 Lebens darauf, wie die gegebene Welt nach Zwecken in prakti¬
scher Vernunft zu gestalten sei. 1)
Wenn hier der Gedanke nahegelegt wird, daß diese in der
Wesensform des natürlichen Lebens und speziell des natürlich¬
wissenschaftlichen Erkennens beschlossene „Voraussetzung” „in
15 Frage” gestellt werden könnte und müßte, so soll damit dem
eigentümlichen Rechte dieses Lebens keineswegs irgendein
Abbruch getan werden. Nichts liege uns ferner, als daß gegen
die natürlich-vernünftige Lebenstätigkeit — gegen die natürliche
Erfahrung und ihre Selbstbestätigung im einstimmigen Fortgang,
20 gegen das natürliche Denken (wie auch Werten, werktätig Stre¬
ben) in seinen natürlichen Methoden der Vernunft — und somit
auch gegen die natürliche Wissenschaft — ein Spiel skeptischer
Paradoxien eröffnet und daß sie irgendwie entwertet werden
solle. Die echte Transzendentalphilosophie, im voraus sei es in
25 Entschiedenheit betont, ist nicht wie die Hum e’sche, und
weder offen noch versteckt, eine skeptische Zersetzung der Welt¬
erkenntnis und Welt selbst in Fiktionen, also, modern gespro¬
chen, eine „Philosophie des Als ob”. Sie ist nichts weniger als
eine „Auflösung” der Welt in „bloße subjektive Erscheinungen”,
30 die in irgendeinem noch sinnvollen Sinne etwas mit Schein zu
*) Voraussetzung besagt nicht: Prämisse.
„Voraussetzung” (wir setzten das Wort nicht ohne Grund in Anführungszeichen)
ist freilich ein uneigentlicher Ausdruck; denn was wir so bezeichneten, ist die allge¬
meine Fassung dessen, was in konkreter Besonderheit in jedem Aktus des natürlichen
Lebens selbst liegt. In jedem Akte des Erfahrens liegt: „Dieses oder jenes Reale ist
da”; und in jedem Anknüpfen neuer Erfahrungen an dasselbe liegt: „Dasselbe ist
da”, was vorhin erfahren war, nur jetzt in einer späteren Phase seines Seins erfaßt;
und in der Zwischenzeit, während ich inzwischen ganz anderes erfuhr, war es uner¬
fahren; und so ähnlich für die auf Erfahrung fundierten Akte. Wir beschrieben also
unter dem Titel „Voraussetzung” den allgemeinen Sinn natürlichen Lebens, den es
als solches also immerzu in sich trägt — als eine Form aller seiner Überzeugungen,
ohne daß er je herausgestellt würde.
ABHANDLUNGEN 247
tun hätten. Es fällt ihr nicht ein, die Welt der Erfahrung im
mindesten anzufechten, ihr das mindeste von dem Sinn zu
nehmen, den sie in der Aktualität der Erfahrung wirklich hat und
der sich in ihrem einstimmigen Gange in zweifelloser Recht-
5 mäßigkeit bezeugt. Und wieder, es fällt ihr nicht ein, der objektiven
Wahrheit positiver Wissenschaft das mindeste von dem Sinn zu
nehmen, den sie in der Aktualität ihrer natürlich-evidenten Me¬
thodik wirklich schafft und als rechtmäßig geltenden in sich trägt.
Aber freilich meint die Transzendentalphilosophie, daß dieser
10 Rechtssinn, wie er in solcher Aktualität erwächst, damit keines¬
wegs verstanden ist. Die „Selbstverständlichkeit” des in
natürlicher Erkenntnis Fraglosen, in ihrer naiven Evidenz Gel¬
tenden, ist, sagt sie, nicht die Verständlichkeit der durch die
radikalsten Fragestellungen und Klärungen erwachsenen Ein-
15 sicht, ist nicht jene höchste und letztnotwendige Fraglosigkeit,
die keine ungefragten und daher unerledigten Fragen von jener
prinzipiellen Art übrig läßt, die unabtrennbar, weil wesensmäßig,
zu jedem Erkenntnisthema überhaupt gehören.
Das ganze Absehen der Transzendentalphilisophie geht letzt-
20 lieh auf jene prinzipiellen Selbstverständlichkeiten zurück (und
alle sonst ihnen wesensverwandten), von denen vorhin die Rede
war. In ihnen sieht sie die tiefsten und schwierigsten Probleme
der Welt und Welterkenntnis (bzw., in ihrer notwendigen Er¬
weiterung: aller Gegenständlichkeiten überhaupt — auch der
25 irreellen — in Beziehung auf ihre Erkenntnis als ,,an sich” seien¬
der, als Substraten für „Wahrheiten an sich”). Sie sagt:
Gewiß, das An-sich-sein der Welt ist eine zweifellose Tatsache;
aber „zweifellose Tatsache” ist nichts anderes als unsere, und
natürlich wohlbegründete Aussage; genauer gesprochen: Inhalt
30 unseres Aussagens, gegründet auf das in unserem wirklichen und
möglichen Erfahren Erfahrene, in unserem erfahrungslogischen
Denken Gedachte und Eingesehene; so hier, wie überall, wo wir
irgendetwas behaupten, es als rechtmäßig seiend begründen, als
Thema von „Wahrheiten an sich”. Schöpft nicht Ausgesagtes,
35 Begründetes, Eingesehenes, kurzum Erkanntes, und schöpft
nicht wesensmäßig Erkennbares seinen Sinn aus der Erkenntnis,
aus ihrem eigenen Wesen, die doch in allen ihren Stufen Bewußt¬
sein, subjektives Erleben ist? Worauf immer sie als „Inhalt”
sich „beziehen” mag und welche Bedeutung dabei dieses Wort
248 ERGÄNZENDE TEXTE
„Inhalt” auch annehmen mag — vollzieht sich dieses Beziehen
nicht im Bewußtsein selbst, und liegt der Inhalt also nicht in ihm
selbst beschlossen? Wie ist nun aber das ,,An-sich-sein der Welt”
zu verstehen, wenn es für uns nichts anderes ist und nichts anderes
5 sein kann als ein sich in unserer eigenen Erkenntnisleistung sub¬
jektiv oder intersubjektiv gestaltender Sinn, natürlich zugerech¬
net den nur an Sinnen denkbaren Charakter „wahres Sein” ? Und
schließlich: kann, wenn das Substrat dieser Fragen verstanden
ist, überhaupt noch eine Art philosophischer Weltbetrachtung
10 möglich sein, die so tut, als ob die Rede von einer „an sich seien¬
den Welt” einen rechtmäßigen Sinn haben könnte, der von dem
Sinngebilde in der Erkenntnis, dem konkret in der Mannigfal¬
tigkeit der Akte einsichtig erkennenden Bewußtseins sich synthe¬
tisch gestaltenden Sinn, noch gänzlich verschieden wäre — als ob
15 er eine „metaphysische Transzendenz” meinen könnte, die durch
„transzendente” Regelung einer „metaphysischen” Kausalität
mit dem „bloß subjektiven” Erkenntnisgebilde verknüpft sein
könnte, als mit einem in die Subjektivität hineingewirkten „Er¬
kenntnisbilde”? Wäre das nicht ein Sinn, der, losgerissen von
20 der Urstätte alles Sinnes in der Sinngebung des Bewußtseins,
eben Unsinn wäre ?
Doch Fragen dürfen noch nicht Antworten vorgreifen. Eines
ist im voraus klar: es kann nur eine Methode geben, alle sol¬
chen Fragen wirklich zu beantworten und wirkliches Verständnis
25 der Beziehungen zwischen erkanntem Sein und erkennendem
Bewußtsein zu gewinnen. Man muß das erkennende Leben selbst
in seinen eigenen Wesensleistungen studieren (und das natürlich
im weiteren Rahmen des konkret vollen Bewußtseinslebens über¬
haupt) und zusehen, wie eben Bewußtsein in sich selbst und ge-
30 mäß seiner Wesensart gegenständlichen Sinn konstituiert und in
sich trägt und wie es in sich selbst „wahren” Sinn konstituiert,
um ihn dann als so konstituierten in sich vorzufinden als „an
sich” seienden, als wahres Sein und Wahrheit „an sich”.
III. <DlE ERSCHLIEßUNG DES REICHES DER
TRANSZENDENTALEN ERFAHRUNG.)
<a) Das reine subjektive und intersubjektive Bewußtsein.}
Damit stehen wir vor dem entscheidenden Punkt: vor der
ABHANDLUNGEN 249
Notwendigkeit einer Umwendung der gesamten natürlichen
Denkungsart. Bereiten wir uns ein tieferes Verständnis in einigen
Schritten vor.
Ich bin, was ich bin, und wir sind, was wir sind, als Subjekte
5 eines vielgestaltigen Bewußtseinslebens, eines privaten und inter¬
subjektiv vergemeinschafteten. Sum cogitans — ich bin, indem
ich sehe und höre und sonstwie „äußerlich” oder auf mich selbst
zurückbezogen wahmehme, mich erinnere, erwarte, indem ich im
Bild oder Gleichnis oder durch Zeichen mir etwas vergegenwärti-
10 ge, mir in fingierender Phantasie etwas vorschweben lasse; indem
ich zusammenfasse und sondere, vergleiche und verallgemeinere,
aussagend urteile und theoretisiere; oder auch, indem ich in den
Weisen des Gemütes Gefallen oder Mißfallen habe, mich freue
oder betrübt bin, von Wünschen oder Befürchtungen getrieben
15 bin, praktisch mich entschließe, verwirklichend handle. Das
alles sind Beispielstypen für Sondergestaltungen des in einem
kontinuierlichen Einheitszuge dahinströmenden „Bewußt¬
seins”, in dem wir, vergemeinschaftet durch intersubjektive
Bewußtseinsakte, „leben, weben und sind”. Unaufhebbar gehört
20 offenbar zum eigenen Wesen alles Bewußtseins dieses Allgemein¬
ste, daß es Bewußtsein von etwas, von einem „Gegenständ¬
lichen” ist, das, wie wir bald näher verstehen werden, je nach der
Sondergestalt des Bewußtseins in wechselnden Modis Bewußtes
ist. Also Bewußtsein und Bewußtes — in einem zugehörigen
25 W i e — ist untrennbar. Ebenso gehört dazu, daß ich, der ich
in dem oder jenem Bewußtsein lebe, notwendig meiner selbst
mitbewußt bin und dieses Bewußtseins selbst bewußt bin. Aber
von vornherein ist zu bemerken, daß Bewußtsein (Bewußthaben)
nicht ohne weiteres schon besagt: das Bewußte erfassen,
30 darauf den merkenden Blick gerichtet haben. Aber was nicht
schon in meinem „Blickfelde” ist, nicht im weiteren Sinn schon
bewußt ist, kann mich nicht „affizieren”, nicht mein Aufmerken
auf sich lenken. In meiner Freiheit liegt es, vom jeweilig gerade¬
hin Erfaßten den Blick auf das Mitbewußte zu lenken; so auch
35 auf meine Bewußtseinserlebnisse, auf die „reellen” und „ideellen”
Bestände derselben; darunter auf die vielfältigen Gegebenheits¬
weisen, mit denen das im jeweiligen Bewußtseinsblick stehende
„Gegenständliche” mir bewußt ist.
Was hier „Gegenständliches” heißt, ist als Gegenständliches
250 ERGÄNZENDE TEXTE
eines jeweiligen Bewußtseins, und rein als das zu nehmen. Es ist
offenbar ein unselbständiges Moment. Jedwedes, das in einem
Bewußtsein bewußt ist, ist es notwendig mit irgendeinem Be¬
stimmungsgehalt, mit dem es dieses Bewußtsein eben jeweils
5 „meint”. Dies so gefaßte „Gegenständliche” — der Deutlichkeit
halber nennen wir es den „gegenständlichen Sinn” — ist unselb¬
ständig, schon insofern es notwendig in diesen oder jenen Gel¬
tungscharakteren auftritt; es ist bewußt schlechthin als Seiendes
oder aber als Zweifelhaftes, Vermutliches, bloß Mögliches, als
10 nicht Seiendes, als Unmögliches usw.; auch als schön, gut u.dgl..
Insgesamt sind es Charaktere, die sich selbst nach dem Gegensatz
Wirklichkeit (Positionalität) und Fiktion (Quasipositionalität)
spalten. Auch auf den Wandel logischer Formen wäre hinzuwei¬
sen, in die Gegenständliches jeweils eingespannt ist, Formen, die
15 übrigens schon vor der Stufe des eigentlich begreifend-urteilen-
den und prädizierenden Bewußtseins in primitiver Gestalt auf-
treten. Jedes Bewußte (jeder „gegenständliche Sinn”) im Wie
seiner Modi, der angegebenen sowie der noch sonst aufweisbaren
und ganz andersartigen, die ihm in dem jeweiligen konkreten
20 Bewußtseinserleben zugehören, ist in eins wieder als ein Gegen¬
stand zu fassen. Wir haben dann wieder — aber freilich auf
Grund sich synthetisch an das vorgängige Bewußtsein anknüp¬
fender Bewußtseinsakte — gegenständlichen Sinn als Kern
wechselnder Modi. Z.B.: Ist irgendetwas im Modus „nicht seiend”
25 bewußt, so wird nun daraus ein seiendes Nichtsein oder, im
Wechsel der Überzeugung, ein vermutliches oder wahrschein¬
liches Nichtsein oder nicht-seiendes Nichtsein usw.
Wir merken noch an, daß „Gegenstand schlechthin” im Sinn
der normalen urteilenden Rede, die nicht Bewußtes als solches
30 des Bewußtseins zum Thema macht, soviel besagt wie wirklich
seiender Gegenstand, nämlich als „Gegenstand”, der dem Urtei¬
lenden als seiende Wirklichkeit gilt. Offenbar ist in diesem Satz,
eben weil in seinem letzten Teil das Bewußte als solches gemeint
war, das Wort Gegenstand doppelsinnig geworden. Die Schei-
35 düng von „gegenständlichem Sinn” und „Gegenstand schlecht¬
hin” hebt die Äquivokation auf; ebenso die einfachere Ausdrucks¬
weise in der Schrift: „Gegenstand” (in Anführungszeichen) und
Gegenstand (ohne Anführungszeichen). — Der vorherrschenden
Urteilsrichtung gemäß meint übrigens Gegenstand soviel wie
ABHANDLUNGEN 251
Reales, wie Gegenstand der Welt, was unsere Scheidung selbst
äquivok machen würde, wenn wir nicht darauf bedacht wären,
den unentbehrlichen allgemeinsten Begriff Gegenstand reinzu¬
halten, also von Realem ausdrücklich zu sprechen, wo wir es eben
5 meinen.
Richten wir nun, um Bewußtes als Bewußtes, um gegenständ¬
lichen Sinn in seinem Wie nach wichtigen neuen Dimensionen
dieses Wie sehen zu lernen, unser Augenmerk auf einige Grund¬
typen von Bewußtseinserlebnissen, von konkreten Einzelheiten
10 in dem (eigentlich erst in vollem Sinn konkreten) Strom des
Bewußtseinslebens. Sie sollen rein nach dem betrachtet werden,
was wir in oder an ihnen, in oder gemäß ihrem eigenen Wesen
finden, was von ihnen also unabtrennbar ist.
Betrachten wir die Wahrnehmung. Nehmen wir das
15 Wort in einem allerallgemeinsten (freilich nicht gebräuchlichen)
Sinn, so ist sie die Art Bewußtsein, die uns Seiendes als Seiendes
ganz ursprünglich als es selbst bewußtmacht. Der „Gegenstand”
steht im Modus „selbsteigenes Sein und Sosein”, „er selbst im
Original” im Bewußtseinsblick; er wird, wo das Wahrnehmen den
20 Modus des auf merkenden (gewahrenden, erfassenden) hat, in
diesem Charakter des sozusagen „Leibhaftig-da-seins” erfaßt
und hat ihn offenbar aus dem Wahrnehmen selbst her. — Nehmen
wir, beschränkter und näherliegend, Wahrnehmung im gemeinen
Sinn der Realitätswahrnehmung, so ist sie es also, die uns seiende
25 Realitäten und „die” Welt als wirklich seiende ursprünglich
bewußtmacht. Alle solche Wahrnehmung, wirkliche und mög¬
liche, wegstreichen, heißt, für unser gesamtes Bewußtseinsleben
die Welt als gegenständlichen Sinn und als uns geltende Wirk¬
lichkeit wegstreichen, heißt, allem Weltdenken (in jeder der Be-
30 deutungen dieses Wortes) den ursprünglichen Sinnes- und Rechts¬
boden wegziehen. Eine einzelne Wahrnehmung, für sich betrach¬
tet, ist Bewußtsein von irgendwelchen Dinglichkeiten, und, ganz
konkret genommen, vermöge des ihr zugehörigen Wahrnehmungs¬
horizontes Wahrnehmung der Welt. Achten wir streng darauf,
35 daß die jeweilige Wahrnehmung in sich selbst die Welt in den
und den anschaulichen Merkmalen, und zwar als in leibhafter
Gegenwart daseiende bewußtmacht. So bewußtzumachen, ist
sozusagen die ihr als Wahrnehmung wesenseigene Bewußt¬
seinsleistung. — Würden wir die Realitätenwahmehmung und
252 ERGÄNZENDE TEXTE
ihr Wahrgenommenes näher ins Auge fassen, so wäre hier noch
viel ihr eigenwesentlich Zugehöriges vorzufinden (Aspekte usw.).
Eine andere der typischen Gestalten des Bewußtseinslebens
ist die Erinnerung. Wieder sehen wir: in ihr selbst liegt,
5 als neue Art des Bewußthabens und Bewußtmachens, die im
Zeitmodus des Vergangenseins und, darin beschlossen, eines von
mir Wahrgenommengewesenseins.
Und so ist es nun offenbar ganz allgemein, mögen wir nun als
Beispiel ein signitives oder ein bildliches Vorstellen, ein Allge-
10 meinheitsbewußtsein, ein prädikatives Urteilen und Schließen,
ein hypothetisches Ansetzen, für möglich und wahrscheinlich
Halten, ein Zweifeln, Bejahen oder Verneinen nehmen und was
immer sonst —: jede neuartige Weise des Bewußtseins trägt in
sich selbst als von ihr unabtrennbaren gegenständlichen Sinn
15 seinen „Bewußtseinsgegenstand”, der je nach der Bewußtseinsart
und -besonderung seine wechselnden Sinnesmodi hat; z.B. als
Zeichen für etwas, als Abbild, als Allgemeines von Einzelheiten,
als Grund oder Folge, als Hypothese usw.; dabei aber auch als
schlechthin seiend oder als möglich, vermutlich, zweifelhaft,
20 nichtig usw.
Werfen wir noch einen Blick auf das Reich der Bewußt¬
seinsverknüpfungen. Im Übergang von Bewußtsein
zu Bewußtsein — etwa von einer Wahrnehmung zu weiteren
Wahrnehmungen, zu Erinnerungen, Erwartungen, Denkakten,
25 zu wertendem und sonstigem Bewußtsein — bleiben die einzelnen
Bewußtseinsakte nicht vereinzelt und ein bloßes Nacheinander.
Sie treten in Verknüpfung, und jede solche Verknüpfung ist
selbst wieder E i n Bewußtsein, das seine neue, „synthetische”
Sinnesleistung vollzieht; so vor allem, wenn wir in Bewußtseins-
30 Übergängen, mögen sie sehr verschiedenartige Akte verknüpfen,
immerfort „ein und dasselbe” bewußt haben. Dann ist dieses
Selbige, das und so wie es sich nach und nach bestimmt, nichts
anderes als die Einheit einer Sinnesgestalt, die sich in der Einheit
des sich im Fortgang verknüpfenden Bewußtseinszuges aufbaut.
35 Vermöge der identifizierenden Verknüpfung der aufeinander
folgenden und ev. kontinuierlich ineinander übergehenden Ein¬
zelakte, deren jeder seinen Gegenstand, in seinem Was und Wie,
in seinen Aspekten und darin sich darstellenden Merkmalen, in
seinen Leerhorizonten oder in sonstigen subjektiven Modis be-
ABHANDLUNGEN 253
wußt hat, konstituieren die einzelweise in ihnen beschlossenen
Sinne einen einzigen, sich im Fortgang modal immerzu abwan¬
delnden Sinn, nämlich den Einen „Gegenstand”, der als der¬
selbe, sich schrittweise reicher bestimmende, die Sinnesleistungen
5 aller dieser Akte „vereint”. Und daraus schöpft selbstverständ¬
lich alle Rede von Einheit eines Gegenstandes, von seiner Identi¬
tät im Wechsel seiner Erscheinungsweisen und erscheinenden
Merkmale, ihre Bedeutung. Des weiteren: geht dabei das erfah¬
rende Bewußtsein durchaus in einstimmiger Kontinuität fort,
10 so ist das „es stimmt”, „es ist wirklich” wieder eine, und zwar in
dieser Weise zusammenstimmenden Bewußtseins sich bewußt¬
machende Sinnesgestaltung; ebenso, wenn die Einstimmigkeit
durchbrochen wird, im neuen synthetischen Bewußtseinstypus
des inneren Streites, das „es stimmt nicht”, „es ist zweifelhaft”
15 oder „nichtig”.
Nicht anders im begreifenden Denken und in den noch so
hoch gestalteten Synthesen „theoretischer” Aktion. In ihr selbst
gestalten sich die Begriffe und Begriffsformen, die Urteile und
Urteilsformen. Wenn der theoretische Gedankengang in vollen-
20 deter Einsicht als echte Begründung fortschreitet und in eviden¬
ter Wahrheit terminiert, so liegt in der Einheit dieser syntheti¬
schen Bewußtseinsaktivität selbst, als in ihrer „Immanenz” er¬
wachsenes Geistesgebilde, die begründende Theorie, und ihre
These trägt den wiederum rein immanent erwachsenen Bewußt-
25 seinscharakter: „begründete Wahrheit”. Das wahre Sein aber,
worauf sich diese Wahrheit „bezieht”, z.B. das physische, liegt
natürlich selbst wieder im Bewußtseinszusammenhang, der es in
sich selbst zunächst schon in vortheoretischen Vorstellungen als
in Gewißheit Seiendes vorstellungsmäßig konstituiert hatte, es
30 dann im theoretisierenden Denken als Erkenntniszielpunkt
setzt und, methodisch fortschreitend im Einheitszuge einsichtig
prädizierender Erkenntnis, es in theoretischer Wahrheit be¬
stimmt.
In der synthetischen Verknüpfung „wiederholter” eigener oder
35 fremder Begründungen konstituiert sich Wahrheit und wahres
Sein bewußtseinsmäßig als dasselbe: in weiterer Verknüpfung
eines Bewußtseins <die> praktische Freiheit, die Begründung
wiederholen und dieselbe Wahrheit in der Einsicht originaliter
restituieren zu „können”, der Seinscharakter der Wahrheit als
254 ERGÄNZENDE TEXTE
ein praktisch jederzeit Zugängliches, als im Erkenntnisbereich an
sich Seiendes. Ebenso erwächst im Bewußtsein der einsichtigen
Möglichkeit, die Begründung an jeder Zeitstelle und von jeder¬
mann als vollführt denken zu können, der mit uns in Gemein-
5 schaft intuitiv zu erdenken ist, der Charakter der Wahrheit als
überzeitlicher und über jedes zufällige Erkenntnissubjekt Er¬
habenes — und so überhaupt als Wahrheit ,,an sich”.
Bleiben wir konsequent in dieser Betrachtungsart, in einer
radikalen Konsequenz, die ganz ausschließlich dem subjektiven
10 und intersubjektiven Bewußtsein nach allen seinen wirklichen
und möglichen Gestalten, Einzelgestalten und synthetischen
Gestalten, nachgeht und ganz ausschließlich den Blick richtet auf
das, was dem Bewußtsein an und für sich eignet — so sind wir
schon in der transzendentalen Einstellung. Die
15 Umwendung der natürlichen Denkungsart ist dann vollzogen.
Ihr Grundwesentliches liegt in dem Radikalismus und
der Universalität reiner Bewußtseinsbe¬
trachtung, einer dieser Eigenheit voll bewußten, in ihr in
ungebrochener Konsequenz gewollten und verwirklichten. Denn
20 nur dadurch tritt das reine Bewußtsein als das in sich abso¬
lut abgeschlossene Reich rein subjektiven
Seins in die Erkenntnis und wird mit seinen rein immanenten
Zusammenhängen, Vermögen, Sinngebilden zum Gebiet einer
eigenartigen, allen „positiven” Wissenschaften gegenüberste-
25 henden, von ihren Sätzen prinzipiell imabhängigen Wissenschaft,
der Transzendentalphilosophie.
Der „Radikalismus” transzendentaler Einstellung fordert also
die feste Entschlossenheit, ganz ausschließlich Bewußtsein, Be¬
wußtsein in seiner reinen Eigenwesentlichkeit, zu anschaulicher
30 Selbsterfassung und zu theoretischer Erkenntnis zu bringen, und
dabei Bewußtsein in seiner vollen Konkretion, in der es rein für
sich seiende und rein in sich abgeschlossene Subjektivität ist,
nach allem und jedem, was in ihr an reellen und intentionalen
Momenten, Synthesen, Zentrierungen beschlossen, in und an ihr
35 als von ihrem Eigenwesen unabtrennbar intuitiv und theoretisch
aufweisbar ist; selbstverständlich dann dafür Sorge zu tragen,
daß jederlei Mitmeinung von solchem, was nicht Bewußtsein ist
und was nach natürlichen oder auch nach wissenschaftlichen —
psychologischen oder philosophischen, berechtigten oder ver-
ABHANDLUNGEN 255
kehrten — Überzeugungen dem Bewußtsein zugedeutet, mit ihm
verflochten wird, radikal ausgeschlossen wird.
Das ist freilich leichter gesagt und gewollt als wirklich getan,
und im Verständnis seiner ganzen Tragweite, ja seines wahren
5 Sinnes getan.
Vorweg ist uns die Idee einer rein in sich abgeschlossenen
und ihrer selbst in ihrem eigenen und reinen Bewußtseinsleben
durch die Selbstreflexion des ego cogito sich anschaulich bemäch¬
tigenden Subjektivität nichts besonders Verwunderliches, viel-
10 mehr — seit Descartes’ Zeiten — Altbekanntes; und danach auch
die Idee einer auf Theorie abgestellten Erfahrungsanalyse und
-deskription, zunächst in unmittelbarer psychologischer Selbster¬
fahrung und dann (auf dem Wege der Einfühlung) in der Fremd¬
erfahrung; vielleicht, daß der Kampf gegen den transzendental-
15 philosophischen Psychologismus und die Unterschiebung der
Psychologie für die Wissenschaft vom transzendentalen Be¬
wußtsein die prinzipielle Wurzel seines Rechtes darin hat, daß
eben Bewußtsein im Sinne der psychologischen Apperzeption
nicht in dem hier fraglichen Sinne reines ist. Wir sehen also
20 voraus, daß transzendentale Einstellung, selbst wenn sie an sich
eine gelingende Einstellung auf Bewußtsein in seiner Eigenwe¬
sentlichkeit ist und zu theoretischen Ergebnissen führt, die in
unserem schlichten Sinn transzendental — rein bewußtseinsthe¬
oretisch — sind, doch noch nicht als wahrhaft transzendental-
25 wissenschaftliche und transzendental-p hiloso-
p h i s c h e gelten kann; nämlich solange nicht eine besondere
methodische Besinnung den Sinn und das Recht der Forderung
der fraglichen Reinheit tiefer geklärt und eine wissenschaftlich
sich rechtfertigende Methode die Bewerkstelligung einer tran-
30 szendentalen Erfahrung, einer evidenten Selbsterfassung von
,,reinem” Bewußtsein überhaupt gesichert und damit der ur¬
sprünglichen Begründung einer Transzendentalphilosophie als
strenger Wissenschaft die Bahn gebrochen hat.
Der hiermit gestellten Forderung hat die neue Phänomeno-
35 logie unter dem Titel „phänomenologische Reduk¬
tion” bereits genuggetan. Da die Entwicklung dieser Methode
einige nicht leichte und nur in einiger Ausführlichkeit verständ¬
liche Überlegungen unerläßlich macht, werden wir sie in einem
eigenen Abschnitt behandeln.
256 ERGÄNZENDE TEXTE
<&) Transzendentale Wesensforschnng und transzendentale
T atsachenwissenschaft. >
Vorweg ist — das volle Gelingen der nachfolgenden Klärungen
und damit der Scheidung zwischen psychologischem und transzen¬
dental reinem Bewußtsein vorausgesetzt — der bestimmte Sinn
einer Wissenschaft vom Transzendentalen in seiner universalen
5 Weite sozusagen in forma festgelegt. Wir nennen sie geradezu
Transzendentalphilosophie — insofern vorgreifend, als sich erst
späfi&r herausstellen kann, daß sie alle ,philosophischen” Auf¬
gaben der gesamten Tradition umspannt. Jedenfalls soll sie gar
nichts anderes sein als diejenige Wissenschaft, die in transzenden-
10 taler Einstellung, und methodisch gesicherter Einstellung, also
in jener radikalen Ausschließlichkeit und Universalität, die oben
angedeutet worden ist, reine Subjektivität überhaupt und nach
allen in ihr möglichen Gestaltungen theoretisch erforscht, im¬
merzu nur nach dem fragt, was ihr nach eigener Wesensart und
15 eigenen Wesensgesetzen zukommt und was sie an möglichen Sin¬
nes-und Vernunftleistungen— Leistungen unter vielfältigen Ti¬
teln des Wahren, des Echten, des Richtigen — zustandebringt.
Damit wäre offenbar auch gesagt, daß zum Forschungsgebiet
dieser Wissenschaft so wie alle überhaupt möglichen Gestaltungen
20 reinen Bewußtseins auch alle möglichen Erfahrungen und Wis¬
senschaften gehören müssen. Sie sind für sie Themen der
Forschung, keineswegs aber logisch fundierende Erkenntnisse,
deren Feststellungen in ihr als Prämissen dienen könnten. Kor¬
relativ bezieht sich die Transzendentalphilosophie also auch auf
25 die Welt und alle möglichen Welten — und wieder nicht als in
Wirklichkeit oder Möglichkeit vorgegebene und schlechthin seien¬
de, sondern als im Leben und Wirken vernünftiger Subjektivität
sich immanent herausstellende Gestalten der Einstimmigkeit und
Wahrheit.
30 Naturgemäß scheidet sich dabei hinsichtlich der zu vollziehen¬
den transzendentalen Forschungen das Universum reiner
Möglichkeiten und das Faktum. Das faktische
Bewußtseinsleben, das universale in seiner transzendentalen
intersubjektiven Immanenz, trägt als „Phänomen” in sich
35 das korrelative Faktum der in ihr vorstellungsmäßig konstituier-
ABHANDLUNGEN 257
ten Welt. Konkret genommen, ist es also Universum aller tran¬
szendentalen Faktizität. Als das ist es Universum möglicher
„transzendentaler Erfahrung” und stellt die
Aufgabe einer entsprechend universalen Erfahrungstheorie. Die-
5 se faktische Korrelation ist anzusehen als eine Möglichkeit,
die eine Unendlichkeit anderer Möglichkeiten — als bloßer
Vorstellbarkeiten, als „apriorischer” oder Wesensmöglichkeiten
— offenläßt. Transzendentale Wesensforschung
(die „eidetische”) ist Erforschung der Wesensmöglichkeiten tran-
10 szendentalen Bewußtseins überhaupt, mit den darin vortheore¬
tisch und theoretisch zu konstituierenden a -priori möglichen
Welten. Ja wir müssen den Rahmen noch weiter fassen. Bei unse¬
rem herrschenden Interesse an der natürlich vorgegebenen Welt,
die für uns das All des Seienden zunächst vertritt, beschränken
15 wir unvermerkt auch unser transzendentales Interesse auf sie.
Aber schon um einer transzendentalen Weltbetrachtung genug¬
zutun, sehen wir uns bald genötigt, uns von allen Schranken zu
befreien und, wie das Universum a priori möglichen Bewußtseins
überhaupt, so das Universum in ihm zu konstituierender Gegen-
20 ständlichkeiten überhaupt transzendental zu erforschen — wobei
unser weitester Gegenstandsbegriff einzusetzen ist, dem sich ja
mancherlei ideale Gegenständlichkeiten, wie die reinen Zahlen,
Ideale u.dgl., einordnen.
An sich geht nun überall die eidetische Wissenschaft der
25 Tatsachenwissenschaft voraus und macht die theoretisch höchste
Gestaltung der letzteren in „rationalen” Theorien erst möglich.
So schon in der natürlichen Wissenschaft. Voran geht also die in
der Tat rein für sich zu begründende eidetische Transzendental¬
wissenschaft, die universale Wesenswissenschaft von einer tran-
30 szendentalen Subjektivität überhaupt, mit allen in ihr a priori
möglichen transzendentalen Phänomenen.
Wohl zu beachten ist schließlich, daß eine mögliche transzen¬
dentale Subjektivität überhaupt nicht bloß zu verstehen ist als
eine mögliche singuläre sondern auch als eine mögliche kommu-
35 nikative Subjektivität, und zuhöchst als eine solche, die eine
Mannigfaltigkeit von einzelnen transzendentalen Subjekten rein
bewußtseinsmäßig, also durch mögliche intersubjektive Bewußt¬
seinsakte, zu einer möglichen Allheit zusammenschließt.
Wiefern überhaupt eine „solipsistische” Subjektivität denkmög-
Husserliana VII 17
258 ERGÄNZENDE TEXTE
lieh ist, außerhalb aller Gemeinschaft, ist selbst eines der tran¬
szendentalen Probleme.
Wir, als aktuelle Vemunftsubjekte in der Aktualität schick¬
salsvollen Lebens stehend, treiben Wissenschaft als Funktion und
5 Methode eben dieses Lebens. Unser Interesse liegt danach im
Faktischen. In weiterer Folge ist also die eidetische Transzen¬
dentalphilosophie (die transzendentale Phänomenologie, wie wir
auch sagen) Werkzeug oder Methode für die t r a n s z e n d e n-
tale Tatsachenwissenschaft.
10 Blicken wir von hier auf das natürliche Leben und Erkennen,
dem der Radikalismus transzendentaler Betrachtung fremd
bleibt, zurück, so hat es auf dem Grunde natürlicher Erfahrung
die Welt und, auf sie bezogen, die „positiven” Tatsachen Wissen¬
schaften; auf dem Grunde natürlicher Einstellung auf reine
15 Möglichkeiten hat es eidetische Wissenschaften (wie die mathe¬
matischen), fungierend als Instrumente der positiven Methode
der Tatsachenwissenschaften. Wie weit es die Unendlichkeiten
natürlicher Horizonte durchdringt, niemals stößt es, und kann es
in seiner Einstellung prinzipiell stoßen auf die transzendentalen
20 Gegebenheiten und Theorien: auf das wirkliche und mögliche
transzendentale Bewußtsein, auf „die Welt”, auf „mögliche
Welten”, als dessen intentionale Gebilde, und auf die oben be-
zeichneten transzendentalen Wissenschaften.
Wie nun das eine zu dem anderen stehen mag, in welchem Sinn
25 überhaupt von einem anderen gesprochen werden kann, in wel¬
chem Sinn die universale Wissenschaft vom Transzendentalen —
und allem voran die transzendentale eidetische Phänomenologie
mit ihren unmittelbaren Wesensdeskriptionen der Möglichkeiten
reiner Bewußtseinsleistungen transzendentaler Subjekte — dazu
30 berufen sei, den letzt wahren Sinn der natürlich gegebenen und
erkannten Welt zu deuten; desgleichen dazu berufen, an allen
positiven Wissenschaften, und an allen im gleichen Sinn positi¬
ven („dogmatischen”) Philosophien Kritik zu üben; ja sogar be¬
rufen, ihnen gegenüber, und in ihrem eigenen Rahmen, alle Wis-
35 senschaft in letztwissenschaftlicher Gestalt zu schaffen und in
sich jeden möglichen Sinn von Philosophie in letzter Gestalt zu
verwirklichen — das sind die sich jetzt aufdrängenden bzw. er¬
öffnenden Fragen.
Doch ehe wir in dieser Richtung einen Schritt weiter tun, wird
ABHANDLUNGEN 259
es nötig sein, uns der vorausgeschickten Scheidung der beiden
Denkungsarten noch besser zu versichern, also vor allem jenen
merkwürdigen Radikalismus eines ausschließlichen Geltenlassens
und Suchens von ,,rein” Subjektivem, im konkret abgeschlos-
5 senen Ganzen einer „reinen Subjektivität”, tiefer zu erleuchten.
Wir sagten schon, daß es zum wesentlichen Sinn dieser reinen
Subjektivität gehören soll, keinerlei Mitsetzung von natürlich
objektivem Sein (beschlossen im Universum der Positivität)
vorauszusetzen und prinzipiell zu dulden.
<c) Natürliche und transzendentale Reflexion und der Untergrund
der Intentionalität. >
10 Knüpfen wir an schon Bedachtes an. Im Vollzüge natürlichen
Lebens haben wir Menschen-Subjekte immerzu vorgegeben Sei¬
endes, Seiendes in vielfältigem Sinn, mannigfaltig zu erfassendem
Bewußtsein kommend und wieder verschwindend, aber auch dann
noch für uns seiend. Alle solchen Vorgegebenheiten sind in ge-
15 wisser Weise einig, sie bilden ein Universum unserer Vorgegeben¬
heit. Immerfort ist für uns da eine Natur — „die” Allnatur, in
sich vereinigend alle für uns seienden materiellen Gegenständ¬
lichkeiten. Sie ist aber bloß eine unselbständige Struktur der kon¬
kret vollen Welt, mit ihren Menschen, Staaten, Kirchen, Kunst-
20 werken, Wissenschaften usw. Auf das reale Weltall, das All des
„real” Seienden, ist dann alles, was sonst sich als seiend gibt, wie
Ideale, Ideen jeder Art, mathematische Gegenständlichkeiten
(Zahlen, Mannigfaltigkeiten), Theorien u.dgl. zurückbezogen, es
ist gemäß dem Sinn, den ihm das natürliche Leben gibt, in ge-
25 wisser Art ein bloßer Annex der realen Welt. Auf das jeweilige
Universum unserer Vorgegebenheiten bezieht sich unsere gesam¬
te natürliche Praxis, unsere Praxis im gewöhnlichen, engeren
Sinn realer Werktätigkeit, aber auch unsere Erkenntnispraxis.
Durch die eine und andere gestalten wir das Universum des für
30 uns jeweils „Seienden”, als seiend uns Geltenden, um — und
schaffen uns damit nur neue Vorgegebenheiten, wir erweitern
das alte Universum, es zugleich dadurch verengend, daß wir
daraus mancherlei, als uns hinfort nicht mehr geltend, heraus¬
streichen. 1)
') Doch es ist nicht zu übersehen, daß die Abwandlung der Seinsgeltung in Form
260 ERGÄNZENDE TEXTE
Durch dieses gesamte, immerfort im Vollzüge von Geltungen
sich individuell und vergemeinschaftet betätigende Leben ge¬
hen hindurch Bestrebungen, gerichtet auf Erzielung von „Wahr¬
heiten” (in einem weitesten Sinn). Aus den subjektiven und
5 wechselnden Geltungen mühen wir uns herauszugestalten recht¬
mäßig bewährte und subjektiv wie intersubjektiv jederzeit zu
bewährende, und schließlich — unter dem Titel Wissenschaft —
„endgültige” Wahrheiten, Seiendes im „wahren”, im endgültigen
Sinn.
10 Alles nun, so sagen wir uns, was uns in solchem natürlichen
Leben als Seiendes gilt — und ev. in der Gestalt „endgültig Be¬
gründetes” —, ist für uns Geltendes, und ev. Endgültiges, als
synthetische Einheit in vielgestaltigem Bewußtsein, als Eines
und Selbes von mannigfaltigen subjektiven Gegebenheitsweisen,
15 in deren subjektiver Synthesis es sich eben als Einheit und im
Einheitscharakter des Geltenden, ev. des Bewährten, des Wahren
usw. konstituiert. So ist schon der einfache Titel „Wahrnehmung”
irgendeines Dinges und sogar Erfahrung von diesem Ding über¬
haupt — als meine und unsere gesamte auf dieses selbe Ding be-
20 zogene und zu beziehende — ein Titel für überaus vielgestaltige
Erlebnisse und erlebnismäßige Gegebenheitsweisen, ohne die das
Ding, und ein Ding überhaupt, als dieses eine und selbe Daseien¬
de nicht bewußtsein kann. Aber während uns die Wahrnehmung
das Ding als leibhaft daseiend gibt, wissen wir nichts von den
25 überaus mannigfaltigen Bewußtseinsweisen, Sinngehalten, Set-
zungsmodis usw., die das Erfahren als das von diesem Ding aus¬
machen. Der erfassende Blick ruht ausschließlich auf der konsti¬
tuierten synthetischen Einheit und ihren Einheitsmomenten, den
dinglichen Eigenschaften. In natürlicher Einstellung, und zwar
30 in der Grundeinstellung geradehin (unreflektiert) dahingehenden
Lebens, sehen wir das Ding, und nicht das Sehen; die Einheit,
und nicht die Mannigfaltikgeit des Subjektiven, in dem es als
Einheit sich konstituiert. Wird Vorgegebenes zum Thema einer
höher fundierten Bewußtseinsaktion, etwa eines Theoretisierens,
35 und ev. einsichtigen Theoretisierens, so verhält es sich nicht an¬
der Verwerfung und daß überhaupt jede möglicherweise eintretende „Modalisierung”
dieser Geltung immer wieder eine Art positiver Geltung, also wieder für uns Seiendes
herstellt, wenn auch in einer (jederzeit möglichen) Einstellungsänderung. Wir haben
dann unter dem objektiv Seienden je nachdem: seiende objektive Möglichkeiten,
Wahrscheinlichkeiten, Nichtigkeiten, Unmöglichkeiten, Fragwürdigkeiten usw.
ABHANDLUNGEN 261
ders: im Fortgang dieses Theoretisierens haben wir ausschließlich
im thematischen Blick als seiend gegeben die Abfolgen der Theo-
remata; von den verwickelt und sehr wechselnd gebauten Be¬
wußtseinsweisen mit ihren Sinngehalten, Setzungsmodis, Syn-
5 thesen usw., als deren Einheitsgebilde jedes Bestandstück der
Theorie und im sukzessiven Aufbau das Ganze der Theorie in
unseren Blick tritt, wissen wir im Vollzüge nichts, sie bleiben
außerthematisch. Überhaupt sind aktuell gegebene Gegenstände
Themen, Themen Einheiten unthematisch verbleibender Akt-
10 mannigfaltigkeiten.
Das überträgt sich von den im Modus aktueller Gegenwart ge¬
gebenen Gegenständlichkeiten mit ihrem zugehörigen Subjek¬
tiven auf die in irgendeiner Weise „vergegenwärtigten” Gegen¬
ständlichkeiten mit dem entsprechend mitvergegenwärtigten
15 Subjektiven (Wiedererinnerung, abbildliches Vorstellen u.dgl.);
ebenso von den als wirklich geltend bewußten Gegenständlich¬
keiten mit den sie wirklich in Geltung setzenden Akten auf die in
der Weise „bloßer Phantasie” vorstelligen Gegenstände und die
korrelativen Akte einer Geltung, in die man sich, statt sie „wirk-
20 lieh”, „ernstlich” zu vollziehen, bloß hineindenkt, hineinfingiert.
Z.B.: wie ein wirklich erfahrenes daseiendes Haus in vielerlei
subjektiven Modis bewußt ist, in wechselnder Orientierung und
Perspektive, in wechselnden Unterschieden der Klarheit und
Deutlichkeit, des Aufmerksamkeitsmodus usw., so hat auch ein
25 fingiert-daseiendes Haus seine Modi, und es hat in genauer Pa¬
rallele „dieselbe” Typik von subjektiven Modis, und doch sie alle
im radikal abwandelnden Charakter des nicht wirklichen Sub¬
jektiven sondern nur eines „als ob ich das erlebte”. Das Phanta¬
sieren, in dem ich mir jetzt einen Gigantenkampf vorschweben
30 lasse, ist zwar ein gegenwärtiges Erlebnis, aber dieser Kampf
schwebt mir nur vor in einem korrelativ vorschwebenden Wahr¬
nehmen dieses Kampfes, ein Wahrnehmen im „als ob”, und nicht
ein wirkliches Wahrnehmen. So ähnlich in jeder anschaulichen
V ergegen wärt igung.
35 Wir können also alles und jedes, was uns als seiend gilt und
was von uns je als möglicherweise Geltendes vorgestellt oder
vorstellbar ist, nach den verborgenen, unthematisch verbleiben¬
den oder verbliebenen Mannigfaltigkeiten des Bewußtseins be¬
fragen und unser Absehen auf deren Enthüllung richten. Das
262 ERGÄNZENDE TEXTE
unthematische, gewissermaßen anonyme, aber mitbewußte Be¬
wußtseinsleben ist jederzeit zugänglich in Form der Reflexion.
Es ist von entscheidender Wichtigkeit, den fundamentalen
Unterschied zwischen natürlicher und transzendentaler Reflexion,
5 der hier in Frage kommt, schrittweise zu vollkommenster Klar¬
heit zu bringen.
Aller Reflexion in dem hier gemeinten Sinn — zunächst ganz
allgemein, ob sie transzendental ist oder nicht — ist es gemein¬
sam, daß sie ein Sich-zurückbiegen des Bewußtseins ist, ein Über-
10 gang von irgendeinem Bewußthaben irgendwelcher Gegenständ¬
lichkeiten zum Bewußtmachen eben dieses Bewußthabens und
seines Ich. Seit Locke versteht man unter Reflexion in der
Regel selbsterfahrende Bewußtseinswendungen auf
sich selbst und sein Bewußtseinsleben, also Selbstwahrnehmun-
15 gen (bezogen auf die eigenen gegenwärtigen Bewußtseinserleb¬
nisse), allenfalls auch Selbsterinnerungen (bezogen auf eigene
Bewußtseinsvergangenheit). Doch werden wir sogleich noch an¬
dersartige Reflexionen kennenlemen, darunter auch solche, die
nicht Reflexionen des Reflektierenden auf sich selbst sind.
20 Halten wir uns zunächst an die Reflexionen im engeren Sinn
der Selbstreflexion, so ist an ihnen eine merkwürdige Wesens¬
eigentümlichkeit leicht aufzuweisen, die in entsprechenden Mo¬
difikationen (und dann schwerer verständlich) auf alle anderen
Reflexionen übergeht. Ich meine das Phänomen der „Ich-Spal-
25 tung”.
Mit dem Vollzüge einer Selbstreflexion erhebe ich mich über
mich selbst, scheide mich in das obere Ich, das Ich der Reflexions¬
akte, und das untere Ich, auf das ich reflektiere (das „Mich"). Das
erstere und sein reflektierendes Erleben ist dann seinerseits seiner
30 selbst „unbewußt", anonym, während das vordem anonyme Ich,
nämlich das vor der Reflexion dahinlebende, nun, als reflektiei-
tes, „enthüllt", zu Kenntnis und ev. Ausdruck gekommen ist:
das aber im wohlvertrauten Bewußtsein der Identität in der
Verdoppelung, die, in weiterer, höherstufiger Reflexion thema-
35 tisch enthüllt, sich den Ausdruck schafft: „Im Selbsterfahren er¬
fahre ich mich selbst, mein vordem unerfahrenes Sehen, Hören,
Denken usw.".
Wir stoßen hier auf eine Reflexion höherer Stufe. Offenbar
gehört es zum Wesen jeder Reflexion, daß sie wieder eine höhere
ABHANDLUNGEN 263
Reflexion zuläßt, daß sich also die Ich-Spaltung immer von
neuem vollziehen läßt. Jede Reflexion hat ein Reflektiertes im
Blick, und das reflektierende Ich und sein reflektierendes Tun
ist dabei ,,anonym” und tritt in einer Rückbiegung des Blickes
5 auf es selbst, also durch eine neue Ich-Spaltung zutage, wobei
abermals das neue reflektierende Tun und sein Ich in Verborgen¬
heit ist, aber auch wieder enthüllbar.
Doch ziehen wir nun andersartige Reflexionen in Betracht, die
in mannigfaltigen Gestalten schon in jedem natürlichen Leben
10 auftreten. Sie haben einen sehr verschiedenen Bau, immer einen
intentional verwickelten, und von verschiedenen Stufen der Ver¬
wicklung. Geht man diesen nach, rein die eigenwesentlich be¬
schlossenen intentionalen Implikationen entfaltend, so kann man
eine jede Reflexion als eine bald mehr unmittelbare, bald mittel-
15 bare Modifikation einer einzigen Urgestalt erkennen, und das ist
die Reflexionsgestalt schlichter Selbstwahrnehmung. Stellen wir,
um diese sozusagen strukturelle Abstammung aller anderen Re¬
flexionen zugleich dazu zu nützen, sie selbst in ihrer Struktur
verstehen zu lernen, folgende Überlegung an.
20 Vor aller Selbstreflexion liegt gerades Bewußtsein, reflexions¬
los auf Gegenstände bezogen, die ihm darin in irgendwelchem
Modus gelten. Hier lebt das Ich sozusagen in völliger Anonymität,
es hat nur Sachen, aber nichts Subjektives. Erst durch Reflexion,
und in ursprünglichster Form durch schlichte Selbstwahrneh-
25 mung, gewinnt es „Selbstbewußtsein”, Kenntnis und ev. Er¬
kenntnis seiner selbst; es vermag nun sich selbst zu bewerten,
sich selbst zu behandeln. Doch Wahrnehmung wird erst fruchtbar
durch Erinnerung, und so auch Selbstwahrnehmung durch Selbst¬
erinnerung. Sie ist eigenwesentlich (durch den eigenen Sinnge-
30 halt ihrer Intentionalität selbst) charakterisiert als Modifikation
der Selbstwahrnehmung. Und ist diese Rückbiegung von einem
Boden gerader Wahrnehmungen, so ist die Selbsterinnerung
Rückbiegung von einem solchen gerader Erinnerung. Diese „ver¬
gegenwärtigt” Gegenwärtiges, als ob es leibhaft selbst er-
35 schiene, und in einer Art, die es als Seiendes setzt, als Seiendes im
Zeitmodus „Vergangen”. Darin unterscheidet sich Erinnerung
von der bloßen Phantasie, deren Gegenstand zwar auch in einem
„als ob er da wäre” bewußt ist, aber nicht vom phantasierenden
Ich wirklich gesetzt ist. In ihr bezieht sich das „als ob” auch auf
264 ERGÄNZENDE TEXTE
das Sein, es gilt nicht in seinen Phantasiegehalten als wirklich,
sondern nur „als ob es wäre”. Die von der geraden Erinnerung,
etwa eines Hauses, abbiegende Selbsterinnerung enthüllt nicht
das gegenwärtige Ich, das der aktuellen Wahrnehmungen (dar-
5 unter der jetzigen Wiedererinnerung selbst als Gegenwartser¬
leben), sondern das vergangene Ich, das zu dem eigenen inten¬
tionalen Wesen des erinnerten Hauses gehört, als das, für das es
dawar, und dawar in den und den subjektiven Bewußtseins-
modis. Erinnerung ist ihrem Wesen nach nicht nur In-Geltung-
10 haben eines Vergangenen, sondern dieses Vergangenen als eines
von mir Wahrgenommenen und eines sonstwie Bewußtgewese¬
nen : und eben dieses in gerader Erinnerung anonyme vergangene
Ich und Bewußtsein kommt in einer Reflexion (Reflexion nicht
auf das jetzige Erinnern, sondern „in” ihm) zur Enthüllung.
15 Wir sehen sogleich, daß in gleicher Weise auch eine Reflexion
„in” jeder Phantasie möglich ist. Phantasiere ich ein Ding (oder
einen sonstigen Gegenstand), so liegt darin, daß es mir als Phan¬
tasie erscheint, daß ich das Bewußtsein habe, „als ob ich es
wahrnehme”, und dieses Wahrnehmen „als ob” habe ich, der ich
20 als Subjekt des Wahrnehmens mitfingiert werde, durch Re¬
flexion nicht auf sondern „in” der Phantasie enthüllt, und
enthüllt eben als mitfingiertes Subjektives.
In ähnlicher Art entspringen nun überhaupt mancherlei inten¬
tionale Abwandlungen der ursprünglichsten Selbstreflexion, der
25 Selbstwahrnehmung, die in diesem Sinn die Urgestalt aller Re¬
flexion ist. Alle von ihr verschiedenen Reflexionen sind (ihrer
eigenen Intentionalität gemäß) „Abwandlungen” derselben, ob¬
schon ev. sehr mittelbare. Es ist dabei zu beachten, daß, wie
zunächst Selbstwahrnehmung eine sozusagen iterierbare Opera-
30 tion ist, dasselbe zunächst auch gilt von der Selbsterinnerung,
als erster (positionaler) Abwandlung der Selbstwahrnehmung.
Nicht nur, daß sie jeder Selbstwahrnehmung beliebig höherer
Stufe als ihre Abwandlung folgen kann; es kann auch, wie jede
Erinnerung, so jede Selbsterinnerung wiedererinnert werden,
35 also auch diese usf. Ebendasselbe gilt von den Phantasien, und
speziell den Selbstphantasien, in ihren iterierbaren höheren Stu¬
fen ; und so überhaupt.
Von besonderer Wichtigkeit sind die Reflexionen, durch die ich
Kenntnis von „Anderen”, von fremder Subjektivität, ihren Er-
ABHANDLUNGEN 265
lebnissen, Erscheinungsweisen, intentionalen Gegenständen als
solchen usw. gewinne. Die intentionale Abkunft letztlich von
Selbst Wahrnehmungen bleibt, wie ausdrücklich wiederholt sei,
auch für diese Reflexionen bestehen. Wir nennen sie Reflexionen
5 und sagen damit, daß im Wesen jeder ursprünglichen Erfahrung
von Anderen („Einfühlung”) und, in weiterer Folge der Abwand¬
lungen, eines jeden Bewußtseins, durch das ich fremdes Subjek¬
tive bewußthabe (also nicht nur wahrnehmungsmäßig, als gegen¬
wärtig, sondern auch erinnerungsmäßig, phantasiemäßig, in
10 Vorerwartungen, durch Abbilder, durch Denken usw.) ein Re¬
flexives ist, wenn auch in Gestalt ev. sehr verwickelter Implikati¬
onen. Dabei ist auch zu beachten, daß, wie überall, so <auch> hier
die intentionalen Implikationen unanschaulich, symbolisch, leer
vollzogen sein können und dann alle sonst möglichen abgewandel-
15 ten Reflexionen und nicht minder jede Art Vorbeziehung auf
Seiendes einbezogen sein können in solche Akte unentwickelter
Art, die ihren reflexiven Sinn erst in der „Klärung”, der An-
schaulichmachung enthüllen. In der ursprünglichsten und x'elativ
einfachsten Gestalt (der Urgestalt für alle verwickelteren Fremd-
20 erfahrungen und deren Phantasieabwandlungen) gewinne ich
„unmittelbare” Erfahrung vom Anderen auf dem Wege impli¬
zierter Reflexion, die ihren Ausgangsboden hat im wahrneh¬
mungsmäßigen „Dasein” meiner Leiblichkeit und meiner in ihr
originaliter fungierenden Subjektivität. Von hier strahlt eine
25 Motivation aus, in der fremde Leiblichkeit als solche verständlich
wird, und somit verständlich als Funktionsorgan des Anderen.
Dieses Verstehen, in dieser Fundiertheit durch meine originale
Selbsterfahrung, erwächst als eigentümliche Abwandlungsgestalt
meiner Selbstwahrnehmung, als eine Art Vergegenwärtigung, die
30 der Erinnerung analog, aber von ihr offenbar verschieden ist. In
ihr <kann> ich ein Ich und ein Bewußtsein, aber nicht das sich in
meinen Erinnerungen (und Vorerwartungen), also in meiner
originalen Selbsterfahrung bekundende, reproduktiv gegeben als
vergegenwärtigte Gegenwart, <sondern> als ein im Gleichlauf
35 mit dem meinen verlaufendes Leben gewinnen, und zwar als ein
solches, das sich in den originalen Gegebenheiten meines Lebens
in ursprünglicher Weise anzeigt als mitdaseiend.
<So also) verschiedenartig abgewandelte Reflexionen, darunter
immer auch solche, durch die Fremdsubjektives, fremdes Ich
266 ERGÄNZENDE TEXTE
und Ich-Leben, dem fremden Subjekt zugehörige Auffassungswei-
sen, subjektive Phänomene jeder Art für uns bewußt werden, in
der Weise für uns geltenden Daseins.
Wir haben durch die soeben durchgeführten Überlegungen
5 einige Einblicke in die Reflexionen gewonnen, durch welche uns
Subjektives jeder Art, wir selbst und die mannigfachen subjek¬
tiven Gehalte unseres Lebens, aber auch Andere und ihr Leben,
zur Gegebenheit kommt. Und zugleich sind wir auf den Unter¬
grund der Intentionalität aufmerksam geworden, den alle Re-
10 flexionen letztlich voraussetzen. Die reflexionslosen Bewußtseins¬
akte, die allgemeinsten Bewußtseinstypen, wie wirkliche Akte
und phantasiemäßige Quasi-Akte, darin in Besonderheit Wahr¬
nehmungen, Erinnerungen, Erwartungen, symbolische Anzeigen,
bildlich darstellende Akte, Leer-Bewußtsein, Allgemeinheitsbe-
15 wußtsein usw., bezeichnen Formen, in denen reflexionsloses Le¬
ben wie alles Bewußtseinsleben verläuft. Aber das Reflexionslose
bezeichnet eine Unterschicht, in der für uns ,,bloße Sachen”
dasind, das Reich der ,,ich-fremden” Gegenständlichkeiten, die
ihrem Sinn nach von allem Subjektiven frei sind, sofern eben das
20 Subjekt, solange es keinerlei Reflexionsakte vollzieht, nicht ein¬
mal seiner Subjektivität selbst (der ursprünglich ersten, die für
es thematisch werden kann) bewußt ist, sie also auch in keinen
gegenständlichen Sinn, wie er durch ein bloßes Sachbewußtsein
konstituiert ist, einzubeziehen in der Lage ist. So verhält es sich
25 mit den Sachen, die der Titel ,.bloße Natur” bezeichnet, ur¬
sprünglich gegeben in purer, d.h. jetzt völlig selbstvergessener
Erfahrung, die auschließich auf das Ding hinsieht, wie es als die¬
ses aussieht und beschaffen ist; ebenso aber auch für Sachen ide¬
aler Reiche, wie reine Zahlen, mathematische Mannigfaltigkeiten
30 u.dgl. Solange das Subjekt unreflektiert bleibt und geradehin
sachhaft Gegebenes zergliedert, kann es eben nichts Subjektives
vorfinden und zur thematischen Sinngestaltung verwerten.
So<dann> umspannt das Universum meiner Vorgegebenheiten
außer der reflexionslos gegebenen Sachenwelt mich selbst und eine
35 offene Mannigfaltigkeit fremder Subjekte. All das ist verflochten
durch geltende Beziehungen, umkleidet von Beziehungscharak¬
teren, in denen es meine anschaulich bekannte und kategorial
bestimmt gegliederte Umwelt ausmacht und zugleich die uns
allen durch mögliche Wechselverständigung Verbundenen ge-
ABHANDLUNGEN 267
meinsame Umwelt, die als uns selbst mitbeschließende, also „die”
Welt schlechthin ist.
Aller natürlichen Reflexion gehört es wesentlich zu, daß
sie zwar Bewußtsein, aber nur „reales”, „weltliches”, naturver-
5 flochtenes Bewußtsein vorfindet und je vorfinden kann. Dem¬
gegenüber sucht und findet die reine Reflexion — in einer ge¬
wissen reinigenden Methode, geübt an den Gegebenheiten der
natürlichen Reflexion — reines oder transzendentales Bewußt¬
sein. Der natürlichen Selbsterfahrung, der natürlichen Fremder-
10 fahrung und Gemeinschaftserfahrung tritt gegenüber die tran¬
szendentale; ebenso aber auch für alle Abwandlungen der Er¬
fahrung und alles sich darauf bauende höhere, und speziell das
theoretisch erkennende Bewußtsein, das tatsachenwissenschaft¬
liche und eidetische.
(d) Natürliche Reflexion und das Unzureichende psychologischer
Reduktion. >
15 Bringen wir uns zunächst das eigentümliche Wesen natürlicher
Reflexion zu größerer Klarheit.
Das Ich, das im natürlichen Leben lebt, hat, wie wir sagten,
immerfort ein Universum von Vorgegebenheiten. Was es früher
in neuen Erfahrungen, aus neuen Urteilstätigkeiten, Wertungen
20 usw. gewonnen hatte (aus „urstiftenden” Akten, wie wir sagen),
das blieb und bleibt für es in Fortgeltung; es sei denn, daß diese
Geltung durch besondere Gründe, etwa durch Akte der Modali-
sierung, ihre Kraft verliert, preisgegeben wird u.dgl. So hat das
natürliche Leben einen universalen Boden, auf dem es sich gleich-
25 sam von vornherein vorfindet und bewegt, eben den eines vorge¬
gebenen, wenn auch wandelbaren Horizontes realen und objek¬
tiv-idealen Seins. Vor allem „hat” es das reale Weltall, als durch¬
gängig verbundenes Universum realer Geltung, und jeweils in dem
Bestimmungsgehalt, mit dem dieses ihm (ob rechtmäßig oder
30 nicht) im Auftritt gilt und fortgilt, jeden neuen realen Gegenstand
in sich aufnehmend. Wenn nun das Ich einen Gegenstand als sein
aktuelles Thema gegeben hat, so ist ihm zwar seine übrige Welt —
und alles sonst für es Seiende — nicht aktuell gegenwärtig, aber
in gewisser Weise doch noch Mit-Thema, nur eben nicht aktuel-
35 les; als mitgeltend bestimmt sie jede aktuelle Auffassung und ge-
268 ERGÄNZENDE TEXTE
hört zu deren intentionalem Horizont. Dasselbe bleibt also be¬
stehen, wenn das Ich auf sein Bewußtsein von einem je¬
weiligen thematisch gewesenen Gegenstand, auf dessen subjektive
Modi u. dgl. reflektiert; dann ist das Bewußtsein zwar sein beson-
5 deres Thema, aber innerhalb des mitgeltenden Universums. Ins¬
besondere ist dabei natürlich der betreffende Gegenstand, auf
dessen Bewußtseinsweisen eine natürliche Reflexion sich richtet,
wie er vordem in diesem geltender war, auch noch für das reflek¬
tierende Ich geltender. Wollen wir nun aber das Bewußtsein rein
10 als solches setzen, wollen wir weitergehend versuchen, ob und wie
wir Bewußtsein überhaupt als ein eigenes und rein in sich ge¬
schlossenes Universum geltenden Seins etablieren könnten, so
müssen wir offenbar eine reinigende „Ausschaltung” allen gel¬
tenden Seins vollziehen, das nicht Bewußtsein ist. Eine solche
15 Ausschaltung ist nötig; denn Bewußtsein, wirkliches und mög¬
liches, ist uns zunächst in natürlichen Reflexionen gegeben, und
diese setzten, wie schon merklich geworden und alsbald noch
vollkommener sichtlich werden wird, niemals bloßes Bewußtsein,
sondern in eins mit ihm auch anderes.
20 Soll das gesuchte Universum reinen Bewußtseins zu einem
sicheren Boden werden, auf dem eine wissenschaftliche Erkennt¬
nis zu gründen wäre, so muß es in universaler einstimmiger E r-
f a h r u n g ursprünglich zur Gegebenheit kommen; und handelt
es sich zunächst, wie methodisch selbstverständlich, um Herstel-
25 lung des Universums meiner reinen Subjektivität, die sich in
einem geschlossenen reinen Leben auslebt, so ist also in Frage:
reine Erfahrung in Bezug auf mich selbst, also reine Selbst-
wahrnehmung, Selbsterinnerung und eine universale Kontinuität
wirklicher und möglicher reiner Selbsterfahrung.
30 Vorerst scheint es, als wäre, um sie zu gewinnen, dies der
rechte Weg:
Wir vollziehen eine reflexive Überschau über unser ganzes
Leben und reduzieren es, von Einzelreflexion zu Einzelreflexion
übergehend, auf das reine Leben, also derart, daß wir einzelweise
35 jede natürliche Reflexion, das sagt hier: jede natürliche Selbst¬
erfahrung von allem Nicht-Subjektiven reinigen und damit ihren
Gehalt an rein Subjektivem gewinnen.
Einer solchen Reinigung bedarf es unter allen Umständen, was
man sich zunächst an „positionalen” Akten (also vorerst abgese-
ABHANDLUNGEN 269
hen von allem sich bloß Hineindenken in Aktvollzüge, „als ob”
man glaubte, wertete usw.) klarmachen kann. Das betreffende
cogito, das ich, so vorgehend, im erfahrenden Griff habe, ist Be¬
wußtsein eines cogitatum, eines in irgendeinem Modus Seienden.
5 Aber dieses, mag es mir auch mit noch so gutem Grunde gelten,
mag es, wie das ja im natürlichen Leben so oft der Fall ist, sogar
schon ein Subjektives („Psychisches”) sein — ist nicht nur
nicht das Bewußtsein von ihm, sondern auch in gar keinem
Fall je als reeller Teil ihm zugehörig. Was mir im jeweiligen Be-
10 wußtsein schlechthin als Gegenstand gilt, kann ja in ideal un¬
zähligen neuen Bewußtseinsakten als dasselbe Seiende bewußt
und gegeben sein — so für alle natürlich vorgegebenen Gegen¬
stände, als Realitäten, die wiederholt als dieselben von mir und
anderen wahrnehmbar sind, und nicht minder für vorgegebene
15 ideale Gegenständlichkeiten, die von mir und anderen wiederholt
in gesonderten Akten ursprünglicher Einsicht als dieselben erfaßt
werden können. Wir müssen also, um das rein Subjektive, das
jeweilige einzelne Bewußtseinserleben in seiner Reinheit zu er¬
halten, die gesamten darin gesetzten Gegenständlichkeiten außer
20 Spiel setzen, d.i., während wir Bewußtsein rein als es selbst als
seiend setzen, uns die Mitsetzung des in ihm Bewußten und Ge¬
setzten versagen.
Indessen, diese fortlaufend im einzelnen Bewußtsein geübte
Methode, in universal gespannter methodischer Absicht an allen
25 unseren Bewußtseinserlebnissen geübt, die wir reflexiv aus unse¬
rem Leben herausschauen könnten, würde keineswegs schon das
im transzendentalen Sinn reine, das radikal reine Bewußtseins¬
leben liefern. In der Tat, die Psychologie, wofern sie dem Grund¬
wesen des subjektiven Lebens als eines intentionalen Rechnung
30 trägt, bedarf dieser Art Reinigung, um das rein Psychische im
Sinn der Psychologie zu gewinnen. Ihr Thema, das menschliche
und tierische „Seelenleben”, befaßt zwar Bewußtsein mit allen
ihm unabtrennbar zugehörigen reellen und ideellen Gehalten,
aber Bewußtsein als reales Vorkommnis im Zusammenhang der
35 dank unserer kontinuierlich einstimmigen Erfahrung immerfort
vorgegebenen Welt. Die psychische Selbst Wahrnehmung, Selbst¬
erfahrung ist, was ihre Sinnesleistung anlangt, ebensogut „ob¬
jektive” Erfahrung wie die auf bloß materielles Sein bezogene
raum-dingliche Erfahrung. Sie ist in dieser wesensmäßig fundiert,
270 ERGÄNZENDE TEXTE
und in einer Weise, daß ihre eigene Sinngebung und Daseins¬
setzung unabtrennbar eine Mitsetzung von physischem Sein und
schließlich einer ganzen raum-zeitlichen Welt vollzieht; unab¬
trennbar, solange diese Art Sinngebung und Sinn erhalten bleibt:
5 Bewußtsein im natürlich realen Sinn, Seelenleben im realen,
raumzeitlichen Zusammenhang.
IV. <Der Sinn des ,,In-frage-stellens” der Welt.)
Hat man, in Überwindung der festeingewurzelten natürlichen
Denkungsart, das Reich der transzendentalen Subjektivität in
seiner Eigenheit und völligen Abgeschlossenheit erschaut und ist
10 man mit Betrachtungen, wie die eben angedeuteten, zu den ersten
Vorahnungen der Eigenart und Reichweite einer Transzenden¬
talphilosophie gekommen, so gerät man in Staunen und bald
auch in eine wachsende innere Beunruhigung.
Die Welt und Wissenschaft der natürlichen Denkungs-
15 art schien, solange man von der Möglichkeit einer tran¬
szendentalen nichts wußte, alles überhaupt erfahrbare
Sein und alle überhaupt erdenklichen Wissenschaften in sich zu
begreifen. Nun aber eröffnet sich eine neue Seinssphäre, die von
der natürlichen zu sondern und abgesondert zu erhalten an sich
20 schon arge Schwierigkeiten bereitet; und es eröffnet sich eine
neue Wissenschaft, welche die gesamte positive Wissenschaft
thematisch umspannen und doch nicht selbst positive sein und
keinen einzigen ihrer Sätze als Prämisse und als Bestandstück
ihrer eigenen Theorien enthalten soll. Aus der Unklarheit ent-
25 springt ein peinlicher Widerstreit zwischen den Erkenntniswer¬
ten der natürlichen Denkungsart, die man doch nicht preisgeben
kann, und den Erkenntnisforderungen der neuen, deren eigenes
Recht zweifellos geworden ist. Folgt man dieser neuen, so er¬
scheint alles, was man vordem in der Selbstverständlichkeit eines
30 natürlich gegründeten Rechtes besessen hatte, in Frage ge¬
stellt; das aber in dem doppelten Sinn dieses äquivoken Aus¬
drucks. Denn, da reines Bewußtsein überhaupt, und darin in¬
sonderheit rechtgebendes Bewußtsein, zum universalen Pro¬
blem geworden ist und also Recht selbst (als ein Titel für inten-
35 tionale Korrelate) zum Thema der Frage werden mußte, so
ABHANDLUNGEN 271
scheint in dem Zustande der Unklarheit, in dem man zunächst
steht, jedes Recht auch in dem anderen Sinne fraglich — nämlich
zweifelhaft zu werden. Die transzendentale Frage nach dem
Wesen, dem Sinne jedes Rechtes — m.a.W. die Frage, wie es ver-
5 ständlich zu machen sei aus der ursprünglichen Sinngebung des
Bewußtseins als der sozusagen ursprünglichen Rechtsstiftung —
wandelt sich in die Frage, ob und wieweit es gelte, gelten kön-
n e. Ganz besonders betrifft das begreiflicherweise das Recht der
positiven W e 1 t-Erkenntnis und damit eigentlich alle posi-
10 tiven Wissenschaften (nämlich auch alle apriorischen, sowohl die¬
jenigen, die von vornherein Wissenschaften von möglichen Reali¬
täten sind, wie reine Geometrie und Mechanik, als auch die Dis¬
ziplinen der Mathesis universalis, wo immer sie als Instrumente
der Naturerkenntnis fungieren). Es handelt sich hier aber nicht
15 um eine Verschiebung der Rechtsfrage aus einer Äquivokation,
der nur sachferne Verworrenheit und Gedankenlosigkeit unter¬
liegen kann. Sondern so eigentümlich ist das Verhältnis der beiden
Denkungsarten, daß gerade ein ernstes und tiefes Eindringen in
die transzendentale Erkenntnissphäre einen Weltsinn zu fordern
20 scheint, der dem natürlich Denkenden — bzw. in jeder Rückkehr
von der transzendentalen Einstellung zu der des natürlichen
Denkens —, zunächst wenigstens, ganz unannehmbar erscheinen
muß.
Dies zu zeigen, müssen wir die Art und Leistung transzenden-
25 taler Realitätserkenntnis im Kontrast zur natürlichen etwas
genauer auseinanderlegen, nämlich so weit, bis es sichtlich wird,
was für allgemeine Vorzeichnung für den Sinn der Welt schon im
Überschläge transzendentaler Problematik sich als notwendig zu
ergeben scheint.
30 Überlegen wir folgendes. Als natürlich Denkende hatten
wir die Welt, sie war als zweifellose Wirklichkeit gegeben. Wir er¬
fuhren, bedachten, theoretisierten sie in natürlicher Evidenz und
gewannen die nach Methoden und Ergebnissen bewunderungs¬
würdigen Wissenschaften. Nun aber, in der Umwendung der
35 natürlichen Denkungsart, haben wir statt der Welt schlechthin
nur das Bewußtsein von ,,der Welt”. Deutlicher ge¬
sprochen: wir haben dann nur unsere in absolut eigenständiger
Evidenz erkennbare transzendental-reine Subjektivität, die in
ihrem dahinströmenden Bewußtsein allen ihren Erkenntnissinn
272 ERGÄNZENDE TEXTE
in sich trägt, also auch „die Welt” in sich trägt, die uns und so
wie sie uns „im Sinne liegt”. Es ist die jeweils vermeinte, als die
und so wie sie vermeinte ist, die jeweils erkannte und erkennbare,
als wie sie eben erkannte und erkennbare ist. Nur so wird sie hier
5 zum Forschungsthema.
Und in der Tat ist es ein gewaltiges Thema, allseitig klarzulegen,
wie rein subjektives Leben, vereinzelt oder als Gemeinschaftsle¬
ben betrachtet, in der allgemeinen Wesensform der intentio, des
„Bewußtseins von” verlaufend, dazu befähigt wird, dank der ihm
10 eigenen Bewußtseinsweisen und Bewußtseinssynthesen, und rein
als sein sinnmäßiges Leistungsergebnis — „daseiende Welt”
bewußtzumachen. Welcher Stufenbau von Bewußtseinsstruktu¬
ren, von ineinander fundierten oder miteinander verflochtenen
Bewußtseinssynthesen mag hier in Reflexion und Wesensde-
15 skription nachweisbar sein? Und, korrelativ, welcher Stufenbau
sich darin konstituierender Sinngestalten, und zuhöchst die ihn
abschließende der raum-zeitlichen „Realitäten”, sich kon¬
stituierend als „jederzeit” und für „jedermann” bewährbare, als
„objektiv wahres Sein”? Wie mag aus Wesensgeset-
20 zen die Notwendigkeit eines solchen Baues für die universale
Leistung der kontinuierlichen Anschauung von einer Welt und
weiter für die einer Wissenschaft von dieser Welt begreiflich ge¬
macht werden? Wie sind diese großen Aufgaben vorerst in der
methodisch ersten Einschränkung auf die Sinngebungen des Ein-
25 zel-ego zu erfüllen, das als Subjekt der transzendentalen Forschung
fungiert, und dann in höherer Stufe im weitesten Rahmen der
Allgemeinschaft der mit ihm und miteinander in möglicher Kom¬
munikation stehenden Subjekte, also in Beziehung auf „Jeder¬
mann überhaupt” und die transzendentale Intersubjektivität?
30 In solcher transzendentalen Forschung ist also unter dem Ti¬
tel „die Welt” nur gegeben, was immer in der mannigfach wech¬
selnden und synthetisch verknüpften Intentionalität des Welt
erkennenden Bewußtseins sich als einheitlich Erkanntes konsti¬
tuiert bzw. sich in praktischer Freiheit, in frei erschließbaren
35 Bewußtseinshorizonten konstituieren kann — als Eines und
Selbiges im Wandel mannigfaltiger Bewußtseinsweisen und im¬
mer neu darin „hervortretender” Einzelobjekte. Ausschließlich
so darf es dabei aber genommen werden, wie es in der konse¬
quenten und rein reflexiven Betrachtungsart, die wir die trän-
ABHANDLUNGEN 273
szendentale nennen, im wirklichen oder — bei eidetischer Ein¬
stellung — im wesensmöglichen Bewußtsein vorfindlich ist.
Ziehen wir in dieser Hinsicht nun noch folgendes in betracht:
Erkennen im aktiven Sinn ist Streben, und als Handeln ein
5 Fortstreben von einem bloß abzielenden Meinen zum erzielen¬
den Selbsterschauen und nun Selbsthaben des Vermeinten. Im
Modus des abzielenden Bewußtseins ist das Bewußte Sinn im
Modus ,,bloßer Meinung’' („intendierender Sinn”1); im Modus
des erzielenden Bewußtseins ist das Bewußte Sinn im Modus
10 „leibhaftige Wirklichkeit”, Wirklichkeit „selbst” („erfüllender
Sinn” x). Nie aber ist, im gesamten Reiche der Realität, die Er¬
füllung eine vollkommene. Eine jede behaftet ihren erfühenden
Sinn zugleich mit Horizonten unerfüllter Meinung. Was schon in
der Weise des „leibhaftig” erfaßten Gegenstandes „selbst” be-
15 wußt ist (wie in der äußeren Wahrnehmung das Wahrgenomme¬
ne), hat doch immerzu mitgemeinte, aber nicht selbst erfaßte
„Seiten”. Und so bleibt es, wie weit erfüllende Erfahrung ihnen
nachgeht. Es bleibt immer Neues zu erfahren, da immer neue
Horizonte vorgreifender Intention sich eröffnen. Dieses Neue
20 betrifft aber nicht bloß die „Gegenstände”, die als festgehaltene
Erfahrungszielpunkte durch ein einheitlich zusammenhängendes
strebendes Erfahren hindurchgehen. Vielmehr treten auch neue
Gegenstände in ihre offenen Erfahrungshorizonte, affizieren das
Interesse und werden ev. zu neuen Erfahrungszielpunkten, sich
25 in neuen Erfahrungsreihen den ihnen zugehörigen erfüllenden
Sinn zueignend. Dabei organisieren sich zudem die alten und
neuen Einheiten zu Verbänden, zu Gegenständlichkeiten höherer
Stufe. Natürlich gilt ähnliches für das begrifflich urteilende und,
in höchster Stufe, wissenschaftlich einsichtige Erkennen. Kein
30 Wissen ist das letzte, jede erzielende Einsicht ist zugleich Ende
und Anfang; mit jeder eröffnen sich neue Problemhorizonte, die
ihrerseits wieder nach erfüllender Einsicht verlangen. Das Wis¬
sensreich ist unendlich, so wie korrelativ das Wissensgebiet, das
sich im Wissen nach seinem wahrhaften Sein bestimmt. Das
35 vollständige Gebiet objektiv-realen Tatsachen Wissens aber ist
die Welt, das Universum möglicher einstimmiger Erfahrung, das
l) So in der Redeweise der Log. Unters. II.
Husserliana VII
274 ERGÄNZENDE TEXTE
Gebiet aller realen Gebiete, dessen Wissenschaft somit alle ob¬
jektiven Tatsachen Wissenschaften synthetisch umspannt1).
Danach können wir sagen: In rein transzendentaler Betrach¬
tung ist d i e Welt, so wie sie an sich selbst und in logischer
5 Wahrheit ist, zuletzt nur eine im Unendlichen
liegende Idee, die ihren Zielsinn aus der Aktualität
des Bewußtseinslebens schöpft.
Bringen wir uns diesen wichtigen Satz zu vollkommener
Einsicht.
10 In der eigenen Sinngebung der reinen Subjektivität bzw. ihres
Bewußtseinslebens entspringt aller und jeder Sinn, und in ihr
verbleibt er auch immerfort, wenn auch in der Verwandlung zu
einem habituellen, aber immer wieder erweckbaren Wissen. Eben¬
so auch jener universale objektive Wahrheitssinn ,,Welt”, der
15 seinen Ursprung hat in der Aktualität des zu einem universalen
Zusammenhang der Einstimmigkeit des transzendentalen, ein¬
zelsubjektiv und intersubjektiv sich organisierenden Erkennt¬
nislebens der objektiven Erfahrung und theoretischen Einsicht.
Dieser Einheitssinn ist zwar immerfort in Wandlung begriffen,
20 aber nur derart, wie sinngemäß ein und dasselbe in mannigfachen
Bestimmungsgestalten sich bietet. Immerfort erscheint dasselbe
gegenständliche Universum, aber in immer neuen Gegebenheits¬
weisen, mit immer neuen dabei zu „eigentlicher” Erfahrung und
Erkenntnis kommenden Gegenständen, Eigenschaften, Relati-
25 onen. Immerzu hat dieser Einheitssinn zugleich die Gestalt eines
intendierten und die eines erfüllenden Sinnes. Der kontinuier¬
liche Fortgang der Erkenntnis ist wie für die einzelnen Gegen¬
stände so für das Universum ein in mannigfaltigen Sonderpro¬
zessen verlaufender Gesamtprozeß der Erfüllung, die den alle
30 reale Erfahrung wesensmäßig begleitenden Horizont der Uner¬
fahrenheit, der unbestimmten aber bestimmbaren Mitmeinung,
in fortschreitender Vollkommenheit zur Selbstdarstellung und
ev. selbsterfassender Kenntnisnahme bringt. Sie ist Erfüllung,
die in einer übergreifenden Einstimmigkeit und in fortschreiten-
x) Korrelativ ist natürlich das vollständige Gebiet eidetischen Wissens für Reales
überhaupt bzw. das Universum möglicher Realitäten und Welten überhaupt; die
universale Wesenswissenschaft vom Realen überhaupt umspannt alle apriorischen
Wissenschaften, die für Sonderregionen oder formale Strukturen möglicher Realität
(z.B. „reine” Naturwissenschaft, reine Geometrie, reine Zeitlehre, reine Mechanik)
ausgebildet worden sind oder noch auszubilden wären.
ABHANDLUNGEN 275
der Gesamtkraft der Erfahrungsbewährung alle gelegentlichen
Enttäuschungen in eine höhere Harmonie auflöst. Enthüllter
Schein besagt zugleich und immer Wiederherstellung eines an¬
statt des Scheins sich der allgemeinen Einstimmigkeit einordnen-
5 den wahren Seins.
Erfahrung und Erfahrungsprozesse sind aber wesensmäßig
charakterisiert als Prozesse im Rahmen des praktischen „Ich
kann” (und, in weiterer Folge, „jedermann kann”), d.i. als ichlich
dirigierte oder dirigierbare Prozesse: die zur allgemeinen Weise
10 realer Gegebenheit gehörigen Leerhorizonte sind praktische Hori¬
zonte, im mitkonstituierten, also beständig vertrauten System
der Möglichkeiten praktischen Eingreifens systematisch zu erfül¬
len. Die Erfüllbarkeit, im Sinn der praktischen Möglichkeit, die
jeweilige Wahrnehmung als erfahrende Kenntnisnahme in <die>
15 Gestalt erfüllender Näherbestimmung des noch Unbekannten von
dem schon wahrgenommenen Realen <her überzuführen) — das
aber wesensmäßig nie absolut Unbekanntes, sondern in seinem
formalen Typus, z.B. als Raum-dingliches, vorgezeichnet ist —
führt beständig mit sich die empirisch-praktische Evidenz: Ich
20 kann, wie immer ich im System meiner möglichen Vollzugswege
praktisch eingreifen möge (z.B. im wahrnehmungsmäßigen „ich
trete näher, ich sehe und taste ab”), mein Wahrnehmen als Wahr¬
nehmen desselben, in seiner einstimmig fortschreitenden und
zugleich es bestätigenden Kenntnisnahme, fortführen. Immer
25 wieder wird dieses Ding als Seiendes und als wie es selbst ist sich
heraussteilen; und ebenso im möglichen freitätigen Übergang zu
den anderen Dingen, die im sozusagen unbestimmt-bestimmten
offenen Horizont liegen, also innerhalb der im allumfassenden
Horizontbewußtsein beständig mitgesetzten und bekannten
30 Region der Welt. Untrennbar davon ist, wie leicht zu sehen, die
zu jeder Vergangenheitsphase meines Lebens, in die ich mich
frei zurückzuversetzen vermag, gehörige Evidenz: ich hätte
meine vergangene Erfahrung in freier Realisierung meiner dama¬
ligen praktischen Möglichkeiten freitätig abwandeln, die ver-
35 gangene Welt, wie sie war, allseitig kennenlernen können, sie, die
in der empirischen Evidenz des bis zur gegenwärtigen Erfahrung
fortlaufenden Prozesses der Einstimmigkeit dieselbe war, die
noch ist, nur geändert im objektiv-zeitlichen Wandel ihrer realen
Zustände.
276 ERGÄNZENDE TEXTE
Immerzu bezeugt sich im kontinuierlich gelingenden
Gesamtprozeß der erfüllenden Realisierung des immerfort noch
intendierenden Weltsinnes — und nicht nur im einzelsubjektiven,
sondern im intersubjektiv vergemeinschafteten Prozeß — zu-
5 gleich seine künftige und ins Unendliche fortzuführende Realisier¬
barkeit, und zwar in der Form von Erkenntnisprozessen von
steigender Vollkommenheit. Eben damit bezeugt sich aber das
wirkliche Sein der Welt selbst, nämlich als im Unendlichen lie¬
gendes Telos dieses (im Bewußtsein des ,,Ich könnte”, „jeder-
10 mann könnte” bzw. ,.hätte können”) allzeit freitätig fortzufüh¬
renden Prozesses immer vollkommenerer Realisierung. In rein
transzendentaler Betrachtung bietet sich also „die Welt
selbst” nur dar als ein in der aktuellen Subjektivität bzw.
Intersubjektivität sich herausstellender eigentümlicher Wahr-
15 heitssinn höherer Stufe, nämlich als eine in der immanenten Ge¬
stalt begründeter Geltung sich konstituierende Idee. Ihr Äqui¬
valent ist die Idee der gedachten Allheit der ins Unendliche er¬
kennbaren Wahrheiten, bezogen auf alle Gegenstände wirklicher
und möglicher Erfahrung. Sie zeichnet allen Erkenntnissubjekten
20 für diese hinsichtlich der Gesamtheit der in ihnen je möglichen
Erfahrungen und Erfahrungstheoretisierungen ein universales
Gesetz vor.
Dies wird genügen, um in rohen Umrissen zu führender Be¬
gründungen dem vorangestellten Satz Klarheit und zugleich die
25 Evidenz einer kräftig motivierten Antizipation zu geben. Jeden¬
falls kann das Gesagte dazu dienen, der Motivation, die schon in
den ersten, höchst rohen und unklaren Versuchen transzenden¬
taler Weltinterpretation geweckt war, ein stärkeres Relief zu
geben und es verständlich zu machen, warum große Philosophen,
30 deren Genialität sich gerade darin bekundet, daß ihre vorgreifende
Evidenz soviel weiter reichte, als sie in explizierenden Einzelan¬
schauungen sich klarlegen und in ursprünglich geschöpften Be¬
griffen auch nur in ersten theoretischen Anschlägen <sich> präzi¬
sieren konnte, sich zu einer transzendental-subjektiven Weltbe-
35 trachtung gedrängt sahen, wo doch auf der Hand liegende Ein¬
wände natürlicher Denkungsart ihnen entgegentraten, darüber
sie, ohne sie wirklich erledigen zu können, hinwegschritten.
Doch hier bedarf es näherer Ausführung.
ABHANDLUNGEN 277
V. <Die Rechtfertigung des transzendentalen
„Idealismus”: seine systematische wissenschaftliche
Durchführung. >
Haben wir uns im allgemeinen Überschläge klargemacht, daß
und wie „die Welt” sich als geltender Sinn im transzendentalen
Zusammenhang, also rein in der Sinngebung möglicher äußerer
Erfahrung und Erfahrungswissenschaft, konstituiert, so will diese
5 neuartige Welterkenntnis uns keineswegs befriedigen; denn sie
scheint zu Konsequenzen zu drängen, welche mit unangreifbaren
Wahrheiten der natürlichen, positiven Welterkenntnis in schar¬
fen Widerspruch treten.
Die Welt, von der wir reden und je reden können, von der wir
10 wissen und je wissen können, ist doch keine andere als eben die¬
jenige, die wir in der Immanenz unseres eigenen, einzelnen und
vergemeinschafteten Bewußtseinslebens in den angedeuteten Man¬
nigfaltigkeiten sich vereinheitlichender Erkenntnisgestaltungen
konstituieren; die wir als Erkennende immerzu „haben” und
15 immerzu als Erkenntnisziel erstreben; und zuletzt unsere bloße
„Idee”. Ist es nicht gerade die notwendige Funktion der transzen¬
dentalen Einstellung, durch die Konsequenz rein subjektiver Be¬
trachtungsart dies sichtlich- und ganz evidentzumachen, daß im
Gesamtbereich möglichen Erkennens eben nichts anderes vor-
20 kommen kann als die sich in ihm aus eigener Leistung konstituie¬
rende Erkenntnisgestalt? Also nirgendwo sonst kann die Welt,
und alle mögliche Welt, „Existenz” haben als „in” den erkennen¬
den Subjekten, als „in” dem für sie selbst evidenten Faktum ihres
Bewußtseinslebens und in ihren wesensgesetzlichen „Vermögen”.
25 Eben dagegen wird der natürlich Denkende seinen entschie¬
denen Einspruch erheben. Ganz offenkundig sei doch zu unter¬
scheiden zwischen der Welt selbst, die an und für sich existiert,
und den jeweiligen subjektiven Erkenntnisgestalten, mittels
deren sich die Subjekte auf die Welt nur beziehen. Anzuneh-
30 men, daß die Welt als bloßes Sinngebilde, als Idee in uns sei, wo
wir selbst doch, was kein Vernünftiger je bezweifeln kann, bloße
Bestandstücke der Welt sind, sei ein barer Widersinn.
Der Transzendentalphilosoph würde hier allerdings um eine
Antwort nicht verlegen sei. Er würde zunächst darauf hinwei-
35 sen, daß, nicht anders wie jeder sinnvolle Unterschied, so auch
278 ERGÄNZENDE TEXTE
jener allvertraute zwischen Objekten in ihrem An-und-für-sich-
Sein und jeweils erkannten Objekten seinen ursprünglichen und
rechtmäßigen Sinn aus dem erkennenden Bewußtsein schöpfe.
Diesem gemäß aber sei evidenterweise das erkenntnismäßig ver-
5 wirklichte reale Objekt kein anderes als das noch unerkannte, ja
noch gar nicht gedachte — das ja doch von vornherein als zum
offenen Horizont unserer möglichen Erkenntnis gehörig gedacht
sei. Nur die Spannung zwischen unvollkommener Erkenntnis, mit
ihren vielen Modis der leeren Intention und der erfüllenden An-
10 schauung, und der ideal vollkommenen Erkenntnis bleibe übrig.
Sei aber eine im Unendlichen liegende Idee um ihrer Idealität wil¬
len weniger Erkenntnisgestalt, weniger im Bewußtseinshorizont
einer jeden Subjektivität selbst gelegen, die sich ihr, als ihrem
Erkenntnisziel, annähert und in allen ihren echten Erkenntnissen
15 ein Bruchstück oder eine unreife Vorstufe ihres unendlichen Sin¬
nes verwirklicht? — Was ferner jenen Widersinn anbelangt, der
aus der Doppelstellung der Erkennenden als Subjekte für die
Welt und als Objekte in der Welt gezogen wird, so sei er sehr
wohl auflösbar. Nicht die reinen Subjekte, in deren Bewußtseins-
20 leben alle Objekte Erkenntniszielpunkte intersubjektiver Erfah¬
rung und erfahrungslogischer Erkenntnis sind, seien Objekte in
der Welt und als das selbst wieder „Phänomene”, sondern die
psychophysischen Subjekte, die Menschen und ihr menschliches
„Seelenleben”. Schon das ego, das für Descartes im Sta-
25 dium des Ansatzes der möglichen Nichtexistenz der objektiven
Welt als zweifelloses Subjekt zweifellos dahinströmender cogita-
tiones übrig blieb, war nicht das psychophysische reale Ich dieser
Menschen.
Solche Antworten haben sicherlich ihren Wert. Aber zur wirk-
30 liehen Auflösung der großen Schwierigkeiten, in die der Wechsel
der Einstellungen und Evidenzen, der natürlichen und transzen¬
dentalen, verwickelt, reichen sie nicht hin. Eine verständnisvolle
Klärung des Sinnes einer Welt, die nur aus eigener Bewußtseins¬
leistung für die erkennende Subjektivität seiende und soseiende
35 ist, kann nimmermehr aus bloß argumentierenden Überlegungen
erwachsen, die sich in sachfernen Allgemeinheiten bewegen, statt
durch das konkrete und systematische Studium der in Reinheit
erfaßten und zunächst konkret erschauten transzendentalen Sub¬
jektivität und der höchst mannigfaltigen Bewußtseinsarten und
ABHANDLUNGEN 279
Bewußtseinsleistungen die hier geforderte wirkliche Einsicht
herzustellen. In der Tat, wirkliche Einsicht muß erstrebt werden
in die Weisen, wie objektiver Sinn jeder Art und wie objek¬
tive Wahrheit im reinen Bewußtsein entspringen; wie seinen
5 Wesensartungen und -Strukturen nach das jeweilig sinnkonsti¬
tuierende Bewußtsein sozusagen aussieht; und korrelativ, wie der
darin wirklich entspringende Sinn selbst in solcher Ursprungs¬
echtheit aussieht. Die Lösung dieser Aufgabe, die im Untergründe
schon die Lock e’sche Ursprungslehre bewegt — in ihr aber
10 durch verhängnisvolle Unterschiebungen sich in sinnverkehrter
Gestalt auswirkt —, mag nun ihrerseits in schwierigste Unter¬
suchungen verwickeln. Indessen, Schwierigkeiten sind dazu da,
überwunden zu werden. Sie werden es aber nicht, wenn man die
Mühe scheut, sich durch wirkliche Übung mit der Eigenart tran-
15 szendentaler Betrachtungsweise vertrautzumachen, und somit
nie dahin kommt, die ungeheuren Aufgaben auch nur zu verste¬
hen, die der Philosophie mit der Entdeckung der transzendenta¬
len als einer absolut eigenständigen und gegenüber allen objekti¬
ven Voraussetzungen absolut independenten Sphäre erwachsen
20 sind.
Schon die ersten Philosophen, die, Descartes folgend,
aber in radikalerer Konsequenz, die transzendentale Betrach¬
tungsart übten und (obschon noch unvollkommen und in allzu¬
großen Allgemeinheiten) über die immanenten Erkenntnisgestal-
25 ten reflektierten — Leibniz, Berkeley und H u m e -—
erkannten, daß sich hiermit neuartige Einsichten von unerhörter
Tragweite eröffneten, ja daß eine Umgestaltung der gesamten
von den Philosophen der Vergangenheit begründeten Weltan¬
schauung gefordert erschien. So tritt in sehr verschiedenen und
30 sehr verschieden zu bewertenden Gestalten der ,,Idealismus”
in die historische Erscheinung und erhebt die unablässige For¬
derung nach einer wissenschaftlichen Durchführung. Indessen,
von den allgemeinen Antizipationen einer transzendentalen Welt¬
anschauung, als einer neuartigen Gestalt metaphysischer Welt-
35 interpretation, war der Weg sehr weit zu einer Wissen¬
schaft, mit konkret ausgeformten Arbeitsproblemen und
wirklich durchführenden und systematisch verbundenen Theo¬
rien. Man mußte allererst lernen, in der neuen Einstellung zu
sehen, das eigentümliche Wesen der Intentionalität und ihrer
280 ERGÄNZENDE TEXTE
Leistung zu erfassen, die mannigfachen Sondergestalten des rei¬
nen Bewußtseins und seiner Sinngebilde zu unterscheiden. Erst
dann konnten die vagen Probleme mittels ursprünglich geschöpf¬
ter transzendentaler Begriffe exaktgemacht und transzendentale
5 Methode wie Theorie möglich werden.
VI. <Kants Entwurf eines ersten Systems
WISSENSCHAFTLICHER TRANSZENDENTALPHILOSOPHIE.)
Hier nun liegt der festeste Grund für den Ruhm Imma¬
nuel Kants, daß er, ganz erfüllt von dem Willen zu stren¬
ger Wissenschaft, das einmal erschaute Leitproblem — das Pro¬
blem des transzendentalen Sinnes einer erkennbaren Objektivität
10 und einer in subjektiven Einsichten Erkenntnisgeltung bean¬
spruchenden Wissenschaft — zu seiner Lebensaufgabe machte
und daß er, in Jahrzehnten hingehendster Forschung, ein erstes
System einer wissenschaftlichen Transzendentalphilosophie ent¬
warf. Als echten Wissenschaftler leiten ihn von vornherein be-
15 stimmte Einzelprobleme, die ihm aus der philosophischen Be¬
trachtung der Mathematik und mathematischen Naturwissen¬
schaft und der kritischen Erkenntnis der Unzulänglichkeit der
zeitgenössischen Ontologie zugewachsen waren; Probleme, die
sich bei tieferem Eindringen in ihrem transzendentalen Sinn
20 enthüllten und ihn zur selbständigen Entdeckung einer neuar¬
tigen „Metaphysik”, der transzendentalen oder „kritizistischen”
gegenüber der „dogmatistischen”, führten. Die Transzendental¬
philosophie nimmt bei seinem Entwicklungsgang ein besonderes
theoretisches Gepräge dadurch an, daß sein vornehmliches Augen-
25 merk auf die Wissenschaften und die nach ihren Haupttypen
sich gliedernden Probleme der transzendentalen „Möglichkeit”
gerichtet bleibt. Als der erste gerät er darauf, Wissenschaft nicht
bloß objektiv, als Theorien objektiver Wirklichkeiten und Mög¬
lichkeiten zu betrachten, sondern, unter konsequentem tran-
30 szendentalen Aspekt, als subjektive Erkenntnisleistungen im
Bewußtsein überhaupt. Völlig neu ist die Art, wie er die Idee
einer formalen Ontologie der Natur (natura formaliter specta-
ta) entwirft und ihre Grundbegriffe und Grundsätze transzenden¬
tal und systematisch einheitlich zu deduzieren unternimmt. Dies
35 geschieht im Sinne der originellen regressiven Fragestellung: un-
ABHANDLUNGEN 281
ter welchen Begriffs- und Gesetzesformen muß eine objektive
Welt (eine Natur) überhaupt stehen, die für alle Erkennenden in
der Synthese möglicher Erfahrung soll als eine und dieselbe
erfahrbar sein können und dann weiter in nachfolgenden theore-
5 tischen Erkenntnissen soll erkennbar sein können; und zwar in
Wahrheiten und Wissenschaften, die für jedermann in notwen¬
diger Gültigkeit zu erzielen sind, also nach Methoden, die, in sub¬
jektiven Erkenntnisprozessen verlaufend, doch ein notwendig
Allgemeingültiges erzielen und verbürgen müssen — ?
10 Vieleicht wird die Zukunft sich darin einigen, daß die tief¬
sinnigen Dunkelheiten der Theorien Kants, die doch als Anzei¬
chen einer nicht letztwissenschaftlichen Begründung gelten kön¬
nen, ihren bestimmten Grund darin haben, daß Kant, von der
W o 1 f f 'sehen Ontologie her gekommen, auch in der transzen-
15 dentalen Einstellung ontologisch interessiert blieb. Nämlich fast
ausschließlich gilt, wie seine eigentümliche Problematik, so sein
Studium den Sinn- bzw. Wahrheitsgestalten und den ihnen in der
objektiven Geltung notwendig zukommenden Sinnesmomenten.
Andererseits hält er aber die systematische Durchführung eines
20 korrelativen konkret anschaulichen Studiums der leistenden Sub¬
jektivität und ihrer Bewußtseinsfunktionen, ihrer passiven und
aktiven Bewußtseinssynthesen, in denen jederlei objektive Sinn
und objektives Recht sich gestalten, für die Erledigung seiner
Problematik für entbehrlich. Sosehr er erste Tiefblicke in das
25 Apriori des sinngebenden Bewußtseinslebens und der Zusammen¬
hänge von Sinngebung und Sinn selbst — insbesondere unter dem
Titel ,,subjektive Deduktion” (in der 1. Auflage der Kritik der
reinen Vernunft) — getan hat, so erkennt er doch nicht, daß eine
Transzendentalphilosophie sich nicht so verengen läßt, wie er es
30 glaubte tun zu können, und daß eine radikal klare, also radikale
wissenschaftliche Durchführung einer solchen Philosophie nur
möglich ist, wenn das konkret volle Bewußtseinsleben und
-leisten nach allen seinen korrelativen Seiten und ganz diffe¬
renziert dem Studium unterworfen wird — und das im Rahmen
35 der einheitlichen, konkret anschaulichen transzendentalen Sub¬
jektivität. Eine transzendentale Logik ist nur in einer transzen¬
dentalen Noetik möglich; transzendentale Theorien der objekti¬
ven Sinngestalten sind, wenn vollzureichende und darum absolute
Erkenntnis gewonnen werden soll, untrennbar von der transzen-
282 ERGÄNZENDE TEXTE
dentalen Wesensforschung des den objektiven Sinn gestaltenden
Lebens. Sie führen letztlich zurück auf ein universalstes Wesens¬
studium des Bewußtseins überhaupt — auf eine „transzenden¬
tale Phänomenologie”. Eben das zwingt zu einer Erweiterung
5 des Kant eigentümlichen Begriffes „transzendental”, die un¬
serer Darstellung von vornherein zugrundelag.
Doch wie man auch zu Kants eigener Begrenzung der Transzen¬
dentalphilosophie stehen mag, er ist, wie ich schon sagte, der erste,
der sie in die Gestalt wirklich ausführender Theorie bringt. Ins-
10 besondere ist er der erste, der, in ungeheuren Entwürfen, den
Versuch unternimmt, der bis zum vollen Gehngen immer wieder
gemacht werden muß, zunächst die Natur, die der Anschauung
und die der mathematischen Naturwissenschaft, als in der Inner¬
lichkeit transzendentaler Subjektivität sich konstituierendes
15 Gebilde theoretisch verständlich zu machen. Dasselbe muß aber
für alle Reiche der natürlich-naiv erfahrenen Welt und somit auch
für alle Wissenschaften geleistet werden. Hier müssen, in
unserer Zeit ein lebhaft empfundenes Desiderat, als „Gegenstän¬
de möglicher Erfahrung” auch die mannigfachen menschlichen
20 Sozialitäten und die in ihrem Gemeinschaftsleben erwachsenden
Kulturgebilde, also auch die auf sie bezogenen Geisteswissen-
schaften in die transzendentale Betrachtung einbezogen und
Kants „naturwissenschaftliches Vorurteil” überwunden werden.
VII. <Die geschichtliche Entwicklung der
Transzendentalphilosophie und ihre praktische
Bedeutung.)
Dürfte ich, über die Allgemeinheit der Idee einer Transzen-
25 dentalphilosophie weiter hinausgreifend, noch in die besonderen
Gehalte der Theorien Kants eingehen, so wäre natürlich zu seinem
Ruhm noch viel zu sagen. Es wäre auf die mannigfachen großen
Einzelentdeckungen hinzuweisen, auf die Kant fast überall in
seinen Theoretisierungen gestoßen ist; freilich Entdeckungen,
30 deren jede die Inschrift trägt; „Erwirb mich, um mich zu be¬
sitzen!” Es ging mit der Transzendentalphilosophie ähnlich wie
etwa mit der Infinitesimalrechnung: ursprünglich durch Theorie
geschaffen, bedurfte es der Arbeit von Jahrhunderten, um die
wahre Theorie zu schaffen, in der sie selbst die echte Gestalt
ABHANDLUNGEN 283
und unangreifbare Existenz allererst gewinnen konnte. In unse¬
rem Falle, wo es einer radikalen Umwendung der ganzen natür¬
lichen Denkungsart bedurfte und ein völlig neuartiges, in sich
absolut geschlossenes Erkenntnisreich sich erschloß, in dem nie
5 Geschautes zu schauen, nie Gedachtes zu denken war, da mußten
die Unvollkommenheiten der ersten wissenschaftlichen Bemäch¬
tigung noch viel größere sein. In besonderem Maße waren daher
die sich zuerst darbietenden Probleme, Methoden, Theorien mit
ungeklärten Voraussetzungen behaftet, die eine voll befriedigen-
10 de Evidenz nicht aufkommen ließen. Sehr viel schwieriger mußte
danach die der Zukunft gestellte Aufgabe sein, zu den vorausset¬
zungslosen und für sich evidenten Anfängen durchzudringen, die
sachgemäße Methode auszubilden, die wirklich radikale Proble¬
matik zu entwerfen und schließlich eine endgültig zu verantwor-
15 tende Theorie systematisch aufzubauen.
So ist die Tatsache wohl begreiflich, daß wir bei der Transzen¬
dentalphilosophie bisher einen derart kontinuierlichen Aufstieg
vermissen, wie ihn die moderne Mathematik von Anfang an
zeigt; ja daß es hier so langer und immer noch nicht abgeschlosse-
20 ner Kämpfe bedurfte, um ihr eigentümliches Recht und Vorrecht
gegenüber den positiven Wissenschaften durchzufechten — aber
auch, in diesen Kämpfen den letztzuverantwortenden reinen
Sinn einer Transzendentalphilosophie und transzendentalen
Methode allererst zu erarbeiten. Nicht nur, daß tiefst eingewur-
25 zelte Gewohnheiten natürlicher Erkenntnisweise gebrochen wer¬
den mußten; es fehlte hier auch die auf der anderen Seite nie ver¬
sagende Werbekraft technischer Erfolge. Transzendentalphilo¬
sophie, eine sehr unnütze Kunst, hilft nicht den Herren und Mei¬
stern dieser Welt, den Politikern, Ingenieuren, Industriellen. Aber
30 vielleicht ist es kein Tadel, daß sie uns theoretisch von der Verab¬
solutierung dieser Welt erlöst und uns die einzig mögliche wissen¬
schaftliche Eingangspforte eröffnet in die im höheren Sinn allein
wahre Welt, die Welt des absoluten Geistes. Und vielleicht ist
auch sie die theoretische Funktion einer Praxis, und gerade der-
35 jenigen, in welcher die höchsten und letzten Interessen der
Menschheit sich notwendig aus wirken müssen.
284 ERGÄNZENDE TEXTE
VIII. <Der Sinn einer Nachfolge Kants.)
In dieser Art verstehen wir also die unvergängliche Bedeutung
der wissenschaftlichen Lebensarbeit Kants, und damit eröffnet
sich uns die ganze Größe der Aufgabe, zu der wir und alle künfti¬
gen Generationen berufen sind. Allem voran, und zunächst ohne
5 Frage nach den besonderen Thesen und Theorien Kants, welche
den Charakter der ihm eigentümlichen philosophischen Weltauf¬
fassung so eindrucksvoll bestimmen, müssen wir die in seiner
Philosophie zu erster, aber nur vorläufiger theoretischer Existenz
gekommene Idee einer Transzendentalphilosophie als den ewigen
10 Sinn erkennen, welcher der historischen Entwicklung der Philo¬
sophie gleichsam eingeboren war und von ihrer weiteren Entwick¬
lung für immer untrennbar bleibt. Jedenfalls mit Descartes’
Meditationes hat sie ihr erstes wirkliches Dasein, als I d e e in
der Keimgestalt, und so wird sie alsbald zum bewegen-
15 den Entwicklungssinn der spezifisch neuzeitlichen Philosophie,
zu ihrer lebendig forttreibenden und sich auswirkenden Inten¬
tion. War das ego cogito als die reine, in sich abgeschlossene Er¬
kenntnissubjektivität einmal gesehen, und zwar gesehen als der
universale Erkenntnisgrund für alles je zu Erkennende, war sie
20 danach als der Urquell philosophischer Methode erkannt und
literarisch zur Geltung gebracht, so war für die philosophischen
Denker der Folgezeit ein intentionaler Horizont eröffnet, der
unbedingt durchschritten werden mußte, es war die Idee einer
Philosophie geweckt, die unbedingt zu erfüllender Klarheit und
25 Verwirklichung gebracht werden mußte.
Mochte es zu Anfang noch scheinen, daß hier alles auf eine nur
in der Methode neue und nur mit tiefer gesicherten theoretischen
Gehalten auszustattende Philosophie hinauslaufe, die selbstver¬
ständlich den bisher einzig denkbaren metaphysischen Gesamt-
30 stil innehalten würde, so mußte sich doch in der Auswirkung des
transzendentalen Motivs der Methode ihr echter, revoluti¬
onärer Sinn enthüllen. Schließlich mußte eine wirkliche
Transzendentalphilosophie zu werktätiger wissenschaftlicher Aus¬
führung kommen, welche die grundwesentliche Neuartigkeit der
35 in dieser Entwicklung geforderten Philosophie zur Evidenz
brachte. Es mußte sichtlich werden, daß, was mit ihr zur Wirk¬
lichkeit geworden war, weil aus den absolut letzten Quellen aller
ABHANDLUNGEN 285
Methode geschöpft, mit einer früher unerhörten Rechtskraft den
Anspruch erheben dürfe, mindestens nach seinem völlig neuarti¬
gen Wesenstypus die allein mögliche Philosophie darzustellen
oder, besser gesagt, hiermit eine völlig neuartige Philosophie zur
5 Urstiftung zu bringen.
In dieser Art bedeutet Kants Vernunftkritik die in der histo¬
risch werdenden Philosophie der Neuzeit vorangelegte und end¬
lich Tatsache gewordene philosophische Revolution. Mit ihrem
Auftreten offenbart sich der Philosophie selbst die ihr als wissen-
10 schaftlich wahrer Philosophie wesensnotwendige methodische
Gestalt, also die echte Zweckidee, der alle weiteren Entwicklun¬
gen in bewußt zwecktätiger Verwirklichung zustreben müssen.
Hier war eine Aufgabe als die erste und wichtigste ausgezeich¬
net: nämlich diesen neuen, transzendentalen Sinn der Philo-
15 sophie- durch radikale Erforschung der transzendentalen Subjek¬
tivität, als des Ursprungsfeldes aller Methode, zu vollkommener
Klarheit und Reinheit zu bringen. Diesem rein gestalteten Sinn
mußte dann die Bedeutung einer rechtmäßig und bewußt leiten¬
den Zweckidee gegeben werden, die, als enthüllte Entelechie, die
20 rationalste und unvergleichlich folgenreichste Gestalt philo¬
sophischer Entwicklungen ermöglichte: die in der Gestalt ech¬
tester, im letzten und strengsten Sinn sich verantwortender Wis¬
senschaft.
Denn es ist der Philosophie wesentlich, daß sie, ideal gespro-
25 chen, wahre und echte Existenz erst gewinnt in der höchsten und
bewußtesten Klarheit über die universale methodische System¬
gestalt, der sie, als ihrer leitenden formalen Zweckidee, Genüge
tun, die sie durch aktuelle Theorien erfüllen muß. M.a.W. sie
i s t im wahren Sinne erst, sofern sie in selbsttätiger Besinnung
30 und Einsicht sich diese ihre vernünftige Zweckidee eingestaltet
hat und, in beständiger und bewußter Selbstbestimmung gemäß
dieser Idee, ihrem Werden die Form einer rationalen Entwick¬
lung, als einer auf ihren echten Zwecksinn werktätig hingerich-
teten, vorgeschrieben hat.
35 Nach all dem gilt uns Kants Revolutionierung der Philosophie
nicht als bloß historisches Faktum, sondern als die historisch
erste (und noch unvollkommene) Verwirklichung einer im Wesens¬
sinn der Philosophie selbst vorgezeichneten Entwicklungswen¬
dung von der natürlichen zur transzendentalen Erkenntnis-
286 ERGÄNZENDE TEXTE
methode, von der positiven oder dogmatischen zur transzenden¬
talen Welterkenntnis und Weltwissenschaft; der Wendung, wie
wir auch sagen können, von der Stufe naiver Positivität der Welt¬
erkenntnis zu einer Welterkenntnis aus dem letzten Selbstbe-
5 wußtsein der Erkenntnis — aber nicht in leeren Allgemeinheiten
— über ihr unter den Titeln Vernunft, Wahrheit, Wissenschaft
leistendes Tun.
Zugleich entspringt uns aus den gewonnenen Einsichten der
richtige Sinn, in dem wir die Nachfolge Kants verstehen und
10 fordern müssen: Nicht sein System, wie es ist, zu übernehmen
oder im einzelnen zu verbessern, ist das, was vor allem nottut;
sondern den letzten Sinn seiner Revolution zu verstehen — und
ihn besser zu verstehen als es er selbst, der Bahnbrecher, doch
nicht Vollender, vermocht hat. Dieses Verständnis aber muß sich
15 grund Wissenschaft lieh ausprägen; eine im strengsten Sinne wis¬
senschaftliche Philosophie bedarf, als ihrem Wesen nach voraus¬
setzungslos beginnend, zunächst sozusagen ihres aus dem ur¬
sprünglichen Bewußtsein zu schöpfenden ABC, und mittelst
dieses muß sie ihre endgültige theoretische Werdensgestalt ge-
20 winnen, die sie über das Spiel philosophischer Systeme hinaus¬
hebt. Das Erbgut Kants soll daher nicht preisgegeben, sondern
durch Klärung und Auswertung nach seinen absoluten Gehalten
verewigt werden. Ob dabei seine systematische Weltanschauung
auch nur ihrem weltanschaulichen Stil nach erhalten bleibt, ist
25 demgegenüber eine völlig sekundäre Frage.
An ernstlichen Bemühungen solchen Geistes fehlt es, zumal in
den letzten Jahrzehnten, nicht. Sie haben jedenfalls dafür ge¬
sorgt, daß die Gefahr eines völligen Versinkens der transzenden¬
talen Idee — vermöge der sinnverkehrenden Mißverständnisse der
30 innersten Motive Kants wie schon seiner transzendentalphiloso¬
phischen Vorläufer — als überwunden gelten kann — mag auch
die philosophische Weltliteratur unserer Zeit, als Massenerschei¬
nung betrachtet, noch ein anderes Gesamtbild ergeben.
Seit Jahrzehnten ist im besonderen unser Freiburg eine Stätte,
35 an der die Kant'sehen Intentionen ihre philosophische Auswir¬
kung suchen, wenn auch in recht verschiedenen Formen. Sosehr
die gegenwärtig hier vertretene phänomenologische Richtung
in der Weitenspannung ihrer Problematik und ihrer Formulie¬
rung, ja selbst im Prinzipiellen der Methode eigene Wege geht
ABHANDLUNGEN 287
und wie wenig sie ursprünglich von Kant und seinen Schulen
unmittelbar bestimmt war — auch sie muß, bei aller Reaktivie¬
rung älterer und ältester und Gestaltung völlig neuer Denkmotive
anerkennen, daß sie ein Versuch ist, den tiefsten Sinn Kant’schen
5 Philosophierens wahrzumachen; so zum mindesten, wenn die
Deutung, die wir in dieser Stunde gemeinsam durchdacht haben,
ihr Recht hat.
Mit Kant völlig einig sehen wir uns jedenfalls darin, daß wir
die Transzendentalphilosophie nicht im Geiste einer sich zeit-
10 liehen Bedürfnissen anpassenden Weltanschauung sondern in dem
einer strengen, der Idee der Endgültigkeit zustrebenden Wissen¬
schaft zu verwirklichen bemüht sind.
Und so dürfen wir wohl hoffen, daß Kants Genius unser be¬
scheidenes Dankopfer freundlich entgegennehmen werde.
PROBLEM EINER NICHT HISTORISCHEN
SONDERN IDEALEN GENESIS DER IDEE
STRENGER WISSENSCHAFT *)
Überlegung über eine natürliche Motivation, die vom erwachenden
theoretischen Interesse (Wissensinteresse) zum universalen Weltinter¬
esse wird, zum Interesse für die rationalen strukturellen Allge¬
meinheiten der Welt; wie ferner die vage natürliche Erkenntnis, mit
ihren vagen Allgemeinheiten, das Erste ist, wie dann aber die Idee der
unbedingten Allgemeinheit geweckt wird, und leitend die neue Idee
der Wahrheit, als einer über alle zufällige Normalität (erhobenen')
und von aller Okkasionalität (Relativität) befreiten Wahrheit. —
,,Rückkehr zum natürlichen Weltbegriff” — was ist das? Ein Histo¬
risches? Usw.
Was könnte man für einen formalen Urbegriff der Philosophie
voranstellen ?
1. ) Erkenntnis aus rein theoretischem Interesse — Erkenntnis
überhaupt? Doch nicht ohne weiteres jede beliebige singuläre
5 Erkenntnis, wie daß dieser Baum eine Eiche ist. Erkenntnis, die
noch nicht bekannt <ist>, nicht auf der Hand liegt; keine bloß
erfahrende Kenntnisnahme, auch nicht eine beliebige unbekannte
Erkenntnis — jeder beliebige Schluß; nicht die Beantwortung
jeder beliebigen Frage — auf singulär nicht Erfahrenes, aber im
10 Kreis der verfügbaren Erfahrungssphäre Liegendes.
2. ) Allgemeine Erkenntnis, auf die ganze Welt mit allen ihren
Realitäten bezüglich: Wie alles geworden ist, woraus, und was es
von daher ursprungsmäßig in sich trägt, in sich ist; wie alles
15 Werden zustandegekommen, was in allem Werden sich zeigt und
zeigen muß, wie alles verharrende Seiende aus Harmonie der
Gegensätze entspringe, wie überall eine notwendige Regel herrscht,
*) wohl 1925. — Anm. d. Hrsg.
ABHANDLUNGEN 289
überall Vernunft waltet, ohne die die Welt ein Chaos und keine
einheitliche Welt wäre.
Allgemeine Züge, die durch alles weltliche Sein und Geschehen
hindurchgehen oder sich empirisch überall zu zeigen scheinen,
5 werden interessant; man versucht diese Allgemeinheit, indem
man sie induktiv erfaßt und wie eine strenge Allgemeinheit an¬
sieht, in natürlichem Fortgang eben zu jener vollen Allgemeinheit
<zu bringen), wie sie im natürlichen Zuge empirischen Denkens
liegt. <So> gibt man für sie eine ,,Erklärung”, eine Interpretation,
10 zunächst halb mythisch — als Luft, als aroiipov, als Liebe und
Haß —, und dann in versuchter Interpretation durch personale
Prinzipien — durch den vovg. Hier sucht man sie allgemein ver¬
ständlich zu machen. Oder man versucht einen Aufbau aus festen
Elementen und eine feste Regel des Geschehens herauszustellen,
15 die hinter den Erscheinungen liegt und durch die der Lauf der
Erscheinungen als Folge erklärlich wird. Eine einfachere Grund¬
regelung der Form nach erklärt deduktiv die vielen, mannigfal¬
tigen Vorkommnisse der Erscheinungen.
Wissenschaft geht auf das Allgemeine, das durch alle Weltge-
20 srhehnisse und Dinge hindurchgeht, erklärt niedere Allgemein¬
heiten aus höheren, singuläre Vorkommnisse als Einzelfälle aus
allgemeinen Regeln, erklärt schließlich den Gesamtlauf alles Ge¬
schehens und das allgemeine Sosein dieser Welt aus einem oder
mehreren Seinsprinzipien, aus einem Seienden, das so ist und so
25 zur Welt steht, daß das Sosein der Welt verständlich wird. <Das
ist) schließlich eine Vernunft, ein Gott, ein personales oder per-
sonen-analoges Prinzip: man versteht, warum etwas so ist, wenn
es aus Zwecksetzung und Zweckverwirklichung herstammt. Dahin
mündet schließlich alle Seinserklärung. —
30 Das Weltall in seiner Endlosigkeit, ein unbekannter, nie
abzuschließender Horizont, in dem kein Letztes vorstellbar ist,
über das hinaus nicht noch anderes denkbar, möglich wäre —
wie gewinnen wir Welterkenntnis?
Universalitäten, die durch die Welt, die zunächst sinnlich er-
35 fahren ist, gehen: „Weltreiche”—Gestirnwelt der,.ewigen” Sterne,
der Sternenhimmel und die Erde; das Tierreich und Pflanzenreich,
dasMenschenreich; das Reich des Unlebendigen, des tiefststufigen
realen Seins. Interesse für Allgemeinheiten — für offene Unend¬
lichkeiten, was allgemein für jedes solcher unendlicher Reiche zu
Husserliana VII 19
290 ERGÄNZENDE TEXTE
erkennen ist: Klassifikation, Entwicklung, allgemeinste Aufbau¬
formen usw. Bei Menschen, die Arten von Seelenvermögen, von
Tüchtigkeiten oder Tugenden, die Arten ihrer gesellschaftlichen
Verbindungen, die Arten von Sitten, ihre Bildung, ihr Verfall
5 usw. Die Reiche der Kultur. Das Reich der Raumgestalten, das
Zahlenreich, das Reich der Rhythmen, der Melodien. —
Das Weltall ist das totale, das mannigfache Allheiten in sich
faßt, unendliche Reiche mit allgemeinen Eigenheiten — allge¬
meinen Fragestellungen.
10 Die Intention auf das bleibende Sein, auf das, was
identisch bleibt im Wechsel — im Wechsel subjektiver „Erschei¬
nungen”. Was ist das Seiende? Die Identität des Realen fordert
identische Prädikate, Wahrheiten, die ewig gültig aussagen, was
das Seiende ist. Dieses Was muß ein identischer und abgeschlos-
15 sener Bestand von Prädikaten des „bleibenden Wesens” sein.
Intention auf das wahre Sein ist die auf eine endgültige Wahr¬
heit, und eine in sich geschlossene, für jedes wahre Sein.
Fluß der Erscheinungen, Fluß der sinnlichen, der empirisch¬
relativen Wahrheiten: Wie kann, was nur in beständigem Wandel
20 als dasselbe erfahren wird, und als dasselbe mit Prädikaten, die
jetzt gelten und dann nicht gelten, für mich gelten und für
andere nicht gelten, beurteilt werden, wahrhaft „sein” — wie
kann es Thema von Wahrheiten an sich sein? Wenn es das ist —
wie kann ich es wissen, wie kann ich solche Wahrheiten erkennen,
25 begründen ?
Das Seiende des Denkens, des voeiv, ist das allein wirklich und
wahr Seiende, nicht das der Erscheinung; aber wie kann es be¬
stimmt werden ? Gehört die Zeit, gehört der Raum, die Bewegung,
die Größe und Zahl, die Veränderung dazu? Wie kann das
30 Seiende als Erscheinendes, als zeit-räumlich, quali¬
tativ, sich verändernd usw. Gegebenes, doch „gerettet”
werden, ein Recht behalten ? Wie ist dieses Recht zu bestimmen,
wenn doch das Sinnliche als solches bloß subjektiv ist, in dem
Wechsel subjektiver Meinung selbst wechselnd?
35 Alles Reale ist zeit-räumlich und sich verändernd, gibt sich als
kausal bestimmt, und zugleich als von der Subjektivität des
Erkennenden abhängig, von seiner Leiblichkeit und seiner see¬
lischen Stimmung usw.
Manche dieser Allgemeinheiten treten erst unter gewissen Be-
ABHANDLUNGEN 291
dingungen in den menschlichen Erkenntnishorizont; so die All¬
gemeinheit menschlicher Kultur, die Allgemeinheit menschlicher
Geschichte, ja schon die nationale Geschichte, erst recht die All¬
gemeinheit der Wissenschaft selbst.
5 Natürlich ist die Erde hierbei selbst eine Allgemeinheit: sie ist
individuell, aber ein Gegenstand, der vielerlei Reiche als Unend¬
lichkeitsreiche — eben die vorhin genannten (und zunächst
wenigstens auf die Erde zu beziehenden) — in sich trägt.
Solche Uni versa fordern für die Erkenntnis allgemeine Sätze —
10 Erkenntnisse allgemeinen Sinnes, die nicht Summation von Ein¬
zelerfahrungen und Einzelexplikationen der Erfahrungsgegen¬
stände sind. Unendlichkeit ist nur erkennbar durch Allgemein¬
heit. Unendlichkeit besagt aber hier nichts Mathematisches,
sondern Endlosigkeit im Fortgang „möglicher” Erfahrung, ohne
15 daß ein Ende, ein Letztes im voraus durch Erfahrung gegeben
sein könnte.
Also die Welt erforschen ist, alle Universa der Welt erforschen,
und ihre Einheit, ihre Verflechtung miteinander erforschen. Oder:
Die natürliche Gliederung der Welt in „Weltreiche” (Weltre-
20 gionen, aber noch nicht im philosophischen Sinn) — die Gliede¬
rung des „natürlichen Weltbegriffs” — bestimmt einen natür¬
lichen Gang der „Wissenschaft”.
Wie komme ich nun weiter? Ich denke mir Menschen, so
wie ich bin oder wir es sind, aber vor all dem, was uns heute als
25 Wissenschaft in der Weltauffassung schon bestimmt und ihr
wissenschaftliche Bedeutungen, aus Wissenschaften herstammen¬
de, auferlegt. Ich denke sie, wie wir es sind, als Menschen, die aus
einstimmigem Erfahrungsgang eine sinnlich-anschauliche Welt
haben, mit mancherlei wechselnden Bedeutungen sonst beladen,
30 apperzipiert gemäß ihrer Erfahrungsbildung, die wie immer von
der unsrigen verschieden sein mag. Für sie mögen mythische
Potenzen Erfahrungen sein, wie für Menschen unserer Umwelt es
göttliche Eingebungen, Offenbarungen, Wunder noch sind, mit
dem Sinngehalt unserer Religionen. Aber wie immer die Unter-
35 schiede sein mögen (und wie sie im Faktum aus Kulturwissen¬
schaft und Geschichte in Sondergestalten nachweisbar sein mö¬
gen), es seien Menschen wie wir, und bezogen auf eine Umwelt,
auf dieselbe Umwelt wie wir — dieselbe in dem Sinn, in dem wir
mit Kaffern oder Tibetanern uns verständigen und eine identische
292 ERGÄNZENDE TEXTE
Umwelt erfahren. Wie sehr im einzelnen diese identische von uns
und ihnen verschieden apperzipiert sein mag, der natürliche Welt¬
begriff ist doch für uns alle derselbe, mit seiner natürlichen
Gliederung in Regionen — höchstens, daß wir in Zweifel kommen
mögen, ob für sie nicht eine besondere Region von Göttern und
5 Dämonen bestehe, in ihrer Erfahrung miterfahren, die wir nicht
gelten lassen und für die wir keine Erfahrungen haben.
Der praktische Mensch im natürlichen Leben in seiner praktischen
Umwelt — das praktische Erkennen — Übergang in theoretische
Einstellung.
Denken wir uns also nun überhaupt, Menschen in einer Er¬
fahrungswelt, und einer nach Regionen gegliederten, seien in dem
Stande eines erwachenden und sich verbreitenden Wissensinter-
10 esses, so wird die Erkenntnisbildung dieser Wissensart zunächst
eine wesentlich gleichartige seinunit der Erkenntnisbildung des
praktischen Lebens. Wie dieses über das individuelle Erfahren
hinausgeht in empirisch-induktiven Antizipationen und ohne
theoretisches Interesse (rein praktisch motiviert) allgemeine
15 Überzeugungen gewinnt — über Wind und Wetter, über das
kausale Verhalten der Dinge, über das personale Verhalten der
Menschen u.dgl. —, so auch der Urteilende im theoretischen In¬
teresse. Solche Urteilsweise ist nicht ohne „Evidenz”; es gibt
auch auf diesem Erkenntnisniveau ein gutes und schlechtes Er-
20 kennen. Man streitet im praktischen Leben über Wahrheit und
Falschheit, über Wirklichkeit und Schein, über Vernunft und
Torheit. Und man einigt sich auf Grund der Evidenz, nämlich im
Rückgang auf die wiedervergegenwärtigten Erfahrungen, auf
Regelmäßigkeiten der Koexistenz und Sukzession, die das Urteil
25 motivieren, durch „klare Überlegung der Sachlagen” und den
Grad der Analogie usw. Und tut man das, dann ist es auch „klar”,
daß sonach die betreffende Erkenntnis, und so auch die allge¬
meine Erkenntnis, „wohlbegründet” ist, daß es „vernünftig” ist,
in dieser Weise „vorauszusehen”, zu schließen, bzw. daß es unver-
30 nünftig ist, weil, was an Erfahrungen vorliegt, nicht tragfähig ist
oder, was für wesensverwandt gehalten wurde, es nicht ist und
<nur>aus zufälligen Gründen sich wechselseitig anklingen läßt usw.
Andererseits sind aber solche Verallgemeinerungen des prak-
ABHANDLUNGEN 293
tischen Lebens keine ernstliche Erkenntnis von streng allgemei¬
nen Wahrheiten, und sie sind im Leben in der Regel auch nicht
so gemeint; für die Praxis genügt, daß hier eine Regel der Erwar¬
tung ist, wonach sich im neuen Fall ein ähnliches Vorkommnis
5 erwarten läßt — als eine aus Erfahrung und Gewohnheit wohlbe¬
gründete Vermutlichkeit. Stimmt damit der weitere Lauf der Er¬
fahrung einmal nicht, so ist damit die Regel auch nicht preis¬
gegeben, obschon sich, wenn häufige Erfahrung dagegen spräche,
ihre Kraft auflösen würde.
10 Also das natürliche praktische Leben hat keine unbedingt
gültige Erkenntnis, es kennt das Unbedingte nur in Form reli¬
giöser und damit verflochtener sittlicher Forderungen. Diese
selbst sind dabei nicht notwendig in einer unbedingten Forde¬
rungsgeltung für jeden Menschen überhaupt gedacht, sie können
15 nach Familie, Stamm, Nation beschränkt sein. Das wissen¬
schaftliche Interesse aber geht auf die weitesten Horizon¬
te, auf die gesamte Welt und auf die in ihr beschlossenen Allhei¬
ten. Induktionen über diese erstrecken, als Induktionen der
ex'perieniia vaga, das kann nichts Gutes bringen: angepaßt an die
20 engen Horizonte der aktuellen Lebenserfahrung, verlieren die
allgemeinen Erwartungsregeln des Lebens für die Allheiten ihren
Wert, der eben nur praktischer Lebenswert ist. Aber wie kommt
Wissenschaft auch nur zur Konzeption der Idee der un¬
bedingten Allgemeinheit, und wie kommt sie, selbst wo sie uni-
25 versale Induktion vollzieht, zu haltbaren Induktionen?
Daß die ersten Versuche, zu Aussagen universaler Geltung zu
kommen, in der Weise vager Induktion (experientia vaga) gemacht
werden und daß sie zu Erkenntnissen führen, die allenfalls den
einzelnen befriedigen, aber von anderen, die geneigt sind, andere
30 empirische Regeln zu universaler Allgemeinheit zu steigern, und
die nun zu anderen Ergebnissen kommen, bestritten werden, ist
begreiflich.
Aber Erkenntnistätigkeit jeder Art ist auf „Wahrheit” ge¬
richtet; das gilt für jedes Erkennen, in welchem historischen
35 Zusammenhang der Mensch stehen mag. Aber Wahrheit im Sinn
des vorwissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Lebens
— sagen wir des natürlich-praktischen Lebens — gewinnt, wie
wir sehen werden, unbeschadet eines die identische Benennung
rechtfertigenden Gemeinsamen, eine neue Bedeutung, <wenn sie
294 ERGÄNZENDE TEXTE
wissenschaftliche Wahrheit wird; eine Bedeutung andererseits,)
die ihren Ursprung hat in der vorwissenschaftlichen. Betrachten
wir daher erst diese.
1.) Auch im Rahmen der natürlichen Lebenspraxis, wo sie
5 nicht dem theoretischen sondern praktischem Interesse dient,
bezeichnet das Erkenntnisstreben ein Streben, herauszustellen,
„was ist”, oder die Frage <zu> beantworten, was ist, eventuell
schon, ob etwas da ist oder nicht. Jede Entscheidung steht hier
in einer Motivation, die auf mögliche Erfahrung und Einsicht
10 verweist, sie untersteht der Kritik, die im Rekurs auf „Evidenz”,
d.i. eben auf wirkliche Herausstellung der Sachlage in der Er¬
fahrung oder auf wirkliche Herausstellung der induzierenden
Gründe und die durch sie wirklich sich einstellende „Voraus¬
sicht”, ihre Billigung oder Mißbilligung vollzieht. In der Sicht
15 der Erfahrung, in der Einsicht in die Begründungslage (den
eingesehenen Grund für eingesehene Folgen), in der Voraus¬
sicht des in der gegenwärtigen Lage als kommend begründet
„Zu-erwartenden” liegt die Quelle aller Entscheidung über das
Recht der Meinungen und gefaßten Entscheidungen, und das
20 Recht besagt die Richtigkeit, die Angemessenheit an das in der
Evidenz sich „selbst Herausstellende”. Ohne darüber zu reflek¬
tieren, wird es als selbstverständlich vorausgesetzt, daß jede Ent¬
scheidung, die so ihr Recht ausgewiesen hat, endgültige sei, daß
jeder die gleiche Evidenz mit dem identischen Ergebnis gewin-
25 nen kann. Jeder neue Rückgang auf die „Sache selbst”, die Grün¬
de selbst und was sie folgen lassen kann nichts anderes ergeben,
sondern nur immer wieder dasselbe.
Im natürlich-praktischen Leben steht der Erkennende mit
seinesgleichen in einem Situationshorizont, in einem im ganzen
30 gemeinsamen Erfahrungshorizont, in dem jeder sich von allem
und jedem, das irgendeiner „erkennt”, „überzeugen” kann, in
einer für die Praxis durchschnittlich zureichenden Weise. Die
miteinander Verkehrenden sind im allgemeinen sinnlich und
geistig „normale” Menschen, haben eine Umwelt, die ohne wei-
35 teres für diese normalen gemeinsam ist, sie haben gleiche Er¬
fahrungen gemacht, stehen in einer übereinstimmenden Tradi¬
tion, haben übereinstimmende Auffassungen sich ausgebildet
(Situation), sind zu gleichen Voraussichten gekommen oder kön¬
nen dazu kommen und sie einander unter Appell an gemeinsame
ABHANDLUNGEN 295
Erfahrung vermitteln. Das alles schafft ein Milieu von ungefähr
Gleichem, es beruht alles auf gleicher „Erfahrung” mit gleichen
oder zusammenpassenden Apperzeptionen und Antizipationen —
eine Gleichheit, die eine typische und letztlich auf erwartungs-
5 mäßiger Empirie beruhende ist. Das Anomale wird ausgeschieden
als fehlerhaft, als von der Erwartungsregel abweichend, nicht
mitzurechnend, weil es Ausnahme ist, die die Regel, wenn nicht
bestätigt, so nicht erheblich schädigt. Ursprüngliche Erfahrung
ist dabei Wahrnehmung, und Wahrnehmung ist Bewußtsein vom
10 Selbsterfassen des Gegenstandes — sie mag dabei vielerlei Kom¬
ponenten traditioneller Auffassung haben, die doch auf Grund
des wirklich Erfahrenen sich mit bestätigt.
Die Richtigkeit, Gültigkeit, die erstrebt und beansprucht wird
unter dem Titel Wahrheit, ist die einer unter Normalen im nor-
15 malen Erfahrungskreis — aber auch <in> der stillschweigend
vorausgesetzten, bekannten, wiedererkannten Situation — nor¬
mal herzustellenden empirischen Evidenz.
2.) Wissenschaft — erkennt die Relativität der ge¬
meinen Umwelt, ihr Moment des eigentlich nicht Erfahrenen,
20 ihre Abhängigkeit von Tradition usw.; sie sucht eine endgültige
Wahrheit, die vollkommen sich rechtfertigen läßt, und nach
Unabhängigkeit von zufälligen Personen, Völkern, Gemein¬
schaftsvorurteilen; <nach Wahrheit, die) sich als Wahrheit an
sich begründen läßt. Wissenschaft steigert zunächst den empiri-
25 sehen Wahrheitsbegriff, bei dem die Relativitäten unbeachtet
bleiben, in den absoluten Wahrheitsbegriff, gerät in Schwierig¬
keiten und sucht ihn doch durchzuführen. Das Vorurteil der Wis¬
senschaft ist wahres Sein als An-sich-sein, als Korrelat einer an
sich und endgültig bestehenden Wahrheit, und einer Wahrheit,
30 die sich erkennen läßt, sich in ihrer Endgültigkeit begründen
läßt, in dieser Begründung kunstvoll sprachlich geprägt werden
kann.
Das Vorurteil ist, daß die Welt ist und endgültig erkennbar ist,
endgültig mitteilbar ist, und daß die Wissenschaften dazu dasind,
35 für die Welt bzw. für die ihr zugehörigen Weltreiche die endgül¬
tige Wahrheit als endgültigen Logos systematisch zu realisieren.
Wissenschaft ist berufsmäßige Erarbeitung von Wahrheiten
als ewig bleibender geistiger Kulturgüter, die in angemessener
kunstvoller (technischer) Prägung in aller Zukunft in identischem
296 ERGÄNZENDE TEXTE
Sinn wiederverstanden, vermöge ihrer ebenso ausgeprägten Be¬
gründungen immer wieder begründet, immer wieder eingesehen,
in ihrer Endgültigkeit aktualisiert werden können.
Freilich ist diese Überzeugung einer gewissen Wandlung un-
5 terlegen: aus der Überzeugung von der Erreichbarkeit der end¬
gültigen Welt Wahrheit, die nur als vollständige nicht
erreichbar bleibt, also im Progressus des Aufbaus endgültiger
Wahrheiten und Theorien sich der Idee der allumfassenden The¬
orie nähert, wird die Überzeugung, daß die wissenschaftlichen
10 Theorien nur Approximationen sein wollen an die endgültige
Welt Wahrheit und daß das Fortschreiten nicht bloß ein solches
in der Vervollständigung sondern in der Annäherung ist, während
erreichbar allein ist die methodische Form dieses Progressus bzw.
deren Vorzeichnung in wirklich erreichbaren endgültigen Wahr-
15 heiten.
Historisch haben Platon und Aristoteles diese Idee
einer auf Endgültigkeit der Begründung gerichteten Wissenschaft
und, was damit in eins geht, einer auf endgültige Rechtfertigung
gerichteten, die Bahn gebrochen. Dem historischen Problem der
20 Motivation, die diese Überzeugung erweckt hat, steht zur Seite
das Problem der idealen Genesis, nämlich das
Problem, die Notwendigkeiten zu verstehen, die im
Historischen im verborgenen bestimmend waren und die es ver¬
ständlich machen, warum Wissenschaft der Vorstufe aus eigener
25 Konsequenz zu solchem neuartigen Absehen, dem auf eine abso¬
lute Endgültigkeit, hindrängte.
Das historische Nach verstehen der Stufen sich entwickelnden
Menschentums vollzogen wir von unserer historischen Gegen¬
wart her, also von unserer wissenschaftlichen Weltbetrachtung
30 her, mit unserer Logik usw.
Einerseits schauen wir uns in die Stufen mythischer Apperzep¬
tion und die besonderen Apperzeptionen besonderer Völker (die
Berichte interpretierend) hinein, wir vollziehen (ihnen zugemu¬
tet, ihnen durch Deutung dieser Berichte eingedeutet) Apperzep-
35 tionen mit — aber als „Zuschauer”. Wir glauben nicht mit; wir
verstehen die Motivationen dieses Glaubens und glauben quasi
mit, nicht aber in Wirklichkeit. Aber haben wir nicht beständig
den Kontrast mit unserem wirklichen Glauben? Ist unsere Art
der Anschauung und des daran sich knüpfenden Denkens nicht
ABHANDLUNGEN 297
in beständiger „Deckung” mit diesem Supponierten, und besagt
das nicht auch beständige Kritik ?
Andererseits: wir wollen nicht die Wahrheit bestimmen, ja
wir mögen sagen, solche Vorstellungsweisen sind noch weit vor
5 der Glaubensstufe und apperzeptiven Stufe, die eine Entschei¬
dung nach Wahrheit und Falschheit zuläßt. Wir wollen nur das
Werden verfolgen, das Sich-umbilden der Apperzeptionen bis
hinauf zu den unseren. Aber, ist <die> Frage, wenn wir bei der
„rationalen” Stufe angelangt sind, gilt uns die als eine neben
10 anderen, oder nur unterschieden dadurch, daß wir hier aktuell
glauben ?
Der Naturmensch lebt im Glauben. Aber wieweit hat er Glau¬
ben auf Gründe hin, nach denen er <seinen Glauben) auch recht¬
fertigt? Leitet ihn gar ein Bedürfnis nach universaler Begrün-
15 düng, bzw. lebt er im Bedürfnis nach einem Leben aus konse¬
quenter Vernunft ?
Ferner: in unseren historisch aufklärenden Betrachtungen ver¬
folgen wir Methode. Wir beschreiben, und die Beschreibung
ist eine „wissenschaftliche” Beschreibung. Das Leben der „Na-
20 turmenschen” und der verschiedenen Stufen von Kulturmen¬
schen, der gewesenen, wird nicht in i h r e r Sprache und Denk¬
weise betrachtet sondern in u n s e r e r, und nicht in derjenigen
eines beliebigen Menschen unserer Zeit sondern in der unserer
„W issenschaf t”.
25 Wenn wir nun einen Weg suchen, um das rationale Werden der
Wissenschaft zu verstehen, von der Begründung des „natür¬
lichen Weltbegriffs” aus zu zeigen, wie die Zweckidee der Wis¬
senschaft aus rationaler Notwendigkeit ins Werk zu setzen und
nach ihren Wesensmomenten zu konstruieren sei — was hat das
30 mit der historischen Aufgabe zu tun? Haben wir irgend¬
einen „Weltbegriff” des „Naturmenschen” historisch zu
bestimmen? <Oder> als eine notwendige Gemeinsamkeit der
überblickbaren Historie bis zum Auftreten der Wissenschaft?
Was ist das für eine Abstraktion, die wir bilden, indem wir eine
35 Welterfahrung und einen Erfahrungssinn der Welt vor allem wis¬
senschaftlichen Denken konstruieren bzw. beschreiben — als
Ausgang ?
B. BEILAGEN
Beilage i (zur 1. bis 25. Vorlesung): <Inhaltsübersicht, zusammenge¬
stellt von Ludwig Landgrebe.) x)
I. Historischer Teil.
i. Vorlesung. Ursprung des Namens. — Erste Philosophie als
Philosophie des Anfangs. — Ihre Aufgabe. — Notwendigkeit einer
historischen Einleitung.
Historische Einleitung.
Die großen Anfänger der Philosophie. — Die sokratische Methode
5 als Methode vollkommener Klärung. — Vollkommene Klärung als
Wesensintuition.
2.Vorlesung. Sokrates ethisch-praktischer Reformator —
Platon Begründer der echten Wissenschaft mittels der sokrati-
schen Methode. — Die neue Idee der Philosophie als der absolut ge-
10 rechtfertigten Wissenschaft von der Totalität alles wahrhaft Seien¬
den. — Erste Philosophie als prinzipielle Voruntersuchung über die
Bedingungen der Möglichkeit einer Philosophie überhaupt. — Die
Erste Philosophie in der Platonischen Dialektik vorbereitet. — Zweite
Philosophie als die Gesamtheit der in rationaler Methode erklärenden
15 Tatsachen Wissenschaften. — Die Bestimmung der Philosophie nach
Platon als Bedingung der Möglichkeit einer echten Kultur aus
philosophischer Vernunft. — Die Idee der Vernunft als eine Gemein¬
schaftsidee. — Platon als der Begründer der Sozialethik.
20 j. Vorlesung. Die Fortwirkung der Platonischen Impulse. — Ab¬
schwächung ihres Radikalismus durch Ausbildung einer formalen
Logik im Anschluß an die Aristotelische Analytik und die Stoische
Lehre vom Xsxt6v. Die formale Logik als bloße Logik der Konse¬
—
quenz oder Widerspruchslosigkeit. — Ihr Thema Wesensbestimmun-
25 gen über Konsequenz, Inkonsequenz, Verträglichkeit — Unter¬
scheidung von Einsichtigmachung als Bewährung und analytischer
l) 1924.
BEILAGEN 299
Verdeutlichung. — Die traditionelle Logik als bloße Unterstufe einer
Logik der Wahrheit.
4. Vorlesung. Analytischer und sachlicher Widersinn. — Die histo¬
rische Logik scheidet nicht zwischen Konsequenz und Wahrheit. —
5 Sie trägt nicht der Korrelation zwischen Urteil und Urteilssubstrat
Rechnung. — Die Idee einer formalen Ontologie als Korrelat der
,,apophantischen Logik”. — Historisch ausgebildete Disziplinen, die
unter den Titel der formalen Ontologie fallen. — Manko: Die Logik
als Methodenlehre zur Erzielung der Wahrheit muß auch auf das
10 Subjektive des Urteilens und Gegenstandsetzens thematisch gerichtet
sein.
5. Vorlesung. Zusammenfasung: Die sophistische Skepsis nötigte
zu Reflexionen auf die Subjektivität des Erkennens. —Sie führte zur
Entdeckung der Ideenerkenntnis. — Diese ermöglicht erst die Aus-
15 bildung rationaler Wissenschaften. — Die Idee der rationalen Wissen¬
schaft.—Deren Anfänge bei Euklid und Aristoteles( (dessen)
Analytik). — Die neuen Wissenschaften nur dogmatische, nicht
philosophische Wissenschaften. — Präzisierung des Begriffs philo¬
sophischer Disziplinen. — Philosophische Wissenschaften als Wissen-
20 schäften aus absoluter Rechtfertigung. — Diese betrifft den analyti¬
schen Sinn, den intuitiven Gehalt, die subjektiven Modi. — Warum
die Rationalität der „rationalen” Wissenschaften nicht ausreicht. —
Wie die Rechtfertigung der Rationalität in diesen Wissenschaften
aussieht.
25 6. Vorlesung. Notwendigkeit einer Wissenschaft von der erkennen¬
den Subjektivität überhaupt und als solcher. — Die Prüfung der
wissenschaftlichen Aussagen geschieht durch reflektive Blickwendung
auf die subjektiven Modi des Erfahrens — subjektiv reflektierend,
aber am einzelnen Fall hängen bleibend. — Die Begründung echt
30 rationaler Wissenschaft erfordert, daß jene nach allen Modis erken¬
nenden Tuns überhaupt systematisch betrachtet und zum theoretischen
Thema werden. — Wichtige nähere Ausführungen, was die Erkennt¬
nissubjektivität zu erforschen aufgibt. — (Korrelation zwischen
Typik des Erkennens und Einheitsgestalt des Erkannten). — Die
35 historische formale Logik ist nicht diese Wissenschaft vom Erkennt¬
nissubjektiven; sie ist ontisch, nicht epistemologisch gerichtet, wie
alle historischen rationalen Wissenschaften. — Ihre ausgezeichnete
Stellung gegenüber allen anderen Wissenschaften beruht auf ihrer
formalen Allgemeinheit.
40 7. Vorlesung. Die Wissenschaft vom Erkenntnissubjektiven als
Logik des Erkennens. — Ihre Rückbezüglichkeit. — Sie betrifft
Prinzipien der Rechtfertigung in subjektiver Hinsicht. — Ihre Exten¬
sion zur vollständigen Wissenschaft von der Subjektivität überhaupt
300 ERGÄNZENDE TEXTE
als leistender Subjektivität. — Sie ist nicht Wissenschaft von Gegen¬
ständen, sondern vom Bewußthaben der Gegenstände.
8. Vorlesung. Die Wissenschaft von der Subjektivität von Aristo¬
teles als Psychologie entworfen. — Diese Psychologie als ob-
5 jektive Wissenschaft neben anderen. — Mit der Unfähigkeit, in rich¬
tiger Methode der Intentionalität in Analyse und Deskription genug¬
zutun, ermangelte sie der Fähigkeit, zu einer strengen Wissenschaft
der Subjektivität zu werden. — Mit dem Anspruch, für Logik und
Ethik Normen abzugeben, gerät sie in einen Zirkel. — Die Wissen-
10 schaft von der Subjektivität darf die Welt nicht als vorgegebene Tat¬
sache hinnehmen. — Im Altertum mit der Psychologie identifiziert,
kann sie keine prinzipielle Überwindung des Skeptizismus bringen.
9. Vorlesung. Die sophistischen Argumentationen 1.) gegen die
Möglichkeit einer Erkenntnis von an sich Seiendem, 2.) gegen die
15 Möglichkeit eines An-sich-seins überhaupt. — In ihnen bricht zum
ersten Male die transzendentale Betrachtungsweise durch. — Sie
kommt im Altertum und Mittelalter nicht zur Auswirkung. — Beginn
der Entwicklung zu einer wahren Transzendentalphilosophie mit den
Cartesianischen Meditationes. — In ihnen wird der Seins-
20 boden der skeptischen Argumentationen gewonnen und dadurch ihre
radikale Überwindung herbeigeführt. — Die Cartesianischen Medita-
tationen zeichnen den allgemein notwendigen Stil des philosophieren¬
den Anfangens.
10. Vorlesung. Descartes konnte sich des Sinnes seiner Ent-
25 deckung nicht bemächtigen. — Kurzer Gedankengang der Medita¬
tiones. — In den beiden ersten ist die transzendental reine, absolute,
in sich geschlossene Subjektivität herausgestellt. — Die skeptischen
Zweifel an der Möglichkeit einer außerseelischen Existenz nur lösbar
durch Rekurs auf das leistende Bewußtsein. — Die Wissenschaft von
30 diesem ist allen objektiven Wissenschaften entgegengesetzt. — Die
Reinhaltung ihrer Methode erst durch die Cartesianische Entdeckung
ermöglicht. — Die objektiven Wissenschaften sind infolge der Ver¬
nachlässigung der transzendentalen Erkenntnisleistung nicht absolut
gerechtfertigte. Daher heften sich an sie alle widersinnige Theorien. —
35 Jede Metaphysik nur möglich auf Grund einer Wissenschaft von der
transzendentalen Subjektivität.
11. Vorlesung. Die Transzendental Wissenschaft hat nicht nur Mi߬
deutungen von den objektiven Wissenschaften fernzuhalten, sondern
sie kann auch allen ihren Ergebnissen die richtige Deutung geben. —
40 Sie hat auch metaphysische Konsequenzen: Vordeutung auf die Mo¬
nadenlehre. — Descartes kann sich der transzendental reinen
Subjektivität nicht bemächtigen sondern bleibt im Objektivismus
stecken. — Das ego ist für ihn als Seele Stück der Welt. — Die darin
BEILAGEN 301
steckende Tendenz zum Naturalismus und Psychologismus. — Auf
diesem Boden steht L o c k e s Versuch über den menschlichen Ver¬
stand. — Er will das cartesianische Cogito zum Thema einer Wissen¬
schaft machen. — Diese Wissenschaft bei ihm als Beschreibung des
5 menschlichen Bewußtseins zwecks Gewinnung von Normen für Er¬
kennen und ethisches Tun.
12. Vorlesung. Mit seinem objektivistischen Standpunkt übersieht
Locke den durch die antike Skepsis aufgegebenen transzendentalen
Charakter des Erkenntnisproblems. — Sein Thema Aufklärung der
10 Möglichkeit objektiver Erkenntnis. — Mit der Preisgabe des carte-
sianischen Anfangs und der naiven Voraussetzung von Welt und
Wissenschaft begeht er einen Zirkel. — Notwendigkeit einer aus¬
schließlichen Betrachtung des Bewußtseins als leistenden. — Erkennt¬
nistheorie in der objektivistischen Mißdeutung als Psychologie des
15 Erkennens und diese als objektive Wissenschaft. — Der Locke’-
sche naturalistische Psychologismus als Fortschritt gegen den Car-
tesianischen theologischen Psychologismus. — Er will, unter
Ausschaltung alles Theologischen, eine Psychologie als induktive
Wissenschaft, rein auf dem Grunde innerer Erfahrung. — Sein Ver-
20 such als die psychologische Umwendung der Cartesianischen Egologie;
wäre sie zu einer wirklichen immanenten Bewußtseinsanalyse durch¬
gedrungen, so wäre sie einer echten Psychologie und Transzendental¬
philosophie zugutegekommen.
13. Vorlesung. Was ihr fehlte: 1.) Der Mangel der empirisch-induk-
25 tiven Betrachtungsweise; einer Vernunfttheorie ist sinngemäß apri¬
orisches Vorgehen vorgezeichnet. — 2.) Die Lock e’schen und
späteren Deskriptionen sind keine echten Bewußtseinsdeskriptionen
und, als ihren Gegenstand verfehlend, auch in apriorischer Umdeutung
unbrauchbar. — Der Grund ihres Scheiterns ist der Mangel an der
30 richtigen Methode, der phänomenologischen Reduktion. — Nur durch
sie wird gesehen, daß das Innenleben durch und durch Bewußtsein
ist; und dann ist es auch klar, daß es kein Raumartiges, keine tabula
rasa ist — ein mannigfaltiges Verändern der Intentionalität, nur in
mannigfaltiger Reflexion erfaßbar.
35 14. Vorlesung. 3.) Die Vorbildlichkeit der neuzeitlichen Naturwis¬
senschaft als hemmendes Motiv für die Ausbildung einer echten Be¬
wußtseinswissenschaft. — Sie führt mit H o b b e s zum Materialis¬
mus und zur materialistischen Psychologie. — Locke verabsolu¬
tiert ebenfalls die Natur — mit der Lehre von den primären und se-
40 kundären Qualitäten — und naturalisiert das Bewußtsein. Er begeht
damit einen erkenntnistheoretischen Zirkel. — 4.) <also>: eine andere
Wirkung der Vorbildlichkeit: die Naturalisierung des Bewußtseins. —
Vorahnung des Intuitionismus als des notwendigen Stiles echter Er¬
kenntnistheorie bei L o c k e mit seiner Forderung nach Klärung der
302 ERGÄNZENDE TEXTE
ursprünglichen Ideen und ihrer Verbindungen. — Nähere Ausführung:
L o c k e s Gedanke eines ABC ursprünglicher Ideen. — Der Weg zur
Verwirklichung eines solchen Gedankens war ihm durch die Naturali¬
sierung des Bewußtseins versperrt. — Sie hegt in der Analogisierung
5 innerer und äußerer Erfahrung und der Verdinglichung des Bewußt¬
seins im Sinne der tabula-rasa-Auffassung. — Nähere Erörterung.
15. Vorlesung. Die letzte Konsequenz der Naturalisierung des
Bewußtseins mußte zu H u m e s Skeptizismus führen. — Eingehende
Kritik der h?fm/a-rasa-Auffassung bzw. der Parallelisierung innerer
10 und äußerer Erfahrung. — Das Ich und die tabula rasa, affiziert und
Tätigkeiten übend: als wie ein Mensch hinter der Tafel. — Blindheit
für das reine Ich. —Die Naturalisierung macht auch blind <für> das
Eigenwesentliche des Bewußtseins als Bewußtseins von etwas, für die
Intentionalität. — Unterscheidung der intentionalen von der reellen
15 Immanenz. — Gegenstandsbewußtsein weist auf Synthesis. — Dop¬
pelte Art der Synthesis, einerseits bezogen auf das Ich, andererseits
auf den Gegenstand.
16. Vorlesung. Ich und Gegenstand als irreale Bewußtseinspole. —
Diese Beschlossenheiten des Bewußtseins müssen mit beschrieben
20 werden. — Bewußtsein kein leeres Haben — gezeigt am Beispiel der
Wahrnehmung. — Die dreifache Äquivokation von Bewußtsein. —
Von Locke und seinen Nachfolgern die intentionalen Beschlossen¬
heiten als reelle mißdeutet. — Daraus entspringen Scheinprobleme:
die Lehre von den primären und sekundären Qualitäten, die Bilder-
25 theorie, der Kausalschluß. — Berkeley bekämpft diese Lehre. —
In der Locke 'sehen Interpretation hegt eine Vervielfältigung der
Welt. — Berkeley läßt von den transzendierenden Schlüssen nur
die Einfühlung gelten.
iy. Vorlesung. Kritik der Lock e’schen Theorien: in der Wahrneh-
30 mung ist nicht ein Bild oder Zeichen sondern das Ding selbst gegeben.
— Bild und Analogon setzen ein eigenes Bild- bzw. Analogisierungs-
bewußtsein voraus. — Die Wahrnehmung auch kein Komplex von
sinnlichen Daten. — Transzendentes kann sich nur in der Wahrneh¬
mung selbst ausweisen. — Grund der Locke 'sehen Irrtümer: die
35 Naturalisierung des Bewußtseins. — Lock es Verdienst: die For-
derung einer Verstandesuntersuchung rein auf dem Boden innerer
Erfahrung. — Bei dieser Untersuchung darf die Einstellung reiner
Immanenz nicht verlassen werden. — Sie muß für alle Grundarten von
Gegenständen geführt werden.
40 18. Vorlesung. Der Einwand gegen Locke: Die Blindheit der
objektivistischen Psychologie für die Intentionalität (= Sensualis¬
mus) und ihre Bedeutung für Psychologie und Vernunfttheorie. —
Psychologismus und Sensualismus. — Der letztere macht eine echte
BEILAGEN 303
Psychologie unmöglich, der Psychologismus <macht> eine echte Er¬
kenntnistheorie (unmöglich).— Der Mangel des Sensualismus (Blind¬
heit für das spezifisch Geistige) unheilbar, der des Psychologismus
heilbar.
5 Neues Kapitel: Abstraktionstheorie. — Locke und der Empiris¬
mus leugnen das anschauliche Gegebensein von Allgemeinem. —
Irrtümliche Identifizierung von Anschauung und individueller An¬
schauung. — Seine „allgemeinen Ideen” haben nur repräsentierende
Funktion. — Auch allgemeine Wesenheiten sind synthetische Ein-
10 heiten mannigfaltiger Erlebnisse des Anschauens. — Vergleich mit der
Anschauung individueller Gegenstände.
ig. Vorlesung. Die allgemeine Anschauung durch Einzelanschauun¬
gen fundiert. — Übersicht über einige Arten des Allgemeinheitsbe-
15 wußtseins. — Die „Repräsentation” der empiristischen Abstraktions¬
lehre ist das allgemeine Anschauen selbst. — Die empiristische Ab¬
straktionslehre macht jede Denkleistung unverständlich und wider¬
spricht sich selbst. — Beispiel: der Widersinn der psychologischen
Erklärung des axiomatischen Denkens. — Der Empirismus nur ein
20 Scheinempirismus. Nach ihm auch nicht singuläre Aussagen über
Individuelles möglich. — Erfahren nicht Erfahren von individuellen
Daten sondern Bewußtsein der Selbstgebung. — Notwendigkeit der
Extension der Idee der Anschauung. — Die notwendige Methode zum
Verständnis: Rückgang auf die Erkenntnissubjektivität. Die carte-
25 sianische Methode als eidetische. — Die Idee der eidetischen Wissen¬
schaft vom reinen Bewußtsein.
20. Vorlesung. Zweck dieser historischen Betrachtung: in L o c k e
und seinen Nachfolgern der Trieb zur wahren philosophischen Methode
lebendig; dieser Empirismus eine wesentliche Etappe auf dem Wege
30 zu ihr als der transzendentalen Phänomenologie. — Der Locke’sche
Psychologimus als verhüllter Skeptizismus fordert echte Überwin¬
dung. —
Rekapitulation: Der Gegensatz von objektiver Wissenschaft und
Skeptizismus im Altertum. — Descartes sucht den Skeptizismus
35 zu überwinden und bricht einer neuen dogmatischen Wissenschaft
Bahn. — Der Fortschritt bei Locke in der Forderung einer intui-
tionistischen Erkenntnisbegründung; infolge objektivistischer Mißdeu¬
tungen führt sie zu einem neuen Skeptizismus. —
Dieser Skeptizismus ist nicht negativistisch, sondern positiv arbei-
40 tend; er mißdeutet das Gesehene naturalistisch. -— Der Sinn dieser
Kritik: das Hindrängen zum wahren Intuitionismus der transzenden¬
talen Phänomenologie.
21. Vorlesung. Die Tendenz auf eine rein immanente Philosophie in
L o c k e s Werk angelegt, von Berkeley in naturalistischer
45 Form durchgeführt. — Vorahnung des konstitutiven Problems bei
304 ERGÄNZENDE TEXTE
diesem. — Restitution des Rechtes natürlicher Erfahrung, diese aber
naturalistisch mißdeutet: das Ding ein assoziativer Komplex.
22. Vorlesung. Die einzige Substanz der Geist; der einzig mögliche
Schluß auf Transzendentes der auf andere Geister. — Die Tatsache
5 des Wechselverständnisses der Geister dient dem teleologischen Be¬
weis. — Vergleich mit der L e i b n i z 'sehen Monadenlehre. — Die
Berkeley 'sehe Lehre der erste Ansatz einer neuartigen Bewußt¬
seinswissenschaft. — H u m e führt die B e r k e 1 e y 'sehen Ansätze
als immanente und rein sensualistische Philosophie aus. — Keine
10 Psychologie im Sinn objektiver Wissenschaft, sondern die erste kon¬
krete und rein immanente Erkenntnistheorie.
23. Vorlesung. Das Bewußtsein atomisiert als Apperzeptionsbün¬
del. — Ich und Welt Fiktionen. — Bei H u m e fehlt die Besinnung
über die Methode echter Erkenntnisbegründung. Daher die intui-
15 tionistische Forderung der Klärung <in der> Reduktion auf impressions
mißdeutet. — Impressionen und Ideen. — Diese Unterscheidung wird
durch die Versachlichung der Erlebnisse sinnlos. — Jede sachliche
Beschreibung der Erlebnisse kann der Intentionalität nicht gerecht
werden. — Impression, richtig verstanden, als Titel für Evidenzbe-
20 wußtsein, ist doppelseitig. — Widersinn bei H u m e: seine sachliche
Beschreibung nur möglich durch die Inanspruchnahme der intentio¬
nalen Leistung.
24. Vorlesung. Die H u m e’ sehe Methode will induktiv-empirisch
sein: —
25 Rekapitulation: Der Sinn einer Grundwissenschaft von der reinen
Subjektivität. Sie ist aller objektiven Wissenschaft entgegengesetzt.
Sie hat als radikaler Intuitionismus das leistende Bewußtsein als Ur¬
grund aller Objektivität zum Thema. Absolute Erkenntnisbegründung
ist nur durch sie möglich. Sie muß eidetisch Vorgehen.
30 Humes Psychologie entspricht nicht dieser Idee: ihre Grundge¬
setze sind als induktiv gewonnene absolut irrational. — Die Blindheit
für das allgemeine Wesen dieser Grundgesetze ist im nominalistischen
Vorurteil begründet.
25. Vorlesung. Vorahnung der konstitutiven phänomenologischen
35 Probleme bei H u m e: die synthetische Einheit des Dinges und des
Ich. — Berkeley hatte mit der Zurückführung der Welt auf asso¬
ziative Komplexe keine verständliche Auskunft über sie gegeben. Die¬
se kann nur durch eine intentionale Leistungsanalyse gewonnen wer¬
den. — H u m e will sie als Fiktion erweisen. — Sein Essay der Sieg
40 des Empirismus über den Rationalismus. — Dieser vermengte mathe¬
matische und mathematisch-naturwissenschaftliche Kausalität. —
H u m e scheidet rationale und kausale Notwendigkeit und erweist
erstere als Fiktion der Einbildungskraft. — Daher alle Tatsachen-
BEILAGEN 305
Wissenschaften sinnlos: vollkommener Skeptizismus, weil auch Philo¬
sophie Tatsachenwissenschaft ist.
Schluß: der H u m e 'sehe Positivismus als Vorform der Phänome¬
nologie.
Beilage II (zur 1. Vorlesung): Zur Installierung der Idee der Philo¬
sophie. *)
5 Absolute Erkenntnis; Ideal der Erkenntnis. Allerkenntnis, aber
nicht als eine Erkenntnis, die wie eine Summe, ein Haufen von allen
möglichen Einzelerkenntnissen da wäre. Das würde der Natur der
Erkenntnis widersprechen — und korrelativ: dem Wesen von Er¬
kenntnisgegenständlichkeit als solcher.
10 a) Jeder Gegenstand ordnet sich einem gegenständlichen Zusam¬
menhang ein, z.B. jedes Ding der Natur der Einheit der Natur, jeder
Vorgang der Einheit des Gesamtnaturvorganges.
b) Jeder Gegenstand hat Bestimmungen und ordnet sich seinen
15 Bestimmtheiten nach unter Allgemeinheiten. Über den singulären
Sachverhalten stehen allgemeine, und in der Sphäre der Allgemeinheit
herrschen verschiedenerlei Gesetze.
Alle Gegenständlichkeiten stehen unter Gesetzen, aUe singulären
gegenständlichen Zusammenhänge unter übergreifenden Zusammen¬
hangsgesetzen, alle Wahrheiten stehen unter Theorien.
20 1.) Allerkenntnis als die allbegreifende Theorie, als Einheit aller
Gesetzeserkenntnis und aller Theorien, die sich in systematischer Ord¬
nung auf alles Sein in reiner Allgemeinheit beziehen, nach Form und
Materie. Also das universale Apriori.
a) Also formal-allgemeine Ontologie. Die Domänen Dasein, Wert-
25 sein, Gutsein des Seins und alle zu diesen gehörigen Ontologien;
b) dann alles materiale Apriori der reinen Erkenntnis, das in der
Materie des Seins gründet; c) die besonderen Theorien, die Inhalte der
„theoretischen” Naturwissenschaft usw.
2.) Die konkreten „Tatsachen”-Sphären und ihre Erklärung aus
30 Gesetzen. —
Philosophie ist die Wissenschaft des Inbegriffs und der Einheit aller
Ideale. Aber ist die Philosophie nicht Wissenschaft vom absoluten
Sein: vom absoluten Sein der Reaütät, vom absoluten Wertsein, vom
Schönen und Guten im absoluten Sinn ?
35 1.) Wissenschaft vom absoluten Sein, als „Absolutes” die „Reali¬
tät” der „bloßen Natur”; Naturwissenschaften noch nicht letzte
Wissenschaften von der Realität.
2.) Wissenschaft von den Werten, Realitäten, die Wert haben, z.B.
Gütern, die von Menschen bewertet werden und nach ihrem Meinen
40 Wert haben, oder menschlichen Erlebnissen, wie Wollungen, mensch¬
lichen Dispositionen, wie Charakteranlagen, die für Werte gehalten
i) Wohl 1910 oder 1911.
Husserliana VII 20
306 ERGÄNZENDE TEXTE
werden oder wohl auch Werte sind. Erkenntnis gilt als ein Wert usw.;
ein Werk der Literatur gilt als Wert usw.; Kirche, Staat als Werte.
Seinswerte — Wesenswerte. Wahre Schönheiten, wahre Erfreulich-
keiten oder Wünschlichkeiten, wahre Willensziele und wahre Schöp-
5 fungen.
Ebenso wie sub 1.) wahre Realitäten, wahrhaft seiende reale Ob¬
jektivitäten. —
Wissenschaft vom Sein, vom wahrhaften Sein im letzten Sinn, und
zwar vom wahrhaften Sein im Sinne der Realität, vom wahrhaften
10 Sein im Sinne der Werte, von der wahrhaften oder richtigen Praxis im
Sinne des Guten. Das alles ist untrennbar, führt zurück auf die phä¬
nomenologische Weltbetrachtung und auf die Metaphysik.
Wir können zur Idee der Philosophie auch in folgender Weise kom¬
men:
15 Philosophie ist eine Wissenschaft oder ein Komplex von Wissen¬
schaften. Nicht alle Wissenschaften nennen wir philosophisch. Und
doch haben alle Beziehung zur Philosophie. Wissenschaften sind Er¬
kenntniseinheiten. Erkenntnis ist allumfassende, sie richtet sich auf
das Sein, auf physisches und psychisches Dasein, auf die Einheit der
20 Natur, die psychophysische Natur ist und die wie die physischen Dinge
so die Geister, die menschlichen Gemeinschaften, die menschliche
Kultur in allen ihren Gestaltungen umfaßt, darunter auch die von
Menschen im Kulturzusammenhang entwickelten wirklichen und ver¬
meinten Wissenschaften. Wissenschaft richtet sich nicht nur auf
25 Dasein, sondern auch auf Werte, auf Schönheiten, auf Güter, auf
schöpferische Gestaltungen, aber auch auf Wahrheiten und Vermeint-
heiten, die sich ihrerseits beziehen auf Daseiendes, auf Wertseiendes,
auf Güter usw. Und diese Wahrheiten und Vermeintheiten können
singulär sein und allgemein, es können Gesetze sein, Gesetze für Da-
30 sein, Wertgesetze, Gesetze für Güter, für Verhältnisse von Zweck und
Mittel, Materialgesetze und Formalgesetze.
Also Wissenschaften vom Natursein, vom Sein der physischen und
psychophysischen Natur — und zwar der wahrhaft seienden, Wissen¬
schaften vom Sein der Wertgestaltungen, von Gütern, von Schöp-
35 fungen — und zwar als wahrhaft seienden realen Werten, von wahr¬
haft bestehenden Gütern, von Schöpfungen, die ihre Wahrheit haben,
nämlich ihre Rechtmäßigkeit, ihre Richtigkeit als wahre Willensziele
und als Realisierungen wahrhafter Willensziele. Den Wissenschaften
entsprechen Wissenschaftstheorien, den verschiedenen Regionen dieser
40 Richtigkeiten, Wahrhaftigkeiten, Seinsgestaltungen entsprechend.
a) Theorien, welche einerseits die Bedingungen der Möglichkeit
solchen Seins erforschen: also das, was zu solchem Sein als solchem
gehört, zu seiner Möglichkeit, die in der Seinsregion als solcher grün¬
det, unabhängig von aller Materie dieses Seins;
45 b) andererseits die Möglichkeit der Gegebenheit dieses Seins in der
Erkenntnis oder die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis
solchen regionalen Seins.
BEILAGEN 307
Das ergibt Stufen:
1. ) Die Stufe der vorphilosophischen Wissenschaft, und zwar wendet
sich die Forschung an die Sachen selbst, an das sich in der Erfahrung
darbietende Dasein (Realität), an die im Leben der Menschen sich
5 darbietenden vermeinten Werte, Kulturgüter usw. Bei dieser Erfor¬
schung werden gelegentlich mehr oder minder tiefgehende Reflexionen
über die Methode und damit über Bedingungen der Möglichkeit gül¬
tigen Aussagens und Bedeutens, über die formalen, im Sein als solchen
liegenden Bedingungen der Möglichkeit von Sein überhaupt vollzogen,
10 aber ohne daß dies in systematisch-abschließender Weise geschähe.
2. ) Es können sich sogar in dieser Richtung liegende Disziplinen,
wie die mathematischen, etablieren. Als höhere Stufe soll bezeichnet
werden die systematische Erforschung aller zu den Ideen des Seins
überhaupt und den bestimmten regionalen Ideen — wie reales Dasein
15 (Natur) mit den Regionen Natur und Geist, dann weiter Wertsein,
Güter — entsprechenden ontologischen Gesetze und andererseits der
zum Wesen der entsprechenden „Bedeutungsarten” — z.B. Urteil,
Wunsch, Entschluß usw. — gehörigen normativen Gesetze.
3. ) Die Erforschung der im Wesen aller dieser Seinsformen gründen-
20 den Zusammenhänge, und insbesondere die konstitutive Ausgestal¬
tung der in ihrer Synthese sich ergebenden höchsten Ideale, in der
Form
4. ) der Theorie der Vernunft; die kritischen Probleme.
Die Beziehung alles Seins auf Bewußtsein.
25 Erkenntnis der Wesensbeziehungen zwischen Sein und Bewußtsein.
Erkenntnis der Zusammenhänge zwischen Natur, Wirklichkeit als
psychophysischer Wirklichkeit und faktischem Sein in der Art mit
faktisch seienden Bewußtseinsmannigfaltigkeiten, in denen es sich
konstituiert. Erkenntnis der Zusammenhänge zwischen wirklich sei-
30 endem Bewußtsein und dem wirklichen Sein, das nicht Bewußtsein
ist sondern sich bewußtseinsmäßig konstituiert.
Bewußtsein nicht bloß als seiend, sondern als Wert. Wert von Be¬
wußtseinszusammenhängen, Wert von individuellem Bewußtsein,
Wert der Subjektivität, die im Bewußtsein sich auslebt und betätigt,
35 seinem Wesen nach unabhängig — dem Grade, der Werthöhe nach —
von der Beschaffenheit der bewußtseinsmäßig konstituierten Welt.
Reines Ich und Bewußtsein als Feld der guten Tat, als Feld von
praktischen Gütern. Erkenntnis, daß das höchste Ideal des einheit¬
lichen Bewußtseins, des Lebens — nein: der Personalität, die sich in
40 ihrem Leben auswirkt und entwickelt, wäre richtig — und des „geistigen
— personalen — Seins” alle anderen Ideale in sich schließt, also auch
die Ideale der absoluten Erkenntnis und die der Wert Vollkommenheit.
Die Idee der vollkommensten aller möglichen Welten: die Idee des
vollkommensten Bewußtseins (Monadensystem). Erzeugung der Ideen,
45 andererseits Erzeugung der gegebenen Welt und Anmessung an die
Ideen, Normierung durch sie; also inwiefern die Welt eine vollkom-
308 ERGÄNZENDE TEXTE
mene Welt ist, inwiefern sie sich zur Vollkommenheit entwickelt, in¬
wiefern Schöpfungskräfte, Geister in ihr leben und, absolut betrach¬
tet, sie konstituieren, inwiefern in der faktischen Beschaffenheit dieser
Konstitution die Möglichkeit oder gar Entwicklungsnotwendigkeit
5 einer immer vollkommeneren Welt, die reale Annäherung der leben¬
digen Wirklichkeit an das absolute Ideal angelegt, bezeugt, gesichert
ist.
Die Auswertung der gegebenen Wirklichkeit und korrelativ die
Auswertung aller natürlichen Wissenschaften als theoretische Aus-
10 wertung.
Darin liegt zunächst: größtmögliche Vollendung der natürlichen
Wissenschaften, größtmögliche Vervollkommnung, Entgegenführung
dem Ideal vollkommenster Naturerkenntnis. Damit Klärung ihres
Gehaltes, Bestimmung ihres Sinnes, ihrer Relation zur absoluten Er-
15 kenntnis.
Das ist ein praktisches Ziel, in dieser Richtung ein höchstes Ziel der
Erkenntnispraxis. Das parallele Ziel der Wertpraxis wäre: schöpferi¬
sche Umgestaltung der Welt entsprechend den höchsten axiologischen
Idealen und auch hinsichtlich höchster praktischer Ideale selbst.
20 Metaphysik — letzte materiale Seinserkenntnis im weitesten Sinn.
Sie gehört in den Rahmen des Ideals des vollkommensten Lebens, be¬
schließend das Ideal vollkommenster Erkenntnis, vollkommenster
Wertung, vollkommenster Schöpfung (welche letztere notwendig auf
Realisierung jener beiden anderen geht). Die Metaphysik ist, wie Phi-
25 losophie überhaupt, eine Wissenschaft, als Werk ist sie Ideal
vollkommener Erkenntnis (das notwendige Voraussetzung sein mag
für jedes andere vollkommene Werk höchster Gattung usw.). Philo¬
sophie ist Wissenschaft von den absolut idealen Normen, von den
idealen Wesenseinsichten, andererseits Wissenschaft vom absoluten
30 thetischen Sein, vom absoluten Sein. —
Philosophie als Wissenschaft vom Absoluten, als Wissenschaft, die
alles einzelne erkannte Sein auf seine letzten Gründe zurückführt, in
der jedes Warum? seine Antwort findet, jedes logische, ontologische,
axiologische, teleologische und theologische „Sein” — das kann
35 verstanden werden als Wirklichkeit und dann, den verschiedenen
Seinsdomänen entsprechend, als Dasein, Wertsein, Seinsollen. Die
Frage nach den Gründen führt zurück auf die philosophischen Prinzi¬
pienlehren, auf Logik, reale Ontologie, formale und reale Axiologie,
Praktik und die darauf gebaute Theologie. Die Frage nach dem Grun-
40 de ist die nach der Notwendigkeit, und Notwendigkeit ist korrelativ
zu Gesetzlichkeit, und zwar idealer Gesetzlichkeit. Also führt alle
Frage nach den Gründen zurück auf reine Gesetze, oder alles Sein hat
Grund der Notwendigkeit in der reinen Idee, in der reinen Form, und
so kommen wir vom Dasein zur Idee, von der Daseinswissenschaft zu
45 den Ideenwissenschaften.
Idee der Philosophie — Idee der vollkommenen Erkenntnis, allum¬
fassende, allbeherrschende. Erweitert:
BEILAGEN 309
Idee der vollkommenen Erkenntnis, der vollkommenen Wertung,
der vollkommenen praktischen Herrschaft. Idee einer vollkommenen
Erfahrung, einer vollkommenen Anschauung, einer vollkommenen
Verstandeserkenntnis. Alles erfahren können, was ist, und alles er-
5 fahren können, was je gewesen ist, alles, was je war und ist und sein
wird, erschauen können, alles zeitliche Sein, alles, was ist, war und sein
wird, denkend bestimmen zu können.
Alles was ist, werten zu können, alle Schönheit, die da ist, voll
schauen und fühlend genießen und erfassen können.
10 Und die Allherrschaft: jeden in der Welt realisierbaren Zweck,
innerhalb der Natur nach Naturgesetzen real möglichen, ausführen
können, neue Realitäten schaffend.
Also nehmen wir den Menschen, wie er ist, und legen wir zugrunde
das selbstverständliche normale Können in seiner Leiblichkeit, das
15 Glieder-bewegen-können usw.: das Feld der normalen unmittelbaren
Leibesmacht; aber auch die unmittelbare Freiheit in der seelischen
Sphäre; dann gilt es, auf Grund der Naturerkenntnis und psychologi¬
schen Erkenntnis alle möglichen Arten Maschinen konstruieren <zu>
können, alle möglichen praktischen Methoden des sozialen Lebens
20 erfinden <zu> können usw.
Der Mensch (oder Menschen als sozial verbundene Willenseinheiten)
wirkt innerhalb der Natur, er kann schieben, drücken, ziehen usw., er
kann Verbindungen hersteilen zwischen Dingen, er kann Dinge um¬
gestalten, drechseln, schmieden usw., er kann den Ablauf der ohne
25 sein Zutun vonstattengehenden Vorgänge moderieren, beschleunigen,
ihre Richtung ändern usw. In geordneter Vielheit von einzelnen Tätig¬
keiten, die unmittelbar leiblich-geistige Handlungen sind, erwächst ein
Gebilde, das Zwecken entspricht oder selbst Mittel ist, es erwächst
eine aus vielen zweckmäßigen Gliedern zusammengebaute Maschine,
30 die eigentlich ein neues Organ des Menschen ist, eine Erweiterung
seines Leibes, durch welche sich seine Freiheit hindurcherstreckt; an
ihr frei hantierend, erwächst ein Erfolg, der selbst ein frei erzeugter
ist. Auch ein Mikroskop, ein Fernrohr u.dgl. ist eine Erweiterung des
Sehorgans, wie schon ein Stock Erweiterung des Tastorgans ist; ein
35 Hammer in der Faust ist eine ungleich wirksamere Erweiterung der
Faust; ein Zweirad ist ein Gehorgan usw.
Es ist vielleicht gut, alle dergleichen Verhältnisse voll anschaulich
durchzudenken. Der Mensch, wie er ,,normaler”weise ist, bestimmt
ein Ideal für eine vollkommene Technik; das maximale Können, was
40 ein Mensch, wie er normalerweise ist und der gegebenen Natur einge¬
gliedert ist, können könnte. Aber nun ist der Mensch nichts Isoliertes,
Glied einer Gemeinschaft; und verbindet er sich mit anderen zu Ge¬
meinschaftsleistungen — erwächst der „Mensch im großen” —, so
wächst ins Ungeheure sein bzw. der Gemeinschaft „Können”. Ge-
45 meinsam treibt er Wissenschaft, gemeinsam erfindet er Maschinen,
gemeinsam vollzieht sich das Arbeiten der Maschinen, sofern an einer
Maschine vielerlei Menschen angreifen, tätig sein müssen zu dem zu
310 ERGÄNZENDE TEXTE
erzielenden Endzweck. Idee einer fortschreitenden und schließlich
<einer> Maximal-Leistung der Menschheit und dadurch jedes Men¬
schen: das Ideal der größtmöglichen Macht des Menschen, der mög¬
lichst vollkommenen Technik.
Beilage III (zur 1. Vorlesung): Definitionen der Philosophie. x)
5 Schelling: Die Philosophie ist die absolute Wissenschaft. Die
Philosophie ist die Wissenschaft des Absoluten.
Hegel: Das Absolute soll für das Bewußtsein konstruiert werden,
ist die Aufgabe der Philosophie. In der Enzyklopädie der Philosophie
definiert er sie als Wissenschaft vom Absoluten.
10 Herbart: Die Bearbeitung der Begriffe, die in einer Verdeut¬
lichung, Berichtigung und Ergänzung durch Wertbestimmungen
bestehen soll.
L o t z e, Grundzüge der Logik: Der Philosoph habe die Begriffe
zum Gegenstand, die in den speziellen Wissenschaften wie im Leben
15 als Prinzipien der Beurteilung der Dinge und Handlungen gelten.
Ueberweg, System der Logik: Wissenschaft der Prinzipien.
Rosenkranz, in der Abhandlung Wissenschaft des Wissens:
Die Philosophie, als die allgemeine Wissenschaft, habe die Aufgabe,
alle übrigen Wissenschaften zur Einheit zu bringen und, als höchste
20 Wissenschaft, alle übrigen zu leiten und ihrer Vollendung entgegen¬
zuführen.
W u n d t: Allgemeine Wissenschaft, welche die durch die einzelnen
Wissenschaften vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu einem wi¬
derspruchslosen System zu vereinigen habe (System der Philosophie;
25 vgl. auch Einleitung in die Philosophie). Wiederholt nennt er sie die
allgemeine Wissenschaft im Gegensatz zu den Einzelwissenschaften.
vgl. K ü 1 p e, Einleitung in die Philosophie: Ergänzung zu den
besonderen Wissenschaften.
Stumpf, Wiedergeburt der Philosophie: Ihre Aufgabe sei, daß sie
30 unserem Wissen einen Abschluß geben soll.
O s t w a 1 d, Abhandlungen und Vorträge: Sie ist der zusammen¬
fassende Ausdruck der Wissenschaften ihrer Zeit.
Mach, Populärwissenschaftliche Abhandlungen: Sie besteht nur in
einer gegenseitigen kritischen Ergänzung, Durchdringung und Ver-
35 einigung der speziellen Wissenschaften zu einem einheitlichen Ganzen.
P a u 1 s e n, Einleitung: Inbegriff aller wissenschaftlichen Erkennt¬
nis. Ein Philosoph, der eine einheitliche und universelle Erkenntnis
des Wirklichen anstrebt.
Riehl: Philosophie und Erkenntnistheorie identifiziert.
40 Definition der Metaphysik in Richters Skeptizismus: Wissen¬
schaft der prinzipiell unerfahrbaren Wirklichkeit. Der Ausdruck
„metempirisch” tritt (wie Richter gelegentlich bemerkt hat) schon
!) Wohl 1910 oder 1911.
BEILAGEN 311
bei M i 11 auf. Seitdem verwendet man ihn öfter, so L e w e s in den
Problems of life and mind, Münsterberg in den Grundzügen der
Psychologie usw.
Metaphysik Wissenschaft vom Übersinnlichen, Transzendenten,
5 über alle mögliche Erfahrung Hinaushegenden.
F e c h n e r, Atomenlehre: ,,Im übrigen wird uns nichts hindern,
allem, was nur als Grenzvorstellung des Wirklichen erscheint, doch
jenseits der Möglichkeit wirklicher Erforschung liegt, statt des Na¬
mens eines physikalischen Wirklichen den eines metaphysischen
10 Wirklichen zu geben”.
Beilage IV (zur 1. Vorlesung): <.Die universalistische Tendenz des
theoretischen Interesses und der Anfang der Philosophie.'} *)
Alle Dinge, Menschen, Tiere, Himmelskörper — aus Wasser, aus
dem dcTCipov, aus Luft.
Alle Dinge bloß Schein eines in sich unveränderlichen Einen; alle
Dinge bloß Schein, in Wirklichkeit Formen eines ewigen gesetzmäßi-
15 gen Werdens, das auf einen Urwerdensprozeß im Urfeuer zurückgeht
und in ihn wieder zurückführt.
Alle Dinge entspringen aus den Elementen durch einen allwaltenden
voik;.
Alle Dinge bestehend aus unveränderlichen Atomen, die gewöhn-
20 liehen Dinge Schein der Sinne, erwachsen aus <einem> gesetzmäßigen
Werdensprozeß der Atome in mechanischer Kausalität.
Alle Dinge, die ganze Welt der Sinnlichkeit unvollkommener Ab¬
glanz einer idealen Welt, einer Welt reiner Wahrheit und Schönheit, in
teleologischer Weise hervorgehend aus einer höchsten Idee, eigentlich
25 einer Überidee, der Idee des Guten oder der Gottheit.
Die ganze Welt eine Welt der Entwicklung, überall auf Gutes hin¬
zielend, deren Wege und Ziele die Gottheit weist.
Jedes Ding <hat> seine Bestimmung; jedes Werden ein zielstrebiges
Werden.
30 Also universalistische Tendenz des theoreti¬
schen Interesses, gerichtet auf das Universum, auf
das Weltall.
Innerhalb dieses Interesses erwachsen Teilgebiete des theoretischen
Interesses. Der vorangehende allgemeine Gesichtspunkt der Weltin-
35 terpretation, der Welterklärung auf Teilgebiete übertragen. Theorien
des Wesens, Seins, Werden der Tier- und Menschenwelt, innerhalb der
letzteren der menschlichen Gesellschaftsformen, des Staats, der mensch¬
lichen Bestimmung usw. Ferner die Natur, die Natur im Verhältnis
zum Geiste. Vorarbeiten: Deskriptive Naturgeschichte, Staatsge-
40 schichte usw.
Reaktionen der Skepsis, Streit der Weltauffassungen als theo-
1) etwa 1910, etwa 1924 fortgesetzt. — Anm. d. Hrsg.
312 ERGÄNZENDE TEXTE
retisches Motiv — erkenntnistheoretisches Problem. Skepsis gewendet
gegen diese von oben her erfolgende, mit lauter strittigen und bestreit¬
baren Voraussetzungen operierende Weltinterpretation, gegen diese
„Metaphysik”. Aber dieser antimetaphysische Negativismus nimmt
5 die Hilfe erkenntnistheoretischer Negativismen und wird zum wissen¬
schaftlichen Negativismus. —
x) Auf das Universale der Wirklichkeit gerichtete Begriffe: Welt,
Raum, Zeit, Zahl, Ding, auch Wirkung, Leben, Stoff, Materie, Geist
usw. Diese Begriffe entspringen zum größten Teile wirklicher Erfah-
10 rung, originär gebender Anschauung. In jeder ursprünglichen An¬
schauung zeigt das Angeschaute gewisse Wesenstypen, Wesensfor¬
men, die sich dem Geiste gleichsam einprägen, aus praktischen Inter¬
essen heraus den Blick des Geistes auf sich ziehen, in der Sprache
Ausdruck finden.
15 Aber das naive natürliche Denken läßt sich vorschnell von der
Analogie leiten, es neigt zu unzulässigen, die berechtigten Grenzen der
Begriffe überschreitenden Verallgemeinerungen. Z.B.: Jedes Ding in
seinem dinglichen Zusammenhang steht, was die Veränderungen an¬
langt, in Verhältnissen der Abhängigkeit. Änderungen hier bedingen
20 Änderungen dort; daher bei jeder Veränderung nach Ursachen gefragt
wird. Lenkt sich nun aber der Bück auf die Idee des Weltganzen (das
kein Gegenstand wirklicher Erfahrung ist und je sein kann, und doch
eine schon im natürhchen Denken erwachsende Idee), so wird das
Weltganze alswie ein einzelnes Ding behandelt und nun auch nach
25 seinen Ursachen gefragt. Im praktischen Leben greift der Mensch in
das Geschehen ein und schafft Dinge. Er sieht sich überall von ge¬
machten Dingen umgeben, selbst Fluren, Wald usw. sind Gebilde
seiner Kulturarbeit. Auf die ganze Welt übertragen: Die Welt ist ge¬
macht. Was ist die Ursache der Welt? Die Welt ist ein Uhrwerk, Gott
30 der Uhrmacher.
So schon im mythenbildenden Denken. Auffassungsweisen, die aus
dem gewohnten Gang des Alltagsgeschehens stammen und darin in
begrenzter Weise ihr Recht haben, auf die ganze Welt übertragen.
Sprachliche Bildungsformen werden bestimmend. Das Haus ist
35 „rot”, dieses Traumding existiert nicht, dieses Haus da aber existiert.
Existenz ein Merkmal.
Relativ gültige Begriffe, Begriffe, die ihre Beziehungen, daher
Grenzen ihrer Anwendung haben, werden als unbeschränkt gültige,
korrelativ genommen. So schon die sinnlichen Begriffe. 2)
40 Der Mensch im Zusammenhang der Verflechtungen des natürhchen
Lebens, im Kampf mit der Natur und seinesgleichen, in den Betäti¬
gungen der Selbsterhaltung begriffen, als Glied eines sozialen Zusam-
*) von hier an etwa 1924. — Anm. d. Hrsg.
a) Hegels Phänomenologie des Geistes: Hegel versucht darzustellen, wie der
menschliche Geist vom Standpunkt der naiven Welt- und Lebensauffassung durch
die in ihr enthaltenen Widersprüche auf den Standpunkt der Philosophie getrieben
wird.
BEILAGEN 313
menhangs, Genosse, als Glied eines Volkes, das seine Sprache hat,
seine Sitte, seine Staatsformen, seine Gesellschaftsstruktur, auch seine
Religion, seine Mythologie, und damit eine Stellung im Weltganzen,
zu dem die mythischen Mächte, Götter, Naturgeister usw. gehören.
5 Die Sprache dem allen angepaßt, den jeweiligen Gehalt der Apper¬
zeption der engeren und weiteren Welt ausdrückend. Grundformen
der Realität drücken sich selbstverständlich schon in der allgemeinen
Sprache aus: Raum, Zeit, Zahl, Größe, Faktum, Kraft, Ding, Eigen¬
schaft, Ursache usw. —
10 Der Mensch als praktisches Wesen. Der Mensch als Subjekt eines
theoretischen Interesses, das zum herrschenden wird.
Die Einheit der ganzen Welt und der sie bewegenden Mächte als
Objekt seiner Hoffnung und Furcht.
Die Welt als Ganzes, die letzten Gründe, Materien, schöpferischen
15 Anfänge usw. als Objekte des theoretischen Interesses. Philosophie.
Voraussetzungen, vorgebildete begriffhche Apperzeptionen, Vorur¬
teile, stammend aus der menschlich-tierischen Entwicklung, ungeprüft
als selbstverständlich hingenommen. Das allgemein Geltende, weil als
Niederschlag des allgemeinen Volkslebens Erwachsende, hingenom-
20 men als Selbstverständlichkeit.
Manches davon hält der denkenden Betrachtung nicht stand. Op¬
position gegen die allgemeinen Auffassungen, der Philosoph gegen das
Volk.
Die Ausbildung von Philosophien, von theoretischen und auf Be-
25 gründung abzielenden Weltauffassungen :Weltauffassungen:
Der Gang der Entwicklung führt von der Welt und den allgemeinen
Formen, Gründen der Welt auf die einzelnen Wissenschaften. In der
theoretischen Weltbetrachtung stellt es sich sofort heraus, daß sie
unklar sind, daß die Grundvoraussetzungen, Grundbegriffe, die Fas-
30 sung der Grundformen der Wirklichkeit mit Schwierigkeiten behaftet
sind, daß die Reflexion über ihren Sinn und Gehalt zu widersprechen¬
den Urteilen führt. Es erwachsen verschiedene Philosophien —
immerfort Vorgegebenheiten, festgehaltene Selbstverständlichkeiten,
Unklarheiten.
35 Was wäre das Radikale in dieser Richtung? Volle Voraussetzungs¬
losigkeit. Aber ist das ein mögliches Ziel? Alle Begriffe neu bilden, kein
Urteil vorher fällen? Ist das möglich? Setzt das nicht einen gebildeten
Geist voraus, der schon die Schule strenger Wissenschaften durchge¬
macht hat? —
40 Unzureichende Grundbegriffe. Zureichende, gut gewachsene Begrif¬
fe, zureichend für die praktischen Bedürfnisse, aus denen sie ent¬
sprungen sind. Daher auch Begriffe der natürlichen Wissenschaft,
wenn sie wirkliche, wertvolle Wissenschaft ist, zureichend, eben in
wirklicher Anpassung an das Gegebene erwachsen. Auch allgemeine,
45 Raum, Zeit, Zahl, auch Wirkung usw.
Sie genügen-— aber genügen nicht, sowie der begrenzte Blick sich
erweitert und ins Unendliche geht — sowie er philosophisch wird.
314 ERGÄNZENDE TEXTE
Widersprüche, die daraus erwachsen. Bedürfnis, sich zurechtzufinden:
die Widersprüche zwingen zur Untersuchung; Voraussetzungen, Vor¬
urteile werden aber festgehalten. Was ist da das Radikale? Nicht,
Begriffe, Grundauffassungen gelten lassen, solange es nicht anstößig
5 erscheint, sondern auf Anstoß ausgehen, möglichst radikale Skepsis,
und dann voll bewußt, und aus den Urquellen der Gegebenheit alle
Begriffe bestimmen. Aber Zirkel: alle Bestimmung vollzieht sich
sprachlich, fordert also schon vorgegebene Begriffe. — Wie vollzieht
sich Begriffsbestimmung und Urteilsansetzung voraussetzungslos? —
10 Wendung der Skepsis zum Empirismus: Agnostizismus hinsicht¬
lich der Wirklichkeit an sich, aber Gnostizismus hinsichtlich der er¬
scheinenden Wirklichkeit. Oder: innerhalb der Erfahrungswelt kann
man schon mindestens in der Weise der Wahrscheinlichkeit etwas
aussagen und die Aussagen begründen und danach sein praktisches
15 Verhalten regeln. Theoretisches Interesse im Dienste der Praxis. Ver-
nunftpraxis: je reiner ich mich durch die Gegebenheit der Sachen be¬
stimmen lasse und ihre Ordnung nachprüfe, um so vernünftiger werde
ich praktisch sein, um so besser kann ich mich nach den Dingen richten
(und zu richten habe ich mich nach den erscheinenden).
20 Die medizinischen Empiriker. Deskriptive Wissenschaften — em¬
pirische Naturlehren und Kunstlehren.
Ursprung der mathematischen Naturwissenschaft; Ursprung der
Euklidischen Geometrie, der theoretischen Astronomie. Geometrische
Konstruktion der Himmelsbewegungen: an die Erscheinungen werden
25 reine Ideen gelegt, ein idealer Ansatz gemacht und daraus deduktiv
gefolgert und das Gegebene mathematisch erklärt. Eine Geometrie
der Kräfte folgt nach.
Eine Vielheit der Einzelwissenschaften in der Neuzeit, teils deskrip¬
tive Wissenschaften und an die Psychologie und die sinnliche Erfah-
30 rung sich anlehnende medizinische Technologien, politische usw.,
teils „abstrakte” Wissenschaften, exakte. Später auch Geisteswissen¬
schaften. Einzelwissenschaften, sich „vom Mutterboden der Philo¬
sophie ablösend”. Kann man das eigentlich sagen? Hat sich die
„Physik” abgelöst von einer philosophischen Physik? Oder ist sie aus
35 einer solchen eigentlich geworden ?
Die philosophische Physik — eine Betrachtung der Natur unter
universalen Gesichtspunkten. Eine Physik als exakte Wissenschaft —
eine Betrachtung der physikalischen Prozesse rein als Natur.
Höchstens bei der reinen Mathematik; und da hätte die Entwick-
40 lung von der Geometrie auf eine formale Mathematik übergehen kön¬
nen. Von der formalen Logik kann man es wohl sagen. Die gehört eben
zum Boden der Philosophie, sowie auch die sonstige Mathesis. Warum
das? Das Universalistische steckt in ihr selbst; Zahl, Raum, Zeit,
Bewegung, der logische Begriff, das alles hat universellste Bedeutung
45 für alles Sein.
Die Naturwissenschaften sind nicht Ablösungen. Sie sind erwachsen
gegen die Philosophie. Aber sie strebten wieder zu ihr zurück. Denn
BEILAGEN 315
die Einzelwissenschaften gediehen erst, nachdem sie den universalisti¬
schen Zweck fahren ließen — nachdem sie rein den Forderungen ihres
besonderen Gebietes folgten.
Ideale Gebiete, die in sich selbst ihre Norm finden. Das Universalisti-
5 sehe, das durch Anwendung der Mathesis auf die Natur in die Natur¬
wissenschaft hineinkam, ja sie erst als exakte ermöglichte. Wissen der
Natur, dazu gehört Mathematisches. Wissen aus der Erfahrung ge¬
schöpft in der Weise, daß man dem Sinn der Erfahrungsgegebenheit
nachgeht. Wissen der Natur doch auch universalistisch, aber nicht
10 vollkommen. Natur — Region. Und ,,voraussetzungslos”, ohne die
Welt überhaupt zu betrachten und gar seine Voraussetzungen zu
machen, geht man an die Natur, man befragt sie selbst, nach ihrem
Wesen. Nun aber gegenüber der Naturwissenschaft eine Naturphilo¬
sophie ... —
15 Widerspruchsvolle Voraussetzungen, unklare Grundbegriffe: über
Realitäten im allgemeinen, Grund unter der Realität (Materie, Geist,
Leben); über allgemeine Seinsformen, wie Raum und Zeit, Substanz,
Kausalität, Zahl, Größe, Kontinuum; über die methodischen Grund¬
formen, wie Begriff, Urteil, Wahrscheinlichkeit, Gewißheit, Syllogis-
20 mus, Induktion, Deduktion; über Grenzen, Tragweite der Erfahrung
und des Denkens, über den Erkenntniswert von Sinnlichkeit und
Verstand.
Grundbegriffe: unklare Grundauffassungen, aus dem Gang des
natürlichen Erfahrungs- und Denklebens hervorgewachsen. Das Un-
25 zureichende solcher Begriffe und Grundsätze: sie sind angepaßt an
praktische Bedürfnisse des Lebens; sie werden unzureichend, sowie
sie in Anspruch genommen werden für die ins Unendliche erweiterte
Weltbetrachtung und ihre Probleme.
Weltbetrachtung, die operiert mit den Apperzeptionen des prakti-
30 sehen Lebens und der mythologischen Überlieferung, die aus den
unvollkommenen, wenn auch in dieser Unvollkommenheit die Lebens¬
praxis und ihre begrenzten Interessen nicht hemmenden Auffassungen
Überzeugungen zieht und zu Grundlagen der weiteren Weltauffassung
macht, die unklar, widersprechend sind. Mythenbildende Phantasie —
35 kindlich-kühne, grundlose Analogisierungen.
Theoretisches Interesse — wie kann es voll befriedigt werden? Wie
sind echte Wissenschaften und insbesondere echte Wissenschaft über
das Universum als Ganzes zu gewinnen?
Ausscheidung aller grundlosen Voraussetzungen, also möglichst
40 radikale Skepsis als Anfang, voll bewußt, methodisch.
Beilage V (zur 2. Vorlesung): <Bemerkungen zum> Entwicklungszug
von Parmenides über Platon. 1)
Keime zum Skeptizismus und Negativismus.
Sinnlichkeit und Verstand: Die Sinnlichkeit trügerisch: besonders
ß etwa 1923. — Anm. d. Hrsg.
316 ERGÄNZENDE TEXTE
H e r a k 1 i t und Parmenides.
Der Verstand. Begründung der Dialektik; „logische” Argumenta¬
tionen, die der Verstand vollzieht, erweisen die Verkehrtheit der sinn¬
lichen Erfahrung, den Trug der Sinnenwelt.
5 Der Fortgang der Entwicklung: Die Dialektik läßt sich so hand¬
haben, daß „Ja” und „Nein” sich als gleich kräftig begründen. Dia¬
lektisch kann man auch beweisen, daß nichts ist (G o r g i a s). Also
nicht der Verstand (wie Parmenides’ Grundauffassung war) ist die
Quelle der Wahrheit. Er ist durchaus trügerisch, oder er reicht nur
10 hin, um eins sicher zu erkennen — auf Grund der Ansprüche der
Sinnlichkeit: daß wir nichts wissen können — oder daß es nichts gibt
— oder daß man nichts mit Recht aussagen kann — oder daß man
höchstens vage Vermutungen hegen kann.
Fernere Quellen der Skepsis in Heraklits Werdenslehre: Theorie der
15 Sinneswahmehmung.
Fluß: Kratylus.
Demokrit: Die Atome nichts sinnlich Wahrnehmbares sondern
votqtoc. DieVernunfterkenntnis besitzt die Wahrheit. Gegenüberstellung
der yv/jairj yvcopyj und der ctxottr) yvcopy). Letztere (die sinnliche) ist
20 subjektiv, verschieden nach der Beschaffenheit unserer Sinnesorgane;
ihr entspricht keine objektive Wirklichkeit. Der Honig ist weder süß
noch bitter, ouSev paXAov das eine als das andere.
Der „gewaltige Problemumschwung”, der sich zu Zeiten Demo¬
krits in Griechenland vollzog.
25 Entwicklungszug von Parmenides über Platon.
Das Seiende ist das voTjfxa, und das deutet Platon in seinen
differenzierten Studien als Substrat von Wahrheiten, die absolut
endgültig und von jedermann in dieser Endgültigkeit in seinem voetv
erkennbar sind. Die Wahrheiten sind prädikative Wahrheiten, und
30 das Seiende bestimmt sich absolut und adäquat durch reine Begriffe.
Jedes Seiende hat danach seinen adäquaten Begriff, der es bestimmt;
dann wäre nur die I d e e seiend, das Wesen, das seinen Ausdruck im
ursprünglich zu schöpfenden Begriff hat. Das Individuelle hat eine
uXt], das Individuelle als solches ist, soweit es in reinen Ideen be-
35 stimmbar ist, und da reine Ideen kein Individuelles, kein hic et nunc
ergeben, so ist das Individuelle ein „Gemisch” von seiend und nicht¬
seiend.
Von da entspringt der extreme Rationalismus: Alles, was ist,
hat seinen adäquaten Ausdruck — wobei aus dem
40 Nicht-seienden nichts wird.
Beilage VI (zur 2. Vorlesung): <Probleme, die der Philosophie durch
ihre griechische Urkonzeption auf gegeben sind.) x)
Grundgedanken zur Besinnung über Wege und Aufgaben.
Welche Probleme waren der Philosophie (durch ihre griechische
*) etwa 1926. — Anm. d. Hrsg.
BEILAGEN 317
Urkonzeption) aufgegeben, welche haben sich in der Entfaltung dieser
Konzeption im Laufe der Geschichte nicht zufällig sondern aus einer
inneren Notwendigkeit zutagegedrängt? —
Griechische Wissenschaft, so wie sie spezifische Schöpfung des
5 griechischen Geistes ist und von da ab Grundform der europäischen
Kultur ist:
1. ) charakterisiert sie sich als eine neue Form menschli-
chenBerufslebens. Jeder menschliche Beruf hat sein Berufs¬
ziel, das im ganzen durch das Leben des Berufsmenschen sich hin-
10 durchziehenden Zusammenhang der Berufsbetätigungen den Charak¬
ter eines ein für allemal erwählten Endzieles hat, dem alle Berufs¬
betätigungen zugeordnet sind. Das sagt nicht, daß das Ziel im mensch-
heitlichen Leben überhaupt als Endziel gelten soll. Im Berufsleben,
das philosophisches oder wissenschaftliches heißt, ist im Sinne des
15 Berufes das Endziel Erkenntnis, im philosophischen ist es
universale Erkenntnis, d.i. auf das Universum des wahrhaft
Seienden bezogene.
2. ) Wissenschaftliche und philosophische oder universalwissenschaft¬
liche Erkenntnis will Theorie sein. Das griechische Volk schafft
20 die Idee der theoretischen (logischen, erklärenden) Wissenschaft. Sie
ist systematische Erkenntnis der Welt oder irgendeines sich zu einer
besonderen Allheit zusammenschließenden Seinsgebietes aus rationa¬
len Wesensgründen und in Bezug auf Wesensbegriffe und Wesensge¬
setze als Prinzipien notwendiger Wahrheit. Sie will aber auch Tat-
25 Sachenwissenschaft sein, das Faktum erklären. Sie ist — nach dem
zuerst von Aristoteles vorbildlich entworfenen Ideal — „apo¬
diktische” Wissenschaft, Wissenschaft aus der „Vernunft” (dem Ver¬
mögen der Prinzipien), rationale Wissenschaft. Tatsachenerkenntnis,
wie in der allgemeinen Geistessphäre historische Erkenntnis, hat die
30 Funktion, Unterlagen und induzierende Vorbereitungen beizu<brin-
gen> für die rationale Erklärung, die dem letzten Absehen nach uni¬
versale, auf das All des faktisch Seienden und andererseits auf das
All der obersten Vernunftprinzipien bezogene Erkenntnis <ist>.
Philosophie ist also ihrem ursprünglichen
35 Sinn nach „R ationalismu s”. Aller Kampf zwischen
Rationalismus und Empirismus hat darin seine Quelle, daß Sinn und
rechtmäßige Grenzen dieser Rationalität sowie Sinn und rechtmäßige
Grenzen der empirischen, also vorrationalen Erkenntnis, die doch
rationalisiert werden soll, Unklarheiten und Probleme mit sich führen.
40 Der Skeptizismus leugnet die Möglichkeit einer philosophischen Er¬
kenntnis in diesem rationalen Sinn.
Scheidungen im Apriori.
Eine Reihe von Scheidungen mußten sich durcharbeiten und woll¬
ten, selbst nachdem sie gesehen waren, nicht zu unproblematischer
45 Klarheit durch dringen. Sie mußten aus letzten Quellen verständlich
und vereinbar gemacht werden.
318 ERGÄNZENDE TEXTE
1. ) Die Scheidung zwischen reiner Wesenswissenschaft, reiner
„Ideen”-Wissenschaft, als Wissenschaft reiner Möglichkeiten, die für
keine reale Faktizität präjudiziert, und <Wissenschaft> von fakti¬
schem Dasein, Tatsachenwissenschaft. Das Sein der Ideen, der reinen
5 Gegenstände der Vernunft, und das reale Sein mußten unterschieden
werden. Reine Mathematik z.B. ist reine Wesenswissenschaft — ge¬
genüber Wissenschaften, die auf das Faktum dieser Welt gehen.
2. ) Liegt im Apriori das Prinzipielle aller Erklärungen, so muß un¬
terschieden werden zwischen dem formalen oder analytischen Apriori
10 — als dem Prinzipiellen, das zum Logos als Aussagebedeutung und
zum Denkgegenstand rein als Substrat der Aussage gehört, auch der
Konsequenz und Widerspruchslosigkeit — und dem intuitiven
(synthetischen) Apriori, das zu Gegenständen insofern gehört, als
sie sollen sachlich möglich, von sachlichem Widersinn frei sein.
15 3.) Die Scheidung zwischen transzendentaler Subjektivität mit
ihrem transzendentalen Sein und den von ihr erkennbaren realen und
idealen Gegenständlichkeiten. Demgemäß die Scheidung zwischen
dem Apriori der transzendentalen Subjektivität und dem „ontologi¬
schen” Apriori — mit seinen Unterscheidungen von analytisch-ontolo-
20 gischem Apriori (formale mathesis universalis), dem ontologischen
Apriori möglicher Realitäten und dann weiter dem Apriori der Son¬
derregionen a priori möglicher Reaütäten (Natur, Seele, Persönlich¬
keit, Gemeinschaft von Persönlichkeiten, Kultur und ihre Grundge¬
stalten). —
25 Aber hier bedarf es überhaupt vielerlei weiterer Unterscheidungen —
und schon vorher.
4. ) Es mußte sich scheiden die dogmatisch-naiv ontologische, ob¬
jektivistische Weltbetrachtung, die noch nicht zur transzendentalen
Subjektivität durchgedrungen <ist> und noch nicht sie zum wissen-
30 schaftlichen Thema gemacht hat, und die rein ontologische Wissen¬
schaft; und danach rein ontologische Welterklärung von der tran¬
szendentalen ; die in die transzendentale Sphäre selbst sich einordnen¬
den ontologischen Gebilde und die in die transzendentale Wissenschaft
sich selbst einordnenden ontologischen Wissenschaften mußten in der
35 Einheit einer transzendentalen Theorie begriffen und verständlich
werden. Das Transzendente mußte in der Immanenz der transzenden¬
talen Subjektivität als darin erkenntnismäßig Konstituiertes aufge¬
klärt werden.
Die Welt als Tatsache erklären — die Welt (und sich selbst) ver-
40 antworten.
5. ) Im Altertum konnte sich nicht in Klarheit scheiden die Natur
transzendierende, metanatural-teleologische Welterklärung — meta¬
naturale (teleologisch erklärende) und rein naturale, rein tatsachen¬
wissenschaftliche.
45 Die objektive Welt als Universum der raum-zeitlichen Tatsachen,
der Tatsachen möglicher Erfahrung, nach immanenten Kausalgesetzen
betrachtet und erklärt. Die Erfahrungswissenschaft, Kausalwissen-
BEILAGEN 319
schaft der Neuzeit. Die mathematische Naturwissenschaft: physische
Natur. Die tatsachenwissenschaftliche Betrachtung der psychophysi¬
schen „Natur”. Die neuere Psychologie.
Die Unfähigkeit im Beginn der Neuzeit, die rationale mathemati-
5 sehe Erklärung (die rein mathematische und angewandte) zu scheiden
von der kausalen Erklärung, die, als rationale, die Natur mathemati-
sierte, unter mathematischen Limes-Ideen betrachtete.
Der Sinn der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft:
Natur — eine offen unendliche Mannigfaltigkeit von an sich in Raum
10 und Zeit (mit an sich bestimmbaren Zeitstellen und Raumstellen)
seienden Realitäten, jedermann durch Wahrnehmung und Experi¬
ment theoretisch zugänglich, für jedermann konstruierbar auf Grund
gegebener Tatsachen und hypothetisch supponierbarer Tatsachenge¬
setze, als Kausalgesetze. Freilich auch Unfähigkeit, die bedeutsame
15 Unterscheidung der mathesis universalis von der Mathematik der Na¬
tur zu verstehen. Durchbruch bei L e i b n i z.
6. ) Notwendigkeit der Scheidung zwischen Physik und Biologie.
(Teleologische Betrachtung und skopologische Betrachtung. Physi¬
sches „Leben” und psychisches „Leben”, intentionales).
20 Es wäre die Aufgabe, zu erkennen, daß Natur vermöge der natur¬
wissenschaftlichen Methode wesentlich zurückbezogen sei auf die
fungierende Leiblichkeit; aber daß Leiblichkeit in dieser Funktion
nur denkbar ist als organische Leiblichkeit; daß physikalische Natur¬
wissenschaft wesentlich zurückweise auf Biologie, und dann auch auf
25 Psychologie (Psychophysik und eigentliche Psychologie). Schwierig¬
keiten der wissenschaftlichen Beziehung zwischen organischer Biologie
und organischer Somatologie und Psychologie.
7. ) Schwierigkeiten der Psychologie, Schwierigkeiten einer reinen
Betrachtung der Erlebnisse und ihrer intentionalen Einheiten als
30 solcher. L o c k e s sensualistisch-naturalistische Interpretation des
Innenlebens, des Reiches „innerer” Erfahrung. Die Schwierigkeiten
der Vereinigung der verschiedenen Betrachtungs- und Erklärungs¬
weisen ; der psychophysischen Betrachtung (welche, wenn sie sensua-
listisch-induktiv-tatsachenwissenschaftlich ist, aus der Seele eine
35 seelenlose Kausaleinheit macht) und der ichlichen Betrachtung, in
der Natur Umwelt des Ich ist, in der der Leib Soma, subjektiv-zen¬
trales Objekt der subjektiven Umwelt ist und in der das Ich als er¬
kennendes seine Motivationen und das immanent zeitliche Vorgehen
des Motivierten verstehen und als notwendig erkennen kann. Motiva-
40 tionszeitlichkeit und Naturzeitlichkeit.
8. ) Die antiken und neuzeitlichen Geisteswissenschaften: sie haben
Teleologie in sich insofern, als Zwecktätigkeit in der Menschheit als
personaler ein beständiges Thema ist. Sie blicken mitunter auch auf
den personalen Zusammenhang der personalen — einzelpersonalen
45 und kollektivpersonalen — Selbstkultur und Kulturobjektivität und
sehen hier ein Walten überpersonaler Tendenzen, Mächte, einer über¬
personalen Teleologie, die auf ein göttliches Walten hinzudeuten
320 ERGÄNZENDE TEXTE
scheint. Aber wiefern sind sie „Wissenschaften”, entsprechen sie der
Idee der Philosophie oder philosophischer, aus Prinzipien erklärender
Erkenntnissysteme? Im Altertum will man sie dafür nicht gelten
lassen, soweit sie bloß historisch sind. Sie haben ihre kunstvolle Me-
5 thode. Aber macht Methode der Erkenntnis schon theoretische „Wis¬
senschaft” ?
Neuere Geisteswissenschaften, die erklärend sein wollen. Unklar¬
heit über ihre Stellung zu den Naturwissenschaften, Unklarheit über
Sinn und prinzipielle Möglichkeit der Erklärung. Das Geistesleben der
10 personalen Menschheit mit seinen personalen Erzeugnissen als Feld
von deskriptiv-klassifikatorischen und morphologischen Wissen¬
schaften und ihren, aber nicht apodiktischen Erklärungen.
Personale Einheit der Menschheit in Bezug auf gemeinsame Um¬
welt. Aber die gemeinschaftliche Umwelt umspannt auch die Personen.
15 Die geistige „Welt” als Gebiet „philosophischer (apodiktischer)”
Erklärungen.
Das Apriori einer geistigen Welt. Also geisteswissenschaftliche
Ideenbildung.
9.) Das Verhältnis des Apriori der Vernunft zum Apriori der geisti-
20 gen Welt: also hier handelt es sich um das universale normative Apri¬
ori oder um die apriorischen Sollenswissenschaften in ihrem Verhältnis
zu den Geisteswissenschaften. Das große Problem der Möglichkeit der
Ideenbildung in der geistigen Welt: Sind hier die normativen Ideen
nicht vorausgesetzt? Voraussetzungen der Möglichkeit der Gemein-
25 schaft: Voraussetzung also einer umweltlich gemeinsamen Natur.
Rückleitung auf die transzendentale Subjektivität in ihrer Wesensall¬
gemeinheit und als Intersubjektivität. Umweltliche Natur — und
Idee einer Natur an sich, als Thema für Wahrheiten an sich: Beziehung
auf Erkenntnisnorm, erkennende Vernunft; die ist schon vorausge-
30 setzt, wenn wir erkennend die Möglichkeiten unseres Seins und einer
uns gemeinsamen Umwelt erwägen.
Die Welt der Natur und die ihr eingeordnete Subjektivität, die
Personen, als praktisches Thema und Thema vorher von Wertungen.
Die Welt als ein Bereich möglicher Zwecksetzungen und vollkommener
35 Gestaltungen, auch „von selbst” gewordener schöner Gestaltungen.
Die Normen der Ästhetik und Praxis. Die Idee einer vollkommenen
Menschheit, vollkommener Menschen, vollkommener einzelner Taten
und Werke, vollkommener Sozialitäten, vollkommener Kultur usw.
Die Vollkommenheit aus Freiheit. Die Prinzipien der einzelmensch-
40 liehen und sozialen Freiheit.
Desiderate nach den Platonischen Impulsen.
1.) Vernunft, Einsicht scheidet wertvolle, philosophische Erkennt¬
nis von der des Alltags. Aber mit der Berufung auf Evidenz, auf ein
philosophisches Vermögen ist es nicht getan. Denn darauf beruft sich
45 jede der Philosophien, von denen man einsieht, daß sie miteinander
unverträglich sind.
BEILAGEN 321
Es gibt aber Einsichten, die niemand bestreiten kann, die jeder
Erkennende als Erkenntnis-Handelnder anerkennen muß und aner¬
kennt. Nämlich jedes Vorgesetzte Ziel kann unklar oder klar sein, und
allgemeine Einsicht über das Ziel, das alle Theorie sich als solche stellt,
5 geht allen besonderen Theorien und ihren eventuellen Einsichten
vorher, und sie ist, wenn sie gelingt, auch zwingender als jede beson¬
dere.
Was ist das allgemeine Ziel der Wissenschaft, und wann ist die Er-
kenntniszielung rein befriedigt? Welche Form gehört zur Wissenschaft
10 als solcher, welche formale Norm? Welche Form der Methode (Hand¬
lungsform) ?
Das Allgemeinste: Sinn der Welt, wie sie wahrhaft ist. Übergang zu
allgemeiner, prädikativer Wahrheit. Wahrheit und vereinigte Man¬
nigfaltigkeit von Wahrheiten. Was gehört zur Wahrheit als solcher?
15 Ein Erzeugnis, das einsichtig in absoluter Identität des Sinnes erziel¬
bar ist, in der Weise der Erkenntniszielung und umgekehrt. Evidenz
ist ein Bewußtsein, ein Schauen, das wiederholt ein absolut Identisches
erschaut, und erschaut, daß es dasselbe erschaut. Echte Wahrheit
baut sich aus echten Identitäten. Jede Wahrheit ist Wahrheit wor-
20 über. Sie hat Substrate, und diese müssen identisch sein und als iden¬
tische identisch bestimmt sein in identischen Prädikaten, identischen
inneren und äußeren usw.
2.) Ideen als Allgemeinheiten. <Sie> treten auf als allgemeine Prä¬
dikate und können vielem einzelnen zukommen, sie können aber selbst
25 Subjekte allgemeiner Prädikate sein. Wie kann Individuelles, das
letztes Substrat aller Bestimmungen ist, in echter Wahrheit bestimmt
werden — als Identisches, das sich doch verändert, das wird —
Werden ist aus etwas Werden und im Werden Identisch-sein; als
Substrat von relativen Bestimmungen — da doch' alle indivi-
30 duelle Bestimmung abhängig ist von individuellen Umständen. Die
Sinnendinge <sind> voneinander abhängig, sie sind, was sie sind, in
Bezug aufeinander, aber auch in Bezug auf den Erkennenden und
seine Leiblichkeit und seine zufällige subjektive Geistesverfassung.
Sicher ist, daß Ideenurteile, die nichts Sinnliches-Individuelles als
35 wirklich setzen, unbedingt einsichtig sind. Aber sind Ideen anderes als
Normen — und letztüch für mögliches Individuelles, das soll in Wahr¬
heit sein können? Die idealen Wahrheiten sind Normen der Möglich¬
keit des Seins, natürlich auch des Seins der Ideen, sofern sie prädikabel
sind, aber letztlich des Seins von Individuellem.
40 3.) Aber wenn ich nicht über das Faktum dieses Individuellen und
dieser Welt urteile, und die Bedingungen der Möglichkeit individuellen
Seins überhaupt erwäge, so bin ich doch auch in einer Idee-Betrach¬
tung, die Individuelles selbst unter die Idee des Individuellen stellt.
Und wenn ich, noch allgemeiner, Bedingungen der Möglichkeit eines
45 Seins überhaupt erwäge, eines Etwas überhaupt, das soll sein können
(ob nun Individuelles oder seinerseits als Idee), so erwäge ich doch
Etwas überhaupt als Idee, oder in idealer Allgemeinheit. Es scheidet
Husserliana VII 21
322 ERGÄNZENDE TEXTE
sich Etwas überhaupt (und Modalitäten dieses Etwas) in formal idea¬
ler Allgemeinheit und individuelles Etwas, und die Modi der Indivi¬
dualität wieder in idealer Allgemeinheit. Aber nun sehe ich erst recht,
daß ich in der Erwägung der Normen der Individualität noch nicht die
5 bestimmten Arten der Besonderungen habe, die selbst wieder ideale
sind; die Idee des Menschen, die Idee des menschlichen Leibes, die
Idee des Tieres und tierischen Leibes; und gehört nicht auch <die>
Idee der Sinnlichkeit und der besonderen Artungen der Sinnlichkeit,
die Idee der Farbe und <die> des Tones hierher? Und schließlich die
10 Ideen von Psychischem jeder Gattung und Art.
Hier ist ein Desiderat: Der Platoniker läßt sich davon leiten, daß
die Seele, die Subjektivität das Wirkliche der Ideen ist, daß sie es ist,
die Ideen schaut und mittels ihrer Erkenntnis vollziehen soll.
4. ) Bei einer Scheidung der prinzipiellen Gruppen von Ideen handelt
15 es sich um „oberste” Ideen, die durch verschiedene Richtungen, Wei¬
sen der Verallgemeinerung als „oberste” gewonnen sind. Was charak¬
terisiert diese Arten der Verallgemeinerung und dieses „Oberste”?
Platon unterscheidet die mathematischen Ideen, die noch an der
Sinnlichkeit hängen, und die reinen Ideen. Weist das nicht vor (ob-
20 schon er in der Beurteilung der Arithmetik zu seiner Zeit gebunden war)
auf eine Scheidung von materialen Ideen und formalen der rein
logischen Sphäre (und rein axiologischen und praktischen), die einen
aus der realen Anschauung gezogen, die anderen nicht ? Und weist die
Meinung, die ersteren ließen sich von der Anschauung in der Methode
25 der unoTeaic; befreien, nicht auf die Mathematisierung der Raum-
Form hin, als formale Mathematisierung? Aber kann es eine Welter¬
kenntnis ohne materiale Ideen geben, deren Materie mitgenommen
sein muß? Also Probleme von Materie und Form treten in der Ideen¬
sphäre selbst auf, und nicht bloß das Problem der öX>), die Individuation
30 schafft.
5. ) Andererseits das Problem der Approximation, als der graduellen
ic,.
Liegt in der sinnlichen Gegebenheit oder Erfahrung ein „verworre¬
ner”, unvollkommener Gedanke, dessen Vollkommenheit die Idee
35 wäre? Normierung als Unterlegung der Idee.
Die Dinge, die objektive Welt, darunter die Menschen und Tiere,
die durch Erfahrung gegeben <sind> — in der Schwebe zwischen Sein
und Nichtsein, in Gradualitäten der Seinsvollkommenheit, aber nie¬
mals „wahrhaft seiend”. Sinnliche Wahrheiten keine reinen Wahr-
40 heiten.
Die Ideen. - Die Ideenwahrheiten.
Kennt man sie, so kann man das verschiedene Wahrsein (der
Ideen), <an welchem bzw.) an welchen sie Anteil haben, heranziehen
und in gewisser Weise etwas über die Sinnendinge erkennen: nämlich
45 daß sie sich an die erkannten Ideen annähem. Aber die Dinge in ihrer
Relativität ergeben immer neue sinnliche Wahrheiten, mit sinnlichen
BEILAGEN 323
Begriffen. Es nützt nichts, jede solche Wahrheit in der angegebenen
Weise umzuwandeln; denn wir kommen dadurch nicht auf Wahr¬
heiten, die als Wahrheiten an sich immer und überall, von jedem Er¬
kennenden eingesehen werden können.
5 Gibt es aber nicht vielleicht eine Methode der Beziehung der Erfah¬
rung auf Ideen, des Individuellen, das Erfahrung gibt, auf bestim¬
mende reine Ideen, durch die jeder dasselbe Ideengebilde muß er¬
zeugen können - jeder, der in der Einsicht lebt und, die einsichtige
Methode erzeugend, von seiner Sinnlichkeit ausgeht?
10 Abhängigkeit von der Subjektivität und ihrer Leiblichkeit, Ab¬
hängigkeit der Dinge von Umständen, die selbst dinglich sind.
Die Welt ist intersubjektiv gegeben — im Falle normaler Subjek¬
tivität normal zusammenstimmend, freilich ungefähr. Wenn die
Normalität unbestimmt bleibt und ungefähr konstant, wenn sie
15 unbestimmt doch gedacht werden kann als idealiter einer unbekann¬
ten Norm entsprechend und wie konstant praktisch behandelt werden
kann: dann gibt es eine Methode, die in der Weise einer Methode der
Approximation alles Individuelle nach seinem wahren Sein be¬
stimmt —; dann läge in reiner Möglichkeitsbetrachtung, die das Em-
20 pirische rein nimmt und die idealen Möglichkeiten und Ideen er¬
forscht, die Aufgabe der Konstruktion der „Vorbilder” für mögliche
konkrete Bestimmungen. Mannigfaltigkeitslehre.
Muß alles irgend Erscheinende im Platonischen Sinn wahrhaft sein,
und muß es für alles Wahrheiten an sich geben?
25 Ist nicht das Erscheinende als solches gegenüber der ev. zu ihm
gehörigen ideenbestimmten Wahrheit, die doch eine ist gegenüber
dem Fluß dieses Erscheinenden, selbst etwas — und jede unter¬
scheidbare Phase, jedes Schwanken und Fließen selbst etwas,
in gewisser Weise seiend, und doch nicht bestimmbar, individuell in
30 „absoluter” Wahrheit ? — Das Nichtseiende des Parmeni-
d e s ist! Zwei Seins-Begriffe.
Ist nicht die ganze Subjektivität selbst, die ja auch alle fließenden
Dingerscheinungen befaßt, nur bestimmt im eigenen Leben, aber eine
unendliche des im einzelnen Unprädikabeln, nicht in Wahrheiten an
35 sich Ausdrückbaren, Fixierbaren, und doch wissenschaftlich erkenn¬
bar in seiner Typik, in einem allgemeinen Wesen, nur nicht in jedem
der unendlichen Momente seines Lebens im Fluß ?
Typenbegriffe und exakte Begriffe. Das Denken in reinen Identitäten,
40 in idealer Möglichkeit, eben der möglicher Identität. Hypothese der
Identität.
Relative Erfüllung. — Platon sieht, daß Erfahrung immerfort bloß
86£<x ist; das ist sie in der Tat — als immerfort unerfüllte Intention.
Und er sieht in der Aussage des Seins und Soseins das Wahre in der
45 „Anteilhabe” an der Idee des Seienden als absolut identisch Einen,
und an der ausgesagten Beschaffenheit wieder als Idee, die identisch
eine ist, als identisch sogeartetes Sein u. dgl. —
324 ERGÄNZENDE TEXTE
Also jede empirische Aussage ist Prätention einer Wahrheit, und nie
sie selbst, die in unerreichbarer Ferne liegt und die sie gewissermaßen
verähnlicht, verbildlicht, mehr oder minder vollkommen, die aber doch
notwendig im Unendlichen verbleibt — eben als unerreichbares Ideal.
5 Also ist empirische Wahrheit selbst nie Wahrheit, nur Ähnlichkeits¬
symbol für ein Unzugängliches: Transzendentes.
Andererseits sind doch Ideen als reine selbst zu „erschauen” als
ideal Identisches; auf der Krücke der Sinnlichkeit (die nur für uns
Erdenwesen notwendig sei) können wir uns zu ihnen auf schwingen,
10 und wir können Ideen als Gegenstände schauen und auf sie bezüglich
Ideenwahrheiten aussprechen, welche, als auf Reines bezüglich, nicht
Anweisungen sind (es sei denn in unklarem Denken und Reden), son¬
dern in der reinen Ideenschau wirklich erreichbare Wahrheiten.
Er faßt die Sache aber so: Sinnliche Wahrheiten (Erfahrungsur-
15 teile, Kant würde sagen: Wahmehmungsurteile) weisen auf eine
ideale Wahrheit hin, die gar nicht besteht als diejenige, die da verähn¬
licht zu sein prätendiert, denn im sinnlichen Gegenstand, in seinemFluß
und seinem Relativen, ist kein solches wahres Sein, das sich hier gibt,
herauszustellen. Was sich gibt, ist nur Relatives, nur Fließendes, nur
20 relativ Identisches, also überhaupt nicht Identisches. Die Verähn¬
lichung im Individuellen ist eine solche, daß keine absolute Wahrheit
unterzulegen, je herauszuschauen ist; denn dann wäre das Individuel¬
le, das die Sinnlichkeit vorstellig macht, eben letztlich kein Relatives
mehr.
25 Endgültigkeit einer Wahrheit. — Gleichwohl, mit ihm — <Platon> —
setzt der extreme Rationalismus ein (im weiteren Sinn ist auch der
Empirismus rationalistisch), wonach reine Ideenschau allein Seiendes
selbst, wahres Sein selbst schauen läßt und reine Ideenprädikationen
allein selbst erkennbar sind als Wahrheiten. M.a.W.: nur apodiktisch
30 evidente Gegebenheiten, nur solche, die so erschaut sind, daß sie auf
Grund der Schau absolut nicht preisgegeben werden können, wo,
wie in ebensolcher Schau erkennbar ist, kein Geschautes mit anderem
Geschauten je streiten, keines ein anderes aufheben kann; mit einem
Worte: nur absolut begründete Wahrheiten sind Wahrheiten. Also
35 Wissenschaft muß absolute Rechtfertigung ihrer Sätze anstreben,
und nur soweit sie solche Sätze gibt, ist sie Wissenschaft. Also eigent¬
liche Wissenschaft ist nur „Ideen”-Wissenschaft. Aber wie steht es
dann mit dieser Sinnlichkeit und fließenden Schatten weit ? —
Erschauen eines absoluten Seins, Erfassen einer absoluten Wahrheit.—-
40 Der Schauende erschaut im wiederholten Schauen dasselbe, mit densel¬
ben Bestimmungen, erkennt es immer wieder als absolut dasselbe; es
kann in diesem schauenden Erfahren nicht einmal sich so ergeben, das
andere Mal anders; keine Möglichkeit der Preisgabe einer Aussage,
die beschreibt, wie es ist. Ideal. Ideales Sein ist Mannigfaltigkeit
45 und steht in mannigfaltigen Relationen. Aber im Wechsel der Rela-
BEILAGEN 325
tionen behält es sein absolut identisches Eigenwesen, durch das es die
Relationen selbst begründet. <Es ist) identisch in allen erdenklichen
Relationen. Die Relationsprädikate wechseln, aber geschieden von den
irrelativen. Jede Relationsaussage zu Idealem ist selbst ein Ideales. Das
5 empirische Sein hat aber nur scheinbar ein eigenes Wesen, das iden¬
tisch bleibt. Alles scheinbar Eigenwesentliche wechselt mit den raum¬
zeitlichen Relationen. —
In der tatsächlichen historischen Entwicklung konnten solche Ein¬
sichten nicht von vornherein leitend sein. Zu Anfang ging das Interes-
10 se auf die Gebilde der wahren Aussage, auf das wahrhaft Seiende als
das, worüber in Wahrheit, in wahrer Aussage ausgesagt wird, daß und
was es ist. Was die Aufmerksamkeit des Aristoteles in eigenem
Kreise fesselte, waren die verschiedenen Typengestalten der (urteilen¬
den) Aussage, auf die alle noch so komplizierten sich reduzieren, und
15 dann die Formen der Schlüsse, die Formen konsequent beschlossenen
Seins und nicht beschlossenen Seins von Aussagen in anderen Aus¬
sagen.
Die Anstellung der Betrachtung war methodologisch. Urteile,
Aussagen sind Gebilde im urteilenden Tun. Wie bei allen geistigen
20 Erzeugnissen käme dabei in Frage das erzeugende Subjekt, die Hand¬
lung als Prozeß des schrittweise Realisiertwerdens des Erzeugnisses,
und darin das vollendete Erzeugnis selbst in seinem bleibenden Sein,
hier als die Aussage, das Urteil, auf das der Urteilende wieder zurück¬
kommen kann, als auf seine gewonnene und bleibende Überzeugung.
25 In der syllogistischen Kerntheorie, als einem Urstück deduktiver
Theorie (die hier zugleich Grundstück für eine deduktive Theorie von
deduktiver Theorie überhaupt war), ruht der Blick wesentlich auf den
Prämissen: Gebilden, so wie sie im (einsichtigen) Schließen vorange¬
hen, auf den erschließenden Urteilen, so wie sie vorangehen, aber auch
30 auf den ganzen Schlüssen als einheitlichen Gebilden, die sich im
schließenden Tun aus jenen beiden aufbauen — ganz so, wie im
zählenden und rechnenden Denken, wo Zahlen erzeugt werden. Aber
der Blick <ruht> auf den im arithmetischen Erzeugen <sich> aus¬
bauenden und hervorgehenden Erzeugnissen und dabei zugleich auf
35 dem Gesamtzusammenhang der Handlung, als Einheit einer Erzeu¬
gung, in der nicht nur die einzelnen Zahlen im Nacheinander, sondern
der Zahlenzusammenhang (z.B. die Summe, die Relation der Gleich¬
heit oder Ungleichheit) Einheitsgebilde ist: so im logischen Theoreti-
sieren auf den Schlüssen, als Zusammenhangsgebilden des Schließens.
40 <Der Blick geht) also eigentlich nicht auf das Subjektive des Han¬
delns, nicht auf all den Wandel subjektiven Lebens und Strebens,
sondern auf das, was in der Gegenrichtung, in der gegenständlichen,
zutagetritt — eben als einheitliche Handlung, in der aus den und
den Prämissengebilden der und der Schlußsatz einheitlich auftritt und
45 Gestalt hat (der erschlossene Gewißheitssatz etwa), im Charakter der
notwendigen Folge hervorgeht, herauserzeugt wird.
326 ERGÄNZENDE TEXTE
Natürlich ist das erzeugende Ich immer dabei, und in der allgemein
wissenschaftlichen oder philosophischen Reflexionseinstellung „irgend¬
ein” urteilendes und schheßendes Ich „überhaupt”. Aber nicht seine
Bewußtseinsinnerlichkeit, nicht seine psychischen Akte und Vermögen
5 sind dabei in dieser Allgemeinheit in Frage, stehen im Blick und the¬
matischer Erwägung; sondern vorausgesetzt ist nur, daß wir uns in
schheßendes und einsichtig die betreffenden Akte vollziehendes Tun
„hineinversetzen”; und das geschieht, indem wir ein Exempel eines
Schlusses, den jemand zieht, im erzeugenden Werden uns vorstellen;
10 <uns> hinein versetzen, wie etwa der Tischler, indem er Möglichkeiten
einer praktischen Aufgabe erwägt, sich in das erzeugende Handeln
ohne weiteres hinein versetzt, wobei er nur die objektive Handlung
vorstellig hat — und nicht seine psychologische Subjektivität, als ob
diese für dieses Hinein versetzen zum Thema werden müßte. Alle
15 Erwägung von Handlungen setzt voraus die Möglichkeit, sich solche
objektiven Handlungen objektiv vorstellig zu machen und eben da¬
mit sich in das Handeln hineinzu versetzen.
Noch ein anderes Beispiel mag uns auch für künftige Überlegungen
dienlich sein. Auch das Wahmehmen ist ein Handeln, obschon in der
20 Regel ein solches in jener anderen Stufe, die wir als <die> instinktiver
Tätigkeiten bezeichnen. Ein Baum weckt unser Interesse, wir sehen
hin, und hinterher kann auch das von Interesse sein, daß wir hin¬
sahen, wie bei einer Zeugenaussage. Dieses Hinsehen vollzieht sich als
ein Wandern des Blickes im tätigen Bewegen des Auges, als ein Sich-
25 leiblich-umdrehen, Beiseitetreten, im Wählen eines günstigen Standor¬
tes. Auch die anderen Sinne und Sinnesorgane und die mit zugehörigen
subjektiven Tätigkeiten können ihre Rolle spielen. Aber das, worauf
das Interesse ruht, ist allein das Objektive, der Baum selbst, diese
Dinge selbst und was von ihnen zur wahmehmenden Selbsterfassung
30 kommt; in der Ich-Reflexion aber nur das „Ich erfasse”, „Ich taste”,
„Ich sehe”, ev. auch „Ich trete näher”, „Ich beuge den Kopf” usf. Das
Ich bleibt dabei sozusagen Leer-Pol dieser Sachbezogenheiten und der
Handlungen, die selbst ihre Gegenständlichkeit haben und ihre Weise
der Aussage im natürlichen Wahmehmungsurteil: „Ich sehe das und
35 das, sehe davon jetzt die und dann jene besonderen Bestimmungen
bzw. Seiten”.
Daß hier weitere Reflexionen möglich sind, was hierbei als gegen¬
ständliche Einheit der Handlung des Ich sich in mannigfaltigen Er¬
scheinungsweisen und als ihre Einheit darstellt, wie die wechselnden
40 Aspekte, die mannigfaltigen Nah- und Femaspekte desselben als
desselben, auch die besonderen und ebenfalls wechselnden Aspekte des
eigenen Leibes u.dgl., ferner daß von hier aus Reflexionsrichtungen
auf neuartige subjektive, von der objektiven Äußerlichkeit in die In¬
nerlichkeit hineinleitende Momente subjektiven Lebens <hervortreten>
45 — davon weiß der natürlich außen gewendete und natürlich subjektiv
gerichtete Mensch nichts. Das Subjektive, das er sieht, von dem er
im praktischen Leben allein spricht, weil er für die objektive Praxis
BEILAGEN 327
nur darauf seinen Blick zu lenken hat, das ist immerfort ein „Objekti¬
ves , etwas, das „Einheit” ist lebendig ablaufender, aber unerfaßter,
unerfahrener, und doch im Bewußtseinsfeld liegender Mannigfaltig¬
keiten. Es ist schon klar, daß dieses natürlich Objektive das natür-
5 licherweise Erste der Erfahrung ist, daß das natürlich Subjektive, das
beständig mit ihm eins ist, seinerseits schon ein Zweites ist, aber das
Erste der Reflexion, und daß beides ein natürliches Erfahrungsfeld
ausmacht, in dem der Blick der Praxis auf- und abwandert, bald
geradehin, bald reflektierend. Und wieder ist es klar, daß weitere
10 Reflexion schon dieses erste Reflexionsfeld der Gegebenheit voraus¬
setzt, als Sprungbrett für weitere Reflexion, eben weil, was noch un¬
sichtbar und unerfaßt geblieben ist, nicht neben dem Erfahrenen liegt,
sondern <dieses> es in sich als „Einheit” trägt.
So ist es also auch hinsichtlich jener Tiefendimensionen des Sub-
15 jektiven, des Psychischen, die zum handelnden Leben des aussagend
Urteilenden, Schließenden, nach Erkenntnis und Wahrheit Strebenden
gehören. Und damit versteht sich die Art, in der die erste logische
Forschung notwendig zuerst sein mußte, die als ts^vy), als Kunst¬
lehre, Methodologie des auf echte Erkenntnis gerichteten Philosophie-
20 rens sein wollte.
Beilage VII (zur 5. Vorlesung): <Platon und die Begründung der
Ideenmathematik. > x)
<Es> gewinnt vor allem die Mathematik erst dank der in der
Platonischen Dialektik geleisteten subjektiv-methodologischen Vor¬
arbeit ihr spezifisches wissenschaftliches Gepräge. Erst dadurch wird
sie zu einer reinen Geometrie und Arithmetik l 2), daß sie die empi-
25 risch anschaulichen Raum- und Zahlengebilde hinter sich läßt, indem
sie sie als Sprungbretter für die in ihnen durch denkmäßige Einsicht
(Ideenschau) herauszuschauenden reinen Ideen benützt, d.i. für ideale
Limes, denen sich jene sinnlichen Gebilde in mehr oder minder vollkom¬
mener Teilhabe approximieren. Mit solchen überempirischen Approxi-
30 mationsidealen (reinen Einheiten, reinen Mengen und Zahlen, reinen
Punkten, reinen Geraden usw.) hat es „reine” Mathematik allein zu
tun. Erst wenn sie erschaut und in den Brennpunkt philosophischen
Interesses gerückt sind, werden echte Prinzipien erschaubar, aus denen
echte Theorien und Wissenschaften entspringen, Wissenschaften, die
35 im echten Sinn begründen und apodiktische Prinzipien apodiktisch
erklären. Daß Platon die ihm historisch vorgegebenen Wissenschaften
als bloße Vorstufen solcher echt rationalen Wissenschaften wertet (als
solche aber darum nicht geringer wertet), darüber hat er sich in den
Schlußkapiteln (20,21) des VI. Buches vom Staat völlig klar ausge-
l) etwa 1924. — Anm. d. Hrsg.
s) Das bis hierhin Vorangestellte ist die vom Hrsg, zitierte Stelle des Haupttextes,
an die der Text der Beilage als Variante sich unmittelbar anschließt. Vgl. S. 34, Anm.
— Anm. d. Hrsg.
328 ERGÄNZENDE TEXTE
sprochen. Die Mathematiker, so führt er aus, reden so, als ob ihre
Sätze von den sichtbaren (den auf die Tafel gezeichneten oder in bloß
sinnlicher Phantasie entworfenen) Gestalten gelten würden. Aber
ihre eigentliche Intention geht, ohne daß sie sich das zum reinen
5 Bewußtsein bringen, gar nicht auf die sichtbaren; sie geht auf das, was
man sinnlich nicht sehen, aber denkend einsehen kann. Diese Mathe¬
matik steht also noch mit einem Fuß in der Sinnlichkeit, sie ist noch
nicht die echte, die Ideen-Mathematik, die von allen empirischen
Mitbenutzungen befreite Wissenschaft ist, aus reiner Vernunft. Ähn •
10 lieh steht es, meint Platon, mit allen Wissenschaften im Sinne der ge¬
wöhnlichen Rede und Ausführung, sie sind bloße Vorstufen der kon¬
kreten, der eigentlich philosophischen Wissenschaften, die ihrem Sinn
als Wissenschaften in reiner Weise und völlig bewußt genugtun.
Diese Gedanken leiten nun die wissenschaftliche Arbeit wie Platons,
15 so seiner Schüler und, bei aller Umbildung derselben, auch diejenige
des Aristoteles. In den Elementen des Euklid erwächst der erste
systematische, mustergültig durchgeführte Entwurf einer Wissenschaft
nach dem neuen Ideal reiner Rationalität, auf Grund der durch Platon
selbst, durch Theätetus, Eudoxus u.a. geleisteten Vorarbeit.
Beilage VIII (zur 8. Vorlesung): <Notizen zur Lehre des Plotin.y 1)
20 Nach P 1 o t i n, Enn. V, 4, 1, muß im Anfang aller Dinge ein voll¬
kommenes Eines, Absolutes, Einfaches, Unvermischtes, von allem
anderen Verschiedenes stehen, aus dem sich weiterhin das Zusammen¬
gesetzte und Vielfache entwickelt und durch das es besteht. Dieses
vollkommene Eine kann nicht das Denken (voü<;) sein; denn dieser
25 Begriff bedeutet etwas Zwiespältiges (voö^ und voyjtov). Das Eine das
Gute, Gott. Das Eine liegt über alles Denken hinaus (ibrexeiva); es
ist für unser Begreifen ein Wunder.
Sehen (sinnliche Welt) — Begreifen (intelligible Wesenheiten) —
Schauen (das Eine). Die Seele muß sich von allem Äußeren und Ablen-
30 kenden befreien, sich eine Art Aufschwung (avaxivetaöm) geben, daß
sie fähig wird, sich in vollkommener Reinheit und Ruhe auf sich selbst
<zu> konzentrieren und dadurch die Gottheit <zu> schauen (V,8,19;
VI,9,5-11). Dann unvermutetes Kommen der Gottheit. Aufgehen in
die Gottheit. Jeder Unterschied des Schauens und Geschauten ver-
35 schwindet. Ekstase nicht lange erträglich. Später kann die Seele keine
Nachricht von dem Geschauten geben.
Alle Dinge <haben> nur soweit Existenz, als sie an dem Einen teil¬
haben. Alle Dinge <haben> ihr Vorbild in den Ideen (die im vou<; ent¬
halten sind); das Eine aber höher als die Ideen; es ist über vernünftig,
40 überschön usw.
Als Grund des Strebens aller abgeleiteten Dinge, als der absolute
Zweck und Inhalt der Ethik ist das Eine ,,das Gute”. Durch Beziehung
darauf sind alle anderen Dinge ayafroeiSr)^.
ß etwa 1913. — Anm. d. Hrsg.
BEILAGEN 329
Das Eine an seinen Wirkungen erkannt. Als wirkender Kraft muß
dem Einen Tätigkeit (evepyeia) zugeschrieben werden, absolute
Tätigkeit, ohne Substrat. Plotin spricht auch von dem „Schaffen der
Notwendigkeit”.
5 Das ganze Buch VI, 8 handelt von der Willensfreiheit. Der Zufall
nicht das Bestimmende. Die ganze sinnliche und übersinnliche Welt
geht nicht auf den Zufall sondern auf den vouc; zurück. Die Ursache
muß immer vollkommener sein als die Wirkung. Also kann nicht der
Zufall bestimmt haben.
10 Also das Eine muß <sich> selbst zum Werden bestimmt haben, und
insofern Willen besitzen. Das Gute ist so, weil es so am besten ist,
und nicht, weil es genötigt ist.
Die wahre Freiheit besteht darin, nach dem Guten ungehindert
streben zu können. Gegensätze schaffen zu können, wäre ein Zeichen
15 des Unvermögens.
„Das Gute” hieße besser das „Übergute” — als absolute Ursache,
absoluter Zweck alles Abgeleiteten. Denn vermöge seiner Vollkom¬
menheit und Unendlichkeit entzieht sich das Eine dem Denken, über
alle Begriffe erhaben („hinaushegend”). Es war schon vor den Begrif-
20 fen und wird von ihnen nicht umfaßt. Hier noch tiefere Aussagen.
Die Frage „Woher?” für das Eine unangemessen. Es ist letzte
Ursache; ein weiteres Forschen nach dem Grunde unmöglich. Jede
Bestimmung setzt schon einen höheren Grund und widerspricht dem
Absoluten. Daher das Eine auch unbestimmt (ooreipov), ohne
25 Grenzen, ohne Gestalt und Form, aveiSr)^. Nicht Qualität und Quan¬
tität, nicht Intellekt, Seele; nicht räumlich beschränkt, nicht zeitlich,
vorzeitlich, ewig. Keine Bewegung.
Kein Wollen (bedürfnislos). Keine Tätigkeit (auf anderes gerichtet)
im eigentlichen Sinn. Kein Denken, kein Bewußtsein — zum Denken
30 gehört notwendig: Denkendes — Gedachtes. Der voik; denkt sich
selbst; aber da bleibt noch die begriffliche Trennung, eine Zweiheit
zur Einheit zusammengehalten. Das Eine kann sich nicht selbst den¬
ken und erst recht nicht anderes, sonst wäre es eines anderen bedürf¬
tig: es wäre sonst nicht vollkommene Einheit.
35 Selbst daß das Eine ist, kann nicht gesagt werden: alles Sein ist
vielfach, mannigfaltige Bestimmungen habend. Das Eine ist Ursache
des Seins. Das Eine unsagbar, unnennbar, apprjTOv. Eigentlich die
Beziehung das Gute, auch „die Ursache”. Wir sagen damit etwas, was
eigentlich nicht von ihm ausgesagt wird sondern von unserem Stand-
40 punkt <aus> ausgesagt wird, weil wir etwas von ihm haben, während
e s in sich selbst bleibt.
Beilage IX (zur 9. Vorlesung): <Der> Cusaner über Wesensschau. *)
Aus Zitaten aus Schriften von Nicolaus von Cusa, die
M a h n k e in den Anmerkungen zum 1. Abschnitt seines Leibniz-
1) etwa 1923. — Anm. d. Hrsg.
330 ERGÄNZENDE TEXTE
Buches (in der Freiburger Dissertation) gegeben <hat>, scheint hervor¬
zugehen, daß „rationale” Erkenntnis vom Cusaner verstanden ward
als rationale Naturerklärung.
Die vom Menschengeist geschaffene Welt der Zahlen und Figuren
5 stimmt mit der wirklichen nicht genau überein sondern ist ein bloßer
conjecturalis mundus, der sich aber in unendlichem Erkenntnisfort¬
schritt an die wahre Welt annähert, wie ein Polygon (mit unendlich
werdender Seitenzahl) dem Kreis.
„Der Menschengeist hat an der Fruchtbarkeit der schaffenden Natur
10 nach Möglichkeit Anteil. Aus sich selbst als dem Bilde der allmächti¬
gen Form” — der denkende Mensch wird auch als Selbstporträt des
schaffenden Gottes bezeichnet — „holt er in Ähnlichkeit mit den rea¬
len Wesen rationale hervor”.
Höher als diese rationale Erkenntnis steht die „intellektuelle”, die
15 ratio sine dissensu, visio mentalis, intuitio. Das scheint nichts anderes
als Wesensschau zu sein. Nach dem Dialogus de possest: Da alles, was
existiert, das sein kann, was es in Wirklichkeit ist, so erblicken
wir (conspicimus) von hier aus die absolute Wirklichkeit (actualitatem
absolutam — possest = Wesen), durch welche alles, was in Wirklichkeit
20 ist, das ist, was es ist; wie wir z.B., indem wir etwas Weißes an einem
sichtbaren Auge sehen, die Weißheit (albidinem) intellektuell heraus¬
schauen (intellectualiter intuamur), ohne die das Weiße nicht weiß ist.
Beilage X (zur 9. Vorlesung): <J)escartes und die Skepsis.> x)
I: Die Unverständlichkeit der Erkenntnis als Welterkenntnis — das
Sein der Welt selbst als in der Subjektivität des Erkennens beschlossen.
25 Die Skepsis hat Anhalt in dieser „bloßen” Subjektivität.
II: Das Problem der radikalen Begründung der (positiven) Wissen¬
schaften, zurückführend auf das „allein apodiktisch gegebene” ego.
Wissenschaft als mittelbare Erkenntnis — „schließende” — muß
zurückgeführt werden in der Einheit einer Deduktion auf das apodik-
30 tische ego.
III: Zusatz. Descartes — seine Originalität und seine Abir¬
rung — das ego die „reine Seele”, in ihr die „Welt” als Korrelat der
Erkenntnis verstanden, Weltvorstellung in der reinen Seele. Absolute
Erkenntnisbegründung = realistische Schlußweise von der reinen
35 Seele auf die „Außenwelt”, die außerseelische.
I
Der Ausgang von dem Rätsel der Erkenntnis, durch die <die'} seiende
Welt für mich, für uns seiende ist, und darin selbst wieder wir, die Er¬
kennenden. Die Unverständlichkeit der Erkenntnis und erkannten Welt
als in der Subjektivität des Erkennens beschlossen.
40 a) Objektiv gerichtete Meinung, Erkenntnis, gute und schlechte,
evident bewährende oder nicht bewährende, spielt sich in mir, dem
*) aus den 20er Jahren.
BEILAGEN 331
Erkennenden, ab, und daß mein Meinen auf ein Objektives, auf seiende
Welt geht, das selbst ist meine Meinung, meine Erfahrung, mein als
sich in mir abspielendes Gewißsein. Die selbstverständliche Gewißheit,
die in der Rede von der Welt (die ich erkennen, wissenschaftlich
5 erkennen will) liegende Selbstverständlichkeit des Seins, des Seins
mit dem allgemein bekannten Sinne ,,Welt”, ist eben auch meine
Selbstverständlichkeit, meine jeder Frage der wissenschaftlichen Er¬
kenntnis zugrundeliegende, nur nicht ausdrücklich mir herausgehobe¬
ne Meinung.
10 Sind nicht alle wissenschaftlichen Sätze, Satzgebilde, Theorien, sind
nicht alle in der Weise falscher Meinung, aber auch der Einsicht, und
selbst apodiktischen Einsicht mir geltenden — mir, dem Erkennenden
—, meine eigenen subjektiven Erkenntnisgebilde, in meinem Meinen
Gemeintes, in meinem Einsehen Eingesehenes des und des Sinnes, und
15 als solches von meinem Meinen unabtrennbar, ihm selbst mit zuge¬
hörig — also subjektiv? Und gilt das nicht auch für die vorwissen¬
schaftliche Weltmeinung und selbst Welterfahrung, die der beständige
Untergrund ist in der Wandlung von unkritischer Erfahrung zur
wissenschaftlichen Erfahrung für die wissenschaftliche Leistung ?
20 Ist also alles vermeinte Objektive, aber auch alles für mich wahrhaft
Seiende und als das Bewährte subjektiv, in seinem „Sein an sich
selbst” ein subjektives Gebilde — ist nicht das Bewähren selbst ein
Leisten in mir, also ist nicht Objektivität ganz und gar als gewisser
Wahrheitssinn prinzipiell subjektiv? Wie ist das aber zu verstehen?
25 Wie ist Objektivität als Leistungsgebilde zu verstehen — wie macht
sich in meinem Bewußtseinsleben naive und wissenschaftlich be¬
währte Objektivität, da ich, jeweils erkennend, Erkennen durch¬
lebend, von dem, was es selbst als leistendes ist und wie es leistet,
nichts „weiß”? Wie wird erkennendes Leisten selbst thematisch und
30 selbst erkannt? Aber ist all mein Sein mit allem Bewußtseinsleben
und -leisten in der Welt objektiv Seiendes?
b) „Wie ist es zu verstehen” — das hat also noch eine andere und
früher sich auf drängende Note — vom Skeptizismus her.
Wenn Objektivität „nur” subjektive Meinung ist, ist An-sich-sein
35 einer Welt nicht eine Täuschung, gilt das nicht für jeden Erkennen¬
den ? Wie kann einer wissen, daß, was er in sich meint und bewährt,
mit dem des Anderen übereinstimmend ein und dasselbe ist? Welt
soll doch objektive Welt, Welt an sich für jedermann sein. Wie kann
ich, wie ein Mensch überhaupt erkennen, daß eine Welt, und d i e-
40 s e 1 b e, „die” Welt: für jedermann ist ? Jeder kann nur sie erkennen
als seine Meinung. Wie kann ich Nebenmenschen anders erkennen
<denn> als meine in mir vermeinten? Ich darf nicht einmal sagen:
„wahr ist für jeden Menschen, was ihm erscheint”, sondern nur:
wahr ist für mich, was mir erscheint. „Jedermann” — das ist selbst
45 meine Meinung, die nicht über mich hinausführt. Also ende ich mit
dem Solipsismus, den, wie es scheint, G o r g i a s ausgesprochen
hat. Es gibt kein Objektives, keine objektive Wissenschaft. Nur mein
332 ERGÄNZENDE TEXTE
Sein und das meiner Meinungen ist, und sogar apodiktisch gegeben,
und anderes ist überhaupt nicht denkbar.
Also die Unverständlichkeit der Erkenntnis:
1) Wie ist Erkennen als immanente Leistung des Erkennenden/
5 als eine Leistung, in der in ihm selbst Objektivität als Erkenntnis¬
gebilde, als subjektiv Erkanntes als solches zustandekommt, zu erfor¬
schen, wie ist der ganze Bau dieser Leistung aufzuklären? Was dabei
Ergebnis ist, ist aus mir, in mir, und soll doch objektiv sein. Das
führt auf
10 2) Wie ist es zu verstehen, daß ich, der Erkennende, in meiner erken¬
nenden Leistung und als Erkenntnisgebilde mich als objektiv
erkenne, und ebenso Andere erkenne und sie als Erkennende
erkenne, als Bewußtseinssubjekte überhaupt wie ich selbst und als
solche, die sich mit mir im gelingenden und verfehlenden Erkennen
15 vergemeinschaften usw., kurz als Mitsubjekte, die mir in der Objek¬
tivierung gleichstehen, ja auf die ich als Kritiker rechne? Wie ist es
zu verstehen, daß alles Erkennen und Erkannte ,,in” mir ist und auch
als erkanntes Seiendes Für-mich-seiendes ist, und doch ich nicht allei¬
niges Ich bin, sondern von mir andere Ich erkannt werden und aner-
20 kannt werden müssen als mit mir koexistierende und durch Erkennt¬
nisvergemeinschaftung mit mir für objektiv Seiendes mitverantwort¬
lich sind ?
Und wie ist es zu verstehen, daß für mich und die für mich erkenn¬
baren (und dahin gehört auch: für mich denkbaren) Anderen — Mit-
25 Subjekte derselben Welt als für uns alle seienden, also von uns allen in
Erkenntnisvergemeinschaftung bewußtseinsmäßig konstituierten, sein
müssen, als Menschen in derselben Welt seiend und als Menschen die¬
selbe Welt erkennend ?
In historischer Motivation geht die skeptische Fragestellung voraus
30 und birgt implizite die Motivation zur ersten, nämlich zur Frage: wie
verstehe ich Erkenntnis als Leistung in mir, durch die ich Welt und
darin andere Menschen mir nach Sinn und Seinsgeltung aufbaue ?
II
Statt des Problems der Erkenntnis'. Das Problem der Methode der
radikalen autonomen Begründung einer Philosophie und darin beschlos-
35 sen aller Sonderwissenschaften.
Objektive Wahrheit und Wissenschaft habe ich selbst, der Erken¬
nende, zu verantworten, endgültige Wahrheit der Wissenschaft muß
„apodiktisch”, aus apodiktischen Gründen für mich einsichtig sein.
Echte begründete Wissenschaft ist eine solche, die keine unbegrün-
40 deten Vorurteile voraussetzt; eine Begründung muß, wenn echtes
Wissen möglich werden soll, sich so durchführen lassen, daß ich, von
einem apodiktischen Boden aus apodiktisch fortschreitend, zu dem
objektiven Wissen und dem Bau einer Welt Wissenschaft komme, die
ich erstrebe.
BEILAGEN 333
Alles, was für mich gilt als seiend, habe ich selbst mit seinem Sinn in
Geltung gesetzt, oder es gehört zum Horizont meiner Möglichkeiten, es
zu erkennen, ev. einsichtig. Alles, was unter dem Titel „objektive
Welt” steht, ist zunächst sinnlich gegeben; hier kann ich in Täuschun-
5 gen geraten, selbst genötigt sein, vermeintes Sein zu durchstreichen.
Habe ich von der Welt, wie im einzelnen so überhaupt, eine unmittel¬
bare apodiktische Gewißheit? Ist es nicht denkbar, daß sie, obschon
erfahren, doch nicht sei? Alles Fragen, Zweifeln, Negieren setzt mich
selbst voraus als seiend — mein Sein ist bei allem, was für mich gilt,
10 und gilt als wirklich oder möglich, als Schein, als Sinn oder Widersinn,
dabei — und schon implizite vorausgesetzt — als seiend. Mein Sein
ist apodiktisch gewiß.
Scheint sich da nicht die Selbstverständlichkeit zu ergeben: in der
Ordnung der Begründung von Seiendem geht diese meines eigenen
15 Seins voran, und es allein ist unmittelbar durch apodiktische Gewi߬
heit begründet oder wann immer zu begründen. Auf diesem absoluten
Grunde muß ich nun alle andere Seinsbegründung vollziehen, also die
der objektiven Wissenschaft, der Philosophie. Liegt darin nicht wie
„selbstverständlich”: objektive Wissenschaft ist nur „mittelbar” zu
20 begründen, nur durch Schluß, und dann erschlossen-begründet auf
dem unmittelbaren Grunde des Ich-bin? Also: ich muß einen Weg
mittelbarer — schließender — Begründung suchen; die Logik sagt
doch traditionell, mittelbar Erkennen ist Schließen; also so etwas, wie
es in der Mathematik vonstattengeht — vom ego cogito, als Axiom, zu
25 den mittelbaren Wahrheiten ?
III
Es ist noch gut, zu sagen:
Das neue Erkenntnisproblem des Descartes ist vorweg nicht
das Problem, wie in uns Menschen, wie in der menschlichen Subjekti¬
vität, die je in sich ihr persönliches Bewußtsein, ihr Erfahren, Denken
30 usw. hat, objektive Erkenntnis zustandekommt, sondern das Originale
des Descartes besteht darin, daß er in der Suche nach der Methode,
universale, und speziell objektive Wissenschaft letztlich zu begründen,
sich sagt: ich selbst bin für alle Wahrheit und Wirklichkeit, die für
mich gelten soll, verantwortlich, ich habe niemanden sonst zu befragen,
35 nicht danach zu fragen, wie es mit anderen steht. Andere sind selbst
für mich Seiende, von mir her, aus meinem Erfahren, Denken usw.,
und so die ganze Welt mitsamt allen Menschen. Auf mich selbst, auf
mein einsames ego cogito muß ich zurückgehen, und in mir selbst die
Erkenntnis als objektive Erkenntnis begründen, in mir selbst, durch
40 meine eigenen Begründungen.
Durch „Sinnlichkeit” habe ich immer schon Welt in Seinsgewißheit
vorgegeben. Aber darf ich diese ohne weiteres zugrundelegen und nach
den wahren Beschaffenheiten derselben fragen ? Ist sie nicht ein bloßes
Sinngebilde meiner Erfahrungen? Wie verstehe ich, wie begründe ich
334 ERGÄNZENDE TEXTE
ihre Objektivität? Ich muß sie also als objektiv in Frage stellen,
während ich doch, der Fragende, notwendig bin — wie immer die Ant¬
wort ausfallen mag.
Aber nicht als Mensch, oder auch als Seele meines Körpers. Nicht
5 habe ich mich als Menschen im voraus. Mein Leib hat selbst in mir
objektive Geltung gewonnen oder muß sie in seiner Seinswahrheit
gewinnen. Mein Sein als Bewußtseins-Ich aber — diese „reine” Seele,
dieses ego seiner immanenten cogitationes mit seinen cogitata — ist
zunächst noch nicht objektive Seele, Seele in der Welt, ein objektives
10 körperliches Sein, was ja in Frage ist; und ihr Sein, das Sein dieses ego,
ist in allen Fragen und Zweifeln, in allen möglichen Erkenntnisbewe¬
gungen vorausgesetzt, sofern ich, was ich immer frage oder bezweifle
oder bejahe, mich selbst schon habe und apodiktisch evident vorfinde,
und zugehörig zu ihm als sein cogito, als sein Bewußtseinsleben. War
15 ich zuerst der einsame Mensch, einsam als Denker, so bin ich jetzt in
einer neuen Einsamkeit, nicht mehr Mensch, sondern ego. Mit diesem
ego, „meinem”, des sich Besinnenden, und nicht meinem unter an¬
deren Menschen, also in der Welt, ist die transzendentale Subjektivi¬
tät entdeckt, die nur ich als mich in radikalster Rückfrage der Geltung
20 Besinnender entdecken kann — und nicht etwa ein Anderer: Anderer
ist ja Für-mich-Anderer.
Hier <ist> die große Schwierigkeit das Verhältnis dieses ego der tran¬
szendentalen Einstellung der Weltentsagung zum Menschen-Ich, und
hier die erste große Versuchung, die reine monas hinterher gleichzu-
25 setzen mit der Seele in der Welt, somit die Versuchung, die Transzen¬
denz der Außenwelt gegenüber meinem menschlichen Subjektiven zu
identifizieren mit der Objektivität als der in meinem Bewußtseins-
bereich als ego sich ausweisenden Welt. Descartes verfällt dieser Ver¬
suchung und somit dem Grundirrtum, die Bewußtseinswelt bzw. die
30 erfahrenen Realitäten, die innerlich als cogitata auszuweisenden, als
bloße ideae, Vorstellungen der wahrhaft objektiven Welt, einer Welt
draußen, außerhalb des ego, anzusehen und so realistische Fragen zu
stellen.
Statt des widersinnigen Realismusproblems ist es das wahre Pro-
35 blem: aufzuklären, wie das anonyme, völlig unbekannte Bewußtseins-
leben mit seinen mannigfaltigen cogitata, den mannigfaltigen Erschei¬
nungsweisen usw. aussieht und welchen Sinn dabei in seiner Bewußt¬
seinsleistung das An-sich, das Jedermann, der Andere gewinnt und wie
durch den Weg von der Primordialität zu den Anderen und von da zur
40 An-sich-Welt alle Verwirrungen der Objektivität und des An-sich
gelöst <werden>.
BEILAGEN 335
Beilage XI (zur 10. Vorlesung): Ein schwieriger Punkt der Kritik
Descartes’. x)
<I>
Descartes versteht die Herausstellung der reinen Subjektivität als
die einer reellen Substanz und ihre erkenntnismäßige Unabhängigkeit
von aller Natur als erkenntnismäßige Unabhängigkeit von einer nicht
zweifellos nach ihrer Existenz begründeten anderen Substanzart (und
5 zunächst von dem physischen Leib). Unzureichend begründet ist sie,
weil ihre Begründung im ego durch Evidenz das Problem der tran¬
szendenten Geltung der Evidenz mit sich führt, das allererst zu lösen
ist. Sowie diese Evidenz ein erweisliches Recht bekommt, existiert die
Natur für den Erkennenden rechtmäßig, und zwar als Substanzen-
10 komplex von einer total anderen Art als das ego. Es existieren dann
andere ego's natürlich auch, vermöge der erfahrungsmäßigen Anknüp¬
fung an objektive Leiber (obschon da die Untersuchung der Klarheit
und Deutüchkeit der auf die Einfühlungserfahrung zu gründenden
Erkenntnis fehlt — es fehlt ja an einer rationalen Psychologie von
15 ähnlicher Rationalität wie die der rationalen Physik).
Worin besteht das Widersinnige dieser Auffassung? Generell will
Descartes die Geltung der Evidenz beweisen. Setzt aber nicht jeder
Beweis, als in der Evidenz verlaufend, sich nur durch die eigene Evi¬
denz jedes Schrittes ausweisend, die Geltung der Evidenz voraus? Die
20 Geltung der immanenten Evidenz kann nicht in Beweiszweifel gesetzt
werden, jeder Zweifel, der zur Aussage kommen soll, jede Behauptung
der Zweifelhaftigkeit der Evidenz setzt dieselbe Evidenzart voraus.
Jede Frage, die in Bezug auf sie gestellt, jede Besinnung, die in Bezug
auf sie geübt wird, setzt sie voraus. Die Geltung der transzendenten
25 Evidenz kann nur in Frage gestellt werden, wo sie selbst als Tatsache
— durch immanente Evidenz — sichergestellt ist. Wir können auch so
(dasselbe) ausführen:
Was für vernünftige Fragen können überhaupt an eine Evidenz ge¬
stellt werden? Und in welchem Sinne? Etwa in dem Sinne, der der
30 Cartesianische ist, ob eine Evidenz und Evidenzart überhaupt ,,gül¬
tig”, triftig sei, ein Recht gebe für den Glauben, es sei nun wirklich das
Gegenständliche, von dessen Sein der Erkennende Evidenz hat ? Aber
wie kann eine vernünftige Antwort auf diese Frage aussehen, wie
anders, als daß ich nun einsehe, daß das wirklich sei, was in jener Evi-
35 denz vermeint war? Ich muß also eine Evidenz von dieser Wirklich¬
keit, also eine zweite Evidenz auf dieselbe Gegenständlichkeit, und in
demselben Sinn gerichtet haben, eine solche Evidenz für möglich
mindestens halten, an der ich das ,,Recht", die Angemessenheit der
ersten Evidenz messen könnte. Wenn ich nun aber die eine in Frage
40 stelle, warum soll die andere einen besseren Grund haben und vor
einer Frage, einem Zweifel behütet sein ?
*) 1923.
336 ERGÄNZENDE TEXTE
Hier bietet sich der Unterschied vollkommener und unvollkomme¬
ner Evidenz und der Unterschied verschiedener Evidenzen, die wohl
zwar dasselbe Gegenständliche betreffen, aber es bloß nach Seiten,
Momenten des Gegenständlichen betreffen: und dabei so, daß sie, als
5 Evidenzen mit Vorbehalten, das Seiende nur in einer Gewißheit haben,
die in sich birgt die Erwartung, daß weitere, aber inhaltlich anders
beschaffene Evidenzen als Bestätigungen erzeugbar seien: wie bei der
äußeren Erfahrung. Derselbe Gegenstand kann in vielen Evidenzen
gegeben sein, ohne daß diese Evidenzen bloß Wiederholungen wären.
10 Hier haben wir also Evidenzen von verschiedener innerer Struktur,
die aufeinander angewiesen sind, und Evidenzen, die in sich selbst
gleichsam uns sagen und die wir danach befragen können, inwieweit,
mit welcher „Tragweite” sie Rechtgebungen zu sein beanspruchen,
und mit welchen Vorbehalten. Was jene anderen Fälle, Unterschiede
15 der vollkommenen Einsicht und der halbklaren, unklaren Einsicht
anbelangt, so ist es wieder die Evidenz in sich selbst, die wir befragen
können, wie sie selbst genommen werden muß, was sie selbst als Evi¬
denz gegeben <hat> und wie sie es in sich birgt. Und wir können dann
sehen, daß eine unklare Evidenz in sich selbst Möglichkeiten der Klä-
20 rung, der Überführung in klare — die ursprünglich unklare bestäti¬
gende oder berechtigende oder im Gegenteil sie in dem oder jenem
berichtigende — Evidenzen vorzeichnet und damit für uns, wenn wir
Erkenntnis im vollsten Sinne wollen, Aufgaben stellt. Muß man über¬
haupt nicht das Erlebnis, das da Evidenz heißt, sich ansehen und
25 fragen, was in ihm selbst liegt, und findet man dann nicht, daß es das
Bewußtsein des Selbsthabens und Selbsterfassens einer vermeinten
Gegenständlichkeit ist, das als das Norm ist für das sonstige Bewußt¬
sein, das nicht Erlebnis eines Selbsterfassens ist? Ist es nicht sinnlos,
die Möglichkeit der Triftigkeit einer Evidenz in Zweifel zu ziehen ?
<H>
30 Überlegen wir, um einen Schritt weiter zu kommen, die eigentüm¬
liche Unabhängigkeit der Existenz des ego und seines cogi/o-Bereichs
von der Weltexistenz, die bei Descartes als Hauptfundament für seine
vermeinte Entdeckung des Dualismus diente. Apodiktisch evident ist:
ich bin als transzendentales Ich, gleichgültig, ob meine Erfahrungswelt
35 wirklich ist oder nicht ist. Absolut evident ist weder ihr Sein noch ihr
Nichtsein, absolut evident ist vielmehr die Möglichkeit von beidem
(was freilich eine tiefere Auseinanderlegung forderte). Besagt nun, wie
Descartes schloß, die Unabhängigkeit meiner transzendentalen Exi¬
stenz von der Welt eine Trennung — geschweige denn eine Trennung
40 verschiedener Substanzen ? Und besagt die Beziehung meines tran¬
szendentalen ego (dieses ego, das ich in der transzendentalen Reflexion
absolut direkt erfasse, erschaue, und nicht etwa erfinde) zur Welt auch
nur als sinnvolle Möglichkeit eine Beziehung der Kausalität ? Wir er¬
kennen sofort, daß Trennung ebensogut wie Verbindung zu einem
BEILAGEN 337
Ganzen von Stücken und ebensogut wie Abhängigkeit der Veränderun¬
gen von Gesondertem — lauter objektive, auf die Raumform als Form
der Koexistenz von zu Sonderndem und zu Verbindendem -(bezüg¬
liche) Begriffe sind, also verpönte.
5 Bleiben wir aber im reinen ego, so ist es klar, daß, solange wir es als
welterfahrendes zu denken fortfahren, seine Beziehung zur Welt nie
abgeschnitten sondern immerfort gegeben ist. Die erfahrene Welt
braucht nicht zu sein — aber wer erschaut in apodiktischer Evidenz
diese Möglichkeit: ich selbst, das transzendentale ego\ und wie er-
10 schaut es sie: als mögliche zu erschauende in Sinneserfahrungen selbst,
die dann eben so verlaufen, daß jede meiner Erfahrungsgewißheiten
durch diejenigen neuer Erfahrungen anstatt bestätigt vielmehr
widerlegt wird. Ich kann mir Erfahrungsverläufe ersinnen, die keine
einstimmig invariant verbleibende Einheit der erfahrenen Welt durch-
15 halten und schließlich jeden Erfahrungsglauben zerstören. Ebenso
aber erfasse ich die Möglichkeit des wahrhaften Seins der Welt im
Rahmen meines ego, ich brauche mir nur den Stil meiner wirklichen
Erfahrung in infinitum fortgesetzt <zu> denken, derart, daß sich die
erfahrenen Dinge zwar im einzelnen als Scheindinge oder als scheinbar
20 so seiende her ausstellen, daß aber im ganzen eine Einheit sich in¬
variant durchhält, die für alle Andersbestimmungen hinsichtlich des
Soseins doch eine feste Identität durchhält.
Schon Descartes berührt die fundamentale Eigenheit der cogitatio,
die wir äußere Wahrnehmung nennen, ebenso diejenige äußerer Erin-
25 nerungen, Phantasien u.dgl., daß sie in sich selbst ein Bewußtsein von
Dingen, von Räumlichem, Weltlichem sind. Er rührt ganz leise an das
Wunder aller Wunder, das Bewußtsein. Aber Wunder sind Unver-
standenheiten, die dazu bestimmt sind, in Verständlichkeiten ver¬
wandelt zu werden. Mit Wundem fängt alle Forschung an, und mit der
30 Demaskierung der Wunder und ihrer Verwandlung in lichtvolle Er¬
kenntnis endet die Forschung. Descartes rührt nur daran, und da er
in dieser Richtung nicht weiter vordringt, ahnt er nicht, was das ab¬
solut evidente Auseinandergehen von Existenz des ego und Existenz
der im ego erfahrenen und sonstwie erkannten, dann bewerteten und
35 behandelten Welt eigentlich besagt. Er merkt nicht, daß Existenz
meiner erfahrenen Welt für mich, der diese Existenz glaubt, einen für
mich apodiktisch evidentzumachenden Sinn hat, ohne den meine Rede
ja auch sinnlos wäre, und daß dieser Sinn mir evident wird in der Kon¬
struktion der Idee eines in infinitum einstimmigen Erfahrungssystems,
40 als Systems frei abzu wandeln der Verläufe meiner Erfahrungen, und
daß ferner darin ein fest gesetzmäßiger Stil meiner Erfahrungen als
meiner cogitationes bezeichnet ist x). Und er sieht nicht, daß Nichtexi-
i) Ob sich die Idee der Existenz darin erschöpft oder nicht: jedenfalls Sein und
Verlauf der Natur ist in einer wunderbaren Wesensbeziehung zum ego, und näher zum
Verlauf der für mich möglichen Erfahrungserlebnisse, derart, daß jede Änderung der
Natur für mein Bewußtsein notwendig Änderungen bedingen müßte. Andererseits
bleibt es dabei, daß das Nichtsein der Welt meine absolute Existenz nicht stört und
Husserliana VII 22
338 ERGÄNZENDE TEXTE
stenz sinngemäß einen Korrelatstil der Unstimmigkeit in dem Univer¬
sum meiner möglichen cogitationes ausdrückt. Er ist der Urvater des
Psychologismus, der die ganze neuzeitliche Transzendentalphilosophie
durchsetzt und den sie nie im Prinzip zu überwinden vermochte; er ist
5 es schon durch die verhängnisvolle Wendung vom ego zur mens, der,
mit dem widersinnigen metaphysischen Dualismus in eins, die L o c k e’-
sche Erkenntnistheorie erst möglich gemacht hat.
Andererseits ist er doch auch der Vater aller echten Transzendental¬
philosophie, insofern als die Forderung einer Rückbeziehung aher
10 Objektivität und aller sie in den logischen Formen der Theorie be¬
stimmenden Wissenschaft auf die erkennende Subjektivität von nun
ab als eine Notwendigkeit empfunden wurde und empfunden werden
mußte, wie sehr auch alle Versuche, sie in wissenschaftlich zwingender
Klarheit und Widerspruchslosigkeit zu erfüllen, fehlschlugen. Höchst
15 bedeutsam und sicherlich unverlierbar ist dabei die Cartesianische
Herausarbeitung.
<IH>
Indessen, wie arg es auch mit der Strenge der Cartesianischen Aus¬
führungen stehen mag, ja schon mit der methodischen Klarheit über
das prinzipielle Niveau, das sie, um ein Ziel zu erreichen, innehalten
20 müssen: ein genialer Instinkt regiert doch den Hauptzug der Gedan¬
ken, und das so sehr, daß sie in der Tat in einer großen Entdeckung
terminieren, die zugleich die Entdeckung des Anfangs ist. Sie bringt
schon der nächste Gedankenschritt, oder vielmehr sie bringt er u n s
in unserem konsequenten Umformen der Cartesianischen Gedanken zu
25 prinzipiellen Notwendigkeiten. Dieser Schritt zum zunächst so un¬
scheinbaren ego cogito liegt im schlichten Nachweis, daß die erwiesene
Möglichkeit des Nichtseins der objektiven Welt (des Weltalls im vollen
Sinn), die ich beständig erfahre, das Faktum, daß ich selbst, der sie
Erfahrende, bin, nicht gefährdet. Und in weiterer Folge kann ich in
30 absoluter Zweifellosigkeit, in apodiktischer Gewißheit sagen: ich bin
als der diese Meditationen soeben Durchführende, als dabei so und so
Fühlender, Wertender, Strebender usw. All dessen bin ich absolut
gewiß, ich kann darauf hinsehen, und sooft ich es tue, habe ich — zwar
eine Erfahrungsgewißheit, aber eine solche von apodiktischem Charak-
35 ter. Was ich so erfahre, das kann, während ich es erfahre, nicht nicht-
sein. Hier habe ich ein Erfahrungsfeld, das, während ich es erfahre, die
Möglichkeit des Nichtseins des Erfahrenen apodiktisch ausschließt.
Demgemäß habe ich hier einen Bereich apodiktisch gewisser Erfah¬
rungsprädikationen : und einen solchen habe ich für den notwendigen
40 Anfang gebraucht und gesucht. Ego cogito, ego sum.
Ich, der ich bin, habe also immerfort zwei Existenzbereiche in
daß das Ich-bin eine von Existenz und Nichtexistenz unabhängige Evidenz hat. Da
auch das Nichtsein der in der Erfahrung vermeinten Welt, nicht minder als ihr Sein,
meinem ego ein Gesetz vorschreibt, so ist es zugleich klar, daß von einer Kausalität
hier keine Rede sein kann. Wie soll, was nicht ist, Kausalität üben?
BEILAGEN 339
Wahmehmungsbereitschaft, korrelativ zu zweierlei Erfahrungen. Der
eine hat den Titel „Welt”, und obschon er beständig für mich da ist,
hat er für mich Erkenntniskontingenz. Nichts darin kann für mich
je zu adäquater Wahrnehmung kommen, nichts objektiv Wahrgenom-
5 menes braucht zu sein. Der andere hat den Titel „Ich bin”, und hier
habe ich ein Absolutes, das jede Seinsnegation in der Selbsterfahrung
ausschließt.
Der Gegensatz dieser Existenzsphären ist aber nicht etwa der zwi¬
schen Ich und Außenwelt, und der Gegensatz der Erfahrungen nicht
10 etwa der zwischen innerer und äußerer Erfahrung: sonst hätte ich mir
ja den ganzen Gedankengang und die Subtilität apodiktischer Feinar¬
beit sparen können. Das Ich — bzw. die Seele —, das Thema ist der
psychologischen Selbsterfahrung und der Psychologie, gehört zur
objektiven Welt; ihr gehört der ganze Mensch, mit Leib und Seele,
15 mit seinem personalen Ich, mit seinen seelischen Erlebnissen an. Es ist
aber gerade die fundamentale methodische Funktion der durchgeführ¬
ten Kritik der Erfahrung, die Möglichkeit des Nichtseins der gesam¬
ten Welt — als durch objektive Erfahrung („sinnliche”) gegebener —
und die Möglichkeit des Ansatzes dieses Nichtseins apodiktisch zu
20 erweisen und das auf dem Grunde dieses Ansatzes — also unter der
universalen Hypothesis der Nichtexistenz der Welt — schlechthin
nicht Negierbare, das von dieser Nichtexistenz nicht betroffene ego
cogito herauszustellen — als etwas, das also nichts von der Welt und
ihren Realitäten in sich enthält. Der grundlegende Gedanke ist dabei
25 der, daß zunächst die „sinnliche” Erfahrung — nämlich die raum¬
dingliche — prinzipiell „inadäquat” ist, ihre Gewißheit eine a priori
vorbehaltliche und in aller fortschreitenden Bewährung vorbehaltlich
verbleibende, nie apodiktisch das Sein des Erfahrenen verbürgend.
Also zunächst die universale physische Natur ist nicht-seins-möglich,
30 imerachtet ihrer einstimmigen Erfahrenheit. Mit der Möglichkeit der
Hypothesis der Nichtexistenz der Natur ist aber auch möglich die
Hypothesis <der Nichtexistenz) des Universums aller Gegenstände,
die ihren Kredit aus der sinnlichen („naturalen”) Erfahrung mit
schöpfen, die also in einer Erfahrung erfahren werden, die in naturaler
35 fundiert ist. Das betrifft aber alle (durch sogenannte Einfühlung,
durch „Ausdruck” an Leiblichkeiten) irgend sinnlich vermittelten
Erfahrungen von Menschen und Tieren und von all ihrem Seelenleben.
Und in dieser Weise streiche ich also mit dem möglichen Ansatz
der Nichtexistenz der Natur die ganze Welt gleichsam für mich aus,
40 und wenn mir nun doch eine Seinssphäre übrig bleibt, so ist es nicht
ein letztes Endchen und Stückchen der Welt, da sich in der Tat kein
Stück der Welt von ihr trennen und sinnvoll unter Streichung der
übrigen Welt verselbständigen läßt. Es ist auch nicht etwas konkret
Reales außerhalb der Welt, da in der Tat, wie leicht zu sehen ist, alles
45 Innerhalb und Außerhalb konkreter Realitäten nur in der Einheit der
Welt einen Sinn hat.
Nun wird man einwenden: aber ob ich ego cogito oder „Ich bin” sage.
340 ERGÄNZENDE TEXTE
ob ich es schlechthin sage oder mit der fiktiven Hypothesis der Nicht¬
existenz der Welt — bin i c h es nicht, nach wie vor, bin ich nicht
nach wie vor dieser Mensch, der sich erfahrend im Raum bewegt, mit
seinen Händen tastet, mit seinen Augen <sich> umblickt usf. ? Freilich
5 bin ich es; aber was mich zum Menschen, also zum Mitglied der Welt
macht, und zwar dem Sinn gemäß, den ich mit dem Wort Mensch
verbinde, das gehört keineswegs in den Rahmen der apodiktischen
Evidenz, die das ,,ego” bestimmt und absolut in sich abschließt: so gut
ich in jedem einzelnen Fall, um dieses mein ego zu gewinnen, z.B. beim
10 Sehen eines Hauses, der methodischen Forderung der Existenzaus¬
schaltung der Erfahrungswelt auf der Objektseite genugtun, also die
Existenz dieses Hauses außer Spiel setzen muß, im hypothetischen
Ansatz, als wäre es nicht, genauso muß ich auch auf der Subjektseite
die gleiche Methode betätigen. Ich muß mich davon überzeugen, wie-
15 fern die Erfahrung von diesem Subjektiven unmittelbar oder mittelbar
ihren Gehalt aus naturalen Erfahrungen bezogen hat, also existenzial
mitbetroffen würde durch eine mögliche Nichtexistenz der Welt. Was
die Methode fordert, ist eine radikal durchgeführte Aufhebung jener
natürlichen Lebenseinstellung und theoretischen Einstellung, in der
20 die Welt für mich da ist; nur dieser Radikalismus ergibt die neue Ein¬
stellung, die wir die transzendental-phänomenologische nennen, in der
nichts von der Welt, aber das ego daist. Dieses ego ist eben das merk¬
würdige Residuum, das mir als apodiktisch Notwendiges und schlecht¬
hin nicht Negierbares verbleibt, wenn ich an jedem ego cogito der na-
25 türlich-naivenEinstellung — wie: ich erfahre dieses Haus, ich urteile
über Sonne und Mond, ich durchdenke eine physikalische Theorie, ich
drücke dem Leidtragenden meine Teilnahme aus usw. — wenn ich,
wie gesagt, bei jedem solchen ego cogito überall auf Seiten des ego, des
cogito und des cogitatum jene methodische Reduktion übe. Und dann
30 gewinne ich als jeweiliges ego das cogito und cogitatum der neuen Ein¬
stellung. Nur dieses ist von der Möglichkeit der Nichtexistenz der Welt
nicht betroffen und ist meine absolute „phänomenologische” Gegeben¬
heit, gleichsam das künstlich reine Residuum der Methode, die wir von
nun ab die der phänomenologischen Reduktion nennen wollen. Nur
35 durch sie gewinnen wir, um es auch hier mit dem neuen Terminus zu
nennen, das transzendentale Ich und die transzendentale Subjektivi¬
tät überhaupt im Sinne der Phänomenologie — und gewinnen sie als
Selbstgegebenheit der phänomenologischen Erfahrung.
Schon Descartes war auf dem Wege zum transzendentalen Ich und
40 rührte daran mit der Frage: Was ist denn dieses ego, dessen ich absolut
gewiß bin, was gehört zu ihm, und was nicht ? Mein Leib sicher nicht,
als sinnlich erfahrener. Also das jetzige „Ich bin” sagt nicht: „Ich, der
Mensch, bin”. Und den Worten nach stimmen wir ganz mit Descartes
überein, und näher begründend würden wir weiter ausführen: in der
45 objektiven Erfahrung, in der ich irgendeinen Menschen als Menschen
erfahre, ist zuunterst ein körperlicher Leib, ein Naturding erfahren,
und in dieser naturalen Erfahrung ist die ganz andere Erfahrung von
BEILAGEN 341
einer zugehörigen, sich in dieser Körperlichkeit als Leiblichkeit aus¬
drückenden Subjektivität, von einem Ich und Seelenleben, fundiert.
In dieser Fundierung schöpft die psychologische Erfahrung eine Sin¬
neswurzel aus der Leibeserfahrung. Die Seele ist Seele des Leibes, mit
5 diesem empirisch Verbundenes, sich in ihm geregelt Anzeigendes, Aus¬
drückendes.
Descartes aber, der sich in der Eilfertigkeit seiner Erwägung nicht
die Methode klarmacht, die ihm mit der Erreichung der transzenden¬
talen Subjektivität neu vorgezeichnet war, sieht vermöge der kausalen
10 Interpretation der äußeren Erfahrung seine Aufgabe darin, den in¬
stinktiven Kausalschluß auf das Transzendente in einen exakten, und
den blind instinktiven in einen wissenschaftlich gewissen zu verwan¬
deln ; ferner zu zeigen, daß nur in Form der mathematischen Natur¬
wissenschaft das wahre Wesen der transzendenten Natur sich enthülle
15 und alles wahre Sein der gesamten Erfahrungswelt sich im Sinne seiner
Zwei-Substanzen-Lehre bestimme. Bekanntlich führte sein Weg über
eine theologische Theorie der Evidenz. Die volle, absolute Wirklichkeit,
die vom ego her erkennbar ist, ergab sich als Gott und die gottgeschaf¬
fene Welt der Körper und Geister; damit konnte nun die Welt auch
20 eine teleologische Erklärung finden, über die exakte Erforschung ihrer
eigenwesentlichen Beschaffenheiten hinaus, die die exakten Wissen¬
schaften vollziehen.
Diese Philosophie war, wie jede Philosophie von methodisch ver¬
wandtem Typus, mit dem Widersinn behaftet, daß sie Philosophie,
25 universale Wissenschaft aus absoluter Rechtfertigung sein wollte, aber
Wege einschlug, deren Gedanken nicht aus absoluter Rechtfertigung
geschöpft, ja in einer solchen als widersinnig erkennbar wären.
Das ego cogito in seiner transzendentalen Reinigung ist der notwen¬
dige Anfang für jeden Philosophierenden; es ist aber nur Anfang —
30 der Anfang einer sich ins Werk setzenden Philosophie —, wenn gesehen
wird, daß mit diesem Titel ein unendliches Arbeitsfeld freigelegt ist für
konkrete Forschungen, die nicht nur selbst absolut gerechtfertigte sind
sondern auf die alle anderen im radikalen Sinn philosophischen ihrer
Erkenntnismöglichkeit nach zurückbezogen sind. Das soll nun in der
35 Fortsetzung unserer Meditationen x) wirklich bezeugt werden, erfaßt
und für die allem anderen vorangehende Begründung einer Wissen¬
schaft von der transzendentalen Subjektivität bestimmend werden.
Diese Wissenschaft, rein vom Ich aus, das da philosophierendes ist und
sich als transzendentales Ich in der beschriebenen Methode der Reduk-
40 tion bestimmt, entworfen und rein auf dieses eine einzige transzenden¬
tale Ich bezogen, wäre freilich von höchst merkwürdiger Eigenart; sie
wäre seine Egologie, Wissenschaft von seiner transzendenta¬
len Subjektivität und dem Universum des von ihr transzendental und
in apodiktisch evidenter Fundierung Umspannten.
45 Für Descartes wird die reine Subjektivität nicht zum Feld
*) vgl. insbesondere Erste Philosophie II, in Band VIII der Gesammelten Werke. —
Anm. d. Hrsg.
342 ERGÄNZENDE TEXTE
egologischer Forschung, die das Fundament zu bilden hätte für eine
apodiktisch evident zu fundierende Philosophie, sondern ein bloßer
„archimedischer Punkt”, auf dem in sicheren Schlußfolgerungen die
an die methodische Skepsis verlorene Welt als absolut gewisse wieder-
5 gewonnen werden kann. Sein Problem ist das der antiken Skepsis an
der Existenz und Erkennbarkeit der objektiven Welt, die in der
Subjektivität angeblich wahrgenommene und wissenschaftlich erkann¬
te ist. Der Grundgedanke der Skepsis der Gorgias und Prota-
g o r a s war der: Die Welt ist mir, dem erkennenden Menschen, nur
10 als von mir erfahrene und in meinem Denken gedachte gegeben. Das
subjektive Erfahren, das subjektive Vorstellen ist nicht das Vorgestell¬
te. Allgemein sagt man ja und gibt zu, daß etwas vorgestellt sein, er¬
scheinen könne, ohne zu sein. Ich habe also immer nur meine subjekti¬
ven Erscheinungen, meine Vorstellungen. Wie kann ich dann aber je
15 behaupten, daß mehr ist als mein Vorstellen und mein Denken, daß ein
Vorgestelltes und Gedachtes an sich ist ?
Es handelt sich für Descartes also um einen Beweis dafür, daß diese
Welt der natürlichen Erfahrung und der Erfahrungswissenschaft
wirklich ist. Implizite lag zwar schon in der skeptischen Argumenta-
20 tion die Kontrastierung zwischen der reinen Subjektivität und ihrem
In-sich- und Für-sich-sein und andererseits der vermeinten objektiven
Welt. Aber erst Descartes’ Methode, und speziell die Methode der apo¬
diktisch möglichen Ausschaltung der Weltexistenz, bot die Möglich¬
keit, den reinen Gehalt des ego zu fixieren, und er schien nun den festen
25 Boden für Schlußfolgerungen abzugeben. Aber wenn man näher
zusieht, so ist die ganze Zielstellung Descartes’, der „Beweis”, ein
Widersinn. Was wie selbstverständlich schon in den Argumentationen
des antiken Skeptizismus zugrundeliegt, ist der verhängnisvolle, von
Descartes auf Locke und den Empirismus, in weiterer Folge in die
30 neuere Philosophie überhaupt einströmende Irrtum, daß das ego
cogito das Universum meiner unmittelbaren Gegebenheiten darstelle
und abschließe. Gewiß: es bezeichnet das als Tatsache einzig
apodiktisch evident Gegebene, und das Universum wirklicher und
möglicher individueller Tatsachen, die ich aus apodiktischer Evidenz
35 setzen kann. Aber immittelbare Gegebenheit ist nicht dasselbe wie
apodiktische Gegebenheit, und daß das Ding, das ich wahmehme,
trotz meiner Wahrnehmung nicht zu sein braucht und daß es daher
kein reelles Bestandstück der Wahrnehmung selbst ist und nicht zum
reinen ego gehört, das besagt nur, daß die äußere Wahrnehmung inad-
40 äquat und präsumierend ist; es besagt aber nicht, daß es in Wahrheit
nicht unmittelbar gegeben ist. Es besagt nicht, daß die äußere Wahr¬
nehmung ein bloßer Schein sei; es besagt nicht, daß Wahrnehmung in
Wahrheit ein Schluß, ein nur begrifflich nicht gefaßter, blinder, „ge¬
wohnheitsmäßiger” Kausalschluß auf ein „äußeres” Analogon oder
45 auf ein verursachendes Etwas überhaupt sei.x).
*) Hinsichtlich der sinnlichen „Ideen” hatte schon Berkeley in seiner genialen
Ursprünglichkeit die sinnvolle Möglichkeit eines Schlusses auf entsprechende mate-
BEILAGEN 343
So ist es seit Descartes eine beständige Lehre der Philosophie gewe¬
sen, daß das einzig unmittelbar Gegebene für den Erkennenden seine
eigenen ,,Ideen” sind, daß alle äußere Wahrnehmung eigentlich gar
keine Wahrnehmung, keine wirkliche Selbsterfassung des Wahrge-
5 nommenen sei und nur „innere” Wahrnehmung im eigentlichen Sinne
Wahrnehmung sei. Das erkennende Ich ist als erfahrendes also von der
Außenwelt abgesperrt, und der Widersinn einer kausalen Bekundung
eines Unerfahrbaren in einer Erfahrung, die nur eigene „Ideen”, ent¬
fernte Wirkungen jenes Unerfahrbaren, erfassen kann, soll gegen den
10 Solipsismus helfen: ein Widersinn, da diese Bekundung für das in sich
abgeschlossene ego nur dann Bekundung bedeuten könnte, wenn ihm
eine entsprechende Ausweisung schon bekanntgeworden wäre oder
analogisch interpretierbar wäre — wenn also das prinzipiell Unerfahr¬
bare eben prinzipiell erfahrbar und an analogen Fällen schon erfahren
15 gewesen wäre.
Da man Erfahrung spekulativ beredet, statt sie nach ihrem eigenen
Wesen in der reinen Subjektivität zu studieren, sieht man nicht, daß
die zum Wesen der Dingwahmehmung immanent gehörige Antizipa¬
tion, gerichtet auf mögliche Fortgänge der Wahrnehmung zu immer
20 neuen Wahrnehmungen von demselben, übersieht man, daß die darin
gründende Vorbehaltlich keit des perzeptiven Glaubens ihm als Glau¬
ben an das Dasein des Dinges nie den Charakter eines mittelbaren
Glaubens geben und der Wahrnehmung nie den Charakter der unmit¬
telbaren Selbsterfassung nehmen kann. Sie ist und bleibt Selbsterfas-
25 sung, solange sich die Vorbehalte bestätigen, Selbsterfassung mit
demselben beständigen Vorbehalt.
Man sieht nicht, daß Wahrhaft-Sein das Korrelat der Idee eines ins
Unendliche einstimmigen möglichen Erfahrens ist und daß danach,
wenn das Ding wirklich ist, das da erfahren ist, jede seiner äußeren
30 Wahrnehmungen wirkliche Selbsterfassung, und endgültige bleibt,
und daß eine andere Art wirklicher Selbsterfassung von ihm auch nur
für möglich zu halten ein Widersinn ist.
Beilage XII (zum Zweiten und Dritten Abschnitt): (Wege und Irr¬
wege der neuzeitlichen Egologie von Descartes bis Hume.'y x)
Descartes: Versuch einer Begründung einer Philosophie oder
Wissenschaft im antiken Sinn einer universalen und absolut gültigen
35 Wissenschaft. Das ego cogito und das Weltall: der Leib und die Außen¬
dinge mit den fremden Leibern. All das in eins:
Die Welt braucht nicht zu sein. Sie ist zweifelsmöglich. Ich bin.
Descartes setzt fort: Ich als reines Ich bin substantia cogitans, mens —
in mir selbst finde ich Notwendiges, zu meinem unaufhebbaren Wesen
rielle Substanzen, auf transzendente Dinge, geleugnet, aber ohne Erfolg, da er am
Prinzip des Kausalschlusses auf Transzendentes (Gott als transzendente Ursache)
festhielt.
*) 1923.
344 ERGÄNZENDE TEXTE
Gehöriges — hierher gehört das Vermögen der reinen Intellektion,
reinen Vernunft — und Zufälliges, das Vermögen der Imagination.
Eine Unterscheidung, die uns erinnert an Kants intelledus arche-
typus, der auch anschauungslos denkender Intellekt ist. Indessen die
5 Kategorien sind für Kant die notwendigen Formen, um in einer
Sinnlichkeit Synthesis zu schaffen und damit eine phänomenale ma-
thematisierbare Welt. Für Descartes aber ist die kategorial
geformte Welt eine unsinnliche, rein mathematische Welt und die
Sinnlichkeit bloß ein Ähnlichkeitsindex in unserer menschlichen
10 cogitatio, da unsere mens mit physischer Natur in Konnex steht, der
auf eine mathematische Welt hinweist. Das Sinnliche, durch seine
primären sinnlichen Qualitäten, ist eine Leitung, um die wahre kate-
goriale — mathematische — Welt nachzukonstruieren durch reines
Denken. Auch für Kant — an Markus Herz — weist das immanent
15 Sinnliche kausal auf ein Unsinnliches hin.
Die Welt braucht nicht zu sein, ich kann mir, während ich erfahre,
wie ich erfahre, denken, daß sie nicht sei. Ich bin für mich, eine Sub¬
stanz für sich. Andere Substanzen? Ich kann mir im reinen Denken
solche erdenken, die Mannigfaltigkeiten, und auch andere Ich. Aber
20 wie können andere Substanzen mir gegeben sein ? Durch Indizierung
in mir, durch Zufälliges, das Erklärung fordert, das zufällig ist, weil es
nicht aus mir herstammt, in mir nicht notwendig hegt und von mir
nicht gebildet ist. Kausalerklärung x).
Descartes nimmt Inneneinstellung. Aber indem die Welt Phänomen
25 für ihn wird und er die reine Subjektivität herausstellt, unterläßt er es,
das universale Phänomen, sowie es Phänomen des Ich ist, zu betrach¬
ten, zu analysieren; ebenso das universale cogito, das Bewußtsein von
der Welt ist. Ich sage: indem ich ein Ding und meinen Leib erfahre, ist
das mir selbst und original gegeben. Mehr als das ist gar nicht denkbar.
30 Wenn mir ein anderes Subjekt gegenübersteht, so ist es selbst da, so
wie ein Subjekt mir denkbarerweise überhaupt „leibhaft” dasein kann.
Er selbst spricht zu mir, ich selbst zu ihm, und wir sind in „Gemein¬
schaft”. Also bin ich bei ihm, und mit dem Ding beschäftigt bei dem
Ding, ich bin außer mir, ganz unmittelbar. Was bedeutet die Tran-
35 szendenz ? Das Transzendente braucht nicht wirklich zu sein, und doch
bin ich bei ihm, nach meinem klaren Bewußtsein. Und was bedeutet
die Immanenz ? * 2)
Die Verirrung der Substanzenlehre, des Dualismus; damit zusam¬
menhängend die Verirrung des realistischen Schlusses von der Imma-
40 nenz auf die Transzendenz; dadurch die Verirrung des Sensualismus,
als Bewußtseinsnaturalismus, der das Bewußtsein zu einer in sich
*) Descartes sieht noch nicht die Notwendigkeit einer ursprünglichen Neuschöpfung
aller Begriffe aus der Immanenz. Mit natürlich vorgebildeten Begriffen und vermein¬
ten Einsichten geht er an die immanente Sphäre heran, sie auf Wesensbegriffe zu
bringen.
2) Paradoxer Kontrast gegen die natürliche Auffassung, die sich freilich nicht
reflektiv ausspricht, in allgemeinen Sätzen: Das eingekapselte Ich, das Ich bei
meinem Erfahren ein bloßer Schein.
BEILAGEN 345
abgeschlossenen Realität (oder Realitätenkomplex) macht. Die Verir¬
rung des langehin herrschenden Parallelismus und des widersinnigen
Naturalismus, der das Psychische zu einer bloß parallelen Begleiter¬
scheinung des Physischen macht, als ob die Welt durch Wegstreichung
5 des Psychischen genau dieselbe reine Natur übrigließe, die wir in der
wirklichen Welt erfahren und denkend in der Naturwissenschaft be¬
stimmen.
Descartes macht aus dem reinen ego eine Substanz, und so abstrakt
er den Substanzbegriff bestimmte, schob sich doch da die Dingvorstel-
10 lung unter.
Descartes ist der Vater der Psychologie auf Grund innerer Erfah¬
rung, und der psychophysischen Psychologie: ist die mens rein in sich,
was sie ist, und durch die immanente Einstellung des ego cogito in
ihrem wahren Sein absolut zu erfassen, so muß es eine rein immanente
15 beschreibende Psychologie geben. Die Seele, der „Geist”, hat im Un¬
wesentlichen eigene Gesetzmäßigkeiten und steht zudem unter einer
psychophysischen Gesetzmäßigkeit. Zur Ureigenheit des Geistes ge¬
hört das Vermögen der reinen Vernunft und wohl auch das Vermögen,
von außen her zufällig irritiert zu werden; das Nähere des Wie gehört
20 zur Psychophysik.
Also daran knüpft Locke in freier Weise an. Er führt die Idee
einer Erkenntnispsychologie und einer psychologischen Vemunfttheo-
rie im Rahmen der inneren Erfahrung aus; aber freilich den mathema¬
tischen Intellektualismus Descartes’ übernimmt er nicht.
25 Als ein Neues führt Locke, der von der Beschäftigung mit der biolo¬
gischen Naturwissenschaft her bestimmt ist, in die Psychologie den
Entwicklungs-, Genesis-Gesichtspunkt ein: er will die Geschichte der
erkennenden Seele behandeln; die Seele aber rein naturalistisch ge¬
dacht, wie ein Komplex von Einzelheiten, die auf eine „Substanz”
30 bezogen werden als auf ein unerkennbares X, wie ein physisches Ding
Komplex ist von Eigenschaften einer unbekannten Substanz.
Lockes Tendenz: alle „Vorstellung” — Vorstellungen = alle kon¬
stitutiven Gebilde — und auch Begriffsklärung auf klare „Ideen”
zurückzuführen, die ursprünglich, erstmalig in der Bewußtseinstafel
35 entspringen.
Andererseits das Operieren mit transzendenten Vorstellungen, mit
Begriffen, deren Ursprung nach dieser Methode nicht zu gewinnen ist,
wie dem der Substanz. Das völlige Übersehen der Intentionalität und
des Problems, wie sich für das Bewußtsein Gegenstände und wie in
40 immer höherer Stufe neue Gegenstände <sich> konstituieren.
Die Inkonsequenz, in der er als unmittelbar gegeben nur die eigenen
„Ideen” bezeichnet, die doch Erlebnisse der Bewußtseinstafel sind,
und doch nicht zeigt, wie sich immanent psychologisch, ohne Inan¬
spruchnahme von transzendenten Vorgegebenheiten, das Bewußtsein
45 der Objektivität entwickelt und wie Vemunfterkenntnis objektiver
Art möglich wird. Aber ist das nicht Folge der natürlichen Einstellung ?
Berkeley: Es gibt keine materiellen Substanzen = es gibt keine
346 ERGÄNZENDE TEXTE
anderen Dinge als die ich sehe, die ich erfahre; nämlich ich erfahre sie
selbst, und nicht Abbilder. In seiner Linie liegt schon der Gedanke: die
Vorstellung der Einheit der Raumgestalt und damit der Einheit und
Selbigkeit des Dinges gegenüber den wechselnden immanenten
5 Empfindungen, in denen wir es sehen, ist ein psychisches Gebilde der
Assoziation und Gewohnheit. Er spricht so, als wären die Empfindun¬
gen selbst das Ding, und doch wieder sieht er, daß im Falle desselben
Dinges die Empfindungen wechseln und daß die zu demselben Ding
gehörigen Empfindungen assoziativ und nach Regeln möglicher em-
10 pirischer Erwartung Zusammenhängen. Die Naturgesetze werden zu
Regeln, welche assoziative Komplexe beherrschen. Um die Erkenntnis
anderer Subjekte macht er sich keine Gedanken. Kommerzium natür¬
lich durch das Medium des eigenen Bewußtseinsinhalts, der eigenen
phänomenalen Natur und nach dem göttlichen Gesetz, das „dieselbe”
15 Natur für viele gemeinsam geschaffen hat.
Wichtig ist, daß Berkeley das Wesen des Ich in der Aktivität sieht,
es als ein Prinzip faßt, das in einem Geiste waltet, als Prinzip einer in
Bezug auf seinen Bewußtseinsgehalt geübten oder zu übenden Aktivi¬
tät.
20 Hume: Die geistige Substanz — die Personalität, das aktive Ich.
Konsequente immanente Einstellung, wie sie hier verstanden wird.
(Andere Subjekte freilich werden beständig benützt.) Das Immanente
das allein Gegebene, die eigenen Ideen. Dinge, Einheiten wechselnder
Mannigfaltigkeiten, sind Gebilde der Subjektivität, Gebilde der Ein-
25 bildungskraft. Alle Kategorien der Objektivität — sowohl der Objek¬
tivität als „Naturding” wie auch der Objektivität als Person (und per¬
sonaler Verband) — sind Formen, in denen eine faktische, irrationale
Gesetzmäßigkeit des Bewußtseinsverlaufes (des Bündels) Einheiten
herstellt. Da aber auch das Allgemeinheitsbewußtsein ein Entwick-
30 lungsprodukt ist, bzw. das darin sich konstituierende Allgemeine als
allgemeiner Begriff und Satz, so ist auch jede rationale Erkenntnis
(jede, die Relationen zwischen Ideen erkennt) eigentlich nur ein irra¬
tionales Faktum. Irrational ist auch die Wahrscheinlichkeitserkennt¬
nis, es gibt nicht etwa eine Rationalität in Form einer unter beständi-
35 gern Vorbehalt künftigen ErfahrungsVerlaufes relativ gerechtfertigten
und nach Wahrscheinlichkeitsprinzipien rational fortschreitenden Er¬
kenntnis.
Das wahre Hume’sche Problem: Wie ist, wenn alle Erkenntnis sich
als eine immanente Folge von Tatsachen in einem Ideenbündel voll-
40 zieht, eine echte Erkenntnis „möglich”? Wie können Ansprüche ge¬
rechtfertigt sein, die über das momentane Datum, das momentane
Faktum der Wahrnehmung oder Erinnerung hinausgehen ? x)
Daß die Konsequenz es fordern würde, auch die Frage zu stellen,
wie Erinnerungen einen Wert haben können, wie wir also mehr wissen
*) Dann wäre aber das Hume’sche Problem nichts anderes als das allgemeine Pro¬
blem der Erkenntnistheorie.
BEILAGEN 347
können als vom momentanen Bündel: von einem zusammenhängenden
und sich wandelnden Bündel als Bewußtseinsstrom, ja auch nur vom
momentanen, da, wie es scheint, nicht mehr verständlich sein kann als
das Erleben, als das Sein der einzelnen Elemente, aber nicht mehr eine
5 begrifflich fixierende, im gewöhnlichen Sinn urteilende Erkenntnis —
darüber ist nicht gesprochen. Hume glaubte wohl schon genug getan
zu haben. x)
In Wahrheit unterscheidet sich das Ergebnis, wenn wir ihn konse¬
quent sein lassen, in nichts von dem absoluten Skeptizismus eines
10 G o r g i a s. Der Widersinn ist verstärkt. In einem Denken, das auf
Wahrheit, auf echte und wirkliche Geltung Anspruch erhebt, wird
gezeigt, daß kein Denken objektive Geltung ausweisen könne.
Zugrunde liegt die „Tatsache”, daß das Subjekt nichts anderes sei als
ein fortlaufender und sich wandelnder Komplex von „Ideen”, und
15 vorausgesetzt ist, daß aus einer rein immanenten Erfahrung sich die
und die Gesetze für die Regelung dieses Verlaufes und für die Erzeu¬
gung von psychischen Gebilden als rein immanenten ergeben, also sich
vernünftig feststellen lassen. Und auf Grund dieser Vorgegebenheiten
wird festgestellt, daß kein Erfahrungsdenken und schließlich kein
20 Denken überhaupt etwas an sich Gültiges zu leisten vermag, daß es
vernünftige Feststellungen, die wahrhaft verpflichten, gar nicht geben
könne. Hume ist freilich inkonsequent. Er tut so, als ob die von ihm
angenommene Gesetzmäßigkeit, daß zu „denselben” Ideen immer
wieder dieselben Ideenrelationen gehören müssen, rational gültig sei
25 (auf Grund der Evidenz des Allgemeinheitsbewußtseins, die er doch
durch seine Abstraktionstheorie preisgegeben hat), einzig und allein
als absolut gültig hingenommen werden dürfe. Und danach ergibt sich
das Schema: diese einzige Rationalität kommt nicht den „Tatsachen”-
Gesetzen zugute. Man kann ihre Erkenntnis nicht in genereller Evi-
30 denz auf rechtfertigende Prinzipien zurückführen. Und so ergibt sich
das speziellere Hume’sche Problem: Wie sind gegenüber der als ver¬
ständlich zugestandenen Rationalität der Wesenserkenntnisse (die
dem Hume’schen allgemeinen Tatsachengesetz, daß zu gleichen
Ideen gleiche Ideenrelationen unveränderlich zugehören, ohne ein
35 Wort untergeschoben werden) die von ihm so genannten Gesetze für
das Kommen und Gehen von Tatsachen, seine matters of fad, rational
verständlich? Und noch spezieller: Wie ist kausale Erkenntnis objek¬
tiv möglich — als Erkenntnis von kausalen Wahrheiten ?
Aber die Größe Humes liegt nicht in diesem vom Rahmen seiner
40 eigentlichen Philosophie abzulösenden besonderen Hume’schen Pro¬
blem, das man allein zu kennen scheint, sondern in der Art der Be-
>) Aber Hume ist eben genial inkonsequent. Er kann eben nicht umhin, die Rela¬
tion zwischen Ideen als notwendig und verständlich gültige anzusehen, wenn er sie
sich innerlich nur klarmacht. Und dann sind alle anderen Erkenntnisse (Tatsachen¬
erkenntnisse) und im besonderen die objektiven Erkenntnisse und ihre Kategorien
unverständlich und die objektive Welt eine Fiktion. Also die Rationalität der rela-
tions of ideas ist Voraussetzung und Zugeständnis, ebenso das Recht der Erinnerung,
ihre „Evidenz”.
348 ERGÄNZENDE TEXTE
handlung des radikalen und universalen Problems, das das Problem
der Erkenntnistheorie ist: Wie kann, wenn man sich auf das ego cogito
stellt, die Konsequenz des skeptischen Widersinns vermieden werden?
Wie können wir überhaupt Bewußtsein von Gegenständlichkeit jeder
5 Art und Gegenständlichkeit als Gegenständlichkeit des Bewußtseins
verstehen, wie können wir überhaupt Wahrheit und gegenständliches
Sein, Wissenschaft und ihre Beziehung auf Wahrheit und gegenständ¬
liches Sein verstehen? — Das Problem war zwar durch Descar-
t e s gestellt: aber angeregt durch Berkeley, der als der erste
10 (sowohl in der Abstraktionstheorie als, und vor allem, in der Theorie
der Naturerkenntnis) im immanenten Feld <den> Versuch einer wirk¬
lichen Untersuchung gemacht hat, die ersten primitiven, wenn auch
noch methodisch verkehrten Versuche, in rein immanenter Intuition,
d.h. im Sinne der sich in der Anschauung gebenden Gegenständlich-
15 keiten, verstehende Analyse zu treiben.
Er war, wie das Hereinziehen der göttlichen Kausalität zeigte,
nicht konsequent. H u m e ist der erste, der durch konkrete imma¬
nente Analysen, durch wirkliches Studium der immanenten und kon¬
sequent festgehaltenen immanenten Sphäre nach einem rationalen
20 Verständnis für die Weise suchte, wie sich in der reinen Subjektivität,
im Rahmen des reinen Bewußtseins, transzendente Objektivität kon¬
stituiert und wie eine darauf bezügliche Erkenntnis mögüch, wie in
Hinsicht auf die erscheinende Objektivität Wahrheit einen verständ¬
lichen Sinn und jede Erkenntnis eine verständliche Geltung haben soll.
25 Und darüber hinaus wurde für ihn in beträchtlichem Maße Erkenntnis
überhaupt als ein selbst für rein immanente Objektivität bestehendes
Problem, wenn auch nicht zu einem klar geschiedenen Problem, so
doch <zu einem solchen, zu dem er> sozusagen im Tor stand. Die
Erkenntnis als Problem wurde nun in einem neuen Sinn problematisch,
30 und so können wir in einem besonderen Sinn doch noch von einem
universalen Erkenntnisproblem Hume’scher Prägung sprechen;
zunächst die Rückbeziehung der Entwicklung aller objektiven Apper¬
zeptionen auf Assoziationen ist nicht ein Tadel für Hume, es ist eine
große Entdeckung; aber wie kann, das ist nun die Frage, wenn das
35 Bewußtsein ein Verlauf von Perzeptionen ist, und Perzeption ein Titel
ist für das tatsächlich Seiende in der immanenten Sphäre, in der des
immanenten Zeitverlaufs, in einem bloßen Ablauf von Sachlichkeiten,
sei es auch der Art von Perzeptionen, z.B. von sinnlichen Impres¬
sionen, sinnlichen Ideen und sonstigen Ereignissen (feelings, darunter
40 belief usw.), Erkenntnis verständlich werden, d.i. eine Sorte
besonderer, sich in diesem Verlauf einstellender, sei es auch, wenn das
schon zugestanden wird, durch assoziative Gesetze und ähnliche innere
Gesetze <sich> entwickelnder innerer Tatsachen, die nicht nur sein,
sondern über sich hinaus etwas meinen, und dann auch in gültiger
45 Weise meinen sollen; und nun gar etwas meinen sollen, was kein Be¬
wußtseinsdatum, was dem Bewußtseinslauf transzendent und nicht
einmal ein dem Bewußtsein Gleiches oder Ähnliches ist ?
BEILAGEN 349
Das Problem ist das der Intentionalität und des Sinnes einer zur
Intentionalität gehörigen Leistung: wahre Objektivität.
Beilage XIII (zum Zweiten und Dritten Abschnitt): < Über die Be¬
deutung Descartes’, Lockes, Leibniz’ und Brentanos für die Ent¬
wicklung der Phänomenologie. > x)
Die Voraussetzungen für die Möglichkeit <der> Entwicklung <der
Phänomenologie Edmund Husserls) schuf die konsequente
5 Auswertung der nie zu gereifter Klarheit gekommenen innersten
Intentionen der neuzeitlichen Philosophie, also derjenigen der Car-
tesianischen Meditationen und des Locke ’schen Essay.
Der offenbare Wahrheitskem des Locke’schen Psychologismus mußte
festgehalten werden. Andererseits mußte der rechtmäßige Sinn der
10 Cartesianischen Zielstellung einer absolut begründeten universalen
Wissenschaft und der ihr dienenden Methode der Reduktion auf das
(transzendental-) reine ego allererst entfaltet werden, und weit über
das hinaus, was Descartes selbst zur offenen Klarheit gekommen war.
Im Zusammenwirken dieser Motive ergab die geklärte Reduktion des
15 empirischen ego auf das transzendentale auch eine Reduktion der
Locke’schen rein seelischen Erfahrung in eine transzendentale Erfah¬
rung: also die transzendentale Subjektivität ist, so wurde evident,
keine metaphysische Substruktion, sondern mit ihren Erlebnissen und
Vermögen ein Feld direkter Erfahrung und somit auch Erfahrungsfor-
20 schung. Der psychologischen Deskription und genetischen Forschung
entspricht dann eine transzendentale.
Aber das war nur eine Linie in der Denkbewegung. Die andere
ging von Leibniz aus, und von seinen Platonischen Moti¬
ven, womit sich die Wirkung von L o t z e s Interpretation der Pla-
25 tonischen Ideenlehre verband. Daraus erwuchs ein neu gewendeter
Platonismus, die Nachentdeckung der Mathesis universalis als „for¬
maler Ontologie” und die Forderung einer intuitiv zu schöpfenden
apriorischen Wissenschaft für jede Gegenstandssphäre — wieder eine
Nachentdeckung eines alten Leibniz’schen Motivs. Die konsequente
30 Übertragung auf die psychologische und transzendentale Sphäre ergab
die Einsicht in die Notwendigkeit einer eidetisch durchzuführenden
reinen Psychologie und Transzendentalphilosophie. Ein für die wirk¬
liche Durchführung entscheidendes Moment gab die große Entdeckung,
die in Brentano lag. Aber gerade hier lagen die größten Schwie-
35 rigkeiten, da Brentano selbst, noch im allgemeinen Naturalismus in
der Auffassung der Bewußtseinssphäre befangen, noch nicht zur
echten Methode intentionaler Analyse und Deskription durchgedrun¬
gen war.
Alle diese Motive, von Edmund Husserl zeitweise einseitig verfolgt,
40 dann sich aber miteinander verbindend, führten schließlich zu einer
in immer höheren Stufen des methodischen Selbstbewußtseins sich
*) etwa 1926. — Anm. d. Hrsg.
350 ERGÄNZENDE TEXTE
vor sich rechtfertigenden strengen Wissenschaft von der transzenden¬
talen Subjektivität, der Phänomenologie.
Beilage XIV (zur 23. Vorlesung): <Grundsatz Humes. >
Im § über Existenz des Treatise sagt H u m e ausdrücklich: ,,Da
dem Geiste nichts gegenwärtig ist als seine Perzeptionen und Ideen,
5 die aus seinen früheren Impressionen erwachsen sind, so folgt, daß es
immöglich ist, sich eine Idee von etwas zu bilden ..., das von Ideen
oder Impressionen spezifisch verschieden wäre”. Das ergibt das Uni¬
versum der Einbildungskraft. Man dringt mit seiner Imagination bis
zum Himmel oder bis zu den äußersten Grenzen des Weltalls, man
10 gelangt doch niemals einen Schritt hinaus über sich selbst, nie vermag
man eine Art von Existenz mit seiner Vorstellung zu erfassen, die
hinausginge über das Dasein von Perzeptionen, die in dieser engen
Sphäre (des Bewußtseins) aufgetreten sind. Höchstens den uneigent¬
lichen Gedanken: „Etwas, das von Perzeptionen spezifisch verschie-
15 den ist”, können wir bilden — ein völlig leerer Gedanke.
Beilage XV (zur 25. Vorlesung): <Hume und Kant.> Einwände gegen
Kants Problem der synthetischen Urteile a priori und gegen das
Schema seiner Lösung. l 2)
Hume:
1.) Kein Problem die unmittelbare Erfahrungserkenntnis (synthe¬
tisch a posteriori): So ist es hier (ich sehe es), so war es (ich habe die
klare Erinnerung), so pflegt es zu sein.
20 2.) Kein Problem die Urteile über das, was in bloßen Ideen liegt
(analytisch), darunter zumal die generellen Sätze und Gesetze, die
ausdrücken, was zum allgemeinen Wesen gegebener Begriffsinhalte
<gehört>.
3.) Dagegen problematisch: alle Urteile (synthetische a priori) über
25 nicht unmittelbar gegebene oder gar über gänzlich transzendente, also
in keiner Erfahrung zu gebende Tatsachen.
Durch keine direkte Erfahrung zu geben sind z.B. Gott, eine angeb¬
liche transzendente Wirklichkeit. Aber nicht nur die darauf bezüg¬
lichen metaphysischen Urteile sind problematisch, sondern auch die
30 sämtlichen Urteile, aus denen sich Erfahrungswissenschaften kon¬
stituieren, und sämtliche singulären empirischen Urteile, die gege¬
bene Erfahrung transzendieren: z.B. jeder Kausalschluß von
Gegebenem auf Nicht-gegebenes.
Hume ist Skeptiker, indem er leugnet, daß irgendeines dieser Urtei-
35 le je zur wirklichen Erkenntnis werden, daß es vernünftig begründet
werden kann. Er leugnet, daß es Prinzipien gibt, die selbst rational zu
rechtfertigen sind und die den transzendierenden Erfahrungs- oder
l) etwa 1916. — Anm. d. Hrsg.
a) etwa 1903. — Anm. d. Hrsg.
BEILAGEN 351
Tatsachenurteilen rationale Rechtfertigung zu verleihen vermögen.
Rational, einsichtig begründet sind nur die allgemeinen Sätze, die den
Charakter von Relationen zwischen Ideen haben, sowie die singulären
Sätze, die aus derartigen apriorischen Erkenntnissen rein logisch zu
5 folgern sind. Für Hume liegt wie für den Rationalismus die Quelle aller
wissenschaftlichen Rechtfertigung im Apriori. Rationalität oder, was
dasselbe, Apriorität ist der Charakter der Wissenschaft. Was bedeutet
für ihn aber das Apriori? Nicht Eingeborenheit, nicht als zur ursprüng¬
lichen Ausstattung des menschlichen Geistes faktisch gehörig, so wie
10 das Aposteriori für ihn nicht die Bedeutung hat: von außen her stam¬
mend, aus der Irritation des Intellekts durch äußere Realitäten, statt
rein aus dem menschlichen Intellekt her stammend. Angeborene Ideen
sind nach Hume Fiktionen der Metaphysik. Von dem „Außen” wissen
wir nach Hume nichts. Gegeben sind nur Perzeptionen: Impressionen
15 und Ideen, und Impressionen sind einfach die Wahmehmungs- und
Erinnerungserlebnisse, wie wir sie eben erleben. Die sogenannten
„äußeren Dinge” sind nichts als Komplexe von Impressionen und al¬
lenfalls noch von daran gebundenen Ideen. Hume ist ja Berkeleyaner.
Die Seele selbst ist wieder nichts als ein Bündel von Impressionen, von
20 Ideen. Jedenfalls ist das allein uns gegeben, und wenn es ein Apriori
gibt, so gibt es nur ein immanentes Apriori. Es besteht darin, daß wir
durch Betrachtung, Analyse, Vergleichung unserer Ideen — und d.h.
hier unserer intuitiv gegebenen Begriffsinhalte — gewisse von ihrem
allgemeinen Wesen unabtrennbare Relationen, gewisse in ihrem Wesen
25 gründende Sachverhalte vorfinden, Sachverhalte, deren Bestand man
nicht leugnen kann, ohne gegen den Sinn, den Inhalt der Begriffe zu
verstoßen.
Freilich entbehren Humes Darlegungen hier der Klarheit; er schei¬
det nicht zwischen Ideen als beliebigen Phantasievorstellungen und
30 Ideen als allgemeinen Begriffen und gegebenen begrifflichen Wesen.
Aber zweifellos trifft unsere Interpretation den Sinn seiner Lehre.
Können wir allgemeine Einsicht gewinnen in generelle Sachverhalte,
die rein in den Begriffen gründen, so haben wir damit apriorische Er¬
kenntnis. Denn selbstverständlich werden sich in der Wirklichkeit —
35 d.h. in der Impression — Objekte darstellen, die unter diesen Begriffen
stehen, also die betreffenden begrifflichen Merkmale haben; da muß,
was überhaupt zu den Begriffen wesentlich oder unabtrennbar gehört,
auch sich vorfinden. Gehört zum Wesen der Zahlensumme, daß
a + b = b -f a ist, so ist es selbstverständlich, daß in aller künftigen
40 Erfahrung, wenn einmal wirklich eine Zahlensumme empirisch gege¬
ben ist, sich das bestätigen muß. Das ist also verständlich. Und eine
andere Weise, wie wir a priori etwas aussagen sollen, ist gar nicht denk¬
bar. A priori, d.h. nicht auf Grund wirklicher Impression aussagen,
also auf Grund der Ideen; und berechtigt kann das nur sein, wenn, was
45 wir sagen, eben in den Ideen wirklich liegt.
Kant interpretiert Humes Relationen zwischen Ideen als analy¬
tische, also als identische Urteile. Das liegt aber gar nicht im Sinn
352 ERGÄNZENDE TEXTE
Humes. Nach ihm sind alle identischen Urteile Relationen zwischen
Ideen, aber nicht sind umgekehrt alle Relationen zwischen Ideen
identische. Es fällt ihm nicht ein, zu behaupten, daß die Mathematik,
diese große Wissenschaft von Ideenrelationen, aus bloßen offenen oder
5 versteckten Tautologien bestehe. Wir machten uns in einer früheren
Vorlesung klar, daß überhaupt unter den Titel der „Relation zwischen
Ideen” zwei Klassen von Urteilen fallen: die formalen Urteile a priori,
die rein logischen, und die materialen; zu den letzteren gehören aprio¬
rische Sätze, die im Wesen auch sinnlicher Begriffe liegen, wie Farbe,
10 Ton usw. Bei den ersteren mag unmittelbar oder mittelbar ein Wider¬
spruch nachweisbar sein, bei den letzteren besteht kein logischer Wi¬
derspruch, sondern ein Widerstreit mit dem Inhalt oder Sinn der be¬
treffenden Begriffe. Ich kann nicht den Sinn des Wortes Entität fest-
halten und leugnen, daß von je drei Entitäten einer Entitätsgattung
15 eine in der Mitte steht.
Kant meinte: wenn Hume eingesehen hätte, daß die mathemati¬
schen Urteile nicht analytisch seien, so hätte er seinen Skeptizismus
nicht ausbilden können. Das ist offenbar imrichtig. Humes Position
wird durch die Präzision des Begriffes „analytisches Urteil” und durch
20 den Nachweis des synthetischen Charakters der Mathematik gar nicht
berührt, und zweifellos hätte Kant dies auch bemerkt, wenn er Humes
großes Werk, den Treatise kennengelemt hätte. Freilich haben man¬
che Ausdrucksweisen Humes, seine Betonung des Prinzips vom Wider¬
spruch, sein wiederholter Hinweis, daß die Wirkung nicht in der
25 Ursache liegt, und dergleichen Wendungen es verschuldet, daß-
Kant auf eine falsche Fährte geleitet wurde. Es mag auch sein, daß
Hume gelegentlich „analytisch” und „apriorisch” unklar vermengte,
aber auf das Wesen seiner Theorien hat das keinen Einfluß. In seinem
eigenen Sinn sind die mathematischen Urteile synthetisch, und nicht
30 analytisch.
Hume wird zum Skeptiker, nicht weil er die Mathematik für analy¬
tisch hält und das Wesen alles Apriorischen im Analytischen sieht,
sondern darum, weil er einerseits den einzig echten erkenntnistheore¬
tisch bedeutsamen Begriff des Apriori hat (wonach a priori das ist, was
35 im Wesen gegebener Begriffe gründet und als davon imabtrennbar zu
erschauen ist) und andererseits keine Möglichkeit sieht, die Prinzipien
der mittelbaren Tatsachenurteile als in diesem Sinn a priori zu fassen.
Wie groß die Unklarheit in den Ausführungen Humes auch ist und
wie viele wesentliche Irrtümer sie in seinen erkenntnistheoretischen
40 Grundauffassungen auch verschuldet hat, im großen und ganzen war
er von richtigen Tendenzen beherrscht und wandelt, wenn auch mit
halb verbundenen Augen, auf richtigen Wegen.
Völlig korrekt ist doch der Ausgangspunkt Humes von den Impres¬
sionen und Ideen, wenn er die Berechtigung, so anzufangen, auch nicht
45 klar erörtert. Alle Erkenntnistheorie muß mit dem Gegebenen
anheben, und das sind eben ausschließlich die unmittelbaren Erleb¬
nisse. Hume beginnt nicht wie Kant und wie Locke mit der Affektion
BEILAGEN 353
des Subjekts durch Objekte, für ihn besteht keine Dualität zwischen
Ich und Dingen, daher entfallen bei ihm alle die Schwierigkeiten und
Widersprüche, die man Kant immer wieder vorgeworfen hat: ohne
die Annahme von Dingen an sich kommt man in das System nicht
5 hinein, und mit dieser Annahme kann man nicht darin bleiben. Humes
Lehre von den Dingen mag skeptisch, unklar, unhaltbar sein; für den
Anfang der Erkenntnistheorie ist die Skepsis durchaus unentbehrlich,
sie muß uns einschränken auf das phänomenologisch Gegebene.
Völlig korrekt ist es, wenn Hume Aussagen über das unmittelbar
10 Gegebene als solche behandelt, die keiner erkenntnistheoretischen
Schwierigkeit unterliegen, wobei er freilich zu wenig skeptisch ist, in¬
dem er die Erinnerung keiner Kritik unterwirft und bei der Wahrneh¬
mung wirklich und scheinbar Gegebenes nicht auseinanderhält. Und
wiederum korrekt ist dann, bei der Frage nach der Berechtigung der
15 die unmittelbare Erfahrung transzendierenden Urteile, die Auffassung,
daß alle transzendierenden Urteile entweder apriorische Ideenurteile
sein müssen oder aus empirischen Gegebenheiten mit Hilfe solcher
apriorischer Urteile rein logisch deduzierbar sein müssen. Freilich fehlt
es viel an wirklicher Durchführung dieser Gedanken und an den ent-
20 scheidenden phänomenologischen Analysen; so fehlt alles, was dem
rohen, verwirrenden, in allen möglichen Farben schillernden Gegen¬
satz zwischen Impressionen und Ideen Klarheit und Eindeutigkeit ver¬
schaffen könnte. Aber überall schlägt Hume, mit dem Instinkt des
Genies, die Richtungen auf das bleibend Bedeutsame ein, und selbst
25 seine Irrtümer sind fruchtbar.
Seine Identifikation von Apriori und „in den bloßen Ideen liegend”
ist zweifellos richtig, wenn nur das Liegen oder Gründen in bloßen
Ideen richtig verstanden wird als generelle Evidenz. Macht man sich
klar, daß alles Wissen auf Einsicht beruht, und daß Einsicht nichts
30 anderes bedeuten kann als Erlebnis, als subjektives Gegebensein der
Wahrheit, dann ist es zweifellos, daß, wenn wir überhaupt ein Gesetz
als gegebene Wahrheit erfassen sollen, es nur in Form einer relation of
ideas gegeben sein kann: nämlich so, daß wir in der Evidenz nicht bloß
die allgemeinen Worte, sondern die entsprechenden Begriffsinhalte
35 erleben und nun einsehen, daß zu ihrem allgemeinen begrifflichen
Wesen unabtrennbar die und die Beziehung gehört. Wir erschauen
die notwendige Zusammengehörigkeit der Begriffe und somit die all¬
gemeine Gültigkeit für irgendetwas überhaupt, was unter diesen Begrif¬
fen steht. Somit hat Hume auch völlig recht, wenn er an die Prinzipien
40 der Erfahrungsschlüsse, durch welche alle mittelbaren Erfahrungsbe¬
hauptungen und Erfahrungsgesetze aus unmittelbaren Erfahrungs¬
gegebenheiten zu begründen sind, die Forderung stellt, daß sie in sei¬
nem Sinne a priori, daß sie relations sein müßten.
Kant aber gerät auf einen Abweg, indem er Humes Begriff des
45 Apriori identifiziert mit seinem Begriff der analytischen Erkenntnis,
also im wesentüchen der identischen Erkenntnis. Die Frage nach der
Möglichkeit dieser Hume’schen apriorischen Erkenntnis schien durch
Husserliana VII 23
354 ERGÄNZENDE TEXTE
Reduktion auf die Selbstverständlichkeit des Satzes vom Widerspruch
erledigt zu sein, und so übersah Kant das Bedeutsame, daß bei Hume
zwischen den Zeilen zu lesen war: a priori = eine im allgemeinen
Wesen der Begriffe gründende und in der Evidenz zu erschauende
5 generelle Beziehung. Und er übersah, daß auch das Gesetz vom Wider¬
spruch nur darum als ein absolut berechtigtes und berechtigendes
Prinzip gelten kann, weil es im Wesen der rein logischen Ideen gründet,
die es konstituieren. Davon aber können wir uns mit Evidenz über¬
zeugen. Indem Kant sich nur äußerlich an das Prinzip vom Wider-
10 spruch als das berechtigende der analytischen Urteile hält, fragt er
ebenso äußerlich: was ist das Prinzip der synthetischen Urteile ?
Das Prinzip der synthetischen Urteile a posteriori ist die einheitliche
Erfahrung, daß die apriorischen müssen gesucht werden. Und er findet
das Prinzip der synthetischen und apriorischen Urteile in den For-
15 m e n. Damit aber nimmt sein Denken eine Wendung zum Relativis¬
mus und Anthropologisrnus.
Kant perhorreszierte die Gründung der Erkenntnistheorie auf Psy¬
chologie, als der bloß empirischen Wissenschaft von den Seelentätig¬
keiten. Das ist sehr berechtigt. Aber eine Art Psychologie scheint doch
20 in seiner Formenlehre auch zu liegen. Zur Natur des menschlichen In¬
tellekts — freilich nicht des einzelnen Menschen, nicht des Volkes, der
Rasse, sondern des Menschen überhaupt — gehören gewisse Funktions¬
formen, und deren Gesetzmäßigkeit ist also eine solche, die allgemeine
Gültigkeit hat, die eben zu jedem Menschen als solchen gehört. Genau
25 so würde auch Hume sagen: zum Wesen der menschlichen Natur gehö¬
ren die Gewohnheitsgesetze, und dieselben sind die Quellen der Tat¬
sachenwissenschaften. Der Mensch bildet Gewohnheiten aus, notwen¬
dige und allgemeine, weil er Mensch ist, und so erwächst die Einheit
der Erfahrungswelt und der Erfahrungswissenschaft. Wenn Kant statt
30 des Prinzips der Gewohnheit andere, aber ebenso subjektive allgemein
menschliche Prinzipien der Erfahrungsbildung einführt — macht das
einen so fundamentalen Unterschied aus ? Liegt nicht auch in Humes
Lehre die kopemikanische Umwälzung, nämlich daß sich alle Erfah¬
rungseinheit nach dem Denken richtet? Sagt Kant, daß Gewohnheit
35 nur zufällige Verknüpfung, nicht aber notwendige liefern könne, so
mag das ja wahr sein, aber Hume legt darauf kein so großes Gewicht,
da er doch die Geltung der Erfahrungsgesetze einzusehen nicht bean¬
sprucht, ja die Möglichkeit solcher Einsicht leugnet.
Humes Lehre führt auf Widersprüche. Gibt es kein vernünftiges
40 Recht, Tatsachenurteile und Tatsachengesetze auszusprechen, so auch
nicht die Gewohnheitsgesetze, und so hat alles Theoretisieren wie in der
Naturwissenschaft so in der Transzendentalphilosophie keinen Sinn.
Der Inhalt der Hume’schen Theorie leugnet die Vernünftigkeit jeder
erfahrungswissenschaftlichen Theorie überhaupt, während Humes
45 Theorie selbst eine erfahrungswissenschaftliche Theorie ist.
Kants Lehre führt auf denselben Widersinn und ist, konsequent
ausgedacht, ebenso skeptisch; ja eigentlich noch in höherem Maße. Er
BEILAGEN 355
subjektiviert nicht nur die Anschauungsformen, sondern auch die
Verstandesformen. Auch sie (so scheint es wenigstens, und so wird es
zumeist aufgefaßt) sind bloße Formen des menschlichen Bewußtseins
überhaupt. Da nun alles und jedes Denken des Menschen eben mensch-
5 liches Denken ist und da die Formen alles menschlichen Anschauens,
Denkens, Erfahrens nur als spezifisch menschliche gedacht sind, so
gibt es keine objektive Erkenntnis überhaupt, keine einzige Behaup¬
tung dürfen wir mit Anspruch auf objektive, endgültige Gültigkeit
aussprechen. Erkenntnis überhaupt ist nur vom Standpunkt des Men-
10 sehen gültig. Das ist aber eine Auffassung, die dem extremsten Skep¬
tizismus nahe verwandt ist, ja au fond mit ihm identisch ist. Denn
dann gilt die reine Arithmetik, z.B. der Satz, daß 2x2 = 4 ist, und
konsequenterweise auch die ganze reine Logik und endlich jede Aus¬
sage adäquater innerer Wahrnehmung nur für uns, und für anders
15 konstituierte Wesen mögen all diese Wahrheiten falsch sein. Hume
urteilt hier anders: alle analytischen Sätze, und, in seinem weiteren
Sinn, alle Relationen zwischen Ideen gelten absolut, ebenso wie die
schlichten Impressionensätze. Sie gelten also nicht bloß für mich oder
für irgendeine Klasse von Wesen, sie gelten selbst für Gott, und Gott
20 kann sie nicht ändern.
Kants Lehre scheint denselben Widersinn zu implizieren wie dieje¬
nige Humes; denn die Theorie: alle menschliche Erkenntnis sei bloß
phänomenal aus dem Grunde, weil sie unter den menschlichen Formen
steht, beansprucht nicht eine bloß phänomenale sondern eine absolute
25 Bedeutung; diese Theorie wie jede Theorie müßte aber nur phänome¬
nale Bedeutung haben. Die Formen sind selbst Realitäten oder Begrif¬
fe von Realitäten, und die Urteile, in denen wir die Formenlehre be¬
gründen, sind weder analytische Urteile noch schlichte Erfahrungsur¬
teile, also sie müßten wieder in synthetischen Urteilen a priori grün-
30 den. Wir geraten hier in Zirkel oder Widerspruch. Wir werden durch
Kant nicht vor dem härtesten Skeptizismus errettet sondern in einen
noch härteren als den Hume’schen hineingezogen.
Wirklich errettet würden wir werden, wenn es gelänge, unter Fcst-
haltung und Vertiefung der Hauptmotive der rationalistischen wie
35 empiristischen Erkenntnistheorie, zumal unter Festhaltung eines ver¬
tieften Begriffs von Relationen zwischen Ideen, nachzuweisen, daß die
Prinzipien der Realitätswissenschaften wirklich a priori im echten und
nicht anthropologisch verfälschten Sinn sind, daß sie zum Wesen
nicht speziell des Menschengeistes, sondern zum Wesen des Denkens
40 und der Erkenntnis überhaupt gehören, gleichgültig welches Wesen
urteilen und erkennen mag. Kant war der wahren Sachlage auf der
Spur. In der Ethik hat er scharf und klar ausgesprochen, daß der kate¬
gorische Imperativ nicht bloß anthropologische sondern absolute Be¬
deutung habe. Was ihm fehlte, war aber auch hier eine Verständigung
45 über den Sinn, wie solch eine absolute Bedeutung eigentlich möglich
sei. Sie ist natürlich nur möglich in Form von Hume’schen Relationen
zwischen Ideen. Die Frage nach der Möglichkeit synthetischer, also
356 ERGÄNZENDE TEXTE
nicht tautologischer, und apriorischer Erkenntnis bedarf nicht anthro¬
pologischer und metaphysischer Theorien, und <eine Antwort auf sie>
kann durch solche Theorien nie gegeben werden, sondern bedarf einer
phänomenologischen Aufklärung des Wesens evidenter und genereller
5 Erkenntnis, des Wesens von axiomatischen Einsichten im strengsten
Sinn.
Fragt man aber nach dem Grunde, warum Kant trotz seiner Gei¬
stesgröße, trotz Scharfsinns und Tiefsinns in den entscheidenden Haupt¬
punkten gefehlt hat, so lautet die Antwort: Kant hat von Hume und
10 den englischen Empiristen vereinzelte Anregungen erfahren, aber sein
Denken blieb an die typischen Geleise des deutschen Rationalismus
selbst da gebunden, wo er dessen Theorien verwarf, dessen Methode
bekämpfte. Die großen englischen Untersuchungen über den Ursprung
der Erkenntnis blieben auf Kant ohne nennenswerte Wirkung. Indem
15 er bemerkte, daß Locke psychologisierte, indem er einsah, daß durch
empirische Psychologie keine Transzendentalphilosophie zu leisten sei,
verkannte er doch wieder den berechtigten und tiefen Sinn der
Ursprungsforschungen Lockes. Er übersah, daß die Transzendental¬
philosophie nichts anderes will und nichts anderes wollen darf, als den
20 Sinn der Erkenntnis und ihrer Geltung aufklären und daß Aufklären
hier nichts anderes heißt, als auf den Ursprung, auf die Evidenz zu¬
rückgehen, also auf das Bewußtsein, in dem sich alle Erkenntnisbegrif¬
fe intuitiv realisieren. Er verkannte, daß alle Erkenntniskritik phäno¬
menologisch verfahren muß und daß nur die Übergriffe in das gene-
25 tisch-psychologische Gebiet den psychologistischen Empirismus der
Engländer verschuldet hat.
Im übrigen betrifft diese Kritik nur das Hauptschema der Kant’-
schen Lösung des Erkenntnisproblems. Damit ist aber Kants Erkennt¬
niskritik nicht etwa ein abgetanes Werk. Im gewaltigen Ringen um die
30 Lösung des Erkenntnisproblems hat Kant so tiefe Blicke getan wie
keiner vor ihm. Die Größe seiner philosophischen Persönlichkeit zeigt
sich in jeder Zeile, die er geschrieben, und die Versenkung in seine
großartigen - unklaren, und doch tiefen und gedankenschweren Unter¬
suchungen wird noch nach Jahrhunderten ihren Reiz üben und bedeut-
35 samste Anregungen vermitteln. Selbst hinter seinen verfehlten Theo¬
rien stehen wichtige und meist noch nicht ausgemünzte und fruchtbar¬
gemachte Gedanken, Gedanken, die freilich nicht zutageliegen, die
keinen eindeutigen und klaren Ausdruck finden oder durch Vermen¬
gung mit irrigen, aus der Zeitphilosophie stammenden Gedanken viel-
40 fältig getrübt und verzerrt erscheinen, so daß man sie mehr hinter den
Worten fühlt und ahnt als wirklich sieht.
Das systematische Gefüge der Kantischen Gedankenwelt muß erst
völlig gebrochen und durch das Scheidewasser scharfer Kritik völlig
zersetzt werden, ehe man Kant in rechter Weise nützen und für Fort-
45 schritte der Wissenschaft fruchtbar machen kann.
BEILAGEN 357
Beilage XVI (zur 26. Vorlesung, a): Gegen Kants anthropologische
Theorie. x)
Apriorität der Raumanschauung.
Zu Kants transzendentaler Ästhetik.
1. ) Die menschliche Subjektivität ist ausgestattet mit einer festen,
aber nicht unbedingt zu jeder Subjektivität überhaupt gehörigen
5 Eigenheit (nur im Rahmen der Menschlichkeit ist sie unbedingt
allgemein), alles sinnliche Material räumlich auffassen zu müssen („ord¬
nen” zu müssen).
Das soll erklären evidente Notwendigkeit der Raumordnung von
sinnlichen Anschauungen, es soll die Möglichkeit erklären, wie ich
10 „reine Anschauung” soll haben können.
2. ) Was ist da die Evidenz ?
Nehme ich irgendein anschaulich gegebenes Ding, z.B. einen Löwen,
so kann ich alles daran variieren, sinnliche Qualitäten, auch Raumge¬
stalt. Aber nur sehe ich ein, daß gegenüber der Zufälligkeit dieser
15 Variationen eine Notwendigkeit herrscht. Nämlich solange ich in
diesen Variationen überhaupt noch Identisches behalte, das da mit
den Beschaffenheiten mitvariiert wird, behalte ich Raumgestalt, mit
sinnlichen Qualitäten behaftet. Also darin schon habe ich eine not¬
wendige Form, ein formales Wesen, eine oberste Gattung, unter der
20 all das Variierte steht. Sie gehört notwendig zum Ding überhaupt, ein
Ding behalte ich immer, soviel ich variiere, und zum Wesen des
Dinges als solchen gehört es,
3. ) res extensa zu sein, und speziell und zunächst, sinnlich-qualitativ
ausgestattete Raumgestalt zu sein. Und dabei sehe ich auch ein, daß
25 jede solche Raumgestalt, so zufällig sie gegebenfalls ist,
4. ) doch sich einem Raume, dem allgemeinen, einordnet und
daß dieser derselbe ist für jedes Ding, das ich so behandeln mag.
a) Das soll erklärt werden durch die angeblich einzig mögliche
Hypothese: daß es eine Ureigenheit der menschlichen Subjektivität
30 ist, alles sinnliche Material in eine Raumform einordnen zu müssen.
Aber kann diese Hypothese etwas erklären ? Wäre sie richtig, als ein
universelles Faktum der menschlichen Subjektivität, so wäre es fak¬
tisch nicht möglich, daß ich sinnliches Material unräumlich hätte.
Aber wieviel einzelne Fälle ich nähme und wie oft ich auch in der
35 Phantasie mir sinnliches Material vergegenwärtigte, es wäre doch für
mich immer nur ein Faktum, daß es räumlich geordnet sei; höch¬
stens eine Induktion könnte ich machen l 2). Ich aber sehe die Not¬
wendigkeit ein, und die Evidenz besagt nicht wie bei Kant, der gele¬
gentlich auch dieses Wort gebraucht, daß ich eben eine Anschauung
40 vom reinen, d.i. aus dieser ursprünglichen Subjektivität entsprungenen
Raum habe; sondern die Evidenz besagt Einsicht in die Notwendig-
l) etwa 1908. — Anm. d. Hrsg.
a) Grundirrtum also: Notwendigkeit als „Kennzeichen” des Apriori.
358 ERGÄNZENDE TEXTE
keit — als Undenkbarkeit des Gegenteils. Die Undenbarkeit besagt
nicht die Unfähigkeit, eine abweichende Anschauung zu bilden, eine
zufällige Unfähigkeit, sondern eine wesensmäßige Unmöglichkeit,
ähnlich wie es eine wesensmäßige und einsehbare Unmöglichkeit ist,
5 daß Rot ein Ton ist und eine Farbe nicht etwas anderes ist als eine
Liebe.
b) Dazu der Einwand: Kant hat, was hier Notwendigkeit ist, die zu
erklärende Sachlage selbst nicht konkret beschrieben. Sonst hätte er
gesehen, daß nicht sinnliches Material notwendig räumlich geformt ist,
10 vielmehr daß sinnliche Eigenschaften eines sinnlich gegebenen Dinges
notwendig, bei aller Variation, räumlich <gegeben> sein müssen, wenn
ein identisches Ding bleiben soll, und daß die Variation der Raumge¬
stalt gebunden ist an die Form Raum; aber nur, wenn ich von Dingen
ausgehe, nicht aber von Empfindungsdaten.
15 c) Gesetzt, es wäre alles in Ordnung und eine unabänderliche Nöti¬
gung, die aus meiner Subjektivität stammte, böte mir den Raum,
darin da und dort sinnliches Material, und ich könnte in Abstraktion
von diesem Material den Raum für sich nehmen, und gesetzt, ich wü߬
te sogar schon, daß er <als> apriorische Anschauung aus der allgemei-
20 nen Subjektivität stammt. Die zum Raum gehörigen Axiome umschrei¬
ben nach Kant den Raum als Raum, und ich richte mich nach der
reinen Anschauung in meinen Urteilssynthesen der Geometrie. Aber
wie ist das Sich-richten zu verstehen ? Gegebenenfalls, als geometrisch
Nachdenkendem, schwebt mir etwa eine Tafel oder eine Wandfläche
25 vor, in die ich Gestalten hineinzeichne. Hier habe ich eine empirische
Anschauung, sofern da ein zufälliger Gegenstand seine ebene Fläche
mir darbietet. Wie gewinne ich die reine Anschauung Raum? Nun, ich
abstrahiere von der Zufälligkeit der Farbe, der sinnlichen Qualitäten,
was wieder heißt: es kommt mir darauf nicht an und ich kann sie frei
30 variieren und halte mich an das, was durch solche freien Variationen
nicht gestört wird. Und selbst die bestimmte Gestalt der Tafel interes¬
siert mich nicht, aber wohl die gezeichneten Figuren, die ich aber
idealisiere. Wie gewinne ich nun meine Synthesen als synthe¬
tische a priori? Ich gewinne Urteile, die in sich die Form der Allge-
35 meinheit haben und die exemplarischen und idealisierten Synthesen
ins Allgemeinheitsbewußtsein erheben. Was leitet mich dabei? Die
Einsicht, daß, wenn ich solche Idealbegriffe bilde, in Notwen¬
digkeit solche Gesetzesurteile aussprechen muß, daß sie unbedingt
gelten. Was soll diese Einsicht zu tun haben mit der menschlichen
40 Rezeptivität und ihrer zufällig allgemein gültigen Form ?
d) Und auch die Unklarheit: Kant spricht von der reinen Anschau¬
ung, als ob es eine notwendig-faktisch erzeugte Form ist, und zwar
-eine Anschauung; als ob ein beständiger Raum-Hintergrund da wäre,
nach dem ich mich „richten” soll. Aber wenn ich da hineinzeichne —
45 warum muß denn die Synthese ansprechbar sein als eine unbedingt
allgemeingültige Synthese in Form eines universellen Urteils? Kant
verwechselt die Notwendigkeit und Allgemeinheit des menschlichen
BEILAGEN 359
Faktums mit der Notwendigkeit und Allgemeinheit, die zum Inhalt
der Einsicht gehört und die das Gegenteil zu allem Faktum ist.
e) Kant steht auf dem Boden des formal-rationalistischen Vorurteils,
daß im echten Sinne rationale Erkenntnis nur analytische sein könne.
5 Nur diese ist, wenn sie sich in ihrer notwendigen und allgemeinen Gel¬
tung (wobei Notwendigkeit und Allgemeinheit als unbedingt zum Ge¬
halt gehören) in der Einsicht ausweist, wirklich verständlich, wirklich
selbstverständlich; synthetisch apriorische nicht, sie entbehrt echter
Rationalität. Wir fühlen uns zwar, wenn wir die betreffenden Urteile
10 fällen, gebunden, wissen aber eigentlich nicht, warum. Das Warum
erhält seine Antwort durch Rekurs auf eine Faktizität, auf die Eigen¬
heit der menschlichen Intelligenz, die nicht die einzig mögliche ist. Er
übersieht, daß ein Unterschied ist zwischen der objektiven Notwen¬
digkeit, mit der wir vermöge eines Tatsachengesetzes unserer Natur
15 einen Satz fällen müssen, was ein Zwang ist, und der Notwendig¬
keit, die wir als zum Gehalt des Geurteilten (des „Urteils”) gehörig
einsehen und in der Einsicht schlechthin haben. Er übersieht, daß die¬
se Notwendigkeit, die da eingesehene Notwendigkeit ist, nur ein ande¬
res Wort ist für reine Allgemeinheit — nicht Allgemeingültigkeit für
20 jeden Urteilenden — und daß diese Allgemeinheit verlorengeht, sowie
wir sie durch Eigenarten menschlicher Intelligenz „erklären” und
dadurch beschränken, also die Allgemeinheit aufheben, in eine zufälli¬
ge verwandeln. Er stellt zwar das synthetisch-apriorische Urteilen
dem empirischen Urteilen gegenüber. Aber jedes Urteil, das zufällige
25 Allgemeinheit feststellt, kann nur Recht haben durch Empirie, und
das ist selbst ein apriorisches, aber echt apriorisches Urteil, nämlich
einsichtig ausweisbar. Nur durch Verwechslungen erklärt sich
Kants Stellungnahme: Er verwechselt die allgemeine Nötigung, die
aus der menschlichen Eigenart entspringt (einem Faktum), und die
30 nur wissen kann, wer diese Eigenart als vorhanden erwiesen hat (was
nur durch Erfahrung möglich wäre), mit der Notwendigkeit, die
eingesehen wird als das Nicht-anders-sein-können eines allgemein
Eingesehenen in Anwendung auf einen beliebig vorgelegten Einzelfall
als beliebigen.
35 Im Grunde war H u m e mit seinen relations of ideas der Wahrheit
näher, und alle Vorwürfe Kants sind unklar oder unbegründet. Hume
hat sie nicht als „analytische Sätze”, d.i. als logisch-formalmathemati¬
sche angesehen, sondern als Wahrheiten, die reine Verhältnisse aus-
drücken, die mit den „Ideen” notwendig gesetzt sind. Sein Irrtum be-
40 steht darin, daß er nicht sieht, daß, wenn die Ideen in seinem Sinn
verstanden werden (als Phantasmen, als Sinnesdaten der Phantasie),
wir singuläre Einzelheiten haben und daß, wenn notwendig dazu Re¬
lationen gehören, diese Relationen zunächst auch nur faktische Rela¬
tionen, singuläre Vorkommnisse an den singulären Daten sind: solan-
45 ge wir von der Idee im Sinne eines Sinnesdatums nicht über¬
gehen zum E i d o s als Gegebenem im echten reinen Allgemeinheits¬
bewußtsein, in dem also auf dem exemplarischen Grund der betreffen-
360 ERGÄNZENDE TEXTE
den „Ideen” andersartige „Ideen”, Ideen im Sinne von reinen und
allgemeinen Wesen erschaut werden. Dann springt in die Augen, daß
in wesenhafter Allgemeinheit, in imbedingter Notwendigkeit), zu
einem möglichen Einzelnen überhaupt (im strengsten Überhaupt),<zu>
5 der Idee A und der Idee B die und die Relation gehört. Der Wahrheit
war er insofern näher, als er, trotzdem er in seiner grundverkehrten
(wesentlich B e r k e 1 e y’schen) Abstraktionstheorie jedes reine Allge-
meinheitsbewußtsein und jede reine Gegebenheit von Allgemeinheiten
leugnet, doch sagt, daß an die Relationen zwischen Ideen selbst Gott
10 gebunden ist, was nur <insofem> möglich ist, als er gegen seine Theo¬
rie doch sich dem reinen Bewußtsein hingibt und seine Urtat in sich
wirksam werden läßt. Wieder aber ist sein Grundfehler der Sensualis¬
mus, der jede Vorstellungsweise und Form von Gegenständlichem der
Vorstellung, die die immanente Sphäre transzendiert (ein vom Vor-
15 stellen unterschiedenes und nicht immanentes Vorgestelltes setzt) in
eine fiktive verwandelt und somit auch konsequent lehren mußte, daß
jedes einsichtige mathematische Urteil geometrischer Art unmöglich
ist (und nicht nur faktisch keine transzendente Geltung hat, weil fak¬
tisch keine Transzendenzen auf Grund des Bewußtseins angenommen
20 werden können), also geometrisches Sein undenkbar ist. Das Hume’-
sche Problem ist hier: Wie kommt das Bewußtsein in seiner Immanenz
dazu und wie kann es dazu kommen, transzendente Gegenstände zu
setzen und sie anzuschauen? Für ihn ist transzendente Anschauung
widersinnig und nur zu erklären der Schein einer transzendenten
25 Anschauung, einer Wahrnehmung von räumlich-zeitlich-kausalem
Sein, und dann weiter einer Wissenschaft von ihm. Ein echtes Problem
liegt hier insofern, als die Einsicht in das Mathematische uns dieses
zwar gibt, und so die empirische Einsicht die Natur und Naturwissen¬
schaft, daß wir aber in Unklarheit darüber sind, wie Bewußtsein sich
30 selbst transzendiert und wie „objektive” Erkenntnis aussieht. Durch
diese Unklarheit geraten wir leicht in die Schlingen einer falschen
Dialektik, die, wie die Hume’sche, uns dazu verführt, die Einsicht, die
wir haben, wieder preiszugeben, sie umzudeuten, sie psychologistisch-
skeptisch aufzulösen.
35 Kant will die objektive Geltung der objektiven Wissenschaften
festhalten, in der Einsicht lebend, kann er nicht anders, als ihnen
trauen. Aber auch er gerät in eine falsche Dialektik und einen dialek¬
tischen Schein dadurch, daß er, dem rationalistischen Vorurteil folgend,
nur analytische Urteile als im echten Sinne rationale aufrechterhält
40 und die übrigen, synthetischen Urteile — in anderer Weise als Hume,
aber nicht minder — durch Reduktion auf Fakta skeptisch auflöst.
Die echten Probleme sind hier die phänomenologischen. Sie fordern
von uns, die wirkliche, aber auch mögliche Natur als Korrelat des
möglichen Bewußtseins von ihr zu betrachten, also Wirklichkeit und
45 Möglichkeit nicht als Urteilsboden zu verwenden, und uns nun durch
systematisches Studium klarzumachen, wie seinem Wesen nach das
Bewußtsein von Mathematischem und von Natur eigentlich aussehen
BEILAGEN 361
muß, und zwar, wenn die Natur selbst als Gegenstand der Erkenntnis
sich konstituieren soll.
Dasselbe Problem aber ergibt sich dabei für die analytische, für
die logische und formalmathematische Erkenntnis. Und schließlich ist
5 es überall das Problem, das Bewußtsein nach allen seinen Gestaltun¬
gen, soweit es Vemunftbewußtsein ist (im Gegensatz zum unvernünf¬
tigen Bewußtsein), zu studieren und für alle Sphären von „Gegen¬
ständlichkeiten” (auch Werten und Gütern) nachzuweisen, wie sie
sich konstituieren und welchen Sinn ihnen dieser Konstitution gemäß
10 das Bewußtsein in sich selbst zuspricht. Das Studium aber kann nur
auf dem Boden geführt werden, den das Bewußtsein uns gibt, und
zwar nicht als menschliches Bewußtsein, sondern als transzendentales,
und nicht als singuläres, zufälliges, sondern als „Bewußtsein über¬
haupt”, was aber korrekterweise nur sagen darf: Wir studieren die
15 Wesensnotwendigkeiten, die im echten Sinn rational, voll einsehbar
und verstehbar sind, und soweit, daß kein Problem mehr offen bleibt.
Der Widersinn des Dinges an sich in der Kantischen Philosophie. Der
Intellectus archetypus.
Von Dingen, wie sie an sich selbst sind, könnte man, wenn über-
20 haupt, nur a posteriori etwas erkennen; oder vielmehr — könnten wir
Menschen, die wir keine archetypischen Intellekte sind... Wir müssen
erst affiziert sein, wir können nur denken, uns nur spontan betätigen,
wo wir uns vorher rezeptiv verhalten haben. Gott aber erkennt alles
Sein a priori, sein Ding-Gedanke geht, da er schöpferischer Geist ist,
25 dem Ding-Sein vorher. Er braucht nicht erst aus der Erfahrung zu
entnehmen, wie die Dinge sind. Und Gott fixiert Gesetze für die Dinge,
er vollzieht Synthesen, und allgemeine Synthesen, in Gedanken, und
denen müssen die Dinge entsprechen, weil er sie eben danach schafft,
weil er es macht, daß diese Gesetze für sie wirklich gelten. So sind
30 für Gott alle Erkenntnisse a priori, nicht nur die analytischen, welche
unter dem Gesetz vom Widerspruch stehen, <sondem> auch die syn¬
thetischen, die für Sachen, für Dinge gelten: auf dieser Seite scheiden
sich für Gott nicht empirische und synthetisch-apriorische Erkenntnis.
Was uns Menschen anbelangt, so scheiden sich die synthetischen
35 Erkenntnisse für uns in dieser Weise, und darum, weil wir in Bezug
auf eine Gruppe von synthetischen Gesetzen uns wie Gott verhalten,
nämlich sofern wir uns gewissermaßen schöpferisch hinsichtlich der
Natur als Gebilde unserer Subjektivität verhalten. Wir schaffen sie,
d.h. wir bilden nach einer uns immanenten Gesetzmäßigkeit der Funk-
40 tion aus sinnlichen Materialien Naturobjekte, die, als was sie sind, not¬
wendig den Gesetzen dieser Bildung entsprechen müssen. Die Form
der Natur, die aus uns stammt, läßt den bestimmten Inhalt, das be¬
bestimmte Sosein, die bestimmten besonderen Gesetze der Natur offen,
nnd in dieser Hinsicht verhalten wir uns rezeptiv und erkennen nach
45 synthetischen Urteilen a posteriori.
Was Gott anbelangt (wenn wir, sei es aus welchen Theorien oder
362 ERGÄNZENDE TEXTE
praktischen Gründen immer, seine Existenz und die Schöpfung vor¬
aussetzen), so hat er die Dinge an sich geschaffen, er hat die mensch¬
lichen Subjektivitäten geschaffen. Er hat es ursprünglich gewirkt, daß
zur menschlichen Intelligenz die „Notwendigkeiten” der Formen ge-
5 hören und ihre Gesetze. Er hat dann aber auch das sinnliche Material
der Affektionen so werden lassen, wie es ist, und auch so, daß wir die
besonderen Erscheinungen jeweils haben, die wir haben, und daß die
besonderen Naturgesetze gelten, die faktisch gelten.
Ich halte das für eine bodenlose Metaphysik.
10 1.) Der Unterschied zwischen empirischen und nichtempirischen,
oder besser zwischen Tatsachenwahrheiten und rationalen Wahrhei¬
ten und desgleichen der Unterschied zwischen analytisch-rationalen
Wahrheiten und synthetisch-rationalen gilt für Gott nicht minder als für
uns, es ist kein metaphysischer Unterschied sondern ein zum Wesen der
15 Wahrheiten selbst (bzw. auch der Falschheiten, allgemein zum Wesen
der Urteile, sofern sie wahr oder falsch, richtig oder unrichtig sind) ge¬
höriger.
Ob eine Aussage der oder jener Gruppe angehört, ist rein Frage ihres
inneren Sinnes. Und dieser ist eine Idee, die vorschreibt, ob das
20 „Urteil” durch Erfahrung auszuweisen ist oder ob es auszuweisen ist
„ohne Erfahrung”, statt auf wirklicher Erfahrung als grundgebendem
Akt auf möglicher Erfahrung, auf Grund von </aasz-Erfahrungen.
Entweder ein Urteil spricht über individuelles Dasein, setzt indivi¬
duelles Dasein, oder es setzt das nicht, spricht darüber nicht, sondern
25 spricht über Möglichkeiten, und zwar reine Möglichkeiten. Und bei¬
derseits: entweder die Urteile sprechen über Wirklichkeiten und Mög¬
lichkeiten mit singulärer Setzung ihres Seins, oder sie sprechen ohne
solche Setzung: sie sprechen in einem reinen Überhaupt, wobei keine
singuläre Wirklichkeit oder Möglichkeit gesetzt ist. Der Sinn des Ur-
30 teils allein schreibt all das vor, und das selbst wesensmäßig: die Unter¬
scheidung ist selbst eine Wesensscheidung, zum allgemeinen Sinn von
Urteilsmöglichkeiten (möglichen Urteilen überhaupt) gehörig. Daran
kann ein Gott nichts ändern: es ist ja im Sinn der Urteile nicht von
Gott die Rede, weder ausdrücklich noch einschließlich.
35 Und dieser Sinn schreibt nun vor, wie die Ausweisung zu erfolgen
hat, und auch das durch Wesensgesetze, die eben Urteil und Urteils¬
ausweisung, Urteilen überhaupt und einsehbares Urteilen verbinden;
ob also durch Erfahrung oder ^wast-Erfahrung, d.i. durch singuläre An¬
schauung singulärer Gegebenheiten, wobei die Thesis eines Singulären
40 (eines Individuellen) Urteilsmotiv ist, Grund hergibt in der Einsicht,
oder nicht.
Ein Urteil wird nicht zum apriorischen, auch nicht eine richtige
Überzeugung, dadurch daß ich vor der Erfahrung des geurteilten Sach¬
verhaltes sicher bin, daß er besteht.
45 Wenn ich mich entschlossen habe, einen Sachverhalt zu realisieren,
der in meiner Freiheitssphäre bewußtseinsmäßig liegt, so bin ich sicher,
daß er sein wird, ehe ich ihn getan habe, ehe er wirklich ist. Aber dieses
BEILAGEN 363
Urteil ist nicht im logischen Sinn apriorisch; es drückt eine „Tat¬
sache” aus; ein künftiges Sein und Sosein ist nur a -posteriori erkennbar
durch Erfahrung; d.h. eine Gegenwartserfahrung motiviert ev. in Ver¬
bindung mit vergangenen Erfahrungen das Künftige als Sein-werden-
5 des in meiner Überzeugung. Vielleicht motiviert auch im Zusammen¬
hang der gegenwärtigen und erinnerungsmäßigen Erfahrungen ein
faktischer Entschluß mit das künftige Sein-werden: als ein eigenes
Urteilsmotiv. Jedenfalls: apriorisches Urteilen in dem Sinne: ein nicht-
seiendes Faktum im voraus, bevor es wirklich Erfahrenes ist, als
10 Seiendes Urteilen, ist nicht im logischen Sinn „apriorisches” Urteilen.
Und wenn wir nun das göttliche Schaffen nehmen und einwenden:
Für Gott gibt es keinen Unterschied vorangehender Möglichkeit und
nachkommender Wirklichkeit, für Gott gibt es keine Zeitspannen — ?
Nun, das ist Metaphysik. Jedenfalls ändert, solange wir eine Analogie
15 hier festhalten, der schöpferische Wille nichts an dem aposteriorischen
und apriorischen Charakter der jeweiligen Wahrheiten. Schöpferisch
verhält sich Gott für eine „Welt”, und „Welt” ist ein Titel für Faktizi¬
täten. Jede Tatsache ist hier eben Tatsache, jedes einzelne Sein könnte
auch anders sein. Und wofern zur Welt eine Form und ein materiales
20 Wesen gehört, so gibt es zwar auch für die Welt Wesenserkenntnis,
aber nur in dem Sinn der Anwendung von Wesenszusammenhängen,
Wesensgesetzen, die nicht das Faktum angehen und es nicht voraus¬
setzen, auf das Faktum. Diese Wesensgesetze kann Gott nicht schaffen.
Wenn Kant die synthetisch-apriorischen Wahrheiten möglicher-
25 weise als solche, die anders sein könnten, ansieht, obschon er sie durch
Einsicht gegeben sein läßt („Evidenz” gebraucht er nur für „anschau-
lich”-sinnliche Wahrheiten), so verwandelt er diese Wahrheiten in
allgemeine Fakta, in zufällige Wahrheiten, und begeht einen Wider¬
sinn durch gleichzeitigen Rekurs auf die Einsicht.
30 In der Rede von Dingen an sich setzt er voraus, daß sie etwas sind,
daß ihnen als Gegenständen etwas zukommt, obschon wir davon nichts
wissen könnten. Gott weiß es besser. Damit aber unterstehen sie den
Wesensgesetzen, die zu Gegenständen als solchen gehören; das sagt
aber nicht bloß, den formal-logischen Gesetzen im Sinn der Mathesis
35 universalis, sondern auch den Gesetzen möglicher Regionen, den Ge¬
setzen, welche die Idee möglichen individuellen Seins als solchen be¬
herrschen und die die formale Logik als Mathesis universalis ausschei-
den kann: obschon beides wesenhaft zusammengehört. Es müssen
also für alle möglichen Gegenstände, nicht nur für uns, sondern an
40 sich, sowohl analytische als auch synthetisch-apriorische Wesensge¬
setze gelten, und Gott kann für ihre Erkenntnis nicht in anderer Lage
sein (hinsichtlich der Dinge an sich, die er erkennt) als wir hinsichtlich
der Dinge, die wir erkennen. Auch unter absolutem Gesichtspunkt
sind Gegenstände als individuelle Gegenstände nur setzbar auf Grund
45 einer Erfahrung als einer Rezeptivität und sind andererseits Wesens¬
gesetze als synthetische, als materiale Wesensgesetze setzbar durch
apriorische Evidenz: d.i. durch einen eigenen Prozeß der Wesensintui-
364 ERGÄNZENDE TEXTE
tion, der eben keine „Affektion”, keine wirkliche oder ^asi'-Erfahrung
als Grund voraussetzt. Natürlich, Gott mag schaffendes Prinzip sein
und mögliche Welten mit zugehörigen Wesensgesetzen vor seinem
schaffenden Willen haben, oder besser: gemäß Wesensgesetzen Mög-
5 lichkeiten von Dingen und Welten rechtmäßig denken (gegen sie
gedacht wären es Widersinnigkeiten) und diese dann schaffend reali¬
sieren. Aber die Gewißheit, daß das zu Schaffende wird sein müssen,
macht die geschaffene Welt nicht zu etwas anderem als einer, ,Tatsache ’ ’,
wie korrelativ das schöpferische Denken als schöpferisches reines
10 Denken, der schöpferische Intellekt reiner Verstand ist. Das alles sind
V erkehrtheiten.
Und die „Dinge an sich” ? Wäre Erfahrung und die in ihr selbst he¬
gende sinnliche Affektion ein Grund, andere Dinge anzunehmen als
eben die im eigenen Sinn der Erfahrung gesetzten, die angeschauten
15 und durch ihre offenen Horizonte des Sinnes näher zu bestimmenden,
so müßte auch Gott, wo er erkennend-denkend individuelle Dinge
setzt und das nur auf Grund der Affektion tun kann, hinter seinen
Dingen nochmals Dinge an sich setzen, deren Erkenntnis führte wieder
auf Dinge an sich und so in infinitum.
20 Wesensmäßig kann ein Ich als erkennendes Subjekt überhaupt in¬
dividuelle Dinge nur auf Erfahrung hin begründen, also vernünftig
annehmen, muß also affiziert sein, mag es sie übrigens produzieren
oder nicht.
Ein Kemgrund des Mißverständnisses hegt aber immer darin, daß
25 Kant synthetische Urteile a priori von vornherein als Synthesen be¬
trachtet, die auch anders vollzogen sein könnten und nur faktisch von
uns Menschen auf Grund unserer faktischen Subjektivität in einer
beständig gleichen Weise vollzogen sein müssen, und daß er glaubt,
daß, wo ein Intellekt rein vermöge seiner Eigenart eine beständige
30 Nötigung hat, gewisse Arten von Synthesen immer wieder zu vollzie¬
hen oder in gewisser Weise sich fungierend zu verhalten und dadurch
gewisse Typen von Gestalten aus vorgegebenen Materialien zu erzeu¬
gen, dieser Intellekt auch a priori erkennen kann, daß er dies tun muß.
Kant verwechselt da die Erkenntnis, die die Subjektivität aus sich
35 schöpft, durch Betrachtung ihrer Eigenheit im Funktionieren, und die
„apriorische” Erkenntnis insofern ist, als sie nicht auf die Natur des
Materials hinzusehen hat, das „von außen kommt”, mit der Apriorität
einer Erkenntnis im echten Sinn. Auf Empfindungsmaterialien hin-
sehen, ist aposteriorisch erkennen.
40 Aber das echte Apriori des Erkennens besagt apodiktische Einsicht
in einen Wesenszusammenhang, und dem korrelativ entspricht das
Apriori des Sachverhaltes, der so erkannt ist: Wesenszusammenhang.
Der betreffende Intellekt könnte seine eigenen allgemeinen Funktions¬
weisen nur a posteriori erkennen: weil ihre Regeln selbst keine Wesens-
45 regeln sind sondern Tatsachen und somit ihre Erkenntnis nur eine
empirische sein kann.
BEILAGEN 365
Beilage XVII (zur 26. Vorlesung, a): Kants Begriff des Faktums {der
Tatsache). x)
Kritik der Urteilskraft, §91.
Ferner: Elsenhans, Fries und Kant.
Begriffsgegenstände, deren objektive Realität dargetan werden kann,
sind Tatsachen, mag die objektive Realität durch reine Vernunft oder
5 durch Erfahrung dargetan werden.
Durch reine Vernunft kann im ersteren Fall heißen: erweisen aus
theoretischen Datis oder aus praktischen Datis, in allen Fällen aber
vermittels einer ihnen korrespondierenden Anschauung.
Zu den Tatsachen rechnet Kant aber an der zitierten Stelle auch die
lOldee der Freiheit, also eine Vemunftidee, „die an sich keiner
Darstellung in der Anschauung, mithin auch keines theoretischen Be¬
weises ihrer Möglichkeit fähig ist”, deren Realität als einer besonderen
Art der Kausalität sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft
und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung
15 dartun läßt. Es sei diese die einzige unter allen Ideen, deren Gegen¬
stand Tatsache sei und unter die scibilia gerechnet werden müsse.
Erweitert wird dann der Begriff der Erfahrung auch auf die Gegen¬
stände einer möglichen Erfahrung. (In einer Anmerkung a.a.O.)
Beilage XVIII (zur 26. Vorlesung, b): Zur Kritik Kants und Leibniz’.2)
Allen neueren Erkenntnistheorien voran und zugrunde hegt die
20 Cartesianische Evidenz des ego cogito, die Cartesius selbst
sich zugeeignet hatte in der Gestalt der zweifellosen Evidenz des Gei¬
stes von seinem eigenen Sein als mens sive animus, als substantia cogitans.
In dieser Fassung übernimmt sie Leibniz. Indem er zudem die Carte-
sianischen Schlüsse auf eine zweite Substanzenart, auf die der physi-
25 sehen Realitäten, der Korrelate der mathematischen Naturwissen¬
schaft, ablehnt, also diese scholastische Art der metaphysischen Recht¬
fertigung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Objektivität
ablehnt, aber an der Cartesianischen Nach Weisung festhält, daß alle
Natur, alle transzendente Existenz für das ego nur da ist durch seine
30 eigenen ideae als ihr ideatum, versuchte er es mit dem „idealistischen”
Gedanken der Monadenlehre, wonach es keiner substanziellen physi¬
schen Natur, keiner Existenz als absoluter, in sich und für sich selbst
seiender Realitäten bedarf. Das Sein der Geister genügt. Die Realität
des Physischen erhält den bloßen Sinn eines identischen ideatum, des-
35 selben intentionalen Objekts, der niederen Gesetzen zugeordneten
Vorstellung von Physischem der verschiedenen Monaden.
Der Größe dieser Antizipation entspricht aber keine wissenschaft¬
liche Ausführung, und von einer Erkenntnis davon, daß Intentionali¬
tät ein wissenschaftüches Thema sein und wissenschaftlich exakt ver-
») etwa 1908.—Anm. d. Hrsg.
») etwa 1924. — Anm. d. Hrsg.
366 ERGÄNZENDE TEXTE
ständlich werden kann, wie eine Realität als intentionale Einheit sich
konstituieren und, ohne eine „Substanz” zu sein, „real”, „an sich”
sein kann gegenüber jeder erkennenden Subjektivität und Erkenntnis,
ist keine Rede. Das ganze Verfahren ist aber auch von vornherein, ob-
5 schon nicht im gemeinen Sinn psychologistisch und naturalistisch,
doch naiv objektivistisch: Die Welt ist im natürlichen Sinn gegeben
und wird durch die exakte Wissenschaft ihrer natürlichen Wahrheit
nach erkannt. Die Monadologie deutet, geleitet von den Cartesia-
nischen Motiven, all das nur u m. Absolut, im letzten Sinn (in der
10 Redeweise jener Zeiten: substantiell) ist die Welt eine Vielheit von
Monaden, deren jede eine Substanz für sich ist, in ihrer absoluten
Existenz gewährleistet durch die ihr zugehörige, oder mindestens den
selbstbewußten „Geistern” zugehörige Möglichkeit, sich selbst im
Cartesianischen Sinn als ego zu erfassen im ego cogito, mit dem absolu-
15 ten Selbstsein ihres vorstellenden Tuns und Erlebens. Sie sind also
sich selbst nicht durch bloße Repräsentation, durch bloße Spiegelung,
in bloßen „Erscheinungen” gegeben, als Einheit von Erscheinungen,
damit allererst auf ein Subjekt verweisend. Naiv dogmatisch voraus¬
gesetzt wird dabei aber die Vielheit der Monaden und die Gegebenheit
20 eines Kommerzium der Monaden als das Absolute des empirischen
Wechsel Verkehrs der Menschen; wie denn auch sonst, was von dem
Wesen der Monade gelehrt und zur metaphysischen Weltinterpretation
benützt wird, nicht in eigener Wesensforschung aus dem Studium des
reinen ego im Rahmen der allererst recht zu fassenden und zu interpre-
25 tierenden Cartesianischen Evidenz geschöpft wird. Die Metaphysik ist
dogmatistisch, weil ihr zwar vereinzelte erkenntnistheoretische Re¬
flexionen aber keine independente Erkenntnistheorie vorausgeht, und
die Erkenntnistheorie ist dogmatisch, weil sie mit ihren gelegentlichen
aperfus und ihren Locke’ sehen Kommentationen nie dazu kommt,
30 sich radikal von den natürlichen Vorgegebenheiten und den ihr von
flüchtigen erkenntnistheoretischen Reflexionen empfohlenen monado-
logischen Umdeutungen freizuhalten.
Ist einmal mit Descartes gesehen, daß für mich, den Erfah¬
renden, mein Leib und meine gesamte Umwelt nur durch meine cogita-
35 ta des Erfahrens und als ihr intentionales und prinzipiell nicht ihnen
reell immanentes Objekt gegeben ist, und wird damit Sinn und Recht
gesetzter Immanenz im eigenen immanenten ego gegenüber ihrer
zweifellosen, absoluten Gegebenheit fraglich, dann ist doch eo ipso der
Sinn jeder objektiven und noch so „klaren und deutlichen” Wissen-
40 schaft unverständlich, und ob man nun auch geneigt bleibt, ihr Recht
nicht preiszugeben, man muß sie nun in Frage stellen. Jede „metaphy¬
sische” Interpretation kann nur den Sinn haben, durch vorgängige
Aufklärung der im reinen und fraglosen ego cogito sich vollziehenden
Sinngebung eines transzendenten An-sich und der in ihm selbst sich
45 abspielenden Erkenntnisprozesse der bewährenden Berechtigung —
das alles aber in prinzipieller Allgemeinheit — die Norm zu gewinnen,
die man dem Faktum der objektiven Wissenschaft anmessen und
BEILAGEN 367
<auf Grund deren man) den rechtmäßigen objektiven Sinn ihrer Er¬
kenntnisleistung und damit des ,,An-sich”-seins des in ihr Erkannten
bestimmen kann. Jede weitere Theorie über das absolute Sein (über
die Wirklichkeit in ihrer substantiellen Wahrheit) muß auf diesem
5 Grundstück aller philosophischen Arbeit beruhen, auf einer rein „im¬
manenten” Bewußtseins- und Vemunfttheorie und auf einer zunächst
auf die natürlichen objektiven Wissenschaften (die strengen im natür¬
lichen Sinn) bezogenen Normierung durch diese Vemunfttheorie. Da¬
nach ist jede Metaphysik, also auch jede Monadologie, vor jener reinen
10 Wissenschaft aus dem ego cogito und speziell vor der Lösung jener
„transzendentalen” Fragen offenbar widersinnig. Ich sagte aber
„speziell”, weil alsbald zu sehen ist, daß die Fragen der Transzendenz
in der Immanenz wesensmäßig eins sind mit dem Gesamtkomplex
möglicher Erkenntnisfragen überhaupt und aller Fragen, die das Uni-
15 versum der Wesens Vorkommnisse der reinen Immanenz betreffen
können. —
Ebenso ist aber eine transzendentale Erkenntnistheorie und eine
Erkenntnistheorie überhaupt widersinnig, wenn sie transzendente
Wahrheiten (die Sphäre der reinen Immanenz überschreitende),
20 gleichgültig ob Wahrheiten der natürlich gewachsenen Wissenschaften
von der Natur und dem Geiste <oder ob) metaphysische, als Prämissen
benützt; mögen <auch> für diese Wissenschaften und insbesondere bei
der (sich darum kritisch dünkenden) Metaphysik schon erkenntnis¬
theoretische Motive mitbestimmend gewesen sein. Ist das <Sein> eines
25 Transzendenten in der Immanenz, genauer das einer im ego sich imma¬
nent vollziehenden transzendierenden Erkenntnis überhaupt und in
prinzipieller Allgemeinheit unverständlich, ist es unverständlich, wel¬
chen Sinn das erkennende Bewußtsein nach allen seinen Gestaltungen
in der von ihm selbst vollzogenen Sinngebung dem „Erfahrenen”,
30 „Gedachten”, „Bewährten”, „methodisch Erwiesenen” zuerteilt, was
den eigentümlichen „Vorzug”, das „Recht” ausmacht, die „evidente”
Erkenntnisse in sich tragen sollen — so ist jedes Studium, das dieses
Unverständliche zum Verständnis bringen und es, in Begriffe gefaßt,
zu theoretischer Einsicht und auf die Stufe einer theoretischen Lehre
35 bringen soll, prinzipiell an den Bereich des reinen ego cogito gebunden.
Wie groß auch die Aufgabe sein mag, klarzustellen, was hier über¬
haupt zur Verfügung steht, was und in welcher Methode es hier zu
forschen gilt, soviel ist sicher, daß die leiseste begründende Verwen¬
dung einer transzendenten Erfahrung und einer transzendenten Be-
40 hauptung, also von irgendetwas, das in natürlichem Sinn objektiv ist,
von irgendwelchen objektiven „Wahrheiten”, welche „exakte Wissen¬
schaft” schon festgestellt habe, gegen den Sinn erkenntnistheoreti¬
scher Problematik verstößt, also sie von vornherein mit Widersinn
behaftet.
45 Umgekehrt ist offenbar jede Metaphysik ohne eine ihr vorangehende
und sie normierende Erkenntnistheorie prinzipiell widersinnig. Denn
Metaphysik will nichts anderes als Wissenschaft vom absolut Seienden
368 ERGÄNZENDE TEXTE
sein, die Wissenschaft von der letzten Wahrheit für das uns erfah¬
rungsgegebene Universum. Wird sie von der Philosophie, der
diese selbe Aufgabe zugewiesen wird, unterschieden, so geschieht es
entweder darum, weil man der Metaphysik nur das Ziel stellt, zu er-
5 forschen, was dem Seienden in Allgemeinheit zukommt, also ihr die
auf das Universum als Universum und auf alle Einzelnheiten unter
dem Gesichtspunkt prinzipieller Allgemeinheit bezogenen Probleme
zuweist, oder auch, weil man den Begriff der Philosophie über den
Bereich der gegebenen Welt und aller Tatsächlichkeit hinaus erwei-
10 tert und ihr das All möglicher Erkenntnis überhaupt, auch der eide-
tischen, zuordnet.
Jedenfalls ist es klar, daß, sowie die Cartesianischen beiden ersten
Meditationen auf den Plan getreten und dem philosophierenden Be¬
wußtsein die erkenntnistheoretische Fragestellung auf dem reinen
15 Gegebenheitsboden des ego cogito geweckt war, eine völlig neue Wen¬
dung der Idee der Philosophie und der Metaphysik zum Ereignis wurde
oder hätte werden müssen. Denn damit gewann die Idee einer absolu¬
ten Wahrheit und eines als absolut zu bestimmenden Seins einen neuen
Sinn; das Absolute konnte nun nicht mehr ein Ziel bezeichnen, das in
20 der Richtung der Vervollkommnung der natürlich gerichteten Er¬
kenntnis lag, es konnte nicht mehr methodische Vollendung der objek¬
tiven Wissenschaften, ihre systematische Erstreckung auf alle Weltge¬
biete, Verknüpfung ihrer Ergebnisse zu höchsten Synthesen, Auf¬
suchung universalster, allbeherrschender Realprinzipien bedeuten —;
25 vielmehr erschien nun alle objektive Wissenschaft und was sie in
ihren Wahrheiten als Reales bestimmte mit einem Makel der
Unverständlichkeit behaftet, alle objektive Wissenschaft erschien
nun als dogmatisch. Sie bedurfte einer erkenntnistheoretischen ,,In¬
terpretation”, und „absolute Erkenntnis” (von der man im voraus
30 nicht wissen konnte, wie tief eindringend sie alle objektive Bestim¬
mung betreffen konnte, ohne doch an ihrer natürlichen Wahrheit und
dem Gange der „exakten Wissenschaften” etwas ändern zu müssen),
Wissenschaft von der letzten Wahrheit, bedarf nun zu <ihrer> Wahr¬
heit einer höheren Erkenntnisdimension. Man mußte sehen, daß alle
35 objektive Wahrheit und ihr objektives Sein wesensmäßig zurück¬
bezogen ist auf mögliche Erkenntnis und daß volle und letzte Wahr¬
heit nur durch das Studium dieser Korrelation gewonnen werden
kann. Danach können wir auch sagen:
Die Cartesianischen Meditationen mußten, recht verstanden, eine
40 neue Weltepoche der Philosophie und Metaphysik einleiten, sie
konnten sie aber auch nur wirklich einleiten und eine neue Philosophie
auf die Bahn bringen, wenn sie richtig verstanden wurden, also wenn
sie die radikale Umordnung der philosophischen Arbeit im Sinne der
oben herausgestellten Forderungen erwirkten.
45 Es ist uns ja klar: solange der Sinn einer in der Immanenz „erfah¬
renen”, „gedachten”, „einsichtig bewährten” Transzendenz unver¬
ständlich ist, solange kann eine Philosophie, eine Metaphysik über-
BEILAGEN 369
haupt nicht anfangen. Die transzendentale Erkenntnistheorie ist die
jeder Metaphysik vorangehende Bedingung ihrer Möglichkeit, und sie
begleitet, nachdem sie ausgebildet ist, notwendig die gesamte meta¬
physische Arbeit in der beständigen Funktion der Normierung hin¬
sichtlich aller objektiven Sinngebung und Methode. An diesem durch
5 den Sinn einer Erkenntnistheorie und Metaphysik apriorisch vor¬
gezeichneten Verhältnis ist schlechthin nichts zu ändern, solange eben
diese und jene „als Wissenschaft sollen gelten können”.
Kant.
10 Mit dem Widersinn des Dogmatismus in Philosophie und Erkennt¬
nistheorie sind alle von Leibniz ausgehenden Philosophien behaftet,
also auch die Kantische Vemunftkritik. Daß sie den Naturalis¬
mus, Psychologismus, Historismus im gemeinen Sinn meidet, im
gemeinen Sinn nämlich einer ausdrücklichen Gründung der Erkennt-
15 nistheorie auf Naturwissenschaft, auf Psychologie (die empirische
Wissenschaft vom animalischen Seelenleben als Faktizität im Zu¬
sammenhang der psychophysischen Natur) oder gar auf Geschichte,
besagt nur, daß sie eine <der> sehr verbreiteten Formen des Widersinnes
meidet. Nicht so sicher ist, daß sie darum dem Vorwurf speziell des
20 Psychologismus wirklich entgeht. Wenigstens darf wohl die Frage
aufgeworfen werden, woher Kant all die psychologische Vermögens¬
kenntnis schöpft, die er in seiner Vemunftkritik von vornherein
voraussetzt, während er sie doch selbst nicht als Wesensnotwendig¬
keiten ausgibt und sie als solche ja auch gar nicht ausgeben kann,
25 da er nur eine Art Wesensnotwendigkeiten anerkennt, die analyti¬
schen. Selbst wenn sie aus dem reinen Bewußtsein geschöpft sein
sollten, so konnte doch der große Anspruch strenger Wissenschaft¬
lichkeit nicht erhoben sein, solange der Sinn und das Recht solcher
Feststellungen und überhaupt aller Feststellung in der immanenten
30 Sphäre nicht einer wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen war.
Eine transzendentale Erkenntnistheorie kann nur im Rahmen einer
universalen Erkenntnistheorie, und diese <nur> als reine Bewußtseins¬
wissenschaft durchgeführt werden. Aber auch davon abgesehen:
Überall liegt der Kantischen Vemunftkritik zugrunde ein dogma-
35 tistischer Objektivismus, der mit transzendenten metaphysischen
Suppositionen wirtschaftet.
Wenn Kant die Vielheit der Subjekte voraussetzt und ihnen allge¬
meine Eigenschaften zuschreibt, so stammen diese vorausgesetzten
Erkenntnisse offenbar aus einer Rückübersetzung der empirischen
40 Weltauffassung in die monadologische Philosophie Leibnizens. Von
„uns Menschen” ist bekanntlich viel die Rede, und es wird nicht be¬
dacht, daß, wenn dem erkenntnistheoretisch forschenden Ich eine
Vielheit anderer Ichsubjekte nur in der naturalisierten Form der
Menschen gegeben ist, durch Übersetzung der Leiblichkeit, wie aller
45 äußeren Natur, in transzendentale Erscheinungen, zunächst nur das
ego eben dieses Forschenden <sich> ergibt und daß transzendentale
Husserliana VII 24
370 ERGÄNZENDE TEXTE
Möglichkeit der Setzung anderer Ich allererst wissenschaftlich er¬
wogen sein muß. Alle — von Kant vielbenützte und im Neukantianis¬
mus fast ausschließlich bevorzugte — regressive ,,transzendentale”
Methodik in dem spezifischen Wortsinn *) operiert mit Vorausset-
5 zungen, die nie systematisch aufgesucht, nie wissenschaftlich festge¬
stellt, und vor allem nicht auf dem reinen transzendentalen Boden
festgestellt sind. Nie wird dieser Boden selbst zum Thema der For¬
schung gemacht, nie wird erwogen, daß keine wissenschaftliche Un¬
tersuchung anheben kann, ohne daß ein Boden, eine Sphäre ursprüng-
10 lieh anschaulicher Gegebenheiten vor allem begreifenden Denken in
der Einstellung des theoretischen Interesses in Betracht gezogen, für
wissenschaftliche Zwecke bereitet und eine strenge Methode, die er
von sich aus notwendig fordert, ausgebildet wird. Alle regressiven
Methoden stehen offenbar in der Luft, solange nicht ein solcher Boden
15 gegeben und bearbeitet ist und solange nicht in progressiven Methoden
die Erkenntnisse gewonnen sind, deren die regressive Methode als
positiver Voraussetzungen bedarf.
Man wird uns hier doch nicht einwenden, daß Grund und Ausgang
der Methode die Tatsache der Mathematik, Physik, der objektiven
20 Wissenschaften überhaupt sei, nach deren Möglichkeit und Möglich-
keitsbedingungen ja gefragt werde, und <daß> diese Tatsache
doch feststehe. Denn eben diese „Tatsache” ist mit Einsetzen der
erkenntnistheoretischen Reflexion durch und durch fraglich, weil durch
und durch unverständlich geworden. Die objektive Wissenschaft,
25 als System objektiv gültiger Theorien (von „Wahrheiten an sich”),
ihr Thema, die Welt, mit ihren Weltformen Raum und Zeit (nach
Kant den Themen der Mathematik), sind beide für den Erkennenden
gegeben als im Bewußtsein konstituierte intentionale
Einheiten, sie sind beide, jede in.ihrer Weise, Transzendenzen in der
30 Sphäre der Immanenz: beide sind Tatsachen schlechthin, solange ihr
Sein (Sein als A.n-sich-sein der Realität und Sein als An-sich-gelten der
Wahrheit) als fraglos dasteht, als in den betreffenden immanenten
Betätigungen und ihrer immanent betätigten Evidenz „selbstver¬
ständliche” Tatsachen. M.a.W.: solange wir in der naiv-natürlichen
35 Einstellung leben und wissenschaftlich denken, haben wir die Welt
als Einheit einstimmiger Erfahrung (als „unbestimmten Gegenstand
der empirischen Anschauung”) selbstverständlich gegeben, wie ferner
gegeben die Tatsache der Wissenschaft als historischen Kulturfak¬
tums — aus der historischen Erfahrung — und die Tatsache ihrer
40 Existenz als theoretischer Einheit der Wahrheit im einsichtigen theo¬
retischen Denken. Tritt für die naiv betätigte Erkenntnis (als erfah¬
rende Anschauung und begreifendes Denken) von transzendentem
Gehalt die reflektive Erkenntnis in Blickrichtung auf das ego cogito ein,
l) Die regressive Methode <j;eht aus]> vom Faktum objektiver Wissenschaft und
korrelativ der Idee einer (als unendliche Aufgabe) <3nj> fortschreitender Annäherung
für jeden Erkennenden identisch bestimmbaren Gegenständlichkeit (einer der
Erkenntnis jedermanns gegenüber „an sich” seienden).
BEILAGEN 371
so wird jene erste Erkenntnis, die, als naiv betätigte, Erkenntnis ihrer
Gegenstände, aber nicht selbst Gegenstand einer Erkenntnis war, zum
Erkenntnisthema der neuen, reflektiven Erkenntnis, zum Gegenstand
der immanenten Erfahrung und immanent gerichteten Denkens.
5 Während nun aber ihr gegenständliches Dasein und Sosein als Erlebnis
„absolut zweifellos” ist, werden die Möglichkeit und der Sinn ihres
Transzendierens, wird der Rechtsanspruch der „Evidenz”, in der die
„Bestätigung”, „Bewährung” des vermeinten ,,An-sich-”seins tran¬
szendenter Gegenständlichkeit erfaßt sein soll, fraglich.
10 Danach ist es klar, daß die Voraussetzung der Tatsache der Wissen¬
schaft (wie der in ihr selbst mitenthaltenen Tatsache der Erfahrungs¬
welt) eine ganz andere Bedeutung hat als die Voraussetzung einer
Tatsache, die im Bereich der natürlichen Einstellung und irgendeiner
natürlichen (d.i. noch von jeder erkenntnistheoretischen Fragestellung
15 unberührten) Wissenschaft vorausgesetzt ist und mit der Erwägung
dann begleitet wird, inwiefern sie möglich sei; so z.B. im Fall der
Voraussetzung einer durch Erfahrung gegebenen Naturtatsache, bei
der die Erwägung von Bedingungen der Möglichkeit offenbar den Sinn
einer regressiven Erwägung apriorischer und empirischer Notwendig-
20 keiten hat, durch die sie unter gegebenen Umständen erklärt werden
könnte. Auch rein mathematische Erwägungen können hier herange¬
zogen werden, welche dahin zielen, einsichtig gegebene Wahrheiten
und Theorien daraufhin anzusehen, ob sie bestehen bleiben, wenn
gewisse Axiome nicht oder in geändertem Gehalt gelten würden, oder
25 also die Geltung gewisser Axiome „Bedingung der Möglichkeit”
der betreffenden Wahrheiten und Wahrheitssysteme sei. Aber in
solchen Fällen ist der Boden aller Erörterung das den jeweiligen Wis¬
senschaften vor seiner theoretischen Durchforschung vorgegebene
Gebiet. Die vorausgesetzten Tatsachen sind selbst durch Erfahrung
30 und Denken gegeben und diesem Boden zugehörig, und die erwogenen
Bedingungen der Möglichkeit betreffen Notwendigkeitszusammenhän¬
ge zwischen dem bestimmt Gegebenen und dem in der allgemeinen
und imbestimmt unendliche Horizonte umspannenden Gegebenheit
des Gebiets Mitbeschlossenen.
35 Ein ganz anderer ist der Sinn der transzendental-regressiven Frage¬
stellung. Natürlich: gegeben ist Welt und Wissenschaft, evident
gegeben, wie unbestimmt imendliche Universa gegeben sind. Es gilt
nicht, sich selbst auf ihren Boden zu stellen und fortschreitend Kennt¬
nis und wissenschaftliche Erkenntnis zu üben, es gilt nicht, einen Teil
40 der Welt mit einem anderen, eine ihr zugehörige Wahrheit mit anderen
erkenntnismäßig in den rechten Zusammenhang zu bringen. Die Welt
und Weltwissenschaft als Ganzes, das Universum gegenwärtiger und
künftiger objektiver Wissenschaft als Ganzes hat in der natürlichen
Einstellung nichts außer sich, das zu ihm in Bezug gebracht werden
45 könnte. Ganz anders, wenn wir in die erkenntnistheoretische Einstel¬
lung übergehen und die Gegebenheit der Welt und aller objektiven
Wissenschaften in uns selbst zum Problem wird. Nun ist die Welt und
372 ERGÄNZENDE TEXTE
ist die Wissenschaft, für den erkenntnistheoretisch Forschenden, nicht
schlechthin eine Tatsache, sie ist nicht schlechthin daseiende Wirk¬
lichkeit, die er näher kennenlemen, wissenschaftliche Wahrheit nicht
schlechthin geltende Wahrheit, die er in denkendem Gestalten „ent-
5 decken”, in Theorien entwickeln, nach ihren Notwendigkeitszusam¬
menhängen herausstellen will, sondern sie ist in der erkennenden Sub¬
jektivität, in ihrem immanenten Erfahren und theoretischen Leisten
gesetzte, darin in immanenten Sinngebungen und in passiven Affek¬
tionen, in aktiven, immer neuen Sinn schaffenden Betätigungen, in
10 ihren auszeichnenden „evidenten” Bewährungen, Begründungen,
„vermeinte und eingesehene Tatsache”. Dieses Tatsache-sein als
immanente Leistung in der Immanenz, die alsbald in die Tatsache
schlechthin übergeht, sowie wir in die natürliche Einstellung zurück¬
fallen, ist das Problem: Die „Tatsache” macht sich im reinen Bewußt-
15 sein — und wie immer man gegen Kants Lehre, der „Verstand”
schreibe der Natur seine Gesetze vor, opponieren mag: daß <das>
erkenntnistheoretisch eingesehene Dasein der objektiven Welt und
Dasein der Geltung der objektiven Wissenschaft im Rahmen des
reinen Bewußtseins in mannigfaltigen <Weisen> bestimmt gearteten
20 und geordneten Erlebens sich konstituiert, in Motivationszusammen¬
hängen, welche „Tatsachen” als Einheiten intentionaler Leistung
möglich und wirklich machen — das ist, nachdem das reine Bewußtsein
einmal fest gefaßt ist, im Grunde eine Selbstverständlichkeit.
Somit ist nicht die Tatsache schlechthin, sondern die „Tatsache”
25 in Anführungszeichen, eben die immanent „vermeinte”, erfahrene,
gedachte, erwiesene, theoretische erkannte Tatsache „als solche”
der Ausgangspunkt der regressiven Fragestellungen; und es ist nun
evident, daß hier das in Anführungszeichen stehende „Universum”
nicht mehr ist als eine intentionale Einheit, die als solche nichts für
30 sich ist, in keinem Sinn ein In-sich- und Für-sich-seiendes und Ab¬
geschlossenes, sondern daß es ist, was es ist, in eins mit dem Univer¬
sum des reinen Bewußtseins und des reinen Ich dieses Bewußtseins;
und dieses „in eins” besagt nicht, ein Glied einer realen Verknüpfung,
oder ein Stück desselben <scil. des Bewußtseinsuniversums), sondern ein
35 vermöge des Wesens dieses Bewußtseins Vermeintes. Also haben wir
in Wahrheit jetzt ein anderes Universum als das einzige, das jetzt als
absolut gegebenes gilt. Alle regressive Fragestellung hat in dieser
Gegebenheit ihren intuitiven und theoretischen Boden.
Gemeint kann also nur sein: Wie ist das Faktum des Gegebenseins
40 der Welt und Wissenschaft als Tatsache zu verstehen? Nämlich: wie
sieht dieses „Es ist für mich Tatsache”, „Es ist für mich die Welt
gegeben”, und gegeben als „objektiv” seiende in Raum und Zeit, „Es
besteht für mich in der Erkenntnis dieses theoretische System von
Wahrheiten, diese objektive Wissenschaft”, die eben in Wahrheit
45 aussagt, was die Welt ist — wie sieht all das aus — hinsichtlich der
erfahrenden, beziehenden, verknüpfenden, begreifenden Erkenntnisse,
in denen es immanent besteht, und wie ist dadurch zu verstehen, daß
BEILAGEN 373
sich im Universum des Bewußtseins das objektive Universum und das
zugehörige Universum bestimmender Wahrheit konstituiert ? Erkenne
ich dann schon, daß diese Konstitution keine absolute Denknotwendig¬
keit ist, daß Sinngebung, Setzung, einstimmige Durchhaltung eines
5 intentionalen objektiven Universums für den Bewußtseinsstrom
gleichsam eine Teleologie bedeutet, die ein System geordneter Möglich¬
keiten auszeichnet aus einem Universum anderer Möglichkeiten, so
kann ich fragen: Gesetzt, daß für mich, daß für ein Bewußtsein über¬
haupt eine solche Tatsache wie die einer für es objektiv daseienden
10 Welt konstituiert sein soll — welche ,.Bedingungen der Möglichkeit"
sind dafür aufzuweisen, welche für die bloß anschauende Erfahrung
und welche für die wissenschaftliche Erkenntnis, die das sich sinnlich¬
anschaulich als objektiv und doch in lauter Relativitäten Gebende in
logisch geformten Wahrheiten bestimmt, die ,,an sich” gelten: in
15 welchen Relativitäten das objektiv Gegebene, in welchen sinnlichen
Erscheinungsweisen es auch erscheinen mag —- ? Ohne auf die für eine
genauer scheidende Darstellung sich komplizierende Problematik
einzugehen, ist soviel evident, daß sie alle und alle für die Lösung sinn¬
voll zulässigen Erkenntnismittel im Gegebenheitsrahmen des reinen
20 Bewußtseins Hegen müssen und daß jede Theorie, die solche Probleme
behandelt, widersinnig ist, wenn sie (eben dadurch, daß sie sich den
Sinn solcher Probleme selbst nicht vöHig klargemacht hat) anderes
benützt, als was im reinen Bewußtsein des erkennenden ego anweis¬
bar ist, und andere Methoden verwertet, als welche durch den Wesens-
25 gehalt dieses Ich und Bewußtseins vorgezeichnet sind.
Gehen wir aber mit diesen normativen Gesichtspunkten an Kants
Vemunftkritik heran, so erfüHt sie dieselben — Wesensbedingungen
ihrer sinnvollen Möglichkeit, also auch ihrer Wissenschaftlichkeit —
keineswegs. Kants transzendentale Forschung, möge sie nun regressiv
30 verlaufen, wie als transzendentale Methode in jenem spezifisch tran¬
szendentalen Sinn, oder wie immer sonst, operiert mit einem Material
von Überzeugungen, die nie auf dem absoluten Boden des ego cogito
erarbeitet, nie als wirklich transzendentale geformt und wissenschaft¬
lich begründet sind.
35 In einer Transzendentalphilosophie ist aHes und jedes transzenden¬
tal, es gibt da nichts und kann nichts geben, was nicht durch die reine
und ausschließliche Einstellung auf das reine Ich und Ichbewußtsein
das eine und gleiche methodische Gepräge hat, und dieses Gepräge
bestimmt den notwendigen und aUgemeinsten Sinn des Transzenden-
40 talen, dem sich die im gewöhnlichen Sinn so genannten erkenntnis-
theoretischen Probleme und ihre möglichen Lösungen unterordnen.
Kant, der ist nie von dem gewaltigen Emst der Cartesiani-
sehen Meditationen ergriffen und dadurch geneigt worden, sich den
notwendigen Sinn einer transzendental-erkenntnistheoretischen Pro-
45 blematik zur letzten Reinheit und Klarheit zu bringen. Daher hat er
auch nie eine radikale Erwägung darüber angesteHt, auf welchen Bo¬
den sich der erkenntnistheoretisch Reflektierende mit solchen Fragen
374 ERGÄNZENDE TEXTE
notwendig stellt und wie, nach welcher Methode dieser Boden, dem
alle Lösungsmotive entnommen sein müssen, in wissenschaftliche
Arbeit zu nehmen ist, geschweige denn, daß er jemals ein Stück
radikal immanenter Forschung wirklich ins Werk gesetzt hätte. Be-
5 ständig werden Theorien gebaut auf Grund von Lehren über Sinn¬
lichkeit und Verstand (als zwei Stämmen der menschlichen Erkenntnis,
die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten
Wurzel entspringen) und über sonstige Vermögen, über verschiedener¬
lei ihnen zugehörige Erlebnisse, Akte, genetische Prozesse (wie Re-
10 produktion und Assoziation), für sie geltende Gesetze, deren Erkennt¬
nisquelle und transzendental rechtmäßiger Sinn nie festgestellt worden
ist — Lehren, die nicht der Psychologie als „Naturwissenschaft” ent¬
nommen sein können, als welche selbst unter den transzendentalen
Fragen steht, und die nimmermehr durch eine flüchtige monadolo-
15 gische Interpretation psychologischer Lehren (nämlich auf dem Wege
monadologischer Reduktion jedes animalischen Wesens auf seine
seelische Innerlichkeit) zu rechtfertigen sind. Und niemals wird dabei,
wie schon gesagt, die offenbar beständig benützte Vielheit dieser
Monaden (die doch Kant, wo er von „uns Menschen” spricht, allein
20 meinen kann, da die Leiber, gemäß der echt monadologischen, nur
systematisch weiter ausgeführten Interpretation der physischen Na¬
tur, in Mannigfaltigkeiten von Erscheinungen „in uns”, in den mona-
dischen Innerlichkeiten <nur bestehen)) in transzendentale Erwägung
gezogen. Dies genügt zu einer prinzipiellen Kritik, es genügt zur
25 Feststellung, daß Kants Erkenntniskritik in der Art ihrer Problem¬
stellungen und Methoden dem der Erkenntnistheorie sozusagen ein¬
geborenen Sinn widerstreitet, daß sie somit durchaus zu den Vor¬
formen wissenschaftlicher Erkenntnistheorie gehört, aber nicht selbst
Wissenschaft ist, und das nicht dem kleinsten Anfang nach, der schon
30 „als Wissenschaft gelten” könnte, wie die kleinen Anfänge der Ar¬
chimedischen und Galileischen Mechanik schon ein Anfang und Grund¬
stück wirklicher Wissenschaft waren. —- Und demnach sind alle For¬
derungen, die von einer solchen Erkenntniskritik an eine Meta¬
physik, „die als Wissenschaft wird auftreten können”, gestellt
35 worden sind, unrechtmäßig, als einer wissenschaftlichen Begründung
entbehrend; ja als so gewonnene Normen widerstreiten sie, wie dem
echten Sinn einer Vernunftwissenschaft, dem einer Metaphysik und
einer Philosophie überhaupt. Eine Philosophie, wenn sie überhaupt
einen eigentümlichen Sinn hat, ist nicht nur überhaupt Wissenschaft,
40 sondern Wissenschaft der vollkommenen „Klarheit und Deutlichkeit”,
der letzten Rechenschaftsablage, die in keinem Sinn und keiner Rich¬
tung versteckte Abgründe, übersehene Problemdimensionen, Ver¬
mengung korrelativer Erkenntnisrichtungen duldet. Sie ist eben dazu
da, die Idee der vollendeten Erkenntnis, das im Wesen der Erkenntnis
45 angelegte letzte Telos zu vertreten und alle werdende Erkenntnis
nach dieser Idee zu regulieren. Philosophie in diesem alten Platoni¬
schen Sinn ist entweder überhaupt nicht oder sie ist als Intention auf
strengste Wissenschaft im radikalsten und letzten Sinn.
BEILAGEN 375
Keine natürliche Wissenschaft ist Philosophie, ist also letzte Wis¬
senschaft; jede wird zur Philosophie, wenn sie auf die Stufe der
„letzten” erhoben wird. Zum Wesen der Philosophie gehört es,
ungleich den natürlichen Wissenschaften, nicht anfangen zu können,
5 indem sie eine natürlich vorgegebene Erkenntnissphäre als Forschungs¬
gebiet in Arbeit nimmt, feststellt und von Feststellung zu Feststellung
fortschreitet und sich nur besinnt, sofern sie in jedem Schritt das
Recht desselben und die Methode der Begründung und des Fortgangs
nachprüft. Das alles tut natürliche Wissenschaft in natürlicher Ein-
10 Stellung und im Rahmen der natürlichen Evidenz, dem Erkenntnisziel
einsichtiger Wahrheit nachstrebend.
Zum Wesen der Philosophie gehört, daß sie nicht naiv anfängt,
sondern mit einer Besinnung über einen radikalen Anfang, den einer
radikalen Wissenschaft, einer schlechthin letztgegründeten, oder
15 voraussetzungslosen, beginnt und daß sie dann selbst beginnt, indem
sie sich den notwendigen Anfang als notwendigen gibt. Philosophie
kann nur ins Leben treten mit einer Besinnung und einem Anfang,
dessen Typus Cartesius klassisch vorgezeichnet hat. Seine Phi¬
losophie ist vergänglich, und sie lebt nur als Erinnerung an die histo-
20 rische Macht für die Kultur der beginnenden Neuzeit fort. Wahrhaft
unsterblich wird aber ihre Entdeckung des wahren Anfanges sein und
ihre Gesinnung, die sie sich als Ergebnis ihrer Besinnung auf das Ziel
einer absolut begründeten Philosophie selbst gesetzt hat.
Eben diese Gesinnung als die echt philosophische fordert, daß eine
25 neue Philosophie nicht auf ältere sich gründen kann, sondern, sofern
sie die bisherigen Philosophien nicht als echte anerkennen kann, von
neuem anfangen muß, indem sie sich selbst in dem Radikalismus letzter
Begründung den Boden der Arbeit schafft und keinen Schritt tim will,
der nicht ihrer Gesinnung entspricht, der nicht der Anfang zum phi-
30 losophischen Fortgang, zu dem nach absoluter und als absolut ge¬
rechtfertigter Methode lückenlos begründeten, geworden ist. Dieser
Radikalismus hat sich von Cartesius nicht vererbt auf seine Nach¬
folger, ihn betätigte auch nicht Kant, und weil er ihn nicht betätigte,
hat er keine bleibende Philosophie, überhaupt keine reine und echte
35 Philosophie geschaffen. Diese Kritik ginge in die Irre, wenn er als
berufene ethische Persönlichkeit sich das Ziel gesetzt hätte, sich für
sich selbst, als berufener Repräsentant seiner Zeit für sie selbst, eine
universale Weltanschauung zu gestalten, eine Weltweisheit, die ihm
die rechte Stellung zu Gott, zur Welt, zu seinen Nebenmenschen zu
40 geben und <ihn> in praktisch-ethischer Weise <zu> leiten «(vermoch¬
te; so wäre nichts einzuwenden. Kant aber wollte Philosophie als
strenge Wissenschaft, er glaubte, Repräsentant jener ganz anderen
Philosophie <zu> sein, welche alle theoretischen und in weiterer Folge
ihre axiologischen und praktischen Stellungnahmen in absoluter
45 Wahrheit begründet. Er war, wie wir, die den Geist der Platonischen
Tradition lebendig halten und ehren wollen, nicht auf außerwissen¬
schaftliche Weisheit sondern auf Wissenschaft eingestellt. Und eben
376 ERGÄNZENDE TEXTE
in dieser Hinsicht versagte er. Das zeigt sich auch darin, daß er
einseitig auf transzendentale Erörterung der objektiven Erkenntnis
ausging, der Welterkenntnis, und nicht erkannte, daß jede Erkennt¬
nistheorie in einem höheren Sinn universal, daß sie jede wieder auch
5 immanente Erkenntnis umspannen, also auf sich selbst zurückbezogen
sein muß.
Das geht also noch weiter als der Vorwurf, den ihm D i 11 h e y mit
Recht gemacht hat, daß seine Vemunftkritik keine Kritik der h i-
storischen Vernunft, überhaupt keine Kritik der geisteswissen-
10 schaftlichen Erkenntnis versucht und in ihrer Notwendigkeit gar
nicht gesehen hat. Im Sinn der Philosophie liegt nicht nur Univer¬
salität in der transzendentalen Durchforschung aller möglichen tran¬
szendenten Erkenntnisprobleme, also nach allen möglichen transzen¬
denten wissenschaftlichen Problemen, sondern ein Radikalismus, der
15 im Rückgang von solcher Erkenntnis zum Erkennen dieser Erkenntnis
in der Sphäre absoluter Immanenz auch wieder eine weitere Stufe
zurückgeht und das Erkennen, das Als-Erkenntnistheoretiker-Er¬
kennen, und so überhaupt das Erkennen des reinen Bewußtseins und
Bewußtseins-Ich zum Thema machen muß. Eine absolute Wissen-
20 schaft vom reinen Bewußtsein, die als solche thematisch mitbefaßt
alle Iterationen, in denen Bewußtsein reflektierend zum Bewußtsein
höherer Stufe sich erhebt und so reflektive Intentionalität erzeugt,
betätigt sich in Erkenntnissen, die selbst vom Typus des Bewußtseins
höherer Stufe sind, und auch dies gehört zum vollen Erkenntnispro-
25 blem. Wie die Iteration, in der mathematische Operationen und
Begriffsbildungen sich in infinitum betätigen können, keine mathe¬
matische Erkenntnis beschränkt, vielmehr Einsichten mit sich führt,
die über alle Iteration und ihre Unendlichkeit hinausgreifen, so muß
es auch möglich sein, die Bewußtseinsiterationen zu beherrschen und
30 Einsichten zu gewinnen, welche die Prinzipien aller immanenten
Erkenntnis und ihrer möglichen reflektiven Stufen beherrschen. Er¬
kenntnistheorie ist auf sich selbst notwendig zurückbezogen, und der
scheinbare Zirkel dieser Zurückbezogenheit muß sich durch Gesetzes¬
einsichten lösen, von denen völlig zu verstehen, eben einzusehen ist,
35 daß ihnen alle Bewußtseinsiterationen unterstehen.
Es fehlt nicht an Vorstößen zu einer radikalen Philosophie in der
Folgezeit, insbesondere an Versuchen der kritischen Umgestaltung der
Kantischen und in Richtung auf ihre Radikalisierung. M a i m o n,
R e i n h o 1 d und Fichte sind hier bekanntlich zu nennen; aber
40 bekannt sind auch ihre Voreiligkeiten und ihr Verfallen in immanente
Mythologien oder gewaltsame Konstruktionen immanenter Teleolo-
gien, aus denen kein positiver Gewinn erwachsen konnte.
Eine immanente Philosophie muß absolut „klar und deutlich”,
absolut durchsichtig sein, nach allen Schritten auf absoluten Gegeben-
45 heiten beruhen. Alles Benützte muß aufgewiesen, muß als absolut
gegeben vor Augen gestellt werden.
BEILAGEN 377
Beilage XIX (zur 26. Vorlesung, b): (Hat Kant wirklich das Grund-
;Problem der Erkenntniskritik getroffen?> x)
Ehe wir weitergehen, wollen wir erwägen, inwiefern Kant mit
seiner Frage „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?” wirk¬
lich das Grundproblem der Erkenntniskritik getroffen hat bzw. in¬
wiefern seine firn damentale Betrachtung, die ihn auf jene fundamen-
5 tale Frage seiner Erkenntniskritik führt, wirklich geeignet ist,
zur fundamentalen Frage der Erkenntniskritik überhaupt zu führen.
Und daran wird sich die Erwägung schließen müssen, ob durch Theo¬
rien von dem Kantischen Typus der apriorischen Formenlehre für eine
echte, radikale Erkenntniskritik etwas geleistet werden kann.
10 Da wäre in erster Linie noch einmal ganz kurz darauf hinzuweisen,
daß uns eine Auswicklung aus den erkenntnistheoretischen Verlegen¬
heiten, an denen die Philosophie nun schon seit Jahrtausenden labo¬
riert, nur dann zu erhoffen ist, wenn wir absolut voraussetzungslos
verfahren, also den Gesamtbereich wirklicher oder vermeintlicher
15 Erkenntnis hinsichtlich der Objektivität in Frage stellen. Wir ver¬
langen eine radikale Erkenntnistheorie, zurückgehend auf absolute
Zweifellosigkeiten und aus dem Inhalt der Weltkenntnis des gemeinen
Lebens und der Wissenschaft schlechthin nichts als vorgegeben und
selbstverständlich voraussetzend. Das wahre Erkenntnisproblem ist
20 ganz allgemein dieses: zur Klarheit zu bringen — und zwar innerhalb
der voraussetzungslosen Sphäre absoluter Gegebenheiten — was
Erkenntnis ihrem Wesen oder Sinn nach ist. Unter dem Titel Erkenntnis
befassen wir eine Reihe mannigfaltig differenzierter Erlebnisse, die
sämtlich eine deskriptive Eigentümlichkeit haben, die wir als objekti-
25 vierende Intention, als Gegenstandsbewußtsein bezeichnen. Wahrneh¬
mung, Phantasievorstellung, Erinnerung, Erwartung, Bejahung, Ver¬
neinung, Schlußfolgerung usw. — all das sind Erlebnisse eines Gegen-
standsbewußtseins. In der Wahrnehmung steht ein Gegenstand uns vor
Augen, sozusagen in eigener Person, in der Phantasie erscheint er in der
30 Weise der Einbildung, in der Erinnerung in der Weise der Vergegen¬
wärtigung von Gewesenem, in der intuitiven Vorstellung als ein be¬
grifflich so und so bestimmter usw. Die gegenständliche Beziehung soll
nun bald eine richtige, bald eine falsche sein, und dieser Unterschied
soll hervortreten in der Erkenntnis im prägnanten Sinn als einem
35 intentionalen Erlebnis, in dem wir immittelbar oder auf vermittelnde
Gründe hin sehen: es ist so, und nicht nur vermeintlich, sondern wahr
und wirklich.
Das alles birgt große Rätsel. Wir wollen es aber verstehen; ver¬
stehen — und nicht etwa psychologisch erklären. Uns interessiert
40 nicht die Frage, unter welchen psycho-physischen Umständen die oder
jene Vorstellungen in einem Menschen auf treten, wie sie sich modifi¬
zieren, welche kausalen Gründe und Folgen sie haben. Uns interessiert
nicht die biologische Frage nach der biologischen Entwicklung der
*) wohl 1908. — Anm. d. Hrsg.
378 ERGÄNZENDE TEXTE
psychischen Funktionen und speziell der sogenannten Denkfunktionen,
auch nicht die nach der teleologischen Funktion für die Erhaltung und
Förderung der Lebewesen. Die ganze Psychologie, die ganze Biologie,
alle Naturwissenschaft gehört in die Sphäre des Je ne sais quoi, des
5 non liquet, in die Sphäre der erkenntnistheoretischen Fraglichkeiten.
Wir bleiben konsequent dabei, so zu tun, als wüßten wir in all dem gar
nichts, und endgültiges Wissen haben wir in der Tat vor der Erkennt¬
niskritik nicht. Was uns als Gegebenheit vorliegt, ist bloß das ,.Phä¬
nomen” des Vorstellens, Wahrnehmens, Erinnems, Erwartens, des
10 Urteilens, der verschiedenen Wissenschaften. Und was wir verstehen
wollen ist, was diese sogenannten Akte des Anschauens, des Denkens,
des Erkennens eigentlich sind und was an ihnen macht, daß sie
dies und jenes in dieser und jener Weise meinen. Wir wollen studieren,
was zu ihrem immanenten Wesen und zum Sinn ihres Meinens gehört,
15 was für immanente Verhältnisse und Gesetze darin gründen, soweit
wir dergleichen in rein immanenter Betrachtung, in der Sphäre abso¬
luter Evidenz und Voraussetzungslosigkeit finden können.
Die verwirrenden Schwierigkeiten und Widersprüche, in die uns die
erste Reflexion über die Erkenntnis versetzt, beruhen darauf, daß wir
20 uns als Menschen und Denker einordnen in die Einheit der Natur.
Unsere Denkakte, als Zustände unserer Seele, sind demgemäß zufällige
Momente in dem unendlichen Getriebe der Allnatur, durch diesen
Zusammenhang kausal bedingt und den Naturgesetzen unterliegend.
Andererseits ist doch Natur und Naturgesetz für uns nur durch
25 unser Denken, gegeben ist uns nicht die außerbewußte Natur sondern
nur ein Denken, Meinen, Wissen über Natur. Wie ist es aber zu
verstehen, daß Bewußtsein über sich hinausreicht, daß sein soge¬
nannter Wissenszustand, ein bloßer Zustand der einzelnen Seelen¬
monade, eine ihr transzendente Welt nicht nur spiegelt, sondern dessen
30 sicher sein kann, daß sie es tut? Und ähnlicher Fragen gibt es auch
sonst genug. Radikale Erkenntnistheorie wird sich auf solche Fragen
von Anfang an nicht einlassen. Sie wird das Schema „Mensch und
Natur” oder „denkendes Ich und gedachte Wirklichkeit außerhalb
des Ich” nicht zugrundelegen, sondern sagen: all das sind Fraglich-
35 keiten und sind nicht Gegebenheiten. Die radikalen Erkenntnisfragen
dürfen als wirklich seiend und vorgegeben nichts bestehen lassen, was
selbst in die Sphäre der Fraglichkeiten gehört.
Gegeben ist uns das Ich-Bewußtsein, das Außenwelt-Bewußtsein,
nicht aber Ich selbst und Außenwelt selbst; wir verstehen nicht, was
40 im echten und rechten Sinn als Ich und als Außenwelt verstanden und
als seiend angenommen werden kann. Ist dagegen das Wesen der Er¬
kenntnis aufgeklärt, ist nachgewiesen, was sie selbst ihrem eigenen
und unaufhebbaren Sinn nach unter Gegenstand meint, ist es auf¬
geklärt, was der letzte Sinn von Wissenschaft überhaupt ist, und
45 korrelativ dazu der letzte Sinn von Objektivität, von Natur, die durch
Wissenschaft gesetzt und bestimmt ist; dann können wir auch be¬
stimmen, was berechtigt unter dem Titel „Ich” und unter dem Titel
BEILAGEN 379
„außerpsychische Welt” als seiend in Anspruch genommen werden
kann und was dabei das „Sein” im echten und rechten Sinn besagt.
Verständlich muß dann auch werden, daß Denkakte einerseits Ele¬
mente der Wirklichkeit sind und wie andererseits Wirklichkeit nur im
5 Denken bewußt, angeschaut, gedacht, erwiesen sein kann. Verständ¬
lich muß werden, daß Denkgesetze einerseits Gesetze eben des Den¬
kens sein sollen und daß sie andererseits doch Bedingungen der Mög¬
lichkeit objektiv gültigen Seins überhaupt <sein sollen). Nur aus dem
eigenen Sinn der Erkenntnis kann sich jede Schwierigkeit aufhellen,
10 in die wir bei allgemeinen Reflexionen über die Erkenntnis geraten.
Kant verfährt aber, wie schon wiederholt hervor gehoben,
nicht radikal. Als selbstverständlich setzt er voraus, daß draußen,
außerhalb des menschlichen Gemüts, Dinge sind, die es affizieren, und
daß die sinnlichen Anschauungen in ihrem Inhalt durch die affizieren-
15 den Außendinge bestimmt sind. Er scheidet in diesem Inhalt das
Wechselnde und das notwendig und allgemein Vorkommende, das
erstere schreibt er den wechselnden Affektionen zu, das letztere den
eigenen Vermögen des Gemüts. Das aber sind Theorien, die für eine
Erkenntnistheorie schlechthin bedeutungslos sind. Sie gehören in eine
20 Psychologie und Psychophysik, enthalten aber nicht die leiseste
Belehrung hinsichtlich des Wesens der Erkenntnis und nicht die leise¬
ste Aufklärung irgendwelcher der Schwierigkeiten, die uns die Erkennt¬
nis als solche aufgibt. Die Hypothese des L e i b n i z’schen intelledus
ipse erklärt gar nichts. Die Hypothese besagt, daß es Begriffe gibt,
25 die der Geist rein aus <sich> selbst schöpft und die nicht <aus> der
Irritation von außen stammen; ferner daß die sogenannten aprio¬
rischen Gesetze, die aus diesen Begriffen gebaut sind, sollen Gesetz¬
mäßigkeiten ausdrücken, die rein zum immanenten Wesen des Geistes
gehören. Kant nimmt dies auf und macht daraus die Formen-
30 lehre: Das Empfindungsmaterial wird durch ursprüngliche Funktionen
der Sinnlichkeit und des Verstandes geformt, und das Geformte sind
die empirischen Dinge. So erklärt sich nicht nur, wie bei Leibniz, wie
wir dazu kommen, a priori unbedingt allgemein und notwendig zu
urteilen, sondern es erklärt sich auch die unbedingte objektive Geltung
35 dieser apriorischen Gesetze, aber nur die Geltung für phänomenale
Dinge, nicht für Dinge an sich.
Das sind für den ersten Augenblick verlockende Theorien. Ich
bleibe aber dabei: sie beweisen nichts, und sie sind selbst unbewiesen.
Angenommen, die Lehre vom intelledus ipse und die Formenlehre
40 wären wahr. Dann fragen wir: was soll diese psychologische Theorie
nützen? Wir seien also psychologisch so konstituiert, daß wir von
außen durch Dinge an sich affiziert werden, daß die Empfindungen
Resultat der Affektion seien, daß wir nicht anders können, als nach
der zu unserer allgemein menschlichen Konstitution <gehörigen Art
45 und Weise) Empfindungen zu Anschauungen, Anschauungen zu
Erfahrungsdingen zu formen, wobei diese formenden Funktionen ihre
festen Gesetzmäßigkeiten haben. Daß das so ist, besagt doch nicht,
380 ERGÄNZENDE TEXTE
daß wir das wissen. Gegeben sind uns doch nur, als Unfraglichkeiten,
die Phänomene. Unsere Gegenstand-bildenden Funktionen sind doch
nicht gegeben. Unsere angeborenen Dispositionen als solche sind doch
nicht gegeben. Die psychophysische Konstitution ist doch Hypothese.
5 Und vor allem: die Gesetze dieser Funktionen sind doch nicht gegebene
Phänomene. Das alles sind doch Transzendenzen. Wie ist aber über¬
haupt transzendente Erkenntnis, wie ist Hinauskommen der Erkennt¬
nis über die unmittelbare Gegebenheit der Phänomene möglich? Wie
ist ein Wissen davon möglich, daß es außerhalb des Empfindungs-
10 phänomens so etwas wie ein Ding an sich gibt, wie ist außerhalb des
Wahmehmurgsphänomens, des Denkphänomens, des Phänomens des
<als> notwendig und allgemeingültig sich ausgebenden Urteils irgend¬
ein Sein, z.B. das Sein der menschlichen Konstitution, das Sein
der formenden Funktionen, ihre Eigenheit, den und den Gesetzen zu
15 unterliegen, gewährleistet? Wie ist es zu verstehen, daß es so etwas
wie Wissen gibt. Wissen nicht bloß dessen, was im momentanen Phä¬
nomen sich abschließt, sondern, über unmittelbare Gegebenheiten
hinaus intendierend, etwas trifft, was nicht selbst gegeben ist? Und
somit — wie ist Wissenschaft überhaupt möglich, da Wissenschaft
20 doch nicht bloß darin besteht, auf irgendein phänomenologisch Ge¬
gebenes den Finger zu legen, sondern darin, objektive, über das mo¬
mentane Bewußtsein hinausgehende Feststellungen zu machen —?
Somit ist uns Wissen und Wissenschaft überhaupt ein Rätsel, wir
verstehen es nicht, und solange wir es nicht verstehen, können wir doch
25 nicht, etwa gar zur Lösung der Rätsel, die Wissenschaft als solche uns
bietet, mit transzendenten Hypothesen wirtschaften, die, wie alle
transzendenten Behauptungen, das ganze Rätsel in sich schließen.
Stellen wir uns auf den Boden Kants, und näher der Einleitung in die
Kritik <der reinen Vernunft>. Nehmen wir an, analytische Erkennt-
30 nisse enthalten keine Rätsel, synthetische Urteile a posteriori enthalten
keine Rätsel; obschon es nur der kürzesten Besinnung bedarf, um
darauf aufmerksam zu werden, daß z.B. die letzteren Urteile genau
dasselbe Rätsel enthalten wie die synthetischen Urteile a priori. Die
Erfahrungsurteile wollen ja nicht Urteile über meine unmittelbaren
35 Erlebnisse sein, sondern etwas über Dinge und Verhältnisse aussagen,
die sind, was sie sind, ob ich sie erkenne oder nicht. Kants Theorie der
Erfahrung, in der transzendentalen Analytik, gibt übrigens selbst
dafür Zeugnis: denn eben die Urteile, die in der Einleitung kein Pro¬
blem bieten sollen, sind, genau besehen, dort ein Problem.—Aber wie
40 gesagt: angenommen, die synthetischen Urteile a priori seien das
Rätsel. Wir urteilen unabhängig von der Erfahrung, wir folgen dem
Zug der Notwendigkeit und Allgemeinheit, die doch wohl etwas zum
Habitus dieser Urteile Gehöriges ist, wo immer wir sie einsichtig fällen.
Die Urteile wollen ihrem Sinn nach objektiv gelten. Wie können sie
45 das? Die hier eigentlich vorliegende Frage ist nun doch die: Wie ist es
zu verstehen, daß ein eigentümlicher Charakter der Notwendigkeit
Urteilen von einem gesetzlichen Inhalt wirkliche Geltung verleihen
BEILAGEN 381
soll, und zwar natürlich Geltung in dem Sinn, den diese Urteile haben,
also objektive Geltung —? Ist das nun eine Antwort: es seien diese
Gesetze zugehörig zu den formenden Funktionen —? Die Frage ist
doch damit in eine metaphysische oder psychologische Sphäre ab-
5 geschoben. Bin ich überhaupt in Verlegenheit, wie es zu verstehen
ist, daß Urteile mit dem Charakter der Notwendigkeit und Allge¬
meinheit wirklich ihrem Sinn gemäß notwendig und allgemein gelten,
so verstehe ich auch nicht, wie Urteile, die diesen Charakter haben
und sich speziell auf meine psychischen Funktionen beziehen, im
10 Sinn dieses Anspruchs gelten.
Es ist auch klar, daß Kant die Notwendigkeit und Allgemeinheit
im psychologischen Sinn mit derjenigen im erkenntnistheoretischen
Sinn überall und prinzipiell verwechselt. Wenn mein Geist so kon¬
stituiert ist, daß er aus Anlaß gegebener Sinnesempfindungen immer
15 und mit absoluter Ausnahmslosigkeit gewisse Formungen übt, so ist
diese Allgemeinheit und Notwendigkeit eine Tatsache, aber noch nicht
ein Wissen von dieser Tatsache. Mir, dem einzelnen denkenden Men¬
schen, bleiben jederzeit nur einzelne Empfindungen und ein einzelnes
Formungsresultat gegeben. Wie komme ich also zur Erkenntnis, daß
20 ich notwendig und allgemein so und so formen muß? Angenommen,
ich habe ein Urteil, das in sich den Charakter der Notwendigkeit hat,
so ist dieses Urteil ein momentanes Erlebnis, eben mit einem Charak¬
ter, genannt „Notwendigkeit”. Diese Notwendigkeit ist das Be¬
wußtsein : so ist es, und anders kann es nicht sein. Aber das ist doch
25 immer nur ein momentaner Charakter in meinem momentanen Er¬
lebnis. Also diese Notwendigkeit ist etwas ganz anderes als jene psy¬
chologische Tatsache, daß ich dies und jenes faktisch nicht
anders kann, möge ich davon eine Vorstellung haben oder nicht. Na¬
türlich kann ich die Notwendigkeit, die im evidenten Gesetzesbewußt-
30 sein immanent liegt, in keiner Weise dadurch erklären, daß ich die
Hypothese aufstelle: es drücke das Gesetz ein Gesetz der psycholo¬
gischen Konstitution, eine zu ihr gehörige allgemeine Nötigung aus.
Es ist also grundfalsch, daß die erkenntnistheoretische Notwendigkeit
des Denkbewußtseins ihre selbstverständliche Erklärung finde als
35 Notwendigkeit der Form, als psychologische Notwendigkeit im Sinn
einer Naturgesetzmäßigkeit formgebender Funktionen.
Beilage XX (zur 27. Vorlesung): Zur Auseinandersetzung meiner
transzendentalen Phänomenologie mit Kants Transzendentalphi¬
losophie. x)
Die transzendentale Phänomenologie, indem sie das wahre Wesen
der Korrelation zwischen Gegenstand und Erkenntnis erforscht,
schneidet alle falsche Metaphysik ab. Indem sie die mögliche Geltung
40 aller realwissenschaftlichen Erkenntnis gegen Mißdeutungen schützt
und damit die wirklich geltende reale Erkenntnis klärt und ihr (ge-
>) wohl 1908. —Anm. d. Hrsg.
382 ERGÄNZENDE TEXTE
mäß dem Ideal vollendeter Wissenschaft: logisch vollendet, nicht
extensiv vollendet) die wahre Interpretation ermöglicht, führt sie uns
zur Erkenntnis des ,.Absoluten”, das der Natur ,,zu Grunde” liegt.
Durch die transzendentale Phänomenologie wird die transzendentale
5 Interpretation der Natur als Korrelat der Naturwissenschaft (der
logisch vollkommenen) ermöglicht, die Reduktion des wissenschaft¬
lich erkannten Seins auf das Absolute, auf das Bewußtsein. Und sie
ermöglicht auch, als transzendentale Phänomenologie des wertenden
und wollenden Bewußtseins und seiner Objektivitäten, die Möglich -
10 keit einer teleologischen Metaphysik, die wahre ,.Versöhnung der
mechanischen Naturauffassung mit der teleologischen”.
Was mir aber jetzt zu erörtern näher liegt, ist die Frage der tran¬
szendentalen Methode im Sinne des Neukantianismus und
der analytisch-vemunftkritischen Methode Kants selbst sowie ihr
15 Verhältnis zu meiner transzendentalphänomenologischen Methode.
Meine transzendentale Methode ist die transzendentalphänomeno¬
logische. Sie ist die letzte Erfüllung der alten Intentionen, insbeson¬
dere der englischen empiristischen Philosophie, auf Erforschung des
letzten Sinnes der Geltung der Erkenntnis durch Rückgang auf die
20 „Ursprünge”; nicht die grundverkehrte Frage nach den psycholo¬
gischen Ursprüngen (die historisch übrigens auch nicht korrekt
gestellt war), sondern die Frage nach den transzendental-phänomeno¬
logischen Ursprüngen. Rückgang auf den Ursprung der Erkenntnis,
das heißt wohl nichts anderes als <Rückgang auf):
25 1.) <die> logischen Ursprünge, logische Ausweisung der präten¬
dierten Erkenntnis, also strenge Wissenschaft, zurückleitend zu den
logischen Anfängen und den Prinzipien, unter denen alle Fortschritte
stehen: also Aufweisung der Ausgangserfahrungen, der Ausgangs¬
axiome, der methodischen Prinzipien, also der logischen im weiteren
30 Sinn, und da es nicht auf bestimmte Wissenschaften ankommt, so
handelt es sich um volle objektive Logik, um Analyse des Weges
echter Wissenschaft nach allen Hauptgestaltungen von Wissenschaft.
2.) Diese Ursprünge der Erkenntnis, die logischen, fordern
einen weiteren Rückgang auf Ursprünge, nämlich transzendental-
35 phänomenologische Erforschung der Konstitution des in diesen Prin¬
zipien ausgesagten Objektiven: die Ursprünge der Objek¬
tivität in der transzendentalen Subjektivität,
des relativen Seins der Objekte aus dem Absoluten (im Sinne des
Bewußtseins: denn ob in einer weitergeführten teleologischen Meta-
40 physik nicht ein neuer Sinn von „absolut” erwächst?) (?!).
Ursprünge im ersten Sinn sind alle prinzipiellen Grundlagen, oder
besser: die Arten der verschiedenen Grundlagen und die Prinzipien
der objektiv-logischen Verknüpfung. Ursprünge im zweiten Sinn sind
die Bewußtseinsarten (die Bewußtseinsessenzen) und die zu ihnen
45 gehörigen Wesensgesetze.
Von dieser Methode haben Kant und der ganze von ihm abhängige
Neukantianismus und Neuidealismus keine Ahnung gehabt.
BEILAGEN 383
Wie steht es nun aber mit Kants transzendentaler Methode? Was
für mögliche Probleme fehlen noch ?
Es gibt aposteriorische Fragen „transzenden¬
taler” Art; z.B.: Wie muß eine Welt beschaffen sein, damit
5 sie menschlicher Erkenntnis zugänglich ist ? Ja man kann dann weiter
gehen (auf dem vorphänomenologischen Standpunkt): Wie muß eine
Welt beschaffen sein, damit sie einer Erkenntnis überhaupt im Rah¬
men einer Idee zugänglich ist? Schon „menschliche Erkenntnis” ist
eine Idee. Man kann „menschliche Erkenntnis” aber noch verallge-
10 meinem und in Bezug auf allgemeinere Erkenntnisbegriffe erwägen:
Wie muß eine Welt beschaffen sein, damit sie einer Erkenntnis über¬
haupt zugänglich ist (im Sinn einer gewissen Verallgemeinerung des
Begriffs menschlicher Erkenntnis)? Und man kann dabei weiter¬
gehend oder näher bestimmend fragen: Wie muß eine Welt beschaffen
15 sein, damit sie naturwissenschaftlicher Erkenntnis zugänglich ist?
Die umgekehrte Frage wäre: Wie muß eine Erkenntnis be¬
schaffen sein, damit in ihr eine Welt erkennbar ist (und zwar wissen¬
schaftlich erkennbar) ? Also wie muß ein Wesen organisiert sein (oder
wie muß ein Mensch geistig organisiert sein, wie kann er von dem
20 normalen Menschen abweichen), damit es für dasselbe Wissenschaft
von einer Natur soll geben können?
Um solche Fragen zu beantworten, müssen sie vernünftig gestellt
und erst näher bestimmt sein, so daß ihre Vernünftigkeit und somit
Beantwortbarkeit sichtüch wird.
25 Spreche ich von menschlicher Erkenntnis, so setze ich damit schon
den Menschen und somit eine „Welt”. Was will ich dabei also als das
fest Gegebene und was als das Variable angesehen wissen? Ich nehme
eine Welt an. Ich muß sie irgendwie bestimmt denken. Erst dann kann
ich variieren und funktionale Zusammenhänge feststellen zwischen
30 Erkenntnis des Menschen und der Erkenntnis der Welt, die den Men¬
schen in sich schließen soll. Ich kann ja bei aller Vagheit des Aus¬
gangspunktes einige Sätze aussprechen: z.B. ich finde den Menschen
im psychophysischen Zusammenhang; ich sage: Würde es dergleichen
nicht geben, wäre menschliches Seelenleben nicht in solcher Beziehung
35 zur Natur, <so> daß in ihm sich keine Erscheinungen deutlich abgren¬
zen, daß sich nicht Wahrnehmungen, Vorstellungen usw. in passender
Weise ordnen würden, von der Art oder von mindestens ähnlicher
Art, wie wir es in unseren Wahmehmungs-, Erinnerungs-, Denkzu¬
sammenhängen des gewöhnlichen Lebens und der wissenschaftlichen
40 Forschung finden — so gäbe es natürlich keine „Erkenntnis der Welt”.
Wäre der Mensch etwa eine Qualle, so hätte er keine Wissenschaft.
<Hätten wir nur) dumpf ineinanderfließende Empfindungen, Ge¬
fühle usw., ein Chaos ohne bestimmte Artikulation, ohne die Be¬
wußtseinsunterschiede intellektiver Art, wie wir sie aus unserem Leben
45 kennen, usw. — nun, dann wäre die Welt, aber wäre nichts für uns
Quallenmenschen.
Man kann auch im einzelnen erwägen: Die visuelle Sinnenwelt setzt
384 ERGÄNZENDE TEXTE
visuelle Erlebnisse bestimmter Artung, bestimmter Formung voraus.
Wäre unser Gesichtsfeld, wie im Dunkel mit dem Augenschwarz, mit
einem beständigen in sich unveränderten Rot ausgefüllt, gäbe es
keine Abgrenzungen und Unterscheidungen im Sinnesfeld, so auch
5 keine Erscheinungen, keine Dingapperzeptionen. Oder gäbe es solche
Unterscheidungen, fehlten aber die Möglichkeiten für Apperzeptionen,
würden diese abgegrenzten Lichtflecken regellos kommen und gehen,
so daß sich keine Apperzeption bilden würde, so hätten wir wieder
keine Welterscheinung. Oder auch, wären die sinnlichen Erlebnisse,
10 die bei uns in geordneter Weise auf verschiedene Sinnesfelder verteilt
und sich bestimmt organisierende <sind>, absolut regellos, wäre bald
eine Tastempfindung da und sonst nichts, bald eine visuelle Empfin¬
dung; würden sie nichts nachwirken usw. — so gäbe es wieder keine
Welt für uns. Usw. Wir können auch uns berechtigte Gedanken ma-
15 chen über den Unterschied der ,,Welt”-Erkenntnis der Menschen auf
ihren verschiedenen Entwicklungsstufen oder über den Unterschied
der Welt Vorstellung und Welterkenntnis bei Menschen und Tieren
verschiedener Stufen usw. Schließlich sind das Erforschungen von
Möglichkeiten und Unterschieden, die wir auch in den Naturwissen-
20 schäften, in den Wissenschaften von der äußeren Natur für sich vor¬
finden: was würde geschehen, wenn die Erde auf die Sonne stürzte?
oder: welche mechanischen Verhältnisse würden bestehen, wenn der
Raum vierdimensional wäre — wenn dieser oder jener mechanische
Grundsatz nicht gälte oder geändert wäre? wie sähe die Welt aus,
25 wenn das Gravitationsgesetz anstelle der zweiten die dritte Potenz
der Entfernung enthalten würde ?
In unserem Fall handelt es sich um Erwägungen, die durchaus in die
Anwendungssphäre der Biologie und Psychologie hineingehören,
wenn wir, von der Erkenntnis ausgehend, fragen, wie sie beschaffen
30 (oder wie die Geistesart beschaffen) sein muß, damit die Welt erkenn¬
bar sein möge.
Die umgekehrte Frage: wie muß die Welt beschaffen sein, damit
sie unserer Erkenntnis zugänglich ist — was besagt sie? Sie besagt,
die Welt könnte auch noch anders beschaffen sein und doch noch
35 erkennbar sein, und sie könnte auch so beschaffen sein, daß sie un¬
serer Erkenntnis nicht mehr (nämlich nicht mehr vollständig) er¬
kennbar wäre. Solange wir im Empirischen bleiben, ergibt das für die
Philosophie nichts Erhebliches. Hier kommt nicht bloß Biologie in
Aktion, sondern auch Gegenstandslehre. Auf Grund vorgegebener
40 Wissenschaften kann man ja auch im Spiel allerlei Möglichkeiten er¬
wägen und diese Möglichkeiten wissenschaftlich beantworten (Lass¬
witz).
In solchen empirischen Überlegungen steckt aber auch Apriorisches,
das man zu sehen bekommt, sobald man den Gesichtspunkt der tran-
45 szendentalen Phänomenologie gewonnen hat. Erkennen steht, psycho¬
logisch betrachtet, allerdings unter empirischen Bedingungen. Das
mögen bei uns Menschen die psychologisch zu erforschenden sein, bei
BEILAGEN 385
anderen möglichen Wesen mögen sie andere sein. Man kann also,
solange man nicht sicher ist, empirische Elementargesetze zu haben,
nicht wohl schlechthin sagen: wenn die empirischen Bedingungen
geändert würden, so könnte es keine Erkenntnis geben. Man müßte da
5 seine Kautelen machen.
Andererseits aber lehrt uns die Phänomenologie Wesensartungen
der Erkenntnis kennen, und in Korrelation die in ihnen sich kon¬
stituierende Welt. Kennt man diese Korrelationen und hat man die
bezüglichen Wesenszusammenhänge studiert, so kann man auch
10 für empirisch-transzendentale Erwägungen (und echt transzenden¬
tale) absolut sichere Aussagen gewinnen, Übertragungen von Aprio¬
rischem auf Empirisches, z.B. daß Dinge im Natursinn nicht erkenn¬
bar wären ohne eine Sinnlichkeit, die gewisse Bedingungen erfüllt,
ohne sinnliche Inhaltsgruppen von der Art der visuellen, taktuellen
15 und motorischen, und auf tretend in diskreten Abhebungen und wieder
in kontinuierlichen Vermittlungen wie die, die wir in phänomenolo¬
gischer Reflexion vorfinden (wenn wir z.B. die visuellen Empfindun¬
gen bei der Augenbewegung beschreiben, während das offene Auge
über ein Objekt hingleitet, usw.). Daß, sage ich, solche Bedingungen
20 erfüllt sein müssen als Bedingungen der Möglichkeit von Dinggegeben¬
heit, das ist a priori begreiflich, das hängt an Wesensgründen, die an
der Korrelation von Wahmehmungserkenntnis und dinglicher Gegen¬
ständlichkeit liegen und die auf das empirische Faktum menschlicher
Erkenntnis nur übertragen werden.
25 Wrir verlassen diese Erwägungen empirisch-transzendentaler Art;
von vornherein klar ist, daß, soweit sie wirklich empirisch sind, sie
fundamental-philosophisch nicht bedeutsam sind. Die empirische
Erwägung der Bedingungen der Anpassung des empirischen Faktums
der Erkenntnis eines realen geistigen Wesens an eine Welt — daß es
30 sich einordnet — kann durch Phänomenologie gefordert werden, nicht
aber umgekehrt. Philosophisch haben wir, mindestens hinsichtlich der
fundamentalphilosophischen Fragen, hier nichts zu lernen. Der Geist
in einer Natur, und Anpassung des Geistes an seine Natur, Entwick¬
lung von erkennenden Geistern, Entwicklung von Wissenschaften
35 und von Kulturtaten der Menschheit überhaupt — das hat auch seine
philosophischen Seiten; aber keine erkenntnistheoretischen, keine
solchen, die zur Ersten Philosophie gehören; nicht zur ersten, sondern
zur ,,letzten Philosophie”, würde ich sagen. Andererseits stellt sich
heraus, daß, was wir Apriorisches finden — ausgesprochen in An-
40 knüpfung an die Möglichkeit einer menschlichen Erkenntnis, einer
objektiven Bestimmung von Dingen, Erwägung von möglicher Er¬
fahrung usw. —, daß das seine Quelle in der transzendentalen Phä¬
nomenologie hat. Das zeigt sich insbesondere auch, wenn wir Kants
transzendentale Methoden und Lehren betrachten.
45 Stellen wir uns nun auf den Boden der transzendentalen Phäno¬
menologie, was ergeben sich da für transzendentale Fragen (im Sinne
des Kritizismus)? Störend ist der Doppelsinn von „transzendental”.
Husserliana VII 25
386 ERGÄNZENDE TEXTE
Im einen Sinn handelt es sich unter dem Titel „transzendentale Fra¬
gen” ganz allgemein um „Aufklärung” der Möglichkeit einer objektiv
gültigen Erkenntnis, einer Erkenntnis, die einerseits als Erkenntnis
„subjektiv” ist und die andererseits ein „objektives” Sein trifft, ein
5 Sein an sich und unabhängig von der Subjektivität; und zwar handelt
es sich um die entsprechende Aufklärung der Möglichkeit objektiv
gültiger Erkenntnis in allen Grundtypen von Wissenschaften (Natur¬
wissenschaft, Mathematik, reine Logik etc.); also wie objektiv gültige
Erkenntnis in Form der Naturwissenschaft möglich ist, wie objektiv
10 gültige Geometrie möglich ist usw. Legt man diesen Begriff von
„transzendental” zugrunde, so ist die transzendentale Phänomenolo¬
gie die echte Transzendentalphilosophie und verdient den Namen
„transzendentale”; denn sie löst alle diese Fragen.
Kant sucht in der Subjektivität bzw. in der Korrelation zwischen
15 Subjektivität und Objektivem die letzte Bestimmung des Sinnes der
Objektivität, die durch Erkenntnis erkannt wird. Insofern sind wir
mit Kant einig, nur daß wir „Subjektivität” als die phänomenolo¬
gische bestimmen und bestimmen mußten.
Aber diese Übereinstimmung ist doch nur eine äußerliche. Kant
20 dringt eben nicht zum wahren Sinn der Korrelation zwischen Erkennt¬
nis und Erkenntnisgegenständlichkeit durch, und somit auch nicht
zum Sinn des spezifisch transzendentalen Problems der „Konstitu¬
tion”. Das zeigt sich schon in der transzendentalen Ästhetik, wo er
den Raum und die Zeit zu einer „Form der Sinnlichkeit” macht und
25 die Möglichkeit der Geometrie gewährleistet zu haben glaubt, während
innerhalb der bloßen „Sinnlichkeit”, nämlich vor den Erscheinungen
in unserem Sinn, vor den „Synthesen”, die erst die transzendentale
Analytik — unklar genug — behandelt, nichts von einer Konstitution
der Räumlichkeit gegeben sein kann; ich meine nicht den Raum der
30 Geometrie, ich meine den bloßen Wahmehmungsraum, den Raum
der bloßen Anschauung, der allerdings die Voraussetzung der Geome¬
trie ist — so wie die Dinge des gewöhnlichen Lebens die Vorausset¬
zung für die naturwissenschaftlichen Dingbestimmungen und für die
Naturwissenschaft selbst.
35 Nun tritt in der transzendentalen Analytik noch eine spezifisch
transzendentale Methode hervor, insbesondere in der Deduktion und
in den Beweisen der Grundsätze (näher der Analogien). Die „Analo¬
gien” sind a priori gültige Sätze, vor aller Erfahrung gültig, weil, wenn
sie nicht gelten würden, eine objektiv gültige Zeitbestimmung un-
40 möglich wäre. Soll Erfahrung in Form der Erfahrungswissenschaft
möglich sein, soll also Natur im Sinne dieser Wissenschaft erkennbar
sein, so müssen die und die Sätze gelten.
Oder für die Kategorien, etwa so: Soll eine Gegenständlichkeit durch
die denkende Erkenntnis (wissenschaftlich) faßbar sein, so kann man
45 folgendes sagen: Denken vollzieht sich in Urteil und Begriff, als be¬
griffliches Denken. Dieses setzt aber („bei uns Menschen”), wenn es
nicht leer sein soll, Anschauung voraus, die ihm Beziehung auf ge-
BEILAGEN 387
gebene Gegenständlichkeit verschafft, ihm Gegenständlichkeit gibt.
In der Natur der Anschauungen, durch die Gegenstände gegeben sein
sollen, muß es liegen, daß sie sich in Begriffe fassen lassen, daß sie
sich denkend erkennen lassenx). Die erscheinenden Gegenstände
5 müssen den Bedingungen des Denkens gemäß sein und so gewisse
Formen an sich tragen, durch die sie begrifflich faßbar werden. Diese
Formen (selbst durch Begriffe ausdrückbar) sind die Kategorien. Es
sind Bedingungen des Denkens zu einer möglichen Erfahrungswissen-
schaft. Die Gegenstände (die erscheinenden, andere sind für uns nichts)
10 müssen notwendig Denkformen haben, wenn sie naturwissenschaft¬
liche Gegenstände sollen sein können; also muß es gewisse Kategorien
geben, unter denen alle realen Gegenstände (Gegenstände einer denk¬
baren Natur überhaupt) stehen müssen; bzw. Kategorien haben
objektive Bedeutung, weil sie solche Bedingungen „möglicher Er-
15 fahrung” sind. Und umgekehrt: Begriffe, welche das sind (die not¬
wendig jedem realen Gegenstand zugeschrieben werden müssen),
müssen Kategorien sein und diesen transzendentalen Grund ihrer
unbedingten objektiven Gültigkeit haben.
Auch hier der Mangel einer klaren Unterscheidung zwischen An-
20 schauungen und Angeschautem, Formen der Erscheinungen als Modis
des Bewußtseins und Formen der erscheinenden Gegenständlichkeit.
Und daran hegt es, bzw. daran daß das eigentlich Phänomenologische
nicht gesehen wird, daß die transzendentale Deduktion so verworren
wird und daß die transzendentale Apperzeption so viele Geheimnisse
25 hat und eine so unheilvolle Rolle spielt.
Was liegt diesen transzendentalen Deduktionen immerhin an sehr
wertvollem Gehalt zugrunde? (Von anderen transzendentalen Er¬
wägungen: nämlich denjenigen der „subjektiven Quellen”, „welche die
Grundlage a priori zur Möglichkeit der Erfahrung ausmachen” und
30 die „nicht nach ihrer empirischen sondern nach ihrer transzendentalen
Beschaffenheit” in der Deduktion der 1. Auflage ihre Rolle spielen,
werden wir nachher sprechen und überlegen, inwiefern sie Neues
bieten).
Der Wertgehalt der Kant’sehen transzendentalen Methode in Reduktion
35 auf meine Phänomenologie, oder ,,in phänomenologischer Reduktion”.
Der wertvolle Gedanke, der in der Forderung einer Deduktion der
Kategorien und speziell in ihrer Einführung spielt, ist wohl der fol¬
gende. Schalten wir alle „Vermögen”, alles phänomenologisch Irrele¬
vante und die rein erkenntnistheoretische Problematik Trübende aus
40 (üben wir phänomenologische Reduktion), so steht uns die reine Korre¬
lation zwischen Gegenständlichkeit und Erkenntnis vor Augen, und
ihr Wesen können wir rein immanent und essentiell (in diesem Sinn
*) Anschauung ist bei Kant in der Regel gegenständlich zu fassen. Man kann etwa
sagen: Die Erlebnisse des Anschauens müssen mit begrifflichen Erlebnissen zusam¬
menpassen, derart, daß die Anschauungsobjekte als solche begriffliche Formen
haben und begrifflich prädikativ bestimmbar werden.
388 ERGÄNZENDE TEXTE
a priori) studieren. Wir betrachten nun die Naturgegenständlichkeit,
die Dinge, die Welt der Sinnlichkeit. Zum Wesen solcher Gegenständ¬
lichkeit gehören ,,in unbedingter Allgemeinheit und Notwendigkeit”
gewisse Bestimmungen. Sie gehören eben zum Wesen: Raum, Zeit,
5 Materie, Bewegung, Veränderung: das sind einige Titel. Betrachten
wir das Apriori des Gegenstands (das ontologische) nun in Beziehung
zur Erkenntnis, so scheiden sich (nach Rücksichtnahme auf eine andere
Unterscheidung zwischen eigentlichem und uneigentlichem Erkennen)
in der Sphäre der „Eigentlichkeit” „Anschauung” und „Denken” und
10 demgemäß transzendentale Ästhetik und transzendentale Analytik.
Also wir haben als Problem der echten transzendentalen Ästhetik:
Inwieweit konstituiert sich der Gegenstand in der Anschauung, als
was und wie stellt er sich in ihr dar, wie konstituiert er sich da, und
zwar bloß anschaulich, als ein „an sich seiender”, wie sehen die
15 Wahrnehmungsreihen, Erinnerungsreihen usw. aus, in denen er ge¬
geben ist usw. ?
Dann als Problem der echten transzendentalen Analytik: Als was
und wie konstituiert er — <der Gegenstand) — sich im „Verstände”,
als was gilt er im Denken, wie bestimmt das Denken Gegenstände
20 innerhalb einer Natur und Natur selbst? Inwieweit konstituiert sich
Natur wesentlich zugleich mit „Geist”, mit einer empirischen Sub¬
jektivität?
Dergleichen sind transzendental-phänomenologische Fragen.
Nun können wir aber folgende zu Kants transzendentaler Methode
25 in Beziehung stehende Erwägungen anstellen. Wir hören von Kant:
„Die Anschauungen müssen den Bedingungen des Denkens
gemäß sein, sonst könnten sie nicht denkmäßig faßbar sein, sie könnten
in sich nicht Dinge erscheinen lassen, die sich als Dinge einer Wirk¬
lichkeit, einer Natur denken und als objektiv gültig bestimmen lassen”.
30 Was kann das heißen?
a) Es kann sich um rein Apriorisches handeln bzw. um reine Über¬
tragung von Apriorischem auf Faktisches. Verstehen wir jetzt unter
Anschauungen bloße Empfindungen, ohne die eigentliche Dingapper¬
zeption, so kann man natürlich sagen: Vollzöge ein Bewußtsein (wir
35 brauchen dabei gar kein menschliches im Auge <zu> haben, überhaupt
kein solches, das an schon konstituierte Dinglichkeiten, als Leiber,
geknüpft ist, sondern eine irgendwie einheitlich geschlossene Einheit
von Bewußtseinsakten mit ihren sinnlichen Kernen) bloß Empfin¬
dungen, prägte es diesen keine eigentliche Dingapperzeption auf und
40 damit die „Faßbarkeit” für das Denken im höheren Sinn, dann könnte
sich keine Natur konstituieren.
In dieser Art kann man natürlich vielerlei Apriorisches aussprechen.
Gäbe es nichts dergleichen wie Identifikation, Unterscheidung, Ver¬
gleichung, Kollation, Prädikation usw., so könnte es für das Bewußt-
45 sein keine Natur geben, keine Natur könnte von ihm erkannt werden.
Alle diese Akte müssen in einem Bewußtsein auftreten können, all
diese „Fähigkeiten”, „Vermögen” müssen vorhanden sein.
BEILAGEN 389
Das alles birgt für uns kein Geheimnis und ist uns absolut klar,
wenn wir den Sinn der Phänomenologie verstanden haben und der
absoluten Geltung der Wesenszusammenhänge, die sie aufstellt, ge¬
wiß sind. Denn was hegt hier vor? Zum Wesen der Korrelation
5 zwischen Natur und Bewußtsein gehört es, daß Natur nur in Bewußt¬
sein der und der Wesensgestaltung sich konstituieren kann und daß
mit der Wesensgestaltung <des Bewußtseins) auch Natur konstituiert
ist. Und ist einmal klargelegt, daß die und die Wesensgestaltungen von
Empfindungen, Anschauungen (Wahmehmungszusammenhängen),
10 spezifischen Denkgestaltungen zur Einheit möglicher Naturerkennt¬
nis gehören, so ist es a -priori gewiß <und> also absolut selbstverständlich,
daß bloße Empfindung noch keine Erkenntnis macht, auch nicht
vereinzelte bloße Wahrnehmung, daß ohne Identitätsbewußtsein kein
Gegenstand gedacht und erkennbar ist usw.
15 Sagt man: gäbe es ein Bewußtsein ohne Fähigkeit der Identifika¬
tion, der Dingapperzeption, u. dgl., so kann das zweierlei bedeuten:
a) Einmal ein Faktisches. Denken wir uns faktisch ein Bewußtsein
ohne Identifikation, d.h. denken wir uns einen Bewußtseinsfluß, ein
Stück eines solchen, wo dergleichen nicht auftritt. Dagegen ist gar
20 nichts einzuwenden. Diese Möglichkeit besteht sicher. Nämlich a
priori ist dagegen nichts einzuwenden, und selbstverständlich solange
dieses vorausgesetzte Faktum bestünde, solange gäbe es keine Natur¬
erscheinung, kein Denken usw. — ß) Andererseits aber Apriorisches.
Gäbe es ein Bewußtsein, das aus prinzipiellen Gründen nicht identifi-
25 zieren könnte usw. — das hieße aber: Denken wir uns sinnliche In¬
halte, die ihrem Wesen nach nicht dinglich auffaßbar wären, denken
wir uns Dingerscheinungen, die ihrem Wesen nach nicht in eine Wahr¬
nehmungsmannigfaltigkeit zu entfalten wären (in eine solche ein¬
zuordnen wären), geeinigt durch das Einheitsbewußtsein, das seiner-
30 seits Fundament für ein mögliches Identitätsbewußtsein wäre, denken
wir uns empirische Anschauung, die prinzipiell nicht Prädikationen
fundieren könnte usw.
Aber all das ist absurd. Eben das zeigt ja die Phänomenologie, daß
zum generellen Wesen von Sinnlichkeit, von Apperzeption usw.
35 die und die Möglichkeiten gehören und dazu die und die Wesensgesetze.
Also faktisch kann ein Bewußtsein ohne Akte dieser oder jener
Natur sein, faktisch kann Naturerkenntnis ausgeschlossen sein
(aus diesem Grunde). Aber ist Bewußtsein Bewußtsein, so besteht
a priori die Möglichkeit für all diese Akte, so kann kein Faktum daran
40 etwas ändern, daß in jeden Bewußtseinsfluß nach idealer Möglichkeit
Akte eintreten könnten, die durch das Wesen des Bewußtseins als
solchen eben als Möglichkeiten beschlossen sind. Natürlich:
was da nicht eintreten kann, ist nur das aus Wesensgründen selbst
Ausgeschlossene. Dafür haben wir die Wesensgesetze. Die ideale
45 „Fähigkeit” besteht notwendig, oder alle „Verstandesvermögen” ge¬
hören notwendig zu jedem Bewußtsein. Was gar nicht ausschließt, daß
ein Mensch dumm ist und aus empirischen Gründen keine guten Ge-
390 ERGÄNZENDE TEXTE
danken denken kann (das Naturgesetz seiner Seele muß erklären, daß
faktisch im Fluß seines Bewußtseins Akte gewünschter Art nicht
Vorkommen) oder daß eine Qualle in „ihrem” Bewußtsein keine
mathematischen Gedanken und nicht einmal eine empirische Welt-
5 Vorstellung hat, die auf derselben Stufe stände wie die eines Indianers
usw.
Davon hat Kant keine Ahnung gehabt. In seinen transzendentalen
Betrachtungen vermengt sich Faktisches und Apriorisches, es <ist>
darin überhaupt nicht geschieden. Kant kennt das phänomenologische
10 Apriori nicht.
b) Eine Art Erwägung der Faktizität erwächst durch bloße Über¬
tragung des phänomenologischen Apriori auf das faktische Bewußtsein.
Ich bemerke noch vorher, daß ich von faktischem Bewußt¬
sein spreche, und nicht von empririschem. Natürlich, auf
15 Empirisches kann ich ja auch Apriorisches übertragen. Aber die Rein¬
lichkeit der Methode erfordert es, daß wir da, wo Erkenntnistheorie
und Metaphysik in Erwägung stehen, alles Empirische ausschalten
bzw. es auf das Absolute reduzieren. Das faktische Bewußtsein, das
ist ein bestimmter Bewußtseinsverlauf in phänomenologischer Re-
20 duktion. Selbstverständlich, Wesensgesetze begrenzen die Möglich¬
keiten für ein bestimmtes absolutes Bewußtsein überhaupt, aber sie
lassen unendlich viele Fakta, unendlich viele Konstellationen fak¬
tischen Bewußtseins offen.
Nun ist noch eine Art der Erwägung des faktischen Bewußtseins
25 unter apriorischen Gesichtspunkten (unter transzendentalen) von
Wert, die bisher nicht in Frage kam.
Die transzendentale Phänomenologie erwägt die Möglichkeit der
Natur und die Wesensmöglichkeiten des Bewußtseins für eine Kon¬
stitution von Natur (möglicher Natur, Natur überhaupt). Es ergeben
30 sich nun aber folgende Richtungen neuer Forschungen:
Die Natur ist ein Faktum, oder sagen wir: sie ist eine Tatsache, und ihr
entspricht der absolute Bewußtseinsverlauf, in dem sich die Natur
faktisch konstituiert; dieser ist ein Faktum. Nun kann man transzen¬
dental erwägen, ob die Natur als ideale Möglichkeit die einzige
35 ideale Möglichkeit ist, die durch das Wesen des Bewußtseins vorge¬
zeichnet ist. Das will besagen: Wir gehen zunächst in der transzen¬
dentalen Phänomenologie aus von der gegebenen Natur, der Natur,
die wir in der Naturwissenschaft erkennen, oder von der Welt, die
uns in gemeiner Erfahrung gegeben ist. Wir stellen sie ins Phänomen,
40 wir vollziehen die phänomenologische Reduktion. Wir erforschen nun
ihre transzendentale Konstitution. Wir betrachten die Elemente des
konstituierenden Bewußtseins, also die verschiedenen transzendenta¬
len Akte, Wahrnehmung, Erinnerung usw., und verfolgen die Kon¬
stitution von Ding, Raum, Zeit, Bewegung usw. Diese „Elemente des
45 reinen naturkonstituierenden Bewußtseins” sind die gegebenen Be¬
wußtseinsessenzen. Langen sie nun bloß zur Konstitution dieser
möglichen Natur, die faktisch Natur ist?
BEILAGEN 391
Wir können die faktische Natur nehmen als Natur der gegebe¬
nen Naturwissenschaft. So soll es nicht gemeint sein, sondern Natur
im Sinn der „reine n” Naturwissenschaft. Das ist eine Idee.
Aber ist diese nicht eine in einer Reihe möglicher Ideen? Jeder ent-
5 spricht nach dem Grundgesetz der Korrelation eine mögliche Be¬
wußtseinskonstitution. Handelt es sich hier nicht um wissenschaftlich
erwägbare Möglichkeiten, und nicht bloß um leere Möglichkeiten?
Beispielsweise: Vor der Natur im Sinne der reinen Naturwissenschaft
liegt die Natur der gemeinen Naturauffassung. Die Dinge der Natur
10 gelten als mit den verschiedenen sinnlichen Qualitäten begabt, und
diese konstituieren sich in „unserer” Sinnlichkeit (d.h. in absoluter
Betrachtungsweise: durch Empfindungen, die zu den bekannten
„Sinnen” gehören, Gesicht, Geruch usw.). Ist „unsere” Sinnlichkeit
die einzig mögliche? D.h.: sind nicht noch andere Sinne denkbar,
15 oder überhaupt ein Bewußtsein mit durchaus anderen Sinnen? Offen¬
bar; sonst könnten wir ja auch nicht empirisch den Begriff von Far-
benblindheit usw. für zulässig halten.
Es ist dabei leicht einzusehen, daß sich auf Grund einer ganz an¬
deren Sinnlichkeit als der unseren (nicht im Kantischen Sinne ver-
20 standen, sondern nur so, daß die Sinne ganz andere wären, wofür sie
nur gewisse Zuordnungsbedingungen erfüllen würden, mathematisch¬
formale ; dieselben Spezies-Mannigfaltigkeiten hier und dort) die¬
selbe reine Natur konstituieren könnte. Das sind nur leere Möglich¬
keiten, aber immerhin, daß sie bestehen, muß festgestellt werden.
25 Ferner: a) Völlig leere Möglichkeiten, die zu nichts weiter nütze
sind, liegen darin, daß neben „unseren” auch noch völlig andere,
unbekannte Apperzeptionsgattungen (Gattungen von Anschauungen),
Gattungen von Denkakten und Gattungen von Bewußtsein sonstiger
Form bestehen könnten.
30 ß) Nehmen wir nun aber wie oben dieselben Apperzeptionsarten,
dieselben Gattungen der Intuition, des Denkens usw. an. Dann fragt
es sich, ob nicht in ihnen apriorische Möglichkeiten für die Konsti¬
tution sehr verschiedener Sorten von „Natur” liegen.
In „unserer Erfahrung” konstituiert sich der dreidimensionale
35 Raum, jedes Ding erscheint räumlich, und dieser erscheinende Raum
bestimmt sich geometrisch als euklidischer. Aber führt die Analyse
der Dingwahrnehmung nicht vielleicht auf Elemente der Intentionali¬
tät, durch deren Wesen auch noch andere Möglichkeiten denkbar
werden (worin nicht liegt, daß wir die empirische Fähigkeit haben
40 müssen, in unserer Phantasie diese denkbaren Möglichkeiten intuitiv
zu realisieren). Läßt sich also nicht eine vier- oder w-dimensionale
Dinglichkeit denken? D.h. als eine mögliche, sich in einem möglichen
Bewußtsein konstituierende ?
y) Wie steht es mit der Kausalität der Veränderungen? Wäre es
45 nicht denkbar, daß unter Voraussetzung „unserer” Ding-Intuitionen,
unserer Wahrnehmungen und Wahmehmungszusammenhänge, ihr
Typus festgehalten, sich keine von strenger Kausalität durchherrschte
392 ERGÄNZENDE TEXTE
Natur konstituierte? Ließe sich nicht denken, daß, wie es die Welt¬
ansicht des gemeinen Verstandes ist, ,,Dinge uns vor Augen stünden",
eine Welt ganz so, wie es faktisch statthat, aber keine naturwissen¬
schaftliche Analyse und Theoretisierung der sinnlich erscheinenden
5 Natur möglich wäre, die auf eine Natur im Sinne der exakten Natur¬
wissenschaft führte, vielmehr eine Natur, die, statt unter exakten
Gesetzen, und überall unter exakten Gesetzen <zu stehen> (denen
jede Veränderung untersteht), vielmehr eine Natur mit ungefähren
Regelmäßigkeiten und mit Sphären des ,.Zufalls" <wäre>?
10 Das mag genügen. Sagt man in Bezug auf das letzte Beispiel, um
das noch fortzusetzen, das wäre gar keine ,,Natur", es gäbe dann keine
„Naturwissenschaft", so dürfen wir in keinen Wortstreit verfallen.
Jedenfalls ergibt sich das Problem, die Idee der gegebenen Na¬
tur fest zu umgrenzen (durch die Ontologie), daraus als ein All-
15 gemeines durch Abstraktion die Idee einer Natur überhaupt
(in exaktem Sinn, dessen höchstes Ideal hier gemeint ist) zu umgrenzen
und dann andererseits die Ideen weiter zu differenzieren; also
1.) die Idee einer exakten Natur im allgemeinsten Sinn in ihre
möglichen Artungen auseinanderzulegen;
20 2.) die Idee einer Welt, einer Dingmannigfaltigkeit, die eine ge¬
wisse Einheit noch besitzt, zu definieren (die übrigens allgemeiner
wäre als die einer exakten Natur) und mm wieder die Möglichkeiten zu
erforschen, die bestehen, wenn wir die Idee der Exaktheit fallen
lassen;
25 3.) schließlich auch die Möglichkeit zu erwägen einer Konstitution
von Dingen, die eine Mannigfaltigkeit ohne Einheit bilden, inwieweit
dergleichen einheitslos denkbar ist.
Also exakte Natur überhaupt, Welt überhaupt, Dinge Vielheit über¬
haupt; jede weitere Stufe ist eine Stufe größerer Allgemeinheit. Und
30 dabei bestehen diese drei Möglichkeiten auch unter der begrenzenden
Voraussetzung, daß es sich um ein Bewußtsein handelt, das begabt ist
mit „unserer Sinnlichkeit”, unserem Wahrnehmen, Erinnern usw.,
unserem Denken, kurz mit den phänomenologisch unterschiedenen
Grundgestaltungen von Akten (Bewußtseinsarten).
35 Die transzendentale Phänomenologie als reine Wesenslehre des
Bewußtseins läßt vielerlei Möglichkeiten offen, aber eine Natur ist
wirkliche Natur, faktisch. Gemäß der transzendentalen Phä¬
nomenologie bestehen nicht nur verschiedene Möglichkeiten, sondern
auch d i e Möglichkeit, daß faktisch verschiedene „Naturen inein-
40 ander übergehen”, daß faktisch in der Einheit eines faktischen Be¬
wußtseins eine Strecke lang eine sinnliche Natur von dem und dann
wieder eine sinnliche Natur von jenem Sinnlichkeitsgehalt (intuitiv)
erscheint, daß streckenweise einmal eine exakte und das andere Mal
eine vage Natur oder Welt sich konstituiert, daß es für das Bewußt-
45 sein nicht eine Natur, eine und immer mit sich identisch, eine ein für
allemal, „gibt"; also, objektiv gesprochen: daß es überhaupt nicht
gesagt werden kann, ein für allemal, es gibt schlechthin eine Natur.
BEILAGEN 393
Wir meinen: die Natur („unsere”) sei schlechthin, sei an sich, und
was besagt das? Das besagt, der Lauf des Bewußtseins, der unsere
Anschauung und unsere Erkenntnis heißt (die eigene und kommuni¬
kative), ließ eine Wissenschaft erwachsen, und in dieser Wissenschaft
5 steht die Natur als eine da. Natürlich, die eine Natur ist die allein
begründete: sie ist ja das Korrelat einer wirklichen Wissenschaft.
Aber gibt es absolute Gewißheit, daß die Wissenschaft immerfort
gelten muß? Vielleicht, daß sich das Bewußtsein ändert (seine Wesens¬
gestaltungen sind „ewig”, sind apriorisch, aber nicht seine faktischen
10 Gestaltungen), daß die Natur, sei es durch Medien des Zufalls, sei es
stetig, übergeht in neue Naturen. Mag dabei das Ich seine Identität
nicht aufrechterhalten können, das Ich ist selbst Bestandstück der
Welt und konstituiert sich im Zusammenhang mit der physischen
Natur. Muß es immerfort Ich und physische Natur geben, kann
15 Bewußtsein nicht in ein Gewühl von Gestaltungen zerfallen ?
Überlegen wir dazu folgendes. Gehen wir von der faktischen Natur
und dem faktischen Bewußtsein aus, so besteht das phänomenolo¬
gische Apriori bloß in den Essenzen der Bewußtseinsarten und den
in diesen Essenzen gründenden Möglichkeiten und Notwendigkeiten
20 a priori. Das Faktische ist der Lauf des Bewußtseins. Das gilt in
jedwedem Fall, mag das Bewußtsein zur Konstitution einer exakten
Natur, und zwar unserer Natur, auslangen und diese auch fordern
oder nicht. Genauer überlegt: So und so laufen unter anderem Be¬
wußtseinsgehalt gewisse Wahrnehmungen, Erfahrungen, Urteile usw.
25 ab, und liefen sie ab. In ihnen lebend, wurden die und die Dinge und
dinglichen Veränderungen wahrgenommen, die und die Vermutungen
vollzogen, die und die Begründungen, so und so ergab sich vernünftig
eine Natur, <wurden> die bestimmten Dinge so und so naturwissen¬
schaftlich erklärt usw. Natürlich: würden Erscheinungen anders ver-
30 laufen, so erschiene das Ding ruhig, das bewegt erscheint, und um¬
gekehrt, u. dgl. Aber auch das ist klar, daß Erscheinungen und Be¬
wußtseinsgestaltungen überhaupt in bestimmter Weise ver¬
laufen müssen, damit Vernunft ihnen eine Natur, und zwar die
Natur soll unterlegen, hineindeuten können. Vor der transzendentalen
35 Phänomenologie ist es also ein Faktum, daß der Bewußtseinsverlauf
gerade so geartet ist, daß sich in ihm als eine „rationale” Einheit eine
Natur konstituieren kann. Nicht darum handelt es sich, ob im Be¬
wußtseinsverlauf Akte des auf objektive Erkenntnis abzielenden
Denkens und Erkennens auftreten oder nicht: sie können natürlich
40 nur auftreten, wenn der übrige Bewußtseinsverlauf nach Seiten der
Anschauungen, der Unterscheidungen, Identifikationen, der Prädika¬
tionen usw. von gewisser Art ist, nämlich so,daß er Naturer¬
kenntnis motivieren kann. Nun könnte man vielleicht sagen: Jeder
faktische Bewußtseinsverlauf kann eingeordnet gedacht werden einem
45 umfassenden Bewußtsein, in dem sich alles notwendig wieder in
rationale Harmonie auflöst, so daß es zum Wesen des Bewußtseins
gehört, in sich immer und notwendig eine Natur konstituieren zu
394 ERGÄNZENDE TEXTE
können. Nicht darauf kommt es an, ob irgendein Quallenbewußtsein
so abläuft, daß darin (an und für sich genommen) nichts von jener
Regelmäßigkeit, jener Zueinanderpassung der und jener Akte statthat,
die einer Erkenntnis die notwendigen Motivationsunterlagen gäbe;
5 sondern darum <geht es), daß dieses armselige Bewußtsein in einen
umfassenden Bewußtseinszusammenhang einzuordnen ist, der nicht
mehr armseliges sondern rationales Bewußtsein ist, ein Bewußtsein,
das in seiner vollen Umspannung die Motivation für die Konstitution
einer Natur enthält, die somit jeweils d i e Natur ist.
10 Aber wo hegen die Wesensgründe für solche Annahmen? Gibt es
noch andere Quellen der Begründung als das phänomenologische
Apriori? Sollen die logischen Gesetze herhalten? Die transzendentale
Phänomenologie reduziert diese Geltung auf Wesenszusammenhänge,
auf Zusammenhänge möglichen Bewußtseins, dessen Möglichkeiten
15 gegeben sind. Logische Gesetze gelten sicherlich absolut, ihr Aprio¬
risches weist sich phänomenologisch aus. Sicherlich liegen auch in den
logischen Gesetzen die Quellen aller methodischen Normen. Aber
logische Gesetze allein tun es doch nicht. Sie gestatten es faktisch, im
faktischen Ablauf des Bewußtseins eine Natur methodisch zu erkennen,
20 eine Natur, die sich gar vernünftig gebärdet; aber warum müssen
logische Gesetze ein Feld der Anwendung haben ? In einer fak¬
tischen Natur? Die transzendentale Logik, als transzendental auf das
Bewußtsein zurückgeführte, enthält die Gründe zu einer möglichen
Natur, aber nichts von einer faktischen.
25 Diese Faktizität ist das Feld nicht der Phänomenologie und Logik,
sondern das der Metaphysik.
Das Wunder ist hier die Rationalität, die sich im absoluten Bewußt¬
sein dadurch erweist, daß sich in ihm nicht nur überhaupt irgendet¬
was konstituiert, sondern daß sich eine Natur konstituiert, die
30 Korrelat einer exakten Naturwissenschaft ist. Was ist das für eine
Rationalität? Sie besteht, könnten wir sagen, darin, daß nicht bloß,
wie selbstverständlich, eine Korrelation besteht zwischen Bewußtsein
und Gegenständlichkeit, sondern daß eine Korrelation besteht zwi¬
schen dem faktischen Bewußtsein und Erfahrungswissenschaft.
35 Das faktische Bewußtsein, so wie es dahinfließt, immer neue Ge¬
staltungen in sich aufnimmt und wieder dahingibt, so wie es in abso¬
luten Bewußtseinseinheiten („individuellen Bewußtsein”) sich ver¬
teilt, die in sich ohne Bewußtseinsvermittlungen sind, ist von festem
Gehalt und Verlauf insofern, als darin nicht alle Bewußtseinsgestal-
40 tung auftreten kann, die phänomenologisch möglich ist (nicht alles,
was das Wesen und <die> Wesensgesetze offenlassen), sondern daß aus
der Unendlichkeit phänomenologischer Möglichkeiten eine bestimmte
Auswahl getroffen ist, und zwar eine solche, daß sich im Bewußtsein
so eine Welt konstituiert, daß diese Welt in Form strenger Wissen-
45 schäften faßbar ist, bestimmbar ist. Aber was leistet nun strenge
Wissenschaft? Oder vielmehr: Wie charakterisiert sich eine „Welt”,
von der es eine Wissenschaft im strengen Sinn geben kann ?
BEILAGEN 395
Es handelt sich also darum, die Idee einer Natur in einem
gewissen einer mathematischen Naturwissenschaft korrelativen Sinn,
und auch die Idee einer erscheinenden Natur als eines gewissen Kos¬
mos, welcher Korrelat der morphologischen Natur- (und Geistes-)
5 Wissenschaft ist (also einer Natur, die sich nicht in physikalischer
Theoretisierung sondern in deskriptiv ,,naturgeschichtlicher” Be¬
trachtung der sinnlich erscheinenden Dinge <darstellt>, sich immer
wieder morphologisch in Gattungen, Arten usw. gliedert und zu mor¬
phologischen Wissenschaften Möglichkeit gibt) zu entwerfen.
10 So ist denn faktisches Bewußtsein geartet, daß sich in ihm eine
solche Natur konstituiert: ein rationaler Kosmos.
Beilage XXI (zur 27. Vorlesung): <Kant und die Philosophie des
Deutschen Idealismus.> *)
<Die Räumlichkeit den Dingen an sich als realen Charakter) zu¬
schreiben, das hieße, ihnen ohne leisesten Anhalt eine Verdopplung der
zu unserer Subjektivität und zu unseren Erscheinungen gehörigen
15 Formen an dichten.
Genau so verfährt Kant hinsichtlich der Zeit, die, ev. zusammen
mit dem Raum, Grundlage ist für die apriorischen Disziplinen von der
Zahl, von der reinen Bewegung und so überhaupt für mathematische
Disziplinen. Die Möglichkeit solcher Disziplinen und die Möglichkeit
20 ihrer objektiven Gültigkeit gründet in der transzendentalen Konstruk¬
tion, daß die Zeit menschliche Anschauungsform ist und daß alles ge¬
genständliche zeitliche Sein in der menschlichen Subjektivität seine
Gestaltungsquellen hat.
Sehr viel schwieriger ist die Kantische Ausführung der transzen-
25 dentalen Analytik, in der die gleichen Doppelprobleme für die aprio¬
rischen Gesetze der „reinen” Naturwissenschaft transzendental gelöst
werden sollen. Die synthetischen Urteile, die hier auftreten, sind keine
solchen, die aus einer reinen Anschauung geschöpft sind, so daß ihre
Leugnung anschauliche Unvorstellbarkeit mit sich führte. Für sie
30 sind keine weiteren Anschauungsformen aufweisbar der Art, wie es
Raum und Zeit sind, die eine Herstellung der Synthese erzwingen
könnten. Hier treten Begriffe wie Ursache und Wirkung, materielle
Substanz und Akzidens auf. Was die kausalen Begriffe anlangt und
ihre Verknüpfung in der Erfahrung, so hatte H u m e schon gezeigt,
35 daß die Zusammengehörigkeit von Ursache und Wirkung nicht an¬
schaulich gefordert ist, da wir jederzeit einen anderen Verlauf der
Anschauungen als den kausalen uns anschaulich vorstellen können.
Es ist nicht so, wie in der Raumsphäre, wo n u r die den geometri¬
schen entsprechenden Gestaltungen und Relationen anschaulich voll-
40 ziehbar sind. Die zur neuen Sphäre gehörigen Begriffe sind also nicht
„ästhetische”, d.i. Formen der Sinnlichkeit ausdrückende, die die
Subjektivität als sinnlich bestimmte notwendig aus sich her gibt,
l) etwa 1915. — Anm. d. Hrsg.
396 ERGÄNZENDE TEXTE
sondern ,,reine Verstandesbegriffe”, Begriffe, die aus dem Vermögen
des Verstandes, und rein aus ihm herstammen, demselben Vermögen,
das als analytisch-logischer Verstand sich betätigt, wie Kant speziell
nachzuweisen sucht. Kant nennt sie die Kategorien. Auf die
5 Frage nun, was das Prinzip ihrer Synthese ist im „rein” naturwissen¬
schaftlichen Denken, das, wonach sich dieses verknüpfend richtet,
antwortet Kant mit folgender Theorie:
Das Ich ist Subjekt des Empfindens und, in transzendentalästhe¬
tischer Notwendigkeit, des raum-zeitlichen Anschauens und hat als
10 solches Mannigfaltigkeiten von Vorstellungen; die könnten, an und
für sich betrachtet, als ein bloßes Gewühl durcheinandergehen, ohne
die eigentümliche Ordnung und Organisation aufzuweisen, die sich
damit ausdrückt, daß unsere Wahmehmungsvorstellungen Erfahrun¬
gen sind von Objekten, von Dingen. Darin drückt sich m.a.W. eine
15 gewisse Regelung unserer Vorstellungen aus, eine gewisse Gruppierung
derselben derart, daß jeweils Mannigfaltigkeiten möglicher Vorstel¬
lungen eine einheitlich verknüpfende Apperzeption erfahren, in der
sie aufgefaßt sind als Erscheinungen von einem und demselben Gegen¬
stand. Blicken wir in diesem Zimmer umher, so laufen Empfindungs-
20 reihen ab; sie könnten ganz anders laufen; doch die Empfindungen
sind immerfort und notwendig räumlich-zeitlich extendierte, wir ha¬
ben sinnlich qualifizierte Raumgestalten als Bilder. Aber auch diese
könnten ganz beliebig verlaufen; de facto aber bestehen geregelte
Anschauungsabläufe, und begleitet von synthetischen Apperzeptionen,
25 in denen bei allem Wechsel der zugehörigen Anschauungsbilder das
Bewußtsein besteht und sich durchhält: Es ist der oder jener einheit¬
liche objektive Gegenstand erfahren, erscheint immerfort, bald in die¬
sem, bald in jenem materiellen Zustande. Ein beliebig empfin¬
dendes und anschauendes Subjekt hätte also keine Objektwelt sich
30 gegenüber, und wäre es dabei zugleich denkendes Ich, Verstandestätig¬
keiten übendes Ich, so könnte es, abgesehen von bloß analytischen
Urteilen, empirische Urteile bloß subjektiv gültiger Art fällen, näm¬
lich über seine zufälligen Vorstellungen und Vorstellungsverläufe, über
die momentanen Bilder, die nichts bedeuten könnten als sich selbst.
35 Die Urteile des einen Ich wären für ein anderes Ich bedeutungslos; denn
jedes Ich hätte sein Vorstellungsgewühl, aber keines hätte eine Ahnung
von einer Objektwelt, d.i. hätte ein Erfahrungsbewußtsein, in dem
Objekte erschienen; geschweige denn, daß die vielen Subjekte, sich
miteinander verständigend, über eine gemeinsame Objektwelt, und
40 zwar eine übereinstimmende, eben auf dieselben Objekte bezogen
urteilen könnten.
So wäre es also, wenn ein Ich ohne jene objektivierende Synthesis
der Vorstellungsbilder gedacht würde, falls es als das denkbar ist.
Dann gäbe es also auch keine Naturwissenschaft; denn diese spricht
45 nicht Urteile über bloße Empfindungen, bloße Phantome und bloße
subjektive Vorstellungen aus, sondern über erfahrene und erfahrbare
Objekte, sie setzt also voraus Subjekte, die geregelte Mannigfaltig-
BEILAGEN 397
keiten von Vorstellungen in vereinheitlichenden Erfahrungsapper¬
zeptionen zu Erfahrungseinheiten verknüpfen, sie synthetisch ver¬
binden im Bewußtsein der Identität erfahrener Objekte: also Trägem
von objektiven Eigenschaften, Beziehungspunkten von objektiven
5 Relationen, Substraten von objektiven, realen Vorgängen. Das alles
sind nicht bloß Vorstellungen, sondern in apperzeptiven Auffassungen,
genannt „dingliche Erfahrungen”, erfahrene Objekte, identifizierbar,
subjektiv und intersubjektiv, auf Grund mannigfaltiger Vorstellungen.
Ausschließlich auf Objekte beziehen sich natürlich die synthetischen
10 Urteile a priori der „reinen” Naturwissenschaft. Kausalität ist Kau¬
salität der Natur, und nicht etwas die bloß subjektiven Impressionen
Angehendes; und dasselbe gilt für alle sonstigen Kategorien.
Kant führt mm den ihm eigentümlichen Terminus „Synthesis”
ein, nämlich so nennt er die im Subjekt sich vollziehende Leistung
15 jener apperzeptiven Vereinheitlichung, wonach Mannigfaltigkeiten
von Vorstellungen im Bewußtsein selbst die Bedeutung erhalten als
die zur Einheit eines identischen äußeren Objekts zusammengehörigen
Erfahrungen von eben diesem Objekt.
Das Subjekt formt also nicht nur in seiner Sinnlichkeit das empfan-
20 gene sinnliche Material gemäß den festen Formen Raum und Zeit zu
empirischen Anschauungen, sondern es apperzipiert gruppenweise
Mannigfaltigkeitsanschauungen so, daß sie die Einheit der Synthesis
gewinnen, daß sie den Charakter von Erfahrungen eines und desselben,
in diesen empirischen Anschauungen nur wechselnd erscheinenden
25 realen Dinges annehmen. (In Kantischer Terminologie ist dieses
Objekt nicht bloß angeschaut, sondern erfahren).
Es ist nun freilich die Frage: Wie wird diese Synthesis derart ge¬
leistet, daß wirklich einstimmige Objekte erfahrbar werden und daß
eine naturwissenschaftliche Wahrheit erkennbar wird gegenüber even-
30 tueller Falschheit? Es liegt nahe, zu sagen: der Verstand <leistet das);
doch das ist zunächst nur eine Rede, die nichts verständlich macht.
Überlegen wir etwas näher, was zu einem Ich als Ich unabtrennbar
gehört.
Wir Menschen schreiben uns ein Vermögen der Empfindung und
35 Anschauung, mit einem Worte, Sinnlichkeit zu, aber auch Verstand,
wir haben das Vermögen, Begriffe zu bilden und mittels derselben zu
urteilen. Da Sinnlichkeit das Vermögen ist, affiziert zu werden, und
Affektion etwas Zufälliges ist, so sieht Kant sie als dem Ich-Subjekt
als solchem außerwesentliches Vermögen an. Kant ist die Sinnlichkeit
40 mitsamt der Gesetzmäßigkeit raum-zeitlicher Formung nur zur fak¬
tischen Ausstattung menschlicher Subjektivität gehörig, aber nicht
zu jeder Subjektivität überhaupt. Ganz anders verhält es sich mit dem
Vermögen des Denkens, dem Verstände. Solange ich überhaupt ein
Ich bin, möge ich auch keine Sinnlichkeit oder eine ganz andersartige
45 haben, muß ich sagen können: Ich denke. Kategorien sind reine Denk¬
begriffe, die im synthetischen Gebrauch objektive Erkenntnis möglich
machen. Ein reines Denken, das nichts von Sinnlichkeit enthielte.
398 ERGÄNZENDE TEXTE
läge vor, wenn wir in den kategorialen Urteilen der reinen Natur¬
wissenschaft von aller Beziehung auf raum-zeitliche Erscheinungen
abstrahierten. Wonach richtet sich nun aber das Ich eines reinen Ich-
denke, wenn es die im reinen Verstände entsprungenen Kategorien zu
5 diesen synthetischen Urteilen verknüpft ? Die Antwort lautet: als Ich
bin ich notwendig denkendes Ich, als denkendes denke ich notwendig
Objekte, ich beziehe mich denkend notwendig auf eine seiende Ob¬
jektwelt; und weiter: So geartet ist das reine Subjekt, das Subjekt der
rein im Verstände vollzogenen Ich-Leistung, daß es sich als identisches
10 nur erhalten kann, wenn es die gedachte Objektivität immerfort als
mit sich identische in allen seinen Denkverläufen durchhalten kann.
Ich erhalte meine, des Subjekts, Ich-Einheit nur, sofern ich in meinem
Denken einstimmig bleibe; d.h.: habe ich irgendetwas, ein Objekt,
einmal gesetzt, so muß ich bei jeder weiteren Denksetzung dabei
15 bleiben; diese muß so sein, daß mein Objekt für das Denken immer¬
fort als identisches fortgelten kann und muß. Weiter glaubt Kant
nachweisen zu können: Die Kategorien sind die Begriffe, durch welche
das reine Ich seine korrelative, von ihm geforderte Objekt weit denken
muß: will es sie einstimmig denken bzw. sich als identisches Verstaudes-
20 Subjekt bewähren, so muß es die Objekte gemäß den kategorialen
Grundgesetzen denken. Diese synthetischen apriorischen Sätze spre¬
chen also die Bedingungen der Möglichkeit dafür aus, daß die ge¬
dachte Objektwelt eine identisch durchhaltbare sei. Also die zur Natur
des denkenden Ich gehörige Notwendigkeit konsequenter Richtung
25 auf die als identisch von ihm gesetzte und geforderte Objektwelt
bestimmt es, die kategorialen Synthesen der Art der rein naturwissen¬
schaftlichen Grundsätze zu vollziehen.
Aber wie steht es mm mit der Geltung dieser Grundsätze, dieser
rein naturwissenschaftlichen Prinzipien für die faktisch gegebene
30 Natur? Diese ist doch nicht durch reines Denken sondern durch Er¬
fahrung gegeben; sie setze ich doch nicht als bloß denkendes, son¬
dern als anschauendes, erfahrendes Ich. Was kümmert sich die Natur
um Bedingungen der Erhaltung meines Verstandes-Ich und seiner
Konsequenz? Und was haben die Kategorien, die im puren Verstände
35 entspringen, mit der Erfahrung, mit dem Vermögen der Sinnlichkeit
zu tun, wie können sie da Anwendung finden ? Nun lautet die Antwort:
Erfahren ist nicht bloß Empfinden und räumlich-zeitliche Formen,
also Anschauen. Dann hätte ich noch keine Objekte für mein Bewußt¬
sein. Objekte habe ich durch jene Synthese, und die muß unbedingt
40 als eine verborgene Leistung des Verstandes betrachtet werden.
Erfahren ist Denken, empirisches Denken. Das denkende Ich, das
zugleich empfindendes und anschauendes ist, kann als denkendes
nicht anders, als die Objektivität, die es fordern muß, den Empfin-
dungs- und Anschauungsmaterialien einzuprägen.
45 Das tut es, indem es Synthesis übt, aus dem blinden Gewühl der
Empfindungen und dem sinnlosen Verlauf geformter Anschauungen
verstandesmäßige Einheiten gestaltet, Einheiten, bei denen es sich in
BEILAGEN 399
konsequenter Weise immerfort als denkendes Ich fortbetätigen kann.
Es schafft sich Erfahrungsobjekte, die in höherer Stufe logische Sub¬
jekte für objektiv gültige Prädikationen werden können. Die Katego¬
rien drücken die Typen der im verborgenen vollzogenen Denksyn-
5 thesen aus.
Das Denken in Form der mathematischen Naturwissenschaft ist
ein Denken über diese Objekte gemäß den kategorialen Grundsätzen;
diese drücken die Bedingungen der Möglichkeit dafür aus, daß Ich, der
Denkende, mich als einstimmig Denkender verhalten und somit die
10 gegebene Objektwelt als identische durchhalten kann.
Die vermeintlich passiv gegebene Natur, über die die Naturwissen¬
schaft hinterher urteilt, ist schon ein Gebilde des Verstandes, und die
Objektivierung setzt sich nur fort und vollzieht sich in vollkommener
Weise erst in der höheren Stufe des — freilich endlosen — naturwissen-
15 schaffliehen Denkens.
„Objektivität”, „Natur” — das ist also eigentlich ein Formen¬
system, das im reinen Verstände liegt, so wie Raum und Zeit Formen
der Sinnlichkeit sind. —
Die Frage: Wie sind die synthetischen Urteile a priori der reinen
20 Naturwissenschaft möglich?, ist damit beantwortet: Diese Urteile
müssen, obschon im reinen Verstände entsprungen, doch notwendig
von der Natur gelten, weil die Natur nichts weniger ist als ein vor dem
Verstandes-Walten gegebenes Sein-an-sich, vielmehr sie ist selbst
nichts als die in der Verstandesgestaltung der Anschauung konsti-
25 tuierte Natur. Die Welt dieses empirischen Verstandes birgt eben den
reinen Verstand gleichsam als Form in sich. Die reinen Verstandes¬
gesetze richten sich nicht nach einer vorgegebenen Natur, sondern der
Verstand ist es, der der Natur, sofern er sie auf Grund der Sinnlichkeit
selbst gestaltet, seine Gesetze vorschreibt.
30 Die Idee der Natur überhaupt, welche die reine Naturwissenschaft
umschreibt, ist nicht ein Bild einer bewußtseinstranszendenten Natur,
sondern die Idee einer Form, die im denkenden Ich liegt und der
gemäß dieses Ich sich dann auch in concreto als formendes betätigen
muß.
35 Für die metaphysische Interpretation der Natur ergibt sich da: Die
Naturwissenschaft, die reine wie die empirische Naturwissenschaft,
ist keine Wissenschaft einer Natur im Sinne bewußtseinsfremder Dinge
an sich, sondern eine Wissenschaft der erfahrenen Natur, die
ein im Walten der Anschauung und des Verstandes synthetisch kon-
40 stituiertes Gebilde unserer Subjektivität ist. Sofern jedes Subjekt
diese selbe apriorische Struktur hat, kann nun, und muß jedes objek¬
tive Natur-Urteil für jedes denkende und erfahrende Subjekt gelten.
Die wissenschaftliche Objektivität ist gleich einer apriorisch begrün¬
deten notwendigen Subjektivität; diese Subjektivität ist eine zu jedem
45 Menschen-Ich gehörige unaufhebbare Form: das ist also der Sinn des
„transzendentalen” Idealismus Kants = empirischer Realismus.
Damit ist aber zugleich die negative Beantwortung der Frage nach
400 ERGÄNZENDE TEXTE
der Möglichkeit synthetisch-apriorischer Urteile, die eine transzen¬
dente Metaphysik (eine supematurale) begründen sollen, gegeben. In
reinen Begriffen zu denken, das kann keine Erkenntnis von Reali¬
tät gewähren; weder wenn wir analytisch denken, was ja keine Er-
5 kenntniserweiterung liefert, noch wenn wir synthetisch, also gemäß
kategorialen Grundsätzen denken. Gerade das war die Art der onto¬
logischen Metaphysik gewesen, daß sie kategorialen Begriffen tran¬
szendente Bedeutung gegeben hat und glaubte, in reinen Kategorien
denkend Erkenntnis des Seins an sich gewinnen zu können; also über
10 das absolute Sein der Natur, der Materie, des Geistes, über Gott, Gottes
Schöpfung usw. Aber wir Menschen können nur denken, wo wir vorher
angeschaut haben, objektive Bedeutung können Kategorien nur
gewinnen, also Beziehung auf eine faktische Welt, wenn diese uns
gegeben ist, durch Erfahrung. Aber dann haben wir es mit der
15 Erscheinungswelt, der Natur im Sinne der Naturwissenschaft zu tun.
Eine apriorische theoretische Metaphysik ist ein Hirngespinst.
Ganz allgemein: Objektive Wissenschaft ist nur möglich im Reich
möglicher Erfahrung; nur für dieses Reich ist transzendentalphiloso¬
phisch die Möglichkeit der Erkenntnis herausgestellt und herausstell-
20 bar. Das absolut transzendente Sein-an-sich ist unerkennbar. Meta¬
physik ist keine Wissenschaft.
Genauer gesprochen: sie ist keine mögliche theoretische
Wissenschaft, rein theoretisch gibt es da nichts zu erkennen. Dagegen
auf den Wegen der praktischen Vernunft können wir
25 doch in das Reich der Transzendenz im Kantischen Sinn eindringen.
Kant sucht zu zeigen: daß das Sittengesetz ein absolutes
Faktum der praktischen Vernunft ist, dessen Gültigkeit wir nicht
leugnen können, als sittliche Menschen. Was nun als Bedingung der
Möglichkeit aktueller praktischer Vernunft, also der Notwendigkeit
30 des Sittengesetzes gefordert ist, das müssen wir glauben: und so sucht
Kant zu zeigen, daß das Sein Gottes, die Willensfreiheit, die Unsterb¬
lichkeit, eine Welt freier Vernunftgeister hinter der Sinnenwelt
Postulate der reinen praktischen Vernunft sind.
Kritik von Kants Theorie der Erfahrungserkenntnis.
35 Die Hauptlinien der Kantischen Gedankenführung, die ich nach¬
gezeichnet, sind ausgefüllt mit höchst interessanten, obschon immer¬
fort schwer verständlichen Einzelausführungen und Zwischenunter¬
suchungen. Fügen wir nun einige Kritik bei, die Kants überaus tief¬
sinnige und gedankenschwere Theorien zu unseren bisherigen Betrach-
40 tungen in Beziehung setzen.
Ist Kants Transzendentalphilosophie wirklich im letzten Sinn kri¬
tische Philosophie? Ist sie, die so energisch den Dogmatismus be¬
kämpft, nicht selbst mit dogmatistischen Voraussetzungen behaftet?
Die Möglichkeit transzendenter Erkenntnis ist für Kant das Problem,
45 in allen seinen Fragen der synthetisch-apriorischen Möglichkeiten.
Nach unseren zweifellosen Feststellungen fordert die Lösung der
BEILAGEN 401
transzendentalen Probleme, daß in radikaler Entschiedenheit alle
Bewußtseinstranszendenzen außer Spiel gesetzt werden müssen, daß
die Untersuchung auf den Boden des reinen Bewußtseins versetzt
wird, in dem die Welt aller Typen von Transzendenzen vertreten ist
5 durch die Noemata, mittels deren das erfahrende und denkende Sub¬
jekt in seinen Akten eine so und so bestimmte Welt vermeint. Kant
aber führt sein Grundproblem ein in Bezug auf den erkennenden
Menschen, mit seinen Vermögen der Sinnlichkeit und des Verstandes.
Er setzt ferner voraus die objektive Geltung der Naturwissenschaft
10 und damit das Sein der Natur — dagegen ist als Ausgang nichts ein¬
zuwenden —, stellt aber auch nachher das Problem nie auf den von
uns geforderten absoluten Beden, er macht sich nicht die Forderung
einer phänomenologischen Reduktion klar und was als reines Bewußt¬
sein in noetischer und noematischer Hinsicht erforschbar ist. Und nie
15 hat er die Möglichkeit einer reinen Wesensforschung in dieser Sphäre
erschaut, von der doch alles abhängt.
Dogmatistische Voraussetzungen Kants.
Besonders schädlich wirken die dogmatischen Voraussetzungen
nach der subjektiven Seite hin: das menschliche Subjekt <ist> immer-
20 fort vorausgenommen als Subjekt psychischer Vermögen.
Im Fortschritt der Untersuchungen und ihrer Ergebnisse erfahren
diese Voraussetzungen notwendige, aber ganz und gar ungeklärte
Verschiebungen; sie nehmen daher einen mythischen Sinn an, den
eine wirkliche philosophische Wissenschaft nicht dulden kann. Kant
25 hat vor Augen die exakte mathematische Naturwissenschaft. Nur die
gilt ihm als echte objektive Wissenschaft. Nur die Objektivität der
durch sie rational bestimmten Natur betrifft seine Problematik, eine
parallele echte Wissenschaft vom Geiste hat er nicht vor Augen und
erkennt er auch nicht an. Die naturwissenschaftliche Transzendenz
30 löst sich nach seinen Theorien auf in Leistungen der <die Natur) mit
Vermögen der Sinnlichkeit und des Verstandes formenden Subjek¬
tivität. Aber vorausgesetzt, und in einer durch keine nach¬
kommende phänomenologische Reduktion ausschaltbaren Weise, ist
dabei eben die Subjektivität, für die in der transzendentalen Methode
35 die mit irgendeinem Gehalt doch schon vorausgesetzten psychischen
Vermögen so umkonstruiert werden, daß die objektive Gültigkeit der
reinen und dann auch der faktischen Naturwissenschaft verständlich
werden kann.
Eine transzendentale Psychologie erwächst also,
40 die aus erkenntnistheoretischen Forderungen her konstruiert wird,
aber konstruiert auf Grund unklarer Voraussetzungen über die Sub¬
jektivität und ebenfalls mit Unklarheiten behafteter erkenntnistheo¬
retischer Forderungen. Kant sieht z.B., daß wie die Natur so
auch die Seele und das Subjekt personaler Eigenschaften dem
45 aktuellen Bewußtsein gegenüber eine Transzendenz ist; somit ist es
ein rechtmäßiges Problem, und ein mit der Naturtranszendenz ver-
Husserliana VII 26
402 ERGÄNZENDE TEXTE
flochtenes Problem. Beide Transzendenzen müssen in eins genommen
und als problematisch eingeklammert und nach ihrem Ursprung
erforscht werden. Nach ihrem Ursprung! Da stoßen wir auf ein
irreparables Grundgebrechen der Kantischen Philosophie und auf ihre
5 zufällige Zeitbedingtheit. Der Psychologismus, von dem sich bei aller
Verschiedenheit in der Beantwortung der Ursprungsfragen weder
der Rationalismus noch <der> Empirismus hatte befreien können, lebt
auch in Kant fort. Wenn die Kantianer unserer Zeit gegen diesen Vor¬
wurf heftig reagieren, so liegt es teils an den Umdeutungen, die sie mit
10 Kant vomahmen, teils aber daran, daß sie selbst die geforderte radi¬
kale Loslösung von allem Psychologismus nicht zu vollziehen ver¬
mochten. Man kann nicht die Erkenntnisvermögen, aus denen Kant
geometrische und kategoriale Begriffe und Grundsätze entquillen
läßt, als bloße fagons de parier hinstellen, da sonst Kants Darstellungen
15 ganz unverständlich werden. Andererseits, nimmt man sie als mensch¬
liche psychische Vermögen ernst, so unterscheidet sich die Kantische
Transzendentalphilosophie gar nicht radikal vom Hum e'sehen Skep¬
tizismus, soviel wertvoller sie und reicher sie unter dem Aspekt der
künftigen wahren Philosophie sonst auch ist. Eine wirkliche Philo-
20 sophie darf nichts in vager Allgemeinheit konstruieren, sie darf nur auf
dem Grunde eidetischer Intuition des reinen Bewußtseins konstruieren,
jede Konstruktion <muß> wesensgesetzlich und in reiner Evidenz be¬
gründet <sein>. Sie muß absolute Gegebenheiten aufweisen und aus dem
Aufgewiesenen in Schritten echter Rationalität die Möglichkeit von
25 transzendentem Sein und transzendent gerichteter Wissenschaft klar¬
legen. Kant entbehrt aber der Idee echter Rationalität, und, was damit
eins ist, es fehlt ihm der echte Begriff des Apriori, als der in der Wesens¬
intuition absolut gegebenen Wesensnotwendigkeit bzw. Wesensall¬
gemeinheit. Kant sagt: Notwendigkeit und ausnahmslose Allgemein-
30 heit seien die „Kennzeichen” des Apriori. „Kennzeichen”: sie sind
Kennzeichen des Ursprungs in der reinen Subjektivität, in der Sub¬
jektivität, sofern sie nicht in der Empfindung von außen affiziert ist.
Das ist transzendental-psychologische Konstruktion; es ist das
schlechte Erbteil der rationalistischen Traditionen. Nein, das echte
35 Apriori hat mit der Frage, ob das Subjekt affiziert ist oder nicht, ob es
Vermögen hat oder nicht, gar nichts zu tun.
Der echte Sinn des Apriori und apriorischer Urteile.
Was charakterisiert z.B. Urteile wie „2 < 3” als a priori gültig? In
der Antwort haben wir auf nichts weiter hinzublicken als auf den eigen-
40 tümlichen Sinn dieses Urteils, und den eigentümlichen Sinn aller
Urteile, der sich an diesem Exempel uns illustriert. Wir können so
beschreiben: Manche Urteile meinen eine generelle Sachlage, und zwar
so, daß in ihrem Sinn nicht die leiseste Wirklichkeitssetzung irgend¬
eines individuellen Faktums beschlossen ist. Weist sich die Wahrheit
45 dieser Urteile in der Einsicht aus, in einem Bewußtsein also, in dem
uns diese generelle Sachlage intuitiv zu voller Selbstgegebenheit
BEILAGEN 403
kommt, so sagen wir, diese Sachlage ist eine apriorische. Sie gilt
mit der in ihrem Sinn beschlossenen ,,imbedingten” Allgemeinheit.
Wir sagen dann weiter und sehen das selbst wieder vollkommen ein,
daß jeder faktische individuelle Einzelfall, der unter diese unbedingte
5 allgemeine Gültigkeit fällt, nicht nur als Faktum gilt, etwa sofern er
wahrgenommen ist, sondern „notwendig” gilt: die Negation ist nicht
nur falsch sondern eine Unmöglichkeit, ein Widersinn, Einzelfall
einer generellen und apriorischen Falschheit, die am bloßen Sinnes¬
gehalt hängt. Die Begriffsinhalte, die als Termini, als Sinneskerne
10 sozusagen solcher apriorischer Urteile auftreten (wie in unserem
Beispiele ,,2” und ,,3”) heißen Wesensbegriffe, sie implizieren selbst
natürlich nichts von individuellem Sinn und individueller Wirklich¬
keit. Um den falschen, psychologistischen Sinn von „Apriori” aus¬
zuschließen, nennen wir die Urteile dann auch Wesensurteile, sie
15 gründen in ihrer apriorischen Geltung in reinen Wesensbegriffen. Was
nun Kant anlangt, so kennt er, darin unter dem Vorurteil des logi-
zistischen Rationalismus stehend, nur eine Art echten Widersinnes,
nämlich den formal-logischen Widerspruch, den analytischen Wider¬
sinn. Demnach sieht er nicht, daß jedes echte synthetische
20 Apriori genauso wie jedes analytische in der Negation einen Widersinn
gibt und rein vermöge seines Sinnes absolut gilt. Für ihn sind die
synthetisch-apriorischen Urteile nicht Wesensallgemeinheiten und
-notwendigkeiten sondern drücken spezifisch menschliche Notwen¬
digkeiten der Geltung aus; sie sind gebunden an die Eigenart einer
25 faktischen Subjektivität, nach Art der menschlichen. Immer wieder
betont er das anthropologische Moment. Z.B. für uns Menschen, die
wir mit einer Sinnlichkeit ausgestattet sind und Materialien der sinn¬
lichen Affektion unweigerlich in unseren Raum- und Zeitformen
ordnen müssen, gilt die reine Geometrie. Nicht aber gilt sie
30 absolut, für jedes reine Subjekt/überhaupt; und so die ganze reine
Mathematik, auch reine Arithmetik.
Das ist grundfalsch, würden wir sagen. Jedes erdenkliche reine Ich,
das überhaupt die betreffenden Begriffe hat, das solche Bedeutungen
wie ,,2” und ,,3” konstituiert, urteilt notwendig: ,,2 < 3”, und dann
35 richtig, sofern es diesen Wesenszusammenhang einsehen kann, oder
es urteilt falsch. Und die Anwendung solcher Urteile ist kein weiteres
Problem; hat das Subjekt individuelle Einzelfälle bewußt, so gilt ja
absolut und notwendig die Übertragung der Wesenswahrheit auf diese
Fälle. Die einzigen Probleme, die hier bestehen, hegen in der Richtung
40 der Aufklärung des Wesensverhältnisses von Sein und Bewußtsein,
bzw. von Noesis und Noema, insbesondere der Aufklärung des Wesens
und der Leistung der „Evidenz”.
Und prinzipiell nicht anders steht es hinsichtlich der Kategorien
und der zugehörigen Verstandesgrundsätze. Das Problem der Er-
45 klärung der unbedingten Geltung, die wir den synthetischen Urteilen
a priori beimessen, wird aber für Kant zum Problem, die allgemein¬
menschliche psychische Konstitution als eine solche zu konstruieren,
404 ERGÄNZENDE TEXTE
die in ihren Tätigkeiten nicht regellos verfährt, sondern gemäß ein¬
geborenen Gesetzmäßigkeiten immerfort gesetzmäßige Bildungen
erzeugen muß. Wie selbstverständlich gilt ihm ein solches Subjekt
dann als befähigt, sich allgemein diese Gesetzmäßigkeiten zum Be-
5 wußtsein zu bringen; es kann sich selbst Gesetzmäßigkeiten seiner
Funktionen allgemein formulieren, und tut es das, so haben die Ge¬
setze natürlich den Charakter der Notwendigkeit und Allgemeinheit
der Geltung oder Verbindlichkeit für es selbst, das Subjekt.
Dieses „natürlich” ist freilich ein Trugschluß, und die ganze Theorie
10 insofern nicht viel besser als die Hume’sche, als ja beide Rationalität
auf ein Faktum reduzieren und damit echte Rationalität im
Grunde leugnen.
Aber zum Glück ist Kants Theorie besser als Kant selbst weiß; zum
Glück ist in weiten Sphären die Einsicht und Denknotwendigkeit eine
15 echtere als Kant selbst sie versteht. So entschieden wir die Art der
Problemeinführung und die Kantische Interpretation des Problems
selbst ablehnen müssen, gewaltige Entdeckungen liegen doch in seiner
Philosophie beschlossen. Sie liegen in der Gliederung des Werkes, in
der Scheidung zwischen transzendentaler Ästhetik und Analytik, in
20 der Idee einer transzendentalen Analytik, so wenig sie zu voll¬
kommener methodischer Reinigung gekommen ist, und dann vor
allem in seiner transzendentalen Analytik, in seiner Lehre von der
Konstitution der Natur durch Synthesis, dann
aber auch rückstrahlend in seiner Scheidung von Ästhetik, Analytik
25 und Dialektik.
Um nur eins hervorzuheben:-Kant stößt auf die im Bewußtsein sich
stufenweise aufbauende Intentionalität, in der eine äußere Gegen¬
ständlichkeit Gegenständlichkeit für das erfahrende und denkende
Bewußtsein ist. Schon Hume war eigentlich im Treatise (den Kant
30 nicht studiert hatte) darauf gestoßen. Beide haften an der Tatsache,
die nie Thema von Forschungen gewesen war, daß für das Bewußtsein
ein Ding in unendlichen Mannigfaltigkeiten von Erscheinungen zur
Wahrnehmung kommt. Für Hume ist das eine subjektive Fiktion;
für Kant eine notwendige Form, in der das Ich sich eine Objektwelt
35 zueignet. Kant übersieht nicht, daß schon zur Einheit der Phantom¬
anschauungen Synthesis gehört, und zur Einheit jedes immanenten
Gegenstandes — aber sehr nachträglich bringt er es zur Geltung, und
im Widerspruch zur transzendentalen Ästhetik.
Aber <wie immer), wieviel tiefer hat da Kant gesehen <als Hume),
40 und bedeutsame Scheidungen herausgeschaut. Er sieht zuerst, daß räum¬
lich ausgebaute und gestaltete Sinnesdaten (das, was er Anschauun¬
gen nennt) noch nicht volle Dingerscheinungen sind; was er unter dem
Titel der „Synthesis” nicht nur mit einem Wort bezeichnet sondern
schon nach Stufen gliedert, ist ein theoretischer Anfang, der dazu
45 berufen war, ein Keimpunkt für eine ganze Wissenschaft zu werden.
Aber freilich, dazu bedarf es der phänomenologischen Reduktion
und der phänomenologischen Wesenseinstellung und der entschiede-
BEILAGEN 405
nen Abweisung aller Mythologien. Innerhalb der reinen Phänomene
kann und muß doch wesenswissenschaftlich erforscht werden, was in
der Intention äußerer Erfahrung selbst liegt, welche teleologischen
Zusammenhänge die Identität des zu erfahrenden Objektes für die
5 Mannigfaltigkeiten möglicher Erfahrungen wesensmäßig vorschreibt
und was der letzte Sinn der äußere Objekte betreffenden Wesensge¬
setze ist. Von da aus ist zu untersuchen, wie, in welchen Stufen Ding¬
lichkeit zur Gegebenheit kommt. Es müssen alle noetischen und
noematischen Strukturen in diesen Stufen herausgestellt und in ihren
10 notwendigen Funktionen der Objektivierung zum Verständnis ge¬
bracht werden. Sonst hätte er lehren müssen, daß der Raum und die
Zeit Produkte einer eigenen Synthesis niederer Stufe sind und daß die
Synthesis des objektivierenden Verstandes eben nur eine höhere ist.
Da also liegt Kants wahre Größe: in der Fülle des konkret Er-
15 schauten und systematisch Herausgestellten innerhalb der Intuition:
nicht aber in seinen Theorien und seinem Agnostizismus, die zweifellos
falsch sind.
In unser historisch-ideengeschichtliches Schema ordnet sich also
auch Kant ein: bei ihm zuerst bricht die Tendenz auf eine Phänome-
20 nologie der Natur und auf eine Theorie der Naturerkenntnis durch,
die nicht in leeren Allgemeinheiten stecken bleibt sondern den im
Bewußtsein und seinen Phänomenen aufweisbaren Stufen der Synthesis
nachgeht. Diese phänomenologisch nach ihren Wesensgehalten und
Zusammenhängen zu studieren, ist Kant nicht beigefallen; aber sofern
25 er als erster die gröberen Strukturen erschaute, bildet er ein Über¬
gangsglied zu der neuen Phänomenologie.
Wir sind freilich von dem historischen Gang insofern abgewichen,
als wir im Anschluß an L e i b n i z gleich das ganze System der
Ontologien und Phänomenologien herausgestellt und dabei auf die
30 Ding-Phänomenologie schon vorgewiesen haben. Aber damit erleich¬
terten wir uns die Schwierigkeiten des Verständnisses Kants und
einer kurzen Kant-Kritik.
Überblicken wir den Gang unserer Vorlesungen, so haben wir in
ihnen bloß eine Einleitung in die theoretische Philosophie
35 durchgeführt. Mehr konnte in einem kurzen Sommer-Semester, ohne
in Oberflächlichkeiten zu verfallen, nicht geleistet werden. Aber für
den Anfänger kommt es durchaus darauf an, zunächst einmal die
Problematik der theoretischen Philosophie zu erfassen. Ist dies ge¬
schehen, so versteht man ohne weiteres die Natur und Stellung der
40 Probleme der axiologischen und praktischen Philosophie. Nicht nur
das Sein überhaupt in formaler Allgemeinheit und das Natursein hat
seine erkenntnistheoretischen, noetischen und noematischen Probleme,
und nicht nur hier ist der Kampf gegen den Skeptizismus auszufechten,
der Wahrheit und Falschheit, Sein und Nichtsein subjektivistisch und
45 relativistisch verflüchtigt. Im Werten erscheint uns etwas als wert, als
schön, im Handeln will ein Gut erzielt sein, das nachkommende Ur¬
teilen spricht vermeintlich gültige Wahrheiten über Werte und Güter
406 ERGÄNZENDE TEXTE
aus. Wie steht es mit ihrer Geltung ? Wie ist der Skeptizismus zu be¬
kämpfen, der sagt: Schön und gut ist für jeden, was ihm als gut er¬
scheint — ? Aber sozusagen alle entscheidenden Schlachten werden
auf dem Gebiet der theoretischen Philosophie geschlagen. Nur hier
5 kann man den eigentümlichen Sinn philosophischer Problematik
überhaupt sich zueignen, nur hier sich über die prinzipiellen Methoden
der Lösung klarwerden.
Die theoretische Philosophie erwuchs angeschlossen an die theore¬
tischen objektiven Wissenschaften, und das aus wesentlichen Gründen.
10 In der ungeheuren wissenschaftlichen Arbeit seit dem Altertum waren
einige Haupttypen objektiver, ontischer und noematischer Wis¬
senschaften zur Begründung gekommen, und notwendig folgte ihnen
nach die erkenntnistheoretische Forschung, welche die höchst schwie¬
rigen Beziehungen von Objektivität und erkennender Subjektivität,
15 mit deren erkennenden Akten und noematischen Gestaltungen, theo¬
retisch zu bewältigen suchte. Und so erst war endgültige Wissenschaft
in irgendeiner Sphäre möglich: also philosophische Erkenntnis.
Die ganze neuzeitliche Bewegung von Descartes bis Kant
war bestimmt durch Mathematik und reine Logik auf der einen Seite
20 und exakte Wissenschaft von der physischen Natur auf der anderen.
In dieser engeren Sphäre erwachsen alle philosophischen Richtungen,
und in ihnen drängten verschiedene von uns hervorgehobene Tenden¬
zen auf die wahre Philosophie durch. Das war das spezifische Gebiet
unserer Einleitung. Hier war die Entwicklung relativ so einfach und
25 der kritischen Betrachtung so leicht zugänglich, daß wir mit unseren
Vorkenntnissen ausreichen konnten. Anders steht es freilich mit der
nachkantischen idealistischen Philosophie und ihren Nachwirkungen
auf unsere Zeit.
Nachkantische Philosophie.
30 Für diese geht die Motivation nicht von der neuzeitlichen Natur¬
wissenschaft aus. Gegen Ende oder seit der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts tritt ein neuer Typus von Wissenschaft in Reinheit
hervor: gegenüber der naturalistischen Psychologie erwachsen die
spezifischen Geisteswissenschaften, deren Ent-
35 wicklung bis zur Gegenwart fortgeht, ohne daß es hier zu einem so
klassischen Abschluß gekommen wäre wie in der Mathematik und
der exakten Naturwissenschaft; ich meine: zu einer Verfestigung der
Haupttypen von Geisteswissenschaften und zu einer Verfestigung und
Klärung ihrer Methodik, in dem Sinne, wie Mathematik und Physik
40 schon längst zu völlig gesicherter Methode und damit zu fester Gestalt
durchgedrungen sind.
Damit hängt es zusammen, daß die Theorie der geisteswissenschaft¬
lichen Erkenntnis so weit zurücksteht hinter der Theorie der mathe¬
matischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis, ja eigentlich
45 noch ganz in unbeholfenen Anfängen steckt; und erst recht, daß die
metaphysischen Probleme, die sich hier eröffnen und die eine viel
BEILAGEN 407
innigere Beziehung zu den supernaturalen Problemen haben als die
naturwissenschaftlichen, zu keiner wissenschaftlichen Formulierung
gekommen und noch auf keinen festen Arbeitsboden gestellt sind.
Unglücklicherweise waren die großen Denker des Deutschen Idealis-
5 mus, trotz ihrer Anknüpfung an Kant, doch ganz unfähig, den eigent¬
lichen Gehalt der Kantischen Philosophie zu erfassen und aus dem in
der Kritik der naturerfahrenden Vernunft Geleisteten methodischen
Nutzen zu ziehen. Sie entbehrten ganz und gar der Voraussetzungen
des Verständnisses. Kant war von der Physik ausgegangen, die Deut -
10 sehen Idealisten aber erwuchsen in der Zeit der Blüte der Neu-Renais-
sance, ihre Bildung war eine durchaus geisteswissenschaftliche, die
mathematische Naturwissenschaft blieb ihnen gänzlich fremd und
unverständlich. Es ist die Zeit, in der unsere größte Dichterpersön¬
lichkeit, Goethe, erwuchs, und charakteristisch ist seine leiden-
15 schaftliche Polemik gegen Newton und die mathematischen Phy¬
siker, die darum völlig gegenstandslos ist, weil er die Natur der Phy¬
sik, die Natur, die wir in unserer heutigen Erziehung fast ausschlie߬
lich zu sehen bekommen, überhaupt nicht sah, oder, deutlicher ge¬
sprochen: bei seiner Vorbildung konnte er die auf Grund der ange-
20 schauten Natur in den mathematisch-physikalischen Theorien heraus-
theoretisierte Natur ihrer eigentümlichen Geltung und ihrem Sein
nach nicht erfassen, und so wetterte er dagegen als eine Fiktion. Nicht
viel besser steht es mit den großen Idealisten. Sie knüpfen an K a n t
an — und deuten ihn sofort um im Sinn ihrer geistigen Einstellung, an
25 die <sie> imbewußt sich gebunden fühlen. Das erklärt ihr Unver¬
ständnis für die gewaltigen erkenntnistheoretischen Triebkräfte, wel¬
che die Epoche von Descartes an beherrschen, und erklärt den
Dogmatismus, in den sie verfallen und der nur insofern ganz anders
geartet ist als der vorkantische Dogmatismus, als die metaphysischen
30 Spekulationen jetzt nach der geisteswissenschaftlichen Weltbetrach¬
tung orientiert sind, und nicht nach der naturwissenschaftlichen.
Zugleich erklärt sich der eigentümliche Bruch in der deutschen und
europäischen Entwicklung der Philosophie. Die unbedingte Vorherr¬
schaft der Naturwissenschaften und der naturwissenschaftlichen
35 Weltbetrachtung seit Mitte des 19. Jahrhunderts ließ die einst so
begeistert aufgenommenen Philosophien des Deutschen Idealismus in
Verachtung, ja Vergessenheit versinken; sie erschienen als unver¬
ständliches Kauderwelsch. In der Tat, dem allgemeinen Verständnis
sind sie ferner gerückt als noch so fremdartige Philosophien fremder
40 Kulturen fernster Zeiten und Epochen, ferner als die Philosophien des
alten Indiens. Begreiflicherweise sind diese Philosophien, trotzdem
uns in unseren Tagen Organe des Verständnisses zuzuwachsen be¬
ginnen, für eine Einführung in die Philosophie wenig geeignet.
Andererseits werden Sie selbst dereinst finden, daß wiederum die
45 Phänomenologie berufen und in der Lage ist, die abgebrochenen
Brücken wieder zu schlagen und die großen Geisteswerte der ideali¬
stischen Philosophien uns zuzueignen. Hat man einmal erkannt, daß
408 ERGÄNZENDE TEXTE
alle Gestaltungen der Natur, vom Standpunkt des reinen Bewußt¬
seins betrachtet, Phänomene sind, die einer noetischen und
noematischen Forschung bedürfen und dadurch den absoluten Sinn
seiender Natur überhaupt zu bestimmen gestatten, dann ist ohne
5 weiteres klar, daß auch die Gestaltungen des Geistes und Geisteslebens,
daß die Wesensartung des individuellen Geistes, aber auch der mög¬
lichen Formen von Sozialitäten, als im Bewußtsein konstituierte Phä¬
nomene einer Wesensforschung zugänglich sind, andererseits aber
nicht minder die im Gemeinschaftsleben erwachsenden Lebensformen,
10 ferner die Kulturformen und Kulturgebilde wie Kunst, Literatur,
Wissenschaft usw.
Die Zukunftsaufgaben sind uns durch unsere begrenzten Betrach¬
tungen offenbar schon vorgezeichnet: es bedarf eines Entwurfs geistes¬
wissenschaftlicher Ontologien und Phänomenologien, und darauf
15 gestuft schließlich eines Entwurfs der metaphysischen, von Seite des
Geistes her gestellten Problematik; und schließlich der Synthese dieser
Problematik mit der Problematik der Natur. Das sind große Zukunfts¬
probleme, und durchaus Probleme, die nach streng wissenschaft¬
lichen Methoden anfaßbar sind. Sie alle stellen die notwendigen Seiten
20 der einen großen Idee dar: der Idee der Philosophie als der Wissen¬
schaft endgültiger Erkenntnis.
Beilage XXII (zur 27. Vorlesung): <Exzerpte und Notizen zur nach-
kantischen Philosophie'}. x)
E. v. H a r t m a n n, Geschichte der Metaphysik: „Die philosophie¬
geschichtliche Kritik hat unwiderlegbar bewiesen, daß die apodiktisch
gewisse Metaphysik a priori ein für allemal tot ist und nicht wieder
25 erwachen kann”. —
J a c o b i: Die Vernunft ist „das Organ der Vernehmung des
Übersinnlichen”; das Vermögen der Voraussetzung des an sich Wah¬
ren, Guten und Schönen mit der vollen Zuversicht zu der objektiven
Gültigkeit dieser Voraussetzung. Sie besteht in dem „Ergreifen eines
30 Übersinnlichen und an sich Wahren”. Sie ist „nicht erklärend sondern
positiv offenbarend, unbedingt entscheidend” — „gleich den anderen
Sinnen”. Auch: „rationale Anschauung durch die Vernunft”, „weis¬
sagend”.
Durch die Vernunftanschauung wird „dem Verstände das den Sin-
35 nen Unerreichbare in überschwenglichen Gefühlen allein, und doch als
wahrhaft Objektives — da es keineswegs bloß Erdachtes — zu er¬
kennen gegeben”.
„Das Vermögen der Gefühle... ist ... mit der Vernunft ein und
dasselbe”. —
40 Hamann: „Glauben” keine bloß niedere Wissensstufe: „was
man glaubt, hat nicht nötig, bewiesen zu werden”. —
F i c h t e s intellektuelle Anschauung: Innere Anschauung von
*) etwa 1914. — Anm. d. Hrsg.
BEILAGEN 409
Denkakten, insbesondere von Akten des Sich-selbst-denkens. Sieht
man aber auf die Leistung der intellektuellen Anschauung: sie beweist
die Willensfreiheit — sie „ist für sich ein absolutes Selbst-erzeugen,
durchaus aus nichts”. Keine allgemein menschliche Fähigkeit — sie
5 findet sich nur bei einzelnen. (Nicht bei allen seinen Lesern setzt er
das „Vermögen der Freiheit der inneren Anschauung voraus”). Was
die Wissenschaftslehre zum Gegenstand ihres Denkens macht... ist
ein Lebendiges und Tätiges, das aus sich selbst und durch sich selbst
Erkenntnis erzeugt und welchem der Philosoph bloß zusieht. —
10 Schellings intellektuelle Anschauung: „Uns allen wohnt ein
geheimes wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit
in unser innerstes, von allem, was von außen her hinzukäme, ent¬
kleidetes Selbst zurückzuziehen und somit unter der Form der Un¬
wandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen. Diese Anschauung ist
15 die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was
wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben”.
Ihre Voraussetzung die Freiheit. Sie unterscheidet sich von jeder
sinnlichen Anschauung dadurch, daß sie durch Freiheit hervorge¬
bracht ... ist. Sie ist eine zeitlose Erkenntnis. In ihr schwindet für
20 uns Zeit und Dauer dahin. Nicht wir sind in der Zeit — oder vielmehr
nicht sie, sondern die reine absolute Ewigkeit ist in uns. Sie ist ein
schöpferisches Vermögen. Die intellektuelle Anschauung ist „ein
Wissen, das zugleich ein Produzieren seines Objekts ist”, ein Vermögen,
gewisse Handlungen des Geistes zugleich zu produzieren und anzu-
25 schauen.
Nicht-verstehen des Philosophierens habe seinen Grund im Mangel
des Organs, mit dem es aufgefaßt werden muß. Mancher entbehrt
desselben durchaus. Sie ist nichts, was gelehrt werden kann; von
Natur angeboren, dem Menschen durch ein göttliches Geschenk ver-
30 liehen.
(E. v. Hartmann in seiner Schrift über Schellings philosophi¬
sches System sagt, sie charakterisierend: sie ist nicht eine Tätigkeit
des Philosophen sondern eine Produktion des Superindividuellen im
Menschen).
35 In der intellektuellen Anschauung sieht nicht mehr der Mensch,
„sondern das ewige Sehen selber ist in ihm sehend geworden”.
Wir erwachen aus der intellektuellen Anschauung wie aus dem
Zustand des Todes: würde ich die intellektuelle Anschauung fortset¬
zen, so würde ich aufhören zu leben, ich ginge aus der Zeit in die
40 Ewigkeit. Sie ist ein absoluter Zustand. Man kann anstatt intellek¬
tueller Anschauung Ekstase sagen; das Ich wird ja dabei außer sich
gesetzt, als ein gar nicht mehr das Seiendes. —
Hegel:
Trendelenburg, Logische Untersuchungen'. „Die dialektische
45 Methode des reinen Denkens will nichts geringeres bieten als ein neues
und höchstes Organ für die menschliche Erkenntnis”. Hegel führt
sie auf F i c h t e s intellektuelle Anschauung zurück. Das Vermögen,
410 ERGÄNZENDE TEXTE
auf dem die dialektische Methode beruht: „Vernunft”; nicht im ge¬
wöhnlichen Sinn; ihre Hauptleistung <besteht> in der Vereinigung
kontradiktorischer Gegensätze.
Was überhaupt die Welt bewegt, ist der Widerspruch, und es ist
5 lächerlich, zu sagen, der Widerspruch ließe sich nicht denken. Wahr¬
heit kann nicht in einem einseitigen Satz ausgesprochen werden; es
gehören zwei sich widersprechende Sätze dazu, von denen der eine
die Identität, der andere die Verschiedenheit ausspricht, und zwar
in denselben Rücksichten, nach derselben Seite.
10 Die Dialektik ist die apriorische Rekonstruktion des Weltprozesses,
also die Selbstbewegung des Begriffs im individuellen Bewußtsein.
Der Philosoph ist dabei nur Zuschauer des objektiven Ganges der
Vernunft. Die Genesis des Absoluten wird im Bewußtsein nur repro¬
duziert. „Analytisch verfährt das philosophische Denken, insofern
15 dasselbe seinen Gegenstand, die Idee, nur aufnimmt, dieselbe gewäh¬
ren läßt und der Bewegung und Entwicklung derselben gleichsam nur
zusieht. Das Philosophieren ist insofern ganz passiv”.
„Diese Dialektik ist dann nicht äußeres Tun eines subjektiven Den¬
kens sondern die eigene Seele des Inhalts, die organisch ihre Zweige
20 und Früchte hervortreibt. Dieser Entwicklung der Idee als eigenen
Tätigkeit ihrer Vernunft sieht das Denken als subjektives, ohne
seinerseits eine Zutat hinzuzufügen, nur zu”.
Sie ist ein schöpferisches, schauendes, göttliches Denken, schlechter¬
dings voraussetzungslos, absolut, schließlich auch eine Art ekstatischer
25 Zustand. Der Verstand vermag sie nicht zu begreifen. Hegel selbst
nennt sie mystisch. Der Charakter der spekulativen Tätigkeit sei
Aufhören des Bewußtseins; „denn die Spekulation fordert in ihrer
höchsten Synthese des Bewußtseins und Bewußtlosen auch die Ver¬
nichtung des Bewußtseins selbst”.
30 Michelet: Man muß ein Liebling der Götter sein, um etwas von
der Vernunft im Hegel’schen Sinn zu haben. (Wohl aus der Vorrede
zu Hegels Naturphilosophie 1841). —
W e i s s e, Metaphysik, <und> I. H. Fichte, in seiner Ontologie,
nehmen neben der dialektischen Methode noch eine „spekulative
35 Anschauung” an. Fichte: „Hellsehen”. Stahl, Rechtsphiloso¬
phie: „Weissagungskraft”. —
Fries: Der Glaube als Erkenntnismittel, das uns dieselbe Ge¬
wißheit wie Wissen zu geben vermag. Zum Inhalt hat er die Welt der
Ideen.—
40 Voraussetzungslosigkeit der Philosophie.
Hegel: „Die Philosophie macht insofern keine Voraussetzungen,
als das Denken sich seinen Gegenstand selbst erzeugt und gibt”.
Schelling: Die Philosophie muß, wenn sie überhaupt sein soll,
durch einen schlechthin absoluten Grundsatz bedingt werden, der die
45 Bedingung alles Inhalts und aller Form enthalten muß. —
Ausgangspunkt das Absolute, in der Philosophie dieser Deut-
BEILAGEN 411
sehen Idealisten: das Absolute das nicht zu Denkende; das, was nicht
nicht und nicht anders sein kann. Apriori-Charakter.
Das System des transzendentalen Idealismus gleichgesetzt dem Sy¬
stem des gesamten Wissens. —
5 Steffens: Die Methode der Naturphilosophie entwickelt eine
besondere Evidenz, welche zwar von derjenigen verschieden ist,
die lediglich aus der Vergleichung der Tatsachen und durch sorgfältige
Untersuchung des einzelnen entspringt, ja dieser entgegengesetzt
<ist>, dennoch dasselbe findet und erkennt. — Zeitloser Charakter.
10 Erkenntnis sub specie aeternitatis.
—
Fichte: Nur für die Einbildungskraft gibt es eine Zeit. Für die
bloße reine Vernunft ist alles zugleich.
Die philosophische Erkenntnisart fordert „die gänzliche Abwendung
von dem Kausalgesetz und derjenigen Welt, in welcher dieses gültig
15 sein kann”. —
Hegel: Dieses bloße Geschehen, das nur ein Unterschied der
Zeit ist, macht nichts begreiflich. Der einzige Grundsatz —.
Vergleich mit der Mathematik (deduktiver Charakter).
Die Philosophie der Natur soll die Möglichkeit einer Natur, d.h. der
20 gesamten Erfahrungswelt aus Prinzipien ableiten. Mathematik und
Philosophie haben „völlige Gleichheit in Ansehung der Art der Er¬
kenntnis”.
Die wahre Methode der Philosophie demonstrativ. —
Aber Fichte: „Das Apriori und das Aposteriori ist für einen
25 vollständigen Idealismus gar nicht zweierlei, sondern ganz einerlei;
es wird nur von zwei Seiten betrachtet und ist lediglich durch die Art
unterschieden, wie man dazu kommt”.
„Ist denn irgendetwas a priori, das nicht eben damit notwendig
a posteriori sein muß; und kann denn irgendetwas« posteriori sein,
30 außer darum, weil es a priori ist?”
Sieht man auf die Art des Findens, so ist alles a posteriori. Sieht
man darauf, daß alles in seinem Wesen notwendig begründet ist, so
ist es a priori.
—
So auch Schelling: Der Unterschied zwischen Sätzen a priori und
35 a posteriori sei nicht etwa ein ursprünglich an den Sätzen selbst haf¬
tender Unterschied, sondern der Unterschied ist <ein solcher), der
bloß in Rücksicht auf unser Wissen und die Art unseres Wissens von
diesen Sätzen gemacht wird. —
Hypostasierung formaler Begriffe im romanti-
40 sehen Idealismus: Aus formalen Begriffen wird das Empirische kon¬
struiert, und ganz allgemein, formale Begriffe werden zu realen Existen¬
zen, werden als reale Wesen und Kräfte gedacht. — Nicht auf
kausale Erklärung von Tatsachen, auf Sinnen, auf Ausdeutung der
Wirklichkeit gerichtet. Das „Wesen” — Idee — ideale Interpretation.
45 Was Materie „bedeutet”, um welcher Idee willen, die sie zur Er¬
scheinung bringt, sie notwendig ist. —
Fichte: Die Wissenschaftslehre, als Wissenschaft, fragt schlech-
412 BEILAGEN
terdings nicht nach der Erfahrung und nimmt auf sie schlechthin
keine Rücksicht. Sie müßte wahr sein, wenn es auch gar keine Erfah¬
rung geben könnte.
Sein Begriff des F a k t u m s: was notwendig gedacht werden muß.—
5 Sehe lling: Spekulative Physik sei ein Wissen im strengsten
Sinn. Wir wissen nur das selbst Hervorgebrachte, das Wissen im
strengsten Sinn des Wortes ist also ein reines Wissen a priori.
„Ableitung aller Naturerscheinungen aus einer absoluten Voraus¬
setzung”. Dadurch verwandle sich unser Wissen in eine Konstruktion
10 der Natur selber, d.h. in eine Wissenschaft von der Natur a priori.
In der Natur ist alles a priori. Es ist alles einzelne vorausbestimmt
durch das Ganze, oder durch die Idee einer Natur überhaupt.
Reine Empirie ist nicht Wissenschaft, und umgekehrt, was reine
Wissenschaft ist, ist nicht Empirie. Der Begriff der Erfahrungswissen-
15 schaff ist ein Begriff, der sich überhaupt nicht denken läßt. Wahre
Theorien können nur solche sein .. ., welche absolut a priori errichtet
werden.
Die philosophische Forschungsrichtung eine wesentlich neue ge¬
genüber der der Einzelwissenschaften.
20 S c h e 11 i n g: Physik und Chemie haben ihre eigene Sprache, die
sich in einer höheren Wissenschaft in eine ganz andere auflösen muß.
Die Naturphilosophie gibt „eine völlig veränderte Ansicht von der
Natur”. Es ist hier nicht von einem Fortschreiten auf derselben Leiter
oder überhaupt einem Weitergehen auf der einmal vorgezeichneten
25 Linie, es ist von einer ganz anderen Erkenntnisart, einer völlig neuen
Welt die Rede, in die es von der, worin die jetzige Physik ist, gar
keinen möglichen Übergang gibt, die überhaupt ganz für sich selbst,
in sich beschlossen ist und keine äußere Beziehung hat. Kein Weg oder
Fußsteig von den gemeinen Wissenschaften zu ihr führend. —
30 Hegel: Das Verhältnis der spekulativen Wissenschaft zu den
anderen Wissenschaften.
In den empirischen Wissenschaften geht man von der Vorstellung
zum Gedanken, in der Philosophie den umgekehrten Weg.
Beispiel am Magnetstein: Um festzustellen, was in diesem Begriff
35 (Magnetstein) enthalten ist, müssen wir die sinnliche Vorstellung von
einem Magnetstein oder Eisen, das mit dem Stein bestrichen wird,
zunächst ganz vergessen. —
„U niversalistischer Charakter” der romantischen
Philosophie: Die Philosophie erhält den Anspruch, alle Einzelwissen-
40 schäften zu umfassen. Nach Fichte: Der Grundsatz der Wissen¬
schaftslehre ist Grundsatz aller Wissenschaften und alles Wissens. In
ihm liegt „aller mögliche Gehalt”, der „Gehalt schlechthin”, „der
absolute Gehalt”. Sie soll das ganze Gebiet menschlicher Erkenntnis
vollkommen erschöpfen.
45 Schelling: „Eben dadurch ist zugleich behauptet, daß der
Inhalt der Philosophie allen Inhalt der Wissenschaften überhaupt
begründe”.
Der Grundsatz der Philosophie = Urinhalt, Urform alles Wissens.
TEXTKRITISCHER ANHANG
TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
V orbemerkung
Der vorliegende Band VII der Gesammelten Werke Edmund Husserls
enthält als Haupttext den Ersten Teil (Historischen Teil) der Vorlesungen
über Erste Philosophie, die Husserl im Winter-Semester 1923/24 an der
Universität Freiburg i.B. gehalten hat. Er enthält ferner vom Heraus¬
geber ausgewählte und zusammengestellte Ergänzende Texte zur Proble¬
matik des Haupttextes 1). Sie wurden in A. Abhandlungen und B. Beilagen
eingeteilt. Letztere sind Texte, die unmittelbar an bestimmte Stellen des
Haupttextes als Ergänzungen und Erläuterungen anzuknüpfen sind. Jede
Beilage ist darum vom Hrsg, als „Beilage zu ... ” (z.B. „Beilage zur 5.
Vorlesung” des Haupttextes) bezeichnet worden. Entsprechend verweisen
Anmerkungen des Hrsg, im Haupttext auf die Beilagen jeweils an der er¬
sten Stelle, an der ein Vergleich dieser Ergänzenden Texte in Betracht
kommt. Die Abhandlungen sind selbständigere Texte, die ebenfalls den
Haupttext zu ergänzen geeignet, aber nicht nur als erläuternde Beifügun¬
gen zu dieser oder jener Partie der Vorlesungen aufzufassen sind. Umge¬
kehrt sind die Abhandlungen auch ohne Bezug auf den Haupttext lesbar,
indessen die Ausführungen der Beilagen einen vollen Sinn erst aus dem
Zusammenhänge derjenigen des Haupttextes gewinnen.
Die Veröffentlichung des Zweiten (Systematischen) Teiles der Ersten
Philosophie ist für Band VIII der Ausgabe vorgesehen.
Die Gliederung der nachstehenden Textkritischen Anmerkungen ent¬
spricht derjenigen der Texte selbst in den Haupttext und die Ergänzenden
Texte und dieser letzteren in Abhandlungen und Beilagen. Die Anmerkun¬
gen zum Haupttext und zu jeder einzelnen der Abhandlungen und Bei¬
lagen der Ergänzenden Texte sind jeweils eingeleitet durch eine allgemeine
Charakteristik des (bzw. der) der Veröffentlichung zugrundeliegenden
Manuskripts (bzw. Manuskripte) und Bemerkungen zur Textgestaltung4, es
folgen jeweils die Angaben der Varianten, Korrekturen usw. im einzelnen,
der,.Apparat".
Wir verzeichnen die Korrekturen unter Unterscheidung von Einfü¬
gungen, Ergänzungen und Verbesserungen 2). Einfügungen sind Zusätze,
') Über die Gesichtspunkte, von denen sich der Hrsg, bei der Auswahl der Ergän¬
zenden Texte leiten ließ, vgl. die Einleitung des Hrsg., S. XXVIff.
*) Allgemein wurden in den Textkritischen Anmerkungen die folgenden Abkürzun¬
gen verwendet:
Einf. = Einfügung; Arg. = Ergänzung; gestr. = gestrichen;
H. = Husserl; Hrsg. = Herausgeber; hsch. — handschriftlich;
L. — Landgrebe; Ms. = Manuskript; msch. = maschinenschriftlich; Rb. =
Randbemerkung; V. = Verbesserung.
Weitere Abkürzungen, die jeweils nur in den Anmerkungen zu einem bestimmten
416 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
für die vom Verf. eindeutig die Stellen angegeben sind, an denen sie in den
Text einzurücken sind. Wir nennen Ergänzungen diejenigen Zusätze, bei
denen das nicht der Fall ist, die also nach der Einsicht des Hrsg, in den
Text eingerückt bzw. als Fußnoten im Text gesetzt wurden. Verbesserun¬
gen sind Einfügungen, die nicht zur Erweiterung, sondern zur Ersetzung
eines vorherigen Textes bestimmt sind. Die in den Textkritischen An¬
merkungen vorkommende Formel „Text X statt Text Y: ...” verweist
auf Einfügungen oder Verbesserungen oder beides zusammen, wie im
einzelnen jeweils aus der Angabe des ursprünglichen bzw. des korrigierten
Textes ersichtlich ist.
Die Eingriffe in den Text, zu denen der Herausgeber sich veranlaßt sah,
sind sehr wenige und geringfügigster Art; sie wurden in den Textkriti¬
schen Anmerkungen an ihrem Ort verzeichnet, soweit es sich nicht um
eingefügte Worte handelt, die im Text selbst zwischen Keilklammern
<...> erscheinen. Zwischen diese Klammem wurden auch die Titel
(Überschriften) gesetzt, die der Hrsg, formuliert und eingefügt hat *).
Anmerkungen des Hrsg, im Text wurden dortselbst als solche bezeichnet.
Die sehr mangelhafte, inkonsequente und oft sicher nur versehentliche
Handhabung der Zeichensetzung in allen Mss. hat der Hrsg, korrigieren zu
dürfen und zu sollen geglaubt; auch, dabei im Interesse der klaren Les¬
barkeit des syntaktisch oft recht eigenwilligen Stiles des Verf. bisweilen
über die gebräuchlichen Zeichenregeln hinausgehen zu dürfen. Die Unter¬
streichungen sind in vielen Mss. Husserls so ausgedehnt, daß ihre vollstän¬
dige Berücksichtigung im Druck sinnlos wäre. Sie wurden nur teilweise
durch Sperrdruck wiedergegeben.
Text gebraucht wurden, sind gegebenenfalls in den einleitenden Bemerkungen zur
Textgestaltung des Haupttextes, der betreffenden Abhandlung oder Beilage erläutert.
Es handelt sich dabei insbesondere um Bezeichnungen für verschiedene Textfassun-
gen oder Stadien ihrer Entwicklung mit großen Buchstaben (A, B usw.).
') Vgl. die Einleitung des Hrsg., S. XXIV, und insbesondere in den Textkritischen
Anmerkungen S. 420 und S. 441.
ERLÄUTERUNGEN ZU DEN REPRODUKTIONEN
Wir reproduzieren als Beispiele zwei Seiten aus den Originalniss., die der kritischen
Herstellung und dem Druck des Haupttextes des vorliegenden Bandes zugrundeliegen.
I. Die Seite 108 b (Rückseite des Blattes 108) des stenographischen Ms. F I 34 I;
Originalformat 21,6 X 17,2 cm. Links oben erkennt man die im Husserl-Archiv auf¬
gezeichnete offizielle Paginierung: FI 34 1/108 b. Das Blatt ist durchgehend von
Husserls Hand mit Tinte stenographiert (System Gabelsberger); einige der Zeichen
und LTnterstreichungen, ebenfalls von Husserl selbst stammend, sind mit Rotstift
oder Blaustift angebracht.
Dem Text der reproduzierten Seite entspricht im Druck des vorliegenden Bandes
S. 167, Zeile 30,,seine Bedeutung erhält” bis S. 168, Zeile 35,,ihr Problem”.
II. Das Blatt M I 3 I a/210 (eigentlich M I 3/F I 34/Ia /210), Originalformat
28,5 X 22,5 cm, ist der Landgrebe’schen Maschinenabschrift des Ms. F I 34 I ent¬
nommen, und zwar dem Exemplar dieser Abschrift, das Husserl zu weiterer Bear¬
beitung vorlag. Man erkennt vornehmlich mit Tinte in Kurrentschrift von Husserls
Hand eingetragene Einfügungen, Verbesserungen, Zusätze; nur eine stenographische,
in der Reproduktion etwas verzerrte Ergänzung mit Bleistift, kurz vor der Mitte
der Seite:,.(positive)”, gleich daneben noch einmal mit Tinte und in Kurrentschrift
nachgetragen. Die getippte Zahl,,(98)” links unten am Rande gibt, in der ursprüng¬
lichen Paginierung, das hier transkribierte Blatt von F I 34 I an (offiziell jetzt: F I 34
1/109).
Der Text bis dahin entspricht demjenigen von F I 34 1/108 b - der anderen von uns
reproduzierten Seite (siehe I.) -, und zwar auf dieser von Zeile 9 nach der Klammer an.
Der M I 3 I a/210 entsprechende gedruckte Text findet sich S. 168, Zeile 4 bis S. 169,
Zeile 2. —
Zum näheren Verständnis dieser Erläuterungen sowie des Grundes der Abweichun¬
gen des gedruckten Textes von dem beider Ms.- Beispiele vgl. die Textkritischen An¬
merkungen zum Haupttext, S. 418ff. und im einzelnen S. 434.
Husserliana VII 27
TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN ZUM HAUPTTEXT
(S. 1-200)
Der Gestaltung des Haupttextes lagen drei Manuskripte zugrunde, die unter
den Signaturen F I 34 M I j/F I 34/1 a und M I j/F I 34Ü & 'Lm Hus-
serl-Archiv zu Löwen bewahrt werden 1).
An diesen Manuskripten lassen sich mit Deutlichkeit vier Stadien der
Entstehung und Bearbeitung des Textes abheben. Wir bezeichnen im folgenden
den Zustand des Textes in diesen vier Stadien mit den Buchstaben A, B,
G und D. Diese Bezeichnungen beziehen sich also auf Textzustände, nicht
unbedingt auf die vorliegenden Mss. als solche.
A. Das stenographische Originalms. (F I 34 I) schrieb Husserl teils
unmittelbar vor, größtenteils aber erst während des Winter-Semesters 1923/24
nieder, und zwar oft von Vorlesungsstunde zu Vorlesungsstunde. Die 1. Vor¬
lesung hielt er am 2. November 1923, die 27. Vorlesung (die letzte des Ersten
Teiles) am 18. Dezember 1923. Die 129 Blätter, in der großen Mehrzahl vom
Format 21,6 X 17,2 cm 2), sind fast durchweg mit Tinte stenographiert,
tragen zahlreiche Farbstiftzeichen sowie einige Bleistiftnoten oder-Verbesse¬
rungen. Soweit die letzteren in B (siehe unten) nicht berücksichtigt sind, ist
anzunehmen, daß es sich bei ihnen um spätere Zusätze handelt. Später als
die Ausarbeitung von B sind ferner die Blätter 5 und 6 geschrieben 8), die
Verweise auf eine Seitenzahl tragen, unter der sich ihr Text in C (siehe unten)
transkribiert findet: Das Blatt 128 — mit der Überschrift ad universalem
sapientiam — fügt sich in den Zusammenhang nicht ein; es dürfte als Ergän¬
zung zum Zweiten (Systematischen) Teil der Vorlesungen aufzufassen sein.
Das Ganze liegt in einem Umschlag, der von Husserls Hand die Aufschrift
trägt: 1923/24. I. Teil der Ersten Philosophie 1923/24. Ideengeschichte,
kritisch. Herbst 1923 bis Weihnachten.
B. Ebenfalls noch während des Winter-Semesters 1923/24 stellt Ludwig
Landgrebe, damals Privatassistent Husserls, in dessen Auftrag eine
*) Über die Bedeutung der hier und im folgenden erwähnten Signaturen der Mss.
des Husserl-Archivs und den Ursprung der Einteilung der Mss., auf die sie zurück¬
gehen, vgl. jetzt z.B. H.L. Van Breda und R. Boehm, Ams dem Husserl-Archiv zu
Löwen, im Philosophischen Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, LXII (1953), S. 241ff.
Doppelsignaturen wie ,,M I 3/F I 34” bezeichnen msch. oder hsch. von H.s Assis¬
tenten zu seinen Lebzeiten ,,ausgearbeitete” Mss. H.s; der zweite Teil der Signatur —
also hier ,,F I 34” — verweist auf das stenographische Originalms. H.s, auf das die
„Ausarbeitung” — oft nicht mehr als eine Abschrift — zurückgeht.
*) Das gewöhnliche Format der stenographischen Ms-Blätter Husserls.
3) Vgl. den Nachweis der Originalseiten, S. 465f.
TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN 419
Maschinenabschrift des stenographischen Vorlesungsms. her. Sie enthält nur
wenige über Stilverbesserungen hinausgehende Abweichungen von A. Dieser
maschinenschriftliche Text liegt im Husserl-Archiv zu Löwen in zwei Exem¬
plaren vor, deren eines, das nur einige technische Verbesserungen von Land¬
grebes Hand aufweist, nicht ganz vollständig erhalten ist; es umfaßt igy Blät¬
ter vom Format 28,5 X 22,5 cm x) und ist signiert: M I 3/FI 34.fl b.
C. Das zweite Exemplar der Maschinenabschrift B hat Husserl zu erneuter
eindringlicher Bearbeitung Vorgelegen (M I 3/F I 34.fi a), die sich eventuell
bis in das Jahr 1928 hingezogen haben könnte; daß Husserl noch nach 1928
auf das Ms. zurückgekommen ist, ist nicht anzunehmen. Das Konvolut
umfaßt 243 Blätter, deren Großteil im maschinengeschriebenen Text Durch¬
schläge der B-Blätter sind. Sie sind jedoch von Husserls Hand — mit Bleistift
Buntstift und Tinte, in Stenographie und Kurrentschrift — vielfältig korri¬
giert, mit Zusätzen und Randbemerkungen versehen. Ferner ist eine Anzahl
stenographierter Blätter — diese gewöhnlich wiederum im Format 21,6 X
17,2 cm oder kleiner — beigelegt. Schließlich sind Blätter der Fassung B
durch neu mit der Maschine geschriebene andere ersetzt sowie noch weitere
maschinenschriftliche Blätter in den Text eingefügt worden. Der neue Text
der zuletzt genannten Blätter geht zweifellos auf besonders weitgehend von
Husserl verbesserte und ergänzte B-Blätter oder auf neue stenographische
Aufzeichnungen zurück; doch läßt sich dies nur noch an Beispielen nachwei-
sen, da ein großer Teil der handschriftlichen Vorlagen für die neumaschinen¬
geschriebenen Blätter nicht mehr auffindbar ist und wahrscheinlich vernichtet
wurde.
Die in der beschriebenen Weise entstandene Fassung des Textes bezeichnen
wir also mit C.
D. Ein viertes Stadium der Bearbeitung des Textes ist unterscheidbar, weil
auch die für C neu maschinengeschriebenen Blätter teilweise nochmals mit
handschriftlichen Notizen und Korrekturen versehen sind.
Besonders liegen die Dinge hinsichtlich der ersten Fassung eines Teils des
Textes der 1. und der 2. Vorlesung; dazu vergleiche man die textkritischen
Anmerkungen zu den entsprechenden Seiten des Haupttextes sowie auch zur I.
Abhandlung der Ergänzenden Texte.
Der gedruckte Text folgt A, soweit in den textkritischen Anmerkungen
nichts anderes vermerkt ist. Die Korrekturen und Zusätze aus C bzw. D
wurden grundsätzlich berücksichtigt, jedoch im Anhang als solche kenntlich
gemacht und ebendort die ersetzten Partien des ursprünglichen Textes (A)
sowie gegebenenfalls von C wiedergegeben. Nur diejenigen Stellen von B, die
Husserl, wie seine Bearbeitung beweist, gründlich überdacht und in eine aus¬
drücklich von ihm anerkannte Form gebracht hat, durften auch dort, wo sie
von A merklich abweichen, aber die Berichtigungen in G nur in Bezug auf
sie Sinn haben, anstelle A in den Text eingerückt werden. Auch in diesen
Fällen findet sich A im Anhang.
*) Das häufigst vorkommende Format der msch. Mss., die Husserls Assistenten an¬
fertigten. Die im vorliegenden Bande verwendeten msch. Mss. haben es sämtlich,
wobei nur zerschnittene Seiten auszunehmen sind.
420 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
Qi-Korrekturen, die lediglich Textstellen von B wieder auf den Wortlaut von
A zurückführen, wurden in den Anmerkungen im allgemeinen nicht eigens
erwähnt.
Einige Abweichungen des B-Textes von A erklären sich offenbar daraus,
daß Husserl das stenographische Originalms. (A) auch nach der Anfertigung
von B noch hier und da durch kleine Zusätze — gewöhnlich mit Bleistift — ver¬
ändert hat. Wir sprechen dann in den Anmerkungen von späteren Zusätzen
in A. Sie wurden nach Möglichkeit auch im Text verarbeitet.
Die Abteilung des Textes in Vorlesungen findet sich nur stellenweise in A,
jedoch durchgängig in B. Sie ist in G — mit einer Ausnahme — beibehalten.
Die Einteilung des gesamten Haupttextes nach Kapiteln und Abschnitten
stammt hingegen vom Hrsg. Ebenso wurden die Titel der Abschnitte, Kapitel
und Vorlesungen, wie hier nochmals hervorgehoben sei 1), vom Herausgeber
formuliert, in Anlehnung an Husserl’sehe Wendungen im Text selbst.
Ist der Text des stenographischen Ms. (A) außerordentlich weitgehend
unterstrichen, so wurden diese Unterstreichungen in B — doch wohl auf
Anweisung Husserls — nicht berücksichtigt. Sämtliche im Druck vor kom¬
mende Sperrungen oder Kursivsätze gehen auf Unterstreichungen von Hus¬
serls Hand in C und D zurück, ohne sie freilich vollständig zu übernehmen.
Vereinzelt sperrte der Hrsg, von sich aus aus Gründen der Symmetrie zu
Unterstreichungen Husserls.
3 nur in B: 1. Vorlesung (2. November 1923) || 3,17 A : in ihrem Pro¬
blemgehalt, unbeschadet wesentlicher Gemeinsamkeit || 4,1 A : Vorzeich¬
nung, die der ursprüngliche Wortsinn weckt || 4,4 A : wortwörtlichen ||
4,12f. A : Sie kann dabei die erste sein || 4,16 A : Vorstufen oder Vorge¬
mächer darstellen || 4,17 aber Einf. in C || 4,33 B: anderer statt C niederer,
A doppeldeutig || 7,29 A : Anfänge, in denen sich in ursprünglicher Evidenz
große Ideenbildungen vollzogen, welche den Gang der Geschichte bestimm¬
ten. Aber durch traditionalistische Entleerung und Verwaschung, durch
eine fast unvermeidliche Verarmung an ursprünglich klarer Rationalität,
nahmen diese Ideen Wirkungsformen an, die, mit ihrem echten Ursprungs¬
sinn im Widerspruch, schließlich eine Reform notwendig machen. Ein
historischer Rückblick || 8,15 A : die ganze neuzeitliche Philosophie || 8,23
Die erste, naiv bis 10,31 solchen Wesen überhaupt, ist ein in A vom Verf.
in teilweise neuen Formulierungen wieder gegebenes Textstück aus seinem
Artikel über Die Idee einer philosophischen Kultur. Ihr erstes Auf keimen
in der griechischen Philosophie, in Japanisch-deutsche Zeitschrift für
Wissenschaft und Technik, Lübeck, I (1923), 45-51. Vgl. Ergänzende
Texte S. 203ff. sowie die Textkritischen Anmerkungen dazu. || 9,23f. und dann
natürlich bis an seinen jeweiligen Mitteln übt Erg. in C || 10,29 (oder
apriorischen) in C eingeklammert || 11 nur in B: 2. Vorlesung (5.IX. 1923) ||
11,26 als wissenschaftlicher Theorie der Methode echter Lebenspraxis
Erg. C || 11,33 Rb. B: (japan.-deutsche Zeitschr.) || 11,34 Von Theoreti¬
sches Erkennen an ist die 2. Vorlesung ein in B unter geringen Verände-
l) Es sei auch nochmals auf die Einleitung des Hrsg., S. XIV, verwiesen.
ZUM HAUPTTEXT 421
rungen wieder gegebenes Textstück aus dem Artikel über Die Idee einer philo¬
sophischen Kultur (siehe oben Anm. zu 8,23). Ein Text A liegt hier nicht vor.
In den folgenden Anm. wird auf den Artikel in der Japanisch-deutschen
Zeitschrift als Druck verwiesen. || 12,6 Druck und B: moralischen statt
ethischen || 13,10 Druck und B: Wahrheit || 13,12 Druck und B: in mög¬
licher echter Erkenntnis || 13,19f. Druck und B: eines rein theoretischen
Interesses || 13,34 Im Druck (ohne übrigens mit dieser aristotelischen Rede
auch ihren historischen Sinn übernehmen zu wollen) nach „zweiten”
Philosophie || 13,35 Druck: eine sich für sich selbst absolut rechtfertigende
|| 14,25 Druck und B: Ethiker || 14,31 der prädikativ urteilenden Einf. C ||
15,6 alles Gemeinschaftslebens und damit Einf. C || 15,13 wahren und
Einf. C || 15,17 Druck und B : Echte und Wahre || 15,20-22 Druck und B:
Erkenntnis alles Echten steht als Erkenntnis unter wissenschaftlichen
Normen und hat ihre höchste rationale Gestalt als || 17 nur in B : 3. Vor¬
lesung (6.XI. 1923) || 19,3 Im wesentlichen bis 19,36 Urteilseinheit gemäß
msch. Text C. A :
Im wesentlichen war diese und die weitere formale Logik der Tradition
primär betrachtet nicht eine Logik der Wahrheit sondern eine solche der
Widerspruchslosigkeit oder Konsequenz. Das sagt: die sich standfest in
Jahrtausenden durchhaltenden Kemtheorien der sonst wie immer sich
wandelnden Logik waren beschränkt auf die formalen Bedingungen der
Möglichkeit konsequent einstimmiger Urteile.
Deutlicher gesprochen: denken wir uns, irgendjemand urteile nachein¬
ander und reihe Urteil an Urteil derart, daß ihm die vordem gefällten
Urteile fortgelten; dann erwachsen nicht bloß überhaupt Reihen von Urtei¬
len sondern solche Reihen, die in jeder Überschau gemeint sind in der
Einheit einer Zusammengeltung: eine Urteilseinheit geht durch alle einzel¬
nen Urteile hindurch. In dieser Art haben die mannigfaltigen Aussagen
einer Abhandlung und hat in ihrer Art jede Theorie und jede ganze Wissen¬
schaft Urteilseinheit; d.h. die mannigfaltigen Urteile sind eins in der
Einheit eines, wenn auch nicht ausgesprochenen, kollektiven Urteils, das
alle die einzelnen als zusammengeltende zusammenfaßt, sie urteilsmäßig
in eins setzt.
Innerhalb jeder solchen usw. || 19,13f. auf die <schon> Kants Lehre
vom analytischen Denken zwar abzielte gemäß D\ C: die zwar schon
Kant erschaut und in die Philosophie eingeführt, || 20,13 nach erzeugtes
Urteil, in C der Satz gestr.: Wir brauchen diesen Übergang der Herauser¬
zeugung zwar nicht zu machen, aber wir können es jederzeit. || 20,13—15 A :
Solange wir bei jenen Prämissen bleiben, solange wir sie wieder-urteilend
in ihrer Geltung festhalten, können wir || 20,20-22 A : Aber sehen wir uns
was wir vorher geurteilt hatten, also die Prämissenurteile selbst, genau an,
dafür in B: Aber sehen wir uns die Prämissenurteile, die wir vorher geur¬
teilt hatten, genau an, Einf. C: und dieses neue Urteil selbst || 20,24 A:
Schlußsatz || 20,26 A : können wir in Evidenz sehen || 20,29f. A : Schlußsatz
oder Schlußurteil || 20, 32 C: ihres Sinnes statt A : dieses Inhaltes || 20, 33 A :
an sich selbst zukommende relative Eigenheit || 20,35 C: zu vollziehenden
statt A : vollzogenen || 20,37 der Konsequenz Einf. C || 21,171 so z.B. die
422 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
Sätze bis Y ist Z; Einf. B || 21,24 A : Widerkonsequenz statt B: Inkonse¬
quenz || 21,28 A : und ist A gesetzt (steht es in der Geltung fest), so || 22,13-
27 In C am. Rande eine O und Rb. Wiederholung und Besserung 27 d.h. hier
S. 25 || 22,14f. A : in ihrem reinen Urteilssinn statt C: in ihnen rein als Sät¬
zen || 22,16-18 A : Ich spreche, mit dieser Begriffsbildung freilich über die
Tradition hinausgehend, vom reinen oder analytischen Urteilssinn der
bloßen Bedeutungseinheit „Aussagesatz”; || 22,24 wie wir auch sagen
können Einf. C || 22,28f. A : also zugleich die traditionelle formale Logik
überhaupt || 22,31 Gesetze der Herausstellung und Einf. C || 23,3f. sachliche
Möglichkeit und Unmöglichkeit Erg. C || 23,20 ferner Einf. C || 24,13 A :
schon genug || 24 nur in B: 4. Vorlesung (8.XI.1923) || 24,32 Unsere Ab¬
scheidung bis 25,25 Anschauung oder nicht gemäß D ; A: Unsere Abschei¬
dung einer Logik der Konsequenz war, um noch einmal darauf zurück¬
zukommen, darin gegründet, daß Urteile oder, wie wir auch sagen können,
Bedeutungen von Aussagesätzen durch bloße Verdeutlichung herauszu¬
fassen sind. Es macht das Wesen usw. || 25,2-6 C: herauszufassen sind, und
in einer Weise, die vor aller Frage usw. liegt, oder, was dasselbe, ob das
Urteil ein anschauendes ist und seine Meinung usw. || 25,36 Rb. C: nur muß
es freilich in expliziter Deutlichkeit vollzogen sein || 26,4f. Urteile als pure
Urteilsmeinungen, -sinne in C statt diese puren Urteile || 26,8f. A : und
ihren Derivaten, ihren verschiedenen Modalitäten || 26,9-11 — und das
nicht bloß anbei bis Methode der Wahrheit sein Einf. C || 26, 33f. A : Ein
sehr bedeutsames Manko ist hier festzustellen. || 26,35 A : Korrelation
zwischen Aussagesatz und Gegenstand, worüber er aussagt, zwischen prä¬
dikativ'bestimmendem usw. || 27, lf. er urteilsmäßig nennt bis 27,8 nur
einstimmig denkbare, sondern in C; A: die urteilsmäßig so und so be¬
stimmt sind. Theorien, welche Konsequenz und Wahrheit prädikativen
Urteilens betreffen, fordern korrelativ auch Theorien für Gegenständlich¬
keiten als solche, als in reiner Konsequenz oder Widerspruchslosigkeit
denkbare, und dann ebenso Theorien für möglicherweise, in möglicher
Wahrheit seiende usw. || 27,13 d.h. aber nichts anderes bis 29,9 vollumfas¬
send genommen, Analytik, gemäß Beilage C. A : Gegenstände überhaupt,
in diesem formalen Überhaupt, sind dann bestimmt gedacht oder bestimm¬
bar gedacht durch Begriffe, die eben so allgemein sind, daß sie, wie a priori
einzusehen ist, für alle erdenklichen Gegenstände und rein als solche
möglichen Sinn haben. Solche Begriffe sind offenbar: der Begriff des
Gegenstandes selbst oder des Etwas überhaupt als gedachtes Substrat von
Urteilen überhaupt; dann die Begriffe Beschaffenheit, Eigenschaft, Rela¬
tion, Verbindung, Ganzes und Teil, Menge, Anzahl, Reihe, Ordinalzahl
usw. Durchdringt man im universalistischen Geiste der Philosophie diese
Region des Etwas überhaupt, als irgendwie und durch eben solche forma¬
len Begriffe bestimmbaren, fixiert man systematisch die unmittelbaren
und mittelbaren apriorischen Gesetze, die sich dabei ergeben, so erwächst
eine große Wissenschaft mit vielerlei Disziplinen. Wir haben damit die
Idee einer formalen Ontologie, einer formalen apriorischen Wissenschaft
vom Etwas überhaupt, von erdenklichen Gegenständlichkeiten überhaupt
und als solchen, umschrieben. Und es ist klar, daß sie vermöge der be-
ZUM HAUPTTEXT 423
zeichneten Wesenskorrelation zwischen Urteil und beurteilter Gegenständ¬
lichkeit untrennbar verflochten ist mit der Idee einer formalen Logik der
prädikativen Aussage, der „apophantischen Logik”. Es ist dann auch
leicht einzusehen, daß der apophantischen Analytik als Korrelat ent¬
spricht eine analytisch-formale Ontologie, in der nicht der Begriff mög¬
lichen wahren Seins vorkommt.
Wie unvollkommen usw. || 27,32 Sinngestalten in D statt C : Gestalten ||
28,16-21 C: Die kategorialen Begriffe, durch die sich Denkgegenstände
a priori bestimmen, nämlich in möglichen für sie einstimmig zu urteilenden
Urteilen die Form der Bestimmung anzeigen, unterscheiden sich von den
Begriffen, durch die sich die Urteile selbst bestimmen (Urteilsformen und
bestimmende Charaktere dieser Formen), und so stehen sich ontologische,
kategoriale und apophantische gegenüber. || 28,23 „Denksachverhalte”
oder Erg. D || 28,24 f. C: sofern für jeden Gegenstand mögliche Urteile
bestehen, jeder Urteilsbildungen ermöglicht, in die er selbst eintritt. || 28,35
als bloße „Gedachtheiten” Einf. D || 30,22—24 Objektiv wahres Urteilen
<ist> ein notwendig für jedermann sich einsichtig bestätigendes oder
bestätigen könnendes usw. späterer Zusatz, nur in A || 30,29f. des inter-
subjektiv und endgültig sich Bewährens späterer Zusatz nur in A || 31,10
aber notwendig wird er gemäß C || 31,10-16 in subjektiv gerichtete bis
Wissenschaften Bahn. Zusatz in B, fehlt in A in dieser Form; vgl. 32,14ff.
und Anm. || 31 nur in B: 5. Vorlesung (9.XI. 1923) || 31,17 bis 32,15 hinein¬
gezogen fehlt in B in dieser Ausführlichkeit) Rb. C: vgl. meine Einleitung 13
verweist auf den wiedergegebenen Text A || 33,2 Wissenschaft geht aber bis
33,5 Objektivität? späterer Zusatz nur in A || 33,15f. zuhöchst aber von
wissenschaftlich objektivem Erkennen späterer Zusatz nur in A || 34,7
apodiktischer in C statt adäquater || 34,16 vorzüglich die in C statt speziell ||
34.22 A : spezifisches und exaktwissenschaftliches || 34,23f. die es mit ideal
möglichen bis 34,29 Wesengesetze bezogen in C in eckige Klammern gesetzt
|| 34,24f. A : normativ bezogen auf || 34,26 A : Wesensmöglichkeiten || 34,27
„reine” Einheiten Einf. C || 34,28 Wesensbegriffe und Einf. C || 34,31 reinen
Einf. C || 34,32 gestützt auf bis E u d o x o s Einf. C || 34,33 rein Einf. C ||
35,9f. A : als nach apriorischen Notwendigkeiten gültig || 35,14 A : Aus¬
wirkung, gleichzeitig mit, ja wohl schon vor jener || 35,21 und deduktiv
fortschreitende Einf. C || 35,37 in ihr selbsttätig in C statt und selbst || 35,39
u. 36,1 rein Einf. C || 36,17f. nach völlig neuen Typus Zusatz B: wie ihn nur
die europäische Kultur kennt. Das Gesperrte in C unterstrichen
|| 37 nur in B : 6. Vorlesung (12.XI.1923) || 38,21 Immer ist er dabei bis
38,37 maßgebend sind. Zusatz B || 38,36 subjektive Einf. C || 39,6 Aber
sollte hier nicht mehr gefordert werden? Zusatz B || 39,11 Fallen doch bis
39.23 vor Augen steht usw. Zusatz B || 40,14 Nur wenn der Wissenschaftler
bis 40,32 in denen in A ; fehlt in B, dafür: Aber diese Charaktere der Riph-
tigkeit, der Identität usw., wo anders treten sie auf als in der Subjektivität
des Erkennenden, in seinem subjektiven Tun, in dem sich für ihn usw.; G:
Aber diese Einheiten mit ihren Charakteren der Richtigkeit usw., wo
anders usw. || 43,31 überhaupt hinter Wahrheiten Einf. C || 44 nur in B: 7.
Vorlesung (13.XI. 1923) || 44,18-21 gemäß B\ A: Die von uns postulierte
424 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
Wissenschaft vom Erkenntnissubjektiven, in einer gewissen Parallele mit
der formalen Logik, bezieht sich aber in einer total anderen Weise als diese
auf alle Wissenschaften und umspannt sie alle. Alle Wissenschaften usw. ||
45,28 aber nur Einf. C || 46,18 ein vor „Erkennen” Einf. C || 29,23 subjekti¬
ves in C in Klammern gesetzt || 49,32 A : Als Objekte vor als Gegenstände;
in C eingeklammert || 51 nur in B: 8. Vorlesung (15.XI. 1923) || 51,32 in
Einf. C || 52,18f. gemäß B\ A: der allgemeinen Idee einer rationalen Wis¬
senschaft die Bahn gebrochen usw.; entworfen und Erg. C || 53,37 der
Mangel in C statt das Manko; am Rande ein Paragraphzeichen || 58 nur in B:
9. Vorlesung (16.XI. 1923) || 63 nur in B: 10. Vorlesung (19.XI.1923) || 64,
11-14 der uns bei bis beschäftigen wird, in A in eckiger Klammer || 65,6
konkrete Einf. C || 66,7 in ihrem Insich- und Fürsichsein Einf. C || 66,8f. A :
absolut zweifellose Subjektivität || 66,34 an die sich darbietenden Gegen¬
stände Erg. C || 67,1 lf. jederlei sonstigen Sinnes Einf. C || 68,16f. als solche
und für den Erkennenden und in seinem erkennenden „Haben” Einf. C ||
69,6-9 A : Erst wenn über die Rationalität der geraden Forschungsrich¬
tung hinaus auch diejenige Rationalität gewonnen ist usw. || 69,3 lf. A : als
Korrelat eine die Welt, das All zu setzender Realität betreffende usw. ||
70,1 lf. A: zu behandeln hat; gemäß B: hätte || 70,12f. A : daß jede, wie
immer zu verstehende Metaphysik || 70,16 daß <sie> gemäß Einf. C || 70
nur in B: 11. Vorlesung (20.XI. 1923) || 71,9 Blende in C statt Scheuklappe ||
72,35f. A : der wahren, nur im Anfänge des Anfanges nämlich. Nur usw. ||
72,38 vor fehlt in A || 73,19 A : verkehrte Substanzenlehre || 73,32f. gemäß
B; A: den Raum des Prototyps usw. zuzueignen. || 75,7 konnte und Einf.
C || 75,11 A : wird hier der Locke’sche || 75,22 nur freilich in C statt und
zwar von Locke || 75,28 A : das ego zum Thema || 75,32 gemäß C; C zuerst
Was Locke sich als Thema setzt; A : Was Locke will, ist aber nicht ohne
weiteres eine Psychologie || 75,33f. A : schließt er Psychophysik, wie er
sich ausdrückt: die Physiologie des menschlichen Geistes, aus; || 75,35 A :
eine psychologische Disziplin || 76,2 vollständigen Einf. C || 76,3f. er will
Einf. C || 76,12f. A : die Entwicklung eben dieses, des Erkenntnisvermö¬
gens || 76,38f. A: ursprünglich in sich das Selbsthaben || 78 nur in B: 12.
Vorlesung (22.XI.1923) || 78,12 sowohl auf das Einf. C || 78,13 wie auf das
in C statt und wieder auf das Prinzipielle, das || 79,24f. kann vorweg mit
einem unbestimmt allgemeinen Ausdruck bezeichnet werden bis 84,15 Sinn
und Geltung schöpft gemäß C bzw. D statt A : und geleistet werden soll, ist
die Klärung objektiver Erkenntnis überhaupt und in allen ihren prinzi¬
piellen Sondergestalten; und ganz besonders die Klärung der Leistung,
die der Titel Vemunfterkenntnis, Erkenntnis im prägnanten Sinn,
gegenüber prätendierter und unvernünftiger bezeichnet. Also prinzipiell
ist hier Erkenntnis in Frage gestellt, unklar, wie sie vorausgesetztermaßen
ist, noch unerforscht in ihrem Wesen und dem Sinn ihres Leistens. Unver¬
ständlich ist, wie in einem subjektiven Erkenntniserleben, genannt äußeres
Erfahren, einer Welle im Strome meines ego, dieses zur Leistung kommt,
was eben dieses Erfahren, dieses momentane Wahmehmen, in sich selbst
zum Erfahren einer Natur macht: immanent im Erfahren selbst liegt doch
die Meinung, ein äußeres, verharrendes, an-sich-seiendes Reales unmittelbar
ZUM HAUPTTEXT 425
und selbst zu erfassen. Nur in solchem Erleben kann Natur, kann Welt für
mich etwas bedeuten, für mich dasein.
Und wieder, in subjektiven Erlebnissen, genannt theoretisches Urteilen,
können allein Wahrheiten, wahre Sätze über Objektivitäten gewonnen
werden, und ganze Wahrheitssysteme, genannt Wissenschaften; also
abermals etwas, das kein bloßes Moment sein soll im Fluß meines subjek¬
tiven Erlebens. Aber ist dergleichen in prinzipieller Allgemeinheit Thema
der Fragestellung, so kann es in dem ganzen Denkprozeß der Beantwor¬
tung der Frage doch nicht als Prämisse, als außer Frage stehend voraus¬
gesetzt werden. Ist es nicht widersinnig, aus dem Faktum der Natur und
auf Grund von naturwissenschaftlichen Feststellungen aufklären zu wol¬
len, wie für mich „Faktum der Natur” überhaupt Sinn und Geltung hat,
was „Feststellungen über Natur” überhaupt für mich bedeuten können,
was es in meinem Erkenntniserleben eigentlich macht, daß dergleichen in
ihm als Sinn liegen und den notwendigen Charakter „geltender Sinn”
gewinnen kann ?
Wollte Locke, was er und alle nachkommenden Erkenntnistheoretiker
zweifellos wollten, das generelle Wesen der Erkenntnisleistung klarlegen,
wollte er das, um prinzipielle Normen zu gewinnen, an denen rechtmäßige
wissenschaftliche Erkenntnis gemessen, unvollkommene vervollkommnet,
und somit allererst echte Wissenschaft selbst, Wissenschaft aus prinzi¬
pieller Selbstverantwortung ermöglicht werden konnte: dann mußte er
den Sinn seines Vorhabens zu unverwirrbarer Klarheit bringen und ihn
darin halten, also in unverwirrbarer Klarheit, was die Frage nach Wesen,
Leistung oder Geltung der Erkenntnis in diesem Zusammenhang eigentlich
meine. Er mußte sehen, daß die prätendierte Leistung der Erkenntnis, der
echten, sogenannten vernünftigen Erkenntnis, nichts minderes ist, als für
den Erkennenden Objektivität jeder Art und Gestalt, wahrhaft Seiendes,
wahre Aussage, wahre Theorie und Wissenschaft zu konstituieren. Es
mußte gesehen und in radikalem Zugriff festgehalten sein, daß Objektivi¬
tät nirgendwo sonst als im erkennenden Bewußtsein sich als Sinn und als
rechtmäßige Setzung konstituiert, und nicht neben oder vor der Erkennt¬
nis etwas ist, wonach Erkenntnis, sei es in der Weise einer abbildenden
Leistung oder einer durch Zeichen indizierenden, sich richten könnte. Es
mußte gesehen sein, daß alles, wonach Erkenntnis sich richten kann, selbst
schon, und prinzipiell. Erkanntes, und daß alles selbstverständlich Vorge¬
gebene und schlicht Dastehende das nur ist auf Grund erfahrender und
sonstiger Bewußtseinsleistungen, und in ihnen selbst Bewußtes. Rb. C:
Deleatur, Beilage! Diese Beilage (auch in A : F I 34 I f3-6) in C eingefügt
und in D noch korrigiert. Vgl. folgende Anm.! || 80,16—19 Rb. D: ! ? || 81,33
wie es Einf. D || 81,36f. gemäß D: C: das Erfahren und Wissen, Wesen und
Sinn || 81,39 verborgen und Einf. D\ Dasselbe in D statt C: Das || 82,11 uns
erst verständlich in D statt C: es uns verständlich || 82,14 als vor objektives
Sein Einf. D || 83,18 vom objektiven Seienden in D statt C: vom Objektiven
|| 84,6 als etwas Einf. D || 84,11 C: sich aktualisierte, denn als in Synthesen;
D: sich aktualisierte, denn anders als in Synthesen; umgestellt vom Hrsg. ||
84,32 doch Einf. C || 85,1 A: Jene grundverschiedenen Aufgaben || 85,3
426 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
„Erkenntnistheorie”, „Theorie der Vernunft” Einf. C j| 85,13 bzw. der
menschlichen Vernunft in C statt eine psychologische Theorie der mensch¬
lichen Vernunft || 85,23 in C am Rande ein Paragraphzeichen || 86,15f. Es
handelt sich natürlich bis 87,30 versucht wurde, gemäß C bzw. D (vgl. aber
Anm. zu 87,9-11) statt A : Es handelt sich natürlich um alle logischen, aber
auch die mathematischen Grundbegriffe, ebenso auch, und analog, um die
Grundbegriffe und Grundsätze der Ethik, als die prinzipiellsten Normen
aller Lebenspraxis. Jeder eignet sich diese prinzipiellen Bestände subjektiv
in eigenem Denken zu und erfaßt in Evidenz ihr absolutes Recht. Die letzte
Quelle des absoluten, übersubjektiven Rechtes ist aber Gott, der sie jeder
Seele ursprünglich eingepflanzt hat; also eine theologisch-psychologische
Erklärung der übersubjektiven Geltung prinzipieller Elemente aller
Theorien. Gegen diese Lehre, mit der bei Descartes die schon er¬
wähnte theologische Evidenzlehre zusammenhängt, reagiert nun Locke
in seinem berühmten und in seiner Zeit so wirksamen ersten Buch des
Essay. Was er diesem theologischen Psychologismus nun selbst gegenüber¬
setzt, ist der neue, der naturalistische Psychologismus. Seine Psychologie
und psychologische Begründung der Erkenntnistheorie schließt alle theo¬
logischen Prämissen aus; so wie die neue Naturwissenschaft ist sie Wissen¬
schaft rein aus Erfahrung, rein induktive Tatsachenwissenschaft.
Aber, wie wir schon wissen, es ist eine Psychologie von besonderer
Begrenzung, eine solche, die, um Erkenntnistheorie aus sich hergeben zu
können, alle psychophysischen Theoretisierungen außer Spiel lassen will;
eine Psychologie rein auf dem Grunde innerer Erfahrung. Darin lag insofern
ein bedeutsames Motiv, als es Locke offenbar fühlbar war (und durch seine
konkreten Darstellungen erst recht seinen Lesern fühlbar gemacht wurde),
daß nur eine deskriptive Methode für die Erkenntnisprobleme in Frage
käme. Es war fühlbar geworden, daß eine Lösung von Erkenntnispro¬
blemen, auch von spezifischen Problemen vernünftiger Geltung, ihrem
Sinne nach nur auf dem Grunde direkt anschaulicher Betrachtung der
Erkenntnisphänomene selbst gewonnen werden könne, daß sie sich also in
dem Kreis der cartesianischen Evidenz, auf dem zweifellosen Boden der
Selbstgegebenheit der Erkenntniserlebnisse für den Erkennenden bewegen
muß. Wie sehr dabei das ego cogito objektivistisch, nämlich psycholo-
gistisch mißdeutet war, es war doch ein Fortschritt, daß nun die von
Descartes versäumte Ausbildung einer reinen Egologie mindestens
in psychologischer Umwendung und Mißdeutung erwuchs, somit als eine
psychologische Egologie, als eine Art Historie der menschlichen seelischen
Innerlichkeit. || 86,271 gemäß D ; C : ist nach dem theologischen Psycholo¬
gismus aber Gott || 87,9—11 daß nur eine deskriptive Methode für die
Erkenntnisprobleme in Frage käme. Es war fühlbar geworden gemäß A,
fehlt in B, C und D || 87 nur in B: 13. Vorlesung (23.XI. 1923) || 88,2 A : von
größter Bedeutung; C zuerst: von bleibender Bedeutung, dann bleibender
durch endgültiger ersetzt || 88,181 A : mit ihr in historischer Verflechtung
unklar auftretende Vernunfttheorie || 88,33 sinnbestimmend in C statt
sinngebend || 88,34 für ein tiefstes und letztes Verstehen bis 88,37 a priori
ist in C statt: für ein tiefstes und letztes Verstehen der erkenntnistheore-
ZUM HAUPTTEXT 427
tischen Bedeutung solchen Leistens eine transzendentale Theorie, die, als
das prinzipielle Wesen aufklärend, a priori ist. || 88,38 daß es doch bis 89,1
aufzuklären in C statt A : daß sie es doch selbst ist, die das Wesen apriori¬
scher Erkenntnis aufklären soll || 89,2 A : der empirischen Erkenntnis
überhaupt und als solcher || 89,18 A : Und in diesem Sinne || 89,39 Aller¬
dings auch die Systematik bis 90,15 in der Locke’schen Psychologie
gemäß C; A: Nur die Systematik der Deskription in der Bewältigung
größerer Gebiete, die, wie die naturhistorischen, überreich sind an kon¬
kreten Gestaltungen, deren jede überaus kompliziert gebaut ist, kann hier
große Schwierigkeiten bieten. Aber immerhin, jede Beschreibung, die an¬
fängt, bemächtigt sich in direkter Erfahrung ihres Gegenstandes. Das
erfahrende Erfassen als solches ist nicht selbst schon ein Milieu besonderer
Schwierigkeiten, nämlich als ob prinzipielle Gefahren bestünden, die zu
beschreibenden Gegenstände selbst ganz zu verfehlen. Aber gerade das ist
merkwürdigerweise die Sachlage in der Psychologie usw. || 90,32-34 so
dient ihr diese bis ,.äußere” Erfahrung, gemäß C; A : so dient ihr natür¬
liche Selbsterfahrung, so wie dem Naturwissenschaftler die natürliche
sinnliche Erfahrung, die sogenannte äußere Erfahrung. Aber ein anderes
ist die innere Erfahrung, die sogenannte „innere Wahrnehmung” und
innere Erinnerung, dieses Erbe der Cartesianischen Meditationen, dieses
nur ertipirisch-psychologisch gewendete ego cogito. Im letzten Satz in C
sogenannte gestrichen, sodann der ganze letzte Satz in Klammern und an den
Rand ein Deleatur gesetzt. || 90,36 überhaupt in C statt vielleicht || 90,37 der
rein immanenten in C statt solcher |[ 90,38 rein vor inneren Einf. C || 90,38f.
im wesentlichen und aber Einf. C || 91,5f. A : der im wesentlichen sicher
zweifellose Gedanke || 91,1 lf. in reiner Eigenwesentlichkeit in C statt A : in
rein eigener Wesentlichkeit || 91,23ff. Rb. C: vgl. 100, d.h. hier 93,1 lff.: Es
besserte daran nichts usw. || 92,8 Freilich bis 92,13 fixierend, gemäß C; A :
Freilich zeigt sich dann sogleich, daß die echte „innere Erfahrung” nicht
ein Feld, so etwas wie eine Ebene oder ein Raum ist, über das ein beweg¬
licher geistiger Blick nur hinwegstriche, darin auftretende Gegebenheiten
nur berührend und fixierend. || vom Hrsg, worüber statt über das || 92,16-
19 in vielen bis Implikation; gemäß C; A: jederzeit kann und ev. wird
Bewußtsein selbst wieder Bewußtes von Bewußtsein, dieses wieder;
|| 92,21 A : Und hier gehört || 92,33 von seinem Erlebnisgehalt in C statt von
ihm || 93,10 auch nie Einf. C || 93,11 Es besserte daran nichts bis 93,26 Rb.
C: Unklar und neu schreiben; vgl. 98. Das Bereden d.h. hier vgl. 91,23 ff. ||
93,11 A : Es ändert daran nichts || 93,18-20 (als denjenigen Begriffen .. .
sich aufbauen) in C statt A : von psychologischen Grundbegriffen || 93,23
sogar Einf. C || 93 nur in B: 14. Vorlesung (26.XI. 1923) || 94,4 materiellen
Einf. C || 94, 4 hinter Natur A : der rein naturwissenschaftlich bestimmten
Natur; in C gestrichen || 94,19 Zeitlichkeit und Räumlichkeit Einf. C || 94,
38f. Bewegungsvorgänge in C statt Vorgänge || 95,15f. bei Locke bekannt¬
lich bis 96,321 in einer anderen und sehr bedeutsamen Eigenheit gemäß C;
A : bei Locke in der metaphysischen Form, die auch den seelischen Akten
und Zuständen ein unbekanntes Substrat, eine seelische Substanz als
Träger zugrundelegt, woraus sich ihm ergibt, daß man nicht wissen kann
428 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
ob sie nicht dieselbe sei, die in der wissenschaftlichen Bearbeitung äußerer
Erfahrung als materielle Substanz zugrundegelegt wird.
Natürlich könnte ich hierbei davon sprechen, was Locke von der Natur¬
wissenschaft wie auch von der mit ihr verflochtenen Metaphysik an Vor¬
überzeugungen annimmt, an Vorüberzeugungen, die er bei seinem Unter¬
nehmen der Erkenntnistheorie nicht fahren läßt, sondern immerfort
benützt, während es doch sein Thema mit sich bringt, daß er die Möglich¬
keit der Erkenntnis von all dem, was er hierbei vorausgesetzt hat, unter¬
suchen wollte. Das tut er dann auch; im Lauf seiner Untersuchung wird
also in einer Art Zirkel all das zum Problem, was doch von Anfang an und
während der ganzen Untersuchung bis zur Stellung und Lösung des Pro¬
blems Voraussetzung ist und bleibt.
Aber, wie gesagt, davon wollen wir hier nicht weiter sprechen. Der
Einfluß der Naturwissenschaft und der durch sie geheiligten naturali¬
stischen Denkungsart zeigt sich noch in einer anderen und sehr bedeutsa¬
men Eigenheit usw. || 95,17 vom Hrsg, auch den seelischen statt C: so den
seelischen || 96,39-97,1 in einem rein auf das ego cogito sich gründenden
Verfahren in C statt in einem reinen und zirkelfreien Verfahren || 97,7f.
bleibt doch Einf. C || 97,9 auch für Locke in C statt bleibt für Locke ||
97, lOf. A : doch ebenfalls maßgebend || 97,13f. mit ihrem cogitatum qua
cogitatum Einf. C || 97,16 reflektierend Einf. C || 97,25 obschon etwas vage
Einf. C || 97,28 wechselseitig Einf. C || 97,341 ob diese Vorstellungen und die
mit ihnen entworfenen metaphysischen Gedankengebilde in C statt A : ob
die prätendierten Erkenntnisse, ob die metaphysischen Gedankengebilde ||
98,2 allem voran Einf. C || 98,10 A :,,historisch schlichte” || 98,11 auch der
in C statt einer || 98,18 fließen in C statt sind || 99,9 entbehren der Klarheit
und Deutlichkeit in C statt haben vielfache Verworrenheiten angenommen ||
99,12 klärend Einf. C || 99,18 (hier verstanden bis 99,20 erwachsen in C
statt A : aufweisen, die ursprünglich also in der Gestalt originären Erlebens
(nicht reproduktiv) im reinen Bewußtsein erwachsen; danach in C ferner
der Zusatz: (also nicht in Gestalt unbestimmter, matter oder gar unan¬
schaulicher Nachvergegenwärtigungen) || 99,361 echten vor Intuitionis¬
mus Einf. C; in A echten vor transzendentalen Erkenntnisbegründung
|| 99,39 Neubegründung aller Wissenschaften bis 100,10 konnte es nicht
kommen gemäß C; A: Begründung absolut gerechtfertigter Wissenschaft.
Aber zu einer fruchtbaren Auswirkung dieser Vorahnung konnte es nicht
kommen. || 100,16 der Raumwelt, als Einf. C ||
lOOf. Anmerkung1) gemäß C bzw. D || 100,38 korrekten in D statt C:
konkreten || 100,44-101,24 im Übergang vom Einen zum Anderen Einf. D
|| 101,25 Einstellung Einf. D || 101,28 korrekte in D statt C: konkrete ||
101,29 (im Glauben vollzogenen) in D statt C: (gläubigen) ||
101,6f. A : beschreibt, zergliedert und kausal erklärt || 101,16 und hatte
bei Locke bis 101,20 Aber hier liegt gemäß C; A: und das ist auch || 102
nur in B: 15. Vorlesung (27.XI. 1923) || 102,1 Wäre in C statt Ist || 102,4-9
A : Sie müßte rein induktive Wissenschaft sein, und eine andere, sich mit
ZUM HAUPTTEXT 429
der induktiven nur verflechtende Behandlungsart müßte prinzipiell ver¬
kehrt sein. || 102,27 befaßt in C statt bezeichnet || 102,29 in A Ereignisse
hinter Vorkommnisse, in C gestrichen || 102,12 ganz Einf. C || 103,14 diese
Tätigkeiten in C statt die Ich-Tätigkeiten || 103,15 dem „Geiste” in C statt
A : ihm. Zunächst in C: dem Ich || 103,18 implizite Einf. C || 103,20 A :
wie er lieber sagt || 103,22f. und im übrigen interpretiert er es als unerkenn¬
bare Substanz Einf. C; Rb. C: Beilage, siehe f.Anm. || 103, 23f.Bald nennt
er es eine Idee bis 103,36 innerhalb der Subjektivität liegen. Einf. gemäß
C und D || 103,38f. gelegt fehlt in A || 104,9 Akt- und gewahrenden Einf. C
|| 104,13 Rb. C: Beilage, siehe f. Anm. || 104,13f. Jedes solche Akterlebnis
bis 104,29 des, der ich bin. Einf. gemäß C bzw. D || 104,13f. Jedes solche
Akterlebnis ist, wenn ich es als Akt des Ich er- gemäß D; Text C fehlt || 104,
33f. ist in absoluter Identität, in C statt A : ist absolute Identität. || 104,38
hinsichtlich Einf. C || 105,4 und gar metaphysische Einf. C || 105,8 A : und
absolut numerisch identischer || 105,22f. — und das betrifft fast die ge¬
samte Neuzeit — Einf. C || 105,24 rein vor natural Einf. C || 105,27 gera¬
dezu Einf. C || 105,33 ihm substruierten Einf. C || 106,9 Bewußtsein
„bezieht sich” bis 108,32 So überall gemäß Einf. in C und D; A hat: Be¬
wußtsein ist nicht ein realer Vorgang, der das in ihm Gegenständliche als
reales Stück, als Teil enthielte. Z.B. das Bewußtsein, das wir Erinnerung
nennen, hat in sich selbst bewußtseinsmäßig beschlossen die und die erin¬
nerte Vergangenheit, das Bewußtsein, das wir äußeres Wahmehmen
nennen, hat in sich selbst beschlossen das wahrgenommene Äußere; so
überall, und überall eine offenbare Unabtrennbarkeit. Dies ist in C noch
wie folgt abgeändert, ehe ganz gestrichen und durch obige Einf. ersetzt: Z.B.
der gegenwärtige Bewußtseinsakt, den wir Erinnerung nennen, ist in sich
selbst immanent-intentional Bewußtsein der und der erinnerten Ver¬
gangenheit als solcher; ebenso das Bewußtsein, das wir äußeres Wahr¬
nehmen nennen, in sich selbst Bewußtsein von dem wahrgenommenen
Äußeren. So überall; und überall eine offenbare Unabtrennbarkeit — in
dem sorgsam zu beachtenden Sinn des rein immanent Intentionalen. ||
107,7f. C: daß der Baum in Wahrheit dort nicht sei, vom Hrsg, nicht
gestrichen || 108,33 also Einf. C || 109,3 eben Einf. C || 109,5f. bedeutet in C
statt leistet || als Verbindung von Bewußtsein in C statt damit || 109,7 Diese
Leistung besteht darin, daß in C statt; nämlich || 109,9f. Doch legen wir
vielleicht bis 109,20 in Widersinn verfallen. Einf. C || 109,21 Im Zusam¬
menhang damit muß ferner in C statt Ferner muß || 109,21 f. bewußtseins¬
mäßige Einf. C || 109,24 A: mannigfaltiges wirkliches und mögliches
Bewußtsein || 109,31 und so überhaupt Gegenstände in C statt A :
und unzähliger einzelner Gegenstände || 110 nur inB: 16. Vorlesung (29.XI.
1923) || 110,lf. unter den Titeln Ich und Gegenstand Einf. C ||
110,2f. A : als solches und in absoluter || 110,6 in Form in C statt in sich
unter dem Titel || 110,10-12 und zwar bis gehören Einf. C || 110,16f.
Bewußthaben in C statt Bewußtsein || in C Wahrnehmen und Erwarten
statt Wahrnehmung bzw. Erwartung || 110,19 und Einf. C || 110,26 Namen
in C statt Titel || 110,28 Erwarten Einf. C || 110,34-111,30 Rb. C: neu aus¬
arbeiten || 110,34 aber Einf. C || 110,35 ernstlich in C statt A : reflektiv ||
430 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
110,36 als <das>, was es wesenhaft ist, Einf. C || 111,6 ausschließlich Einf.
C || 111,10 von Objektivem Einf. C || 111,11-13 Es ist selbst bis zu beschrei¬
ben in C statt Es ist selbst etwas, und von dem Gehabten Untrennbares,
und doch nach seinem eigenen Wesen zu Beschreibendes || 111,14-112,7 in
C in eckige Klammern gesetzt || 111,14 irgend und etwa Einf. C || 111,16f.
ist; wieviel schon an dem bloßen Sehen eines Dinges als solchen! in C statt
A : ist an dem Sehen des Dinges als solchem, um nur auf eins hinzuweisen; ||
111,19 A: Anblicke, Aspekte || 111,24f. Solcher Themen bis vielfältige, in C
statt A : Und solcher Themen subjektiver Deskriptionen gibt es schon bei
der Wahrnehmung sehr vielfältige. || 111,25 Es zeigt sich ein gleiches in C
statt Das gilt aber || lll,26f. Bewußthaben, durch das alles einzelne Erle¬
ben seinerseits bewußt ist, in C statt Bewußthaben, das Korrelat der
tabula rasa wäre, || 111,31 der Begriff des Einf. C || 111,32 somit in C statt
und || 111,32-112,7 Rb. C: neu ausarbeiten || 111,39-112,1 A : 2) das innere
Bewußtsein im Cartesianischen Sinn || 112,24—26 — obschon sich bis innig
verbinden, nur in A || 112,29 nach hin in A : die übrigens im wesentlichen
von Galilei herstammt. In C gestrichen || 114,4 wohl Einf. C || 114,6
sinnlichen Einf. C || 114,8 sinnlich Einf. C || 114,9 Seelenleben in C statt
Ich und Ichleben || 114,10 Psychischem in C statt Ich || 114,12 in der eige¬
nen immanenten Sphäre Einf. C; jedes Analogon in C statt A : jede Analo¬
gie || 114,19-115,39 in C in eckige Klammern gesetzt || 114,30 wären und
seien in C statt sein sollen bzw. sind || 114,33 A : und assoziative Komplexe
sind keine Dinge || 114,36 A : Lockes Substanzlehre || 114,38 als Ursachen
äußere Komplexe, Analoga jener inneren in C statt als Ursache ein äußeres
Analogon || 114,39-115,1 solchen wahren äußeren Komplex in C statt
solchen Komplex in seinem wahren äußeren Sein || 115,13 A: Hat nicht
dann auch Berkeley || 115,14 Empfindungs- Einf. C || 115,14 Empfin¬
dungskomplexe in C statt Komplexe von Empfindungen ff 115,17 zugehörig
Einf. C || 115, 18 u. 21 ohne daß wir ... hätten in C statt ohne ... zu
haben || 115,19 angeblich Einf. C || 115,19f. dieses einen Komplexes
„objektive Natur” in C statt dieser einen Natur || 115,22t. daß es also
über seine sogenannten Bilder nie hinausgeht nur in A || 115,25 m.a.W.
Einf. C || 115,25f. der Natur überhaupt Einf. C || 115,26f. kann es offenbar
... finden in C statt und ... finden kann || 115,28f. So als einzelnes Ich
in eigener direkter Erfahrung. Einf. C || 115,30 und selbsterfahrene Natur
Einf. C || 115,35f. So hätte Locke überlegen und fragen müssen. Einf.
C || 116 nur in B : 17. Vorlesung (30.XI. 1923) || 117,27 Da ist zu sagen
gemäß B] A: Da ist nicht zu sagen || 118,17 worin Einf. C || 118,19 zuteil
wird in C statt geben || 118,27 Rb. C: Einiges wert der Ausführung || 118,30f.
Es ist Wahrnehmen und nichts weiter, in C statt Es ist freilich richtiges
Wahmehmen; || 119,3f. A : synthetisch vereinheitlichender Wahrnehmung
|| 119,5—7 dieser Tisch (die synthetische Einheit, der bewußtseinsmäßig
Eine und selbe Gegenstand) Einf. C || 119,8f. nur vorausgesetzt, daß in C
statt wenn eben || 119,12 also, wie gesagt, Einf. C || 119,13 Bewußtseinscha¬
rakter in C statt Bewußtsein || 119,14 synthetische in C statt intentionale ||
119,15f. das Transzendente selbst in C statt und sinngemäß transzendente.
|| 119,18 Bestätigung in C statt Ausweisung || 119,30f. Art seiner erfüllenden
ZUM HAUPTTEXT 431
Bestätigung in C statt Ausweisung || 120,4f. das nun, herüber und hinüber
bis 120,8 machen kann, in C statt vergleichend, die Kausalitäten erkennend
und danach aus ihnen Analoga oder Kausalzeichen für seinen Erkenntnis¬
gebrauch machend. Oder, wie wir auch sagen können, || 120,16 wie eine
bloße Komplexion bis 120,27f. Ichzentrierung nannten, in C statt und
nicht etwas, das nur in der Bewußtseinseinstellung als Bewußtsein seine
völlig andersartige Seinsweise enthüllen muß. || 120,29 nur in A späterer
Zusatz als Rb.: Das sieht durch diese Rede wie eine Zauberei aus, was
drinnen ist, soll draußen sein. || 120,34 des vom Hrsg, statt A : dem || 121,2f.
A : macht das Verdienst Lockes aus || 121,15 oder Einf. C || 121,26f. als,
und <als> so bestimmte Gegenstände in C statt objektiv || 121,34f. Zu
diesem Bau gehören natürlich bis 126,24 psychologischer Genesis, in C
statt A : Für alle solche Probleme der Korrelation von erkennendem Bewußt¬
sein und Gegenständlichkeit, der subjektiven Konstitution aller Welten in
der erkennenden Subjektivität, für alle Probleme der Subjektivität als
Quelle aller Sinngebung und Geltung ist eine naturalistische Psychologie
und Erkenntnistheorie prinzipiell blind. Und das heißt, sie ist blind für die
eigentlich erkenntnistheoretischen und selbst, in empirischer Wendung,
für die eigentlich psychologischen Erkenntnisprobleme. Verkannten wir
also auch nicht den Fortschritt, der in Lockes Essay dadurch inaugu¬
riert war, daß er gegenüber Descartes eine Wissenschaft von den
Gegebenheiten des ego cogito zu begründen unternahm, so ist es nun klar,
daß er zu der echten Grundwissenschaft aller Erkenntnis und für alle
Wissenschaften und andererseits auch zu einer echten objektiven auf
Menschen- und Tierleben bezogenen Psychologie auf dem Grunde der
inneren Erfahrung nicht vorzudringen vermochte. || 126 nur A und B: 18.
Vorlesung (3.XII. 1923); in C Absatz, in D ein Paragraphzeichen || 126,25
Ein besonderes Substrat bis 127,2 fortgehen zu der gemäß C; A :
Die Kritik, die wir in der letzten Vorlesung abgeschlossen haben, zeigte
uns in einer problematischen Hauptlinie den methodologischen Widersinn
des immanenten Naturalismus der Locke’schen Erkenntnistheorie. Klar
ist dabei auch geworden, daß selbst, wenn man, in der natürlichen objek¬
tiven Einstellung verbleibend, eine objektive Psychologie ausbilden will,
die Blindheit für das Intentionale als Grundcharakter des seelischen Be¬
wußtseinslebens eine wirkliche Psychologie unmöglich machen muß. Eine
naturalistische tabula-rasa-Psychologie, wie sie Locke in die Wege geleitet
und wie sie durch die Jahrhunderte sich fortgebildet hat, mußte versagen,
mußte an induktiven Äußerlichkeiten und Regelmäßigkeiten hängen
bleiben, und die eigentlichen inneren Zusammenhänge, die verständliche
Einheit und rationale Gesetzmäßigkeit begründenden Bewußtseinseigen¬
heiten, alles, was für Seelisches konstitutiv wesentlich ist, blieb außer Spiel
und konnte sich nur in naturalistischen Mißdeutungen und Verkleidungen
unwissenschaftlich geltend machen.
Aber objektiv-psychologische Methode ist hier nicht unser Interesse.
Für uns ist die gesamte Psychologie wie jede objektive Wissenschaft, da
wir philosophisch interessiert sind, interessiert für die Möglichkeit abso¬
luter Erkenntnisbegründung, in gleicher Weise Problem. Uns geht allein
432 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
dies an, daß die naturalistische Erkenntnisbegründung der tabula-rasa-
Deutung der immanenten Sphäre nicht nur allgemein dadurch in Wider¬
sinn gerät, daß sie objektive Wissenschaft, und darunter <Psychologie>,
voraussetzt und benützt, sondern <auch> dadurch, daß sie zwar auf innere
Erfahrung zurückgeht, aber eben durch die Art naturalisierender Verken¬
nung der inneren Erkenntnissphäre blind wird für die eigentliche eikennt¬
nistheoretische Problematik in ihrem bestimmten Gehalt, blind für die
echten Probleme von subjektiver Erscheinung und wahrem Sein, von In¬
nerlichkeit und Äußerlichkeit, als welche Probleme der Bewußtseinsin-
tentionalität sind und nur als solche ihren Sinn haben. Das besondere
Substrat unserer Kritik war dabei Lockes Lehre von den materiellen
Substanzen und von ihren Qualitäten, bzw. sein Versuch, zu zeigen, wie die
wahre Äußerlichkeit sich innerlich im Ideengebiet darstellt und wie das
Subjekt, das unmittelbar nur seine tabula rasa und seine Ideen hat, in sich
ein Bild der Äußerlichkeit und Überzeugung von ihrem wahren Sein
gewinnt.
Und in gleichem Stile könnte unsere Kritik dann fortgehen zu der ||
127,3ff. Rb. C: Abstraktionstheorie Lockes || 127,6 erhebliches Einf. C ||
127,9 hinter u.dgl. in C eine a) || <mit> Lockes Abstraktionstheo¬
rie Einf. vom Hrsg, unter Verwendung der Rb. 127,3ff. || 128,1—4 Das
Universum bis M.a.W. die gemäß C; A : Wenn Locke sagt, daß uns allein
unsere eigenen Ideen unmittelbar gegeben sind, und wenn er die Einheit
aller unmittelbaren Gegebenheiten als Bewußtseinstafel symbolisiert, so
sind diese Ideen nichts weniger als Platonische Ideen. Sie sind als
|| !28,4f. A : Sie sind als Data dieser Tafel ebenso, wie Data der Natur sind,
sie sind zeitlich einzelne usw. B : Sie sind als Data dieser Tafel ebenso wie
Data der Natur zeitlich einzelne usw. || 128,6 immanenten in C statt inneren ||
128,19 z.B. gemäß B || 128,31 A : auf eine Bewußtseinsfunktion || 128,32
auf Akte der Vergleichung bis 129,6 unmittelbare Selbstgegebenheiten in
C statt B : zu einer rechten Beschreibung ihrer objektivierenden Leistung,
durch die eigentümliche Gegenständlichkeiten und gegenständliche Ge¬
staltungen erwachsen, kommt es nicht; die Beschreibung bleibt dabei, an
der Bewußtseinstafel etwas geschehen zu lassen, als ob ein Geist hinter ihr
stünde und sich mit ihren Zeichen zu schaffen machte. Darin die Beschrei¬
bung bleibt dabei bis zu schaffen machte, in B statt A : sie bleibt äußerlich
betrachtete Hantierung des mit Zeichen der Bewußtseinstafel sich be¬
schäftigenden mythischen Geistes. || 129,8 sinnlichen Einf. C || 129,12 als
ihr Wahrgenommenes Einf. C || 129,14 in Beziehung auf in C statt für ||
129,15 daß es nicht minder in C statt wieder || 129,37 Ton überhaupt in C
statt Töne || 130,6f. die vor Erfüllungssynthesis Einf. C; A vielleicht: Auch
hier ist Erfüllung Synthesis || 130,7 Vermeintes Einf. C || 130,13 Selben in
C statt A bzw. B: selben || 130,16 z.B. Einf. C || 130,28 Keine Theorie der
Vernunft bis 131,37 Verlegenheit. Einf. C || 131,34f. wobei dann das absur¬
de Problem der Frage nach dem Grunde auftritt, warum vom Hrsg, statt C:
wobei dann das absurde Problem auftritt nach dem Grunde, warum || 132
nur in B: 19. Vorlesung (1.XII.1923) || 133,13 betreffen vom Hrsg, statt
betrifft || 133,18 A : So natürlich nicht || 133,20 zu Einf. C || 135,24f. A : Im
ZUM HAUPTTEXT 433
wesentlichen || 136,3 wann in C statt wo || 136,8 nach gegeben in A : auf
derselben tabula rasa auftretend, ebendort eingeklammert || 136,13f. die
eigene und fremde der Gegenwart und aller Vergangenheit usw. Einf. C ||
136.18 A vielleicht: Heranziehen || 136,39 die vom Hrsg, statt: das || 137,1
müßten vom Hrsg, statt: müßte || 137,9 gemäß B) A : Beachten Sie doch nur
folgendes! || 137,19 A : Erfahrung von Rot und Grün und von einer sinn¬
lichen Verbindung beider, Rb. C : ? Verbessert vom Hrsg. || 138,14 vor Es ist
klar in C eine Klammer || 138,27f. einer Erfüllung bis solche Gestalt Einf. C
|| 138,39 Erkenntnis in C in eckige Klammern gesetzt || 139,23f. A : also
in der platonischen Methode || 139,25 einer vor mathematischen Einf. C ||
139,34 ,.innerer Erfahrung” gemäß C in Anführungszeichen || 139,38 als
eine derselben Einf. C || 140,3 A : und werden dürfen || 141 nur in B: 20.
Vorlesung (6.XII. 1923) || 142. lOf. Wahre Methode bis heißen Einf. C \\ 142,
21 solche Einf. C || 143,33 in Bezug auf iw C shi^und || 148 nur in B: 21. Vor¬
lesung (7.XII. 1923) || 150,32 verwechselt in C statt interpretiert || 150,34
mit dem jeweiligen Komplex von Empfindungsdaten in C statt als einen
Komplex || 150,35 akustischen und sonstigen Daten gemäß A; B : akusti¬
schen Sinnesdaten; C: akustischen usw. || 151,15 synthetische und in der
Kontinuität der mannigfaltigen Einf. C || 151,16Rb. C: Beilage. Siehe Anm.
zu 151,28—43 || 151,18f. also für den Sensualisten die bloße Assoziation in C
statt die || 151,25 u. 26 immanenten und immanente in C statt meinen bzw.
meine || 151,26f. auf vor Unperzipierbares in C statt und || 151,28—43 Anm.
Einf. C und D. Rb. C und D: In kleinerem Druck im Text || 152,5 induktive
Einf. C || 152,6 assoziative Einf. C || 152 nur in B: 22. Vorlesung (10.XII.
1923) || 152,19f. echte Kausalität zu üben Einf. C || 152,25 hinter Tran¬
szendentes eine 1). Bezug unauffindbar || 152,29f. leider nicht bis Treatise in
C statt im Essay || 152,31-33 zwischen Hylas bis dargestellt Einf. C || 153,15
erfahren wie ich in C statt haben || 155,8 Keim in C statt Anfang || 155,16
Treatise in C statt Essay || 155,18f. letztere mit einigen nötigen in C statt
mit geringen || 155,17f. vorbereiten in C statt bereitlegen || 155,19 primitive
Voranschläge in C statt Grundstücke || 155,19 Abschnittszeichen in C ||
156,16 durch die in C statt aus der || 156,20f. näher studiert in C statt liest ||
156,22f. vorausgesetzt bzw. Einf. C || 157,15f. sensualistischen in C statt
naturalistischen || 157 nur in B: 23. Vorlesung (11.XII. 1923) || 157,17
Sensualismus in C statt Naturalismus || 158,11 bei diesem in C statt trotz
des || 159,15f. objektiven Einf. C || 159,24 immanent Einf. C || 159,36
<und> seine Principia Einf. C || 160,5 radikale in C statt letzte || 160,23 A
und B: die sich als; vom Hrsg, sich gestr. || 160,39 hinter anschaulich in A :
einsichtig; in C gestr. || 161,16 und das hinsichtlich aller in C statt in allen ||
161,9 wenn diesen Bewußtseinstypen bis 161,13 Sein Gedanke ist: gemäß
A ; B : wenn man wie Hume und der ihm folgende Positivismus diesen
Bewußtseinstypen physische Sachen unterschiebt, die bloß sachliche
Merkmale haben. Der dabei leitende Gedanke ist der: In C darin vor Positi¬
vismus Einf. empfindungsmonistische, das Wort physische ersetzt durch
psychische, anstatt die bloß sachliche Merkmale haben Einf. und aus den
Charakteren Impression und Idee bloß sachliche Merkmale. || 162,26 bis
163.18 Erg. C. und D; Rb. C und D: zu 176, d.h. hier zu 162,9 bis 163,36
Husserliana VII 28
434 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
|| 162,37f. nämlich vom Hrsg, statt C: unterzustellen || 163,5f. sei es von Ver¬
gangenem usw. vom Hrsg, statt C: an sei es Vergangenes usw. || 163,19 Am
Rande ein Kreuz, das die Stelle der Einf. vorstehender Erg. bezeichnen
dürfte || 163,27 in sich Einf. C || 163,30 hinter ist in C gestr.: in sich || 164,4
ernstlich Einf. C || 165,9 jeder Art Einf. C || 165,16 sachliche Einf. C ||
165,22 vor selbstgegeben in A : leibhaft; in C gestr. || 165,26f. oder, im bis
Selbstanschauung überhaupt Erg. C || 165,31 Selbst- vor anschauung Einf.
C || 165,34 jeder entsprechenden in C statt der || 166 nur in B: 24. Vorlesung
(13.XII.1923) || 167,24 als Einf. C || 167,37 solches in C statt Sinn || 167,39
auch Einf. C || 168,2f. Bewußtseinsleben in C statt Bewußtsein || 168,10 —
und schon bis 168,12 innegeworden ist — gemäß Einf. C;A: (und schon
wenn man diese Sachlage nicht so präzis, sondern in vager Intuition ergrif¬
fen hat); fehlt in B || 168,17 „positive” Einf. C || 168,20 Was hegt bis 168,22
Vorgegebene, das Einf. C statt Daß in der transzendentalen Subjektivität
jedes || 168,23 mit allen jeweils zu Sonderthemen werdenden in C statt mit
all seinen || 168,24f. ein im Bewußtseinsgestalten der reinen Subjektivität
immanent konstituierter Sinn in C statt ein in ihren Bewußtseinsgestalten
konstituierter Sinn || 168,26f. reinen, der Einf. C || 168,27f. reines Bewußt¬
sein überhaupt, bzw. dieses konstituierende reine Gestalten in C statt diese
Subjektivität und ihr reines Bewußtsein || 168,29 wie und so alles Einf. C ||
168,31f. für sie thematischen Einf. C || 168,34 rein Einf. C || 169,4 aller
Einf. C || 169, 6 vor Wissenschaften Einf. C: ,.positiven’’ dann wieder
gestr. || 169,9 hinnehmen gemäß B; A: haben || 169,9f. Klammern in C ge¬
setzt || 169,10 hinter und in A: in der Naivität, in C gestr. || 169,13 ihren
Anfängen und Gründen in C statt ihnen || 169,14f. zu den Urgründen und
zu den wahren in C statt in die usw. || 170,3 bezogen auf Einf. C || 171,25
apodiktischen Einf. C || 172,32 durch Unterschiebung naturaler in C statt
durch naturale || 172,33 hinter Zusammenhängen in A natürlich, in C gestr.
|| 172,34 selbstverständlich Erg. C || 173 nur in B : 25. Vorlesung (14.XII.
1923) || 173, 19f. den Mangel bis Ausformung in C statt ein großes Manko ||
173,21 vor neuartige in A neue und, in C gestr. || 173,24 in C Diese statt Die ||
173,27 dinglichen Einf. C || 173,301 Auf solche bis zurück in C statt
Darauf reduziert sich alle Naturgesetzlichkeit selbst || 173,32f. für den bis
trägt, in C statt wenn man Sensualist sein will. || 173,36 als Sensualist in C
statt selbstverständlich || 174,1 lf. die Klammern in C gesetzt || 174,11 sagen
würden in C statt jetzt zu sagen pflegen || 174,14 der wirklichen und mög¬
lichen Einf. C || 174,15f. Eben diese Einheit desselben Dinges in C statt Und
|| 174,17 ihm vor als in C statt für ihn nach Problem || 174,24f. den und ja
beständig Einf. C || 174,27 zwar in C statt ihrer Erkenntnis von Naturge¬
setzlichkeiten ; ferner Erkenntnis aus bloßer Gewohnheit in C statt bloßer
Erkenntnis aus Gewohnheit || 174,38 nach sie in A : bloß gewohnheits¬
mäßige Allgemeinheiten, in C gestr.] allgemeine Einf. C || 175,3 dafür
Einf. C || 175,18 bezogen bis 175,20 Dinge in C statt bezogen auf identische
und an sich seiende Dinge nach Veränderung und Unveränderung || 175,
21 f. rationaler bis Prinzipien in C statt aus rationaler Notwendigkeit ||
175,34 (und bis überhaupt) Einf. C || 175,38f. gilt es und bestimmt Einf. C |j
176,3 gilt es Einf. C || 176,10 obersten Einf. C || 176,11 Regionen in C statt
ZUM HAUPTTEXT 435
Kategorien || 176,11 in ihnen abzusondernden Einf. C ; ab- vom Hrsg, gestr.
|| 176,12 welche Einf. C || 176,13f. sind oder zu werden berufen sind. Das
betrifft also auch in C statt ausmachen oder ausmachen können, so für alle
|| 176,18 (der eidetischen bzw. empirischen) Einf. C || 176,19 Inte i-Einf.
C || 176,20 also der bis 176,22 „Welten”. Einf. C || 176,26 verworrenen und
Einf. C || 176,28 den jener unechten bis 176,30 Fernwirkung in C statt der
diesen Problemen und den sie behandelnden Theorien Entwicklungskraft
und fortdauernde Wirksamkeit || 176,341 nicht imstande, ihnen gerecht zu
werden, gemäß B , in A kein sinnvoller Text entzifferbar || 176,36f. Wissen¬
schaft im vollsten und strengsten Sinn in C statt strengste, absolut sich
rechtfertigende Wissenschaft || 176,37 das aber sagt, bis 177,2Wissenschaft.
Einf. C || 177,9 und ihr reiner Raum Einf. C || 177,12 allzusehr Einf. C ||
177,20 Theorie bis 177,23 einerseits in C statt Argumentation ist || 177,24
vor eben in C gestr.: und || 177,25 andererseits Einf. C || 177,27 die Endthese
seiner Theorie Einf. C || 177,28 wo immer sie im kausalen Schließen in C
statt sofern sie || 177,31-32 Einf. C || 177,35f. Rationalismus, bis Rationalis¬
mus, gemäß A und C; B : Rationalismus. In C dafür zunächst unklaren
Rationalismus seiner Zeit, dann Text A wiederhergestellt || 177,37 rein
logisch- Einf. C || 178,1 Arithmetik oder Einf. C || 178,10 Klammern in C
gesetzt || 178,21 jedoch in C statt aber || 178,26 real- und naturalen Einf.
C || 178,30 wesentlich in C statt neue || 179,2f. der assoziativ- bis Glaubens¬
nötigung Einf. C || 179,11 Anführungsstriche in C gesetzt || 179,12f. imma¬
nent-psychologischen und insbesondere (aber nicht allein) denen Einf. C ||
179,14 hervorbringt vom Hrsg, stattB: hervorzaubert; A : vollzieht || 180,3f.
ein Denken geleitet von der und somit im Stile der Einf. C || 180,5f. oder
vielmehr Metapsychisches Einf. C || 180,10 gegebenenfalls und irgendwel¬
chen Einf. C || 180,12 Allerdings in C statt Freilich || 180,24 vor als in A :
Wissenschaft und, in C gestr.) universale Einf. C || 180,26f. man beachte,
daß usw. gemäß C || 180,35 überhaupt Einf. C || 181,1 echte und Einf. C ||
181,2f. und als das bis Kriteriums in C statt A : und durch die Selbstver¬
ständlichkeit erledigt || 181,3f. solcher Notwendigkeit Einf. C || 181,6 als
Skeptiker Einf. C || 181,8 Zum Nachweise in C statt Hier || 181,18 sonst
Einf. C || 181,20 Hume’scher Einf. C || 181,28 Sensualismus in C statt Posi¬
tivismus || 181,30 und Einf. C || 181,32 hinter in C statt in || 181,34 nur daß
bis 181,36 werden. Einf. C || 181,37f. Skeptizismus bis Subjektivismus in C
statt Positivismus || 182,2 allein echten in C statt wahrhaft || 182 nur in B:
26. Vorlesung (17.XII. 1923). In C großes Abschnittszeichen || 182,7f. bei
unserer speziellen Absicht Einf. C || 182,12f. die Begründung bis ermög¬
lichenden in C statt für eine absolut zu begründende Philosophie notwen¬
dige || 182,18 vor Im in A : Jedenfalls, in C gestr. || 182,25 negativistischen
in C statt negativen || die Einf. C || 182,26f. letzt-vollkommene in C statt
echte || 182,27 somit auf echte Einf. C || 182,28 Er ist Einf. C || 182,30
jedweder Einf. C || 183,3f. und das Einf. C || 183,15 positiven Einf. C ||
dogmatischen in C in Anführungsstriche und Klammern gesetzt || 183,17
einer dogmatistischen in C statt dogmatischer || 183,19 die Kehrseite eines
mitentfesselten Dranges in C statt der Drang || 183,24 sieht sie in C statt und;
nach Funktion in C gestr.: sehend || 183,27 schon Einf. C || 183,31 f. ihre
436 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
Methoden und Theorien Einf. C || 183,37f. Diese transzendentale bis
184,19f. unmöglich ist. Einf. C || 184,22 Fortwirkung der noch älteren in C
statt noch ältere || 184,24 in Kraft in C statt wirksam || 184,24f. fast überall
Einf. C || 184,34f. deren einziges bis sein mußte in A hinter 184,33 Grund¬
wissenschaft; in C umgestellt || 184,38 vollseitig und Einf. C || 185,2 (ge¬
mäß unseren obigen Nach Weisungen) Einf. C || 185,6 sensualistischen Einf.
C || 185,11 im gemäß B; A: dem |j 185,12 in der in C statt der || 185,17 Es
war bis 185,19f. umzugestalten, in C in eckige Klammern gesetzt || 185,18
hinter Subjektivismus in A : und Psychologismus; in C zunächst geändert in
der sensualistischen Psychologisten, dann dies gestr. || 185,19 notwendig
geforderten in C statt: wahren und notwendigen, nachdem in C dafür
zuerst: wahren und echten || 185,22 sehr lehrreichen in C statt höchst be¬
deutenden || 185,23 echte Einf. C || 185,24 hinter eines in C gestr.: echten ||
185,27f. und gar sensualistischen Einf. C || 185,37 zuweisen in C statt
zurechnen || 185,38 prinzipiellen Einf. C || 186,11 hinter selbst in A : als
positiver Wissenschaftler von der Natur, in C erst in Klammern gesetzt, dann
gestr. || 186,1 lf. den positiven bis Philosophien Einf. C || 186,13 Felder in C
statt ein Feld || 186,14 annehmen in C statt für sicher halten || 186,16f. theo¬
retischen Methodik der Einf. C || 186,19 ursprungsklaren gemäß C; B:
klaren; A : quellenklaren || 186,20f. mächtige Einf. C || 186,24 überlieferten
Einf. C || 187,17-19 obschon sie ... wurden in C statt obschon ... wer¬
dend || 187,26ff. und 188,23ff. Anm. Erg. C auf besonderem Blatt; Rb.: 195,
d.h. hier zu 187,8 bis 188,21 || 188 Teilung der 26. Vorlesung in a) und b)
vom Hrsg. || 188,10 blieb in C statt war || 188, lOf. außertheoretischen Moti¬
ven folgende Einf. C || 188,12 positiven Einf. C; fern in C statt fremd;
ferner vielmehr Einf. C || 188,13 atheologische Einf. C || 188,13f. und Gottes-
Ei«/. C || 188,15 streng in C statt rein || 189,22 das seit bis 189,24 Geistes, in
C statt die transzendentale Subjektivität. || 189,39 von vornherein Einf. C
|| 190, lf. historische Einf. C 190,11 und in ihr beschlossen bis 190,16f.
verstanden—, iwCstoffunddasso, || 190,17 tatsächlichen Einf. C || 190,17f.
aller Gesetzmäßigkeiten bis 190,19 Vemunftnormen in C statt der Seins¬
gesetzmäßigkeit || 190,20 Positive in C statt Naturale || 190,22 und damit in
eins bis 190,24 Wille des Menschen. Einf. C || 190,26 vor allem Einf. C ||
190,34 vorausgehendes Einf. C || 191,5 er tut es in C statt nämlich überall ||
191,10 zu und versuchen Einf. C || 191 nur in B: 27. Vorlesung (18.XII.
1923). || 191,21-23 Danach bis Empirismus, gemäß B und C, fehlt in A ||
191,28 durch Descartes Einf. C || 191,30f. aber auch bis entschei¬
dende Einf. C || 191,31 hinter Immanenz in C gestr.: durch Descartes ||
191,32 Boden, auf oder in C statt Grund || 191,34 Ich in C statt Subjekt ||
192,5 wie wir früher gezeigt <haben> Einf. C; Descartes in C statt er ||
192,7 als Feld bis 192,9 Forschung in C statt als Thema einer rein immanen¬
ten Erforschung zu unterziehen und || 192,10 reinen und und Einf. C ||
192,17 und moralischen Einf. C || 192,20f. Moral genuggetan werden kann
Einf. C || 192,22 hinter Forderungen in C gestr.: genuggetan werden kann ||
192,29f. also bis Wissenschaft Einf. C || 192,31 die Einf. C || 192,34 m.a.W.
Einf. C || 192,36 ideal Einf. C || 192,37 genau in dem Sinne Einf. C || 193,3
das aber Einf. C || 193,5 alle Einf. C || 193,32 und apodiktischen Evidenz
ZUM HAUPTTEXT 437
Einf. C || 194,19-21 — oder vielmehr bis Ebenso in C statt so || 194,27
Fragestellungen bemengt in C statt durcheinandergehen läßt || 194,30 —
ein Massenphänomen — Einf. C || 194,36 wissenschaftlich Einf. C || 195,5
in eins Einf. C || 195,5-7 (ihr vermeinter bis Wahrheit) Einf. C || 195,12 als
die „absolut” evidente transzendentale Subjektivität in C in eckige
Klammern sowie die Anführungsstriche gesetzt. Am Rande ein Kreuz —
Verweis auf eine Erg. ? || 199,21 vor ohne in A : nicht; vom Hrsg, gestr. ||
TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN ZU DEN
ERGÄNZENDEN TEXTEN
A. ABHANDLUNGEN
Die Idee einer philosophischen Kultur (S. 203-207)
Der im Druck wiedergegebene Text des Aufsatzes entspricht demjenigen,
der 1923 in Heft 2 des I. Bandes der Japanisch-deutschen Zeitschrift für
Wissenschaft und Technik erschienen ist. Das Ms. war von Husserl in
Kurrentschrift geschrieben worden, doch hat er es größtenteils offenbar ver¬
nichtet bzw. die freien Rückseiten der Blätter als Konzeptpapier verwendet.
So finden sich Fragmente im Ms. der Ersten Philosophie I, und zwar auf den
Seiten F I 34 I\2gb, 23b, 24b und 23b.
Stücke des Aufsatzes hat Husserl — mit geringen Abweichungen, die man
aus den textkritischen Anmerkungen zum Haupttext ersehe — in den Text der
1. und der 2. Vorlesung der Ersten Philosophie aufgenommen. Als Ergän¬
zenden Text drucken wir daher hier nur die dort nicht wieder auf genomme¬
nen Teile der Abhandlung. Den vollständigen Text, wie er 1923 veröffentlicht
wurde, findet man in der vorliegenden Ausgabe wie folgt zurück: j.) in den
Ergänzenden Texten S. 203 bis S. 206,5; 2.) im Haupttext 5. 8,23 bis
S. 10,31; 3.) S. 206,7-32; 4.) S. 11,31 bis S. 17,7; 5.) S. 207.
Husserls Sonderdruck des in der genannten Zeitschrift erschienenen Textes
befindet sich im Archiv unter der Signatur K VIII13. Er wurde von Husserl
in einen Umschlag gelegt, dem er die Aufschrift gegeben hat: E. Husserl, Die
Idee einer europäischen (siel) Kultur; aus der japanisch-deutschen Zeit¬
schrift I, Heft 2, August 1923 (F. Hoffmann und Comp. Lübeck, Königstr.
19).
Kants kopernikanische Umdrehung und der Sinn einer solchen
KOPERNIKANISCHEN WENDUNG ÜBERHAUPT (S. 208-229)
Der Text der Studie liegt in dem 12 Blätter umfassenden stenographischen
Originalms. unter der Signatur B IV 11 (Text A) und in einer hin und wieder
abweichenden maschinenschriftlichen Wiedergabe durch L. Landgrebe unter
M III 14 (31 Seiten) vor. Von diesem Text B ist noch die Fassung C zu
unterscheiden, die aus B dadurch entstanden ist, daß Husserl das Maschinen¬
exemplar handschriftlich überarbeitet hat. Der Umschlag von B IV 11 trägt
die Aufschrift: 1924. Kants kopernikanische Umdrehung und der Sinn
einer solchen kopernikanischen Wendung überhaupt. Landgrebe abge¬
schrieben. Die Abschrift an Salmon geschickt. Nicht die Kantrede.
Auf B IV 11/2 und in M III14 lautet der Titel hingegen nur: Kants koper¬
nikanische Umwendung.
TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN 439
Auf der ersten Seite von M III 14 findet sich H.s handschriftliche Datie¬
rung: Freiburg März 1924. Offenbar entstanden alle drei Fassungen unmit¬
telbar nach Abschluß der Vorlesungen des Winter-Semesters 1923/24 (Erste
Philosophie). Die Landgrebe’sehe Abschrift bewahrte Husserl ursprünglich in
demselben Umschlag auf, in dem u.a. das Inhaltsverzeichnis der Ersten
Philosophie lag (in F I 34/M I 3/III; vgl. Beilage I): dieser Umschlag trägt
noch die Notiz H.s.: darin Kants kopernikanische Umwendung (eine
Reflexion).
Es handelt sich wohl um die erste Vorstudie zu der Kant-Festrede, die
Husserl am 1. Mai 1924 an der Universität Freiburg i.B. zu halten hatte. In
Wirklichkeit verwendete er dann nicht diesen Entwurf, sondern las einen Text,
aus dessen Ausarbeitung die Abhandlung Kant und die Idee der Transzen¬
dentalphilosophie hervorgegangen ist, die wir in den Ergänzenden Texten an
nächster Stelle wiedergeben. Hinsichtlich der Textgeschichte vergleiche man
also auch die A nmerkungen zu dieser folgenden A bhandlung.
208,1 bis 209,19 A Rb.: Landgrebe abgeschrieben || 208,16 exakte Einf.
C || 208,16 nach gewinnen in A: und wie steht es; in C gestr. || 208,17
exakten Einf. C || 208,20 nach ist in A : sondern eben mit der exakten; in
C gestr. || 209,3f. aus den Bestimmungen Einf. C || 209,5 welche die Metho¬
de ergibt in C statt der Methode || 209,9 danach in C statt dann || 209,14f.
naturwissenschaftlichen Einf. C || 209,16 nach a priori in A : die Eigen¬
schaft haben, daß sie notwendig; in C gestr. || 209,17 nach haben in A:
müssen; in C gestr. || nach Dinge in A : allgültig; in C gestr. || 209,18 nach
Dinge in A : der Erkenntnis zugänglich sein; in C gestr. || 210,20 oder vom
Hrsg, statt A : und || 211,36f. darstellen und sind vom Hrsg, statt A : darstellt
bzw. ist || 213,7f. <Ferner komme ich) vom Hrsg, statt A: und || 213,16f.
Klammern vom Hrsg. || 213,36f. A : Freilich kann, wenn || 214,20 in Frage
vom Hrsg, statt A: die Frage || 215,13 zugleich Einf. C || 215,16 m.a.W.
Einf. C || 215,37-40 In A Erg. am Rande || 215,26 stehen müssen in C hier
statt am Ende des Satzes || 215,29 sie vom Hrsg, statt ihr || 215,35 Wohl
verstanden bis 216,7 abhängen in A in eckiger Klammer || 216,31 nämlich
eine vom Hrsg, statt A : eine nämlich || 216,32f. Erg. A : die psycho-physi-
sche || 218,37—40 in A Erg. am Rande || 219,14 anderen Einf. C || 219,15
Klammern in C gesetzt || 219,26f. zu konstruieren in C statt konstruieren
könnten || 219,30 zu konstruieren Einf. C || 219,31 Erfahrungsurteilen
Einf. C || 219,32f. Urteilsergebnisse, die, als in C statt: und als an sich ||
219.34 bestimmten in C statt: bestimmend || 220,39 nach gewonnen haben
in A ein Abschnittszeichen || 221,32 auf Grund Einf. C || 221,34-43 in A Erg.
am Rande; in B ist die Anm. zu 221,10 zu antizipieren gesetzt || 221,36
Einigungs- in C statt Einheits- || 221,40f. mit schon bewußten in A und C;B :
schon mitbewußten || 221,41 f. Weisen der Einigung in C statt B : Wesen
der Einheit; A : Weisen der Einheit || 222,2 qualitativen Gesetzen in A und
C; B irrtümlich: Qualitäten besitzen || 222,35-38 in A Erg. am Rande ||
222.35 A: Also vorausgesetzt || 222,39f. in A Erg. am Rande || 223,39 A und
C: Bedingtes; B irrtümlich: Unbedingtes || 224,12 der Logos Erg. in A ||
224,15 Beistellung in C statt: Scheidung || 224,17 Schöpfung in C statt
440 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
Scheidung || 224,20 nach wenig in A ein Abschnittszeichen || 224,32—37 in A
Erg. am Rande || 224,38—40 in A Einf. am Rande, in B in den Text eingefügt
|| 225,17-27 Technische Logik bis im Glauben in A Erg. am Rande || 226,13
einem Einf. C || 226,16 ihr gemäß B; statt A: ihm || 226,31 Anschlag zu
einer transzendentalen in C statt transzendentale || 227,24 Wo1 f f
sehen Einf. C || 228,5 nach selbstverständlich in A : und unausgesprochen
in C gestr. || 228,28f. daran ging in A und Einf. C; fehlt in B || 229,3f
enthält einen in C statt ist einer ||
Kant und die Idee der Transzendentalphilosophie (S. 230-287)
Wie Husserl selbst im Untertitel angibt, stellt die Abhandlung eine Erwei¬
terte Wiedergabe der Gedanken eines Vortrages zur Kant-Feier der Uni¬
versität Freiburg am 1. Mai 1924 dar. Husserl hat den Vortrag gründlich
vorbereitet und den vorgetragenen Text im Laufe des Jahres 1924 vielfach und
in immer breiterer Form neu bearbeitet, und zwar im Hinblick auf eine
eventuelle Publikation. Nach dem Zeugnis L. Landgrebes, der ihm auch bei der
Ausarbeitung dieses Textes assistierte, hat Husserl ursprünglich den Kant-
Studien die Überlassung des Ms. der Rede zum Abdruck versprochen, jedoch
später dieses Versprechen wieder zurückgezogen. Wie noch aus dem Vorwort
des hier abgedruckten Textes hervorgeht (siehe S. 230, 1-3), hat er dann an
eine Veröffentlichung in dem von ihm herausgegebenen Jahrbuch für Philo¬
sophie und phänomenologische Forschung gedacht-, auch dazu ist es aber
nicht gekommen.
Wenn die Studie über Kants kopernikanische Umwendung {vgl. die
vorstehenden Anmerkungen zu der hier ebenfalls abgedruckten Abhandlung)
als Vorarbeit für den Vortrag anzusehen ist, so begann diese also bereits im
März 1924. Die Rede, die Husserl dann gehalten hat, liegt in dem 13 Blätter
umfassenden stenographischen Ms. F II 4 vor, das die Aufschrift von seiner
Hand trägt: Kant zur 200jährigen Geburtstagsfeier 1924. Die weiteren
Entwicklungen schließen an diesen Grundtext an. Zunächst wurde er von L.
Landgrebe maschinenschriftlich ohne nennenswerte Veränderung übertragen.
Die Abschrift liegt einigermaßen vollständig in den Blättern 14-26 des Ms.
F/M II 4 II b vor, das die Aufschrift Dubletten. Zum Versuch einer Neu¬
ausarbeitung von Husserls Hand trägt, im übrigen aber keine Zeichen weiterer
Bearbeitung aufweist. H. bearbeitete offenbar ein anderes Exemplar dieses
selben Maschinentextes, indem er handschriftlich Verbesserungen eintrug und
stenographische Blätter mit Ergänzungen einfügte. Nur einige dieser korri¬
gierten Blätter der ersten Abschrift sind erhalten geblieben, der größere Teil
wurde von L. neu mit der Maschine getippt, die Vorlagen dann wahrscheinlich
vernichtet. So setzt sich das Ms. F/M II 4 I zusammen, das seinerseits
wiederum auch auf den neugetippten Blättern zahlreiche Korrekturen von H.s
sowie auch von L.s Hand aufweist. Es umfaßt 21 Blätter und ist von L.s
Hand überschrieben-. Kant und die Idee der Transzendentalphilosophie.
Nach einer Festrede, gehalten bei der Kantfeier der Universität Freiburg
i.B. am 1. Mai 1924 von Edmund Husserl. Dazu steht am unteren Rande
der Seite eine Note, ebenfalls von L.s Hand: Ich veröffentliche hier nicht
ZU DEN ERGÄNZENDEN TEXTEN 441
den bloßen Wortlaut der gesprochenen Rede. Nunmehr für nachdenk¬
liche Leser bestimmt, erscheint sie in wesentlich erweiterter Gestalt.
Dieser Text wird erneut vollständig von L. maschinenschriftlich übertragen,
und diese Abschrift bildet den Grundbestand des schließlich entstehenden Ms.
F/M II 4 II a, das in seiner letzten Fassung 90 Blätter zählt. Darin sind
nun jene Blätter, die die Abschrift der vorigen Fassung enthalten, zum ersten
abermals mit zahlreichen handschriftlichen Verbesserungen überdeckt; zum
zweiten ist der Text um ein maschinengeschriebenes Vorwort •—- von dem eine
nicht-korrigierte Kopie auch in M II 4 II b (Bl. 1-13) liegt — und weitere
neu maschinengeschriebene Seiten beträchtlich erweitert. Wiederum fehlen
größtenteils die (wahrscheinlich stenographischen) Originale zu diesen neu
beigefügten Seiten. Letztere auch — drittens — sind wiederum handschriftlich
weiter bearbeitet. Viertens endlich enthält das Konvolut noch eine Anzahl
nicht transkribierter stenographischer Einlagen mit Ergänzungen zum Text.
Das umfangreiche letztgenannte Ms. F/M II 4 II a wurde dem Druck
zugrundegelegt. In ihm sind nur noch die Seiten bzw. Blätter 18-23 (S. 240,5
bis 244,8 des gedruckten Textes), 39-40 (252,24 bis 253,33), 43 (254,8-26),
und 68-81 (270,7 bis 280,14) auf die Texte der früheren Fassungen (unmit¬
telbar auf F/M II 4 I) zurückzuführen.
Bei der Textgestaltung ließen wir uns von der Erwägung der folgenden Um¬
stände leiten: 1.) Eine vollständige Wiedergabe der Varianten unter Verfol¬
gung der Textgeschichte bis in alle wörtlichen Einzelheiten würde den Apparat
ins Unangemessene anschwellen lassen. 2.) Die der letzten Redaktion voraus¬
liegenden Fassungen stellen nicht eigentlich Texte von selbständigem Wert dar;
ihr Inhalt ist, obschon unter weitgehender und ins einzelne gehender Korrektur,
ungekürzt in die letzte Fassung übergegangen, nur hier durch Zusätze be¬
deutend erweitert. 3.) Außer dem stenographischen Urmanuskript ist keine
der früheren Fassungen vollständig erhalten. 4.) Für viele Teile der Zwi¬
schenfassungen und insbesondere auch der umfangreichen Ergänzungen der
Schlußfassung fehlen überhaupt die Urschriften, wennschon die vorliegenden
Schreibmaschinenseiten durch die handschriftliche Bearbeitung, die sie auf¬
weisen, sich hinreichend als authentisch ausweisen.
Es schien uns daher geraten, dem Druck ausschließlich die letzte Fassung
zugrundezulegen und auch im textkritischen Anhang allein dem Ms. Rech¬
nung zu tragen, in dem jene vorliegt. Was den maschinenschriftlich vorliegen¬
den Text der Schlußfassung anbetrifft, so haben wir bereits oben angegeben,
welche Seiten auf Abschriften früherer Fassungen zurückgehen; die übrigen
treten erstmals in der Schlußfassung auf. Im folgenden verzeichnen wir die
Korrekturen letzter Hand, d.h. die handschriftlich im letzten Text verbesserten
Partien, die Einfügungen, Ergänzungen und Randbemerkungen. Sie sind zu
einem kleineren Teil auch von L., aber wahrscheinlich auf H.s Anweisung
und gewiß mit seiner Billigung angebracht.
Die Abhandlung ist in der letzten Fassung — und zwar teilweise im Ma¬
schinentext, teilweise durch handschriftliche Einfügungen — in ein Vorwort
und acht mit römischen Zahlen bezeichnete Abschnitte gegliedert. Vom Hrsg,
stammen die Titel der Abschnitte, die weitere Gliederung des III. Abschnitts
in die Unterabschnitte a) bis d) sowie die Titel auch dieser letzteren.
442 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
230 1924 Einf. || 230,7 den von Malvine H. (?) statt msch. meinen || 230,12
meine V. für die || 230,15 von vornherein V. für schon || 230,16 nach Grund¬
wissenschaft msch. im voraus; gestr. || 230,17 deren Einf. || 230,19 bearbeitet
hatten V. für gelöst zu haben meinten || 230,21 f. nach Philosophie msch.
überhaupt; gestr. || 230,23 nach ganzen msch. und dann alle letztbegrün¬
deten Wissenschaften umspannenden; gestr. || 230,24 nach Transzenden¬
talphilosophie msch. auf dem phänomenologischen Arbeitsboden ins Werk
gesetzt werden; gestr.] am Rande ein Fragezeichen von der Hand Malvine
H.s.( ?) || 230,24 aber auch bis 231,1 spezifisch V. für daß sie nur auf diesem
Boden und in der transzendental- || 231,4 V. für Es seien zu dem Gesagten
einige Erläuterungen beigefügt. || 231.10 das V. Malvine H.s. (?) für was ||
231,11 nach mochte msch. allem voran; gestr. || 231,12 in ihm Einf. || 231,12
nach systematisch msch. deskriptiv; gestr. || 231,13f. als solches bis be¬
schreiben V.für rein im Wie dieser Gegebenheit fixieren || 231,14—18 in
streng bis Fragestellungen Einf. statt rein intuitiv und vor allen Präsup-
positionen || 231,19 die Einf. || 231,22 Anführungszeichen bei ,,Phänomen”
Einf. || 231,25f. ein Gegenstand bis selbiger V. für der Gegenstand schlecht¬
hin als identischer || 231,26f. in der Einheit bis erschaubaren Einf. || 231,30
nach Aussagen msch. etc.; gestr. || 231,301 Relations- Einf. || 231,33 nach
jeder msch. identisch; gestr. || 232,4 ward V. für war || 232,9 an V. für ein ||
232,19 in den Logischen Untersuchungen V. für von Anfang an || 232,20
wahrhaft seiender Einf. || 232,21 im besonderen Einf. || 232,23f. in selbst¬
verständlicher bis Möglichkeit Erg. statt die Anerkennung der universalen
Forderung || 232,25 Gegenständlichkeiten aller und jeder V. für alle und
jede || 232,26 nach Kategorien Einf. erwuchs, dann gestr. || 232,26 und V.
für also || 232,29 in ihrem subjektiven Wie ergab V. für erhebt || 232,29f.
aber bis Folge Einf. || 232,32 an den Einf. || 232,33 hängen blieb Einf. ||
232,34ff. den ... nachforschte V. für die . .. finden konnte; von als bis
Wesensgesetzlichkeiten Klammern Einf. || 232,39 ersten Einf. || 233,2 und
ihrer Vorstufen Einf. || 233,7 des V. für und || 233,9 immanent Einf. || 233,
10 eidetisch- V. für apriorischen || 233, lOf. Gedankenstriche Einf. || 233,11
vorwiegend Einf. || 233,12 um Einf. || 233,15 aus den letzten Quellen Einf. ||
233,17 In ihnen eingefügt; msch. steht In ihnen vor war der, 233,18 ||233,29f.
darauf ... zu gründen V. für daran ... zu üben || 233,33 eigenständige
und als Einf. || 234,7 wie ich zu sagen wage Einf. || 234,10 das aber V. für und
zwar || 234,15 stetig fortzubildender Einf. || 234,34f. in der Weise einer
Renaissance Einf. || 234,37-39 haben; bis prius Einf. statt und || 235,1 sei
Einf. || 235,4f. nach Korrelationen msch. als das unbedingte prius gefordert
haben; gestr. || 235,5f. nun da wir bis unserer V. für nun wir in || 235,6f.
aller Erkenntnis Einf. || 235,7 nach V. für in || 235,8 einig sehen V. für eins
wissen || 235,9 wissenschaftlichen Einf. || die Ehre zu geben V. für genugzutun
|| 235,11 der V. für dieser || 235,18 jetzt Einf. || 235,19 es auch jetzt und
heißt Einf. || 235,20 Renaissance V. für Renovierung || oder V. für und so
|| 235,30 substituieren Einf. L.s statt msch. nach der Klammer, 235,32 ||
235,30 schon Einf. || 235,32 nominalistisch V. für romantisch || 235,39
Anführungszeichen Einf. || 236,5 Die Einf. || 236,7 überschwenglichste
V. für ursprünglichste || 236,8 der ganzen Menschheit Einf. || 236,13
ZU DEN ERGÄNZENDEN TEXTEN 443
Immerhin ist Einf. || 236,14 nach Wahrheit msch. ist; gestr. || 236,17 An¬
führungszeichen Einf. || mit V. für und || 236,17f. von ihm nicht abtrenn¬
baren Einf. || 236,30f. aus ursprünglichen Quellen Erg. statt phänomenolo¬
gisch || 236,33 ob man Einf. || 236,34 theoretisiert oder ob man V. für theo-
retisieren und || 236,37 prinzipielle Klarheit verschafft und ob man V. für
Wesensklarheit zu verschaffen und || 236,39 schafft V. für zu geben ||
vor über msch. uns; gestr. || 237,2f. Anführungszeichen Einf. || 237,8 konkrete
Einf. || 237,10 und Einf. || 237,27 im Grunde und echt Einf. || 237,34 wir
Einf. || 237,381 der natürlichen Denkungsart Einf. || 237,39 der Einf. ||
238,5 zudem V. für auch || 238,8 letztere V. für sie || 238,16f. wo man bis
phänomenologischen Einf. || 238,18 Kritiker V. für Kritik || 238,19-23
Einf. || 239,1 Ein beiliegender stenographischer Zettel: S. 1. Die Idee einer
Philosophie in transzendentaler Methode — das ist einer Philosophie in
transzendentaler Methode (sic >. Die Methode ist aber im Grunde eine die
Philosophie selbst und als System einleitende, sie ermöglichende Wissen¬
schaft von der Methode, deren Grundstück es ist bricht ab || 239,17 Rb.
von Malvine H. (?); viermal uns || 239,26 nach Theorien msch. seines Sin¬
nesgehaltes in logischer Prägung; gestr. || 239,30 Rb. von Malvine H. (?):
dreimal bedingt || 240,2 vor bedingt msch. freilich; gestr. || 240,33 neu Einf.
L.s || 240,33f. In der Geschichte der philosophischen Neuzeit V.L.s für Für
die Neuzeit muß || 240,34 muß Einf .L.s || 240,36 diese bis 241,1 Entwick¬
lungstendenz V.L.s für der philosophischen Neuzeit die alle Weiterent¬
wicklung bestimmende Tendenz || 241,7 Es ließe bis Humes V. für Wir
wissen ferner, daß D. Humes,.Essay” ||241,9-16 an philosophischer Bedeu¬
tung bis Skeptizismus msch. Einf., statt nur Bruchstücke aus dem „Trea-
tise” verarbeitet, und daß in die- bricht ab und gestr. || 241,18 hat statt daß
und 241,20 hat nach entdeckt gestr. in V.L.s || 241,20 in eigentümlicher
Prägung Erg. || 241,26 leitenden V. für geschlossenen || 241,39 zu der bis
242,1 Problematik Einf. || 242,25 vor— Einf.; msch. zuerst: fast allgemein
herrschenden, dann V. in: durchaus herrschenden, schließlich: vorherr¬
schenden || 242,38f. davon werden uns bis können V. für davon hoffe ich,
Sie überzeugen zu können. || 234 Abschnittsbezeichnung II Einf. || 243,1
angedeutet V. für gesagt || 243,4f. Grundsinn bis Denkungsart hsch.
unterstrichen || 243,13f. vergemeinschaftetes Einf. || 243,15 bald sich bis
Miteinander Einf. || 243,27 nach prinzipieller Möglichkeit V.L.s für mit¬
telbar und prinzipiell || 243,29 selbst Einf. || 243,30 behandeln Einf. L.s für
usw. || 244,3f. natürlichen Einstellung hsch. unterstrichen || 244,7f. nach
erwuchsen gestr.: Wissenschaft in der Haltung der natürlichen Einstellung
ist Wissenschaft im gewöhnlichen Sinn. So jede positive Tatsachenwissen¬
schaft. Das Charakteristische dieser Natürlichkeit zeigt sich darin, daß
für sie die Welt (in ihr beschlossen das jeweilige Forschungsgebiet) ihrem
Dasein nach außer Frage steht. Außer Frage und selbstverständlich ist
eben, daß Einstimmigkeit der Erfahrung wirkliches Dasein gibt. Nur wie
das erfahrbare Dasein innerhalb der Welt nach Eigenschaften und Geset¬
zen in Wahrheit zu bestimmen ist, und wie in „objektiver” Wahrheit, die
unsere Erkenntnis von der Relativität subjektiver Erscheinungsweisen
unabhängig macht — das ist die beständige Frage. Was sollten bricht ab ||
444 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
244,17-20 Allerdings bis können Einf. statt immer nur partiell, einseitig,
unvollkommen, fällt sie allerdings in unsere jeweilige aktuelle Erfahrung.
Ob || 244,20 anstatt Einf. || 244,21 zu Einf. L.s || 244,23 immer vollkom¬
mener in V. für zu möglichst vollkommener || 244,24 Aber bis Erfahren V.
für eine wirklich vollkommene || 244,25 denn V. für Wir kommen nicht zu
Rande || einem V. für unserem || 244,26-30 Kein Ding bis Unvollkommen¬
heit Einf. statt Das || 244,34-36 um bis sondern Einf. statt sagen || 244,37
bezeugt Einf. || 245,1 bleibenden Einf. || 245,18 nach Erfahrung msch.:
die selbst wieder eine bloße Schichte in unserem eigenenBewußtseinsleben
ist, eingeklammert, am Rande ein Deleatur-Zeichen || 245,20f. nach selbst¬
verständlich msch.\ ,,an sich” ist die Welt, sie ist teilweise gestr. || 245,28
aber diese V. für sie || 246,2 in der lebendigen Erfahrung Erg. || 246,5
Eigenschaften V. für Wissenschaften || 246,11 nach sei ein Einf-Zeichen ||
246,23 irgendwie V. für irgend || 246,31-42 Anm. gemäß Erg. || 247,4 der
sich bis Gange Einf. || 247,5 es fällt ihr nicht ein Einf. || 248,11 rechtmäßi¬
gen Einf. || 248,12 dem Einf. statt nicht im verbalen Sinn, sondern || 248,13
der Akte einsichtig Einf. || 248,13f. synthetisch Einf. || 248,14f. wäre — als
ob er eine Einf. statt und als || 248,15-19 „metaphysische Transzendenz”
bis „Erkenntnisgebilde” ? gemäß Erg. Msch. dafür ursprünglich, nicht gestr.:
„metaphysische Transzendenz” durch „transzendente” Regelung mit
diesem, einem angeblich bloß subjektiven „Erkenntnisgebilde” verknüpft
sein könnte ? || 248,33 Anführungszeichen Einf. || 249,4 nach was wir msch.:
— im Füreinander der Gemeinschaft —; gestr. || 249,6 nach vergemein-
schafteten gestr.: Bewußtsein ist, dies oder jenes bewußt Haben und dabei
zugleich seiner selbst (bzw. unser im Miteinander) bewußt Sein, auch
dieses Bewußtseinslebens selbst immerzu mit bewußt zu sein. || 249,7 auf
Einf. || 249,16f. in einem bis dahin- Einf. || 249,18f. vergemeinschaftet bis
Bewußtseinsakte Einf. || 249,20 eigenen Einf. || 249,21 f. von einem „Ge¬
genständlichen” Erg. || 250,5 „meint”: Anführungszeichen Einf. || 250,7
schon insofern V. für sofern || 250,18 sowie V. für und || 250,23 -akte V.
für -modi || 250,36-38 ebenso bis Anführungszeichen). —Einf. || 251,7f.
nach bis Wie Einf. statt klarer || 251,20f. in bis „Leibhaftig-da-seins” Einf.
statt sozusagen „leibhaft” || 251,22 ihm offenbar V. für aus ihm || dem V.
für solchem || nach her msch.: diesen Charakter des „leibhaftigen Da”;
gestr. || 251,24 also Einf. || 251,34 streng Einf. || 251,39 Würden wir bis
252.2 usw.). Erg. || 252,12 Zweifeln V. für Zählen || 252,14 gegenständ¬
lichen Einf. || 252,32 das und Einf. L.s || 252,36 und ev. bis übergehenden
Einf. || 252,37 deren jeder bis 253,1 konstituieren Einf. statt verschmelzen ||
253.2 modal Einf. || 253,4 die Einf. || 253,5 Anführungszeichen Einf. || 253,7
Erscheinungsweisen und erscheinenden Einf. || 253,14 zweifelhaft” oder,,
Einf. || 253,16 begreifenden Einf. || 253,17 „theoretischer” Aktion V. für
theoretischen Denkens |[ 253,28-30 zunächst bis Denken Einf. || 253,32
prädizierender Einf. || 254,10 und intersubjektiven Einf. || 254,18f. einer
bis verwirklichten Einf. || 254,26 Rb. Einlage || 254,27 Der „Radikalismus”
bis 255,39 Einf. || 256,1-12 Subjektivität Einf. statt: Deren Aufgabe wäre
es also, in eben jener radikalen Ausschließlichkeit und Universalität, reine
Subjektivität; dies nicht gestr. || 256,12 und Einf. L.s || 256,16 vielfältigen
ZU DEN ERGÄNZENDEN TEXTEN 445
V.L.s für mehrfältigen || 256,26f. vorgegebene und schlechthin seiende
Einf. L.s. statt seiende || 256,33 das universale Einf. || 256,34 als „Phäno¬
men” Einf. || 257,1 Konkret genommen Einf.) es also Einf. L.s || 257,lf.
transzendentalen Einf. || 257,2 Als das ist es Universum möglicher V. für
Erkenntnisthema || 257,3f. stellt bis universalen Einf. || 257,21-23 dem sich
bis einordnen Einf. || 257,30 mit allen in ihr a priori V. für und alle ihre
|| 257,31 Phänomenen V. für Fragen überhaupt || 257,36 nach Subjekten
msch. oder in Singularität betrachteten; gestr. || 258,5 eben dieses V.für
des || 258,5 Unser Interesse V. für und Interesse || 258,5f. im Faktischen
V.für in unserer faktischen Welt || 258,6 In weiterer Folge ist also V. für
Danach ist, und in weiterer Folge, || 258,18 nach Horizonte msch. in einer
Variante: forschend || 258,19 in seiner Einstellung Erg. || 258,24 eine Einf. ||
259,10-25 Im Vollzüge bis Welt. Erg. statt msch.: Natürliches Leben sei
zunächst bloß negativ charakterisiert als unser gesamtes Leben, solange
wir von der Möglichkeit einer transzendentalen Einstellung und einem
Erkenntnisleben in ihr nichts wußten, und auch nachher, solange wir
sie außer Spiel lassen. Im Vollzüge natürlichen Lebens haben wir immerfort
vorgegeben Seiendes in sehr verschiedenem Sinn. Und sozusagen als be¬
ständiges Kemgebiet seiende Realitäten, alle real einig als ein seiendes
Weltall. Alles, was sich uns sonst als im weitesten Sinn Seiendes gibt, wie
ideale, mathematische Gegenständlichkeiten, Theorien usw., ist — im
natürlichen Leben — auf die Welt zurückbezogen und in seiner jeweiligen
Art mit ihm verflochten. Eingeklammert, am Rande ein Deleaturzeichen;
am Rande ferner ein Entwurf zur Ersetzung des letzten Satzes in unleserlich
gewordener Bleistiftschrift. Die den gesamten Text ersetzende Erg. beginnt
mit einem gestr. Text sowie zuvor dem wohl nur versehentlich nicht auch gestr.
Satz: Stellen wir, um im voraus Richtlinien für unser Vorhaben zu haben
(Variante: für unsere Untersuchung zu haben), das, was uns (Ms.: sich)
als unsere Eigenart natürlichen Lebens interessieren und zur Wesensklä¬
rung kommen soll, in einigen Sätzen an die Spitze. || 259,30 um Einf. || 259,
33f. nach herausstreichen folgt msch. der Text der Anm. 259,34 und 260,36—
40. Eingeklammert, am Rande: Hier völlig weglassen. || 260,7 unter dem
Titel Wissenschaft Einf. || 260,1 lf. und ev. in der Gestalt als endgültig
Begründetes Erg.; als vom Hrsg, gestr.; msch.: und sei es auch in der voll¬
kommenen Einsicht als endgültig Wahres; nicht gestr. || 260,23 Wahrneh¬
mung V. für Erfahrung || 260,24 nichts Einf. L.s || 260,39 objektiv und
objektive Einf. || 261,11-34 Das bis Vergegenwärtigung Einf. statt Und das
überträgt sich von der Aktualität auf die Potenzialität, von der wirklichen
auf die mögliche Gegebenheit, sich vorstellend im Möglichkeitsbewußtsein,
in welchem wir eine Gegebenheit, als ob sie wäre, nur in geändertem Modus
bewußthaben — das ist mit eben solchen Bewußtseinsakten, Sinngebilden,
Synthesen usw., nur modal anders charakterisierten. Eingeklammert, am
Rande: Einlage! || 261,38 oder verbliebenen Einf. || 261,39 deren V.L.s für
ihre || 262,1 gewissermaßen anonyme Erg.; mitbewußte Erg. statt gelebte ||
262, lf. Bewußtseins- Einf. || 262,2 nach Reflexion msch.: Das quasi¬
gelebte Leben, in dem wir, z.B. uns hineinfingierend in eine Landschaft,
diese selbst und allerlei Vorkommnisse, die wir dabei sehen, thematisch
446 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
haben, enthüllt sich in Gestalt einer modifizierten Reflexion, einer Re¬
flexion ,,in der Phantasie”.
Beschranken wir uns der Einfachheit halber auf das sozusagen wirkliche
(also nicht in der Weise der Fiktion modifizierte) Seinsbewußtsein, so ist
die Reflexion darauf, wenn sie das „reine” Bewußtsein ergeben soll, von
eigener Art. Eingeklammert, am Rande Deleatur-Zeichen || 262, llf. und
seines Ich Einf. || 262,12 Seit Locke versteht man Einf. statt In der
Regel gemeint sind || 262,121 in der Regel Einf. || 262,17 werden wir
sogleich noch Einf. statt: ist auch die Rücksichtnahme auf || 262,18 ken¬
nenlernen Einf.\ auch V.für besonders auf || 262,19 nach sind msch.: von
nicht geringer Wichtigkeit. Von aller bricht ab, gestr. || 262,20-25 Halten
bis „Ich-Spaltung”. Einf. || 262,26 Mit bis Selbstreflexion Einf. statt
Betrachten wir bevorzugend Selbsterfahrungen. Durch sie tritt eine Art
Ichspaltung ein, || 262,29 und sein reflektierendes Erleben Erg. || seinerseits
V. für das seiner || seiner Einf. || 262,301 Ich bis dahinlebende Erg. || 262,311
als reflektiertes Erg. || 262,34 höherstufiger Einf. || 262,37 nach usw. gestr.
Offenbar gehören in den Bereich natürlichen Lebens mannigfaltige, ur¬
sprüngliche wie abgewandelte Reflexionen verschiedener Höhenstufe
bricht ab || 262,38 Wir bis 263,19 an. Einf. || 263,20 Vor aller hsch. || 263,241
und bis Selbstwahrnehmung Einf. || 263,27 nach behandeln gestr.: In wei¬
terer Folge, somit schon vermittelt, gewinnt es Bewußtsein von anderen.
Ich gewinne es in eigentümlichen Abwandlungen von Selbsterfahrungen,
durch welche sich ein Ich und Bewußtseinsleben, aber nicht das sich in
meiner originalen Selbstwahmehmung und Erfahrung enthüllende, ur¬
sprünglich bekundet, ursprünglich appräsentiert, als vergegenwärtigte
Gegenwart, als im Gleichlauf mit daseiend mit meinem eigenen („gleich¬
zeitig”) verlaufenden Leben. Am Rande ein Deleatur-Zeichen und der Ver¬
weis: Einlage 1), 2) || 263,27 Doch bis 265,37 mitdaseiend Einf. || 265,38
<So also) vom Hrsg, statt fragmentarisch beginnenden Textes: Stufe. Und
nicht minder || 265,38 verschiedenartig V. für jene || 265,381 darunter
immer auch solche Erg. || 265,39 bis 266,1 Ich und Ich-Leben V. für Leben ||
266,4-32 Wir bis verwerten. Erg. || 266,34 außer der reflexionslos gegebe¬
nen Einf. statt die || 267,261 objektiv- Einf. || 267,29 dieses vom Hrsg, statt
es || 267,30 im Auftritt Erg. || 267,33 aktuell Einf. || 267,34 in gewisser
Weise Erg. || nach doch gestr.: aktuell-thematisch || 267,35 als mitgeltend
bis 268,1 Horizont. Erg. || 268, lf. bleibt also bestehen V.für gilt || 208,21
einem bis gewesenen V. für dem || 268,4 zwar Erg. || 268,51 Insbesondere
ist dabei V.für und dabei ist || 268,6 betreffende Einf. || 268,61 auf dessen
Bewußtseinsweisen Erg. statt des Bewußtseins, auf das || 268,141 /Eine
solche Ausschaltung ist nötig Einf. || 268,18 niemals V. für nicht || 268,19
nach anderes Einf.: Objektives, dem Bewußtsein selbst einen appräsen-
tierten Sinn als objektives Bewußtsein aufprägend. Gestr. || 268,26 also
Einf. || 268,27 Erfahrung in Bezug auf mich selbst, also rein Einf. || 268,331
von Einzelreflexion bis übergehend Einf. || 268,34 also derart, daß V. für
indem || 269,71 nicht nur nicht V. für keinesfalls || 269,81 sondern bis Fall
V. für und || 269,15 von mir und anderen V.L.s für und andere || 269,161
erfaßt werden können V.L.s für erfassen kann || 269,31 nach Thema gestr.:
ZU DEN ERGÄNZENDEN TEXTEN 447
ist ja || 269,32 befaßt V. für ist || 270 IV. Einf. || 270,16 nach tran¬
szendentalen gestr.: These || 270,16f. erfahrbare Sein V.L.s für
Erfahrbare zu sein || 270,21 gesamte V. für universale || 270,22f. und Einf.
L.s || 270,32f. darin insonderheit Einf. || 270,34 msch.: darin also; V.L.s: dar¬
in beschlossen also; gestr. von H.: darin beschlossen || 270,34f. (als bis
Korrelate) Einf. || 270,35 werden mußte V.L.s für geworden ist || 271,2f.
nämlich zweifelhaft Einf. L.s || 271,4f. — m.a.W. bis aus Einf. statt wie es
aus || 271,5f. des Bewußtseins hier eingefügt statt nach Rechtsstiftung || 271,6
als der zosusagen V.L.s für sozusagen der || 271,6 nach Rechtsstiftung
gestr.: verständlich zu machen sei || 271,7 und wieweit Einf.L.s || nach gelte
gestr.: ja || 271,8-14 Ganz bis fungieren). Einf. || 271,14 hier aber V. für aber
hier || 271,15 Verschiebung der Rechtsfrage Einf. statt bloße Vermengung,
wovon bloße Einf. L.s || einer V. für bloßer und einer bloßen || 271,16 nur
Einf. || 271,17 kann V. für mag || 271,21 von der transzendentalen Einf.
L.s statt zur || 271,21 zu der des Einf. L.s || 271,25 Realitäts- Einf. || 271,27
nach für gestr. die || nach im gestr. allgemeinen || 271,30 Überlegen V. L.s
für Überdenken || 271,35 nach schlechthin gestr. Einf.: die uns, solange wir
naiv erfahrend, denkend usw. dahinlebten, vorgegebene Wirklichkeit war ||
271,36 Anführungszeichen Einf. || 271,37 absolut V. für absoluter und ||
271,38 transzendental- Einf. || 271,38f. in bis Bewußtsein gestr. V.: in
allen Stufen sinnkonstituierenden Bewußtseinslebens auch allen || 271,39
dahinströmenden V. für erkennenden || allen Einf. || 272,1 Anführungs¬
zeichen Einf. || 272,2 nach sie gestr. Einf.: ihr und || 272,2f. die und so
Einf. || 272,7f. vereinzelt bis betrachtet Einf. || 272,14f. in Reflexion und
Wesensdeskription Einf. || 272,16f. zuhöchst bis „Realitäten” Einf. ||
272,17 nach sich gestr. Einf: transzendental || 272,18 als V. für aus ||
Anführungszeichen und und für „jedermann” Einf. || als V. für Charakter
|| 272,19 Wie V. für Und wie || 272,21 von Einf. L.s || 272,22 weiter Einf. ||
272,23-29 Wie bis Intersubjektivität? Einf. || 272,30 also Einf. || 272,34f.
bzw. bis kann Einf. || 272,36 mannigfaltiger Bewußtseinsweisen und
Einf. L.s || 272,37 Anführungszeichen Einf. || 273,lf. im bis Bewußtsein
Einf. || 273,2 nach ist. gestr.: Demnach ist zuunterst die sinnlich
anschauliche Welt gegeben, als in strömenden Mannigfaltig¬
keiten seiner verschiedenen Wahrnehmungserscheinungen erscheinende
Einheit, und ist rein so genommen, wie sie in der Intentionalität der sich
in der Form kontinuierlicher Einstimmigkeit verbindenden erfahrenden
Erlebnisse als anschaulich „daseiende” aufweisbar ist. In der höheren
Stufe wird diese anschaulich erfahrene Welt zur Welt des Wissens,
der vermeinten und wahren Theorie. Sie ist hier wieder rein als inten¬
tionale Einheit betrachtet, so wie sie in der vielgestaltigen Intentionalität
des begrifflich urteilenden, und zuhöchst des wissenschaftlichen Denkens
sich darbietet und als „wahrhaft seiende” sich in den zusammenstimmen¬
den Verläufen durchgängiger logischer Einsicht in immer neuen theore¬
tischen Bestimmungen aufbaut. Am Rande: Fortsetzung Beilage! Diese
ist nicht vorhanden. || 273,3 Ziehen V. L.s. für Überlegen, ferner in betracht
Einf. L.s || 273,9 ist bis im Einf. L.s statt hat der immanente Sinn den ||
273,11 im bis Realität Einf. || 273,17 wie weit V. für wenn || 273,24 Er-
448 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
fahrungs- Einf. statt Erkenntnis-; gestr. Einf. und nach Erfahrungs- ||
273.35 -realen und Tatsachen- Einf. || 273,36 das bis Erfahrung Einf. L.s ||
273,37 Antn. Einf. || 274,2 Tatsachen- Einf. || Rb. Beilage als Note || 274,15
Aktualität V. für Aktivität || 274,16f. des bis intersubjektiv Einf. |j 274,20
ein und Einf. L.s || 274,21 Bestimmungsgestalten V.L.s für Sinnesmodis ||
274,28 ein in bis 275,39 Einf. statt: ein Fortgang synthetisch einstimmiger
und sich steigernder Erfüllung, jeweilig Vorgemeintes aus dem offenen
Welthorizont in fortschreitender Vollkommenheit verwirklichend., worin
synthetisch Einf. || 274,35—40 Anm. Erg. || 276,1 Immerzu bis kontinuier¬
lich V. für In diesem immer wieder || 276,2 Gesamt- Einf. || 276,3f. und
bis Prozeß Einf. statt bezeugt sich || 276,6 zwar V. für das || 276,9f. (im bis
können”) Einf. || 276,13 nach aktuellen gestr. erkennenden || 276,13f. bzw.
Intersubjektivität Einf. || 276,23—38 Einf. || 277 V. Einf. || 277,16f. die bis
Einstellung hsch. unterstrichen \\ 277,19 Gesamtbereich möglichen Einf. ||
277.35 nicht anders V. L.s für so || so Einf. L.s || 278,2 jeweils Einf. L.s ||
278,8-10 Erkenntnis bis der Einf. statt und || 278,18f sehr wohl V. für
leicht || 278,22 selbst wieder Einf. || 278,24—28 Schon bis Menschen Erg. ||
278.35 bloß argumentierenden Erg. || 278,37-39 der bis Subjektivität und
Erg. || 279,8 Unter- Einf. L.s || 279,9f. in ihr aber durch V. L.s für Unter¬
schiebung des natürlichen psychologischen Bewußtseins für das transzen¬
dentale || 279,18f. als einer bis independenten Erg. || 279,23f. Klammern
Einf. || 279,38 allererst lernen Einf. L.s || nach Einstellung gestr. allererst ||
zu Einf. L.s || 280, lf. zu Einf. L.s || 280,2 nach unterscheiden gestr. lernen ||
280 VI. Einf. || 281,2-5 in bis können Erg.; vor in zu Beginn der Erg.: sich
soll; gestr. vom Hrsg. || 281,17 bzw. Wahrheits- Einf. L.s || 281,19 die syste¬
matische Durchführung eines V. für ein || 281,20 konkret anschaulichen
Einf. || 281,21f. ihrer Bewußtseinsfunktionen bis aktiven Einf. 281,22
-Synthesen V. für -akte; danach gestr.: der Erlebnisse selbst || 281,22 jeder¬
lei objektive Erg. || 281,23 und objektives Recht Erg. || 281,26 insbesondere
Erg. || 281,33 korrelativen Einf. || 281,34-36 und das bis Subjektivität Einf.
|| 281,38f. wenn bis soll Erg. || 282,3f. — auf eine bis Phänomenologie”
Einf. L.s || 282,7 nach wie gestr. immer || auch Einf. L.s || 282 VII. Einf. ||
282,32 ursprünglich Einf. || 282,34 nach Theorie eingeklammert allererst ||
schaffen V. L.s für finden || 283,1 Existenz V. L.s für Gültigkeit || aller-
Einf. || 283,3f. in sich bis geschlossenes Erg. || 283,21-24 aber bis erarbeiten
Erg. || 284 VIII. Einf. ]| 284,6 der ihm eigentümlichen V. für seiner || 284,8
aber nur vorläufiger Erg. || 284,1 lf. Entwicklung Einf. L.s || 284,13 Medi-
tationes Einf. L.s || 284,14 so und sie Einf. L.s || 284,18 einmal und zwar
gesehen Einf. L.s || 284,23 mußte Einf. L.s || 284,32 Schließlich mußte V.
für und es mußte schließlich || 284,36 Es V. für Durch sie || sichtlich V. für
offenbar || 284,37 vor weil gestr. eben, danach gestr. es || 285,1 nach geschöpft
gestr. worden || 285,3-5 darzustellen bis bringen Einf. statt zu sein || 285,7
Neuzeit Einf. |j 285,9 offenbart V. für eröffnet || 285,13 eine Aufgabe als
Einf. statt aber als || nach wichtigste gestr. Aufgabe || 285,14 transzenden¬
talen Einf. || 285,15 nach Philosophie gestr. als einer transzendentalen ||
285,16 als V. für das ist || 285,21 f. echtester bis verantwortender V. und
Erg. statt echter || 285,34 vorgeschrieben V. L.s. für eingeprägt || 285,37
ZU DEN ERGÄNZENDEN TEXTEN 449
erste und noch unvollkommene Erg.; Klammern vom Hrsg. || 286,5 aber
bis Allgemeinheiten Erg. || 286,13 er V. L.s. für Kant || doch V. L.s. für
aber || 286,14 nach sich gestr. in strengen Begriffen und || 286,15 im streng¬
sten Sinne V. L.s. für streng-1| 286,16 bedarf V. L.s. für fordert || 286,17-20
zunächst bis gewinnen V. L.s. für: den Anfang mit dem ursprünglich und
selbst geschöpften ABC und von diesem aus ihre endgültig begründete
Anfangs- und Werdensgestalt || 286,22 nach seinen absoluten Gehalten Erg.
|| 286,23-25 Ob bis Frage. Erg. || 287,3 älterer V. für alter || und Gestaltung
völlig neuer Erg. ||
Problem einer nicht historischen sondern idealen Genesis der
Idee strenger Wissenschaft (S. 288-297)
Das Ms. der Studie liegt im Husserl-Archiv unter der Signatur B 12g vor.
Die 8 Blätter sind mit Tinte stenographiert und mit Tinte, Blei- und Buntstift
weiterbearbeitet. Aussehen des Papiers und der Schrift stimmen zu der Angabe
des Datums von Husserls Hand: wohl 1925.
Die auf dem■ Umschlag sich findende Bleistiftnotiz selbst, die die ungefähre
Entstehungszeit angibt, stammt offenbar aus sehr viel späteren Jahren, in denen
H. sich dieser nicht mehr genau erinnerte. Ihrem äußeren Charakter nach dürfte
sie zur selben Zeit geschrieben sein wie die Mehrzahl der in den Text eingetra¬
genen Bemerkungen, Ergänzungen und Korrekturen. Daraus und aus dem
Inhalt dieser läßt sich schließen, daß H. das Ms. in seinen letzten Arbeits¬
jahren, in denen das Werk über Die Krisis der europäischen Wissenschaften
und die transzendentale Phänomenologie x) entstand, noch einmal durchge¬
sehen und hin und wieder bearbeitet hat. Aus eben dieser Zeit stammen aber
wahrscheinlich auch die selbstkritischen Noten zu der Studie, die wir weiter
unten wiedergeben.
Das genannte Ms. ist die einzige Unterlage des Druckes. Einige von H. im
Text angebrachte technische Verdeutlichungen (Wiederholung stenographisch
geschriebener Worte in Kurrentschrift u.dgl.) lassen vermuten, daß eine
Ausarbeitung der Studie in Maschinenschrift vorgesehen war; doch unterblieb
sie dann offenbar.
288 Das Vorangestellte: Problem einer bis Ein Historisches? Usw. In¬
haltszusammenfassung auf dem Umschlag (Bl. i ä). Der Titel am Rande,
mehrfach unterstrichen. Ferner am Rande mit Bleistift: wohl 1925. Im gan¬
zen nicht gründlich und zwingend genug, sowie mit Blaustift, aber gestr.
Besinnung und eine Null. || Im Vorangestellten rationalen mit Tinte in Ste¬
nographie, mit Bleistift in Kurrentschrift daneben wiederholt || Im Ms.
„Rückkehr zum „natürlichen Weltbegriff” ”|| 288,3 1) Einf. mit Rotstift ||
288,11 2) Einf. mit Rotstift || 288,12 Wie alles bis 289,2 wäre im Ms. in
eckiger Rotstiftklammer || 289,23f. oder mehreren Einf. || 290,10 Die Inten¬
tion bis 290,38 eingefügte Seite. Rückseite gestr., am Rande Unklar und ein
Deleatur-Zeichen || 291,22 nach „Wissenschaft” ein Abschnittszeichen || 292
>) Veröffentlicht in Bd. VI dieser Ausgabe.
Husserliana VII 29*
450 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
Der praktische Mensch bis Einstellung, im Ms. mit Bleistift am Rande || 292,
15f. das kausale Verhalten der Dinge Einf. || 292,16 personale Einf. || 292,21
über Wirklichkeit und Schein im Ms. mit Bleistift am Rande || 292,31 für
vom Hrsg, statt als || 292,34 bis 293,1 des praktischen Lebens Einf. mit Blei¬
stift || 293,10-12 Also bis Forderungen, im Ms. mit Bleistift am Rande zwei¬
mal angestrichen || 293,19-22 angepaßt bis praktischer Lebenswert ist.
Einf. am Rande || 293,23-25 Aber wie bis Induktion ? am Rande dreimal
angestrichen || 293,34 bis 294,3 Das gilt bis erst diese Einf. am Rande || 293,36
nach außerwissenschaftlichen im Ms. praktischen || 294,18 vor ,,Zu- im Ms.
als || 294,21f. zu reflektieren bis daß Einf. am Rande || 294,23-25 daß bis
neue Einf. am Rande || 294,29 Situationshorizont, in einem im Ms. mit
Bleistift statt empirisch übereinstimmenden || 294,30 nach sich im Ms. in
der || 294,36f. stehen bis ausgebildet Einf. am Rande || 294,38 Situation
Einf. mit Bleistifft || 295,8-12 Ursprüngliche bis bestätigt. Erg. am Rande
|| 295,19f. ihr Moment bis Tradition usw.; Erg. || 295,37 bis 296,3 Wissen¬
schaft bis können. Einf. am Rande ||
B. BEILAGEN *)
Beilage I (S. 298-305). Der Umschlag des Ms. F 134/M 13/III, in dem
das Inhaltsverzeichnis zu den Vorlesungen über „Erste Philosophie”,
W.S. 23/24 liegt, trägt die Aufschrift von H.s Hand: Inhaltsverzeichnis der
Vorlesungen Einleitung 1922/23 (Erkenntniskritisch-apodiktisch), Erste
Philosophie, Historischer Teil bis Weihnachten, Systematischer Teil
1923/24. Darin Kants kopernikanische Umwendung (eine Reflexion).
1922/23 und 1923/24. Phänomenologische Literatur.
In Wirklichkeit enthält der Umschlag nur noch die Inhaltsübersicht zur
Ersten Philosophie 1923/24. Die Übersicht wurde noch während des Semesters
oder spätestens unmittelbar nach seinem Abschluß zusammengestellt von L.
Landgrebe und mit der Maschine niedergeschrieben. Die hier wiedergegebene
Übersicht über den 7. Teil der Vorlesungen findet sich auf den Blättern 2—10
des angegebenen Ms.
Auf die Umschrift der im Ms. sich findenden Seitenverweise, die sich auf
den Text B (vgl. S. 418f.) beziehen, haben wir verzichtet.
L.s Maschinentext ist von Korrekturen und Zusätzen von H.s Hand
durchsetzt. Im gedruckten Text sind diese berücksichtigt.
298, nach Historischer Teil von L.s Hand: (Die Zahlen in Klammern
weisen auf die Seiten des Schreibmaschinentextes). || 299,8 Manko: Einf. ||
299,12 Rb. Zusammenfassung || 299,15 rationaler V. für exakter || Die Idee
der rationalen Wissenschaft. Einf. || 299,17 Analytik Einf. || 299,18f. Prä¬
zisierung bis Disziplinen. Einf. || 299,21-24 Warum bis aussieht. Einf. ||
299,25f. Notwendigkeit bis als solcher. Rb. || 299,28f. subjektiv bis bleibend.
Einf. ]| 299,30 jene vom Hrsg, statt diese || 299,30f. nach allen bis überhaupt
Erg. || 299,3lf. und zum theoretischen Thema Einf. || 299,32f. Wichtige bis
aufgibt. Einf. statt: In ihnen allein konstituiert sich das Objektive als
Identisches der Erscheinungsweisen. — Die Allgemeingültigkeit der Wahr¬
heit als allgemeine und jederzeitige Nacherzeugbarkeit der entsprechenden
subjektiven Erlebnisse der Einsicht. || 299,331 Klammern Einf. || 300,51
Mit der Unfähigkeit bis Methode Einf. statt dem Übersehen || 300,6 in
]) Wie aus den folgenden Textkritischen Anmerkungen zu den Beilagen sowie auch
aus dem Nachweis der Originalselten (S. 466) ersichtlich, entspricht der Text
mancher Beilagen nicht dem vollständigen Inhalt eines Ms. gegebener Signatur,
sondern nur dem ausgewählter Blätter aus einem solchen. Es handelt sich dabei kei¬
neswegs um eine willkürliche Zusammenstellung und Auseinandernahme von Blät¬
tern „ein und desselben Ms.”; denn die Ms.-Mappen sind häufig aus Stücken ver¬
schiedenster Herkunft zusammengesetzt. Nirgends sind wirklich textmäßig zusam¬
mengehörige Ms.-Teile oder vollständige Mss. vom Hrsg, auseinandergerissen worden.
Husserliana VII 29
452 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
Analyse bis genugzutun Einf. || 300,7f. Fähigkeit bis werden Einf. statt
richtigen Methode || 301,17f. unter Ausschaltung alles Theologischen
Einf. || 301,22f. wäre sie bis zugutegekommen. Einf. || 301,24f. Was ihr
fehlte bis Betrachtungsweise; Erg. || 301,26f. 2.) und und späteren Einf. ||
301,271 keine bis und Einf. || 301,30-34 Nur durch bis erfaßbar. V. für
Nur durch sie wird das Bewußtsein als intentionales und der in sich ab¬
geschlossene Bewußtseinsstrom sichtbar. || 301,35 3.) Einf. || 301,371 zum
Materialismus und Einf. || 301,39 ebenfalls Einf. || 301,41 f. 4.) <also:>eine
bis Bewußtseins. Erg. || 302, lf. Nähere bis Ideen. Erg. || 302,21 zur bis war
Einf. statt dazu ist || 302,41 Analogisierung bis und der Einf. || 302,6 im
Sinne V. für mit || Nähere Erörterung Einf. || 302,7 letzte Konsequenz der
Einf. || 302,8 mußte zu Humes V. für muß zum |] 302,8-12 Eingehende
Kritik bis Ich. V. für Sie muß notwendig ichblind machen. —Bei Locke
ergibt die Beibehaltung des Ich daher eine Spannung. — || 302,12f. das
Eigenwesentliche bis etwas Einf. || 302,40 Der Einwand gegen Locke Einf.
statt Rekapitulation || 302,411 (= Sensualismus) bis 303,4 heilbar. Erg.
statt Jede naturalistische Erkenntnistheorie begeht einen Zirkel. — ||
303,5 Neues Kapitel: Abstraktionstheorie Rb. || Von hier an fehlen weitere
Zeichen einer Bearbeitung des Textes durch Husserl. || Die 26. und 27. Vor¬
lesung sind in der Übersicht nicht berücksichtigt. ||
BeUage II (S. 305-310). Das Konvolut A I 5, dessen Blätter 2—6 der
Beilage zugrundeliegen, trägt die Aufschrift: „Philosophie”. Allerlei lesbare
Einlagen und enthält Aufzeichnungen aus den verschiedensten Jahren bis
1924. Etwa 1924 oder 1925 dürften die Blätter von H. zusammengestellt sein,
wahrscheinlich also im Zusammenhang mit seiner Arbeit an der Ersten
Philosophie 1923/24, denn der Umschlag des Ms. ist ein Briefumschlag mit
dem Poststempel 8. Dezember 1924. Aus eben dieser Zeit könnten ev. auch
auf den Blättern sich findende nachträgliche Bleistiftzusätze stammen. Der
mit Tinte stenographierte Text der Blätter A I 5/2-6 ist hingegen von H.
selbst datiert auf wohl 1910 oder 11.
306,1 lf. Das alles bis Metaphysik mit Bleistift am Rande || 306,19-24 auf
physisches bis Wissenschaften, im Ms. eingeklammert || 306,22 umfaßt
vom Hrsg, statt bezieht || 306,26-31 aber auch bis Formalgesetze, im Ms.
eingeklammert || 307,24 Rb. wohl 1910 oder 11. Besser! (Subjektivität). NB.
|| 307,39f. nein: bis richtig Einf. mit Bleistift || 307,44 Monadensystem
Einf. mit Bleistift || 308,46 Rb. Ein Stück eines Anfanges, nicht ausgeführt.
|| 309,12 neue bis schaffend im Ms. eingeklammert || 309,43 erwächst bis
großen” Erg. mit Bleistift ||
Beilage III (S. 310—311). Wiedergabe des mit Tinte stenographierten
Blattes 8 aus A I 5, auf das ebenfalls die Datierung von Beilage II [vgl.
Anmerkungen zu dieser) zutreffen dürfte: wohl 1910 oder 11.
In den folgenden Anmerkungen ergänzen wir einige der unvollständigen
und ungenauen Stellenangaben H.s, und zwar mit Bezug auf die in seiner
philosophischen Privatbibliothek (jetzt im Husserl-Archiv zu Löwen) sich
ZU DEN ERGÄNZENDEN TEXTEN 453
findenden Ausgaben, soweit vorhanden. Nicht vorhanden sind von den hier
zitierten Werken die von Lewes, Ueberweg, Rosenkranz und Ostwald. H.s
Exemplare der übrigen tragen fast sämtlich Zeichen und Noten von seiner
Hand.
310,5f. Stellenangaben H.s: I, I, 172; I, II, 58, 59 und 66; I. III, 11; I, IV,
351 und 392; bezüglich auf F. W. J. Schelling, Sämtliche WW., hrsg. von K.
F. A. Schelling, 1856-1861; H. besaß nur die dreibändige Auswahl von Otto
Weiß, 1907, in der sich indessen die Parallelstellen der Gesamtausgabe ver¬
zeichnet finden. Die Texte, auf die H. verweist, sind nicht eigentlich Belegstel¬
len für das Angeführte; der Beleg erübrigt sich auch. || 310,8 Stellenangabe H.s
I, 178, bezüglich auf Hegel, WW., hrsg. durch einen Verein von Freunden des
Verewigten, 1832-1845 || Hegel, Encyclopädie der philosophischen Wissen¬
schaften, hrsg. von Lasson, 2. Aufl., 1905, S. 47; H. verweist auf § 14 ||
310, lOff. Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, 5. Aufl. hrsg.
von Hartenstein, 2. Abdruck 1883, S. 4jff. || 310,13-15 Lotze, Grundzüge der
Logik und Enzyklopädie der Philosophie, 1883, S. 85 || 310,16 Ueberweg,
System der Logik, 5. Aufl., 1882 || 310,17ff. W. Rosenkranz, Die Wissen¬
schaft des Wissens und Begründung der besonderen Wissenschaften durch
die allgemeine Wissenschaft, 2 Bde., 1866-1868 || 310,22-26 W. Wundt,
System der Philosophie, 1897, J7 > Einleitung in die Philosophie, 1901,
S. 19 || 310,271 O. Külpe, Einleitung in die Philosophie, 8. Aufl., 1918,
hrsg. von A. Messer, S. 11 und nicht, wie H. angibt: 10 || 310,29f. Stumpf,
Die Wiedergeburt der Philosophie, 1907, S. 8 und nicht, wie H. angibt: 168
|| 310,3 lf. W. Ostwald, Abhandlungen und Vorträge, 1904, nach H.: S. 264 ||
310,33—35 E. Mach, Populärwissenschaftliche Vorlesungen 2. Aufl., 1897,
nach H.: S. 277 [| 310,36-38 Paulsen, Einleitung in die Philosophie, 2. Aufl.,
1893 || 310,39 A. Riehl, vgl. etwa Zur Einführung in die Philosophie der
Gegenwart, 1903 || 310,40-42 Raoul Richter, Der Skeptizismus in der Phi¬
losophie und seine Überwindung, 2 Bde., 1904—1908 || 311,1 G. H. Lewes,
Problems of life and mind, 3 Bde., 1873-1879; nach H.: II, 265 || 311,2
H. Münsterberg, Grundzüge der Psychologie, 1900 || 311,6-10 Fechner,
Über die physikalische und philosophische Atomenlehre, 1864. ||
Beilage IV (S. 311-315). Der Text der Blätter 9-14 aus A I 5; vgl. die
Anmerkungen zur Beilage II. Blatt 9 scheint, wie die Blätter der Beilagen II
und III, zu datieren gemäß H.s Angabe wohl 1910 oder 11. Die übrigen
Blätter 10—14 sind offenbar sehr viel später geschrieben, sehr wahrscheinlich
um die Zeit der Zusammenstellung des Konvoluts, also etwa 1924.
311,11 bis 312,6 entspricht Bl. 9 || 312,7-39 entspricht Bl. 14a) gleichfalls
der Text 312,44—47, der vom Hrsg, hier als Fußnote eingerückt. Obenan auf
der Seite: Aequam memento rebus in arduis servare mentem. || 313,10
bis 315,14 Blätter 11-13 || 315,15-40 Bl. 14b ||
Beilage V (S. 315-316). Die Blätter 5-6 aus dem stenographischen Ms.
B IV 9. Das insgesamt 16 Blätter zählende kleine Konvolut trägt die Auf-
454 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
schrift: Exzerpte. Gorgias (Skeptizismus). Nicolaus von Cues. Leibniz,
neuzeitlicher Idealismus, Fichte. Der Umschlag ist frühestens 1933 angelegt
(Poststempel). Die Blätter 5-6 könnten etwa 1923 geschrieben sein. Vgl.
Anmerkungen zu Beilagen IX, XVII, XXII.
315 Entwicklungszug von Parmenides über Platon Überschrift von B IV
9l6\ siehe 316,25 || 315,41 Keime zum Skeptizismus und Negativismus.
Überschrift von B IV 9/3 || 316,24 nach vollzog, folgt im Ms. die gestr. Seite
B IV 9/5 b ||
Beilage VI (5.316-327). Wiedergabe des 10 Blätter umfassenden Ms.
B. IV 7, das mit Tinte stenographiert ist und viele Unterstreichungen sowie
einige Zusätze in Blei- und Buntstift aufweist. Der Umschlag ist frühestens
1926 angelegt (Poststempel). Fortlaufend zusammenhängenden Text haben
die Blätter 2-3 (bis 320,40), 4-6 (Blätter kleineren Formats; 320,41 bis 323,37)
und 7-9 (ab 323,38). Nur für die mittlere Gruppe könnte die Datierung auf
1926 mit Genauigkeit zutreffen-, die übrigen Blätter sind wahrscheinlich ein
wenig früher geschrieben. Man beachte die in den folgenden Anm. wieder¬
gegebenen von H. gestr. Textstücke am Anfang des Ms., aus denen hervor geht,
daß H. die vorliegende Analyse ursprünglich der Aufklärung der Stellung
Kants in der Geschichte der Philosophie bestimmt hatte.
Aufschrift auf dem Umschlag: Angeblich historisch orientiert, durchse¬
hen. Danach gestr.: mit wichtigen Anregungen. Fernere Aufschrift: Pro¬
bleme, die der Philosophie von der Geschichte her aufgegeben sind||
316,41 zur bis Aufgaben, mit Blaustift am Rande. Rb.: gut || 316,42 vor
Welche gestr.: Einordnung der Kantischen Problematik in die universale
Problematik der geschichtlichen Entwicklung. || 316,42 Welche bis 317,3
zutagegedrängt ? mehrfach unterstrichen und zwischen zwei spitze Blaustift¬
klammern gesetzt. Folgt der gestr. Satz: und welche Stellung ergibt sich
hierbei für Kant unter dem universal-historischen Aspekt und andererseits
in Ordnung zur Gegenwart? || 317,39 führen vom Hrsg, statt führt || 317,40f.
Der bis Sinn. Erg. am Rande || 317,42 mit Blaustift am Rande || 318,15 nach
zwischen im Ms.: dem Apriori, darin Apriori gestr. || 318,27 dogmatisch¬
naiv Erg. am Rande mit Bleistift || 318,27—38 Im Ms. überall: ont., also
doppeldeutig: ontisch oder ontologisch || 319,6 als rationale Bleistifterg.
statt erst || 319,12 theoretisch Bleistifterg. || 319,36 in der der vom Hrsg, statt
und der || 320,13f. Personale bis Personen. Erg. am Rande |] 320,19 von Ver¬
nunft weist ein Bleistiftpfeil auf 320,20 normative || 320,41 Desiderate bis
323,37 Fluß? drei eingefügte Blätter || 321,2 Erkenntnis-Handelnder mit
Rotstift unterstrichen || 321,25 vor Wie kann eine geöffnete eckige Rotstiftklam¬
mer, die nicht geschlossen || 321,38f. natürlich bis sind in Rotstiftklammern ||
321,40 3.) Einf. mit Rotstift || 322,1 Klammern Einf. mit Rotstift || 322,9 vor
hierher im Ms.: usw. || 322,11—13 Hier ist fcissoll. in doppelten eckigen Klam¬
mern, einschließlich des nochmals eingeklammerten folgenden Satzes: Sie
<sie> schreckt davor einigermaßen zurück, das Seelische selbst unter
Ideen zu stellen und in eine allgemeine Systematik der Ideen einzubezie-
ZU DEN ERGÄNZENDEN TEXTEN 455
hen. Am Rande zwei Fragezeichen || 322,14 4.) Einf. mit Rotstift || Bei vom
Hrsg, statt Zu || 322,31 5) Einf. mit Rotstift || 323,10 Ms.: ihres ihrer ||
323,28 vor selbst Ms.: dabei || 323,30f. Das bis Seins-Begriffe. Einf. mit
Bleistift || 323,39—41 Im Ms. am Rande || 323,42 Relative Erfüllung mit
Bleistift am Rande || 323,43 nach Intention im Ms. ist || 323,47 nach u.dgl.
ein Abschnittszeichen || 324,6 Transzendentes Einf. mit Bleistift || 324,25
Endgültigkeit einer Wahrheit am Rande || vor Gleichwohl im Ms. gestr.: Wir
können sagen: Platon erkennt zwar das, was die Ideen der „Schau” vor¬
denken, aber erkennt er auch, daß jedes Schauen eine Rechtgebung ist,
daß also auch die sinnliche Erfahrung ihr Urrecht hat und daß relatives
Recht darum nicht Unrecht ist, weil es durch ähnliches Recht überwogen
werden kann, so wie Gewichte nicht aufhören, zu wiegen, obschon sie
überwogen werden können, und daß sie selbst wiegen, wenn sie das wer¬
den? || 324,38 nach Schattenwelt? ein Abschnittszeichen || 325,2-4 identisch
bis irrelativen. Erg. am Rande || 325,9 nach leitend im Ms. gewesen || 325,
16f. nach Aussagen ein gestr. Text. Am Rande, schon zum Vorhergehenden
auch: Nicht sorgsam durchdacht || 325,20 nach Subjekt im Ms. das erzeu¬
gende sowie gestr.: Handeln bzw. || 325,40 vor also eine eckige Blaustiftklam¬
mer , die nichflgeschlossen || 325,43 zutagetritt im Ms. irrtümlich gestr. || 326,10
nach wie im Ms. sich; nach Tischler im Ms. sich hineinversetzt || 326,lOf.
indem bis erwägt Erg. am Rande || 326,17 nach hineinzuversetzen im Ms.
gestr.: Aber dieses Hineinversetzen enthüllt sich <in> seinem eigenen Sein
erst in einer Reflexion, zu der der Handelnde überhaupt nicht befähigt
sein muß. Man kann sagen, daß bricht ab || 326,37 nach sind im Ms. in
denen || 326,44 hervortreten vom Hrsg, statt hineinleiten | 327,20 nach
wollte im Ms. gestr. aber da bricht ab ||
Beilage VII (S. 327-328). Der wiedergegebene Text des stenographischen
Ms.-Blattes 13 aus dem Konvolut B I 36 — zu dessen fernerer Zusammen¬
setzung man die Anm. zu den Beilagen XI und XII vergleiche — stellt, wie
aus dem Inhalt ersichtlich, eine Variante zu einem Stück des Haupttextes dar,
und zwar von 34,23 ab. Das bestätigt auch die Rb. auf dem Ms.-Blatt: 35
unten, die auf das angegebene Stück des Haupttextes in der Paginierung des
Textes B verweist. Die Variante dürfte während der Ausarbeitung des Haupt¬
textes nieder geschrieben sein, also etwa 1924.
327,24 daß Beginn des Textes des Blattes || 327,26 nach die im Ms. sich ||
Beilage VIII (S. 328-329). Aufzeichnungen, die sich auf den Seiten 13a
und 16b des Konvoluts A I 5 finden {vgl. dazu die Anm. zu den Beilagen
III, IV und V). Die beiden Blätter sind indirekt auf etwa 1913 datierbar
{Datum März 1913 in einer Drucksache auf S. 16 a). Auf Seite iya stehen die
Worte: Passivität des Schauens bei Platon.
Beilage IX (S. 329-330). Das Blatt 7 aus B IV 9 {vgl. die Anm. zu
Beilagen V, XVII undXXII). Die ungefähre Datierung auf 1923 ergibt sich
aus der Bezugnahme auf Dietrich Mahnkes Leibniz-Buch in der Form seines
456 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
Vorliegend als Freiburger Dissertation (bei H.), das dann 1923 unter dem
Titel Leibnizens Synthese von Universalmathematik und Individualme¬
taphysik im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung
(Bd. VII) erschienen ist.
Auf Seite ja oben findet sich ein Bruchstück eines stenographierten Ent¬
wurfs H.s zur Beurteilung der Dissertation Mahnkes. Auf Seite jb unten der
stenographische Entwurf eines Briefes H.s an Keen (Oxford), geschrieben
in Cambridge, also zur Zeit des Aufenthaltes H.s in England im Jahre 1923;
ein weiterer Hinweis zur Datierung des Textes der kleinen Beilage.
329 Cusaner über Wesensschau im Ms. als Titel am Rande |] 330,1 gege¬
ben im Ms. vor Schließung der Klammer || 330,1 lf. Der bis bezeichnet im
Ms. in Klammern || 330,16 nach de possest Stellenangabe'. Op. I fol. 175
Vorderseite, bezogen also auf Opera Nicolai de Cusa, ed. Jac. Faber Stapu-
lensis, Paris 1514 — die von Mahnke verwendete Ausgabe || 330,20 nach
etwas Weißes Ms.: was wir |J
Beilage X (S. 330-334). Die Blätter 23-29, die als Gruppe B 110 III in
einem eigenen Umschlag innerhalb des umfangreichen Konvoluts B I 10
liegen. Die Ms.-Mappe zu B I 10 trägt mit Bleistift H.s stenographische
Aufschrift: Wissenschaft und Philosophie. Absolute Wissenschaftsbe¬
gründung. Gang zur phänomenologischen Reduktion. Es handelt sich im
Ganzen um Studien im Zusammenhang mit der Arbeit an den Cartesiani-
schen Meditationen, niedergeschrieben in den Jahren um 1930 herum. Das
kleine Konvolut B I 10 III hingegen bezeichnet H. selbst als aus den 20er
Jahren stammend. Hinwiederum dürfte die Inhalts Zusammenfassung auf
dem Umschlag (330,23-35) später, ev. um 1930 geschrieben sein. Alle Blätter
sind mit Tinte stenographiert, tragen hin und wieder Buntstiftzeichen sowie
einige Bleistiftzusätze und -korrekturen\ diese, da auch sie später eingetragen
sein mögen, vermerken wir im folgenden besonders.
330,23-35 Aufschrift auf dem Umschlag || 330,36-38 I. Der Ausgang bis
Erkennenden am Rande, ferner Rb.: aus den 20er Jahren. Brauchbar, aber
zu verbessern || 330,38f. Die Unverständlichkeit bis beschlossen, mit Tinte
am Rande: offenbar die ursprüngliche Überschrift für I. || 331,22f. ist nicht
bis also Einf. || 331,23 ganz und gar Einf. || 331,24 nach subjektiv gestr.
relativ, wie die Skeptiker sagten || 331,27 jeweils Einf. || 331,29-31 wie
wird bis objektiv Seiendes? Einf. || 331,32 vor ,,Wie gestr. Aber || also
Einf. || 332,1 und sogar Einf. || 332,7-9 Was dabei bis auf Erg. || 332,1 lf.
mich bis ebenso Einf. || 332,14 im bis Erkennen Einf. || 332,15f. in der
Objektivierung Einf. || 332,16 ja bis rechne Einf. || 332,20-22 und bis sind
Einf. || 332,25f. in Erkenntnisvergemeinschaftung Einf. || 332,33-35 Über¬
schrift im Ms. || 333,19f. zu begründen bis erschlossen — Einf. || 333,38 ego
vom Hrsg, statt Ich || 333,39 Erkenntnis als sowie begründen Einf. ||
334,9 objektives Einf. || Sein nach körperliches Einf. ||
Beilage XI (S. 335-343). Einige Blätter aus dem Ms. B 136, das auf dem
ZU DEN ERGÄNZENDEN TEXTEN 457
Umschlag die Aufschrift von H.s Hand trägt: Kritisches zu Descartes’ Med.
Ungefähr 1923 (zu den Vorlesungen), also zu den Vorlesungen über Erste
Philosophie 1923/24, und zwar teilweise zum Teil II dieser Vorlesungen
(Bd. VIII der vorliegenden Ausgabe), wie aus den bei einigen Verweisen
angegebenen Seitenzahlen hervorgeht. Andererseits findet sich, auf S. 2a, die
Rb. H.s: Diese Blätter hatte Ropohl nicht. In der Tat hatte H., wie L. Land¬
grebe und H. Ropohl selbst aus der Erinnerung bestätigen konnten, diesem
zeitweise Texte aus seinen philosophiegeschichtlichen Vorlesungen anver¬
traut, vielleicht zum Zwecke der Anfertigung einer Ausarbeitung.Insofern
schiene als Überschrift für B I 36 passender die Aufschrift des Ms. B IV 10 :
Zum historischen Teil. Beilagen in die Ausarbeitung. Descartes, Hume.
Zum Inhalt von B IV 10 stimmt diese Angabe nämlich schlecht. [Vgl. Anm.
zu Beilagen XIV und XXI).
Interessant ist noch die Rb. H.s auf Seite 4a: Kann im Druck eingelegt
werden.
Im gedruckten Text der Beilage XI entsprechen die vom Hrsg, unter römi¬
schen Ziffern zusammengefaßten Textabschnitte wie folgt den zugrundegelegten
Ms.-Blättern: I. = Bl. 12, II. = Bl. 6—7, III. = Bl. 2-5. Zum ferneren
Inhalt des Ms. B I 36 vgl. Anm. zu Beilagen VII und XII.
Die Blätter sind mit Tinte stenographiert und hin und wieder mit Blei-
und Buntstift bearbeitet.
335 Ein schwieriger Punkt der Kritik Descartes’. Überschrift auf Bl. 12 ||
335,26f. Wir bis ausführen: Einf. mit Bleistift || 335,28 vor Was Ms.: Aber ||
335,28 vor Was eine geöffnete Rotstiftklammer, folgender Text am Rande rot
angestrichen || 335,29 vor Und Ms.: Kann die „Geltung” einer Evidenz
überhaupt in Frage gestellt werden ? || 336,1 vor Hier eine geöffnete Blau¬
stiftklammer || 336,8f. Derselbe bis wären. Erg. || 337,43-47 und 338,43-46
Anm. Erg. || 338,16 nach Herausarbeitung Ms.: des bricht ab || 338,17ff.
Rb. Descartes, eine Null und Diese Blätter hatte Ropohl nicht. || 338,17
bis 339,37 Seelenleben in eckiger. Bleistiftklammer || 339,1-7 Der eine bis
ausschließt, in eckiger Bleistiftklammer || 339,3 Erkenntniskontingenz im
Ms. gestr. || 339,29-35 Also zunächst bis fundiert ist. mit Bleistift eingeklam¬
mert und leicht gestr. || 339,43—46 Es ist bis hat. in eckigen Klammern j| 339,
47 Nun wird man einwenden Erg. mit Bleistift || 340,30 nach ich Ms.; erst ||
340,34-38 Nur bis Erfahrung. Erg. || 341,7ff. Rb. Kann im Druck eingelegt
werden. Ad 45, offenbar bezogen auf Erste Philosophie II || 341,41 wäre bis
Eigenart Einf. statt ist es || 341,44 nach Umspannten. Rb.: Beilage f oder Z.
vermutlich der folgende Text || 341,45 Rb. zu 16? d.h. zum vorhergehenden
Text, NB., ad 45, offenbar bezogen auf Erste Philosophie II, und einfügen
|| 342,8-16 Der Grundgedanke bis ist? Einf. am Rande || 342,27f. schon bis
Skeptizismus Einf. || 342,35 dasselbe wie Einf. || 342,46f. und 343,40—42
Anm. in eckigen Klammern im Text || 343,19 gegen den Solipsismus Einf. ||
343,12f. oder bis wäre Einf. || 343,15 Rb. bis her || 343,16 vor Da eckige
Blaustiftklammer ||
Beilage XII (S. 343-349). Der Text der zusammenhängenden Blätter
458 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
8-11 (vonH. mita, ß, y, <5 bezeichnet) aus dem Ms. B I 36. Vgl. die Manu¬
skriptbeschreibung in den Anmerkungen zu Beilage XI. Auch Beilage XII ist
dem gemäß auf 1923 zu datieren.
343,33 Rb. Interpretation Descartes’. NB., besonders die späteren
Partien durchsehen für Ausarbeitung, d.h. wohl für die Ausarbeitung der
Ersten Philosophie I oder II || 343,39 nach finde ich Ms.: (nach VI.) ||
344,3-15 Eine Unterscheidung bis Unsinnliches hin in eckigen Klammern ||
344,9 Ähnlichkeits- in eckigen Klammern || 344,12 Ms.: sinnlichen primären
|| 344,42—45 Anm. Erg. am Rande || 344,46—48 Anm. zwei Erg. am Rande ||
345,8-10 Descartes bis unter. Erg. || 345,21 in freier Weise Einf. || 345,23f.
aber bis nicht Erg. am Rande || 345,29f. ein Komplex bis X Einf. || 345,32f.
Vorstellungen bis Gebilde Erg. || 345,32—46 Lockes bis Einstellung ? am
Rande statt gestr. Text || 346,16-19 Wichtig bis Aktivität. Erg. am Rande ||
346,22 (Andere bis benützt). Einf. || 346,43 Rb. Hume || 346,45f. Anm. Erg.
am Rande || 347,8f. wenn bis lassen Einf. || 347,41 der Art bis 348,1 des
Einf. || 347,42-48 Anm. Erg. am Rande |j
Beilage XIII (S. 349-350). Der Text von zwei Blättern, die im doppelten
Umschlag des Ms. K II 3 liegen [Blätter 3-4). Beide Blätter sind mit Tinte
stenographiert und hin und wieder mit Bleistift korrigiert oder ergänzt. Die
Umschläge, deren innerer mit drei Zeilen eines Briefentwurfes vom 1. April
1902 an Meinong beschrieben ist, tragen mit Blaustift folgende Aufschriften:
15-17 auszuscheiden (Die vorliegenden Bl. sind ursprünglich auf iy und iya
paginiert). Zum Historischen. Brentano. Aus meiner Entgleisung ins Hi¬
storische. (Nicht aus dem alten Text.) Mit diesem ,,alten Text" ist wohl H.s
routinemäßige Philosophiegeschichtsvorlesung gemeint, mit der ,,Entgleisung
ins Historische” wahrscheinlich der I. Teil der Ersten Philosophie. Dem
Inhalt nach, nämlich erstens der Rede von Edmund Husserl in der 3. Person,
zweitens der Unterscheidung von phänomenologischer Psychologie und
transzendentaler Philosophie nach, könnte die Aufzeichnung in den Zusam¬
menhang der Entwürfe für den Ecyclopaedia-Britannica-Artikel gehören.
Wir datieren die Blätter auf etwa 1926.
349,8 nach Psychologismus Ms.: (siehe oben) || 349,34 nach Brentano
im Ms. ein langer Strich || 350,2 Auf der Rückseite des Blattes ein in einen
anderen Zusammenhang gehöriger Text ||
Beilage XIV (S. 350). Stenographische Notiz H.s auf einem einzelnen
Blatt: B IV 10/19. Wir schätzen nach äußeren Merkmalen die Zeit ihrer
Niederschrift auf etwa 1916. Zum Konvolut B IV10 vgl. die Anmerkungen
zu Beilage XXI sowie auch zu Beilage XI.
350,3 Im § über Existenz des Treatise: gemeint offenbar der 6. Abschnitt
des II. Teiles im Ersten Buch dieses Werkes; Husserl gibt ferner die Stellen¬
angabe : Treatise 91; bezogen auf David Hume's Traktat über die mensch¬
liche Natur, hrsg. von Theodor Lipps, 2 Bde., 1895 und 1906, Bd. I || Über¬
schrift mit Bleistift: Hume ||
ZU DEN ERGÄNZENDEN TEXTEN 459
Beilage XV (S. 350-356). Der Text der Beilage XV wie der folgenden
Beilagen XVI, XVIII, XIX und XX ist dem umfangreichen Konvolut
BIV i entnommen, das insgesamt 104 Blätter zählt. Es ist etwa um 1923 oder
1924 angelegt (Poststempel auf verwendeten Umschlägen) und trägt als Ganzes
die Aufschrift: Zur Kritik Kants und historisch-ideengeschichtliche
Gedanken zu Leibniz, Descartes und Hume. Damit ist der Inhalt richtig cha¬
rakterisiert. Es handelt sich um eine Sammlung von meist eine Anzahl Blätter
umfassenden Mss., teils selbständigen Charakters, teils den verschiedensten
Zusammenhängen entstammend, die sämtlich H.s Auseinandersetzungen mit
der neuzeitlichen Philosophie, vor allem aber mit Kant dokumentieren. Die
Entstehungszeit der hier zusammengelegten Aufzeichnungen erstreckt sich
etwa von 1903 bis 1924.
Die vorliegende Beilage XV gibt den mit Tinte stenographierten, hie und
da mit Buntstift bearbeiteten oder angestrichenen Text der Blätter 43-46 aus
B IV 1 wieder. Sie finden sich innerhalb des Gesamtumschlags zusammen
mit anderen Blättern in einem besonderen Umschlag, der u.a. die Aufschrift
hat: Kants Raum-Argumente. 1903? und 1908. Wichtige Blätter. Sein
Problem der synthetischen Urteile a priori. Phänomenologisches! Wichtig!
Die Datierung auf 1903 dürfte gerade für die vorliegenden Blätter 43-46
zutreffen; auf Bl. 43 findet sich mit Blaustift geschrieben die Rb.:
Vorlage für die älteren (ersten) Kant-Vorlesungen, d.h. die ersten Göttin¬
ger Kant-Vorlesungen.
350 Einwände bis Lösung. Überschrift H.s auf Bl. 43 || 350,17f. synthe¬
tisch a posteriori, 21 analytisch, 24 synthetisch a priori Rb. || 350,23 gehört
vom Hrsg, statt liegt || 351,12f. Angeborene bis Metaphysik Einf. || 352,22-30
den Treatise bis analytisch. Einf. am Rande || 352,47 Hume bis 353,8
Gegebene Einf. am Rande || 353,36-43 Wir bis müßten Einf. || 353,44 Kant
bis 354,5 Beziehung Einf. || 355,25f. diese bis haben. Einf. || 355,46 Sie bis
356,6 Sinn. Einf. am Rande || 356,18-23 übersah bis realisieren. Einf. am
Rande ||
Beilage XVI (S. 357-364). Die Blätter 5-10 aus B IV 1; vgl. die An¬
merkungen zu Beilage XV. Sie sind mit Tinte stenographiert', auf der ersten
Seite einige Blaustiftstriche. Auch die Blätter 3—10 liegen innerhalb des bei
den Anmerkungen zu Beilage XV erwähnten inneren Umschlages. Auf sie
dürfte die dort von H. gegebene Datierung 1908 zutreffen, die äußere Merkmale
und Inhalt bestätigen.
357 Gegen Kants anthropologische Theorie. Rb. auf der ersten Seite ||
357,43 Anm. Erg. oder Titel am Rande || 358,5 ein Ton vom Hrsg, statt Ms.:
kein Ton || 359,2 nach ist. ein Abschnittszeichen || 360,3 Ms. wesenheithafter
|| 360,7 vor jedes Ms. die || 361,17f. Überschrift im Ms. || 361,31 <sondem>
vom Hrsg, statt als ||
Beilage XVII (S. 365). Blatt 2 aus B IV 9, mit Tinte stenographiert und
mit Blaustift angestrichen, das wir nach seinem Äußeren und Inhalt auf etwa
1908 datieren', indirekt ist das Blatt datiert durch das Datum einer Druck-
460 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
sacke auf der Rückseite: August 1907. Vgl. die Anmerkungen zu Beilagen V,
IX und XXII.
365 Überschrift des Ms.-Blattes || 365,2 nach Kant im Ms. die Stellenan¬
gabe für Elsenhans' Werk: II, p. 40—46, besonders 45 || 365,3—18 So H.s
Aufzeichnung; man vgl. Kritik d. U., 5. 456/. der 2. Aufl. ||
Beilage XVIII (S. 365-376). Die mit Tinte stenographierten, vielfach
mit Blei- und Buntstift angestrichenen sowie ergänzten Blätter 50-59 aus
BIV 1. Vgl. die Anmerkungen zu Beilage XV. Die als Beilage XVIII wieder¬
gegebenen Blätter liegen innerhalb des Gesamtumschlages von B IV 1 in
einem besonderen Umschlag, in dem sich u.a. auch die der Beilage XX finden.
Dieser Umschlag trägt die Aufschrift Zur Kritik Kants und Leibniz’, die
wir als Titel der Beilage verwendet haben. Der vorliegende Text geht wohl auf
die spätesten Aufzeichnungen zurück, die in das Konvolut B IV 1 Aufnahme
gefunden haben. Darum möchten wir sie, auch dem Äußeren und demlnhalt
entsprechend, auf die Zeit der Zusammenstellung des Gesamtkonvoluts datie¬
ren: etwa 1924. Auf der Rückseite von Bl. 50 findet sich die indirekte Datie¬
rung Juni 1921 {Datum einer Drucksache).
365,9 Überschrift auf Bl. 50: Leibniz || 366,12f. oder bis zugehörige
Bleistifteinf. || 366,15 sind vom Hrsg, statt ist || 366,17f. als bis verweisend.
Bleistifteinf. || 366,23 nicht in eigener vom Hrsg, statt ohne eigene || 366,27
vorausgeht vom Hrsg, statt vorausgehen || 367,21 (oder ob> vom Hrsg,
statt sei es || 368,12ff. Am Rande ein auf den folgenden Text weisender Pfeil ||
368,14 dem vom Hrsg, statt den || 368,33 bedarf vom Hrsg, statt darf ||
(ihrer) vom Hrsg, statt einer || 368,39—42 Die bis bringen, am Rande doppelt
angestrichen || 369,5-8 An bis können Einf. am Rande || 369,9 Kant Über¬
schrift am Rande || 369,15ff. am Rande nochmals Kant || 369,37-40 Wenn
bis Leibnizens. Bleistifterg. am Rande || 370,3 regressive Bleistifteinf. ||
370,39 aus der historischen Erfahrung Einf. || 370,44—47 Anm. an der
angegebenen Stelle zwischen eckigen Bleistiftklammern im Text || 371, lf.
Erkenntnis ihrer bis war, Erg. || 371,20 hat vom Hrsg, statt ist || 371,21 f.
hier bis welche Einf. || 371,28 seiner vom Hrsg, statt ihrer || 371,29ff. am
Rande ein auf den folgenden Text weisender Pfeil || 371,37 Universa Blei¬
stifteinf. || 371,42f. gegenwärtiger und künftiger Bleistifterg. || 371,47 in
vom Hrsg, statt für || 372,18 nach Wissenschaft Ms.: eine || 372,33f. ein
Glied bis oder Bleistifterg. || 372,36 Universum Bleistifteinf. || 372,39ff. am
Rande ein Pfeil*|| 373,12 die wissenschaftliche vom Hrsg, statt eine wissen¬
schaftliche || Erkenntnis Bleistifteinf. || 373,13f. Gebende bis Wahrheiten
Bleistifteinf. || 373.14 ,,an sich” Bleistifteinf. || 374,18 wie schon gesagt
Bleistifteinf. || 374,48 folgt im Ms. eine leere halbe Seite || 375,9 tut bis Wis¬
senschaft Bleistifteinf. || 375,25 nicht bis sondern Bleistifteinf. || 375,41 so
bis einzuwenden Bleistifterg. || 375,46f. außerwissenschaftliche Bleistifterg.
|| 376,2 transzendentale Erörterung der Einf. || 376,13f. -probleme und
Problemen Bleistifteinf. || 376,20 thematisch mitbefaßt Bleistifteinf. ||
376,22ff. am Rande ein Pfeil || 376,24 sind vom Hrsg, statt ist || 376,25 Rb.
Iteration || 376,34 denen bis verstehen Bleistifteinf. ||
ZU DEN ERGÄNZENDEN TEXTEN 461
Beilage XIX (S. 377—381). Der Text der mit Tinte stenographierten
Blätter 39~42 aus B IV i. Vgl. die Anmerkungen zu Beilage XV. Die Blät¬
ter 39~42 Hegen in demselben besonderen Umschlag wie die der Beilagen
XV und XVI. Wie Beilage XVI und aus denselben Gründen dürfte auch
Beilage XIX auf etwa igo8 zu datieren sein. Der Titel ist im Anschluß an
den Text 377,1-3 gewählt.
379,10 folgt eine leere halbe Seite, folgender Text auf neuem Blatt || 379,26
nach stammen Ms.: und, folgt gestr. Text || 379,30 Ms. durch durch ||
Beilage XX (S. 381—395). Die n Blätter y8—88 (dabei S. 83b vor 83a)
aus B IV 1. Sie sind mit Tinte stenographiert und hie und da mit Blei- und
Blaustift noch bearbeitet. Vgl. die Anmerkungen zu Beilage XV sowie auch
die zu Beilage XVIII, mit deren Blättern zusammen die Bl. y8-88 in dem
dort beschriebenen besonderen Umschlag liegen. Doch sind letztere innerhalb
dieses nochmals einem besonderen Umschlag eingeordnet, der wie folgt be¬
schrieben ist: Zur Kritik Kants. September 1908 - II. Transzendentale
Phänomenologie und transzendentale Logik. Auseinandersetzung mit
Kant. Meine transzendental-phänomenologische Methode und Kants
transzendental-logische Methode. Usw. Die Datierung auf September igo8
dürfte für die Bl. y8~88 zutreffend sein. Vgl. auch die Rb. auf S. y8a (zu
381,37): 11 Blätter. Vgl. P. Blatt 10 in September 1908 I, Hinweis bezogen
auf B II 1, das früheste Aufzeichnungen H.s zur Idee der phänomenologi¬
schen Reduktion und einer transzendentalen Phänomenologie enthält. Der
von uns der Beilage gegebene Titel findet sich auf Bl. 82b.
382,12-14 Die Frage bis selbst unterstrichen, Rb. mit einem darauf hin¬
weisenden Pfeil: Thema || 383,2 folgt eine halbe leere Seite, folgender Text auf
neuem Blatt || 383,12 nach Verallgemeinerung im Ms. schließende Klammer
|| 383,25 am Rande ein auf den folgenden Text weisender Bleistiftpfeil || 385,5
folgt eine leere Seite, folgender Text auf neuem Blatt || 385,38-44 Andererseits
bis betrachten. Einf. am Rande || 385,45 am Rande der Titel: Zur Ausein¬
andersetzung meiner transzendentalen Phänomenologie mit Kants
Transzendentalphilosophie:, mit Blaustift unterstrichen || 386,17 nach wir
Ms. die || 386,43 nach Kategorien Ms. (z.B. Kritik der reinen Vernunft
110), offenbar mit Bezug auf die Seite 110 der 1. Auflage || 387,12 denen
vom Hrsg, statt der || 387,28 denjenigen vom Hrsg, statt jenen || 387,34f. Der
bis Reduktion als Titel am Rande, mit Blaustift angestrichen || 387,43—46
Anm. Bleistifterg. am Rande an der angegebenen Textstelle || 388,11 Ms. Also:
und auf einer neuen Seite Also wir usw. || 388,12 vor Inwieweit Ms. 1.) j|
388,17 vor Als Ms. 2.) || 388,26 vor „Die Ms. 1.) || 389,17 a) Einmal vom
Hrsg, statt Einmal a.) || 389,23 ß) vom Hrsg, statt b.) || 390,44—47 Diese
„Elemente bis Natur ist? mehrfach unterstrichen und am Rande eine Klam¬
mer || 391,14 D.h. vom Hrsg, statt Das ist || 392,42 von vom Hrsg, statt mit ||
393,9 nach apriorisch im Ms. schließende Klammer || 394,25 Diese Faktizi¬
tät bis Erfahrungswissenschaft, am Rande mit Blaustift angestrichen ||
394,39 als vom Hrsg, statt daß ||
462 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
Beilage XXI (S. 395-408). Der Text ist der der Blätter 2-13 des Ms.
B IV 10, dem auch die Beilage XIV entnommen ist. Das Ms. zählt insgesamt
22 Bl. und wurde etwa 1924 aus verschiedenen Stücken zusammengestellt (Post¬
stempel auf dem Umschlag). Der Vermerk auf dem Umschlag Zum historischen
Teil. Beilagen in die Ausarbeitung. Descartes, Hume. (außerdem die gestr.
Aufschrift: darin der Artikel (Japanisch-deutsche Zeitschrift) über Idee
der europäischen Kultur. Vgl. S. 203ff. des vorliegenden Bandes) — jener
Vermerk stimmt freilich zum Inhalt wenig gut. (Vgl. Anmerkungen zu Bei¬
lage XI).
Die Blätter der Beilage XXI sind mit Tinte stenographiert und mit
Korrekturen, Unterstreichungen und Zeichen aller Art in Blei- und verschie¬
denen Buntstiften übersät. Sie sind von H. numerotiert: 422 bis 433. Aus dem
Inhalt (vgl. insbesondere 405,18-36) geht hervor, daß es sich wohl um das
Schlußstück einer in einem Sommer-Semester gehaltenen Vorlesung über
Allgemeine Geschichte der Philosophie handelt. Wie überliefert, pflegte H.
den Text dieser regelmäßig Wiederkehr enden Vorlesung — vor der Redaktion
des Historischen Teils der Ersten Philosophie 1923/24 — kaum je auch
nur teilweise neu zu bearbeiten. Nur Einzelheiten hat er von Mal zu Mal —
wahrscheinlich jeweils unmittelbar vor der Vorlesung — korrigiert oder ver¬
deutlicht, wie übrigens aus den folgenden Anmerkungen des näheren ersicht¬
lich. Die vorliegenden Blätter B IV 10/2-13 dürften immerhin erst etwa 1913
niedergeschrieben sein.
395,12 Der Text beginnt auf Bl. 2 mitten im Satz; der Beginn des Satzes
Erg. des Hrsg. || 395,16 vor Genau so eine geöffnete Blaustiftklammer || nach
die Ms.: für ihn || 395,28-30 so daß bis der Art Einf. || 395,40 sind also
Bleistifteinf. || 396,3f. wie bis sucht Bleistifteinf. am Rande || 396,6 nach
richtet, fast eine Seite gestr. Text, dabei eine ebenfalls gestr. Bleistift-Rb.:
Die Kantischen Kategorien gehören offenbar der formalen Ontologie der
Natur an. Fortsetzung auf neuem Blatt || 396,7 vor antwortet Ms. so || 396,14
dazu gestr. Bleistift-Rb. || 396,20-23 doch bis könnten Einf. am Rande ||
396,271 in diesem bis Zustande Bleistifteinf. am Rande statt gestr. Text ||
396,40 übereinstimmende bis bezogen Einf. statt gestr. identische || 396,42f.
So bis denkbar ist. Einf. am Rande || 396,45 bloße Phantome Bleistifterg. ||
397,2f. zu Erfahrungseinheiten bis Bewußtsein der Einf. am Rande || 397,7f.
Objekte bis Vorstellungen Einf. am Rande statt gestr. Gegenstände || 397,13f.
führt bis so und er Einf. j| 397,15—18 wonach bis Objekt, zwischen blauen
eckigen Klammern || 397,25f. Klammern, blau und eckig, Einf. || 397,27-30
Wie wird bis Falschheit ? Einf. statt gestr. Welches Vermögen leistet diese
Synthesis, da dieselbe offenbar nicht Leistung des Vermögens der sinn¬
lichen Anschauung und ihrer Formungen ist. || 397,30-32 Es liegt bis
einem Einf. am Rande statt gestr. Betrachten wir aber jetzt das || 397,32f.
unabtrennbar gehört Einf. || 397,37-43 Da bis Verstände. Einf. am Rande |[
398,7f. ich beziehe bis Objektwelt; Einf. am Rande || 398,12-23 ich in
meinem Denken bis Also Einf. am Rande statt gestr. Text || 398,27 ein roter
Gedankenstrich || 398,28 vor Aber eine Blaustiftklammer || 398,32 anschauen¬
des Bleistifteinf. || 398,47 in konsequenter bis 399,2 Stufe Einf. am Rande
ZU DEN ERGÄNZENDEN TEXTEN 463
statt gestr. etwas denken läßt, deren Objekte || 399,12 nach Verstandes Ms.:
als objektivierenden Verstandes || 399,16-18 „Objektivität” bis sind. —
Erg. am Rande || 399,16 ist vom Hrsg, statt sind || 399,22-29 sie ist bis vor¬
schreibt; zwischen blauen eckigen Klammern, am Rande eine Null || 399,28-
29 sofern bis gestaltet, Bleistifteinf. || 399,30-35 Die Idee bis da: Einf. am
Rande || 399,44f. diese bis Form Bleistifterg. am Rande || 399,47 vor Damit
eine doppelte blaue Klammer || 400,20f. Das bis Wissenschaft. Erg. am Ran¬
de || am Rande mit Rotstift Dialektik || 400,33 folgt eine leere Rückseite.
Fortsetzung auf neuem Blatt || 400,34 Titel am Rande, mit Rot- und Bleistift ||
401,lOf. dagegen bis einzuwenden Erg. am Rande || 401,14-16 Und bis
abhängt. Einf. || 401,17 Titel am Rande || 401,32-38 Aber bis kann, zwi¬
schen eckigen Blaustiftklammern || 402,15f. als bis Vermögen Bleistifteinf.
am Rande || 402,20-23 in vager Allgemeinheit und sie darf bis begründet
<sein> Bleistifteinf. || 402,33 Das ist bis Konstruktion; Erg. statt gestr.
Schon das ist Mythologie und Konstruktion. || 402,36 folgt eine halbe
Seite mit Blaustift gestr. Text || 402,37 Titel mit Bleistift am Rande || 403,41f.
insbesondere bis „Evidenz”. Erg. am Rande || 404,18-21 in der Gliederung
bis und dann Einf. am Rande || 404,30-38 Beide bis Ästhetik Einf. am
Rande || 405,5 nach Erfahrungen Ms.: möglicher das Objekt leibhaft
darstellender Erscheinungen mit Bleistift eingeklammert und leicht gestr. ||
405,6f. und bis Wesensgesetze ist. Einf. am Rande || 405,11-13 Sonst bis
ist. Erg. am Rande || 405,12 sind vom Hrsg, statt ist || 405,27-32 Wir bis
Kant-Kritik zwischen eckigen blauen Klammern; danach ein Abschnittszei¬
chen-, Rb. bisher Kant || 405,40 Nicht nur bis 406,2f. erscheint — ? Einf.
am Rande || 406,7 folgt eine Seite gestr. älterer Text; auf Kant bezüglich,
aber nicht in den Zusammenhang gehörig || 406,8 erwuchs Bleistifteinf. statt
gestr. ist || 406,29 Titel mit Rotstift am Rande || 406,31 oder bis Hälfte
Einf. || 406,33 gegenüber bis Psychologie Bleistifterg. || 406,34 spezifischen
Bleistifteinf. || 407,6—8 und bis ziehen Bleistifteinf. || 407,9f. die Deutschen
Idealisten Bleistifteinf. statt radierter Text || 407,25 <sie> vom Hrsg, statt
sich || 407,27 und erklärt vom Hrsg statt Bleistifteinf. das erklärt || 407,38
dem allgemeinen Bleistifteinf. statt unserem || 407,46 großen Bleistifteinf. ||
408,12f. Die Zukunftsaufgaben bis Entwurfs Einf. am Rande || 408,17-21
Das sind bis Erkenntnis Einf. am Rande ||
Beilage XXII (S. 408-412). Die mit Tinte größtenteils stenographierten,
hier und da mit Blaustift angezeichneten Noten H.s auf den Blättern 12-15
des kleinen Konvoluts B IV 9 {vgl. die Anmerkungen zu den Beilagen IX,
XVII und besonders V).
Auf Bl. 12a oben hat H. notiert: Aus einer der Preisarbeiten der Kant-
Gesellschaft. Es handelt sich sehr wahrscheinlich um die Carl-Güttler-
Preisaufgabe der Kant-Gesellschaft zum Thema: Welches sind die wirk¬
lichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Hegels und Herbarts Zeiten in
Deutschland gemacht hat? Nach einer ersten Ausschreibung igo8 erfolgte,
wegen mangelhafter Ergebnisse, ign eine zweite. Bei dieser letzteren war
Husserl einer der drei Preisrichter. igi4 lagen 11 Preisarbeiten vor; Preise
464 TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
wurden an C. Ewald und R. K y n a st vergeben 1). Keine der Arbeiten
scheint im Druck erschienen zu sein. Auf welche von ihnen H.s Notizen
zurückgehen, ist nicht zu entscheiden. Jedenfalls sind also die Zitate der
Beilage XXII — im Unterschied zu denjenigen der Beilage III z.B. — nicht
den Originalwerken entnommen, sondern einer SekundärStudie.
Im folgenden präzisieren wir einige der von H. notierten Stellenangaben.
408,22 Rb. Aus einer der Preisarbeiten der Kant-Gesellschaft || 408,22
E. v. Hartmann, Geschichte der Metaphysik, 2 Bde., 1899-1900 || 408,27 Stel¬
lenangabe H.s II, 9, bezüglich auf Jacobi, WW., 1812—1825 || 408,29 II, lOf.
a.a.O. || 408,31 II, 36, a.a.O. || 408,32 II, 58f., a.a.O. || 408,33 II, 112, a.a.O,
|| 408,37 II, 60, a.a.O. || 408,39 II, 61. a.a.O. || 409,4 Stellenangabe H.s II, 38,
bezüglich auf J. G. Fichte, Sämtliche WW., hrsg. von I. H. Fichte, 1834-1846
|| 409,16 Stellenangabe H.s. I, I, 318, bezüglich auf F. W. J. Schelling,
Sämtliche WW., hrsg. von K. F. A. Schelling, 1856—1861 || 409,19 I, I, 318,
a.a.O. || 419,21 1,1,319, a.a.O. || 409,25 1,111,369, a.a.O. || 409,28 1,111,370,
a.a.O. || 409,30 I,IV,361, a.a.O. || 409,31f. E. v. Hartmann, Schellings
positive Philosophie als Einheit von Hegel und Schopenhauer, 1869 ||
409,36 Stellenangabe H.s. I,VII,248, Schelling, a.a.O. |{ 409,40 1,1,325,
a.a.O. || 409,44 Stellenangabe H.s 129, bezüglich auf Bd. I von Trendelenburg,
Logische Untersuchungen, 2 Bde., 3. Aufl. 1870 || 409,46 129, a.a.O. || 410,5
Stellenangabe H.s VI, 242, bezüglich auf Hegel, WW., hrsg. durch einen
Verein von Freunden des Verewigten, 1832-1845 || 410,6 VI, 159, a.a.O. ||
410,8 IV,33, a.a.O. || 410,17 VI,411, a.a.O. || 410,22 VIII,65f., a.a.O. ||
410,26 VI, 160, a.a.O. || 410,29 1,160, a.a.O. || 410,30 nach Michelet Ms.: in
der Abhandlung Gedanke <sic> || 410,31 1,200, Hegel, a.a.O. || 410,33
Chr. H. Weisse, Grundzüge der Metaphysik, 1835 ; I. H. Fichte, Grundzüge
zum System der Philosophie, Teil 2: Die Ontologie, 1836 || 410,35f. F. J.
Stahl, Die Philosophie des Rechts, 2 Bde., 1830-1837 || 410,42 VI, 25,
Hegel, a.a.O. || 410,45 1,1,92, Schelling, a.a.O. || 411,5 vor Die Ms. Durch ||
411,11 1,134, J. G. Fichte, a.a.O. || 411,15 IV,345, a.a.O. || 411,20 11,11,
Hegel, a.a.O. || 411,22 IV,347f„ a.a.O. || 411,23 IV,407, a.a.O. || 411,27 1,447,
J. G. Fichte, a.a.O. || 411,30 11,474, a.a.O. || 411,33 II,478f., a.a.O. || 412,3
I,334f., a.a.O. || 412,4 1,34, a.a.O. || 412,5 nach Schelling Ms. s.Werke
1856-1861 || 412,6 1,111,275, Schelling, a.a.O. || 412,7 1,111,276, a.a.O. ||
412,10 1,111,278, a.a.O. || 412,12 1,111,279, a.a.O. || 412,14 1,111,287, a.a.O.
|| 412,15 1,111,282, a.a.O. || 412,17 I,IV,529, a.a.O. || 412,21 1,11,92, a.a.O. ||
412,28 I,IV,548, a.a.O. || 412,33 VII,45f., Hegel, a.a.O. || 412,34 VII.299,
a.a.O. || 412,41 1,47, J. G. Fichte, a.a.O. || 412,44 1,56, a.a.O. || 412,48 1,1,10,
Schelling, a.a.O. ||
*) Vgl. Kant-Studien XVI (1911), S. 13ff. und XX (1915), S.339ff.
NACHWEIS DER ORIGINALSEITEN
In der linken Kolonne findet sich die Angabe von Seite und Zeile im
gedruckten Text, in der rechten die der Seiten bzw. Blätter der Originale
nach deren offizieller Numerotierung, wie sie im Husserl-Archiv zu Löwen
eingeführt wurde. Handelt es sich um stenographische Blätter, so werden
die Vorderseiten mit a, die Rückseiten mit b bezeichnet. In jedem Falle
wurde auf die ursprünglichsten vorhandenen Unterlagen verwiesen. Das
erklärt — insbesondere für den Haupttext (S. 1-200) — die „Sprünge”
zwischen Angaben von Blättern aus verschiedenen Mss. Für zahlreiche
Textstücke finden sich keine stenographischen Originale in FI 341,
sondern lediglich die msch. Blätter in M I 3 I a bzw. liegen die stenogra¬
phischen Vorlagen für diese selbst in M I 3 I a (vgl. die Textkritischen An¬
merkungen zum Haupttext, S. 418 ff.). Im Hinblick auf die Beilagen vgl.
die Fußnote S. 451.
Übrigens wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit bei der Aufstellung
der nachstehenden Tabelle auf die vollständige Anführung der Doppel¬
signaturen (vgl. auch Fußnote1) auf S. 418) verzichtet, die man leicht
unter den Textkritischen Anmerkungen zu den betreffenden Texten wieder¬
findet. So wurde hier z.B. statt M I 3/F I 34/1 a nur geschrieben: M I 3 I a.
1-7, 34 FI34I, 2-4 29, 10-31, 10 FI 341, 19
7, 35-«, 20 7a 31, 10-31, 16 MI3Ia, 36
8, 21-9, 17 8 31, 17-60, 14 FI341, 20-42
9, 18-10, 9 7b 60, 14-79, 23 44-58
10, 9-11, 34 9 79, 23-82, 15 5-6
11, 34-17, 7 K VIII13, 4-7 82, 16-84, 15 MI3Ia, 98-100
17, 8-19, 2 FI 341, 10-11 84, 16-86, 15 FI341, 59-61
19, 3-19, 36 M131 a, 20-21 86, 15-87, 30 MI3Ia, 104-105
19, 37-20, 2 FI34I, 13a 87, 31-90, 4 FI341, 61-62
20, 2-21, 39 15 90, 4-90, 17 M131 a, 108
22, 1-22, 16 135 90, 18-95, 12 FI341, 63-65
22, 16-22, 27 14 95, 12-97, 3 MI3Ia, 115-117
22, 28-23, 5 13, b 97, 3-99, 39 FI341, 66-68
23, 6-24, 31 16-17 99, 39-100, 7 MI3Ia, 121
24, 32-25, 8 MI3Ia, 28 100, 8-101, 8 FI341, 68
25, 9-27, 1 FI 341, 17-18 100 u. 101, Anm. MI3Ia, 122-123
27, 1-27, 8 MI3Ia, 30 101, 9-101, 15 FI341, 69
27, 8-27, 13 FI 341, 18 101, 16-101, 20 MI3Ia, 124
27, 13-29, 9 MI3Ia, 31 101, 20-103, 22 FI341, 69
466 NACHWEIS DER ORIGINALSEITEN
103, 22-103, 36 MI3Ia, 127 203, 1-207, 16 K VIII13
103, 37-104, 14 FI341, 70 208, 1-228, 10 BIV11, 1-12
104, 13-104, 29 MI3Ia, 127 230, 1-287, 14 MII4IIa, 1-90
104, 29-106, 9 FI341, 70-71 288, 1-297, 37 BI 29, 1-8
106, 9-108, 9 MI3Ia, 131-134 298, 1-304, 43 MI3III, 2-10
108, 9-110, 22 FI341, 71-73 305, 5-310, 4 AI5, 2-6
110, 23-111, 29 72b 310, 5-311, 10 8
111, 30-120, 20 74-79 311, 11-315, 40 9-14
120, 20-120, 28 MI3Ia, 148 315, 41-316, 40 BIV9, 5-6
120, 29-121, 34 FI341, 79 316, 41-327, 20 BIV7, 1-10
121, 34-127, 16 M131 a, 149-156 327, 21-328, 19 BI 36, 13
127, 17-128, 31 FI341, 81-83 328, 20-329, 41 AI5, 15a u. 16b
128, 32-129, 6 M131 a, 159 329, 42-330, 22 BIV9, 7
129, 6-130, 27 FI341, 83-84 330, 23-334, 41 BI 10, 25-29
130, 28-132, 8 MI3Ia, 162-163 335, 1-343, 32 BI36, 12, 6-7,
132, 8-152, 4 FI341, 85-97 2-5
151, Anm. M131 a, 187 343, 33-349, 2 8-11
152, 4-162, 25 FI341, 98-105 349, 3-350, 2 KII3, 3-4
162, 26-163, 32 MI3Ia, 201 350, 3-350, 15 BIV10, 19
163, 33-165, 18 FI 341, 106 350, 16-356, 45 BIV1, 43-46
165, 19-166, 9 105b 357, 1-364, 46 5-10
166, 10-174, 20 107-112 365, 1-365, 18 BIV9, 2
174, 20-183, 37 114-119 365, 19-376, 46 BIV 1, 50-59
183, 37-184, 28 MI3Ia, 227 377, 1-381, 36 39-42
184, 28-187, 25 FI 341, 120-121 381, 37-395, 11 78-88
187 u. 188, Anm MI3Ia, 232 395, 12-408, 21 BIV 10, 2-13
188, 1-199, 25 FI 341, 121-127 408, 22—412, 48 BIV 9, 12-15
NAMENREGISTER
Archimedes 374 Herz, Markus 344.
Aristoteles 3, 17f., 24ff., 30, 35, 42, Hobbes 88, 94, 127, 151, 301
511, 56, 74, 183, 296, 298ff., 317, Hume 102, 135, 141, 143, 1451, 152,
325, 328. 155ff., 162, 164ff., 170ff., 177ff„
Augustin 61 f. 198,215, 2261, 235, 241, 246, 279,
Bacon 167. 302, 3041, 343, 346ff., 350ff.,
Berkeley 110, 113ff., 134, 141, 3591, 395, 402, 404.
148ff., 157, 173ff., 181, 279, Husserl 349.
302ff„ 342, 3451, 348, 360. Jacobi 408.
Brentano 106, 165, 233, 349. James 165.
Cambridger Platonismus 86. Kant 19, 182, 189, 1911, 194, 197ff.,
Columbus 63. 208, 211, 224ff., 230, 234ff.,
Demokrit 316. 280ff., 284ff„ 324, 344, 350ff.,
Descartes 3, 8, 58, 60ff., 781, 84, 363ff., 3691, 372ff„ 375ff., 379ff.,
86ff., 90, 94, 961, 1001, 103, 105, 385ff., 3901, 395ff.
1111, 116, 122, 131, 138, 1431, Külpe 310.
148, 150, 159, 163, 177, 182ff., Landgrebe 298.
187ff., 19111, 226, 2401, 255, Lasswitz 384.
2781, 284, 3001, 303, 330, 3331, Leibniz 29, 71, 152ff„ 178, 182, 185,
340ff„ 3481, 3651, 368, 373, 375, 191, 194, 196ff., 2261, 241, 279,
4061 304, 319, 329, 349, 365, 369, 379,
Deutscher Idealismus 395,407,4101 405.
Dilthey 376. Lewes, G. H. 311.
Elsenhans 365. Locke 70, 751, 781, 83ff., 110, 112ff„
Eudoxos 34, 328. 121 ff., 133ff., 141 ff., 1461, 148ff„
Euklid 34, 37, 299, 314, 328. 152, 155, 158, 160, 167, 1721, 178,
Fechner 311. 185, 187, 194, 198, 279, 301 ff., 319,
Fichte, I. H. 410. 342, 345, 349, 352, 356, 366.
Fichte, J. G. 376, 4081, 41 Off. Lotze 310, 349.
Fries 365, 410. Mach 310.
Galilei 374. Mahnke, Dietrich 329.
Goethe 407. Maimon 376.
Gorgias 581, 316, 331, 342, 347. Medizinische Empiriker 314.
Hamann 408. Michelet 410.
Hartmann, E. v. 4081 Mill 172, 311.
Hegel 182, 310, 312, 409ff. Münsterberg 311.
Heraklit 316. Neukantianismus 194, 370, 382.
Herbart 310. Newton 407.
468 NAMENREGISTER
Nicolaus von Cues 329f. Scholastik 106.
Okkasionalismus 188f. Sokrates 8ff., 16, 32, 148, 206, 298.
Ostwald 310. Sophistik 8, 12, 31, 33, 52, 55, 58,
Parmenides 315f., 323. 60, 143, 148, 2991
Paulsen 310. Spinoza 178, 182, 1881, 193.
Platon 3, 8f., 11 ff., 24, 31f., 33ff., Stahl, F. J. 410.
37, 42, 52, 56, 60, 69, 74, 88, 127, Steffens, 411.
129, 143, 198f., 206, 296, 298, Stoa 171, 298.
315f., 320, 322ff., 3271, 349, 3741 Stumpf 310.
Plotin 3281 Thaies 203.
Protagoras 58, 342. Theaetetus 328.
Reinhold 376. Trendelenburg 409.
Richter, Raoul 310. Ueberweg 310.
Riehl 310. Weisse 410.
Rosenkranz 310. Wolff 227, 281.
Schelling 310, 409ff. Wundt 310.
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0 1 164 0050775 6
B3279 .H9 1950 Bd. 7
Husserl, Edmund
Gesammelte Werke
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