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GEORG LUKACS WERKE

GEORG LUKACS WERKE

Friihe Schriften zur Asthetik II

BAND 17
oF
SYOULS
GEORG LUKACS

Heidelberger Asthetik (1916-1918)


Aus dem Nadhlafs herausge:epeben von
Gyorgy Markus und Frank Benseler

LUCHTERHAND
Eckige Klammern umschlieSen Zusatze der Herausgeber.
36
hb 7635
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vil]

© 1974 by Hermann Luchterhand Verlag Darmstadt und Neuwied.


Ausstattung von Christian Honig. Gesetzt aus der Borgis Garamond.
Gesamtherstellung: Druck- und Verlags-Gesellschaft mbH., Darmstadt.
Printed in Germany. September 1975
ISBN 3-472-76 115-6
GE we ser
Wake
2-94-76
2995 Ie: ON
APG vow.
nl
Inhalt

Heidelberger Asthetik (1916-1918)

Erster Teil
I. Das Wesen der asthetischen Setzung
TL. Phinomenologie des schépferischen und receptiven
Verhaltens go
UI. Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Asthetik gu

Zweiter Teil: Die transcendentale Dialektik der Schinheitsidee 133


IV. Die logisch-metaphysische Idee der Schénheit 137
V. Die spekulativ-entwicklungsphilosophische
Schénheitsidee 17

Anhang
Appendix I und II

Das Formproblem der Malerei 229

Nachwort von Gyérgy Markus 253

Namensverzeichnis 279
ERSTER TEIL
1. Das Wesen der asthetischen Setzung

»Es gibt Kunstwerke — wie sind sie méglich?« — mit dieser, dem Geiste,
wenn im Einzelnen auch dem Buchstaben nach nicht, kantischer Frage
muf jede Asthetik beginnen, die als reine Geltungslehre des Asthetischen,
also weder als Metaphysik noch als Psychologie, begriindet werden soll.
Der Schein der Anerkennung einer blofen »Faktizitat«, den diese Formu-
lierung fiir den ersten Blick enthilt, enthiillt sich sogleich als blofer
Schein, wenn bedacht wird, da einerseits das hier anerkannte und zum
Ausgangspunkt gewahlte Dasein der Kunstwerke nicht die Breite und die
Fille ihrer tatsichlichen, ihrer geschichtlichen Gegebenheit, sondern ihre
bestimmte, wenn auch noch nicht konkret erkannte spezifische Struktur
bezeichnen soll, an deren Wesen sich nichts indern wiirde, wenn es in der
uns gegebenen Wirklichkeit tiberhaupt keine realen Kunstwerke gibe (da8
damit freilich ihre Erkennbarkeit unmdéglich wiirde, ist richtig, aber hier
unwesentlich). Dies bedeutet andererseits, da das »es gibt« nur auf die
»Analogie einer Tatsache« und auf keine wirkliche, weder empirische noch
metaphysische Tatsichlichkeit hinweist, sondern blo& das schlechthin Hin-
zunehmende, Unableitbare, Voraussetzungslose der dsthetischen Setzung,
der Geltung der Kunstwerke scharf bezeichnet. Es besagt also nur soviel,
da& es keine Deduktion, dialektische Synthese oder systembildende Kon-
struktion irgendwelcher Art geben kann, aus der diese origin’are Gegeben-
heit zu gewinnen oder abzuleiten wire, daf diese vielmehr, genau so wie
das »synthetische Urteil a priori« fiir die Fassung der theoretischen Sphire
bei Kant, wie die Ursetzung des Ethischen, von der Transcendentalphilo-
sophie als Letztes, als Absolutes — Unbedingtes im buchstablichen Sinn —
hingenommen und nur auf die Bedingung ihrer Méglichkeit untersucht
werden soll.
Die erste Voraussetzung der eindeutigen Fragestellung ist also die még-
lichste Kldrung und Konkretisierung dieser Gegebenheit; die Frage: was
die transcendentalphilosophische Bedeutung, die objektive Struktur und
Geltungsart des Sinngebildes »Kunstwerk« sein mag. Freilich kénnte hier
gleich eingewendet werden, da®& in der Beschrinkung der dsthetischen
Setzung auf das Kunstwerk ein unberechtigtes »Vor-urteil« steckt, daf
andere — allgemeinere und »hdhere« — asthetische »Urgegebenheiten«,
ganz besonders die Schénheit, uns vorliegen, denen gegeniiber das Kunst-
10 Heidelberger Asthetik

werk nur einen Spezialfall reprasentiert, nur eine bestimmte Verwirk-


lichung des isthetischen Wertes, neben der es andere, gleichberechtigte
Realisationen — z.B. das Naturschéne — geben kann. Die Gewichtigkeit
dieses Einwandes, fiir den die ganze klassische Asthetik zeugt, ist, trotz-
dem er an dieser Stelle nicht beantwortet wird, gewi8 nicht zu unter-
schitzen. Hier kann nur soviel behauptet werden — und daf es sich dabei
um mehr als um eine bloBe Behauptung handelt, kann nur das ganze
System beweisen -, da eine Asthetik als reine Geltungslehre sich nur auf
diesem Boden aufbauen lift; da jede Setzung des Asthetischen, die iiber
das geltende Sinngebilde »Kunstwerk« hinausgeht, notwendig in einer
Metaphysik miinden muf: Entweder in einer bewuften Metaphysik, wenn
von der transcendenten Lehre der Schinheit ausgegangen wird, die eine
hohe systematische Berechtigung erlangen kann, jedoch - wie an seinem
Ort nachzuweisen sein wird — niemals die Geltungsart des Kunstwerkes
zu erkliren vermag, sich also mit unserer Grundfrage nur dann beriihre,
wenn sie auch dieses, fiir sie unlésbares, Problem tiberhaupt zu stellen
gezwungen ist. Oder miindet sie in einer unbewuften Metaphysik und
darum in einer in sich widerspruchsvollen und widersinnigen Begriffs-
bildung, wenn sie von psychologischen »Schénheits-erlebnissen« ausgehend,
deren Objekte, Natur und Kunst, in ihrer Objektivitat, in ihrer geltenden
Gegenstindlichkeit zu begreifen sich anmaft. Und da bereits in der
Fragestellung einer »Psychologie der Kunst« ein Zirkel, die erschlichene
Voraussetzung der Geltung der Kunst enthalten ist, bedarf heute hoffent-
lich keiner ausfiihrlichen Begriindung mehr; man kénnte nur die aus dem
Kampfe gegen den logischen Psychologismus wohlbekannten Argumente
neu angewendet wiederholen, womit die Kenner dieses Gebietes nicht ge-
langweilt werden sollen und die sie Nicht-kennenden seien hier ein fiir
allemal auf diese Polemik, in erster Reihe auf Rickert und Husserl hinge-
wiesen.
Weitaus schwieriger und weitaus wichtiger wie das Fernhalten der asthe-
tischen Setzung vom Psychologismus ist die reinliche Scheidung des asthe-
tischen Geltens sowohl von autonomen Geltungsformen anderer Art,
also von Theorie und Ethik, wie von der verschiedenen Méglichkeiten
einer Metaphysik1. Die nichstliegende Vermischung verschiedener Gel-

x Ober Metaphysik soll hier tiberall als von einer spezifischen Art der Systematisation die
Rede sein, ohne tiber ihre Berechtigung weder im positiven, noch im negativen Sinne
ein Urteib zu fallen. Diese Aufgabe ist freilich dadurch sehr erschwert, da die klassische
Asthetische Setzung Ir

tungsformen, auf die bereits hier hingewiesen werden muf, ist die Ver-
mischung der Asthetischen mit der theoretischen Geltung. Nicht nur der
weit vorgeschrittenere Ausbau dieser Sphire, im Vergleich mit unserer
noch so primitiven Erkenntnis der Struktur des Asthetischen, sondern
auch die Panarchie des Logischen, die Notwendigkeit, da jede Erkennt-
nis von der Form der Theorie umgeben erscheinen mu, begiinstigt das
Verdecken der asthetischen Urstruktur durch theoretische Formelemente.
Ohne jetzt noch auf das Problem des »isthetischen Urteils« naher ein-
gehen zu wollen, woriiber freilich spiter oft die Rede sein wird, muf hier
bereits gesagt werden: die Geltung eines »asthetischen Urteils« ist eine
rein theoretische Geltung, da seine Geltungsform die theoretische ist und
dem Asthetischen dabei nur die Funktion der »irrationellen«, in die theo-
retische Geltung hinaufgehobenen Materie zukommt. Wenn also hier
- wie es noch Kant annahm - eine fiir die Asthetik entscheidende Struk-
turform vorliegen wiirde, so ware ihre Geltung eine Unterart der theore-
tischen und die Begriindung einer autonomen Wertsphare ware von vorn-
herein unméglich. Es muf§ deshalb immer an die von der theoretischen
Geltungsform unberiihrte, an die — nach Lasks* treffendem Ausdruck -
»logisch nackte« Gegebenheit des Asthetischen, an das Kunstwerk, wie es
an sich ist, an die subjektiven Verhaltungsarten im Werk (Produktion und
Receptivitat), wie sie in ihrer originaren, rein Asthetischen, noch nicht
theoretischen Weise klarwerden kénnen, gedacht werden, wenn die Gel-
tungsart des Asthetischen als autonomer Geltungsform erforscht werden
soll. Inwiefern sich diese Reinheit der asthetischen Setzung — besonders in
den subjektiven Verhaltungsarten — in der Wirklichkeit zu realisieren
vermag, wie weit es in der Wirklichkeit miglich ist, alles »Urteilsartige«
vom Asthetischen fernzuhalten, kann und soll uns hier nicht beschaftigen.

Metaphysik so gut wie niemals reine Metaphysik ist, sondern zugleich die Funktion der
Geltungsphilosophie auszufiillen bestrebt ist. Eine weitere Schwierigkeit der Darstellung
liegt darin, da& die Abhebung des Asthetischen von Theorie und Ethik eine Fassung jener
Geltungsarten voraussetzt, die sich mit der heute herrschenden nicht in allen Punkten
deckt und die hier dennoch aus begreiflichen Griinden unausgefithrt bleiben muf. Im all-
gemeinen soll die Auffassung des Neukantianismus, besonders in der Form, die sie bei
Rickert und Lask erhielt, der Kontrastierung der Asthetik mit der Theorie und Ethik
zu Grunde gelegt werden.
* [S. Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, Tubingen, Mohr. r9rr, Erster
Teil, 5. Abschnitt. S. 72-79.]
1m Heidelberger Asthetik
Es kommt auf das Herausarbeiten der rein dsthetischen Geltungsart an,
und wenn es sich zeigt, daf es eine solche gibt — dessen Beweis freilich
erst das Ganze dieses Werkes zu tragen im Stande ist -, so liegt in der
eventuell notwendigen Vermischung des »tatsichlichen« Verhaltens mit
theoretischen Formelementen entweder eine vom Originaren abgeriickte
Strukturkomplizierung, die aus dem Originiren zu begreifen ist und nie-
mals dieses begreiflich machen kann, oder sogar eine blof& psychologische
Notwendigkeit, im Hineinspielen des »Denkense als psychischer »Wirk-
lichkeit« in den Zusammenhang des tatsichlich psychischen Ablaufs des
Verhaltens, was mit Geltungsfragen selbstredend nichts zu tun haben kann
und darf,
Das Kunstwerk kann auf dieser Stufe unserer Erkenntnis — also in héchst
primitiver, sogar brutal-abstrakter Weise — bestimmt werden als ein
Formkomplex, der eine derart in sich abgeschlossene Struktur, eine so
vollendete, im unmittelbaren Erleben erfa&bare und zu erfassende Imma-
nenz besitzt, daf& er seine Geltung ausschlieRlich dieser Immanenz, und
nicht dem Einfiigen in einen tibergreifenden Zusammenhang oder dem
Zuordnen zu einem Prinzip hdherer Art als das Sinngebilde selbst, ver-
dankt. Die subjektive Seite dieser Bestimmung ist die Forderung des gel-
tenden Sinngebildes an das ihm zugeordnete Verhalten, daf es iiber seine
Kontemplation, die ein unmittelbares Erleben ist, nicht hinausstrebe, da
es ebenfalls immanent in sich ruhe und nicht uber das eine Objekt der
Kontemplation hinaus auf andere Objekte intendiere. Daraus folgt eine
ganz andere Stellung zur »Wirklichkeit«, zur »Aufenwelt« als in den
anderen Geltungsspharen vorliegt. Die »Wirklichkeit« — und sei sie die
Umwelt der natiirlichen Einstellung, die »objektive« Wirklichkeit der Er-
kenntnis oder die »wahre Wirklichkeit« der Metaphysik — ist mit der
Setzung des Asthetischen nicht etwa blo& — mit Husserls Ausdruck — »in
Klammern gesetzt«, sondern sie ist als radikal nichtseiend gesetzt. Dieses
»Nichtsein« jeder Wirklichkeit mit Ausnahme der des einzelnen Kunst-
werks, wobei das als Nichtsein Setzen von jedem einzelnen Kunstwerk
aus sich notwendig auch auf alle anderen Kunstwerke bezieht, bedeutet
eine so absolute Annihilierung von allem, was, bildlich gesprochen, aufer
dem Rahmen liegt, wie es bei keiner anderen Setzungsart vorgefunden
werden kann: Kunstwerk und Wirklichkeit sind — fiir die Geltung der
originaren asthetischen Setzung — in eine villige Beziehungslosigkeit zu
einander gesetzt: die Denkbarkeit des einen bedeutet die Aufhebung des
anderen. Diese Struktur der asthetischen Setzung, die uns im spateren
Asthetische Setzung 13

noch viel beschaftigen wird, hat zur notwendigen Folge, da8 das normge-
miife subjektive Verhalten, die Sollensform, die der asthetische Wert fir
die zugeordneten Subjekte annimmt, das reine Erlebnis ist. Die Totalitat
der theoretischen Sphire, die in jedem Akt des Denkens oder des Er-
kennens mitgemeint, ja als das Wesentlichste intentioniert wird, hat die
Abgeriicktheit der Form von der Unmittelbarkeit des Erlebens zur Folge;
erkennendes Subjekt und letzthinniges Objekt der Erkenntnis kénnen der
Struktur der theoretischen Sphire gem in keine unmittelbare Bezie-
hung zueinander gebracht werden (die ganze Problematik des »intuitiven
Verstandes« hat uns hier nicht zu beschaftigen, obwohl gerade seine For-
derung das Sosein dieser Sachlage mehr als alles andere zu erharten ver-
mag); die mikrokosmische Totalitit des Kunstwerks kann keine andere
normative Beziehung als die der Unmittelbarkeit des reinen Erlebens
zulassen.
Damit ist, wenn auch in héchst abstrakter Weise, die Einzigartigkeit und
die Paradoxie der asthetischen Setzung klargeworden: sie fordert ein nor-
matives Erlebnis, was, von der Seite der Objektivitat ausgedriickt, soviel
bedeutet: ihre Geltungsform ist erlebnisartig, ist das Formwerden, der
immanente Sinn des Erlebnisses. Das Paradox-Andersartige den anderen
Geltungssphiren gegeniiber tritt hierbei grell zutage: die Geltungsform
bedeutet iiberall sonst — sowohl in der Kontemplation der Theorie wie in
der Aktivitit des normgebotenen Handelns — stets ein Abriicken von jeg-
licher Erlebnishaftigkeit. Es ist vielleicht sogar (fiir Theorie und Ethik)
gar keine allzu schroffe Formulierung, wenn die Form als das dem Er-
lebnis Entriickte, als das schlechthin Erlebnistranscendente bestimmt wird,
das ebendeshalb die Funktion der geltenden Form, die Erhebung auf das
Geltungsniveau, dem stets irrationellen, stets »erlebnishaften« Material
gegeniiber auszuiiben fahig und befugt ist. So da& in der Correlation
Form-Material wir durchwegs und mit Recht gewohnt sind, die Erlebnis-
haftigkeit auf der Seite des Materials (beinahe als mit ihm gleichwertig)
zu erblicken. Diese Materialposition des Erlebnisses bleibt auch von der
asthetischen Setzung unangetastet, dadurch mu aber, mit diesem nachsten
notwendigen Schritt zu ihrer Konkretisierung, ihre Paradoxie noch ge-
steigert erscheinen. Form und Geformtes sind hier einander homogen,
sind aus dem gleichen »Material«: beide sind erlebnisartig. Diese einzig-
artige Struktur der dsthetischen Geltung macht es verstindlich, daf
ihr wahres Wesen so gut wie nie unverfalscht erblickt und ungetriibt
herausgearbeitet wurde. Die Unklarheiten, die dabei zu entstehen pflegen,
14 Heidelberger Asthetik

lassen sich im allgemeinen auf zwei Typen zuriickfiihren. Entweder wird


das Geltungsartige der asthetischen Setzung erkannt, aber — da Geltungs-
form und Erlebnistranscendenz einander gleich gesetzt werden — muf das
Wesen ihres Geltens vom Originiren entfernt, muf logisiert oder ethisiert
werden. Oder es wird an dem Erlebnishaften festgehalten, aber dadurch
die ganze Sphire einem geltungsdiesseitigen (oder jenseitigen) »Leben«
allzu sehr und neue Strukturvermengungen verursachend angenihert: die
Asthetik wird psychologisiert oder metaphysiziert, je nachdem ob der
jeweilig in Betracht kommende Lebensbegriff ein psychologischer oder
metaphysischer ist. Und es mu dabei iibersehen werden, da& die Form
der Asthetik geradeso eine Geltungsform ist, wie die der Theorie oder
der Ethik, da& sie also — ohne daf hierdurch ihre Erlebnishaftigkeit auf-
gehoben werden mii&te — dem »Leben« gerade so entriickt ist, wie diese,
da sie keine geringere Distanz vom »Lebene setzt und verursacht, wie es
diese tun. Es kommt aber, um das Wesen des Asthetischen als autonome
Geltungsart zu erhellen, alles darauf an, den Begriff des Erlebnisses in
simtlichen Méglichkeiten seiner systematischen Funktion zur erkannten
Klarheit zu bringen.
1
Ganz allgemein gesprochen lassen sich zwei groBe Typen der Systematisa-
tion (oder, da der Systemcharakter des zweiten Typus mehr als proble-
matisch ist, der Setzung, der Formung der »Welt«) unterscheiden. Das
Prinzip ihrer Unterscheidbarkeit beruht letzten Endes darauf, ob ihre
Gegenstindlichkeit eine vollig autonome, selbstherrliche, die Gegenstind-
lichkeit anderer Setzungsarten vernichtende oder wenigstens unbeachtet
lassende ist, oder ob durch die Setzung Gegenstiinde, die ihre Gegenstind-
lichkeit anderen Setzungen verdanken, unverandert oder nur modifiziert
von der neuen Form dieser Setzungsart umfaft werden. Eine nahere und
eingehendere Charakterisierung des ersten Typus scheint nach alledem,
was die neuere Philosophie zu seiner Klarung geleistet hat, vielleicht nicht
unbedingt notwendig zu sein. Schon bei Kant selbst zeigt es sich, wie
vollig aus sich selbst heraus die wahrhaft autonomen Setzungen (Theorie
und Ethik) ihre Gegenstindlichkeiten erschaffen, wie wenig die Gegen-
standlichkeit einer »natiirlichen Wirklichkeit« etwa fiir sie als ma&gebend
in Betracht kommt, ja wie sehr das, was fiir die eine Setzung und fir die
durch sie entstandene Sphire ein letztes Prinzip der unbedingt-konstitu-
tiven Geltung, der echtesten Gegenstindlichkeit war, in der anderen zer-
Asthetische Setzung 1

setzt und aufgeliést werden mu&; wie sehr Fragestellungen, die in der
einen Sphire direkt auf den absoluten Wert hinzielen, in der anderen
nichts als Verwirrungen und unauflésliche Antinomien zu stiften im
Stande sind. (Man vergegenwirtige sich recht genau Probleme wie die
Gegenstindlichkeit des »Ichs« als Persénlichkeit fiir Theorie und Ethik,
und diese Struktur wird keiner weiteren Erérterung mehr bediirftig
scheinen.) Als illustrativer Typus der zweiten Art mag eine Formstruktur
wie die Kultur dienen. Auch die Setzung der Kultur erschafft eine eigen-
artige, wenn man will, véllig neue Welt, scheint also durchaus die Kenn-
zeichen einer echten Setzung an sich zu tragen, jedoch — und dies ist das
hier Entscheidende ~ ihre Setzung ist prinzipiell nicht voraussetzungslos,
setzt vielmehr eine durch andere Setzungen (ob diese blo dem ersten
Typus angehéren kénnen, bleibe hier unerértert) bereits geformte Welt
voraus. Damit die neue Synthese, der neue Strukturzusammenhang »Kul-
tur« mdglich werde, muf eine Welt da sein, in der es Kunstwerke, philo-
sophische Systeme, Staaten, Wirtschafts- und Rechtsordnungen usw. be-
reits gibt. Ihre originiren Gegenstindlichkeiten will auch die Setzung der
Kultur nicht aufheben; das Kunstwerk etwa soll ja im Kulturzusammen-
hang nicht aufhoren Kunstwerk zu sein, sondern soll blof in einen neuen,
in einen anderen Zusammenhang gebracht werden. Es kann aber, wenn
man alle Komplikationen, die bei solchen Modifizierungen der Gegen-
standlichkeit entstehen mdgen, hier bei Seite la®t, gesagt werden: die
Form, von der solche Sphiren wie die Kultur ihre spezifische Qualitit und
damit ihr eigentliches Dasein erhalten, ist eine Form, welche untereinander
und der formenden Form gegeniiber heterogene Formen umfaft; eine
Form, die blo& Gegenstandsverkniipfungen, aber nicht radikal neue Ge-
genstindlichkeiten erschafft, da ihr Material etwas bereits — und unauf-
hebbar - Geformtes ist.
Was ist aber, muf nun gefragt werden, das Material der ersten Formungs-
art? Anders ausgedriickt: was bedeutet die Voraussetzungslosigkeit der
reinen und autonomen Setzungen? Negativ, im Kontrast zum soeben Aus-
gefiihrten mii®te die Antwort lauten: Voraussetzungslosigkeit bedeutet,
da den gegenstandsschaffenden, den geltenden Formen gegeniiber keine
fremde Gegenstindlichkeitsform ihre Giiltigkeit zu bewahren vermag,
da also das Material nur eine andere Bezeichnung fiir das schlechthin Un-
geformte, der Formung Bediirftige ist. Diese Correlation von Form und
Material, in der alles Geltungsartige auf der Seite der Form stehen muf,
gestaltet sich in den verschiedenen Setzungen (und in den verschiedenen
16 Heidelberger Asthetik

Fassungen, die diese in den bedeutsamen Systemen erhalten) in grofer,


hier nicht einmal andeutbarer Mannigfaltigkeit, allen Setzungen gemein-
sam ist blo8 das fiir unser Problem Wichtigste: die geltungsfremde (atheo-
retische, anethische) Wesensart des Materials. Diese notwendige Geltungs-
fremdheit des Materials, seine »funktionelle Irrationalitat«, wie Lask*
sagt, brauchte das Material mit Erlebnishaftigkeit, mit »Leben« in eine
enge Beziehung zu bringen, deren Wesen hier in ihren Hauptziigen ge-
klirt werden muf, um durch die verschiedenen systematischen Méglich-
keiten des Erlebens hindurch zu seiner dsthetischen Funktion, zu seiner
Bedeutung in der asthetischen Setzung zu gelangen. Vor allem leuchtet es
von selbst ein, daf die Erlebnishaftigkeit des Materials eine mehr negative
als positive Bezeichnung ist, da sie eher auf die Unableitbarkeit aus den
geltenden Formen, auf das Hinnehmende des Materials hinweist, als sein
wirkliches Wesen aufzeigt. Denn eine Identifikation dieses Erlebnispro-
zesses mit dem der »natiirlichen Wirklichkeit« (von dem im Folgenden
noch eingehend gesprochen werden soll) wiirde die Geltungsform auf ein
psychologisches Niveau herabdriicken. Nicht das »Erlebenc, wie es als
psychologische Wirklichkeit aufzuweisen ist, wird selbst im isoliert be-
trachteten, einzelnen Urteil geformt und zur Giiltigkeit erhoben, sondern
etwas »Erlebnishaftes tiberhaupt«, etwas schlechthin und blof& Erlebtes,
wobei seine »Erlebnishaftigkeit« das Nichtgeformte, das aller Gegenstind-
lichkeit Bare, die bloSe Substratartigkeit dieses Materials kennzeichnet.
Denn das Erlebnis, so wie es als psychische Wirklichkeit gegeben ist, ist
ein Gebilde von sehr komplizierter Beschaffenheit, dessen Gegenstandlich-
keit von der geltenden Setzung notwendig aufgchoben werden muf; oder
besser gesagt: die geltende Form greift, indem sie diese Gegenstandlichkeit
zerstort, durch dieses Gebilde hindurch, um das schlechthin ungeformte
Etwas zu erfassen und damit in die normgeforderte Beziehung zu sich zu
bringen. Die friiher erwahnte Gleichsetzung von Material und »Erlebnis
tiberhaupt« muf deshalb dahin pricisiert werden, da dem Material — als
transcendentale Bedingung seiner Méglichkeit — ein solches »Erlebnis iiber-
haupt« zu Grunde liegen mu; indem es bereits Material geworden ist,
indem es bereits in der Correlation Form-Material steht, hat es diesen
Urzustand, diese Unberiihrtheit von allen erlebnisfremden Gegenstind-
lichkeitsformen schon verlassen, es ist Formbestandteil eines Geltungsge-
fiiges geworden: das normative Substrat der Formung.

* [S.: A.a.O. S, 76-78]


Asthetische Setzung 17

Jede Systematisation, die mit der Aufkldrung der letzten Voraussetzungen


des Geltens ernst macht, muf in irgendeiner Weise auf dieses Problem, auf
das notwendig postulierte Dasein dieses Urmaterials, das einerseits das
schlechthin Formjenseitige und deshalb das unerhellbar Dunkle, anderer-
seits aber doch der transcendentale Grund jedes konkreten Materials,
also jeder Formerfiillung ist, sto&en. Die Méglichkeiten der Lésting des
Problems, die uns hier nur von diesem einseitig-struktiven Standpunkt
aus interessieren, gliedern sich danach, ob das Problem offen anerkannt
oder der Versuch unternommen wird, es aus dem Bereich der Setzung
zu entfernen: das Problem dadurch zu negieren, da die Totalitit der
konkret erfiillten Formen aus ihrer eigenen Machtbefugnis ihr eigenes
Erfiillungssubstrat, ihr eigenes Material erschafft. Das Kantische System
ist wohl das gréfte Beispiel fiir die erste Lésungsméglichkeit, und das so
oft mifverstandene, so oft auf ein fiir Kant unwiirdig niedriges Niveau
herabgezerrte »Ding an sich«-Problem erscheint damit nicht als ein Uber-
rest uniiberwundener Metaphysik, sondern als klare, wenn auch nicht
iiberall gliicklich formulierte Bezeichnung fiir diese schlechthin gegebene
Wesensart des Materials. Wenn also Kant? im Gegensatz zur Spontaneitat
der erkennenden Formfunktion des theoretischen Subjekts davon spricht,
da& die Kritik »diesen Grund des Stoffes sinnlicher Vorstellungen nicht
selbst wiederum in Dingen, als Gegenstinden der Sinne, sondern in etwas
Ubersinnlichem setzt, was jenen zum Grunde liegt und wovon wir kein
Erkenntnis haben kénnen«, da aber »die Gegenstinde, als Dinge an sich,
geben den Stoff zum empirischen Anschauungene, so soll damit keineswegs
die reale Sinnlichkeit irgendwie »erklirt« werden, es soll blo& auf den
letzten dunklen Urgrund alles Materials, auf das einfach Hinzunehmende
dessen, worauf die Sinnlichkeit tiberhaupt beruht, hinweisen. Es ist nicht
mehr als die transcendentale Bedingung aller Méglichkeit einer Sinnlich-
keit tiberhaupt, jedoch — und diese Einschrankung mu freilich bei Kant
selbst aus Strukturgriinden seines Systems notwendig fehlen - einer Sinn-
lichkeit, die nicht von allen Seiten, sondern blof als Formsubstrat der
theoretischen und ethischen Geltungsformen betrachtet wird. Damit ist

2 Vrgl. »Ober eine Entdeckunge usw. Phil, Bibl. 36 [S.: Werke. Hrsg. von E. Cassirer.
Bd. VI. Berlin, 1914. S. 32-33.] Die Kantische »Sinnlichkeite deckt sich weitgehend mit
unserem Begriff vom »Erlebnise; da es sich hier nicht um eine Kantinterpretation handelt,
kommen Abweichungen im Einzelnen, die nicht geleugnet werden sollen, fiir uns nicht in
Betracht.
18 Heidelberger Asthetik
eine Urdualitét von Form und Material als Grundlage der Geltungssphi-
ren anerkannt und ewig geworden. Innerhalb der Geltungssphiren selbst
ist es freilich verwirrend von Dualitat zu sprechen: hier gibt es nur eine
unauflésliche Correlation von Form und Material, wobei das Material als
Formungssubstrat einen Formcharakter (als Angelegtheit auf Form, als
Bediirftigkeit der Formung) besitzt, seine »Irrationalitit« zur blo& funk-
tionellen, positionellen wird, und das unerkennbare Material verwandelt
sich in einen Grenzbegriff der Erkennbarkeit, in eine unendliche Aufgabe,
in ein ewiges Noch-Nicht der Erkenntnis, in das X des zu Erkennenden.
Es darf dabei jedoch nicht iibersehen werden, da dieser Sinn des schlecht-
hin Gegebenen als Grenzbegriff der Erkenntnis sich von einem anderen
Aspekt aus ergibt, wie der oben erwahnte; dieser ist ein sphirenimmanen-
tes Correlat der giiltigen Erkenntnis, wahrend es sich in der friiheren, in
der eigentlichen Dualitat um die Entgegensetzung absolut heterogener
Elemente handelt, deren Bezichung zueinander die Sphire erst. miglich
macht, in ihr selbst jedoch keinen »Ort« beanspruchen kann. Wenn der
Begriff des Dinges an sich so gefa&t wird, so erscheint jede metaphysische
Auslegung als iiberfliissig (freilich blo& soweit von der Theorie der Er-
kenntnis und nicht von dem ganzen System die Rede ist): eine Erkenntnis
des Dinges an sich, als metaphysische Erkenntnis im Gegensatz zu einer
blo8 phanomenalen, ist schon darum ein Scheinproblem, weil der Kanti-
sche Erkenntnisbegriff, sein struktives Urverhiltnis von Form und Ma-
terial, zwar das Ding an sich als Bedingung der Méglichkeit der Materiali-
tat (der »Sinnlichkeit«) iiberhaupt voraussetzt, aber es ebenso notwendig
auf diese Rolle der blofen Bedingung der Méglichkeit beschrinkt: mit
derselben Notwendigkeit, mit der es gesetzt ist, ist es als unerkennbar
gesetzt; diese Unerkennbarkeit ist keine von aufen gesetzte Schranke der
Erkenntnis, sondern ihr inneres Wesenszeichen, sie kénnte nicht aufge-
hoben, also das Gebiet der Erkenntnis auf diesen Urgrund ausgedehnt
werden, ohne die Erkenntnis selbst aufzuheben und zu vereiteln.
Diesem »relativen« Idealismus Kants steht der »absolute« seiner grofen
Nachfolger, am grellsten der Idealismus Hegels gegeniiber. Der fiir uns
wesentliche Punkt ihres Unternehmens, den Begriff des Dinges an sich aus
dem System der Philosophie zu entfernen und das ganze, konkret-erfiillte
System aus der selbstherrlichen Produktivitat der autonomen Formen auf-
zubauen, ist das Problem des Systemanfangs, ein von Hegel selbst fiir das
Schicksal des Systems als entscheidend anerkanntes Problem, dessen Not-
wendigkeit fiir diesen Lésungstypus sich auch darin zeigt, daf jedes Hin-
Asthetische Setzung 19

ausgehen iiber Kants »Halbheit«, jede »Verbesserung«, jedes »Zu-Ende-


Denken« seines Unternehmens im Wesentlichen Hegels Wege gegangen ist
und gehen muf*. Das hiermit aufgestellte Postulat einer véllig voraus-
setzungslosen Setzung hat folgende zwei Bedingungen zu erfiillen: einer-
seits muf sie bei einem Nichts, bei einer vollstindigen Inhaltlosigkeit und
Leere anfangen, da das Voranstellen selbst eines unerkennbaren Dinges an
sich »vor« die Setzung ihr dem Wesen nach verwehrt ist, andererseits aber
mu mit diesem Setzen des Nichts bereits - implicite - das ganze System
gesetzt sein, die sich spater entfaltende Fiille der konkret-erfiillten Formen
darf diesem Anfang gegeniiber nicht heterogen sein. »So ist«, sagt Hegel
»der Anfang der Philosophie, die in allen folgenden Entwickelungen
gegenwirtige und sich erhaltende Grundlage, das seinen weiteren Bestim-
mungen durchaus immanent Bleibende«, denn »das Wesentliche fiir die
Wissenschaft ist ..., ... da& das Ganze derselben ein Kreislauf in sich
selbst ist, worin das Erste auch das Letzte und das Letzte auch das Erste
wird«‘. Die Kritik der Methoden, die die vereinigende Lésung der beiden
Postulate zu leisten haben, gehért nicht hierher, wesentlich ist blof, nach-
dem die systematische Funktion des zu Beginn Gesetzten klar geworden
ist, die Bestimmung, die es erhalten mu&, und zwar hauptsichlich deshalb,
weil ein scharferer Blick auf diese es sogleich erhellen kann, da wir es
auch in diesem Fall mit einer Setzungsnotwendigkeit zu tun haben, deren
Wesen dem des Kantischen Dinges an sich auferordentlich nahe kommt.
Das Hegelsche System beginnt mit dem Setzen des Seins, nachdem ein-
gehend bewiesen wurde, da& jede andere Méglichkeit des Anfangs in alle-
dem, worauf es entscheidend ankommt, dieser Setzung gleichwertig ist, nur
da ihr die systematische Klarheit, die in dem Erblicken des Seins als
Erstes erreicht wird, notwendig fehlen muff. »Das Sein ist das unbe-
stimmte Unmittelbare.« Diese Unbestimmtheit ist im wértlichen Sinne
zu nehmen; es ist »nicht ungleich gegen Anderes, hat keine Verschieden-
heit innerhalb seiner, noch nach Aufen ... Es ist die reine Unbestimmt-

3 Man denke an das »Urteil des Ursprungse in Cohens Logik [S.: Logik der reinen Er-
kenntnis. Erste Klasse, § 1]; da hier nur das systematisch Typische von Bedeutung ist,
beschriinken wir uns auf die Analyse Hegels, umso mehr, als sich bei ihm eine gréBere
Folgerichtigkeit in der vollstandigen Voraussetzungslosigkeit des Anfangs aufzeigen lat,
wie bei Cohen.
4 Wk. IIT [Berlin, 1841] 61. [S.: Wissenschaft der Logik, Lassonsche Ausgabe. Hamburg,
Meiner. 1971. Erster Teil. S. 56.]
20 Heidelberger Asthetik

heit und Leere. — Es ist nichts in ihm anzuschauen, wenn von Anschauen
hier gesprochen werden kann; oder es ist nur dies reine, leere Anschauen
selbst. Es ist ebensowenig etwas in ihm zu denken, oder es ist ebenso nur
dies leere Denken. Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat
Nichts, und nicht mehr noch weniger als Nichts«S. Dieses Nichts ist kein
Gegensatz des Etwas, kein Mittel oder Umweg zu dem Etwas zu gelangen,
wie es Cohen annimmt; Hegel unterscheidet sehr schroff »das dem Etwas
entgegengesetzte Nichts, das Nichts von irgend Etwas«, das »bestimmte
Nichts« von diesem — mit dem Sein identischen — Nichts schlechthin®. Das
Niveau der Denkbarkeit des Etwas und seiner eventuellen Gegensitze ist
schon sphirenimmanent, setzt schon die entstandene theoretische Gegen-
standlichkeit voraus; es ist charakteristisch, wie sich ja auch Cohen auf
Prinzipien wie das der Continuitat berufen mu, um diesen »Umweg iiber
das Nichts« erfolgreich zu Ende gehen zu kénnen, wahrend Hegels
Fragestellung tatsachlichh an den »Anfang«, an das Stadium »vor« der
Sphire ankniipft, wirklich nach der xgdty tAn der Theorie fragt. Jedoch
gerade diese Folgerichtigkeit schafft fiir das Hegelsche System uniiberwind-
liche Schwierigkeiten: dieses Sein=Nichts kann kein Denkprodukt, kein
Produkt der spontanen Formen der Theorie sein, denn erstens ist deren
Wesen, wie dies Hegel iiberall scharf hervorhebt, Vermittlung, wahrend es
hier um reine Unmittelbarkeit, um die vollendete Ausschaltung jedweder
Vermittlung handelt; zweitens besteht die objektive Funktion des
Denkens, gerade fiir Hegel, in dem Setzen von Bestimmungen, und die
Folgerichtigkeit in seinem Erblicken des wahren Anfangs liegt in erster
Reihe darin, da& aus ihm jede Bestimmung, ja selbst jede Méglichkeit
einer Bestimmung ausgeschaltet worden ist. Wie gesagt: die Kritik der
Methoden, die die Vermittlung und die Bestimmung und mit ihnen die dia-
lektische Weiterbewegung des Denkens in dieses Sein=Nichts hinein-
bringen, gehért nicht hierher. (Es mag im Vorbeigehen nur darauf hinge-
wiesen werden, da& der erste dialektisch-synthetische Begriff, der von
ihnen aus erreicht wird: der Begriff des Werdens nur sprunghaft — durch

5 Ebd. 72-73, [S.: a. a. O., 66-67] Es ist auch hier unméglich, die Beziehung des Hegel-
schen Begriffes von Unmittelbarkeit zu unserem Erlebnisbegriff ausfhrlich zu erdrtern;
ihre Verwandschaft und ahnliche systematische Funktion ist jedem Kenner Hegels ein-
leuchtend und dies mag fiir unsere Zwecke geniigen.
6 Ebd. 74. [S.: a. a. O., S. 67-68.] Vrgl. Logik der reinen Erkenntnis, 2. Aufl. (Berlin,
1914] 84.
Asthetische Setzung ar

eine Anniherung an das Gegensatz-niveau: bestimmtes Sein und Nichts


von Irgendetwas, wenn dies Etwas auch noch so abstrakt sein mag -
erreicht werden kann; daf zu seinem systematischen Erfassen Bestimmun-
gen und Vermittlungen nétig sind, die eine gré&ere Konkretheit voraus-
setzen, die bereits sphirenimmanent sind.) Wichtig bleibt: auch das pan-
logische System der Theorie mu, wenn es seine Aufgabe der Vorausset-
zungslosigkeit ernst nimmt, mit dem paradoxen Begriff der Setzung des
schlechthin Setzungsjenseitigen beginnen, um das Dasein des Materials,
des Erfiillungssubstrates seiner Formen begreiflich machen zu kénnen.
Damit sind wir an die Grundparadoxie wahrhaft autonomer Setzungen
gelangt: jede ist, der Kantische Typus geradeso wie der Hegelsche, voraus-
setzungslos, denn sie setzt nichts voraus; d. h. das, was sie notwendig
voraussetzen muf&, enthiillt sich bei genauer Betrachtung als das schlecht-
hin Unaussagbare, was fiir Formen, die eine autonome Sphire begriinden,
in der das Sein wesensnotwendig zur Kategorie, mithin zur Aussagbarkeit
wird, dasselbe bedeutet, wie das reine, das absolute Nichts. Die Paradoxie
besteht also klar darin, da nicht nichts, sondern das Nichts vorausgesetzt
werden muf. év doxi fv 8 Abyos gilt fiir jede autonome Setzungsart, aber
dieser »Anfange bedeutet notwendigerweise zugleich das Setzen des Unbe-
stimmbaren, des Nichts oder - um einen positiveren und plastischeren Aus-
druck zu gebrauchen - das Setzen des Chaos. Dieses Chaos ist als das absolut
Unbestimmbare, als das wofiir — per definitionem — die geltenden Formen
nicht gelten, nicht nur das schlechthin Unaussagbare, sondern auch das
schlechthin Unbegreifbare. Es ware schon, sein wahres Wesen verfalschend,
zuviel gesagt, wenn behauptet werden wiirde, daf bei Aufrechterhaltung
des Dunkels, das sein Was und Wie umgibt, sein Das, sein nadktes und
leeres Sein ausgesagt werden darf. Im eigentlichen Sinne kann nicht einmal
dies gesagt werden — denn jedes Sein ist nur innerhalb einer Sphire sinn-
voll denkbar, und hier handelt es sich um das schlechthin Sphirentrans-
cendente -, blo das pure Das seiner Gesetztheit tiberhaupt darf ausge-
sprochen werden: sein »Ort« als Materie an sich ist setzungsnotwendig.
Diese Paradoxie steigert sich noch dadurch, daf die Allmacht jeder auto-
nomen Setzung das Chaos doch in eine notwendige Beziehung zu sich
bringt. Da aus ihm das Material aufsteigt und das Material unabléslich an
die Correlation zur Form gebunden ist, besteht die Setzungsnotwendig-
keit des Chaos immer nur in Beziehung zu einer bestimmten Setzung; es
ist nur denkbar — im obenerwihnten Sinn als »Ort« -, wenn von der
Theorie oder der Ethik usw. gewissermafen zuriidcblickend auf die Még-
22 Heidelberger Asthetik

lichkeit ihrer spezifischen Materie reflektiert wird. Was also von der
einen aus erblickt wird, ist mit dem von der anderen aus Sich-Ergeben-
den durchaus nicht notwendigerweise wesensgleich; eine Unterscheidung,
die nur darum iibersehen werden konnte, weil die Begriindung der Philo-
sophie in den grofen historischen Systemen so gut wie immer mit der
Begriindung der theoretischen Sphare — die freilich fast immer auch
metaphysischen Funktionen zu erfiillen hat — gleichbedeutend ist und die
Ethik fast nie, die Asthetik iiberhaupt nie autonom begriindet wurde.
Sonst wire diese ganz eigenartige systematische Funktion des Chaos langst
klar geworden: als das ewig, dem Wesen nach »vor« der Setzung Liegende,
kann es niemals, in welcher Weise immer, selbst negativ nicht, erfa8t
werden, aber selbst dieser sein Begriff ist mit der Sphire, die in der
Setzung entsteht, normativ und unaufldslich verbunden. Der Gedanke,
da® diese Verbundenheiten auf ein gemeinsames Substrat hinweisen
miissen, da also die verschiedenen »Riickblicke«, von denen aus sich das
Chaos als methodisch notwendiger »Ort« jeweils verschieden ergibt, nur
verschiedene Aspekte »desselben« Chaos sind, stammt bereits aus einer
ganz anderen Dimension der Fragestellung, aus der eines Systems der
Werte oder der einer, alle Setzungen vereinheitlichenden Metaphysik,
und ermangelt ebendeshalb der unmittelbaren Beziehung zum Chaos.
Diese jedoch ist, aller Unaussagbarkeit zum Trotz, jeder originaren
Setzung gegenwirtig: indem die Setzung die fiir sie bedeutungslose Wirk-
lichkeit aufhebt, in Inexistenz verwandelt, mu notwendigerweise der
»Augenblick« entstehen, wo das setzende Subjekt der Sphiire dem Chaos
gegeniibergestellt wird und das Chaos aufhebt, das Chaos ~ alle zwischen-
geschichtlichen Formen iberspringend — zur Form erhdht, indem es die
Setzung vollzieht. Alle gro&en Systematiker haben das »vortheoretische«
Chaos erlebt und geschildert, Kant und Hegel sind hierfiir blo nur
typische Beispiele, und nur die Spezialisten der theoretischen Einzel-
forschung, die sich notwendig stets blo& innerhalb der Sphire bewegen
und niemals das Problem der Setzung selbst beriihren, konnten seinem
Anblick entgehen. Und jede echte ethische Setzung, jede wirkliche Ent-
scheidung von normativem ethischem Ernst setzt das Subjekt diesem
— dem »vor«-ethischen — Chaos gegeniiber. Indem das Subjekt vor die
Entscheidung gestellt ist, indem es die Norm in seinen Willen aufnimmt
und damit die natiirliche Wirklichkeit, in der es als natiirlicher Mensch
dahingelebt hat, kiindigt und sich in den eigenen Charakter, in ein ethi-
sches Sinngebilde verwandelt, taucht es in grdfere Tiefen hinab als die
Asthetische Setzung 23

Tiefe, die diese natiirliche Existenz des Menschen der Norm gegeniiber zu
bedeuten vermag. Denn die ethische Setzung greift durch alle Objektiva-
tionsformen und subjektiven Ballungen des natiirlichen Menschen hin-
durch und annihiliert sie; der triage Widerstand ihres wertindifferenten
Daseins ware niemals im Stande das ethische Pathos zu entziinden, und
der freie Wille in der Entscheidung bedeutet im buchstablichen Sinne, daf
gehandelt werden muB, als ob dies die erste und die letzte Handlung im
Kosmos ware, als ob es keine Griinde gabe, die zur Situation, in der die
Entscheidung fillt, gefiihrt haben, als ob die Handlung direkt vor dem
jiingsten Gericht geschehen miifte, wo die Zeit aufgehrt hat und es nur
diejenigen Folgen der Tat geben kann, die in ihrer rein ethischen Inten-
tion ontologisch mitgesetzt waren. In der so gefaf&ten Entscheidung, in
der wahrhaft absoluten ethischen Setzung kann erst das ethische Subjekt,
der Charakter entstehen; aber sein Entstehen begriindet sich eben darauf,
da der Charakter keiner »Continuitat« irgendwelcher »Wirklichkeit«
allmahlich und die Continuitdt bewahrend entsteigt, sondern diese radikal
annihilierend, zu ihr véllig heterogen, d. h. absolut gesetzt wird. Und
diese absolute Setzung bedingt, mit derselben systematischen Notwendig-
keit, mit der Kants Ding an sich oder Hegels reines Sein gesetzt werden
muBten, da8 der absolute Charakter einem ethischen Chaos, dem Chaos
sub specie Ethik, der ngdty tan der Ethik entgegen-gesetzt werden muf,
da der Entscheidung dieser Schauer des Abgrundes notwendig vorauszu-
gehen hat. (Daf durch diese schroffe Betonung der Absolutheit jeder ein-
zelnen ethischen Tat und ihres unmittelbaren Zuriickgehens auf das »vor«-
ethische Chaos weder die Einheit des Charakters noch der Zusammenhang
der ethischen Sphiire als ganzes genommen zerrissen wird, kann hier
leider nicht ausgefiihrt werden.)
Der andere Typus der Setzung scheint auf den ersten Blick eine konkre-
tere Annazherung zum Urgrund zu bedeuten, als die soeben charakteri-
sierte reine und autonome Setzungsart. Ist doch das auffallendste Kenn-
zeichen ihrer Unterscheidung, da& wahrend wir es in den autonomen
Setzungen mit normativen Subjekten zu tun haben, mit Subjekten, die
mit dem »Menschen« nicht wesentlich zusammenfallen, ja oft nicht ein-
mal zusammenhingen brauchen, es sich hier um ein dem »Menschen«
irgendwie angenihertes, von ihm nicht loslésbares Subjekt handelt. » Wir
sind« sagt Dilthéy? »zuerst geschichtliche Wesen, ehe wir Betrachter der

7 Zit. von A. Stein: Der Begriff des Geistes bei Dilthey. [Bern, Drechsel. 19:3] 45.
24 Heidelberger Asthetike

Geschichte werden, und nur weil wir jene sind, werden wir zu diesem.«
Es kam hier jedoch nicht auf die Kontrastierung des Erfassens der Kultur
zu der reinen Theorie, auf die von Verstehen und Erkennen ankommen.
Die Berufung auf die Stellungnahme zur Kultur muf ein bloSes illustrie-
rendes Beispiel fiir diese andere Art der Setzung bleiben, bei der uns ein
ganz anderes Niveau der »Wirklichkeit« bedeutsam wird: die sogenannte
»natiirliche Wirklichkeit«; jedes Problem, das aus der Zuordnung der
Kultur zu diesem Typus der Setzungen entstehen mag, vor allem die
Frage, inwiefern dieses Ergreifen der Kultur doch zur Wissenschaft wer-
den kann, gehdrt nicht hierher; die Andeutung ihres Subjektsbegriffes
und ihrer Gegenstandsstruktur mufte nur die Méglichkeit dieser anderen
Setzungsart kurz beleuchten.
Auch die »natiirliche Wirklichkeit« wurde sehr selten auf ihre Struktur
und systematische Funktion hin untersucht. Entweder wurde sie mit dem
unaussagbaren »Vor« der Setzung gleichgestellt, oder ihre Zergliederung
der Psychologie iiberwiesen. Daf die erste Annahme falsch ist, erweist
sich schon daraus, da es sich bei dem Chaos um eine gestaltlose Setzungs-
notwendigkeit handelt, wahrend die »natiirliche Wirklichkeit«, die Welt
der »natiirlichen Einstellung«, die Erlebniswirklichkeit, wie wir sie in
Zukunft nennen werden, eine bestimmte Art des Lebens in der konkret-
gegebenen Welt des hic et nunc ist, tiber dessen konkrete Gegebenheit
und Aussagbarkeit kein Zweifel bestehen kann, wenn seine spezifische
Gegenstindlichkeit auch noch nicht ergriindet ist. Es ist aber ebenso
falsch, diese Ergriindung der Psychologie iiberlassen zu wollen. Denn die
Gegenstandssphare der Psychologie ist — einerlei wie sonst iiber ihre Me-
thode und Stellung im System gedacht wird — der Struktur- oder Gesetz-
zusammenhang, der die sogenannten seelischen Erscheinungen, als solche,
miteinander verkniipft. Die Psychologie ist deshalb geradeso eine Homo-
geneisierung, eine Abstraktion, eine Projektion auf eine bestimmte Ebene
der Erkennbarkeit wie irgendeine andere Art der Wissenschaft und ist
nicht einmal dem Stoffe ihrer Untersuchung nach an den der Erlebnis-
wirklichkeit gebunden. Der Schein eines intimeren Zusammenhanges
zwischen Erlebniswirklichkeit und Psychologie entsteht aus der Unge-
klartheit der Funktion des Erlebnisses in beiden. Fiir die Psychologie ist
das Erlebnis der Stoff der Untersuchung; die Erlebnisse werden von der
Valenz ihrer gegenstndlichen Bezogenheiten frei, d. h. diese kommen nur
insofern in Betracht als sie fiir die Struktur der Erlebnisse, fiir ihre Ein-
ordnenbarkeit in psychologische Zusammenhinge von Belang sind, und
Asthetische Setzung 25

die Erlebnisse werden nur auf diesem so erreichten Niveau ihrer Ver-
gleichbarkeit miteinander, ihrer Einordnenbarkeit in tibergreifende Typo-
logien, ihrer Subsumierbarkeit unter Gesetze von der Psychologie erkannt.
Die Psychologie mu&, als die Wissenschaft vom Erlebnis, stets iiber das
blo& Erlebnishafte hinausgehen, es in einer Weise zerlegen und wieder
zusammenstellen, homogeneisieren und ordnen, die dem erlebnishaften
Wesen des Erlebnisses notwendig transcendent sein mu8; das Psychische,
das Niveau der Erkennbarkeit fiir die Psychologie ist deshalb — vom
Standpunkt des Erlebnisses aus betrachtet — eine Abstraktion, ein material-
fremder Aspekt. Dieser Standpunkt kann ebendeshalb iiberall in Geltung
treten, wo nur ein derartig ablésbares »Psychisches« diberhaupt gegeben
ist; also nicht nur der Erlebniswirklichkeit, sondern auch den normativen
oder den metaphysischen Verhaltungsarten gegeniiber, insofern sich in
ihnen Prozesse auffinden lassen, die auf die homogene Ebene der »psychi-
schen Zusammenhingee projiziert werden kénnen. Die Erlebniswirklich-
keit hingegen ist die Einstellung der »Welt« gegeniiber, wo die Erlebnis-
haftigkeit die Form ist, von der umfaft die Gegenstinde, als Gegenstinde
des Erlebens, gegeben sind. Ihre Erkenntnis kann also niemals auf die
Ablésung der hierdurch psychisch gewordenen Erlebniselemente gerichtet
sein, sie will vielmehr die Struktur des Subjektverhaltens und der Gegen-
standlichkeit, die sich hierbei ergeben, in ihrer, von keinerlei Projektion
oder Homogeneisierung entstellten Wesensart ergriinden. Daraus ist
ersichtlich, da das Gebiet der Psychologie zwar — als Stoffgebiet betrach-
tet - mehr umfaft, als die Erlebniswirklichkeit, diese jedoch im Gegen-
satz zur abstrakten Homogeneisierung auf das »Psychische«, die jene voll-
zieht, eine lebendige Totalitit vorstellt. Die Eigenart und die Erkennbar-
keit dieses Gebietes sind bereits von Diltheys »beschreibender Psycho-
logie« und von der Phanomenologie anerkannt worden, der uns wesent-
liche Gesichtspunkt, der zu dem ihren hinzutreten muf, ist blof, da hier
kein allmahlicher Ubergang, der von der so erlangten und erkannten
Wirklichkeit in die Wertsphiren fiihrt - wie dies etwa bei Dilthey in
Bezug auf die Geisteswissenschaften den Anschein hat -, angenommen
wird, sondern da8 mit der Anerkennung der Eigenart der Erlebniswirk-
lichkeit zugleich ihre schroffe Abhebung von allen Gebieten des Geltens
und der Wertbeziehung behauptet wird; daf also ihre Erkenntnis fiir uns
niemals den Ubergang in eine dieser Sphiiren bilden kann. Ein solcher
kann vielmehr nur in Momenten, worin die Erlebniswirklichkeit sich
26 Heidelberger Asthetik
selbst transcendiert, und auch in diesen nur negativ und andeutungsweise,
aufweisbar sein.
Das Wesen des Aufbaus der Erlebniswirklichkeit lift sich nach dem bis-
her Ausgefiihrten ganz kurz so fassen: sie bedeutet eine Welt von fertig
gegebener Gegenstindlichkeit, deren Prinzipien jedoch heterogene sind und
darum die Gegenstindlichkeit als eine prinzipiell gemischte bestimmen.
Dies folgt und erhellt sich noch besser aus dem Subjektsbegriff der Erleb-
niswirklichkeit im Gegensatz zu dem der Geltungssphiren: ihr Subjekt
ist der »ganze Mensch« und seine Funktion als Subjekt la®t sich im
schlichten Begriff des »Lebens« am einfachsten zusammenfassen (da& der
biologische Begriff des Lebens diesem gegeniiber genauso eine Abstraktion
ist, wie das »Psychischee dem Erleben gegeniiber, bedarf hoffentlich keiner
eingehenden Erdrterung). »Leben« und Geltung schlieSen sich ihrem
Wesen nach aus und dies hat zur Folge, da eine autonome, homogene
und konstitutive Gegenstandlichkeit nur den normativ zugeordneten
Subjekten entgegen gelten kann, niemals aber vom »Leben« des »ganzen
Menschen« der Erlebniswirklichkeit erfaSt zu werden vermag. Mit dem
Begriff des »Lebense ist also eine nicht homogene, eine »gemischte«
Gegenstindlichkeit simultan gesetzt. Wahrend aber in Strukturgebilden,
wie z.B. in der »Kultur«, obwohl ihre Gegenstandlichkeit keine auto-
nome, sondern blo& die Umformung einer bereits gesetzten ist, dennoch
eine normative Objektsbeziehung waltet, fehlt hier, dem Wesen dieses
Gebietes nach, jede Maxime der Objektsordnung und dementsprechend
jede Maxime des subjektiven Verhaltens. Die Erlebniswirklichkeit ist nicht
blo& das Gebiet, wo der »ganze Mensch¢ beheimatet ist, sondern auch
seine »natiirlichee Heimat, die er nur durch einen Sprung, durch den
Entschlu8, sich den Maximen einer Geltungssphire zu unterwerfen (wo-
durch er uno actu aufhért »ganzer Mensch« zu sein und ins normative
Subjekt der betreffenden Sphire verwandelt wird), also vom Standpunkt
des »Lebens« aus betrachtet nur auf »unnatiirliche« Weise verlassen kann.
Wie ist aber dann auf diesem Niveau eine Gegenstandlichkeit iiberhaupt
moglich? Der Ausdruck »gemischtex Gegenstindlichkeit bedarf also einer
naheren Bestimmung, die sich nur darum fiir den ersten Anschein etwas
paradox ausnimmt, weil man leicht geneigt sein mag, von der »Natiirlich-
keit« des Verhaltens in und zu der Erlebniswirklichkeit auf die Ur-
spriinglichkeit ihrer Objektstruktur zu schlieBen. Jedoch: dieses unmittel-
bare, dieses natiirliche Verhalten setzt voraus, da& es sich in einer
fertigen Welt der Gegenstindlichkeit befande, die es auf seine Weise in
Asthetische Setzung . 27

sich aufnimmt, an der es aber nichts zu verindern, in der es nichts zu


schaffen vermag. Diese Welt, die das Erleben des »ganzen Menschen«
in einer »natiirlichen« Weise vorfindet, ist die von den normativen
Setzungen gestaltet gewordene Wirklichkeit, nur da& — und dies ist der
entscheidende Punkt ~ die Giiltigkeit der Setzungen, nach Husserls Aus-
druck, »in Klammern gesetzt« ist. Die Geltung ermdglicht zwar die
Gegenstindlichkeit und bringt sie zu Stande, wohnt aber ihr nicht geltend
inne und verwandelt nicht das Subjektverhalten in ein normatives, in ein
Sollen. Das »In-Klammern-setzen« bedeutet hier also soviel, daf die Gegen-
standlichkeiten zwar bewahrt, aber aus einer Geltung in ein Sein verwan-
delt werden und demzufolge ihrer homogenen Zusammenhinge entrissen
sind, so mit Gegenstandlichkeiten, die aus anderen Setzungen stammen,
in Beziehungen gebracht, ja mit ihnen vermischt werden kénnen; daf sie
in ihrer Gesamtheit von einer neuen Formung, von der der Erlebtheit durch
den »ganzen Menschen« umfaft werden. Denn was immer auf diese
Weise erlebt wird, wird als fertige Gegenstindlichkeit erlebt, wobei das
neue, das die Erlebniswirklichkeit konstituierende Prinzip nichts anderes
als diese Form der Erlebtheit ist. Dies setzt aber wesensnotwendig ein
fertiges Was der Erlebnisse voraus: ob der Mensch der Erlebniswirklich-
keit die Gegenstinde, die ihn umgeben, zur Kenntnis nimmt oder an
ihnen gewisse Stimmungen erlebt, ob er sich selbst oder die anderen
Menschen als Menschen appercipiert usw., immer liegen diesen Erlebnissen
simtliche Kategorien der autonomen Setzungsarten, in erster Reihe die
der Theorie und der Ethik zu Grunde. Daf sie aber nur zu Grunde
liegen und nicht in ihrer wahren Wesensart wirksam sind, d. h. gelten,
la®t sich leicht zur Evidenz bringen, wenn bedacht wird, da8 die Gegen-
stande dieses Erlebtwerden, diese Anerkennung ihrer Gegenstindlichkeit
keineswegs fordern, sondern, wenn dies Bild gestattet ist, stumm und in
sich gekehrt den Menschen der Erlebniswirklichkeit umgeben und es
gewissermafen erdulden, da& sie von ihm erlebt werden. Die Gegen-
stinde hdren auf geltende oder wertbezogene Sinngebilde zu sein und
werden zu real-wirksamen Bedeutsamkeiten, deren Realitat auf der einen
Seite ihre véllige Unabhingigkeit vom aufnehmenden Subjekt kennzeich-
net, deren Bedeutsamkeit jedoch, ihr Vorkommen oder Nicht-vorkommen
in der Erlebniswirklichkeit, vollstindig von ihrem Erlebtsein seitens des
»ganzen Menschene abhingt. Die Erlebtheit als wesentlich konstituierende
Form dieses Niveaus ist also bei vollendeter Panarchie doch eine rein
subjektiv-reflexive Form: sie bestimmt nur das »Vorkommen« der
28 + Heidelberger Asthetik

Gegenstinde auf diesem Gebiet, die Gegenstinde selbst sind jedoch dem
Wesen ihrer Gegenstindlichkeit nach unabhingig davon, ob sie hier
vorkommen oder nicht. Alle Probleme, die man unter dem Namen der
Frage nach der »Realitat der AuSenwelt« zusammenfassen kann, sind
nichts weiter als metaphysische Hypostasierungen dieser paradox zwei-
seitigen Objektstruktur der Erlebniswirklichkeit: auf ihrem Niveau kann
zwischen Wachen und Triumen, zwischen Gesundheit des Geistes und
Wahnsinn kein giiltiges Kriterium der Unterscheidbarkeit gefunden wer-
den, denn die unvermeidlich gegebenen Kategorien einer Gegenstindlich-
keit tiberhaupt sind fiir Traum und Wahnsinn genau dieselben wie fiir
ihren Gegensatz und sind bei diesen genau so wenig geltend wie bei jenen.
Darum erkannte Descartes mit tiefem Instinkt, da es aus diesem »Zwei-
fel« keinen anderen Ausweg gibt als das entschiedene Verlassen der Erleb-
niswirklichkeit: mit dem Faktum der autonomen Setzung, mit der Resti-
tution der Geltung der Geltungsformen ist dieses Problem nicht nur
gelést, sondern hat aufgehért ein sinnvoll stellbares Problem zu sein.
Die Erlebniswirklichkeit ist also — weit entfernt im systematischen Sinn
etwas Urspriingliches zu sein — das gekiinstelteste Objektsgefiige, das sich
nur denken lift. So gekiinstelt, daf& sogar die Frage auftauchen kann, ob
es sich hier nicht — wie beim Chaos — um eine methodische Konstruktion
handelt, ob es eine Erlebniswirklichkeit iiberhaupt gibt. Diese Frage ist
freilich gerade so wenig sinnvoll, wie der Versuch von dem Standpunkt
der Erlebniswirklichkeit aus philosophische Probleme aufwerfen und
lésen zu wollen sinnvoll ist, denn es handelt sich hierbei um eine Ein-
stellung, die geradeso eine weiter nicht ableitbare und nicht beweisbare,
aber ebenso wenig bezweifelbare innere Evidenz besitzt, wie die Setzungen
der autonomen Geltungssphiren. Ihr Gesichtspunkt ist auch genauso
universell wie der jener und kann jedem Phanomen der Aufen- oder der
Innenwelt gegentiber genauso in sein Recht treten: ob ich nun einen
Gegenstand betrachte oder etwa einen Gedanken habe, jedesmal ist es
gerade so moglich, ihn auf seine Wahrheit hin zu untersuchen, wie mein
Erlebnis mit anderen Erlebnissen in Beziehung bringend, seine »psy-
chische« Struktur zu erforschen usw., wie es auch méglich ist, das Erlebnis
in seinem Erlebniszustand verharren zu lassen und nur darauf zu achten,
was er mir bringt, was fiir neue Erlebnisse etc. in der Folge seines Aus-
wirkens in mir zustande kommen. Daf dieses »in mir« bereits die Ethik,
da jeder Gegenstand bereits die Theorie voraussetzt, ist schon betont
worden, wichtig ist aber die Feststellung, da hierbei weder die Theorie,
Asthetische Setzung 29

noch die Ethik, noch irgendeine andere Setzung als die Intention bestim-
mend in Betracht kommt, sondern daf die Intention der Erlebnisses aus-
schlieBlich auf den »ganzen Menschen« als lebendige Einheit, auf das die-
sen Férdernde, ihm Hemmnisse Wegriumende usw. gerichtet ist. Es ist
die Welt des Pragmatismus, in der wir uns befinden, und die stetige
Wiederkehr der pragmatischen Philosophie, deren neuere Form sich nicht
einmal durch besondere Originalitat in der Neuformulierung alter Ge-
danken auszeichnet, ist auch ein indirekter Beweis dafiir, da& hier eine
Einstellung von unerschiitterlich evidenter Notwendigkeit vorliegt; nur
iert jeder Pragmatismus, wenn er die Evidenz dieser Einstellung fiir mehr
als ein Problem, fiir mehr als eine uns gegebene Tatsache, deren Wesen
die Philosophie zu erklaren hat, halt und glaubt, von der Position dieser
Einstellung aus irgendetwas Allgemeingiiltiges aussagen zu kénnen. Der
Irrtum liegt offenkundig darin, da& von jedem Pragmatismus iibersehen
wird, da& sein Standpunkt die Geltung, in ihrer erlebnistranscendenten
Begriindung, bereits voraussetzt; da® die Erlebniswirklichkeit aus dieser
verstanden, niemals aber die Geltung selbst aus ihren verkiinstelten und
depravierten Erscheinungsformen, die sie in der Erlebniswirklichkeit,
um diese zu erméglichen, annehmen mu8, abgeleitet oder erklirt
werden kann. Auch die pragmatische Skepsis lést sich — von hier
gesehen - von selbst auf, in der Einsicht, da& auf diesem Niveau keine
Allgemeingiiltigkeit aufgefunden werden kann; aber der Wert einer sol-
chen Skepsis tritt auch zu Tage, wenn bedacht wird, da die Allgemein-
giiltigkeit hier ja nur darum nicht gefunden werden kann, weil sie von
der Thesis der Erlebniswirklichkeit wesensnotwendig ausgeschaltet, »in
Klammern gesetzt« wurde.
Damit kann die Erlebniswirklichkeit naher bestimmt werden als das
Niveau der vollstindig transcendenten Gegenstindlichkeit in dem allein
eindeutigen Sinn, den der Begriff des Transcendenten in der Transcen-
dentalphilosophie erhalten kann, in dem Sinne der Setzungsjenseitigkeit.
Der hier auftauchende Transcendenzbegriff ist vor allem sowohl von der
frither analysierten setzungsjenseitigen Notwendigkeit des Chaos, wie
von der ebenfalls setzungsnotwendigen Transcendenz der Werte genau
zu unterscheiden. Denn beide sind, ungeachtet ihrer durch nichts gemil-
derten und zu mildernden Transcendenz, unerlaliche Voraussetzungen
von normativen, mithin von transcendental erfaSbaren Gegenstindlich-
keiten: die Transcendenz beider ist die Bedingung der Mglichkeit einer
nicht transcendenten Gegenstindlichkeit; wahrend es sich hier um die
30 Heidelberger Asthetik

Transcendenz der gegebenen Gegenstindlichkeit selbst handelt. Diese


Transcendenz tritt bei beiden Typen der Gegenstindlichkeit, die auf die-
sem Niveau gegeben sind, gleich schroff zu Tage. Die Erlebnishaftigkeit
als Form kann sich namlich auf zwei grundverschiedene, nur in diesem
letzten Prinzip convergierende Weisen dufern, je nachdem, ob das Sub-
jektverhalten zu den Gebilden, die durch das »In-Klammern-Setzen«
der Geltung entstehen, ein vorwiegend praktisches oder kontemplatives
Verhalten ist (wobei wohl ein einfacher Hinweis zur Erhellung der Sach-
lage geniigt, da es sich hier niemals weder um reine Aktivitat, noch um
reine Kontemplation — die ja beide Normen, Maximen, mit einem Wort
Sphiren voraussetzen — handeln kann, sondern blo& um die Praevalenz
des einen oder des anderen Verhaltungstypus im ungeschiedenen Strom
der Erlebnisse). In dem ersten Fall steht das Subjekt einer Fiille von fér-
dernden oder hemmenden Miachten gegeniiber, deren Macht auf ihrer
reinen Faktizitat beruht, d.h. dem Wesen nach unabhingig davon ist,
welcher Sinn ihr, abgesehen von dieser Wirkungsméglichkeit, zugespro-
chen werden kann. Man kann sich ein solches Objektgebilde, das man
auch Apparat nennen mag, am besten vorstellbar machen, wenn man an
die blof&e erlebte Faktizitat der Sitte etwa denkt: diese funktioniert, ohne
da in der Intention des auf sie bezogenen Aktes eine Einsicht ihres Sin-
nes, ja selbst das Aufwerfen der Frage nach dem Sinn iiberhaupt ent-
halten wire, kraft der Macht, die ihr Dasein auf wirkliche oder gewollte
Handlungen durch Beeinflussung der Wiinsche, Strebungen usw. des
Menschen der Erlebniswirklichkeit ausiibt. Da& auf jedes einzelne Gebilde
dieser Art auch ethisch — die Sinnesfrage praktisch setzend - reagiert
werden kann, soll freilich nicht bezweifelt werden, ja es ist aus der ganzen
hier angedeuteten Struktur aus durchaus notwendig; hier soll blo& auf
die Sachlage hingewiesen werden, wie infolge des Nichtaufwerfens der
Frage nach dem Sinne (infolge des »In-Klammern-Setzens« der ethischen
Geltung) eine Gegenstindlichkeit dennoch bewahrt bleibt, die aber fiir
das ihr gegeniiberstehende Subjekt nur als pures Sein, als factum brutum,
als transcendenter Gegenstand gegeben sein kann. Es wiirde wiederum
die hier wesentliche Sachlage verdunkeln, wenn die Stellungsnahme zu
dem Gegenstand, z.B. das Befolgen oder Uberschreiten einer Vorschrift,
als Problem der Psychologie gefa&t werden wiirde. Zweifellos lift sich
jede solche Stellungnahme, durch Isolierung des »Psychischen« in ihr und
durch seine Einfiigung in »psychische« Zusammenhinge, zum Material der
Psychologie umwandeln, dabei muf aber gerade das fiir uns Entscheidende
Asthetische Setzung 3r

verloren gehen: die sinnesjenseitige Gegebenheit von Sinngebilden, die


dadurch in undurchsichtige Seinskomplexe verwandelt werden, deren
Sein jedoch — gerade deshalb — die unaufhebbare, die notwendig mitge-
setzte Umwelt des »ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit bildet.
Die véllige Transcendenz der kontemplativ aufgenommenen Gegenstinde
scheint vielleicht fiir den ersten Anblick weniger einleuchtend zu sein,
dies hebt sich jedoch, wenn auf die ebenfalls scheinbare Paradoxie re-
flektiert wird, da& auf diesem Niveau das »Denken« nur praktisch und
niemals kontemplativ vorkommen kann. Hier zeigt sich wieder die
richtige Beobachtung einer Grundtatsache der Erlebniswirklichkeit durch
den Pragmatismus, zugleich mit den vollstindig verkehrten Folgerungen,
die aus dieser richtigen Beobachtung gezogen werden. Ein kontemplatives
»Denken« ist auf dem Niveau der Erlebniswirklichkeit per definitionem
unmiéglich, denn durch den Akt des simpelsten Meinens ist die Erlebnis-
wirklichkeit aufgehoben, es ist ein abgeldster, ein erlebnisjenseitiger Sinn
entstanden, der mit dem »ganzen Menschen« und seiner Umwelt prinzi-
piell nichts mehr zu tun haben kann. Daneben bleibt aber zweifellos die
Tatsache bestehen, da& aus der Erlebnistotalitat des »ganzen Menschen«
das »Denken« doch nicht ausgeschaltet werden kann, ohne in eine irra-
tionalistische Metaphysik, die dazu noch duferst willkiirlich konstruiert
ware, zu gelangen. Das »Denken« der Erlebniswirklichkeit ist also nichts
anderes als der Versuch, sich der Wirklichkeit der dem handelnden »gan-
zen Menschen« gegeniiberstehenden, hemmenden oder férdernden Ge-
bilde zu bemichtigen; es verla&t blo& darum (und nur darum) nicht dieses
Niveau, weil sein Meinen niemals einen wirklich kontemplativen Sinn
hat, niemals sich als solches aus der Continuitat der Erlebniswirklichkeit
loslést und sich als selbstandiger Akt isoliert, sondern zum Werkzeug der
hier méglichen Wiinsche und Wollungen usw. verwandelt wird, oder ge-
nauer: weil es nur als ihr Werkzeug iiberhaupt in Erscheinung tritt, weil
es in seiner Intention auf deren Ziele (und nicht auf den eigenen imma-
nenten, erlebnistranscendenten Sinn) gerichtet ist, weil das Meinen und
sein Gegenstand nur Mittel und Umweg zum Erlangen des Praktischen
sind. Das »In-Klammern-Setzen« der Geltung bedeutet also fiir das
»Denken« seine Abwendung von dem kontemplativen Verhalten, ein
Praktisch-werden zwecks der Bewéltigung der »Apparate« der Umwelt
durch den »ganzen Menschen.
Das kontemplative Gegenstiick des praktischen Verhaltens zu den Appa-
raten kann am einfachsten durch die Bezeichnung »Stimmung« angedeu-
32 Heidelberger Asthetik

tet werden. Das hiermit Gemeinte driickt sich bereits in der Sprache aus,
wenn etwa von der Stimmung gesprochen wird, die die Dinge »umgibt«,
wodurch angezeigt wird, da die Dinge zwar in Erlebnis der Stimmung
aufgenommen werden, daf ihr Gegebensein fiir den erlebenden Menschen
von dieser Stimmung abhingig ist, zugleich jedoch, da8 ihr Dingsein, ihre
eigentliche Gegenstindlichkeit von der Stimmung unberiihrt bleibt und
bleiben muf. Die eigenartige Gegenstandsstruktur, die sich hierbei ergibt,
wird uns spiter noch viel beschiftigen, hier kann und mu nur der Tat-
bestand fixiert werden, daf ein natiirliches und unmittelbar-erlebendes
Verhalten eines »ganzen Menschen« nur bereits fertigen Gegenstinden
gegeniiber iiberhaupt miglich ist, und jede Synthesis, jedes Erzeugen eines
Gegenstandes ein Abriicken von der Unmittelbarkeit des Erlebens, eine
Aufhebung des »ganzen Menschen« zu Gunsten eines normativen Sub-
jektes voraussetzt. Es wire aber dennoch falsch wegen dieser Unméglich-
keit das kontemplative Erleben dieses »ganzen Menschen« dem vortheo-
retischem Chaos gleichzusetzen. Denn diese Kontemplation ist ganz ohne
Intention auf die Erkenntnis des Gegenstandes, wahrend das Setzen des
Chaos schon in Bezug auf die Theorie geschicht; diese ist rein »empfin-
dungsmiig«, »subjektive: Hingabe, aber nicht an den Gegenstand, son-
dern an die ihn umgebende, vom Subjekt produzierte Stimmung. Die
Elemente dieser Verhaltungsart wiirden also bei genauer Analogie viel
mehr Verwandschaft zu den Elementen der Ethik zeigen, wie zu denen
der Theorie: vor allem Sympathie und Antipathie in ihren mannigfaltig-
sten Nuancen. Die objektiv sekundire, abgeleitete und gekiinstelte We-
sensart dieser »natiirlichen« Sphdre des Lebens zeigt sich hier von der
entgegengesetzten Seite wie friiher, bei der Beziehung mit den Elementen
theoretischer Verhaltungsart: sowie das »Denken« fiir die Unmittelbar-
keit des Lebens praktisch wird, so miissen Erlebnisse, die ihre adiquate
Erfiillung nur im Praktischen erhalten kénnen (Liebe und Ha, Achtung
und Abscheu usw.), sobald ihnen - im »natiirlichen« Verhalten — diese
Erfiillung entzogen wird, sobald sie zum »Lebene depraviert werden, in
Kontemplation umschlagen und die ihnen notwendig transcendenten Ge-
genstinde nur »gebrauchen«, nur »umgehen«, nur bei Gelegenheit ihres
Erlebens durch sie »entziindet« werden, niemals aber diese wirklich be-
stimmen. Die sehr komplizierte Frage, wie die Gegenstandsstruktur sol-
cher Intentionen bei adaquater Erfiillung zu Denken ist, kann nur von
der Ethik selbst beantwortet werden, eine einigermafen eingehende Ana-
lyse des hier Wesentlichen miifite jedoch zeigen, da wir bei dem ganzen
Asthetische Setzung 33

Komplex dieser Erlebnisse vor dem Dilemma stehen: entweder wird das
Objekt des Erlebens einfach hingenommen, dann haben wir die hier an-
gedeutete transcendente Gegenstandlichkeit der Stimmung vor uns, oder
es schligt in eine innere Handlung um, die wiederum einerseits die Ver-
anlassung des Erlebnisses véllig ignorieren kann (»Und wenn ich dich
liebe, was geht’s dich an«) oder aber das »Gegebene« des geliebten oder
gehaften usw. Gegenstandes selbstbewuft zersetzt und aus eigenen Krif-
ten sich einen eigenen aufbaut. Jede sogenannte »Kontemplation«, die
mit Recht in einer ethischen Systematik vorkommt, zeigt diese Wesens-
zeichen, die konstitutive Bezogenheit auf die im ethtischen Akt entstehende
Person und dementsprechend das Ignorieren oder das Neuschaffen des so
»kontemplierten« Gegenstandes; ein Verhalten wie das eines stoischen
Weisen etwa und das dadurch entstehende neue Weltbild midge hier als
Beispiel fiir diese Struktur geniigen, besonders dafiir, da eine echte — der
theoretischen oder der Asthetischen wesensverwandte — Kontemplation
ethisch unméglich und nur auf dem Boden der Erlebniswirklichkeit denk-
bar ist. Auch diese Sachlage hat oft nach einem wissenschaftlichen Aus-
druck gesucht, nur ist der dabei entstehende Irrtum viel weniger klar
hervorgetreten, als dies bei der pragmatischen Deutung des »natiirlichen
Denkens« der Fall war, weil das Falsche der Deutung, wegen der Unge-
klartheit der gesuchten Erfiillungssphire, seltener entlarvt wurde als bei
dem Pragmatismus: wir meinen die »asthetische« Deutung solcher Erleb-
nisse. Denn wahrend fiir die Theorie wenigstens die Grundtatsachen ihrer
Setzungsart lange bekannt waren und friih gegen jeden Pragmatismus sich
zu wehren vermochten, ist das Wesen der Ethik, gerade von der Gel-
tungsphilosophie, so eng-formalistisch gefabt worden, da8 die — trotz
aller Depravation, doch der Intention nach — ethische Wesensart dieser
Erlebnisse verkannt werden konnte. Und die Méglichkeit einer solchen
Verkennung steigert sich noch dadurch, da& die allzu weitmaschig ge-
fafte Art der asthetischen Geltung, deren Sphire fa&t eine Heimstatte
aller sonst heimatlosen Erlebnisse geworden ist, ein Unterbringen dieser
depravierten ethischen Intentionen nicht von vornherein abgesperrt hat*.
Diese transcendente Gegenstandlichkeit mu aber auch die Wesensart des
Subjekts dieser Welt, des »ganzen Menschen« entscheidend bestimmten:

8 Uber diese Beziehungen von Ethik und Asthetik kann erst im dritten Teil der
»Transcendentalen Dialekt der Schénheitsidee« ausfiihrlich gesprochen werden, [Dieses
Kapitel wurde vom Verfasser nicht geschrieben - Hrsg.)
3A Heidelberger Asthetik
aus der Correlation von Subjekt und Gegenstand, aus ihrer notwendigen
Wesensverwandschaft folgt, da& auch das Subjekt der Erlebniswirklichkeit
eine transcendente Struktur zeigt. Um spiater Ausfiihrendes wenigstens
andeutend vorwegzunehmen, sei hier ganz kurz so viel gesagt: auch das
Subjekts der Erlebniswirklichkeit ist — auch fiir sich selbst — eine schlecht-
hin hingenommene, von keinem Sinn durchleuchtete und zu konstitu-
tiver Form gebrachte Gegebenheit. Jede wie immer geartete Systemati-
sation schafft ein Subjekt, das die Maximen der Sphire normativ bedingen
und bestimmen und das deshalb fiir sich und fiir die ihm gegeniiber-
stehende Objekte bestimmt und bestimmend ist; die Personlichkeit der
Ethik, die Seele der Metaphysik, das Bewuftsein der Psychologie, ja selbst
das Bewuftsein tiberhaupt der reinen Theorie kommen einander in dieser
systematischen Funktion, bei allen anderen schwerwiegenden Unterschie-
den, gleich und stehen dem »ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit
als geschlossene Gruppe gegeniiber. Da die Erlebnisse des »ganzen Men-
schen« ihre Gegenstinde nicht bestimmen, sondern ihnen sozusagen nur
beigegeben sind, ist die Ausdehnung seiner Subjektivitat ungehemmt und
ins Schrankenlose gestattet; daraus folgt, daf er als Subjekt einerseits ganz
ohne gegenstandliche Gebundenheit, ohne Gebundenheit an seinem Ver-
halten angemessene Objekte ist, andererseits jedoch vollstindig den Ob-
jekten seiner Erlebnisse ausgeliefert ist: er ist nur insofern als er an einem
Objekt (das er freilich auch fiir sich selbst sein kann) etwas erlebt, gerade-
so wie die Objekte fiir ihn nur insofern vorkommen als etwas an ihnen
erlebt wird. Diese Doppelseitigkeit der schrankenlosen Willkiir und der
normenlosen Gebundenheit macht das Subjekt von sich aus geradeso ge-
staltlos und verschwimmend, wie es seine Objekte waren, hiatten sie nicht
von den suspendierten Geltungsformen aus ihre transcendente Gegen-
standlichkeit erhalten. Und diese kann — dies folgt aus allem bisher Aus-
gefiihrten von selbst — auch dem Subjekt nicht abgesprochen werden:
auch in ihm walten die Subjektsbegriffe der Geltungsformen und inso-
fern es eine — relative — Gestalt besitzt, besitzt es sie von ihrer Gnade
(also ethisch usw.). Dann muf aber diese Subjektsform fiir den »ganzen
Menschen« geradeso transcendent sein, wie es die Objektsformen ge-
wesen sind.
Die Anniherung der Erlebniswirklichkeit an das wahrhaft Setzungs-
jenseitige, an die wahre Unmittelbarkeit hat sich also wirklich als Schein
enthiillt und es hat sich gezeigt, da& der Unmittelbarkeit des gewohn-
lichen Erlebens eine abgeriickte, véllig transcendente Objektwelt ent-
Asthetische Setzung 35

spricht, so da& als Heimat der echten Unmittelbarkeit, der schlechthin-


nigen Distanzlosigkeit zwischen Subjekt und Objekt, der ungeschiedenen
Einheit beider nur das rein konstruierte, unaussagbare Chaos erscheinen
kann, das von der Erlebniswirklichkeit durch die ~ gewissermafen da-
zwischen geschichteten — Sphiren der Geltung geschieden ist, Aber der
Tatsache, daf& in der Erlebniswirklichkeit dieses erfiillte Erreichen des
von autonomen Setzungen aus nur negativ bestimmbaren Chaos gesucht
wird, entspricht dennoch ein ganz bestimmtes Gebiet des Setzens der
Welt: die Metaphysik. Wenn der Begriff der Metaphysik ganz allgemein
gefaBt wird — wobei die ganze Problematik einer Metaphysik als Wissen-
schaft unberiicksichtigt bleibt und sie nur, nach Kants Worten, als »Na-
turanlage« zur Diskussion steht —, so kann man als gemeinsames Wesens-
zeichen jeder Metaphysik die Forderung einer Attitiide finden, die sowohl
die normative Distanz der konstitutiven Formen zu ihren Gegenstanden,
wie das auRerlich Bleiben der reflexiven den ihren gegeniiber vollauf
tiberwindet, die eine ganz adaquate Beziehung des existierenden Subjekts
zu existierenden Objekten statuiert (wobei Existenz ihren Sinn als Ge-
gensatz zur Geltung erhiillt). Die Metaphysik bedeutet also die Forderung
eines Drinlebens in den Objekten, eines Aufhebens ihres »Gegeniiber-
stehens«, das selbst im adaquatesten Gelten notwendig gegeben ist. Kants
Leugnen der Maglichkeit einer Metaphysik als Wissenschaft geht genauso
von dieser ihrer Bestimmung aus, wie etwa Bergsons Forderung einer
intuitiven Metaphysik; und der Begriff, den das Evangelium von der
metaphysischen Wirklichkeit vom Reiche Gottes gibt, dem gerade das
Gegeniiberstehen, das Objektsein abgesprochen, das als das schlechthin
inwendig im Menschen Seiende bezeichnet wird, stimmt genau mit der
Hegelschen Definition der — freilich mit der Wissenschaft identifizier-
ten — Metaphysik tiberein, wenn er von der zur Wahrheit gewordenen
Gewifheit sagt, da® sie »dem Gegenstande nicht mehr gegeniiber ist, son-
dern ihn innerlich gemacht hat, ihn als sich selbst weif«*. Die letzte,
iiberall wiederkehrende Forderung der Metaphysik ist also - worin sie
tiber alle Gelrungsspharen notwendig hinausgeht — das adaquate, undistan-
zierte Erfassen der Materie, ein Einssein der erfassenden Formen mit dem
erfaften, an sich seienden Material, womit die Forderung der Einheit von
Subjekt und Objekt aquivalent ist; die Forderung, da das Dunkel des

9 Wk. IIL. 58. [S.: Wissenschaft der Logik. Lassonsche Ausgabe. Erster Teil. S. 53.
36 Heidelberger Asthetik

Chaos hell werde, da® es in seiner wahren Wesenheit zur Erscheinung


trete, von den es adaquat erfassenden Formen ins Licht erhoben und zum
Licht erlést. Daraus folgt letzten Endes — wobei freilich, um blo8 das fiir
uns hier Entscheidende hervorzuheben, viele Zwischenbestimmungen un-
beriicksichtigt gelassen werden miissen — die Forderung eines Erlebnisses,
das im Stande ist, das Wesen der Welt konstitutiv zu erfassen, das zum
Sinn der Welt vorzudringen fahig ist.
Jetzt erst wird es méglich, das Grundproblem der Asthetik klar, wenn
auch vorlaufig sehr abstrakt zu formulieren: in der asthetischen Setzung
wird nach dem Sinn des Erlebnisses als Erlebnis gefragt; d. h. es wird eine
Sphire gesetzt, wo die Form der Setzung, die konstitutive, Gegenstand
erzeugende Form das autonome und in der Autonomie rein und homo-
gen gewordene Erlebnis ist. Der Begriff vom hiermit geforderten norma-
tiven Erlebnis hebt sich deshalb ganz scharf von allen bisher behandelten
Erlebnisbegriffen ab. Daf dieses Erlebnis nicht das Chaos sucht (dessen
Auffassung sogar als ein »bloBes« Erlebnis, als Gegensatzbegriff zu den
distanzierenden Geltungsformen betrachtet werden kann), wird ohne
weitere Erérterungen einleuchten. Das normative Erlebnis der Asthetik
kann aber auch mit dem Erlebnis der Erlebniswirklichkeit aus dem ein-
fachen Grunde nichts gemeinsam haben, weil es aus der Forderung einer
autonomen Gegenstandlichkeit entsteht und die transcendente Gegen-
standlichkeit dieses Niveaus genauso hinter sich aft, wie jede
andere autonome Geltungssphire es tun muf. Es hat aber auch
nicht die geringste Gemeinsamkeit mit dem Erlebnisbegriff der Meta-
physik: es will ja nicht das An-sich der Dinge, ihre wahre Wirklichkeit
ergreifen, sondern Seine Intention geht auf eine Objektstruktur, die eine
immanente Erfiillung des Erlebnisses, als Erlebnis, normativ erzeugt und
bedingt. Wahrend aber das Erlebnis fiir das Chaos eine blo&e Konstruk-
tion, fiir die Erlebniswirklichkeit eine reflexive Form, fiir die Meta-
physik ein Mittel und ein Weg zum Erlangen des Erlebnisjenseitigen ist,
also etwas wenn auch Konstitutives, so doch Negatives und Heterono-
mes, ist fiir die Asthetik der Sinn des Erlebnisses als Erlebnis das Pro-
blem, und die Beantwortung dieser Frage kann nur die Setzung einer
Geltungsform, einer autonomen Sphire des Geltens sein. Dadurch hebt
sich der Erlebnisbegriff der Asthetik von dem »Leben« jeder Art, sei es
empirisch oder metaphysisch, genauso schroff ab, wie die anderen Gel-
tungsformen, von denen sie jedoch durch diese Erlebnishaftigkeit scharf
und Verwechslungen ausschlieBend geschieden ist.
Asthetische Setzung 37

2.
Die Sphiren der Geltung und der Metaphysik heben sich also einerseits
vom Chaos, andererseits von der Erlebniswirklichkeit ab und diese ihre
doppelseitige Selbstbegrenzung bedingt, da& fiir ihre Begriindung zwei
Ausgangspunkte denkbar sein kénnen, namlich entweder bei der voraus-
setzungslosen Setzung selbst, d. h. beim Chaos, oder bei der Erlebniswir-
lichkeit, wodurch zwei Methoden der Aufzeigung ihres Aufbaus gegeben
wiren, die nach dem Vorbild Hegels, in dessen System diese Differenz
am klarsten zum Ausdruck kam, als die systematische und die phiinome-
nologische?® Methoden gekennzeichnet werden kénnen. Grob kontra-
stiert, sind die beiden Typen der Systematisation von der Frage bedingt,
ob die Setzung als villig voraussetzungslos gedacht ist oder ob sie von
dem »Gegeben«-sein der »natiirlichen« Wirklichkeit, der Erlebniswirklich-
keit ausgeht und von ihr aus sich den Weg zu dem Niveau der autonomen
Geltung oder zu dem An-sich-Sein der Metaphysik bahnen will. Es ist
aber ersichtlich, da& diese Zweiteilung durchaus nicht mit unserer, bis
jetzt behandelten Zweiteilung von Spharentypen zusammenfiallt. Denn bis
jetzt wurde die Zweiteilung blo auf Grund der struktiven Urtatsachen
der Gegenstindlichkeit vollzogen und das Problem der Systematisation
mufte daher notwendigerweise ignoriert werden. Wenn fiir die Setzung
des Chaos das System auch unerlaflich mitgesetzt ist, ja das Chaos erst
aus dieser Setzung gewissermafen »entsteht«, so ist dies fiir die Erlebnis-
wirklichkeit durchaus nicht der Fall. Die Vorausgesetztheit der Geltungs-
formen, die fiir diese Schicht, nachgewiesen wurde, bedeutet nur soviel, da8
die Erlebniswirklichkeit nur durch diese eigenartige Stellung der Geltungs-
formen in ihr begriffen werden kann, keineswegs wird jedoch dadurch
eine Entscheidung dariiber gefillt, ob und wie weit der Erlebniswirklich-
keit selbst eine Rolle als Ausgangspunkt oder Hintergrund oder sonst
etwas in der Systematisation zufillt. Daraus folgt, da& fiir das Problem
der Systematisation, das uns hier zu beschaftigen hat, die Frage nach der
primaren oder sekundaren Art der Gegenstindlichkeit einer Sphire (also

10 Der terminologischen Klarheit wegen sei hier ein fiir allemal bemerkt, daS bei dem
Ausdrude »Phinomenologie«, wenn nicht ausdriidlich das Gegenteil hervorgehoben
wird, an die von Hegel und nicht an die von Husserl zu denken ist; iiber die Bezie-
hung der beiden Phinomenologien werden weiter unten ein paar andeutende Bemer-
kungen folgen.
38 Heidelberger Asthetik

etwa Typus autonome Ethik und Typus Kultur) nicht die grundlegende,
die entscheidung-bringende Frage ist. Es ist z. B. durchaus méglich den
Sphiarentypus Kultur aus der inneren Differenzierung des rein theoreti-
schen (voraussetzungslosen) Setzungstypus blo& durch seine innere, imma-
nente Differenzierung abzuleiten, ohne dabei gezwungen zu sein auf die
- struktiv-typologisch — »verwandte« Sphire der Erlebniswirklichkeit
irgendwie zuriickzugreifen. Die phinomenologische Fragestellung Hegels,
an deren systematische Funktion hier angekniipft werden soll, bedeutet
hingegen das Aufzeigen der Notwendigkeit fiir die Philosophie von dem
Faktum, d.h. von dem struktiven Tatbestand der Subjektivitit und der
Gegenstindlichkeit in der Erlebniswirklichkeit auszugehen, um von ihr
emporsteigend die normative Correlation des philosophischen Subjektes
und seines Objektes, was bei Hegel ihre Identitat ist, zu erreichen; und
der hierbei sich ergebende Weg und sein notwendiges Ziel sollen sich als
unerlaBliche Vorbedingungen eines streng begriindeten philosophischen
Systems erweisen.
Die ungeheueren Schwierigkeiten, die einer methodischen Analyse der
»Phinomenologie des Geistes« im Wege stehen, entstammen, wie bekannt,
aus der Verschlingung der verschiedenartigsten Probleme in das dennoch
grofartig-einheitliche Gewebe dieses einzig dastehenden Werkes der klas-
sischen Philosophie. Das wohlbekannte unauflésliche Zusammen der ge-
schichtlichen und der apriorischen Etappen im Gange der Phinomenologie
soll hier unerdrtert bleiben, da es fiir unser Problem nicht von entschei-
dender Bedeutung ist: es ist ein Erfiillungsproblem, wahrend wir uns
hier mit Problemen der Begriindung, noch im weiten Diesseits jeder Er-
fiillung, zu beschaftigen haben, Zudem vermag der Begriff der Phino-
menologie auch bei vélligem Absehen von jeder Art Erfiillung einen ein-
heitlichen und methodisch bedeutsamen Sinn zu ergeben; die Frage nach
der notwendig zugeordneten historischen Erfiillung, d.h. nach der Még-
lichkeit und Wesensart eines Erfiillungstypus, bei dem jeder einzelnen
Etappe der apriorisch-phinomenologischen Reihe je ein bestimmtes Mo-
ment einer zeitlich-geschichtlichen (oder geschichtsphilosophischen) Reihe
notwendig zugeordnet wird, mu deshalb hier gar nicht aufgeworfen
werden. Auch auf die Diskussion der dialektischen Methode wollen wir
verzichten: die Tatsache der phanomenologischen Etappen, die sich mit
Wesensnotwendigkeit apriori ergeben, muf fiir den momentanen Stand
unserer Fragestellung ausreichen, ohne auf die Art ihrer Beziehung zu-
einander vorliufig naher reflektieren zu miissen. Trotz dieser notge-
Asthetische Setzung 39

drungenen Vereinfachung bleibt eine Problemvereinigung bestehen, die


man zwar aus dem philosophischen Wollen Hegels historisch als durchaus
notwendig verstehen kann, die aber im Interesse des reinen Erblickens
des Strukturproblems unbedingt in ihre Bestandteile aufgelést werden
muf: die Vereinigung von Logik und Metaphysik. Nochmals: die Még-
lichkeit einer Metaphysik als Wissenschaft soll hier nicht zur Diskussion
stehen, aber von dieser Frage ganz unabhangig kann und muf gesagt
werden, da in Hegels System alle metaphysischen Formen zugleich
Funktionen rein theoretisch-logischer Geltung zu erfiillen haben, wo-
durch die eine Anwendungsweise stets die andere verwirren und ver-
dunkeln muf. Dies ist bei der phinomenologischen Fragestellung, be-
reits in ihrer primitivsten Form, ganz deutlich sichtbar. »Die Wissen-
schaft« sagt Hegel! »verlangt von ihrer Seite an das Selbstbewuftsein,
da es in diesen Ather sich erhoben habe, um mit ihr und in ihr leben
zu kénnen und zu leben. Umgekehrt hat das Individuum das Recht zu
fordern, da die Wissenschaft ihm die Leiter wenigstens zu diesem Stand-
punkte reiche, ihm in ihm selbst denselben aufzeige. Sein Recht griindet
sich auf seine absolute Selbstindigkeit, die es in jeder Gestalt seines Wis-
sens zu besitzen weif, denn in jeder, sei sie von der Wissenschaft aner-
kannt oder nicht und der Inhalt sei welcher er wolle, ist es die absolute
Form, d. h. es ist die unmittelbare Gewifheit seiner selbst; und, wenn
dieser Ausdruck vorgezogen wiirde, damit unbedingtes Sein. Es ist er-
sichtlich, da diese Frage, das Recht des Individuums auf diese Forderung,
nur von einer zu begriindenden Metaphysik aus sinnvoll gestellt werden
kann. Denn ganz abgesehen von der apriorischen Unmiglichkeit, ja Un-
sinnigkeit, das Individuum mit der theoretisch-geltenden Form in irgend-
welche Beziehung zu setzen, wahrend, wie es zu zeigen wird, diese Be-
ziehung fiir die Metaphysik eine Lebensfrage ist, bedarf die theoretische
Setzung einer derartigen Begriindung iiberhaupt nicht: die theoretische
Sphire, in ihrer autochtonen und unverfalschten Erscheinungsform, also
als reine Geltung, kennt keine Approximation an ihre Struktur, keine
Zwischenstadien, die sich an sie annahernd zu ihr fiihren kénnten; im
simpelsten Meinen einer noch so vorwissenschaftlichen Schicht ist das
eigentlich Theoretische in seiner wahren Wesensart vorfindbar und der

11 Wk, II, (Berlin, 1841] 20. [S.: Phinomenologie des Geistes. Ausgabe Hoffmeisters..
Hamburg, Meiner. 1952. S. 25.]
40 Heidelberger Asthetik

Akt, durch den es »gefundene wird, der Akt der Ablésung des geltenden
Sinngebildes von allen Seinsartigen, kennt keine Abstufung einer gréSeren
oder kleineren Nahe zum Wesen des Theoretischen. Mit einem Wort: die
theoretische Sphire kann nur uno actu gesetzt werden; am »Anfang« der
Theorie steht der Sprung und jenseits des Sprunges handelt es sich um
etwas im Wesentlichen durchaus Homogenes, Einschichtiges. (Die innere
Schichtung der theoretischen Sphire hat uns hier nicht zu beschiftigen.)
Dagegen ist diese selbe Frage tief und wesentlich fiir jede Begriindung
einer Metaphysik, ja sie kann als die Grundfrage einer kritischen, nicht
mehr naiven Metaphysik bezeichnet werden, einer Metaphysik, die den
Proze& der Selbstbesinnung bereits vollzogen hat. Wir sagten: es kann an
der Metaphysik als das ihr Wesen am scharfsten erhellende Kennzeichen
angesehen werden, daf eine konstitutive Beziehung zwischen einem sub-
stantiell-existierenden Subjekt und einem ebenfalls substantiell-existieren-
den Objekt gefordert wird, womit sowohl jedes blo normativ zuge-
ordnete Subjekt (oder Objekt) wie auch jede sinngebildeartige Struktur
beider von vornherein abgelehnt werden miissen; und die Pravalenz
eines von beiden oder die Annihilierung des einen durch das andere
hat eine reale Pravalenz oder die Annihilierung eines »unechten« Seins
durch ein »echtes« zu bedeuten. Die sogenannte Naivitit einer Meta-
physik besagt also soviel, da8 diese metaphysisch echte Subjekt-Objekt-
Struktur, dieses Niveau eines »wahren Seins« in irgendeiner Verhaltungs-
art zur »natiirlichen« Wirklichkeit oder eventuell in der eines bestimm-
ten Geltens ohne weiteres als gegeben angenommen wird und die Meta-
physik sich hiermit des Nachweises enthoben fihlt, die Realitat und die
Notwendigkeit ihrer Einstellung, des Verhaltens, in dem die Metaphysik
gesetzt wird, eigens aufzuweisen und auf seinen Rechtsgrund zu priifen.
Wir haben hier keine Problemgeschichte der Metaphysik zu schreiben, so
da& der Hinweis der Position Hegels zu der seines unmittelbaren Vor-
gingers, zu der Identitatsphilosophie Schellings, geniigen kann. In der
beriihrten Stelle der Vorrede zur »Phanomenologie« macht Hegel der
metaphysischen Methode Schellings diesen Vorwurf des Dogmatismus,
des naiven Realismus: da in ihr das wahre Wesen, das Absolute wie
»aus der Pistole« geschossen erscheine, daft die Notwendigkeit des Organs
der Metaphysik, der intellektuellen Anschauung, und die ihres Gebrau-
ches und demzufolge die konkret erfiillte Fiille der durch sie erreichten
metaphysischen Wirklichkeit nicht aufgezeigt wurden. Das Programm der
Asthetische Setzung 4

Phinomenologie ist diese Notwendigkeit darzulegen'*: »sie kann von


diesem Standpunkte aus, als der Weg des natiirlichen Bewuftseins, das
zum wahren Wissen dringt, genommen werden; oder als der Weg der
Seele, welche die Reihe ihrer Gestalrungen, als durch ihre Natur ihr
vorgesteckter Stationen, durchwandert, daf sie sich zum Geiste lautere,
indem sie durch die vollstindige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntnis
desjenigen gelangt, was sie an sich selbst ist.« Diese Selbstbesinnung der
Metaphysik kann selbstredend keine erkenntnistheoretische sein, denn
diese mii&te — ja infolge ihres Zuriickgehens auf die Bedingungen des
Geltens — das wahre Sein in Geltung auflésen und die Metaphysik zur
Selbstaufhebung zu treiben. Die »kritische«, undogmatische Tendenz der
Hegelschen Begriindung der Metaphysik durch die »Phinomenologie des
Geistes« kann also nur darin bestehen, den unzweifelhaft gegebenen
Gestaltungen des Bewuftseins, den verschiedenen médglichen Stellung-
nahmen des Subjekts zur Wirklichkeit eine derartige Deutung zu geben,
die sie als Etappen auf dem Wege zum wahren Sein der Metaphysik, zum
konkret-erreichten Absoluten erweist. Was letzten Endes den Nachweis
bedeutet, da& in ihnen selbst, in ihrer immanenten, unmittelbar gegebe-
nen Struktur bereits der Drang des Absoluten nach sich selbst waltet, da8
jede Problematik oder Diskrepanz, die ihnen als immanenten Gebilden
innewohnt, bereits die Selbstentzweiung des Absoluten ist, daf sie, ohne
ihren Sinn als immanente Gebilde verlieren zu miissen, in diesem Zusam-
menhang einen neuen, von ihnen nicht ablésbaren, mit ihrem immanen-
ten Gegebensein wesensnotwendig mitgegeben, diesem aber dennoch vollig
transcendenten Sinn erhalten. »Wenn nun dies Negative«, sagt Hegel
iiber eine dieser Gestaltungsprinzipien seiner Phinomenologie!? »zu-
nichst als Ungleichheit des Ichs zum Gegenstande erscheint, so ist es
ebensosehr die Ungleichheit der Substanz zu sich selbst. Was auSer ihr
vorzugehen, eine Tatigkeit gegen sie zu sein scheint, ist ihr eigenes
Tun...« Die phinomenologische Methode erscheint damit als das Auf-
finden des metapsychischen Sinnes in unmittelbar und unzweifelhaft
gegebenen Subjektsakten und ihrer correlativen Objektivationen. Sie hat
also einen Ausgangspunkt, der — wie tiberall, wo es sich um unmittelbar
gegebene »Bewuftseinstatsachen« handelt — mit dem der Psychologie

12 Wk. II. 61. [S.: a. a. O. S. 67]


13 ebd, 28, [S. 1S. 32]
2 Heidelberger Asthetik
etwas Gemeinsames zu haben scheint. Daf dies doch nicht der Fall ist,
zeigt sich darin, da& wihrend der Erkenntnisprozef der Psychologie jede
Subjekt-Objekt-Struktur zersetzen mu8, um die psychischen Zusammen-
hinge in ihrer Homogeneitit erfassen zu kénnen, die Phinomenologie
gerade nach dem transcendenten Sinn der jeweilig gegebenen Subjekt-
Objekt-Struktur fragt. Um diesen aufzufinden und in voller — meta-
physischer ~ Reinheit abldsen zu kénnen, mu die Subjekt-Objekt-Struk-
tur unangetastet bleiben: ist doch der gesuchte transcendente Sinn der
Sinn ihrer Immanenz, der Sinn ihres Geradesoseins. Und da& dieser
Sinn, der dem Wesen nach der ganzen jeweiligen Subjekt-Objekt-Struktur
transcendent sein muf, auch dem jeweilig auftretenden »BewuStsein«
notwendig transcendent bleibt, also niemals als psychisch gefaft werden
darf, versteht sich hiernach wohl von selbst.
Wesentlicher und der Klarung bediirftiger ist die scheinbare Nahe der so
gedeuteten phiinomenologischen Methode zu der modernen Phinomenologie,
zu der Husserls. In beiden dreht sich das Problem um die Ablésung eines
metapsychischen Sinnes von Akten, die in voller Unmittelbarkeit, also auf
einem gewohnlich, wenn auch unpiinktlicher Weise, »psychisch« genannten
Plane erscheinen: um ein Zurtickgreifen der Sphare, die wahrhaft begriinden
werden soll, auf das unmittelbar Gegebene, das gewissermaBen »vor« der
Sphire liegt. In beiden Fallen wird dies als vorwissenschaftliches Niveau
bezeichnet — nur da& eben unter Wissenschaft in beiden Fallen véllig He-
terogenes verstanden werden muf. Diese vorwissenschaftliche Unmittelbar-
keit und unabweisliche Notwendigkeit in dem Gegebensein dieser ganzen
Schicht macht es fiir beide Phanomenologien méglich, mit dem Anspruch
aufzutreten, da& erst durch sie das wahre Fundament fiir die ihnen zuge-
ordnete Sphare oder Wissenschaft gelegt werden kann. Diese Grundlegung
jedoch — und darin unterscheiden sich beide Phdnomenologien von der
‘Transcendentalphilosophie im engeren Sinn — ist nicht als das Aufwerfen
der Rechtsfrage der Geltung (beziehungsweise des metaphysischen Seins) zu
verstehen. Die Abwendung vom hic et nunc des Erlebens, und damit von
jeder Psychologie und Empirie, der Versuch einer reinen Aprioritét zuzu-
eilen, bedeutet in keinem der beiden Falle eine Abstraktion, ein Absehen
von der inhaltlichen Fiille, von der konkreten Erfiillung der phinomeno-
logischen Gegenstinde, wie dies bei jeder erkenntnistheoretischen Fragestel-
lung notwendig der Fall ist, sondern das Erlangen einer eigenartigen »Ein-
stellung«, von der aus die zeitlosen Wesenheiten einer notwendigen (aber
konkreten) Gegenstindlichkeit iberhaupt, einer konkreten Typik der Ge-
Asthetische Setzung 43

genstandlichkeit zur unmittelbaren Evidenz zu bringen sind. Die sehr ver-


wickelte, heute noch ungeléste Frage der correlaten Bedingtheit von Phano-
menologie und Logik, die in der Méglichkeit eines solchen unmittelbaren
Gegebenseins der phiinomenologischen Gegenstiinde verborgen ist, kann hier
nicht einmal beriihrt werden; da die neue Phianomenologie ihre Logik vor-
aussetzt, beweif[t die Notwendigkeit ihrer éxoy der Geltung gegeniiber,
und die Hegelsche arbeitet auf jedem Schritt mit dem stets gegenwirtigen,
nur nicht zur addquaten Erscheinung gelangten Absoluten, dessen Sich-selbst-
Erreichen Ziel und Ende dieser Wissenschaft bezeichnet. Wie immer es aber
um die Deduktion des Rechtsgrundes der Unmittelbarkeit, in der die phino-
menologischen Gegenstiinde gegeben sind, auch stehen mag, diese ihre meta-
psychologische Unmittelbarkeit und metaempirische Konkretheit kénnen als
notwendige Consequenz der phinomenologischen »Einstellung« unbedingt
festgestellt werden. Bei Hegels standig wiederkehrender Polemik gegen die
Unmittelbarkeit scheint dies vielleicht auf seine Phanomenologie nicht zuzu-
treffen, allein es darf nicht vergessen werden, da diese Polemik sich stets
gegen die AusschlieBlichkeit der Unmittelbarkeit wendet, da& die Vermitt-
lung als Methode die Unmittelbarkeit zwar stets aufhebt, sie jedoch stets —
auf immer héherem, substantiellerem Niveau — wieder herstellt. Und gerade
die Phanomenologie kann einer gewissen Pravalenz der Unmittelbarkeit
nicht ausweichen, da ihre Stufen niemals die reine Struktur, das logische
(metaphysische) An-sich einer Objektivation des Geistes sein kénnen, die
von der Logik abgeleitet, erfa&t und damit rein vermittelt wird, sondern
das correlative Zusammen einer Subjektsstufe mit ihrem notwendigen Ge-
genstand, wobei — fiir das jeweilige Subjekt — der Gegenstand stets in Un-
mittelbarkeit gegeben ist, wenn diese Unmittelbarkeit auch durch Vermitt-
lung (Aufhebung einer friiheren Unmittelbarkeit) entstanden ist und durch
weitere Vermittlung wieder aufgehoben werden soll. Beide Phinomenolo-
gien sind deshalb, wenn diese Bestimmung auch das ganze Wesen von keiner
der beiden umfaft, wegen dieser ihren normativen Unmittelbarkeit und
Konkretheit: Beschreibung der Erscheinungsformen des Geistes. Es liegt also,
trotz allen tiefen und grundlegenden Unterschieden zwischen ihnen, in ihren
gemeinsamen Namen doch mehr als ein historischer Zufall, und jede Wie-
deraufnahme des Hegelschen Programms der Phiinomenologie wird sich in
manchen, nicht unwesentlichen Einzelheiten der Methode mit der Husserls
nahe beriihren.
Trotzdem ware es gefahrlich, weil zu Aquivocationen fiihrend, die Bedeu-
tung solcher Coincidenzen irgendwie zu iiberschatzen, denn, wie jetzt ge-
“4 Heidelberger Asthetike
zeigt werden soll, bestehen gerade im letzten Wesen der Methoden, in den
Erkenntniszielen, denen sie zutreiben, in den Sphiren, die sie begriinden
sollen, die tiefstgehenden Differenzen zwischen ihnen: ihre systematischen
Funktionen sind radikal divergierende — gerade weil die Stellung jeder
Phanomenologie zu ihrem Ideal der Wissenschaft eine weitgehend ihnliche,
wenn auch bei weitem nicht identische ist. Die Stelle der modernen Phino-
menologie im System der Geltungsphilosophie ist zur Zeit viel zu umstritten
und ungeklart, um eine Méglichkeit dafiir zu bieten, hier, wo nur wenige
andeutende Bemerkungen Platz haben kénnen, die systematische Funktion
der beiden Phinomenologien in klarem Kontrast einander gegeniiberzu-
stellen. Zur gegenseitigen Abgrinzung und zur bestimmten Erkenntnis des
hier Wesentlichen sei immerhin soviel bemerkt: die moderne Phinomenolo-
gie unterscheidet sich im Bezug auf ihr Verhalten zum Subjekt gar nicht von
der sonstigen theoretischen Geltungsphilosophie: in beiden wird das An-sich
— im Sinne Bolzanos etwa — von geltenden Sinngebilden untersucht und ihr
wesentlichster Unterschied, der auch so ausgesprochen werden kann, daf die
Transcendentalphilosophie der Kantianer sich auf die questio juris der
Geltung konzentriert, wihrend im Centrum der Phinomenologie die questio
facti der Geltung steht, andert an diesen Tatbestand und seinen grundle-
genden Kontrast zur Hegels Philosophie nichts. Denn fiir die eigenartige
Problemstellung der letzteren ist die Unausschaltbarkeit des Subjekts ent-
scheidend: die Entfernung von hic et nunc des Erlebens bewegt sich nicht
in einer Richtung auf Objektivitit, wie bei jedem Suchen des rein theoreti-
schen Sinnes, sondern geht einer »Aufhebung« sowohl der Objektivitat wie
der Subjektivitit, zu Gunsten eines Jenseits beider Prinzipien, entgegen,
indem die jeweiligen Strukturen ihrer Correlation als notwendige, wenn
auch zu tiberwindende Stadien vor dem Erreichen der metaphysischen Iden-
titit von Subjekt und Objekt erscheinen. Die moderne Phiinomenologie
hingegen ist ein Herausarbeiten der reinen Objektivitat, ihre éxnoxh schal-
tet jeden Subjektsbegriff genauso radikal aus, wie dies nur irgendeine
Erkenntnistheorie tun kénnte; ihr Subjekt ist also genauso ein bloSer Grenz-
begriff — das was niemals zum Objekt werden kann —, wie in der Erkennt-
nistheorie. Ja, weil hier die questio juris — und damit die Riickbeziehung
der geltenden Sinngebilde auf das Subjekt der Urteilsentscheidung und auf
die Bedingungen ihrer Giiltigkeit — ausscheidet, ist diese »Subjektslosigkeit«
der Phanomenologie viel entschiedener als die der reinen Transcendental-
philosophie. Die Verwechslungen der Methode Husserls mit Ontologien der
vorkantischen Epoche werden wohl gréStenteils auf die hier mifverstandene
Asthetische Setzung 45

Eigenart der Phinomenologie zuriicczufiihren sein. Ob nun der geistvollen


‘Wendung Friedrich Kuntzes, der Husserls Tat als Erneuerung der »meta-
physischen Deduktion« der »Kritik der reinen Vernunft« ansieht, ganz
zugestimmt werden kann oder nicht‘, insbesondere ob es zugegeben wer-
den kann, da& diese Funktion der Phinomenologie als Voraussetzung der
theoretischen Objektivitit ihr Gebiet ganz erschipft, die blo&e Moglichkeit
einer solchen Fassung zeigt, da& Husserls Fragestellung innerhalb der trans-
cendentalen Systeme durchaus adaquat gedeutet und untergebracht zu wer-
den vermag, daf ihre Intention durchaus in der Richtung auf die Objek-
tivitat der rein theoretischen Geltung liegt.
Von diesem, immerhin klarer gewordenen Kontrast aus laft sich die Bezie-
hung der Hegelschen Phinomenologie zur Metaphysik bestimmter formulie-
ren wie bisher: Die Unméglichkeit vom Subjekt abzusehen, die aus der
Perspektive einer zu begriindenden theoretischen Geltungssphare notwendig
den Anschein einer hypostasierten Empirie oder Psychologie erwecken muf,
erweist sich nun als die kritische Selbstbesinnung der Metaphysik, als der
einzige bewufte Versuch, den die Geschichte kennt, der metaphysischen
Setzung eine struktiv fundierte Grundlage zu geben 8. Jede Metaphysik
nimmt wesensnotwendig ein Erlebnis an, in dem die metaphysische Wirk-
lichkeit, das wahre Sein adaquat erfa&t wird, aber jede Metaphysik vor
Hegel begniigte sich mit der einfachen Feststellung des Das und des Was die-
ses Erlebnisses oder fixierte héchstens den — ethischen — Weg, den das Indivi-
duum zuriicklegen muf, um die Erlebnishdhe und -reinheit zu erlangen, die
zum metaphysischen Erlebnis von Néten ist. Der Weg der Hegelschen Pha-
nomenologie aber ist ein rein struktiv-theoretischer, kein ethischer: es ergeht
kein Imperativ an das Subjekt, gewisse innere Verhaltungen in sich zu ver-
wirklichen, auch werden keineswegs die inneren Hemmungen oder auSeren
Hindernisse geschildert, die die Seele bei diesem Aufstieg aufzuhalten pfle-
gen: die Stationen, in denen bei Hegel der Weg zur Metaphysik zuriickge-
legt wird, sind objektiv gegebene Tatbestinde der Subjekt-Objekt-Struktur,
deren vereinzelt betrachtetes, notwendiges Gegebensein und die Notwendig-
keit ihrer Aufeinanderfolge die Verwandlung des Subjekts der Erlebniswirk-

14 Fr. Kuntze: Die kritische Lehre von der Objektivitit. Heidelberg, 1906. 189 f.
15 Inwiefern dieser Versuch tiberhaupt durchfuhrbar und wieweit seine Verwirklichung
Hegel im Einzelnen gelungen ist, kann hier naturgema® nicht beriihrt werden, Auch
nicht, wieweit eventuell Vorginger des Hegelschen Unternehmens nachweisen lassen,
46 Heidelberger Asthetik

lichkeit in das der Metaphysik als objektive Wesensnotwendigkeit aufzeigen.


Nicht im Subjekt soll also die Intention seines Erlebens oder die Stelle des
Erlebens in der Hierarchie seiner seelischen Funktionen umwandelt werden,
als dies bei jedem ethischen Aufstieg zur Metaphysik der Fall ist, sondern
die Verwandlung des erlebenden Subjekts iiberhaupt in das metaphysische,
identische Subjekt-Objekt iiberhaupt soll hier vollzogen, d. h. apriori dedu-
ziert und zur Evidenz gebracht werden.
Die Beweiskraft dieser Demonstration beruht auf zwei wesentlichen Vor-
aussetzungen, deren erste auf die schon angedeutete Nahe der Hegelschen
Phanomenologie zur modernen hinweist, wahrend die zweite den grund-
legenden Unterschied, der sie voneinander trennt, klar zu machen geeignet
ist. Es ist namlich erstens notwendig, da8 jede dieser Etappen in unbe-
zweifelbarer Evidenz gegeben sei und zweitens, da® die Verbindung, die
zwischen ihnen gestiftet wird, eine eindeutige Richtung auf das Ziel, auf
die Selbstenthiillung der erreichten Metaphysik zeige. Die erste dieser Vor-
aussetzungen anerkennt Hegel in der frither ausgefihrten Bestimmung sei-
ner Methode, wo betont wurde, daf& diese Subjekt-Objekt-Correlationen
eine unbezweifelbare, aber nicht ableitbare Evidenz besitzen miissen, die
auf ihrer unmittelbaren und unabweislichen Gegebenheit beruht, »sei sie von
der Wissenschaft anerkannt oder nicht und der Inhalt sei welcher er wolle«*.
Und das Mittel dieser Evidenz ist die Konkretmachung dieser Gegeben-
heitsstufen: die stetige Bezichung der phinomenologischen Etappen auf
naturphilosophische und geschichtsphilosophische Etappen des Geistes hat
neben den anderen systematischen Funktionen auch dieser Forderung zu
geniigen: ndmlich jedes Stadium in seinem struktiven Geradesosein zu dieser
konkret erfiillten Evidenz zu bringen, aufzuzeigen, daf darin eine aprio-
risch-typische Méglichkeit der Stellungnahme zur Wirklichkeit, der Setzung
der Welt wesensnotwendig vorliegt. Diese Evidenz beruht ausschlieBlich
auf der Konkretisierung der Notwendigkeit der Setzung und damit auf dem
Klarwerden der ihr zu Grunde liegenden Subjekt-Objekt-Correlation, der
fiir diese Stufe unbedingt notwendigen Wesensart des Subjekts. Die zweite
Voraussetzung soll bei Hegel selbst durch die dialektische Methode gesichert
swerden; wenn jedoch auf die letzten sachlichen Motiven ihrer methodischen
Funktion naher reflektiert wird, so zeigt es sich, da& nur an der Autonomie
des Weitertreibens, an seinem Freibleiben von allen auSerlichen Momenten

* (Wk. II. S. 20, S.: Ausgabe Hoffmeisters, S. 25.]


Asthetische Setzung 47

festgehalten werden mu8, um in der phiinomenologischen Methode einen


einheitlichen methodischen Sinn aufzufinden; da& die sich hierbei ergeben-
den, grofen sachlich-struktiven Errungenschaften Hegels — wie z. B. das
Aufgehobensein eines friiheren Stadiums in einem spateren, hdheren — be-
wahrt werden kénnen, ohne an die dialektische Triade, an die Notwendig-
keit des Umschlagens in den Gegensatz usw. methodisch gebunden zu sein.
Hegel selbst beschreibt diesen Tatbestand so, da& der unaufhaltsame Gang
zum Ziel nur in der Sphiire des Seins ein den Einzelngestaltungen véllig
transcendenter ist (der Tod im Vergleich zum unmittelbaren Dasein), »das
BewuBtsein aber ist fiir sich selbst sein Begriff, dadurch unmittelbar das
Hinausgehen iiber das Beschrankte, und, da ihm dies Beschrankte angehdrt,
tiber sich selbst;... Das BewuStsein leidet also diese Gewalt, sich die be-
schrinkte Befriedigung zu verderben, von ihm selbst« 8, Anders ausgedriickt,
bedeuter dies soviel: da& trotz der unmittelbaren Evidenz, in der jedes der
phinomenologischen Stadien gegeben ist, es zugleich als Stadium gegeben
ist, d. h. es ist in ihm eine Intention, wenn auch nicht unmittelbar ersichtlich,
so doch durch Strukturanalyse erweisbar mitgegeben, die auf die den phi-
nomenologischen Gang krénende Stufe, auf die metaphysische hinweist, der
als der Einzigen, die eine ganz adiquate Erfiillung zu geben im Stande
ist, alles zustrebt. Dadurch gliedert sich die phanomenologische Sphire, im
schroffen Unterschied zu jeder anderen, als eine Reihe mit bestimmter,
hierarchisch geordneter Richtung, sie ist kein »Reich« von Gegenstinden,
wie die anderen Sphiiren (auch die Husserlsche Phiinomenologie), sondern
ein Weg iiber bestimmte Gegenstindlichkeiten auf ein bestimmtes Ziel. Das
bedeutet aber weiter, da8 bereits am Ausgangspunkt das Ziel gegeben sein
muf: die Phinomenologie setzt ihre Erfiillungssphare, die Metaphysik
voraus, sie kann niemals in der Lage sein, ihr Dasein zu beweisen, sondern
blo& — dies vorausgesetzt — es in allen Gestaltungen der Subjektivitat, als
ihnen unbekannt innewohnend, nachweisen; sie nennt blo&, wie Paulus,
den Namen jenes »unbekannten Gottes«, dem von den Athener sein Alter
bereits errichtet wurde.
Die Eigenart der phinomenologischen Methode ist durch diese zwei Seiten
ihres Aufbaus bestimmt: durch die Selbstindigkeit der in ihr auffindbaren
Gestaltungen und durch die eindeutig und einlienig bestimmte Art ihres

16 Ebd. 63 [S.: a. a. O., S. 69,]


48 Heidelberger Asthetik

Aufeinanderweisens, Beides ist nur darum méglich, weil es sich um Gestal-


tungen und Verwandlungen der Subjektivitat, des Erlebens des Gegenstandes
handelt. Die Beziehungen von Objektivitaten kénnen prinzipiell niemals
eine solche Reihe mit bestimter Richtung ergeben und das damit wesensnot-
wendig zusammenhingende Zugleich von unmittelbarer Evidenz der Selb-
standigkeit und von eindeutiger Verkniipftheit der Elementen aneinander ist
ebenfalls die Folge dieser unaufléslichen Verbindung der Gestalrungen mit
der Subjektivitat. Objektivationen, die véllig losgelést von den sie »hervor-
bringenden« subjektiven Akten in einer Sphire stehen, miissen entweder
eine derart mehrdimensionale Mannigfaltigkeit bilden, da& ihre wechsel-
seitigen Verbindungen niemals eine Richtung erhalten, d. h. jede »Richtung«
bleibt fiir ihr Wesen irrelevant und ist nichts weiter als das »psychische«
Nacheinander ihrer Apperception, oder die »Richtung« muf das Wesen der
sie bildenden Elemente vollstandig erschépfen, die Elemente sind dann aus-
schlieBlich durch ihre Stellung in der Reihe definiert, ihr Wesen besteht in
dieser positionellen Funktion (z. B. Zahlenreihe). Aber auch die Frage der
Selbstindigkeit zeigt bei vollendeter Abgeléstheit von jeder Subjektivitat
einen anderen Aspekt wie hier: Selbstandigkeit und notwendige Verkniipft-
heit sind hier auf dem gleichen Niveau gegeben, wahrend fiir die Phanome-
nologie die Struktur: immanente Selbstandigkeit und transcendente oder
transcendierende Verkniipftheit das Bezeichnende ist. Dazu kommt, da&
die Aufhebung der unmittelbaren Selbstandigkeit in der Phanomenologie,
ihrer Struktur als Reihe entsprechend, drei verschiedene Méglichkeiten besitzt,
die fiir jedes Glied der Reihe nur je einmal gegeben sein kénnen, aber je
einmal gegeben sein miissen: erstens hebt jedes Glied die Selbstindigkeit des
in der Reihe »vor« ihm stehenden Gliedes auf, zweitens wird seine Selb-
standigkeit von dem »nach« ihm folgenden Glied aufgehoben, und drittens
— und diese Beziehung liegt wieder auf einem anderen Plane als die Selb-
stiindigkeit und ihre beiden ersten Aufhebungen — setzen diese Verkniip-
fungen die Intention samtlicher Glieder auf das letzte Glied voraus, wo-
durch ihre Selbstandigkeit diesem gegeniiber ebenfalls aufgehoben ist. Aus
diesem Begriff der Reihe folgt, da8 dem ersten und dem letzten Stadium
Bedeutungen zukommen, die sowohl von einander, wie von allen anderen
Gliedern total verschieden sind, zu denen die Objektivationen einer »Spha-
re« nicht einmal Analogien aufweisen kénnen. Diese alleinstehende Eigen-
art der Phanomenologie ist die Folge ihrer einzigartigen Aufgabe: einen
normativ-teleologischen Aufstieg aus an sich unmittelbar evidenten Sub-
jektsverhaltungen zu dem ebenfalls unmittelbar evidenten Ziele, zu dem
Asthetische Setzung 49

metaphysischen Subjekt und seinem Erlebnis zu geben. Diese Reihe von


konkreten Unmittelbarkeiten mit eindeutig-einlieniger Richtung kan aber
nur eine Reihe von Subjektverhaltungen sein, und zwar von solchen Sub-
jektverhaltungen, die als Akte von den Subjekten, denen sie zugehéren,
niemals véllig abgelést werden kénnen. Denn die zur villigen Abgeléstheit
isolierbaren Akte, wie z. B. die rein theoretischen der modernen Phanome-
nologie, unterscheiden sich als Elemente einer theoretischen Sphare gar nicht
von den rein objektiven Sinngefiigen und werden niemals eine Reihe, wie
sie hier als notwendig erscheint, ergeben kénnen. Eine solche wird erst még-
lich, wenn die Isolation des Verhaltens als Akt nur das Symptom oder das
erkenntnismafige Symbol einer bestimmten Art des Seins ist, wenn — um
das Wesentliche kurz und allgemein zusammenzufassen — das Subjekt einen
gewissen Ichcharakter, ein auf sich gestelltes, in sich ruhendes, innerlich ab-
geschlossenes Sein hat. Dieser Ichcharakter des Subjektes ist rein struktiv zu
verstehen: eine Metaphysik, deren Wesen die Leugnung des Ichs ist, wird in
ihrem Subjektsbegriff genau diese selbe Struktur aufweisen miissen. Diese
Subjekte kénnen erst in ihrer phanomenologischen Zusammenordnung eine
Reihe bilden, die vom »ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit zum —
ebenfalls seienden — Subjekt der Metaphysik fiihrt; die Erlebnisse und ihre
als Subjektverhaltungen isolierten Wesensarten sind nur die Verbindungs-
glieder, die je ein solches Subjekt mit dem notwendig gesetzten Objekt
seiner Substantialitatsstufe in Beziehung setzen, sie machen den phainome-
nologischen Weg blo8 erkennbar, der Weg selbst fithrt aber von dem einen
Subjekt zu dem anderen, Dadurch wird es erst méglich, die Eigenart der
Methode und der Aufgabe der Phanomenologie in jenem unaufhirlichen
Aufeinanderweisen zu erblicken, wie dies fiir jede Wissenschaft notwendig
ist. Denn die Aufgabe der Phanomenologie kann in nichts anderem als in
dem Nachweis bestehen, da das metaphysische Erlebnis, das als Faktizitat
in unzweifelhafter Evidenz gegeben ist, auch eine objektive Wesensnotwen-
digkeit besitzt; da& jedes mégliche Erleben in allen méglichen Gestaltungs-
formen gerade dem metapsychologischen Sinne des Aktes nach auf dieses
Erleben und seinen Gegenstand intendiert und da& die noch nicht meta-
physischen Objektivitatsformen nur darum tiberhaupt erscheinen, weil die
ihnen zugeordneten Subjektsakte das metaphysische Niveau noch nicht er-
reicht haben. So wird die Phinomenologie, nach Hegels Worten, zu einer
Lehre von den »Gestalten des Bewuftseins«, indem ihre Momente »in dieser
eigentiimlichen Bestimmtheit sich darstellen, nicht abstrakte, reine Momente
5° Heidelberger Asthetik

zu sein, sondern so, wie sie fiir das Bewuftsein sind, oder wie dieses selbst
in seiner Beziehung auf sie auftritt . ..«17,
Diese Selbstbesinnung der Metaphysik in der »Phinomenologie des Geistese
birge freilich eine neue, tiefgehende Problematik der Metaphysik in sich, die
hier nur deshalb gestreift werden mu&, damit wir die Méglichkeit und die
Notwendigkeit der Anwendung der phanomenologischen Methode auf die
Asthetik ganz klar erbliccen kénnen. Das Problem kann ganz kurz so zu-
sammengefa&t werden: die Aufgabe der Phinomenologie ist die metaphy-
sische Attitude und ihr Objekt apriori zu demonstrieren; zugegeben, da
ihr dies gelungen wire, fragt es sich, ob hier eine »objektivee Metaphysik,
sei sie nun als Wissenschaft gedacht oder nicht, ansetzen kann, ob die Ablé-
sung des Gegenstandes vom Subjekt — die unabwendbare Folge der von
Hegel als »Logik« geforderten Metaphysik — die Sphiire nicht notwendig
in eine theoretisch-geltende verwandeln mu&, ob also die Phinomenologie
nicht, statt Einleitung in die Metaphysik zu sein, die Metaphysik selbst ist.
Die Wichtigkeit dieses Bedenkens zeigt sich, wenn an die friiher betonte
Bestimmung des metaphysischen Erlebnisses als konstitutives oder hetero-
nomes Erlebnisses und an die seiende Ichhaftigkeit des metaphysischen Sub-
jektes erinnert wird. Denn daraus folgt einerseits, daf der metaphysische
Gegenstand, dem Wesen nach und nicht psychologisch, zwar vom Erlebnis
unabtrennbar gegeben ist (man denke an welchen Tatbestand immer, an die
intellektuelle Anschauung, an die amor dei intellectualis, an die #edgia, an
die unio mystica usw., immer wird sich diese Verbundenheit zeigen), anderer-
seits aber das metaphysisch Entscheidende doch nicht das Erlebnis selbst,
sondern das Erlebte ist. Darum wird ein rein »objektives«, also nicht mehr
phinomenologisches Niveau der Metaphysik nur dadurch denkbar, da in
der Phanomenologie, wie etwa bei Hegel selbst, die Identitat von Subjekt
und Objekt, von Erlebnis und Erlebtem enthiillt wird (oder etwa das Sub-
jekt im Objekt »aufgeht« oder umgekehrt, was aber methodisch-struktiv aufs
Gleiche hinauslduft) und dieses identische Subjekt-Objekt zum Gegenstand
der »objektiven« Metaphysik wird. Hierbei ergibt sich aber folgendes, unauf-
ldsliches Dilemma: entweder wird mit diesem Zum-Gegenstand-Erheben
wirklich ernst gemacht, dann muf der Gegenstand theoretissiert werden, da
die Form, in der er steht, nur eine theoretische Geltungsform sein kann und

17 Ebd. 69. [S.: a. a. O. S. 75]


Asthetische Setzung 5st

das Subjekt, auf das er bezogen wird, das Bewuftsein iiberhaupt der Theorie
ist, so da& das Subjekt aus einem seienden in ein der Geltung zugeordnetes
verwandelt wird, wodurch die Metaphysik sich selbst aufhebt; oder das
Konstitutiv-Sein des (metaphysischen) Subjekts wird im identischen Subjeke-
Objekt consequent beibehalten, dann bleibt sein Auf-den-Begriff-bringen
im wesentlichen doch innerhalb der Phanomenologie, deren Struktur (Gestalt
des Bewuftseins im metapsychischen Sinn und ihr notwendig zugeordnetes
Objekt) dann doch nicht verlassen wird. Fir die Metaphysik ist jede hier
ergebende Wahl gleich verhingnisvoll: das wirklich erreichte Niveau der
Metaphysik, die Aufhebung der Dualitit von Subjekt und Objekt erweist
sich als ein Niveau der Unaussagbarkeit schlechthin. Denn jede Objektivie-
rung, die versucht werden kann, muf ihre Wesensart verfalschen: das zum
bloRen Objekt gewordene identische Subjekt-Objekt hat durch sein Zum-
Gegenstand-werden gerade diese Identitat wieder eingebiit, und jede phi-
nomenologische »Objektivitite, die die metaphysische Urstruktur besser be-
wahrt, kann die erreicht erfiillte Idealitat nur als Telos besitzen. Ein »Reich«
der Metaphysik, das durch die Phanomenologie als alleinige Methode der
Metaphysik erobert werden soll, mu ein blo& »relativ-metaphysisches« sein:
um von der Phanomenologie erfa&t werden zu kénnen, mu in ihm ein
Noch-nicht, eine trennende Distanz zwischen Subjekt und Objekt enthalten
bleiben: die wahre Identitat von Subjekt und Objekt bleibt fiir die Phano-
menologie eine Idee. Was dieser Tatbestand fiir die Metaphysik zu bedeu-
ten hat, kann hier nicht einmal angedeutet, da die Hegelsche Metaphysik
tiberall diesem Dilemma unterliegt, kann ebenfalls nur behauptet, aber nicht
einmal in grofen Ziigen bewiesen werden, denn selbst dieser Exkurs recht-
fertigt sich nur dadurch, da er die Stelle und die Funktion der phinome-
nologischen Methode im System der Asthetik klarer zu zeigen geeignet ist.
Das asthetische Erlebnis wurde — im Gegensatz zum metaphysischen — als
autonomes Erlebnis bestimmt. Diese Autonomie griindet sich darauf, da& die
im Asthetischen Erlebnis sich vollziehende asthetische Setzung nicht auf das
Ergreifen eines dem Erleben transcendenten Seins gerichtet ist, wie dies
sowohl in der Erlebniswirklichkeit wie in der Metaphysik der Fall ist,
sondern nach dem Sinn des Erlebnisses als Erlebnis fragt; da8 sie eine
Sphire — im echt transcendentalen Sinn — zu begriinden im Begriff ist, fir
die die Kategorien des Erlebens konstitutive, die Gegenstindlichkeit be-
stimmende Kategorien sind. Die Notwendigkeit, die phinomenologische
Fragestellung auch fiir die Begriindung der Asthetik aufzuwerfen ergibt sich
also aus dem strukturellen Tatbestand, den die Asthetik mit der Metaphysik
52 Heidelberger Asthetike

—und nur mit ihr—teilt: da& gerade aus dem héchsten Niveau ihres Gesetzt-
seins, gerade aus der origindrsten Schicht ihrer Sphire das Erlebnis nicht
eliminierbar ist; da& die Asthetik deshalb ebensowenig uno actu begriind-
bar ist wie die Metaphysik, im Gegensatz zur Theorie oder Ethik, wo die
Setzung selbst mit der villigen Loslésung von jeder Art Erlebnis, das nur
zur irrelevanten psychologischen Erscheinungsform der erlebnisjenseitigen
Sinngebilde gehért, aquivalent ist. Alle systematischen Motive, die fiir die
Metaphysik die »kritischex Begriindung in der Form der Phinomenologie
notwendig gemacht haben, gelten auch fiir die Asthetik: das normative
asthetische Verhalten darf auch nicht »aus der Pistole« geschossen erscheinen,
sonst kann es entweder von der blo&en Unmittelbarkeit nicht klar losgelést
werden, oder muf einer erlebnisjenseitig-sinnhafter Uniformierung anheim-
fallen. Mit dieser Gemeinsamkeit des Grundproblems, woraus auch der ge-
meinsame Ausgangspunkt in der Erlebniswirklichkeit folgt, sind jedoch alle
Beriihrungspunkte von asthetischer und metaphysischer Phiinomenologie er-
schépft. Denn das den ganzen phinomenologischen Gang determinierende,
seine Richtung und seine Stationen bestimmende Ziel ist in beiden Phino-
menologien grundverschieden und — dieser Verschiedenheit entsprechend —
miissen in beiden grundverschiedene »Gestalten des Bewuftseins« vorkom-
men, ja selbst der gemeinsame Ausgangspunkt, die Erlebniswirklichkeit in
ihrer transcendenten Subjekt-Objekt-Struktur, mu& in beiden von ganz
verschiedenen Aspekten aus erscheinen. Der teleologische Mafstab, an den
gemessen alle in unmittelbarer Evidenz gegebenen Subjektverhaltungen
ihre Selbstandigkeit verlieren, dem gerecht zu werden alle auf das Endziel
transcendieren, ist hier, wie wiederholt hervorgehoben wurde, der Sinn des
Erlebnisses, eine formale Angemessenheit des Erlebnisses an sich selbst, d. h.
die Forderung einem Objekt erlebend gegeniiberzustehen, dessen konstitu-
tive Gegenstindlichkeitsformen mit den inneren Organisationsformen des
Erlebens, seinen Postulaten der Erfiillung qua Erlebnis identisch sind. Der
Motor des Transcendierens, der Selbstentlarvung der Unangemessenheit in
den unmittelbar evidenten Etappen des phinomenologischen Weges ist hier
nicht die Sehnsucht nach der substantiellen Identitat von Subjekt und Ob-
jekt wie in der Metaphysik, sondern die Sehnsucht nach der »Erzeugung«
eines Objekts, das den Anforderungen des Erlebnisses angemessen ist. Die
Transcendenz der Erlebniswirklichkeit zeigt sich hier nicht in der materiell-
seienden Distanz, die Subjekt und Objekt voneinander trent, sondern in
der formalen Unangemessenheit jedes Objekts — und damit wesensnotwen-
dig auch jedes Subjektverhaltens — den Erfiillungsméglichkeiten und -not-
Asthetische Setzung 53

wendigkeiten des reinen Erlebens gegeniiber. Hieraus ergibt sich als Telos
der asthetischen Phinomenologie das Subjektverhalten, das die Setzung des
asthetischen Objekts, des dem reinen Erleben angemessenen Gegenstandes,
des Kunstwerks vollzieht: die asthetische Phinomenologie steht deshalb, im
Gegensatz zur metaphysischen, in keinem paradox-unaufldslichen Zwitter-
verhiltnis zur »objektiven« Sphiire des gesetzten Objekts, zur Werksphiire,
sondern fordert diese vielmehr als notwendige Erganzung und Erfiillung.
Dieser iiberraschende Anblick, das unerfiillbare methodische Programm der
Metaphysik in der Asthetik verwirklicht zu sehen, hat seinen Grund in der
Richtung, die die phanomenologische Verwandlung der Subjektivitit, dem
Telos der Asthetik entsprechend, hier einschlagt. Denn wahrend der Ver-
wandlungsprozef in der Metaphysik von der unangemessenen Existenzform
der Erlebniswirklichkeit zu der erfiillt-angemessenen Existenzform des meta-
physischen Niveaus fihrt, soll hier jene Existenzform in eine Geltungsform
verwandelt werden. Das am Zielpunkt des phinomenologischen Weges zu
erreichende Niveau ist nicht eine bestimmte Art des metaphysischen, des ab-
soluten Seins, sondern das normative Verhalten einem absoluten Wert gegen-
fiber; die Verwandlung ist deshalb nicht eine Steigerung der Existenz
von der substanzlosen Transcendenz zur wahren Substantialitat, sondern
die Vertilgung des Seins zu Gunsten einer rein aufsteigenden Form des
Geltens: aus dem »ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit entsteht
keine »Seelex, kein »Geist«, sondern das normative Subjekt der Ast-
hetik: der Mensch »ganz« sub specie einer bestimmten Erfiillungsform
des Erlebens. Diese Wesensart der Asthetischen Phanomenologie macht
es verstindlich, da®, ohne sie aufzuheben, die »objektive« Lehre vom
Wert sie erginzend und erfiillend sich an sie angliedern kann. Die Auto-
nomie des Erlebens erfordert geradezu ein solches Objekt, das in seiner
Gegenstandlichkeit von den Prinzipien der Erlebbarkeit iiberhaupt be-
stimmt ist, zugleich jedoch jedem Erlebnis gegeniiber die Selbstindigkeit
seines Gegeniiberstehens, seines Entgegengeltens zu bewahren fahig ist. Wah-
rend aber das heteronome Erlebnis der Metaphysik vom Objekt seiner In-
tention, ohne dies in seiner eigentlichen Struktur zu entstellen, niemals abzu-
lésen ist, eben weil das Wesentliche im Objekt selbst und nicht in seinem
Erleben beruht, fordert das autonome Erlebnis der Asthetik geradezu diese
Ablésbarkeit. Denn indem dieses Objekt als »objektivierter« Sinn des Erleb-
nisses gesetzt wurde, steht es dem Seinsniveau des Erlebens, dem »ganzen
Menschen« der Erlebniswirklichkeit nicht als ein hdheres, echteres oder sub-
stantielleres Sein gegeniiber, dessen Existenz vom Subjekt ersehnt werden
54 Heidelberger Asthetik

kann, sondern als eine Forderung, als ein Sollen. Das seinen Sinn suchende
Erlebnis hat deshalb eine, von dem metaphysischen ganz verschiedene Ge-
bundenheit an die Objektivierung der Sinnhaftigkeit, an die Erfiillung die-
ses Suchens, an das normative Objekt: einerseits steht es autonom dem Ob-
jekt gegeniiber, denn das Objekt ist nichts weiter als die »Objektivation«,
das Gegenstandlichwerden des gesuchten Sinnes, es ist der Sinn des Erlebens
der Subjektivitdt selbst; andererseits jedoch geht das Erlebnis nicht in seinem
Gegenstand auf, es ist nicht blo& das Vehikel, das zur Einswerdung von
Subjekt und Objekt fiihren soll, sondern ist diesem — in selbstandiger, nor-
mativer Correlation — als Bedingung seiner Méglichkeit zugeordnet. Freilich
darf auch kein metaphysischer Gegenstand so gedacht werden, als ob er in
dem einzelnen Erlebnis gewissermafen »entstehen« wiirde, er hat vielmehr
ein von allem Erlebnis villig unabhangiges Sein, das weder in seinem Das,
noch in seinem Wie von Erlebnis bestimmt werden kann; es gehért aber zum
Wesen dieses Seins, da8 es adiquat nur im metaphysischen Erlebnis erfaSe
werden kann, da der einzige Weg, der zu ihm fiihrt, das metaphysische
Erlebnis ist. Der Ausspruch Jacobis, daf ein gewufter Gott kein Gott mehr
sei, entstammt aus einer sehr feinen Empfindung fiir den struktiven Tatbe-
stand der Metaphysik, da das Subjekt des Wissens nicht mehr das meta-
physische Ich-Subjekt, sondern ein blofes theoretisches Bewuftsein iiber-
haupt sein kann. Die Gebundenheit an das Erlebnis und damit an das Sub-
jekt erweist sich als die Gebundenheit an die Ichartigkeit, an die Seinshaf-
tigkeit des setzenden Subjekts; sie ist vom Standpunkt des Erlebnisses eine
blo& struktive, abstrakt-formelle Gebundenheit, die weder auf das Erlebnis,
noch auf seinen Gegenstand irgendwie Licht zu werfen im Stande ist, die
keine weitere Funktion als die unausschaltbare und durch nichts ersetzbare
Verkniipfung von Subjekt und Objekt zu leisten hat. Die transcendente
Dualitat, bezichungsweise erreichte Identitat von Subjekt und Objekt hat
mithin fiir den Aufbau der Metaphysik den absoluten Primat, das sie ver-
kniipfende Erlebnis ist nichts als die Spiegelung dieses — an sich, vom Erleb-
nis unabhangig gegebenen — Verhiltnisses, wenn das Erlebnis als AuBe-
rungsform des metaphysischen Subjekts aus der Art der Objektsetzung auch
niemals weggedacht zu werden vermag. Der metaphysische Gegenstand ist
also von der einen Seite villig unabhingig von dem Erlebnis (darauf weist
sowohl die uralte Terminologie vom An-sich wie unsere Bestimmung von
der Heteronomie des metaphysischen Erlebens), von der anderen Seite ist
aber die Setzung seines Seins im unaufléslichen Zusammen, nur simultan mit
dem Erlebnis denkbar. Der asthetische Gegenstand dagegen, das Kunstwerk
Asthetische Setzung 5S

ist nur an das Prinzip der Erlebbarkeit iiberhaupt gebunden: es ist in seinem
innersten Wesen, in seinem konstitutiv-kategoriellen Aufbau erlebnishaft,
die Objektivierung des Erlebnisses. Es steht deshalb jedem Erlebnis fordernd
gegeniiber: das Suchen des Sines kann sich nur in ihm erfiillen, ihm muf es
sich hingeben, vor seinen Maximen muf es sich beugen, um der Erfiillung
teilhaftig werden zu kénnen. Darum steht das Kunstwerk in selbstandiger
Normativitat jedem Erlebnis gegeniiber da; darum bedeutet aber diese Selb-
stindigkeit des Kunstwerks, seine villige Unabhangigkeit von den Erlebnis-
akten gerade die Autonomie des Erlebens in der Asthetischen Sphire:
die Maximen des Werks, die das asthetische Subjekt in seinem Erleben
aufnimmt, sind die Maximen seines Erlebens selbst, die Bedingungen
der Méglichkeit fir die Erfilllung seines Erlebens, gerade als Erleben
betrachtet.
Diese vollkommene Selbstandigkeit des Werks, die Méglichkeit es zum selb-
stdndigen Gegenstand zu machen, unabhiingig von den darauf gerichteten
subjektiven Akten, zeigt von neuem den transcendentalen, nicht metaphy-
sischen Charakter der asthetischen Sphiire, zwingt uns aber zugleich die
Frage nochmals aufzuwerfen, warum bei ihrer Begriindung der fiir die
transcendentalen Spharen so ungewohnte, weil fiir Theorie und Ethik tiber-
fliissige, ja unmégliche phanomenologische Weg notwendig eingeschlagen
werden muf. Die Eigenart dieser Selbstindigkeit beruht darauf, daf die
hier geforderte und auf dem Wege der Phinomenologie erreichte, normativ
gewordene Subjektivitit die Bedingung der Méglichkeit des Werks ist, daS
es nur auf diesem Niveau — dann allerdings in der oben angedeuteten Un-
abhangigkeit von ihr — gesetzt werden kann. Die Paradoxie, da ein selb-
standiges, geltendes Sinngebilde die transcendentale Bedingung seiner Még-
lichkeit in einem bestimmten Subjektverhalten hat, beruht darauf, da& das
letzte aufbauende Prinzip des Sinngebildes selbst das Prinzip der reinen
Erlebbarkeit ist: ein Prinzip, das zwar die selbstandige, in sich vollendete
und abgerundete Wesensart des Sinngebildes nicht nur méglich macht, son-
dern als notwendig erfordert, jedoch ein bestimmtes Niveau der Subjektivi-
tat als ebenso unerlaflich voraussetzt. Anders ausgedriickt: ein theoretisches
Sinngebilde ist vollkommen unabhiangig von seiner Denkbarkeit, ja es ent-
stehen im Bereich der Theorie ganz eigene Gebiete durch Beziehung der
Sinngebilde auf Denkbarkeit und Erkennbarkeit; die Asthetik hingegen
kennt ein solches Niveau der Setzung, also eine Unabhangigkeit von der
Erlebbarkeit nicht. Der Niveau-Unterschied, der den erwahnten theoreti-
56 Heidelberger Asthetik

schen Schichten!® entspricht, existiert freilich auch in der Asthetik und wird
spater ausfiihrlich behandelt werden miissen, aber der Begriff der Subjek-
tivitét als Prinzip der Erlebbarkeit tiberhaupt kann aus der Asthetik nicht
weggedacht werden. Das dem reinen An-sich entsprechende Niveau ist nam-
lich fiir die Asthetik die reine Erlebbarkeit, die gegensatzlose reine Subjek-
tivitét, in Vergleich zu welcher selbst das Niveau des reinen Erlebens und
seines angemessenen Objekts als ein blo& abgeleitetes erscheinen muf. Wie
immer es aber um diese Niveau-Unterschiede der bereits gesetzten astheti-
schen Sphire auch stehen mag, fiir den momentanen Stand des Problems ist
nur die freilich nicht wenig paradoxe Sachlage von Wichtigkeit, da8 die
Subjektivitat als Prinzip, als Prinzip einer reinen Erlebbarkeit iiberhaupt,
zum Wesen der Asthetischen Geltung selbst notwendig hinzugehért. Diese
Sachlage erfordert, daB »bevor« die asthetische Sphare selbst gesetzt werden
kénnte, dieses Niveau des Subjektverhaltens, das Niveau des reinen Erleb-
nisses, wo das Erlebnis ausschlieBlich auf seinen eigenen Sinnn als Erlebnis
gerichtet ist, erreicht werden soll.
Das Niveau des reinen Erlebens nimmt innerhalb der Mannnigfaltigkeit der
miglichen Subjektverhaltungen eine durchaus einzigartige Stellung ein.
Denn diese sind entweder von seiender Wesensart sowohl im empirischen, wie
im metaphysischen Sinn, wobei der jeweilige Subjektivititsbegriff stets etwas
Seiend-Ichhaftes an sich hat, also die Gesamtheit des »Seelischen«, das im
Subjekt gegeben ist, vom Zentrum seines erreichten Niveaus aus in irgend-
einer Weise zur Totalitat formt, wobei freilich die Art dieser Formung von
unserem jetzigen Standpunkt aus ganz gleichgiiltig ist, oder sie sind zuge-
ordnete Correlate zu einer bestimmten Wertsetzung, und ihre prinzipiell
erlebnisjenseitige Struktur ist die reine Funktion des Wertes, dem sie zuge-
ordnet sind. Die asthetische Subjektivitat unterscheidet sich gleich streng
von beiden Gruppen: da sie das Gerichtetsein des Subjekts auf den Sinn
seines Erlebnisses ist, besteht das Entscheidende ihres Wesens in einem Rein-
werden, Homogenwerden des Erlebens selbst, in seiner Abwendung von
seinen »zufalligen«, der Seinswelt angehérigen Gegenstinden und damit

18 Dieser Niveau-Unterschied kehre in jeder Zergliederung der theoretischen Sphare wieder:


man denke z, B. an Husserls Unterscheidung der »theoretischene und »normativenc
Disciplinen (Logische Untersuchungen I. [Halle, 1913] 47 #.), an Rickerts »Gegenstand
der Erkenntnise im Gegensatz zur »Erkenntnis des Gegenstandese, an Lasks »aletheio-
logische« und »gnoseologischee Schicht der Logik (Die Lehre vom Urteil [Tibingen,
1912] 168) usw.
Asthetische Setzung 57

zugleich in seiner Abwendung von der Subjektivitat selbst, sofern sie als
»ganzer Mensch« der Erlebniswirklichkeit (oder eines anderen Seinsniveaus)
dieser Welt angehért, sofern sie von seiend-ichhafter Wesensart ist. Dieser
Bruch mit der Seinstotalitat geschieht aber in der Intention auf die erfiillte
Totalitit des den immanenten Anforderungen des Erlebens angemessenen
Gegenstandes; die Seinstotalitat wird also nur darum verlassen, um die for-
male Totalitit der adaquaten Erlebbarkeit zu erreichen: die Subjektivitat
wendet sich nur von dem Seinsartigen und damit von der Zentrierung im Ich
des Erlebens ab, isoliert in sich das auf sich selbst bezogene Erleben und gibt
ihm die homogene Gerichtetheit auf das angemessene Objekt. Dank diesem
Akt wird die Subjektivitat zwar ein Gerichtetsein auf einen Sinn, auf etwas
Wertartiges, darf aber dabei ihre Unmittelbarkeit, ihre Erlebnishaftigkeit,
ihre Totalitat als erlebendes Subjekt doch nicht verlieren. Damit gelangt die
paradoxe Aufgabe der asthetischen Phanomenologie zu einer bestimmteren
Formulierung: es soll in ihr eine konkret erfiillte Totalitat der reinen Sub-
jektivitdt erreicht werden, die auf einen abgeschlossen-gegenstindlichen Kos-
mos der Erlebbarkeit bezogen ist, Subjektivitit und Erlebbarkeit jedoch
sollen alles Seiend-Ichhafte von sich ablegen und in dieser ihrer vom Ich
abgelésten, sinnhaften Wesensart zur Gestalt werden. Die objektive Para-
doxie der Asthetik, da& der Sinn des Erlebnisses als Erlebnis niemals erleb-
nisjenseitig sein kann, da& dieser Sinn sich nur als erfiillte Erlebnishaftigkeit
zu verwirklichen im Stande ist, steht mit der subjektiven Paradoxie, da
die auf Reinheit des Erlebens intentionierte Subjektivitat nichts Ichhaftes
an sich haben darf, im innigsten Correlation. Denn die objektive Tran-
scendenz der Erlebniswirklichkeit besteht, vom Telos der Asthetik aus ge-
sehen, darin, da& das Erlebnis stets das Erlebnis von Etwas sein mu und
zwar von einem Etwas, das seine Gegenstindlichkeit erlebnisjenseitigen
Kategorien verdankt, das also, um erfaft werden zu kénnen, vom Subjekt
ein Transcendieren des Erlebnisses fordert. Und die vom Subjekt aus betrach-
tete Seite dieser selben Transcendenz zeigt, da das Erlebnis stets das Erleb-
nis eines wirklichen Subjekts, eines Ichs sein mu&, das seinen subjektiven
Sinn darum nur im Zusammenhang dieses Ichs, also gleichfalls auf einem
erlebnisjenseitigen Niveau erhalten kann. Wenn deshalb das Erlebnis seinen
Sinn als Erlebnis finden soll, so mu es von beiden Gebundenheiten, von
der an den Gegenstand und von der an das Ich, die beide seiender Wesens-
art sind, freigemacht werden; mit der Lésung der Beziehung zum Etwas
wird die Beziehung zum Ich zugleich vernichtet, denn das Ich der Erlebnis-
wirklichkeit ist ja nichts anderes als das wovon das Etwas gesetzt wurde.
58 Heidelberger Asthetik
Diese Loslésung ist aber eine formelle: sie scheidet das Seinshafte aus Subjekt
und Objekt des Erlebnisses aus, um beide in dieser Freiheit von erlebnisjen-
seitigen Gegenstindlichkeitsbestimmungen zur immanenten Erfiillung der
Erlebbarkeit zu fihren. Das Erlebnis soll rein und homogen qua Erlebnis
werden, es soll seine Bestimmungen von den eigenen Méglichkeiten der Er-
fiillung erhalten. Dies erfordert einerseits die bereits oft angedeutete Ob-
jektstruktur, andererseits ein Subjekt, das nichts weiter ist als »Trager«
eines derartigen reinen und homogenen Erlebnisstromes, das aber seinen Sinn
und seine Erfiillung in sich selbst enthilt, niemals auf ein Ich irgendwelcher
Art bezogen werden kann, ohne deshalb der inhaltsleeren Zugeordnetheit
der sonstigen Geltungsobjekte nahe zu kommen. Das unmittelbare Erlebnis
ist stets das Erlebnis von Etwas. Der Verwandlungsprozef in der Richtung
auf dsthetische Form kann deshalb niemals eine Abwendung von der inhalt-
lichen Fiille bewerkstelligen wollen, er kann und soll vielmehr nur die Be-
wegung anstreben, den »Inhalt« und sein Subjektscorrelat von jeder Seins-
bezogenheit véllig frei zu machen, gerade um die in der Erlebbarkeit auf-
gehende Fiille des Inhalts zu diesem ihrem erfiillten Sinn zu fiihren, Trotz
aller, nunmehr klarergewordenen Distanz also, die ein solches Subjekt vom
»ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit trennt, mu% sowohl dessen
»Ganzheit« wie sein »Menschsein« beibehalten werden: das Gerichtetsein auf
den Sinn Jat hier nicht ein dem Sinngebilde hinzukonstruiertes Subjekt
entstehen, wie in der theoretischen Sphire, das mit dem »ganzen Menschen«
schlechterdings nichts mehr zu tun hat, das von ihm durch den Sprung ge-
trennt ist, sondern erfordert einen Stilisierungsprozef, der durch Umwand-
lung der Intention des Erlebnisses von Sein auf Sinn vollzogen werden soll,
der von der Forderung nach dem autonomen Erlebnis und seinem angemes-
senen Gegenstand geleitet ist, als dessen Ziel das stilisierte Subjekt der
Asthetik, der Mensch »ganz« sub specie der Erfiillbarkeit des Erlebnisses
gesetzt ist. Die Reihenbildung der Phanomenologie wird durch die Konkret-
heit dieser Subjektivitat erméglicht; wenn die aufeinanderfolgenden Sub-
jektivitatsstufen der dsthetischen Phanomenologie auch nicht von seiend-ich-
hafter Wesensart sind, wie die der metaphysischen, so haben sie einerseits
die zur Reihenbildung notwendige konkret-inhaltliche Fille bewahrt und
andererseits stehen sie in einer — wenn auch ablehnend-polemischen — Be-
ziehung zur seiend-ichhaften Struktur der Subjektivitat: die asthetische
Phiinomenologie kann ja von diesem Gesichtspunkt aus als der Selbstbe-
freiungsproze8 der Subjektivitit aus ihrer Ich-Gebundenheit aufgefa’e
Asthetische Setzung 59

werden, die nur in der letzten Etappe des Weges, beim Erreichen des stili-
sierten Subjekts der Asthetik vollig gelést zu werden vermag.
Diesen Stilisierungsproze& der Subjektivitat zu vollziehen ist die Aufgabe
der asthetischen Phinomenologie. Daf die asthetische Setzung nur auf dem
durch sie erreichten Niveau méglich wird, erhellt sich noch besser als aus dem
bisher Angefihrten von der Erwagung aus, da& das objektive Sinngefiige
der Astehetik von derart rein formaler Wesensart ist, da& in ihm jede
»Materie«, jeder »Inhalt« nur positionell, nur »relativ« Materienhaft ist,
sofern Materie, wie fiir Theorie und Ethik, als Gegensatzbegriff der Form
gefa&t wird. Im Formgefiige der Asthetik kommen nur formartige Bestand-
teile vor; wenn der Relativierungsproze der Form-Inhalt-Dualititen zu
Ende gegangen wird, so muf eine gewissenhafte Analyse immer auf bereits
formartige Elemente stofen: die asthetische Form »umfaSt« also nicht die
Materie-Correlation, in der Asthetik nicht vorkommen kann; mit anderen
sondern soll sie — nach Schillers plastisch-zutreffendem Ausdruck — vertilgen.
Dieses Vertilgen kann vom Standpunkt der Strukturanalyse nur soviel be-
deuten, daf etwas schlechthin Materieartiges, sei es als Grenzbegriff, sei es
als erkenntnistheoretische Hilfskonstruktion zur Erklarung der Form-
Materie-Correlation in der Asthetik nicht vorkommen kann; mit anderen
Worten: da& das Ding-an-sich-Problem in der Asthetik nicht aufwerfbar
ist, da® die Welt der dsthetischen Formen sich nicht vom Chaos abhebt, da
ihr »Erzeugen« nicht auf das Chaos zuriickgreift. Der Widerspruch, in dem
diese Auffassung der dsthetischen Formenwelt zu der gewohnten steht, be-
ruht teilweise auf der allgemeinen Gewohnheit, die theoretische Formkon-
struktion mit geringen Modifikationen auf die Asthetik zu iibertragen, teil-
weise auf der irrefiihrenden Terminologie, durch die dsthetische Form-
begriffe — wie Stoff, Material usw. — eine derartige Deutung zulassen,
obwohl diese ihrer schlicht-dsthetischen Wesensart durchaus nicht entspricht.
Die wirkliche Widerlegung kann also nur die rein asthetische Deutung all
dieser Formelemente bringen, wobei gezeigt werden soll, da& ihr eindeutig
asthetischer Sinn nur durch ihre Fassung als reine Formelemente, die blo&
in Beziehung zu anderen Formelementen zum Stoff, zum Material usw.
werden, erreicht werden, kann; hier miissen andere, allgemeine Erwagungen
zur Einsicht dieser Wesensart des Asthetischen fithren. Wie immer auch der
Gegensatzbegriff zur Form gefa&t sei, sein entscheidender, transcendentaler
Sinn kann nur als die Bezogenheit der Form auf etwas der Form Wesens-
fremdes oder, was damit aquivalent ist, als die Bezogenheit der Geltung auf
Seiendes gedacht werden. Es bleibt also fiir Theorie und Ethik, wie sehr auch
60 Heidelberger Asthetik

innerhalb jeder Sphire der Gegensatz der Form und des Geformten relati-
viert wird, wie sehr auch das Geformte eine relativ-formale Beschaffenheit
erhalt, ein prinzipieller, uniiberbriicsbarer Gegensatz zwischen ihnen beste-
hen, ein Gegensatz, der in die Asthetik, ohne sie ganz aufzuheben, nicht ein-
gefiihrt werden darf. Es wurde bereits hervorgehoben, da in der Asthetik
Form und Geformtes einander véllig homogen, oder genauer: da8 beide von
erlebnishafter Wesensart sind. Konkreter ausgedriickt bedeutet dies, da8 in
der Asthetischen Setzung — und nur in ihr — die Abwendung vom Sein
keine Abwendung vom Erlebnis ist, wahrend fiir die theoretische und
ethische Einstellung eine unaufhebbare Heterogeneitit von Form und Ge-
formtem wesensnotwendig gegeben ist, da die Form das schlechthin Erleb-
nisjenseitige ist und das Geformte, wenigstens in iiberwiegenderweise, aus
dem Bereich des Erlebten, und zwar als Seiendes Erlebten stammt. Es wurde
bereits als Programm der Phanomenologie, also als Aufgabe der Verwand-
lung der normativen Subjektivitat hervorgehoben, da& diese Abwendung
von der Seinsbezogenheit des Erlebnisinhalts das auf den Sinn des Erlebens
gerichtete Subjekt zu vollziehen hat; diese Erkenntnis bedarf nunmehr zur
Erganzung blo& der Einsicht der Notwendigkeit, da& dies nur vom norma-
tiven Subjekt geleistet werden kann und da ohne die Voraussetzung dieser
Umwandlung die Setzung des Wertes selbst undenkbar ist.
Das Wesen dieser Setzung beruht, wie wir wissen, auf der absoluten Selbst-
vollendung und Aufsichgestelltheit der entstehenden Formgebilde, denen ge-
rade in ihrer einzigartigen Individualitat, in ihrem sinnlich unmittelbaren
hic et nunc der Wert innewohnt. Denn die geforderte, erlebnishafte Homo-
geneitit der Form und des Geformten setzt die wechselseitige Annaherung
beider Prinzipien aneinander voraus: einerseits mu das Geformte bereits
in seinem innersten Wesen zur Formartigkeit erhoben sein und diese An-
naherung an die Form muf viel mehr sein als eine eindeutig-substrathafte
Bediirftigkeit nach Form, muf bereits im positiven Sinne die Formhaftigkeit
aufweisen, andererseits muf die Form, als reine Form betrachtet, jede Mate-
rialfremdheit, jede allgemein-erhabene Wesensart ablegen, mu die Un-
mittelbarkeit des sinnlichen hic et nunc in ihr eigenes Wesen aufnehmen: sie
muf, dem Wesen nach, zur Form des bestimmten Inhalts werden. Dadurch
daf die Form die des bestimmten Inhalts geworden ist, was soviel bedeutet,
daf sie diesen Inhalt nicht nur zur Geltung erhebt, sondern von ihm nun-
mehr unabtrennbar wird, ist die in allen Geltungsspharen vorhandene
Distanz zwischen Wert und Wertrealisation aufgehoben. Bei jedem inhalts-
jenseitigen Formbegriff namlich kann jedes Sinngebilde des Wertes nur teil-
Asthetische Setzung 61

haftig sein, der Wert selbst aber, der mit dem seinsartigen Substrat der For-
men prinzipiell keine Gemeinschaft haben kann, ist den Sinngebilden tran-
scendent, das heift, diese sind nur in ihrer Formartigkeit mit dem Wert ver-
bunden und eben diese ihre Formartigkeit weist iiber sie hinaus, auf die
Quelle dieses Wesens, auf den Wert selbst hin, Wenn aber die Form nach
ihrem eigensten Wesen nach zur Form des bestimmten Inhalts wird, so gibt
es fiir sie — gerade als Form — keine derartige transcendierende Bewegung
mehr: die das einzelne Sinngebilde konstituierende Form kann keine Ver-
wirklichung mehr eines transcendenten Wertes, sondern muff, da Werthaftig-
keit fiir jede Geltungssphire die reine Erscheinung der Form bedeutet, der
Wert selbst sein. Dieses Zusammenfallen von Wert und Wertrealisation in
den Formgebilden der Asthetik bestimmt die Struktur der Beziehung von
Subjekt und Sinngebilde in der hier geforderten, von jeder anderen Gel-
tungssphire villig verschiedenen Weise. Denn einerseits mu die Distanz
von Subjekt und Sinngebilde hier, wo das Sinngebilde der Wert selbst ist,
wo also das Subjekt dem absoluten Wert unmittelbar gegeniibersteht und
nicht blo& durch ein transcendierendes Sinngebilde hindurch, in einem un-
endlichen Proze8 sich auf ihn zu bewegt, von einer sonst unerhérten Schroff-
heit und Uniiberbriickbarkeit sein, andererseits muf sich diese selbe Beziehung
inniger und intimer als sonst irgendwo gestalten, da das mit dem Wert iden-
tische Sinngebilde selbst von einer dem Subjekte homogenen, von erlebnis-
hafter Beschaffenheit ist. Es zeigt sich also, da& das vollendete Insichruhen
des asthetischen Sinngebildes, seine Wertimmanenz, sein materialloses, lau-
ter fomales Wesen, sein Formwerdenlassen des hic et nunc und seine reine
Erlebbarkeit nur Seiten einer und derselben Wesensart der dsthetischen Set-
zung sind und nur die verschiedenen Aspekte ihres Wesens reprisentieren:
da sie sich von keinem, auf die vollzogene Setzung beziehbaren und zu
beziehenden Chaos abhebt, sondern einem absoluten Nichts gegeniibersteht;
da& alles, was in dem Werk nicht gesetzt wurde, in einer derart radikalen
Art als Nichtseiend gesetzt wurde, daf jede Transposition sein Wesen nur
verfalschen. kann, es in ein relatives Nichts, in eine Aufgabe, in ein Chaos
verwandeln mu8. Daraus kann aber auch die Notwendigkeit der Phano-
menologie fiir die objektive Sphare der Asthetik begriffen werden: das lau-
ter formale Wesen des Wertes setzt dieses Vertilgtsein jedes Seins voraus,
erfordert, da& die zur Form gewordene Erlebnishaftigkeit nicht sinnlich
seienden Erlebniselementen gegeniiberstehe, sondern der bereits geformten,
weil vom Sein abgelésten sinnlichen Fiille der Erlebnisinhalte. Wenn also
die Abwendung vom Sein des Erlebens als Programm der Phainomenologie
62 Heidelberger Asthetik
bestimmt wurde, so hat das fiir die objektive Sphare der Asthetik die Bedeu-
tung, daf durch die in ihr vollzogene Verwandlung des Subjekts — und nur
durch diese — die hier notwendig erforderte gegensatzlose Form entstehen
kann. Fiir die theoretische Sphare kann diese Verwandlung durch die uno
actu sich vollziehende Anerkennung ihrer Maxime (die etwa als Wille zur
Wahrheit formuliert sein mag) ersetzt werden, weil fiir sie die Form etwas
schlechthin Inhalts- und Erlebnisjenseitiges ist und das Sein nur als factum
brutum aufgehoben wird, als unendliche Aufgabe, als Problem jedoch be-
wahrt bleibt. Fiir die Asthetik, die die Aufhebung des Seins in ganz radi-
kaler Weise zu vollziehen hat und dabei gerade das Konkret-Inhaltlich-
Erlebnishafte retten mu&, kann dies nur die Frucht des Stilisierungsprozes-
ses sein, den die Phanomenologie am Subjekt der Asthetik vollzieht.
Damit sind wir zu einem neuen paradoxen Aspekt des asthetischen Sinnge-
bildes angelangt: es ist seinem Wesen nach etwas Erschaffenes, etwas
Hervorgebrachtes. Hierbei darf man selbstredend niemals an das tatsich-
liche Produziertwerden des Kunstwerks denken, sondern daran, da& es ge-
rade seinem nicht-seienden Sinne, seinem Wesen nach genauso als Hervorge-
brachtes erfa&t werden soll, wie das theoretische Sinngebilde als unabhangig
von jeder Art der Verwirklichung auf tatsichlichen Boden gedacht werden
mu&; dieses »Entstandene« ist also genauso eine Geltungsqualitat des asthe-
tischen Wertes, wie das »Unentstandene« des theoretischen. Alle Paradoxien,
die sich daraus ergeben, sollen spater eingehend behandelt werden, hier
sind nur jene Seiten dieser Sachlage von Belang, die sich auf das Verhiltnis
des so wesensnotwendig gewordenen Schdpfers zum Werk und damit auf
das Verhiltnis der Phanomenologie zur Werklehre beziehen. Die Paradoxie
Jat sich in aller Kiirze so aussprechen: wenn das Werk auch als Werk des
Schépfers erfa&t werden soll, so soll damit seine véllige Unabhangigkeit
von ihm nicht aufgehoben und die Distanz, die sie voneinander trennt, nicht
gemildert werden. Mit anderen Worten: trotz seines wesensnotwendigen
Hervorgebrachtseins verbleibt dem Werk der absolute Primat vor dem
Schépfer: der Schpfer ist dem Werk, nicht dieses jenem zugeordnet. Denn
das Hervorgebrachtsein ist zwar eine Geltungsqualitit des Werkes, es ist
aber die Geltungsqualitit des Werkes an sich, eines rein geltenden Sinn-
gebildes, das seine Geltung — und darin diese mitgesetzte Qualitat — aus-
schlieBlich sich selbst verdankt, dessen Geltung ausschlieSlich aus sich selbst
zu begreifen ist. Das Geschaffensein zieht das Werk nicht in das Bereich des
Seienden hinab (und gestattet nicht, da es als metaphysische Entitat auf-
gefa&t werde), sondern unterstreicht am scharfsten seine uniiberbriickbare
Asthetische Setzung 63

Distanz von jeder Art des Seins, sein lauter geltendes Wesen. Gerade weil
isoliert betrachtet samtliche Elemente des Werkes, als Erlebniselemente, der
Seinswelt angehéren, weil sie von einer Form umfaft werden, die ebenfalls
»seiend erlebnishaft« ist, werden sie diesem Niveau blo& durch ihren Zu-
sammenhang, durch die Art ihrer Zusammenfiigung entrissen. Diese Ge-
barde des einsamen Emporgehobenseins iiber jede Wirklichkeit, die jedes
Werk notwendig besitzt, gibt ihm seine Geltungsqualitie als Geschaffenes:
die Erlebnisnotwendigkeit des Geschaffenseins entsteht also aus dem Aufsich-
beruhen des Werkes, aus seiner villigen Negation jedes Aufersichs; es darf
bei aller normativen Unmittelbarkeit seiner Geltung weder als »Natur«, als
Gewachsenes, spontan Entstandenes, noch als von Ewigkeit her An-sich-
Seiendes (oder Geltendes) wirken, denn beide Nuancen eines derartigen un-
erschaffenen Gesetztseins wiirden es wesensnotwendig in einen iibergreifen-
den, dem Werke selbst transcendenten Zusammenhang einfiigen, es seiner
Wesensart als Werk entkleiden. Dieser struktive Tatbestand hat zur ersten
wichtigen Folge, da8 der notwendig mitgesetzte Schépfer ebenfalls ein
Sinngebilde sein mu8, dessen »Existenz« in der Asthetischen Sphire auf
dieser seiner Funktion, Bedingung der Méglichkeit des Werks zu sein, be-
ruht, der also mit der empirisch-seienden Person des Schipfers schlechter-
dings nichts zu tun hat: es ist das stilisierte Subjekt der Asthetik, das am
Ende der Phinomenologie als Resultat ihres Umwandlungsprozesses erreicht
wird. Das stilisierte Subjekt der Phinomenologie hat diese Isolation des
Werkes zu leisten; das rein nach innen gekehrte, nirgends iiber sich hinaus,
nach aufen weisende Wesen des Werks ist ja nur ein anderer Aspekt seiner
lauter formalen Wesensart, denn jede andere Form, die auf ein Material,
also auf etwas Wesensfremdes bezogen ist, mu notwendig eine sich selbst
transcendierende Tendenz in sich haben, Indem also das stilisierte Subjekt
der Asthetik in der Phinomenologie entsteht, indem sein Entstehen die Ab-
wendung vom Erlebnis als Sein und seine Verwandlung in Erlebnissinn bei
Bewahrung der unmittelbaren Fiille ist, wird die Bedingung der Méglichkeit
des Werkes erfiillt: das Erlebnisniveau dieses stilisierten Subjektes hat jedes
sinnesfremde Material vertilgt, hat das Materialhafte an sich, das hic et
nunc des Erlebens in lautere Form verwandelt. Jedoch — und die Betonung
dieser Seite ist fiir die Struktur der Asthetik von gréfter Wichtigkeit — nur
das Niveau ist hiermit erreicht, worauf die asthetische Setzung vollzogen
werden kann, nur die Bedingungen der Méglichkeit des Werkes sind zur
Evidenz gebracht, das Werk selbst beharrt diesem Niveau gegeniiber in der
unerreichbaren Transcendenz des absoluten Wertes. Denn aus der phino-
64 Heidelberger Asthetik

menologischen Verwandlung selbst kann die Seinsbezogenheit, als Akt der


Abwendung vom Sein, worin das Sein wesensnotwendig gesetzt ist, niemals
eliminiert werden, fiir das phinomenologische Subjekt bleibt dieser Proze8
der Ablésung des Erlebnisses von seiner Seinsbezogenheit notwendig ein
unendlicher Proze8, der als Proze& niemals zur wirklichen, zur vollendeten
und restlosen Erfiillung fihren kann. Diese Erfiillung kann nur im seins-
freien Formgebilde, im auch vom schaffenden Subjekt abgeldsten Werk
(bezugsweise auf subjektivem Niveau: in der Kontemplation des fertigen
Werkes) gegeben sein. Das phinomenologische Subjekt ist deshalb vom Ob-
jekt seiner Intention, vom Werk durch den absoluten Abgrund, durch den
Sprung getrennt. Dieser Abgrund, der Abgrund zwischen Sein und Sinn,
liegt fiir die anderen Geltungssphiren an ihrem Eingang: darum ist die
phanomenologische Methode fiir sie sinnlos und undenkbar; ohne diesen
Abgrund wiirde auch die Asthetik auf dem Seinsniveau verharren und die
Erlebnishaftigkeit ihrer Setzung wiirde zu einer Art von Psychologie wer-
den. Die Asthetik jedoch als wahre Geltungssphire kennt genauso wie
Theorie und Ethik den Abgrund und den ihn iiberwindenden Sprung, ihre
Einzigartigkeit zeigt sich nur darin, da& der methodische Ort des Abgrunds
und des Sprunges ein anderer ist: der Ort zwischen Phinomenologie und
Werklehre.
Mit dieser Erkenntnis ist aber die methodische Funktion der Phinomeno-
logie noch nicht erschépft, denn das Geschaffensein ist nur eine, wenn auch
entscheidend wichtige Geltungsqualitat des Werks, die sein Fiirsichbestehen,
sein Dasein als geschlossenes Sinngebilde erklaren und unterstreichen, aber
nicht aufheben soll. Das geschaffene Werk ist als zeitlos-geltendes Sinn-
gebilde gesetzt und seine Qualitat als Geschaffenes geht restlos in die Ge-
schlossenheit der zeitlosen Gelrung auf, so da die Geltung selbst, ungeachtet
dieser ihrer spezifischen Qualitit, genauso unabhiingig von allen, auf sie
gerichteten subjektiven Akten bleibt, wie die theoretische, und in einer der
theoretischen Sphare ahnlichen Distanz der Unberithrbarkeit ihnen gegen-
tiber verharrt. Dadurch ist das Werk wesensnotwendig als Objekt der
Kontemplation gegeben und aus der Struktur der asthetischen Sphare erfolgt
mit derselben Wesensnotwendigkeit, da& der Ort des Abgrundes, des
Sprunges fiir die asthetische Kontemplation derselbe sein mu& wie fiir den
Schaffensproze&; da die asthetische Kontemplation geradeso den Akt der
Abwendung von der Seinsbezogenheit des Erlebnisses voraussetzt wie der
Schaffungsproze&, ihre Erfiillung aber — geradeso wie dieser — nur im
fertigen Werk und nicht in sich selbst erhalten kann; da& dieser Akt der
Asthetische Setzung 65

Abwendung vom Sein, der in der reinen Kontemplation als Zuwendung auf
das vollendete Werk vollzogen wird, geradeso eine Bedingung der Maglich-
keit des Werkes, also Aufgabe der Phanomeenologie ist, wie die im Schaf-
fensprozef angedeutete Verwandlung des Subjekts; da& auch hier ein stili-
siertes Subjekt zu entstehen hat. Die asthetische Phinomenologie zeigt mit-
hin — und hier unterscheidet sie sich abermals scharf von der metaphysi-
schen — eine klare Bifurkation: das stilisierte Subjekt der Asthetik zeigt
zwei voneinander grundverschiedene Typen, die in der Phanomenologie
zur Evidenz gebracht werden sollen: den Schaffenden und den Receptiven,
Wahrend aber die Entstehung des Schaffenden in Wahrheit ein — an sich —
unendlicher Proze ist, der von dem Sprung jah und transcendent abgeris-
sen zur Entstehung des Werks fihrt, ist die Verwandlung des »ganzen
Menschen« der Erlebniswirklichkeit in den auf das vollendete Werk zuge-
wandten Menschen »ganz«, in die Bereitschaft der reinen Receptivitat, ein
mehr negativer, an und fiir sich weitaus diirftiger und der eigenen Erfiillung
noch unfahiger Akt: er ist—wieviel Komplikation er im Einzelnen auch auf-
weisen mag — doch die blo&e Abwendung vom Sein des Erlebens und die
bloBe Zuwendung auf den im Werk bereits objektivierten Erlebnissinn: die
Deduktion der Bereitschaft als Bedingung der Méglichkeit der Geltung des
Werks. Daf auch fiir die auf das receptive Subjekt bezogene Geltung des
Werks die stilisierte Wesensart dieses Subjekts Bedingung der Méglichkeit
der Geltung selbst ist, folgt aus der normativen Unmittelbarkeit und Erleb-
nishaftigkeit des asthetischen Wertes. Ware das auf das Werk gerichtete
Subjekt der »ganze Mensch« der Erlebniswirklichkeit, so miiSte das Werk
fiir es als Seiendes gegeben sein und in dem Erlebnisstrom dieses Niveaus
untertauchen; wenn aber die Verwandlung fiir dieses Subjekt, wie in der
Theorie, uno actu vollziehbar ware, so miifte das Wesen der so entstehen-
den Subjektivitit erlebnisjenseitig und ihr Gegenstand damit zum theore-
tischen Gegenstand werden. Die im Stilisierungsproze8 der Phanomenologie
entstehende Bereitschaft sorgt fiir ein Niveau des Subjektverhaltens, wo
weder das Material eine Bezogenheit auf das Sein, noch die Form eine
Transcendenz auf Erlebnisjenseitiges hat, wo also die Unmittelbarkeit und
Erlebnisimmanenz, als Folgen der gegensatzlos formalen Wesenheit des
Werks, erfiillt zu werden vermdgen. So leer an und fiir sich diese Bereit-
schaft auch sein mag — sie ist als der reinste aufweisbare Typus der Kontem-
plation eben Hingabe schlechthin, nichts als Zuwendung zu einem vollig
unabhingig und geschlossen entgegengeltenden Sinngebilde —, so ist sie doch
fiir die Geltung des Werks unentbehrlich: seine Isolation jedem Sein gegen-
6 Heidelberger Asthetike
iiber ist so absolut, ist eine derart vollendete Bezichungslosigkeit zu jedem
Sein, da es die selbstandige Emporhebung der ihm zugewandten Subjekti-
vitit notwendig voraussetzt. Denn jeder — freilich geltungsmafige —
Zwang, den der asthetische Wert auf die Subjektivitit auszuiiben fahig ware
(etwa im Sinne der Theorie), wiirde eine Bezichbarkeit der Geltung auf
Nichtgeltendes voraussetzen und damit die asthetische Setzung aufheben.
Damit die gegensatzlose Form des Werks verwirklicht werde, muf die Zu-
wendung der receptiven Subjektivitit eine ganz spontane, nicht vom Werk
ausgehende, mit einem Wort Bereitschaft sein. Das fordernde Wesen der
Subjektivitat gegeniiber tritt in der asthetischen Sphare nur in Kraft, wenn
die Bereitschaft schon erreicht ist, wahrend fiir die Theorie das Sollen, das
der Wert ausspricht, sich direkt an den »ganzen Menschen« der Erlebnis-
wirklichkeit richtet und ihn, uno actu, in das theoretische Subjekt verwan-
delt. Das Werk an sich steht ganz Beziehungslos zu jedem Sein und die
Bereitschaft mu erreicht werden, damit es sich mit seinem Sollen an das
Subjekt wenden kénne. Diese Notwendigkeit der Bereitschaft fiir die Gel-
tung des asthetischen Wertes weist auf eine andere seiner Geltungsqualitaten
hin, die viel zu auffallend ist, um da sie nicht bereits von manchen er-
kannt worden ware; darauf, da& der asthetische Wert keine erzwingbare
Geltung besitzt, da& also sein Leugnen, das Nicht-eintreten-wollen in die
asthetische Sphare keinen Selbstwiderspruch enthilt, wie etwa die Position
der absoluten Skepsis fiir die Theorie. Ob es Kant gelungen ist diesen
Selbstwiderspruch fiir den kategorischen Imperativ als Urtatsache der ethi-
schen Setzung nachzuweisen, mu unerértert bleiben, ebenso auch alle Pro-
bleme der Struktur, die sich aus dieser Wesensart der asthetischen Sphire
ergeben, hauptsichlich da& hierdurch die Allgemeingiiltigkeit des asthetischen
Wertes unberiihrt bleibt, da& die Unerzwingbarkeit der Geltung nicht mit
einer Willkiir oder Anarchie innerhalb der Geleungssphire gleichbedeutend
ist. Wichtig ist hier blo& diese struktive Sachlage und ihre notwendige
methodische Consequenz: die Demonstration der Bereitschaft als Bedingung
der Méglichkeit fiir die asthetische Geltung, die als zweite Aufgabe der
asthetischen Phanomenologie erscheint.
Damit sind jedoch noch nicht alle Méglichkeiten des MiSverstandnisses
fiir die asthetische Phinomenologie beseitigt; wenn sie sich nunmehr,
wenigstens als Programm, sowohl von jeder Art Psychologie wie von der
modernen Phanomenologie klar abhebt, so kann sie doch eventuell mit
einem Teil der allgemeinen Geltungsanalyse verwechselt werden, der in
der modernen Logik, wenn auch selten in scharfer Abgrenzung von ande-
Asthetische Setzung 67

ren Teilen, eine bedeutsame Rolle spielt: mit der Disciplin, die Rickert
als subjektiven Teil der Logik, als transcendentale Psychologie bezeichnet,
als deren Funktion er bestimmt, da sie ein »Mittelreich« zwischen tran-
sceendentem und immanentem Niveau, zwischen reinem Sinn und bloSem
Sein bilden soll?®. Dieser Teil der Logik, von dem Rickert mit Recht
betont, da® er sich sehr weitgehend mit Kants Verfahren deckt, muf
zwar an Urspriinglichkeit der Geltung dem »objektiven« Teil den Primat
iiberlassen, ist aber fiir die Theorie, wenn sie das ganze Problem der Er-
kenntnis nicht ausschalten will, doch unvermeidlich, weil das Niveau des
»immanenten Urteilsinnes« ein Niveau ist, das »obwohl es gewif
mehr als einen psychischen Proze8 bedeutet, immer auch ein psychischer
Prozef ist...« Die Méglichkeit einer Verwechslung von Phanomenologie
und transcendentaler Psychologie in der Asthetik liegt umso naher, weil
diese Fragestellung Rickerts auch in der Asthetik als véllig gerechtfertigt
erscheint, weil es in der Asthetik ebenfalls eine transcendentale Psycholo-
gie geben muff. So wie in der Theorie zwischen dem Niveau des reinen,
des »objektiven« Geltens und zwischen dem seiner subjektbezogenen Be-
schaffenheit ein Unterschied gemacht werden soll, so ist es notwendig in
der Asthetik das Werk an sich von den darauf bezogenen subjektiven
Akten, vom Schaffen und von den verschiedenen Stufen der Receptivitat
zu unterscheiden. Und so wie in der Theorie das erstgenannte Niveau
zwar als das urspriingliche, ungekiinstelte, die wahre Gegenstindlichkeit
der Sphire unverfalscht representierende erscheint, dafiir aber dem
»realen« Proze& der Erkenntnis vollig entriickt ist, so ist auch fiir die
Kethetik das Werk an sich die einzige wahre Erscheinungsform des unge-
triibten Wertes, das aber in die »Realitit« nur als utopische Wirklichkeit,
nur als angemessener Gegenstand des Erlebens, nur als auf einen ProzeS
des Schaffens und der Receptivitit Bezogenes herabsteigen kann. Damit
ist fiir die Asthetik in dieser abgekiirzt-programmatischen Weise die Not-
wendigkeit und der methodische Ort einer Transcendentalpsychologie
klar geworden: es miissen die normativen, aus dem Wesen der Sachlage
der Geltung sich ergebenden Méglichkeiten und Typen der Subjektver-
haltungen zum Werk und die Gegenstindlichkeitsverinderungen, die sie
normativ in dem ihnen zugeordneten Werk hervorbringen, dargelegt
werden, d. h. es mu gezeigt werden, da die Mannigfaltigkeit der psy-

19 Vrgl. Gegenstand der Erkenntnis. 3. Aufl. [Tibingen, Mohr. rgrs.] 296 ff.
68 Heidelberger Asthetik

chischen Verhaltungsmdglichkeiten zum Werk, in der die Asthetik auf


dem Boden der »Realitit« erscheint, eine vom Standpunkt des dstheti-
schen Geltens wohlgeordnete Mannigfaltigkeit ist, die metapsychologisch-
normative, apriorische Typen und Moglichkeiten der abgeldsten, auf das
Subjekt bezogen Gegenstindlichkeit des Werkes aufweist. Diese Mannig-
faltigkeit ist freilich im Gegensatz, zur Theore ein novum — schon den
Gegensatz vom Schaffenden und Receptiven kennt sie nicht, und erst
recht nicht die Abstufungen der Receptivitat -, sonst ist aber die metho-
dische Stelle und Bedeutung der Transcendentalpsychologie fiir beide
Sphiren die gleiche: sie setzt die Erkenntnis der »objektiven« Sphiren
voraus und dient dazu, in der Realerscheinung der Sphire die wirklich-
keitsjenseitige, die wertverbundene und sinnhafte Seite aufzuzeigen.
Wahrend aber fiir die Theorie es keine Lebensfrage ist, an der »Voraus«-
setzung des »objektiven« Niveaus auch darstellerisch streng festzuhalten,
ist dies fiir die Asthetik unumginglich notwendig. Denn erstens kénnte
die klare Ablésung des Metapsychischen vom Psychischen hier, wo auch
das Sinnhafte erlebnishaft ist, sonst unméglich vollzogen werden, da die
Typologie der Méglichkeiten sich nur vom erkannten Werk aus ergeben
kann, und zweitens mii®te durch Voraussetzen der Transcendentalpsycho-
logie diese mit der Phinomenologie notwendig verwechselt werden. Diese
Verwechslung ist umso niaherliegend als es sich in beiden Teilen der
Asthetik um den metapsychischen Sinn handelt, der von wirklich oder
scheinbar psychischen Akten abzulésen ist, und ist umso gefahrlicher, als
sonst nicht die geringste methodische Verwandschaft zwischen ihnen vor-
liegt. Ganz kurz gefa&t lassen sich diese Unterschiede so bestimmen: die
Phanomenologie steht begrifflich »vor« dem Werk, sie ist die Demon-
stration der Bedingungen der Méglichkeit der asthetischen Setzung, sie hat
also eine Intention auf den Vollzug der asthetischen Setzung, wahrend die
Transcendentalpsychologie — ebenfalls begrifflich - »nach« dem Werk
liegt, indem sie die normativ-apriorischen Modifikationen der Gegenstind-
lichkeit des Werks aufzeigt, die auf dem Niveau dieser subjektbezogenen
Geltung notwendig entstehen. Die Phinomenologie ist also, wie bereits
gezeigt wurde, der Verwandlungsproze8 des seinsbezogenen Erlebnisses
in reinen Erlebnissinn, wahrend die Transcendentalpsychologie eine Typo-
logie der dem Werk zugeordneten Erlebnisméglichkeiten anstrebt; jene
ist ein Prozef, eine Reihe, diese eine Typologie, jene stellt ihre Stufen-
folge als hierarchisches Ubereinander und Auseinander in die Richtung auf
das zu setzende Werk auf, diese kennt keine Stufenfolge oder Hierarchie,
Asthetische Setzung 69

sondern einander nebengeordnete, apriorische Méglichkeiten. Darum mu


die Transcendentalpsychologie an die auch »real«-méglichen Verhaltungs-
weisen zum Werk ankniipfen (z. B. Kenner, Kritiker etc., in der recep-
tiven Typologie), wenn sie auch selbstredend keinesfalls an ihre even-
tuelle realwissenschaftliche Typik gebunden ist, wahrend die Phinomeno-
logie rein apriorisch verfahrt: nur der Ausgangspunkt beim »ganzen
Menschen« der Erlebniswirklichkeit und das Endziel, das transcendente
Werk sind ihr gewissermafen gegeben, sonst dient ihr jeder Hinweis auf
eine »reale« Erfiillungsméglichkeit ihrer Stufen nur als Beispiel, als Illu-
strationsmaterial. Wenn also auch in beiden Teildisciplinen der Asthetik
von wesensnotwendigen Subjektverhaltungen und ihren apriorisch zuge-
ordneten Gegenstindlichkeiten die Rede ist, so sind diese doch in beiden
véllig verschieden. Fiir die Transcendentalpsychologie ist die Gegenstind-
lichkeit stets nur die Modifikation des gesetzten, des geltenden Werkes
an sich, fiir die Phinomenologie hingegen die Objektivation einer Annihe-
rungsstufe an die Setzungsmiglichkeit des Werks, der notwendige Gegen-
stand, den ein bestimmtes Niveau dieses Prozesses zu setzen vermag, der
aber prinzipiell nie mit dem Werk selbst identisch sein kann, da er ja einer
noch nicht vollendeten Intention auf das Werk seine Gegenstandlichkeit
verdankt. Diese Unméglichkeit, das Werk selbst in der Phinomenologie
zu setzen, reicht so weit, daf ihr selbst der Abschlu&, das Erreichen des
stilisierten Subjekts der Asthetik — des Menschen »ganz« sub specie der
Erfiillbarkeit des Erlebnisses - nur die Méglichkeit der Setzung des Werks
iiberhaupt bedeutet, sie nur bis zum Sprung, der Werk und dsthetische
Subjektivitat voneinander trennt, hinfiihrt: das konkrete Werk an sich
bleibt der Phanomenologie véllig transcendent. Um die Spiegelung des
konkreten Werkes an sich in den normativ zugeordneten Subjektivitaten
erblicken zu konnen, muf dieses auf seinem »objektiven« Niveau bereits
erkannt sein, was nur in der wesensnotwendig nach der Werklehre liegen-
den Transcendentalpsychologie méglich ist. Daraus folge als wichtigste
inhaltliche Unterscheidung der beiden Teildisciplinen, daf in der Phino-
menologie der Schaffende, in der Transcendentalpsychologie der Recep-
tive die bedeutsamere Rolle spielt. Erstens weil fiir die Bedingung der
Maglichkeit der asthetischen Setzung der Schaffungsproze8 von gréferer
Wichtigkeit ist als die mehr negative, wenn auch unerla8liche Bereitschaft
des Receptiven, wahrend im erreichten Werk sein Geschaffensein nur
eine Geltungsnuance unter vielen anderen ist. Zweitens weil die Intention
auf das Werk im Schaffensproze8 eine sehr mannigfaltige Stufenfolge zeigt,
yo Heidelberger Asthetik
die auBerst wichtige Formschichten des Werkes selbst, wenn auch in ande-
rer Schichtung als im Werke an sich, zur Klarheit bringt, wihrend die
Abwendung vom Sein im Receptiven auf das Werk selbst kein Licht zu
werfen vermag. Dagegen mu vom erreichten Werk aus gesehen das
Schaffen etwas sehr einfaches, dem Werk — relativ - problemlos Zuge-
ordnetes erscheinen und die wichtigen und verwickelten Probleme der
Geltung miissen sich als Probleme der mdglichen Receptivitatsformen, als
Probleme der Auffassungsméglichkeiten des Werkes erweisen. Bei aller
Khnlichkeit auf den ersten Blick teilen sich also Phinomenologie und
Transcendentalpsychologie ihren Gegenstinden und Methoden nach villig
voneinander und ihre Unterscheidung zeigt den aus dem Wesen der
Sache folgenden Aufbau der Asthetik nunmehr in voller Klarheit als die
Reihenfolge von Phinomenologie, Werklehre und Transcendentalpsycho-
logie, die sich naturgemif in die Stufenfolge gliedert: der Weg zur astheti-
schen Setzung, die Setzung, wie sie an sich ist, und die Setzung, wie sie
sich in den normativen Subjektivitaten spiegelt.
3
Alles bisher Ausgefiihrte leidet unter der unvermeidlichen Schwierigkeit,
standig Probleme der Systematisation behandeln zu miissen, ohne das Pro-
blem des Systems selbst aufzuwerfen, geschweige denn zur Klarheit ge-
bracht zu haben. Diese Schwierigkeit mu aber notgedrungen auch fiir das
Spitere ungehoben bleiben: wenn es auch unméglich ist irgendeine Frage
der Philosophie losgelést vom systematischen Zusammenhang zur wirklich
erfiillten Klirung zu filhren, so ist es geradeso unméglich vor dem Aufwer-
fen einer jeden Einzelfrage der Philosophie — und sei sie fiir sich betrachtet
noch so bedeutsam — auf die Frage des philosophischen Systems abschlieSend
zu antworten. Freilich enthilt jede richtig gestellte Frage und jede richtig
gegebene Lésung implicite den Aufbau des ganzen Systems, ja als in Wahr-
heit magebendes Kriterium ihrer Richtigkeit kann nur diese ihnen implicite
innewohnende Idee des Systems betrachtet werden, so da wie speziell die
Fragestellung auch klingen mag, letzten Endes doch stets das ganze System
mitgemeint ist und der Ausspruch Friedrich Schlegels*: ». . . fangt die Philo-
sophie doch immer in der Mitte an, wie das epische Gedicht« sich als feine

* [Athendumsfragmente. 84, Prosaische Jugendschriften. Hrsg. von F. Minor. Wien, Kone-


gen. 1906. Bd. I. S. 216.]
Asthetische Setzung 7

Erkenntnis dieser struktiven Sachlage zeigt. Diese Erkenntnis kann aber die
Schwierigkeit, vor der wir stehen, nicht heben, sie mu8 sie vielmehr noch
folgenreicher machen. Denn unsere Aufgabe kann nur darin bestehen, die
Voraussetzungen und das Wesen der asthetischen Setzung aufzudecken, und
das Aufwerfen der Frage nach dem Wesen des ganzen Systems, in dem diese
Setzung ihre methodische Heimat findet, mii&te den Rahmen dieser Frage-
stellung vollig sprengen. Andererseits aber setzt unsere Fragestellung einen
ganz bestimmten Typus der Systematisation voraus und kann nur inner-
halb einer solchen Systematisation wirklich sinnvoll verstanden und gedeutet
werden; es ist aber nicht blo aus duferlichen Griinden ganz ausgeschlossen,
diese Fragen hier, wenn auch noch so fragmentarisch aufzuwerfen und ihre
Lésung zu unternehmen. So mu die Position eines andeutenden Dogmatis-
mus angenommen werden: d. h. es kann blo& der Systemrahmen skizziert
werden, der unsere Lasungsversuch der Asthetik umspannt, ohne auf die
Fragen, die sich dabei ergeben, irgendwie eingehen zu kénnen.
Diese vorausgesetzte System ist, wie aus dem Obengesagten wohl schon
sowieso hervorgegangen ist, in den meisten entscheidenden Punkten dem
Kantischen sehr nahe verwandt. Seine Grundthesis ist, die freilich bei Kant
selbst nicht immer in voller Klarheit zum Ausdruck kommt, die véllige
Unabhangigkeit voneinander und die véllige Unableitbarkeit auseinander
samtlicher autonomen Setzungen. Dies bedeutet den schirfsten Gegensatz
zu dem Systemtypus der grofen Nachfolger Kants, fiir die jede Sphiire nicht
als von sich — und nur von sich — aus begriindbar erscheint, wie im Wesent-
lichen bei Kant selbst, sondern innerhalb des einheitlich-homogenen Systems,
durch dessen einheitlich-homogene Methode deduziert, konstruiert oder dia-
Iektisch hervorgebracht wird. Daraus folgt, daf fiir diesen Systemtypus die
Erkenntnis einer bestimmten Setzungsart mit der Erkenntnis ihrer Stelle im
ganzen System zusammenfallt, wahrend fiir die andere Art der Systemati-
sation die Begriindung einer bestimmten Sphare eine vollstandig andere
Dimension der Fragestellung erfordert, als das Problem des systematischen
Zusammenhangs der einzelnen Spharen. Unsere Position, auf deren Folgen
im Spiateren noch oft zuriickzukommen sein wird, besagt in diesem Fall
soviel, da die wirkliche Begriindung einer autonomen Wertsphire nur auf
dem Kantischen Weg méglich ist, da& der Primat des Systems vor der Spha-
re ihre Autonomie und damit die Absolutheit ihrer Wertsetzung notwendig
aufheben mu8. Denn das einheitlich-homogene System kann seinem Wesen
nach nur ein theoretisches System sein (wobei freilich die Méglichkeiten:
geltend-theoretisch, metaphysisch-theoretisch oder die Synthese beider dahin-
72 Heidelberger Asthetik

gestellt bleiben) und gegen diesen notgedrungenen Primat des Theoretischen


kann dann weder die Ethik, noch die Asthetik ihre wahre Autonomie retten:
sie werden zu einem Systemglied herabgesetzt und selbst wenn die inhaltli-
che Fiille ihrer einzelnen Probleme restlos vom System aufgenommen wird,
mu gerade das Wesen ihrer Autonomie, die Einzigartigkeit ihrer Gegen-
standlichkeit notwendig von der theoretischen Transposition iiberdeckt und
verborgen werden. Dagegen mu der andere Typus der Systematisation da-
von ausgehen, daf die theoretische Transposition, die die asthetische, be-
zugsweise ethische Setzung in der Asthetik und in der Ethik erhalten, eben
nur eine Transcription ihrer origindren Geltungsart ist. Zu der asthetischen
und ethischen Geltung tritt durch ihre philosophische Erkenntnis nichts hin-
zu; selbst die Annahme, daf sie dadurch zur Selbstbesinnung, zur Klarheit
gebracht werden, erscheint als ein ungerechtfertigter Pantheoretismus, wenn
bedacht wird, daf& die wirkliche asthetische oder ethische Selbstbesinnung
doch nur im 4sthetischen oder ethischen Akt erreicht werden kann, da
dessen Normgemafheit, Klarheit, ja Selbstbewuftheit (freilich nicht im
theoretischen Sinn) sich im originaren Gerichtetsein auf den atheoretisch-
autochtonen Wert vollstindig zu erfiillen vermégen. Durch die theoretische
Transposition entsteht also — gerade qua Geltung — nichts Neues fiir Asthe-
tik und Ethik: es wird nur eine begriffliche Fassung — eine Ubersetzung
kénnte man sagen — fiir die Geltung, so wie sie sich originar ergibt, gefun-
den, und die begriffliche Transposition ist damit vor die paradoxe Aufgabe
gestellt, sich selbst bei jedem Schritt quasi aufzuheben: durchsichtig zu wer-
den und iiberall die Geltung, so wie sie an sich — im atheoretischen, »logisch
nackten« Zustand — ist, unverfalscht durchscheinen zu lassen. Von dieser
‘Aufgabe villig verschieden erscheint das Problem des Systems als Ganzes
betrachtet: wenn alle originaren Setzungen als vollzogen und ihre Struktur
als erkannt gedacht werden und die systematische Reflexion darauf aus-
geht, die Beziehungen und Zusammenhinge aufzudecken, die die einzelnen
Spharen miteinander verbinden. Da8 dieses System — fiir welches freilich
die theoretische Setzung genauso eine einzelne Sphire ist, wie die ethische
oder die asthetische — eine ganz andere Dimension der Fragestellung erfor-
dert, als die Erkenntnis der einzelnen Sphiren, erhellt sich schon daraus,
daf es iiber die Spharen hinaus fragt, d. h. die Spharen, so wie sie sind,
unangetastet 1a&t und den in ihren Sinngebilden und Sinnestotalitdten nie-
dergelegten Sinn nochmals zum Problem macht, indem es ihren systemati-
schen Sinn aufzufinden bestrebt ist. Aus alledem wird es verstandlich wer-
den, daf diese Untersuchungen, die in villiger BewuStheit den Kantischen
Asthetische Setzung 73

Typus der Systematisation als einzig méglichen zur Begriindung autonomer


Wertspharen voraussetzen, nur auf die erste Fragestellung eine Antwort
suchen und das Problem der Stellung des dsthetischen Wertes in einem
System samtlicher Werte (oder seine Stellung zur metaphysischen Wirklich-
keit) gar nicht aufwerfen; alle Bezogenheiten auf andere Sphidren dienen
stets nur dem Zweck: die originare Einzigartigkeit der asthetischen Setzung
in voller Klarheit herauszuarbeiten.
Schon das oben angegebene Programm einer dsthetischen Phanomenologie
ging von dieser Voraussetzung aus: die metaphysische Phanomenologie He-
gels mufte die Totalitat alles Erlebbaren und Erkennbaren umfassen und
eine einheitlich-homogene Hierarchie in der Richtung auf den alles umfas-
senden und zum Bewuftsein bringenden absoluten Geist organisieren, wah-
rend unsere asthetische Phianomenologie alle Intentionen mit Ausnahme der
asthetischen, ganz als ob sie iiberhaupt nicht vorhanden waren, vollig unbe-
riicksichtigt 1a&t und in gerader Linie von dem »ganzen Menschen« der
Erlebniswirklichkeit auf das stilisierte Subjekt der Asthetik zueilt, so da&
ihre Einheitlichkeit und Homogeneitét keine allgemein-systematische, son-
dern eine spharenimmanent-asthetische ist. So ist die asthetische Phanomeno-
logie, statt auf das Centrum der philosophischen Systematisation, auf die
Urgegebenheit der asthetischen Sphare, auf das Kunstwerk orientiert. Hier
muf sich jedoch wieder die Frage erheben: ist wirklich das Kunstwerk als
Urform der asthetischen Geltung anzusehen und welche Art seiner Gege-
benheit darf mit Recht als Urtatsache, als Urform der Sphare aufgefafe
werden? Wenn wir das Schénheitsproblem auch programmgemaf vorlaufig
beiseite lassen, so kann trotzdem gegen eine derart radikale Centralstel-
lung des Werkes Einspruch erhoben werden, etwa von einem Gedankengang
aus, der zwar im Kunstwerk die einzige wahre Gegebenheit des asthetischen
Prinzips auf dem Boden der Wirklichkeit erblickt, die Quelle der astheti-
schen Geltung jedoch um eine Etage héher, in den Regionen der reinen
Wirklichkeitsferne, der lauteren Formhaftigkeit suchen zu miissen glaubt.
Ungefahr so wie die »Gegebenheit« fiir die Theorie auch in den Urteilen
der wissenschaftlichen (oder eventuell vorwissenschaftlichen) Erkenntnis lie-
gen mag, das Suchen nach der Urform der theoretischen Geltung muf jedoch
— in jeder erkenntnistheoretischen Fragestellung — iiber dieses Niveau hin-
ausgehen und die ganz eigene und reine Sphire der Theorie als wahre Quelle
ihrer Geltung aufsuchen. Es muf also fiir die Asthetik gefragt werden, ob
es moglich ist iiber das Kunstwerk auf diese Weise hinauszugehen, ob das
Kunstwerk zum eigentlich Asthetischen wirklich so steht wie die Einzel-
74 Heidelberger Asthetik

wissenschaft zur Erkenntnistheorie oder ob wir es hier mit einer radikal


anderen Struktur, die keine Analogie dieser Art zula&t, zu tun haben? Der
Impuls, die Region der eigentlichen, unverfalschten Geltung fiir die theore-
tische Sphare in einem Jenseits der wissenschaftlichen Objektivationen zu,
suchen, stiitzt sich auf zwei scheinbar voneinander unabhingige, in Wahr-
heit aber tief zusammenhangende Strukturtatsachen dieser Sphire: erstens
auf den sachlichen Primat der einheitlichen, »gemeinsamen« Urregion der
Theorie (wo immer auch diese gesucht oder gefunden werden vermag) vor
ihren Differentiationen und zweitens auf die Méglichkeit durch die erkennt-
nistheoretische Fragestellung, die die »Formen« der Einzelwissenschaften in
Material verwandelt, eine neue Schicht rein theoretischer Kategorien zu er-
langen, die sich dann als die mit dem Wert selbst naher und inniger ver-
bunden nachweisen laft. Fiir unser Problem kommt es darauf an, zu zeigen,
daf die Asthetik von beiden Gesichtspunkten aus gesehen eine véllig andere
Struktur hat, daf also ihr gegeniiber dieser transcendierende Impuls unge-
rechtfertigt erscheint, d. h. statt zum wahren Wesen der Sphare zu fihren,
aus ihr herausfithren muf.
Das erstgenannte Problem kann am schnellsten an dem Gegensatz der
konstitutiven ynd der methodologischen Kategorien im Sinne Rickerts klar-
gestellt werden 2°, Die Annahme einer »objektiven Wirklichkeit«, die von
den konstitutiven Kategorien bestimmt ist, deren Analogien, wenn auch
stets mit geringerer Klarheit als bei Rickert, sich in jeder Erkenntnistheorie
nachweisen lassen, beruht darauf, da&-die Differenzierungen der theoreti-
schen Sphare in den Wissenschaften, deren jede eine eigene Welt aufbaut,
stets »Bearbeitungen« und »Umbildungen« der einen, der »objektiven«
Wirklichkeit sind; da& jede von ihnen eine, von einem bestimmten Interesse
bedingte Stellungnahme zu der einen »objektiven« Wirklichkeit voraussetzt
und damit — im Vergleich zu den konstitutiven Kategorien dieser Schicht —
sich in einer gréReren Distanz zu ihr befindet. Diese Distanz hat zur ersten
und wesentlichsten Folge eine Strukturkomplikation: neben (oder eher iiber)
den Kategorien, die zum Aufbau einer jeden Wirklichkeit notwendig sind,
neben den konstitutiven Kategorien baut sich eine andere Schicht der Kate-
gorien, eine Begriffsbildung im buchstablichen Sinne auf: Kategorien, die
ihre Gesetztheit und ihre Objektivitat dem Erkenntnisziel der Sphire ver-
danken, die methodologischen Kategorien. Ihre Differentiation geschieht

20 Vrgl. Gegenstand der Erkenntnis, 3, Aufl. 406 ff.


Asthetische Setzung 75

nach den verschiedenen Erkenntniszielen jeder speziellen Sphire, da sie aber


auch, wie jede theoretische Setzung, auf Wahrheit und Erkenntnis orientiert
sind, miissen sie neben der Intention auf ihre speziellen Erkenntnisziele zu-
gleich eine Intention auf Erkenntnis iiberhaupt und damit auf deren Substrat
und Aufgabe, auf die eine »objektivee Wirklichkeit haben, Ein Hinausgehen
iiber das Kunstwerk als Urtatsache der asthetischen Geltung miifte also zu
einer Analogie dieser struktiven Tatsache fiihren: letzten Endes zu der An-
nahme einer einheitlichen, asthetischen »objektiven« Wirklichkeit, der gegen-
iiber den einzelnen »Wirklichkeiten«, die die Werke gestalten, eine blo&
methodologische Valenz und Objektivitat zukommen kann; d. h. die Ge-
setztheiten der Werke miiften nicht nur auf ihre selbstgesetzten Wirklich-
keiten intentionieren, sondern auf eine gemeinsame »objektive« Wirklichkeit,
deren asthetische Kategorien fiir sie alle als Grundlage ihrer speziell-metho-
dologischen Setzungen wesensnotwendig wirksam sind. Eine solche Stellung
der Frage ist aber, nach allen bisher Ausgefiihrten, gleichbedeutend mit ihrer
ablehnenden Beantwortung, denn — um nur das Augenfialligste hervorzu-
heben — schlie&t die immanent insichgeschlossene Wesensart des Kunstwerks
jede, den verschiedenen Kunstwerken (oder Kunstarten) gemeinsame »ob-
jektivee Wirklichkeit aus. Ihre Setzung, die mit der Setzung einer auf sie
gerichteten Intention Squivalent ist, wiirde die Immanenz des Werks und
damit das Werk selbst notwendig aufheben, da sein Wesen, wie wir wissen,
gerade darauf beruht, daft es als einzige Wirklichkeit und alles, was »auSer
ihm« liegt, in einem ganz radikalen Sinn als nichtseiend gesetzt wurde.
Wenn wir also eine struktive Analogie des Konstitutiven und des Methodo-
logischen in der Asthetik suchen, so kommen alle Kennzeichen des Konstitu-
tiven dem Werke selbst zu: es ist die einfache, schlichte asthetische Wirklich-
keit, deren Setzung nichts weiter als die des Wertes voraussetzt, wahrend
alle anderen Erscheinungsformen des Asthetischen (Kunstarten, Kunst iiber-
haupt, das Asthetische als Prinzip etc.), ahnlich wie die methodologischen
Schichten in der Theorie, mit diesen schlicht-asthetischen Kategorien nicht
auskommen kénnen und zu ihrem Aufbau des Hinzutretens anderer spezi-
fischer Kategorien bediirfen. Wahrend also fiir die Theorie die Einheit als
die schlicht-originare Region ihres Gesetztseins erscheint, der gegeniiber jede
Differentiation eine Entriickung, eine Distanz bedeutet, ist in der Asthetik
die duferste Differentiation, das schon unaufléslich Singuldre, das einzelne
Kunstwerk diese Region der schlicht-originaren Erscheinungsform der Sphare
und in jeder Zusammenfassung oder Integration muf ein methodologisches
Abriicken von der Schlichtheit, eine distanzierte Komplikation vorhanden
76 Heidelberger Asthetik

sein. Diese Sachlage, die nur deshalb paradox scheint, weil wir allzusehr an
die theoretische Struktur gewohnt und darum geneigt sind, alles davon
Abweichende aus der Perspektive dieser Abweichung, also als Umkehrung
einer »natiirlichen« Sachlage zu betrachten, ergibt sich in sehr einfacher Evi-
denz aus der Betrachtung des Kunstwerks, wie es an sich ohne Riicksicht
auf andere Setzungsméglichkeiten gegeben ist. Die asthetische Form ist, wie
bereits hervorgehoben wurde, gerade in ihrer originaren Erscheinungsweise
stets als Form eines bestimmten Inhalts zu denken, zudem eines Inhalts,
dessen Wesen seine Formartigkeit, sein Nichthinausweisen aus dem geschlos-
senen Formgebilde notwendig mitbedingt. Daraus folgt, da das »Einzelne«,
das »Singulare« auf diesem Niveau der Asthetischen Setzung in keinerlei
Gegensatzverhiltnis zu einer »Allgemeinheit« irgendwelcher Art stehen
kann; ja die ganze Entgegensetzung des »Einzelnen« und des »Allgemeinen«
hat fiir diese Setzung jeden Sinn verloren: alles, was hier als geltendes
Formgebilde gegeben ist, ist unzertrennbar zugleich »einzeln« und »allge-
mein«, ist eine symbolische Individualitat, eine kanonische Singularitat, und
zwar in einer Weise, da die methodische Art der Symbolik, des Kanoni-
schen gerade in der Singularitat selbst liegt. Diese Struktur darf keinesfalls,
wie es oft geschieht, mit der »individualisierenden Begriffsbildung« der Ge-
schichtswissenschaft verwechselt werden; ganz abgesehen von ihrer metho-
dologischen und nicht konstitutiven Wesensart kontrastiert das Geschichtlich-
Individuelle normgema& mit einer ganzen Reihe von Formgruppen, die ihm
gegeniiber notwendig relativ oder absolut »allgemein« sind, schon darum,
weil alle geschichtlichen Individualitaten in einer gemeinsamen Wirklichkeit,
in der geschichtlichen stehen, die wenn auch mit der »objektiven« Wirklich-
keit nicht identisch ist, so doch ihnen gegeniiber eine ihr ahnliche Funktion
zu erfiillen hat. Dagegen handelt es sich hier um eine Setzungsart, in der
jeder derartige Kontrast aufgehoben ist, diese ganze Entgegensetzung ihren
Sinn verloren hat und nur in der theoretischen Transposition als coinciden-
tia oppositorum und nicht als schlichte, differenzjenseitige Einheit — wie in
der origindren Gegebenheit selbst — vorkommt.
Dieser Gedankengang fithrt zu der Urstruktur der asthetischen Setzung
zuriick: das Prinzip der Erlebbarkeit, als Grundprinzip dieser Setzung,
und ihr vollendet in sich abgeschlossenes Wesen als seine notwendige
Folge bedingen das hier blo& in neuen Wendungen Wiederholte: das
Kunstwerk tragt seine Werthaftigkeit immanent in sich, es ist zugleich
Wert und Wertrealisation, seine Individualitat, seine Singularitat kann
mithin in keiner blo&en Beziehung auf den Wert bestehen, sondern muf
Asthetische Setzung 77

der — gestaltgewordene - Wert selbst sein. Wenn auf diese schlicht-


originire Gesetztheit des Werkes reflektiert wird, so erscheint es nicht
mehr als paradox, wenn gesagt wird, da& das Werk, gerade wie es an
sich ist, ein einzelner, ein isolierter, ein singularer Wert ist, da seine
Zugehérigkeit zu einer Kunstgattung, seine »Subsumierbarkeit« unter
den Begriff der Kunst Strukturkomplikationen sind, die eine ahnliche
Entfernung vom schlichten Tatbestand der asthetischen Sphire bedeuten,
wie jene Differenzierungen in der theoretischen Sphire, die die methodo-
logischen Begriffsbildungen hervorbringen. Freilich: in jeder Setzung
eines jeden singularen Werks ist seine Kunstgattung und selbstverstind-
lich auch die Kunst iiberhaupt mitgesetzt, jedoch — und dies ist das hier
Entscheidende — dieses Mitgesetztsein ist von der Singularitat der einzel-
nen Setzung nicht loslésbar. Jedes Kunstwerk »gehdrt« einer Kunst-
gattung an, »reprasentiert« die Kunst tiberhaupt, sofern — aber nur so-
fern ~ es ein in dieser seiner Singularitit selbstgeniigsam geschlossenes
und vollendetes Kunstwerk ist; die »iiber« das singulare Kunstwerk sich
aufbauenden Sphiren umfassen es nicht, wie die methodologischen Wis-
senschaftsschichten und die eine »objektive« Wirklichkeit alle singuliren
Urteile der theoretischen Sphare umfassen, sondern sind in seiner Singu-
laritat unabtrennbar mitenthalten. Diese Schichten selbst entstehen durch
ein Hinausgehen iiber die schlicht-originare asthetische Setzung: durch das
Erkenntnisinteresse der Kunsttheorie und der Asthetik, das das einer
Gruppe von Setzungen oder der ganzen Sphire »Gemeinsame« aufzu-
finden bestrebt ist. Der Hinweis auf ein solches, die Kunstgattung be-
griindendes Prinzip, wie etwa die Fiedlersche »reine Sichtbarkeit« fiir
die bildende Kunst, kann die Sachlage am leichtesten kliren. Wir stehen
dabei vor folgendem Dilemma: entweder ist die reine Sichtbarkeit als
asthetische Geltungsform aufzufassen, dann gibt es eine — dsthetische -
sichtbare »objektive« Wirklichkeit, auf die alle Werke der bildenden
Kunst als auf ihre gemeinsame Grundlage intentionieren, wodurch ihr
Werksein aufgehoben und die kiinstlerische Tatigkeit in eine Art von
Wissenschaft, in die Erforschung der Welt der Sichtbarkeit verwandelt
wird (wie dies bei Fiedler geschieht). Oder wir gelangen zur Einsicht, da
es eine reine Sichtbarkeit als derart gemeinsame Grundlage der bildenden
Kunst nicht geben kann, da& es im originar-asthetischen Sinn nur die
singuliren Sichtbarkeiten der singularen Werke gibt, da die Fiedlersche
reine Sichtbarkeit nur aus einer, iiber das schlicht Asthetische hinaus-
gehenden Fragestellung entstehen kann, daf sie ein Begriff, etwas Theore-
7 Heidelberger Asthetik

tisches ist. Das Dilemma zeigt also von neuem das Problem der dstheti-
schen Geltungsform als Form der Erlebbarkeit: wire die Fiedlersche Auf-
fassung (und vollends eine, die in einer Kunst iiberhaupt die asthetische
Geltungsform erblickt) die richtige, so miifte im Kunstwerk, wie es an
sich ist, etwas blo& Seiendes erblickt werden, das durch sein »Teilhaben«
an dieser Geltungsform und dadurch in eine »objektivee Wirklichkeit
eingefiigt auf das Niveau des Sinnes erhoben wird. Fiedler selbst ist auch
zu solchen Folgerungen gezwungen: »Und damit hingt es endlich auch
zusammeng, sagt er®! »daf die kiinstlerische Arbeit immer eine fragmen-
tarische bleiben mu8. Sie stellt sich dar als ein immer und iiberall sich
wiederholender, zu den verschiedensten Graden des Gelingens fiihrender
Versuch, in das Gebiet des sichtbaren Seins vorzudringen und es in ge-
stalteter Form dem Bewufttsein anzueignen... Die Aufgabe der Kunst...
bleibt immer dieselbe, im ganzen ungeldste und unldsbare, und muf
immer dieselbe bleiben, solange es Menschen gibt.« Dadurch erhilt die
asthetische Sphire eine theoretische Struktur, wobei das »Gestalten« ein
zweideutiger und Aquivocationen verursachender Terminus wird: einer-
seits soll es das Glied in einer Annaherungsreihe an eine gemeinsame und
darum einheitlich erfa&bare »objektive« Wirklichkeit sein, deren Gesetzt-
heit aber jedes Gestalten iiberfliissig macht, denn der Akt des Gestaltens
enthalt wesensnotwendig eine iiber sich selbst nicht hinausweisende Inten-
tion, eine Intention, die mit deren, die auf eine »objektive« Wirklichkeit
orientiert sind, schon deshalb unvereinbar ist. Andererseits ist durch den
notwendigen Uberschu& an Selbstindigkeit, den ein noch so herabge-
stimmter Begriff des »Gestaltens« im Vergleich zu den Gliedern einer
Anniherungsreihe haben muf, die theoretische Wesensart der »objekti-
ven« Wirklichkeit getriibt: um den selbstindigen Gegenstindlichkeiten
des »Gestaltens« gegeniiber doch den Primat bewahren zu kénnen, mug
sie selbst ins Metaphysische, ins Uberseiend-Gegenstindliche, ins Ideen-
hafte, im Sinne einer platonischen Ideenwelt, erhoben und ihrer nur
geltenden Wesensart entkleidet werden. Diesem — platonischen — Dilemma
der asthetischen Sphire, das uns noch viel beschaftigen wird, kann auch
Fiedler nicht entgehen; so sehr sein Bemiihen darauf gerichtet ist, die
rein kiinstlerische Essenz der Kunst rein herauszuarbeiten, mu seine
Konstruktion ins Platonische umschlagen in allen Momenten, wo er ge-

a1 Schriften iber Kunst I. [Miinchen, 1913] 327-8.


Asthetische Setzung 79

zwungen ist tiber das Werk, als einzige Urform des asthetischen Geltens,
hinauszugehen. »Wenn nun das, was der Dichter schildert, was der bil-
dende Kiinstler darstellt, keinem Vorgange, keiner Erscheinung gleich
ist«, sagt er®® »... wo hat man den Mafstab, mit dem man den Kiinstler
messen kénnte? ... man mu an der Hand des Kiinstlers die driickende
und triibe Enge des eigenen Bewuftseins zu verlassen suchen, man muf
sein eigenes Bewuftsein.zu dem Weltbewuftsein erweitern und steigern,
welches in den grofen Werken der Dichter, in den Gebilden der Maler
und Bildhauer niedergelegt ist.«
Der Aufbau der asthetischen Sphire ist dementsprechend so zu denken:
als schlicht-originire Gegebenheit erscheint das einzelne und isolierte
Werk, dessen zugeordnete Subjektsbegriffe ebenfalls als auf sein singu-
lares Geradesosein gerichtete Subjektivitatsakte bedingt sind, in dessen
Aufbau sdmtliche Kategorien der eigentlich asthetischen Setzung enthalten
sind, die aber auch zu seinem Gesetztsein vollstandig ausreichen. Seine
Homogeneisierung des Erlebnisstromes — die Folge der Verwandlung des
seienden »ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit in den sinnhaften
Menschen »ganz« sub specie der Erlebniserfiillung — ist nicht blo& die
Homogeneisierung auf z.B. »reine Sichtbarkeit«, die dabei oder daneben
individuelle Wesenszeichen aufweist, sondern ist eine bestimmte, qualitativ
einzigartige und unvergleichliche »reine Sichtbarkeit«, der — so wie sie
an sich ist — die Vergleichbarkeit mit anderen »reinen Sichtbarkeiten«,
die zusammenfassende Zuordnung zu ihnen vollstandig fernliegt, so daf
diese Zuordnung nur unter der Bedingung des Verlassens dieser Geltungs-
weise iiberhaupt méglich wird. Und noch in viel schrofferer Weise be-
steht dieser Primat des schlicht asthetischen Wesens dem allgemeinen Be-
griff der Kunst gegeniiber; schon Fiedler hat ja klar erkannt, daf der
Kunstgattung — der Kunst iiberhaupt gegeniiber — der Primat an Wesens-
nihe zum Urfaktum der Asthetik zukommt, wenn er betont?s, da es
»nicht eine Kunst im allgemeinen, sondern nur Kiinste gibt«, nur da er
bei diesem, der Urschichtung zwar naherliegenden, dieser selbst gegeniiber
jedoch dennoch distanzierten Niveau stehen bleibt. Die scheinbare Para-
doxie, da die Integration eine Entfernung von der Urstruktur bedeutet
und des Hinzutretens neuer — erkenntnismafiger — Momente zum schlich-

22 Ebd. 178-9
23 Ebd. 184
80 Heidelberger Asthetik

ten Tatbestand der asthetischen Geltung bedarf, wird ganz klar, wenn
bedacht wird, da& jede Integrationsstufe die »unter« ihr liegende, die
der Singularitét naherstehende voraussetzt und nicht umgekehrt, wahrend
im Bereich der Theorie das sachliche Prius stets in der Richtung der Ent-
fernung von der Singularitit zu suchen ist. Um ein Geltungsniveau wie
die »reine Sichtbarkeit« setzen zu kénnen, miissen Kunstwerke in quali-
tativer Einzigartigkeit bereits gesetzt sein und ihre — qualitativ einzig-
artige, erlebnishafte - Geltung darf nicht aufgehoben werden, damit
aus ihnen das »Prinzip«, das ihnen »gemeinsam« ist, herausgehoben
werden kénne. Dieses »gemeinsame Prinzip« ist freilich keine blo&e Ab-
straktion, kein bloes heuristisches Prinzip zur »Erklarung« der »Wir-
kung« der einzelnen Werke: es bestimmt ein ganz eigenes Niveau der
Betrachtung der dsthetischen Struktur, es hat seine eigene, bestimmte,
von aller Empirie unabhingige Aprioritit (liber die spater ausfithrlich
gesprochen werden soll), aber es ist dem schlichten Gelten des Werks ge-
geniiber doch sekundar, abgeleitet und distanziert. Die Paradoxie dieses
Niveaus beruht darauf, daf dabei, um das Wesen der reinen Qualitat,
die in der asthetischen Setzung erscheint, zu erfassen, von allem Qualita-
tiven, das seinen methodischen »Ort« ja doch nur in der Einzigartigkeit
haben kann, abstrahiert werden muf, wodurch das so erfafte »Wesen«
sich von dem wirklichen Wesen der Geltung, das in der originiren Set-
zung in schlichter Selbstverstandlichkeit gegeben war, notwendig entfernt:
aus der Wesensauftassung der Kunsttheorie ist es unméglich adaquat zu
dem schlichten Wesen der asthetischen Geltung im Werke herabzusteigen,
dieser Auffassung gegeniiber verharrt es stets in einer unaufléslichen
Irrationalitat, bleibt — nach dem Wort der Kunstlehre des XVIII. Jahr-
hunderts - ein »je ne sais quoix, wahrend ihre Richtigkeit unabweislich
das — von ihr sachlich unabhingige — Gelten der einzelnen Kunstwerke
voraussetzt. Diese Struktur hat in der Theorie kein Analogon. Denn die
Unmiéglichkeit, etwa von einer formalen (oder auch transcendentalen)
Logik aus zu der »sachlichen« Richtigkeit oder Falschheit der einzelnen
Urteile zu gelangen, beruht auf einer vdllig verschiedenen Sachlage.
Erstens kann diese Unméglichkeit als blo anthropologische gefaft wer-
den, die fiir einen »erkenntnistheoretischen Gott« nicht vorhanden ist,
wihrend es hier um eine wesensnotwendige Unmidglichkeit, die auch fir
einen »dsthetischen Gott« vorhanden wire, handelt; zweitens weist diese
»Irrationalitit« der einzelnen Urteile auf die aus dem Bereich des Seins
stammende Urteilsmaterie, wo es doch in der Asthetik keine formfremde
Asthetische Setzung 81

Materie geben kann; drittens aber — und dies ist das Entscheidende — hat
trotz dieser »Irrationalitat« die »allgemeine« Sphare den sachlichen Pri-
mat: die Geltung jedes einzelnen Urteils setzt die Logik voraus, wahrend
die Geltung des einzelnen Kunstwerks — gerade qua Geltung — den in der
Kunsttheorie isolierten Prinzipien gegeniiber die Wesensprioritat hat. Mit
alledem soll freilich die in der Kunsttheorie (oder in der allgemeinen
Asthetik) erlangbare Erkenntnis keineswegs herabgesetzt, es sollte blo&
die Kluft, die jede Erkenntnis iiber asthetische Geltung von dieser selbst
trennt, klar herausgearbeitet werden. Heute erscheinen alle alten Kunst-
lehren, die ihre Erkenntnisse als »Regeln« des asthetischen Schaffens oder
Geniefens aufgefaft haben wollten, als anmafend oder komisch, es darf
aber nicht vergessen werden, da diese Komik nur dann begriindet ist,
wenn die Kluft zwischen asthetischer Erkenntnis und originarer astheti-
scher Geltung zur vollen Klarheit gebracht wurde. Denn ist in irgend-
einer kunsttheoretischer oder asthetischer Einsicht nur die Spur der Ver-
wischung dieser Kluft vorhanden, ist die Annahme nicht a limine abge-
wiesen, da& die Kategorien der Kunsttheorie oder Asthetik eine struk-
tive Prioritat vor den Aufbaukategorien des Werks selbst haben kénnen,
so bleibt dem Sinne nach, wenn auch uneingestanden und sogar verleug-
net, die alte, scheinbar iiberwundene Struktur bestehen: eine »objektive«
Wirklichkeit der Kunst diberhaupt (oder der Kunstgattung), deren Kate-
gorien fiir das einzelne Kunstwerk konstitutiv, seine Gegenstandlichkeit
als Kunstwerk bestimmend und nicht blo& methodologisch, d.h. auf das
Erkenntnisziel der Asthetik (oder Kunsttheorie), auf die Erkenntnis der
Kunst iiberhaupt (oder der Kunstgattung) orientiert sind.
Mit dieser Verlegung der konstitutiven Region der isthetischen Geltung
auf das Kunstwerk ist die zweite Frage dem Wesen nach auch beant-
wortet. Die Méglichkeit, ja die Notwendigkeit der Aufwerfung der Frage
nach dem quid juris der asthetischen Geltung soll selbstredend nicht ge-
leugnet werden, aber der wesentliche Unterschied in der Stellung des
Kunstwerks zur Asthetik im Vergleich zu der der Einzelwissenschaft zur
Erkenntnistheorie zeigt sich darin, da& hierbei keine neue — asthetische -
Formenwelt entstehen kann, wahrend die erkenntnistheoretische (und
phanomenologische) Fragestellung fiir die Theorie das Erlangen einer
ganz neuen — theoretischen — Formenwelt bedeutet, in der die theoretische
Gegenstindlichkeit in einer Reinheit und Wahrheit erscheint, die ihrer
Erscheinungsform nach dem Niveau der Seinserkenntnis mindestens eben-
biirtig ist. Mit anderen Worten: eine »Logik der Philosophie« bedeutet
82 Heidelberger Asthetik
eine Erweiterung der theoretischen Geltungssphiare iiber die blo®e Seins-
erkenntnis hinaus, bedeutet die Entstehung neuer theoretischer Struktur-
verhiltnisse, Kategorien usw., geht also ihrem sachlichen Wesen nach weit
iiber das Interesse, das in ihrer Ursprungsfrage niedergelegt ist, weit
tiber die »Selbstbesinnung« der Seinserkenntnis hinaus. Dagegen kann
die Asthetik prinzipiell niemals mehr als diese »Selbstbesinnung« re-
presentieren; ja selbst der Begriff dieser »Selbstbesinnung« bedarf der
einschrinkenden Korrektur, da sie die theoretische Reflexion iiber den
Tatbestand der dsthetischen Geltung bedeutet, da sie also nicht nur
keine neue asthetische Formenschicht hervorbringt, sondern ihrem Wesen
nach tiber das Originar-Asthetische hinausfiihren und in das Bereich der
Theorie hineinfiihren mu&. Daran wire noch an und fiir sich genommen
nichts Merkwiirdiges: ist ja die erkenntnistheoretische Reflexion der Me-
thode der Seinserkenntnis gegeniiber auch durchwegs heterogen, so daf
die hier aufgezeigte Diskrepanz des Schlicht-Asthetischen und der theore-
tischen Reflexion iiber das Wesen des Asthetischen nur eine Steigerung
der Heterogeneitat, nicht aber eine radikal verschiedene Struktur zu
zeigen scheint. Und doch ist hier eine durchaus prinzipielle und nicht
mehr graduelle Verschiedenheit vorhanden. Denn wenn auch jede er-
kenntnistheoretische Reflexion die problem-diesseitige Schlichtheit. einer
jeden Gegebenheit aufheben und sie zum Problem machen muf, so ge-
schieht dies in der Theorie auf dem gleichen Boden, so da& das Zum-Pro-
blem-werden nur eine Ubergangsstufe wird, die zur gelésten Problema-
tik, zur wahren Selbstbesinnung der theoretischen Attitiide fihrt, wah-
rend in der Asthetik’ das Problematisch-werden durch die notwendige
Transposition ins Heterogene der Theorie eine Problematik anzeigt, die
als Problematik — allerdings blo fiir die theoretische Transposition —
wesensnotwendig unaufhebbar bleibt. Das Problem selbst, um das es sich
hierbei handelt, kann an dieser Stelle nur angedeutet werden, seine Be-
handlung wird an vielen — man kénnte sagen: allen — Stellen der aus-
fiihrlichen Analyse der Geltungsstruktur der Asthetik wiederkehren.
Kurz gefa&t kann die Sachlage so formuliert werden: Das normativ
asthetische Verhalten ist ein reines Erlebnis. Das Erlebnis ist jedoch
seinem Begriffe nach ganz subjektsgebunden (wenn wir jetzt auch bereits
wissen, da® dieses Subjekt nichts Ichhaftes an sich haben darf) und ist
darum, ebenfalls per definitionem, fiir jedes Subjekt ein prinzipiell ver-
schiedenes und in dieser Verschiedenheit — gerade darin, worin es der
Norm der Asthetik entspricht, also reines Erlebnis ist - prinzipiell nicht
Asthetische Setzung 83

mitteilbar. Nun muf aber jede erkenntnistheoretische Fragestellung ihrem


Wesen nach auf das Gemeinsame und darum adaquat Mitteilbare der nor-
mativen Subjektsakte gerichtet sein, weshalb sie in der Asthetik, statt die
selbstgeschaffene Problematik auflésen zu konnen, bei der Konstatierung
ihrer prinzipiellen Unauflésbarkeit enden mu&. Sie mu& die Paradoxie
feststellen, da& die asthetischen Akte zwar ihre Objekte in der von der
asthetischen Norm vorgeschriebenen Weise, also als reines Erlebnis, er-
fassen, da& aber ihre »Gemeinsamkeit« gerade nur in dem Begriff dieses
reinen Erlebnisses, d. h. in ihrer prinzipiellen und unvergleichbaren Diffe-
renz zueinander begriindet liegt. Das asthetisch adiquate Ergreifen des
Objekts bedeutet also vom Standpunkt der Theorie eine notwendige
Inadaquatheit: alles, was fiir die Theorie die Eindeutigkeit, ja selbst die
Gegenstindlichkeit des Objekts begriindet, ist hier wesensnotwendig aus-
geschaltet und fiir die asthetische Adiquation vermag die sie zur »Selbst-
besinnung« bringende Theorie kein Kriterium darbieten. Denn diese radi-
kale Unvergleichbarkeit der asthetischen Akte einander gegeniiber mu&
sie vom Standpunkt der Theorie in die Nahe des blo8 Seiend-Erlebnis-
haften riicken: so gut es struktiv méglich ist, den Begriff des nichtseien-
den Erlebnissinnes iiberhaupt von dem Erlebnis als Sein iiberhaupt fern-
zuhalten, so sehr ist es unméglich, diese konstitutiven Formen der Asthe-
tik - theoretisch - zu einer solchen Klarheit zu bringen, die eine An-
wendung der erkannten Formen als Kriterien den asthetischen Akten
gegeniiber gestattet. Mit anderen Worten: eine consequente Erkenntnis-
theorie der Asthetik muf — eben weil sie Erkenntnistheorie der Asthetik
ist — zu einem Agnosticismus fiihren: ob ein »Erlebnis« einem »astheti-
schen« Objekt gegeniiber wirklich asthetisch, also nicht Erlebnissein, son-
dern Erlebnissinn ist, ist von der Asthetik aus prinzipiell unerkennbar.
Das asthetische Erlebnis verharrt seiner Selbstbesinnung in der Asthetik
gegeniiber in einem unaufhebbaren Incognito; was bereits von Kant* in
dem Ausspruch, da es kein objektives Prinzip des Geschmackes geben
kann, dem Wesen der Sache nach tief und richtig erkannt, wenn auch
nicht durchwegs gliicklich begriindet wurde.
Denn die normative Unmittelbarkeit und Erlebnishaftigkeit des asthe-
tischen Aktes, die ja Kant meint, wenn er* davon spricht, da% ein ob-

24 Kritik der Urteilskrafe § 34. [Werke. Hrsg. von E. Cassirer. Bd. V. S. 359:]
* (Ebd.)
84 Heidelberger Asthetik
jektives Prinzip dieser Art »schlechterdings unméglich« ist, »denn ich
muf unmittelbar an der Vorstellung desselben die Lust empfinden, und
sie kann mir durch keine Beweisgriinde angeschwatzt werdene, bedeutet
keinesfalls eine subjektivistische Willkiir und Anarchie in der asthetischen
Sphire. Und Kant sieht mit tiefem Instinkt das Problem in der Auf-
deckung der subjektiven Bedingungen, die ein solches Verhalten notwen-
dig begriinden, wenn er auch im Konkreten, wie spiter 2u zeigen sein
wird, doch stets einer Theoretisierung der asthetischen Sphire zutreibt.
Der Schein einer solchen subjektivistischen Willkiir, der durch das radikale
Verwerfen jedes Kriteriums der Giiltigkeit entsteht, hebt sich jedoch,
wenn bedacht wird, da das blo&e Erlebnis von etwas Seiendem und das
reine Erlebnis des gestaltgewordenen Erlebnissinnes nur von der Warte
der Theorie aus ununterscheidbar sind, sonst aber eine wesensnotwendige
Correlation zwischen den gestaltgewordenen Erlebnissen (Werk) und
zwischen dem reinen Erlebnis als auf es gerichteten Akt vorliegt, so da8
ein reines Erlebnis nur dem Werk gegeniiber méglich ist. Da& das Ver-
haltnis sich nicht umkehren lat, da& also dem Werk gegeniiber nicht nur
reine Erlebnisse méglich sind, folgt einerseits aus der Unerzwingbarkeit
der asthetischen Geltung, andererseits aus der Erlebnishaftigkeit des Ver-
haltens, aus dem daraus entstehenden »Incognito«, bedeutet aber fiir das
hier entscheidende Problem keine wesentliche Verwickelung. Denn das gel-
tende Wesen des Werks ist ein Gesetztsein als Erlebnissinn: wird es also
nicht im Akt des reinen Erlebnisses erfaft, so hért es in solchen Akten
eben auf ein geltendes Sinngebilde zu sein, es wird ins Sein riickverwan-
delt; das Bild wird etwa eine bemalte Leinwand, die als solche durchaus
dem Sein angehdrt, da darauf Dargestellte zum Sinnbild eines physisch
oder psychisch Existenten usw. All dies jedoch, da es ein villiges Heraus-
treten aus der asthetischen Sphire bedeutet, kann mit dem wirklichen
Problem von Willkiir oder Normgemafheit nichts zu tun haben; Riick-
verwandlungen der Sinngebilde ins Sein sind eben fiir jede Wertsphire
denkbar, wenn ihre Unterscheidbarkeit im Theoretischen freilich iiber
ganz klare Kriterien verfiigt. (In der Ethik sind die Verhiltnisse nicht
ganz unahnlich zu der hier Geschilderten; hierauf einzugehen ist aber
an dieser Stelle leider ganz unméglich.) Die vom Werk aus sich ergebende,
eindeutige und normgemafe Correlation zum reinen Erlebnis hat ein
villig eindeutiges und normgemifes Subjekt-Objekt-Verhiltnis zur Folge:
das reine Erlebnis ist ein Kriterium fiir das vollendete Gestaltetsein des
Werks, da es nur dem in sich vollkommenen Werk gegeniiber miglich
Asthetische Setzung 85

ist, da das Versagen der Gestaltung — und sei es in einem noch so »un-
wesentlichen« Punkte — notwendig das reine Erleben aufhebt und das
Sinnverhiltnis in eine Beziehung zum Seienden verwandelt; es ist nur im
Konkreten unméglich aufzuzeigen, wo dieses reine Erlebnis vorliegt. Und
die ebenfalls normative Divergenz der Erlebnisqualitaten in jedem dieser
normgemafen Akte hebt diese Eindeutigkeit keineswegs auf: die Ein-
deutigkeit dieser Akte besteht ja darin, daf in ihnen die Sinnhaftigkeit
des Erlebnisses als Erlebnis realisiert wird. Wenn auch also jeder dieser
Sinn in einer unvergleichlichen Qualitat verwirklicht wird, ist zwar dieser
Sinn niemals »derselbe«, wie in der Theorie (und teilweise auch in Ethik),
sondern normgemaf in jedem Fall verschieden, da der immanente Erleb-
nissinn wesensnotwendig als qualitative Unvergleichbarkeit auftreten
muf. Es ist aber ebenso wesensnotwendig an sein »Objekt«, an das Werk
gebunden, ist keineswegs willkiirlich, keineswegs vom Gefallen des »Sub-
jekts« (worunter hier immer etwas Ichhaftes gedacht zu werden pflegt)
»abhingig«: es ist die normative Funktion zweier vom (ichhaften) Sub-
jekt unabhingiger Sinnesstrukturen, einerseits des Werks wie es an sich
ist und andererseits der — ebenfalls sinnhaften — reinen Subjektivitit des
auf das Werk gerichteten, stilisierten Subjekts der Asthetik, des Menschen
»ganz« sub specie der bestimmten Erlebniserfiillung, die ihm im Werk
entgegengilt.
Der Niveau-unterschied im Bezug auf Reinheit der Geltung, die in der
theoretischen Sphire die neue Kategorienschicht der »Logik der Philo-
sophie« zur Voraussetzung hat, ist jedoch auch in der asthetischen Sphare
vorhanden und man kann mit einer gewissen Berechtigung die hier auf-
gezeigte normative Subjekt-Objekt-Struktur mit der Position der Seins-
erkenntnis vergleichen, nur daf die sich dariiber aufbauende Schicht, die
der »Selbstbesinnung« der Seinserkenntnis in der Erkenntnistheorie ent-
spricht, nicht die Asthetik als Erkenntnistheorie dieser Sphare, sondern
das Werk selbst, in seiner héheren, reineren und noch schlichteren asthe-
tischen Geltung ist: das Werk an sich, unabhingig von jederlei darauf
gerichtetem Verhalten, als absoluter Wert der asthetischen Sphire, als
Mafstab der Richtigkeit der darauf gerichteten Akte, fiir die es selbst
— dies ist das niedrigere Niveau seiner Geltung — nur als Gegenstand des
asthetischen Verhaltens gilt. Dies kénnte nun den Anschein erwecken, als
ob das so geforderte Werk an sich gerade das aufgegebene Objekt der als
Erkenntnistheorie gedachten Asthetik ware. Daf aber das asthetische
Werk an sich keineswegs mit dem Gegenstand der Asthetik identisch ist,
86 Heidelberger Asthetik

erhellt sich, wenn bedacht wird, da& die erlebnishafte Wesensart aus dem
Werk an sich nicht ausscheidbar ist, ohne es seines wahren Wesens zu
entkleiden, wie es dies fiir den Gegenstand der Asthetik als einer theore-
tischen Disciplin durchaus notwendig ist, da8 es vielmehr gerade darum
das reinste Niveau der dsthetischen Geltung vorzustellen befugt ist, weil
in ihm diese reine Erlebnishaftigkeit noch reiner und unverfalschter zum
Ausdruck kommt, als es in der Subjekt-Objekt-Beziehung des (geschaffe-
nen, beziehungsweise genossenen) Werkes méglich wire. Die Paradoxie,
eine reine Erlebnishaftigkeit ohne Subjekt zu denken, hebt sich bei der
Einsicht, da ja bereits die dem Werk zugeordneten Subjektivititen von
durchwegs sinnhafter Struktur sind, daf sie geradeso eine vollkommene
Entfernung von der ichhaften Subjektivitit der empirischen (oder meta-
physischen) Wirklichkeit bedeuten, wie der Desubjektivationsproze8 der
Theorie. Im Gegenteil: diese neue Erlebnishaftigkeit ohne Subjekt, das
Niveau des Werkes an sich, bedeutet gerade das Niveau der Selbstver-
wirklichung der ganz reingewordenen Subjektivitit, die nicht einmal mehr
eines »angemessenen« Objektes — was das Werk fiir die normativen Sub-
jektivititen ist — bedarf, um sich zu verwirklichen, um zur Gestalt zu
werden. Diese neue Subjektivitit ohne Objekt, die das Werk an sich
representiert, iiber die an anderer Stelle ausfiihrlich gesprochen werden
soll, der absolute Wert der Asthetik in seiner adiquaten Verwirklichung,
enthalt also die wirklichen, rein sinnhaften Kategorien der dsthetischen
Sphire, ist die »Selbstbesinnung«, die fiir die normativen Subjektsakte,
als hdheres und echteres Niveau von néten ist. Wenn es »uns« mdglich
wire, auf diesem Niveau des reinen Erlebens zu erleben, so wire das
Kriterium der Richtigkeit oder Falschheit der auf das Werk gerich-
teten Subjektsakte — asthetisch ~ durchzuschauen: die Angemessenheit an
diese reine Subjektivitét enthalt die — asthetische — Beantwortung der
quid juris Frage dieser Sphire. Daf dies — uns — unmidglich ist, andert
garnichts an der struktiven Sachlage, geradesowenig wie die Tatsache, da
»ungedachte« Wahrheiten ebenfalls unvorstellbar sind, deren wesensnot-
wendiges Gegebensein fiir die theoretische Sphire nicht alterieren kann.
Diese Unméglichkeit macht aber andererseits die Asthetik als theoretische
Strukturanalyse, als Erkenntnistheorie der asthetischen Sphare méglich
und notwendig. Die Asthetik gibt das Werk an sich in einer theoretischen
Transposition und macht daraus, was es in schlichter Selbstverstindlich-
keit representiert, die paradoxen Strukturbeziehungen eines blo& denk-
baren Sinngebildes. Daraus folgt, da& die Asthetik keine neue asthetische
Asthetische Setzung 87

Formenschicht hervorzubringen vermag: sie macht blo& die Kategorien


des transcendenten Werkes an sich - fiir »uns« — erfa&bar und hat die
Aufgabe, durch ihre theoretische Transposition hindurch dessen originire
Struktur so unverfalscht wie méglich sichtbar werden zu lassen. Wenn
also aus diesem Grunde — weil die Kategorien des Werkes an sich nur in
dieser Weise zur Erscheinung zu bringen sind — die quid juris Frage der
asthetischen Sphire auch in der Asthetik beantwortet wird, so sind es
doch nicht die Kategorien der Asthetik, sondern ihre »Urbilder« im
Werk an sich, auf denen die Geltung der Sphare wirklich beruht. Dies
bestimmt die eigentiimliche Stellung der Asthetik zur Urstruktur ihrer
Sphiare: einerseits steht sie dem Centrum, dem absoluten Wert, dem
transcendenten Werk an sich am niachsten von allen méglichen Attitiiden,
denn nur in ihr wird es wirklich zum Gegenstand erhoben und als sol-
cher ergriffen und erkannt, andererseits aber ist sie weiter davon entfernt
als alle anderen Attitiiden, denn diese haben eine Intention auf den asthe-
tischen Wert in seiner origindren Geltungsweise, wenn sie ihn auch
— normgema — niemals ergreifen kénnen, wihrend der Asthetik wesens-
notwendig selbst die Intention darauf fehlen muf: sie ist ein rein theore-
tisches Verhalten, in dem jede asthetische Geltung in eine blo%e Material-
position gedringt wird. Die merkwiirdige und sehr verwickelte Frage
von dem Primat der zwischenliegenden Schichten vor der Asthetik selbst,
das Problem Fiedlers etwa, zeigt dabei folgenden Aspekt: alle mehr oder
weniger erkenntnismafigen Attitiiden zum Werk (die des Kenners, des
Kunsttheoretikers, des Kunsthistorikers usw.) stehen der originaren Gel-
tungsform der Asthetischen Sphire naher als die Asthetik selbst und
scheinen deshalb einen Primat ihr gegeniiber zu beanspruchen. Sie sind
aber dem Werk an sich doch viel weiter entfernt als die schlicht astheti-
schen Verhaltungsarten, das Schaffen und das Geniefen, denn sie inten-
tionieren nicht mehr — wie diese — auf das konkrete Werk an sich, son-
dern setzen blo& dieses, fiir sie - doppelt - transcendente Gelten voraus
(in dem Sinn der oben behandelten Irrationalitit): sie sind theoretische
Verhaltungsarten, deren rein theoretisches Wesen jedoch dadurch getriibt
wird, da8 ihr konkretes Gelten unabweislich die Funktion einer meta-
theoretischen und darum unauflésbar »irrationellen« Gegebenheit ist.
Dagegen steht die Asthetik dem Werk an sich direkt, wenn auch in theo-
retischer Transposition gegeniiber: sie hat also die Irrationalitit der
Zwischenschichten iiberwunden (freilich in Folge ihres Verzichtes auf jeg-
liche konkrete Beziehung auf eigentlich Asthetisches): die Asthetik ist im
88 Heidelberger Asthetik
Vergleich zu den anderen theoretischen Verhaltungen zur Kunst véllig
voraussetzungslos, d. h. sie setzt nichts weiter voraus als die Gegebenheit
und die Geltung des Werkes an sich iiberhaupt, nichts weiter als die Un-
ableitbarkeit des absoluten Wertes, der sich in der dsthetischen Setzung
manifestiert. Wenn sie also in ihrer Strukturanalyse die Urfrage der
Asthetik — »es gibt Kunstwerke — wie sind sie méglich?« — beantwortet,
so ist die Geltung ihrer Antwort von dem Gelten der einzelnen Kunst-
werke vollstindig unabhingig, wihrend die Geltung eines jeden Urteils
der Kunsttheorie etwa an deren Geltung gebunden ist; es darf aber nie-
mals vergessen werden, da& das hiermit erkannte Werk an sich nur die
theoretische Transposition des konkret-isthetisch geltenden (und keines-
wegs seienden und nur zur Geltung erhobenen) Werkes an sich ist, da
die paradoxen Kategorien dieses Werkes an sich, bei denen sie anlangt,
seine normative Erlebtheit, seine zeitlose Neuheit, seine paradigmatische
Singularitdt und seine geschlossen-unendliche Totalitét nur hier - in der
Sprache der Theorie - paradoxe Kategorien, in Wahrheit jedoch die
schlicht-konstitutiven, die originar-asthetischen Kategorien des konkreten,
des asthetisch geltenden Werkes an sich sind.
Daf diese einleitenden Bemerkungen nur die Méglichkeit und die abso-
lute Notwendigkeit dieses Weges zur Begriindung der Asthetik aufzeigen
konnten, wird dem umsichtsvollen Leser wohl als selbstverstindlich
erscheinen. Denn nur das ganze System der Asthetik vermag das hier
bereits aufgestellte, platonische Dilemma der Asthetik als unabweislich
hervortreten zu lassen: daf jede asthetische Setzung, die nicht im Werk
- und nur im Werk — die alleinige Urform der dsthetischen Geltung
erblickt, das Werk in etwas Seiendes verwandeln und damit die asthetische
Sphire, als autonome Geltungssphire, aufheben mug, da ihre Autonomie
gerade die Automie des sinnhaft-gewordenen reinen Erlebnisses ist und
jede Fassung der Sphirenstruktur, die nicht im geltenden Werk das wahre
Centrum erblickt, diese Autonomie gefahrden, das Erlebnis heteronom
machen muf. Man ist also vor die Wahl gestellt: entweder diese Geltungs-
struktur mit allen ihren Harten und Paradoxien zu acceptieren oder man
mu darauf verzichten, in der dsthetischen Form eine Geltungsform zu
erblicken. Was dieses Dilemma zu bedeuten hat, wird jedem ohne weiteres
klar, wenn er bedenkt, daf ja einerseits die Geltung des Kunstwerks in
einer nicht wegzuleugnenden Weise uns aufgegeben ist, da® also seine
Aufhebung den Aufbau des ganzen menschlichen Bewuftseins fragwiirdig
macht, und daf andererseits die sonst offenstehenden Wege, die der Psy-
Asthetische Setzung 89

chologie und der Metaphysik, von der Lésung gerade dieses Problems
ihrem Wesen nach ausscheiden miissen. Ob und wiefern »dsthetische Ge-
genstinde« doch zum Gegenstand einer Metaphysik des Schénen oder der
Kunst erhoben werden kénnen, dariiber kann hiermit natiirlich nichts
ausgesagt werden, soll aber auch nicht, da die Beantwortung dieser Frage
- sowohl in bejahendem wie verneinendem Sinn — nichts mit diesem
Problem zu tun haben kann.
go

11, Phénomenologie des schdpferischen und receptiven Verhaltens*

* [Siehe das zweite Kapitel von Lukdcs: Friihe Schriften zur Asthetik I.
Heidelberger Philosophie der Kunst (1912-1914), Werke Bd. 16, Darm-
stadt 1974, S. 43-150 und das Nachwort in diesem Band, S. 253 ff.
(263—267).]
or

t11. Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Asthetik !

Der letzte Sinn der phinomenologischen Verwandlung des unklar-subjekti-


ven Treibens der Erlebniswirklichkeit in das normativ-asthetische Subjekt
des Schaffenden beziehungsweise Receptiven ist: den uniiberbriickbaren Ab-
grund aufzudecken und klarlegen, der dieses Subjekt von seinem zugeord-
neten Objekt trennt. Auf den ersten Blidc scheint hier kaum etwas spezi-
fisch Paradoxes und keineswegs etwas, das das dstehtische Wertgebiet von den
anderen Wertsphiren besonders unterscheiden wiirde, vorzuliegen; gehért
es doch zur Definition jedes absoluten Wertes, da er prinzipiell und seinem -
Wesen nach unerreichbar und unrealisierbar, ein transcendentes Sollen und
eine unendliche Aufgabe fiir das Subjekt ist. Es scheint sogar als ob die
rigoristische Strenge des Ethischen und des Logischen in der Asthetik gemil-
dert erscheinen wiirde: als ob es hier unmittelbare und fiir die begriffliche
Analyse der Sinnesstruktur kaum faSbare Ubergange von der »natiirlichen«
Wirklichkeit in die Welt der Norm gabe. Denn einerseits fehlt hier der un-
endliche Abstand, der Wert und Wertrealisation iiberall sonst voneinander
trennt, der machtvolle Abstand, der alles, dessen das auf den Wert gerich-
tete und in dieser Intention normativ-rein gewordene Subjekt habhaft zu
werden vermag, nicht zu dem Wert selbst gelangen und es nur als daran
»teilhabend«, nur mit seiner transcendenten Weihe »behaftet« gelten lift;
Wert und Wertrealisation fallen vielmehr, gerade nach unserer Fassung der
Ksthetik, die im Kunstwerk den alleinigen Trager des asthetischen Wertes
erblickt, normativ zusammen. Und andererseits ist weder das Ziel der Ver-
wandlung des Subjekts ein iiberpersinliches Bewuftsein iiberhaupt, noch
sind Mittel und Weg dieser Verwandlung eine »Revolution in der Gesin-
nung im Menschen«, sondern eine Steigerung bis zur vollsten Erfiillung
seiner »naturlichen« Wesensart: des unmittelbaren Erlebens. Dennnoch liegt
gerade hierin, wie im bisherigen oft angedeutet wurde, die spezifische Para-
doxie der asthetischen Sphire, ihre von Logik und Ethik so tief verschie-
dene Struktur, deren Eigenart teils wegen ihrer vermeintlichen Nahe zur
Erlebniswirklichkeit von deren Formen verdeckt, teils durch die Formungs-
arten der sich vom Leben schroffer abhebenden und darum begrifflich leich-
ter aufbaubaren Spharen (der Ethik und der Logik) vergewaltigt wurde.

1 [Siche Appendix I.]


92 Heidelberger Asthetik
Das normativ asthetische Verhalten ist ein reines Erlebnis; entweder in der
vollendeten Kontemplation des Receptiven oder in der Aktivitat des Schaf-
fenden, der sowohl vom Erlebnisstrom getragen wird wie ihn stindig mei-
sternd beherrscht. Schon dieser strukturelle Tatbestand, dessen Qualitat und
Aufbau uns nicht mehr fremd ist, zeigt den klaren Abstand, der das asthe-
tische Verhalten und damit engstens verbunden sein Objekt, den Gegen-
stand unserer gegenwartigen Untersuchung, von den entsprechenden Sub-
jekt-Objekt-Beziehungen in Ethik und Logik trennt. Es klingt vielleicht
nicht mehr allzu paradox, wenn wir es so formulieren: im eigentlichen Sinne
gibt es nur im Asthetischen eine wirkliche Subjekt-Objekt-Beziehung, denn
nur hier ist das Erwachsen zur vollendeten Selbstheit und das ungehemmte
Sich-Ausleben von beiden Gliedern des Einandergegeniiberstehens die Er-
fillung der spharenbestimmenden Norm; keines von ihnen soll hier weder
in einen abstrakten Grenzbegriff noch in einen — empirisch allerdings nie-
mals ganz vertilgbaren, jedoch dem adiquaten Gelten der Norm gemaf
zum totalen Verschwinden bestimmten — Erdenrest verwandelt werden. In
der ganz reinen Logik gibt es streng genommen kein Subjekt. Der »Trager«
der wirklich realisierten theoretischen Kontemplation, das urteilende (oder
urteilsjenseitige) Bewuftsein iiberhaupt kann im eigentlichen Sinne des Wor-
tes nicht mehr Subjekt genannt werden; sein Wesen, das Wesen der theore-
tischen »Objektivitat« ist ja die vollendete Befreiung der so entstehenden,
wertvollen Sinngebilde von jeder Subjektivitdt, von allen Spuren und Trii-
bungen, die infolge einer, wie immer gereinigten, logisch gewordenen, sub-
jektiven Einmischung in der reinen Sphare des Theoretischen, im An-sich-
Gelten der wahren Sitze (oder wie immer diese letzten logischen Sinnge-
bilde benannt werden) entstehen. Es wird also eine Objektswelt gefordert,
deren Charakter durch das Aufgehobensein aller Subjektivitét bestimmt
werden kann. Nicht nur die raum-zeitlich-individuelle »Persinlichkeit« ist
aus dieser Welt fiir immer verbannt, nicht nur alles dem Begriff des »Mensch-
lichen« Anhaftende wird aus ihr entfernt, sondern auch die ganz logisch
gewordene reine Subjektivitit ist bestenfalls ein Grenzbegriff, ein Substrat
fiir das Gelten des schlechthin subjektsjenseitigen Wertes. Die mehr oder
weniger strenge Fassung dieser Beziehung (auf deren Fruchtbarkeit oder
Richtigkeit fiir den Aufbau der Logik es hier nicht ankommt) hangt nur
davon ab, ob die utopische, fiir das denkende und urteilende Subjekt nie er-
reichbare, aber dem Wesen der Logik am adaquatesten entsprechende Struk-
tur in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt, oder der Proze& der
Realisierung des Wertes im wahren Urteil, als im allein erfaSbaren Wesen
Subjekt-Objekt-Beziehung 93

erblickt wird, und die Vertilgung des Subjekts, seine Selbstaufhebung im


Bewuftsein iiberhaupt, das Erreichen der logischen Objektivitit als unend-
liche Aufgabe erscheint. In beiden Fallen jedoch ist — trotz der »Kopernika-
nischen« Tat Kants, oder besser gesagt durch sie — ein absoluter und er-
driickender Primat des Objekts dem Subjekt gegeniiber gefordert. In genau
entsprechender Korrelation kann das Subjekt-Objekt-Verhiltnis der reinen
Ethik als ein Vernichten des Objekts gefa&t werden, was freilich die aller-
formellste Subjekt-Objekt-Beziehung, die funktionelle Entgegensetzung von
Relations-»stellen« unberihrt 1i@t. Die Beziehung vom Wert zum Subjekt
charakterisiert sich gerade als das Herausheben des Subjekts aus der Welt der
Objekte, als deren Glied es selbst fiir sich selbst verharren muff, solange
es sich theoretisch verhalt; die Statuierung einer normativen Beziehung, als
deren Glieder einerseits das seinsollende Subjekt des Individuums, insofern
es in sich die praktische Norm verwirklicht, d. h. auf deren Verwirklichung
innerlich gerichtet ist, und andererseits das kreatiirliche, empirische Subjekt,
die »Neigungen« desselben Individuums, die durch die Unterwerfung unter
die Norm niedergehalten und gebandigt, ja letzten Endes niedergeschlagen
und vernichtet werden sollen, erscheinen. Es ware also immer ein uneigent-
licher, sogar Verwirrungen stiftender Ausdruck, wenn man welchem Gliede
immer dieser Beziehung einen Objektcharakter zusprechen wiirde. Das
empirische Subjekt ist zwar das Substrat und das Material des normativ-
ethischen Verhaltens, diese Beziehung ist aber niemals die von einem Sub-
jekt zu einem Objekt. Denn erstens fehlt diesem »Objekt« jede — wie immer
geartete — gegenstandliche Struktur, jede Selbstandigkeit, Abgrenzbarkeit,
Bestimmbarkeit durch einen eigengesetzlichen Aufbau und durch Einfiigbar-
keit in irgendeine Sphare der Gegenstandlichkeit, zu deren anderen Gliedern
es in Beziehung setzbar und hierdurch »objektiv« werden kénnte: es ist
nichts mehr als das unendliche Feld des Wirkens fiir das Subjekt, das sich
die Norm zur Maxime des inneren Handelns gemacht hat, das endlose Ter-
rain des immer erneuten Widerstandes gegen die Norm; es ist an sich form-
und gestaltlos und nur im Widerstande zu — immer wieder gebrochenem und
aufgehobenem — Dasein erwachend; im Ideal ‘der praktischen Vernunft, im
heiligen Willen ist selbst diese negative Existenz vernichtet, der Wille ist
»gegenstandslos« geworden. Freilich muff’ eben deshalb dieser Zustand als
unrealisierbar und die reine Tatigkeit des ethischen Subjekts als unendlicher
Proze& gedacht werden. Zweitens fehlt der Beziehung des kreatiirlichen
Subjekts zum intelligiblen, da es nichts als dessen Handlungssubstrat ist, jede
Art des Gegeniibergestelltseins, des Entgegengeltens, des — als Objekt —
94 Heidelberger Asthetik

Anerkanntwerdenmiissens, worauf sich jede Objektsstruktur aufbaut. Noch


verfehlter ware es, aus der unbedingten Allgemeingiiltigkeit der Norm, aus
ihrer »Objektivitat« darauf schlieSen zu wollen, da sie auch eine Objekt-
konstituierende Wesensart habe, wie dies beim unbedingten Gelten des theo-
retischen Wertes der Fall ist. Diese »Objektivitat« bedeutet nur ein bedin-
gungsloses Sich-Beziehen auf alle Subjekte, ihr absolut notwendiges Zur-
Maxime-werden fiir jedes von ihnen. Aber die Maxime ist fiir jedes Subjekt
eine Maxime der Subjektivitat: durch sie entsteht ja erst die ethische Per-
sénlichkeit, der »Mensch« im Sinne der Ethik; »vor« ihrer Aufnahme in den
‘Willen gab es nur eine form- und gestaltlose Wirrnis kreatiirlicher Neigun-
gen und Instinkte, die sich von den entsprechenden Impulsen der Tiere
prinzipiell nicht unterscheiden und deren individuelle Verschiedenartigkeiten
fiir die Ethik véllig irrelevant sind, mithin kein Subjekt konstituieren. Dies
geschicht gerade durch den Akt der Anerkennung der Norm, durch die
Unterwerfung unter ihre Botmafigkeit, so da die Qualitat ihres Geltens
sich gerade in ihrer Subjekt-schaffenden Wesensart am klarsten offenbart.
Der Begriff der Freiheit, der mit der Setzung des ethischen Subjekts simul-
tan und unzertrennlich gesetzt ist, bezeichnet eben die Aufhebung jedes
Objektcharakters in der ethischen Persénlichkeit; und die inhaltlich am deut-
lichsten fa&bare Folge dieser Struktur der ethischen Sphire lat sich auch so
formulieren: kein Mensch darf als Objekt behandelt werden, da jeder (vom
anderen aus gesehen) die Méglichkeit und (von sich aus geschen) die Pflicht
hat, die Maxime der Ethik in seinen Willen aufzunehmen: zur Persénlich-
keit, zum Subjekt zu werden.
Im Gegensatz zu dieser Privalenz des Subjekts bzw. des Objekts in Ethik
und Logik statuiert die Asthetik ein ruhendes Gleichgewicht zwischen bei-
den. Die neue Beziehung ergibt sich notwendigerweise aus der Ausschaltung
des Unendlichkeitsbegriffes sowohl aus dem Subjekte wie aus dem Objekte.
Denn das Objekt des theoretischen Verhaltens ist, wie immer es im einzelnen
auch formuliert sei, die unendliche Totalitat der Wahrheiten; mag sich auch
das jeweilige — auch aus diesem Grunde stets mehr oder weniger empirisch
getriibte, subjektbehaftete — theoretische Verhalten nur auf einen bestimm-
ten Gegenstand richten: seine theoretische Gegenstindlichkeit, die Miglich-
keit, da& die ihn treffende, aussprechende und konstituierende Aussage des
Wahrheitswertes teilhaftig werde, enthalt implicite die Forderung der Ein-
fiigbarkeit des so erreichten Gegenstandes in den Kosmos der als unendliche
Totalitat gedachten Wahrheitswelt, so da& der Gegenstand, auf den sich
das erkennende Verhalten richtet, eigentlich immer der Inbegriff von samt-
Subjekt-Objekt-Beziehung 95

lichen wahren Aussagen ist. Diese Unendlichkeit des Objekts hat also letzten
Endes sowohl die Tendenz zur Aufhebung der Subjektivitét wie die Ver-
wandlung des realen theoretischen Verhaltens in einen unendlichen und un-
vollendbaren Proze& zur Folge. Denn einem derart aufgebauten Objekt
kann weder ein — wie immer geartetes, aber doch endliches — Subjekt
koordiniert gegeniiberstehen, noch kann ein so entstehendes Subjekt-Objekt-
Verhaltnis mehr als eine Etappe, ein Annaherungsschritt im unendlichen
Prozef§ sein, also niemals etwas Feststehendes und Endgiiltiges. Dem unend-
lichen Objekt des Theoretischen muf notwendigerweise ein rein konstruiertes
Subjekt entsprechen; und sein Reinheitsgrad, der durch die Reinheit der
Konstruktion, mithin durch die absolute Abtrennung vom realen Subjekt
erreicht wird, bezeichnet die Stufe der geleisteten Erkenntnis; seine Voll-
endung ist in der Wirklichkeit unerreichbar, als Ziel und Grenzbegriff je-
doch nicht nur konstruierbar, sondern das notwendige Ideal, der einzig még-
liche Mafstab dieser Sphare. Deshalb zeigt es sich auch ohne Ausnahme, daf,
wenn im theoretischen Verhalten eine wirkliche Subjekt-Objekt-Beziehung
angenommen und infolgedessen der Weg der reinen Konstruktion verlassen
wurde, dadurch der rein theoretische Charakter des Verhaltens transcendiert
werden muSte: sein objektiver Sinn erhielt einen metaphysischen Accent,
und das Verhalten selbst verwandelte sich, vom Standpunkt des Subjekts
aus gesehen, in ein ethisches oder ethisch-religidses (z.B. die Sewpia des
Aristoteles als Gegenstand der dianoetischen Moral). Noch evidenter liegt
die Unmoglichkeit einer Subjekt-Objekt-Beziehung fiir die reine Ethik in
ihrem Unendlichkeitsbegriff begriindet. Durch die Ausschaltung des Pro-
blems von der Folge der ethischen Tat, soweit diese nicht in direkter Be-
ziehung zum Zweck und zur Gesinnung steht, kommt die Objektswelt
der seienden Gegenstande fiir diese Sphare iiberhaupt nicht in Frage. Die
Sphiare selbst baut sich aus einer unendlichen Reihe isolierter, stets von
neuem — vom Urbeginn gewissermafen — einsetzender Einzelhandlungen
auf, wo das Subjekt bei jeder Gelegenheit zur Tat die ethische Maxime
von neuem in seinen Willen aufnehmen muf und wo fiir die Beurtei-
lung des Realisiert- oder Nichtrealisiertseins der ethischen Norm nur die
Gesinnung bei dieser einen Tat, als ob sie die erste und einzige ware,
in Betracht kommt. Der Unendlichkeitsbegriff tritt in sein Recht durch
den Abstand, der diese Tat notwendigerweise vom ethischen Ideal trennt;
der es nicht gestattet, da& das in der ethischen Tat zur Persénlichkeit
werdende Subjekt dies sein Subjekt-sein zur Substanz gerinnen lasse, da8
es sich wegen der so entstehenden normativen Verbundenheit mit dem abso-
96 Heidelberger Asthetik

luten Wert zum intelligibelen Sein, zur »Seele« substanziiere und sich in
einer so entstandenen Welt »besitze«. Mit jeder Lockerung oder Verdichtung
dieser normativ-prozefartigen Atomisiertheit der Sphare — wo ein »Sein«
der »Seele« nur als Ideale, und die Totalitat der Ziele und der auf sie gerich-
teten anderen Subjekte nur teils als Ideal, teils als Bedingung des Handelns
vorkommen darf — ist die Ethik transcendiert, zur Metaphysik des Prak-
tischen geworden, wodurch selbstverstandlich ihr rein praktischer Charakter
sogleich vernichtet und zum Metaphysisch-Kontemplativen (oder quasi Kon-
templativen) verwandelt wird: Denn das rein ethische Subjekt ist ein uto-
pisch-postulatives, dessen Realisierung es selbst und mit ihm die ganze
Sphire aufheben wiirde, deren Aufbau so sehr von dieser Unrealisierbarkeit
abhingt, da selbst der Abstand von Gesinnung und Erreichen mehr die
Folge als der Grund dieser Konstellation zu sein scheint: der heilige Wille
ist in einem ganz anderen Sinn Grenzbegriff der Ethik, als das Bewuftsein
iiberhaupt der der Logik: dies liegt innerhalb der Sphare, jener auSer-
halb ihres Bereichs; dieses kann zwar nicht realisiert werden, sein Als-reali-
siert-gedacht-werden, ja die Konstruktion seiner Realisierung ist aber fiir die
Erkenntnis der immanenten Sphirenstruktur von héchster und fruchtbarster
Bedeutung, jener kann in der Sphare selbst nur negativ, nur als Maf des
Abstandes vorkommen, als realisiert gedacht, positiv und konkret geworden,
fordert er eine radikal anders gestaltete Umwelt. Das Wesen der ethischen
Sphare kann durch die doppelseitige Negativitat, die das reine, ununter-
brochene und doch stets von neuem ansetzende, unendliche Handeln des
ethischen Subjekts als Beweger und Substrat umgibt, am besten umschrieben
werden: durch das negative Werten der Neigungen und durch das negative
Erfassen des Wesens, des Ideals. Das Postulativ-Schwebende des Subjekts
entsteht so aus den entgegengesetzten Richtungen und Qualitaten der beiden
Negativitaten, die sich beide auf das Subjekt selbst beziehen: aus dem Ver-
neinen-miissen der eigenen Kreatiirlichkeit einerseits und aus dem Nicht-
aussprechen- und Nicht-besitzen-kénnen des eigenen, bewegenden Wesens
andererseits.
Das asthetische Gegeniiberstehen von Subjekt und Objekt (wobei wir — vor-
laufig — schdpferisches und receptives Verhalten einheitlich behandeln wol-
len) scheint keine derartige, abgrundschaffende Unendlichkeit zu kennen und
scheint sich deshalb dem »natiirlichen« Verhalten des Menschen seinen »er-
lebten« Gegenstinden gegeniiber zu nahern. Daf dies ein bloSer Schein ist,
wissen wir bereits, wir miissen jedoch, um durch den Umweg der Analyse
der Subjekt-Objekt-Beziehung zur richtigen Erkenntnis des Objekts selbst
Subjekt-Objekt-Beziehung 97

zu gelangen, einiges in neuen Zusammenhiangen wiederholen. Wir sagten:


es liegt im Wesen der dsthetischen Sphare begriindet, daf sie und nur sie
eine Subjekt-Objekt-Beziehung im eigentlichen Sinne kennt. Konkreter aus-
gedriickt bedeutet dies, da& es nur in der Asthetik sowohl ein der Norm
der Sphire entsprechendes und sie erfiillendes Subjektverhalten, das ein
Subjekt-sein und nicht blof eine Intention auf Subjektivitat sein soll, als
auch ein ihm entsprechendes Objekt gibt, das als gegebener und dem Sub-
jekt gegeniiberstehender Gegenstand ein vollstindiges, aus seiner eigenge-
setzlichen Struktur folgendes Objekt-sein hat, zu dessen Begriindung und
innerem Aufbau keine weitere Einfigung in einen dariiber hinausgehenden
Kosmos anderer Gegenstinde vonniten ist, ja deren Méglichkeit die Setzung
des asthetischen Gegenstandes prinzipiell vernichten wiirde. Kurz gesagt:
das dsthetische Subjekt steht in strengem Sinne der Sphire (die transcen-
dierenden Wandlungsméglichkeiten dieser Haltung werden in nachkonstruk-
tiver Psychologie behandelt werden) nur einem Objekt, dem Kunstwerk
gegeniiber; das Subjekt selbst ist, in ebendemselben strengen Sinne — unter
Vorbehalt der an gegebenem Ort zu behandelnden Variationsméglich-
keiten —, ein rein und unmittelbar erlebendes Subjekt. Schon diese Bestim-
mung hebt den Schein einer allzu grofen Annaherung an die Erlebniswirk-
lichkeit auf. Denn beide Begriffe — streng isoliertes, rein auf sich gestelltes
und in sich abgeschlossenes Objekt und rein erlebendes Subjekt — kénnen
auf diesem Niveau, wie wir bereits erfahren haben, nicht vorkommen. Es
kann aber vielleicht der Schein bestehen bleiben, als ob der Ubergang doch
nur ein stufenweiser sein wiirde und die Erfiillung, die die asthetische Sphare
in dieser Weise fiir die Erlebniswirklichkeit bedeutet, blo& ihre innere Voll-
endung, der krénende Abschlu8 ihrer immanenten Bestrebungen ware. Es
liegt nahe, diesen Schlu& zu ziehen, besonders da das Subjekt der Asthetik,
im Gegensatz zur Logik und Ethik, als wirkliches Subjekt gedacht werden
muf. Schon Schelling hat diese Konsequenz aus dieser Vergleichung gezogen,
wenn auch aus anderen Voraussetzungen und mit anderen systematischen
Folgen. Er sagt®: »Die Philosophie erreicht zwar das Hichste, aber sie bringt
bis zu diesem Punkt nur gleichsam ein Bruchstiick des Menschen. Die Kunst
bringt den ganzen Menschen, wie er ist, dahin, ... und darauf beruht der
ewige Unterschied und das Wunder der Kunst.« Hartmann hat dieser Auf-

2 [System des transzendentalen Idealismus. Simtliche Werke. Hrsg. K. F. A. Schelling.


Stuttgart, Cotta. 1858. Abt. I. Bd. IIT. $. 630.]
98 Heidelberger Asthetik
fassung einfach und treffend entgegengehalten, da& ja auch die Phantasie,
das Schellingsche Organ der Kunst, ein blofes Bruchstiick des ganzen Men-
schen sei; damit ist er aber an dem richtigen Moment der Schellingschen Ge-
geniiberstellung von theoretischer und asthetischer Kontemplation doch vor-
beigegangen. Es kommt darauf an, sich klarzumachen, da das dsthetische
Subjekt, im Gegensatz zum konstruierten der Theorie, zwar eine wirkliche
und lebendige Ganzheit und kein Bruckstiick ist, da& aber sein Verhalten
und dementsprechend seine innere Wesensart dennoch nicht mit dem »gan-
zen Menschen«, weder im Sinne der Erlebniswirklichkeit, noch in dem
irgendeiner Metaphysik, zusammenfallt. Die Eigenart dieses Subjekts ent-
hiillt sich am deutlichsten, wenn wir bedenken, da& sein Verhalten ein
normatives Erlebnis ist, und uns die Paradoxie dieser Zusammenstellung
zum Bewubtsein bringen. Ein mit der Norm aufs innigste verkniipftes Er-
lebnis kennt auch die Ethik, ja geht von ihm, als »Analogie einer Tatsache«
eigentlich aus (inwiefern das theoretische »Evidenzerlebnis« seinem theore-
tischen Sinne nach wirklich Erlebnis ist, braucht uns hier nicht zu beschafti-
gen); jedoch dieses Erlebnis der »Achtung« ist nichts als die Voraussetzung
des ethisch-normativen Verhaltens, das Verhalten selbst mu8 notwendiger-
weise, um der Norm entsprechen zu kénnen, jeder Erlebnisnahe entriickt
sein. Hier hingegen ist das Erlebnis die normative Verhaltungsart selbst, in
ihm erfiillt sich die Norm, in ihm spricht sich ihre spezifisch asthetische Gel-
tungsqualitit aus. Die Paradoxie, die hierin liegt, darf um der wahren
Erkenntnis der dsthetischen Sphare willen, nicht verschleiert werden. Kant®
hat sie bereits deutlich empfunden, wenn er etwa davon sprach, daf jeder,
der etwas schin findet, von den anderen fordert, es ebenfalls schén zu fin-
den; und »er tadelt sie, wenn sie anders urteilen, und spricht ihnen den
Geschmack ab, von dem er doch verlangt, da sie ihn haben solltent«. Er
spielt jedoch, dem bereits analysierten und noch zu analysierenden Aufbau
seines Systems entsprechend, das Problem auf die Aussage iiber das asthe-
tische Verhalten hiniiber und erblickt die Paradoxie blo& darin, daf jeder

3 Die immer wiederkehrenden kritischen Hinweise auf Kant sind von der Anschavung
bestimmt, da8 die »Kritik der Urteilskrafte den Keim zur Lisung jedes Problems der
Struktur der asthetischen Sphare enthilt; daB also die Asthetik nur das dort implicite
Vorhandene klarmachen und zu Ende denken mu. Darum ist die Auseinandersetzung
mit diesem Buch von so entscheidender methodischer Bedeutung.
4 [Kritik der Urteilskrafe, § 7. Werke. Hrsg. von E. Cassirer. Berlin, Cassirer. r9z4.
Bd. 5. S. 282.)
Subjekt-Objekt-Beziehung 99

das Gelten des asthetischen Wertes fiir den anderen fordern muf, obwohl
dieser Wert, seinem subjektiven, keine Objektsbeschaffenheit treffenden
Wesen nach, keiner objektiven Begriindung fahig ist. Hierbei bleibt nicht
blo& der asthetisch durchaus secunda’re Charakter dieser Forderung aufer
acht, sondern die Eigenart des Verhaltens selbst wird verdeckt: die Merk-
wiirdigkeit, da& das asthetische Objekt von seinem zugeordneten Subjekt
diese Art seines Anerkennens, das reine Erlebnis fordert. Sonst kann das
Subjekt kein asthetisches werden, da das »kiinstlerisch<« noch so »richtige«
Urteil iiber ein Kunstwerk ebensowenig eine asthetische Subjekt-Objekt-Be-
ziehung begriinden kann, wie eine »richtige« aber theoretische Aussage iiber
eine — eigene oder fremde — Handlung oder Gesinnung ein ethisches Ver-
halten.
Das normative Erlebnis, worin das Werk als Realisation des Asthetischen
Wertes geschaffen, beziehungsweise als solches aufgenommen wird, ist ein
Gerichtetsein des Subjekts auf eine den immanenten Erlebnisanforderungen
vollendet angemessene Welt, die ihm in seinem normativ zugeordneten Ob-
jekt, im Werk entgegengilt; um dessen Gelten in sich zu verwirklichen, das
Subjekt in sich alles zur héchsten Intensitat zu treiben hat, was in der
Richtung dieser gesteigerten und rein gewordenen Erlebnisintensitat liegt,
und alles von sich fernhalten, in Nichtexistenz, ja Undenkbarkeit versinken
lassen soll, was diesem homogenen Strom nicht angehért oder gar seinen
Lauf hemmen kénnte. Trotzdem — oder gerade darum — liegt der Soll-
Accent des Wertes auf der Reinheit des Erlebnisses als Erlebnis, auf seinem
Nicht-Transcendieren der Erlebnishaftigkeit und als Folge dessen auf dem
wahrhaften Subjektscharakter des normativ erlebenden Subjekts. Die Ver-
wandlung, die das Gerichtetsein auf den Asthetischen Wert im Subjekt
vollzieht, ist also eine ihre Subjektivitat, bewahrende, eine nur innerhalb
der Subjektsimmanenz neue Ballungen und Ordnungen schaffende, eine —
vom Gesichtspunkt des Subjekts aus betrachtet — materialechte Verwand-
lung: sie macht aus dem natiirlichen Subjekt ein stilisiertes, das im Gegen-
satz zum konstruierten Subjekt der Logik und zum postulativen der Ethik
eine lebendige, die Totalitat der Menschlichkeit umfassende Einheit der in-
haltlichen Fiille der Erlebnisse ist. In der Phanomenologie wurde der lange
und an Abgriinden reiche Weg, der von der scheinbaren Erlebnistotalitit im
»ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit zu dieser wahrhaft erfiillten
Totalitat im dsthetischen Subjekt fihrt, ausfiihrlich dargestellt. Der neue
Mensch, der als normatives Subjekt der Asthetik, als Genie beziehungsweise
reiner Receptive am Ende dieses Ganges erreicht wird, kann im Gegensatz
100 Heidelberger Asthetik
zum »ganzen Menschene der Erlebniswirklichkeit als der Mensch »ganze
— in bezug auf eine bestimmte, bestimmten Erlebnisméglichkeiten a priori
entsprechende Erfiillungstotalitat — bezeichnet werden. Der Mensch »ganz«
bedeutet dann eine Reduktion der Erlebnisméglichkeiten des Menschen auf
ganz bestimmte und in dieser Bestimmtheit homogen gewordene innere
Organe der Aufnahme der Welt (die freilich weder Sinnesorgane, noch gar
»Seelenvermigene sind), durch welche Reduktion eine in bezug auf diese
Organe aufgebaute, innerlich zur Totalitit gefiigte Welt in seinem Erlebnis
erfiillt aufleben kann. Dieser Mensch ist also Subjekt, Individuum, Persin-
lichkeit, Mensch im eigentlichsten Sinne des Wortes, denn es kann in diesem
seinem Subjekt-sein schlechterdings garnichts auftauchen, was seinem reinen
Erlebnisvermégen irgendwie transcendent wire, ja fiir alle Gegenstindlich-
keit, die sich ihm hier darbietet, ist die reine Erlebbarkeit die einzige und
absolute konstitutive Kategorie. Aber dieses Subjekt-sein ist ihm dennoch
nicht gegeben, sondern aufgegeben, wenn auch in einer Weise, die die Erfiil-
lung nicht nur zula&t, sondern erfordert. Die Erfiillung besteht darin, da&
die Reduktion zum Vehikel der Totalitat, da& die Verengerung der Sub-
jektivitat durch das homogen-einseitige Gerichtetsein auf ein nur durch
diese Einseitigkeit méglich gewordenes Objekt zur alles umfassenden Abge-
schlossenheit werde: zu einem Mikrokosmos, dessen kosmischer Charakter
— wie bereits gezeigt wurde — sich darin offenbart, daf alles, was von seinen
konstitutiven Prinzipien aus méglich ist, in ihm zur Wirklichkeit reift, da&
die Kategorien »mogliche, »wirkliche und »notwendig« in ihm den Sinn
ihrer Unterscheidbarkeit durch vollendetes Identischwerden verlieren.
Das Subjekt erreicht also diese seine hdchstmégliche Subjektivitat (aller-
dings sub specie einer bestimmten Form) in seiner Bezogenheit auf ein
ihm absolut angemessenes Objekt. Es kénnte hier jedoch die fiir das Fol-
gende nicht unwesentliche Frage auftauchen, ob zur Realisierung dieser
Subjektivitat ein derart zugeordnetes Objekt unbedingt notwendig sei;
ob es nicht durch eine ganz autonome, selbstherrliche Produktivitat des
Subjekts aus sich heraus und in sich hinein mediatisiert oder zur gelegent-
lichen, im héchsten Sinne zufalligen, wenn auch eventuell empirisch giin-
stigsten Veranlassung dieser Selbstrealisation herabgesetzt werden kénnte.
Auch diese Frage wurde bereits in der Phinomenologie aufgeworfen und
verneinend beantwortet. Das hier entscheidende Motiv aus diesem viel-
faltig verschlungenen Kniuel von Griinden ist die Einsicht, da die auf-
gegebene, mit dem »ganzen Menschen« durchaus nicht identische, reine
Subjektivitat auf sich selbst gerichtet sich nur im inneren Handeln auSern
Subjekt-Objekt-Beziehung 101

kénnte und ihr Sich-Erreichen, ihre geleistete Vollendung in der dstheti-


schen Kontemplation zum Grenzbegriff eines unendlichen Prozesses
wiirde. Jede Selbstkontemplation dagegen wiirde entweder im »ganzen
Menschen« auf ein notwendig inaddquates Objekt stofen, das eine Imma-
nenz des Erlebnisses nur bei Subalternitat der Erlebnisqualitat, -inhalt-
lichkeit und -intensitit zula&e, oder sie miifte die Kontemplation auf
ebenfalls »nicht gegebene« Ichniveaus zutreiben und sie ihrer erlebnis-
immanenten Wesensart, mithin ihrer unmittelbaren Erfiillbarkeit im
»wirklichen« Subjekt und ihres vollendeten Nicht-iiber-sich-hinausweisens
berauben. Die stindigen — historisch so bedeutsamen — Verwechslungen
des asthetischen Subjektsverhaltens mit religidsen und »ethischen« Sub-
jektsverhaltungen rihren zumeist daher, da& diesen Subjektivitdten, weil
sie ebenfalls »reale« und nicht »postulative«, und zugleich aufgegebene
und nicht gegebene sind, weil auch sie eine »erlebte Erfillung« fordern,
die Subjektsimmanenz sub specie Erlebnisintensitat zugesprochen wurde;
wobei tibersehen werden mufte, daf jede solche Immanenz, wenn sie auch
im »Erlebnis« »erfiillt« wird (oder wenigstens die faSbarste Form ihrer Er-
fiillung eine Art »Erlebnis« ist), den transcendentalen Grund ihrer Imma-
nenz in einer Erlebnistranscendenz hat — die deshalb freilich durchaus
nicht subjekttranscendent sein mu&. (Man denke an Begriffe wie das
»Férdernde« fiir eine Lebenseinheit im Sinne Goethes.) Kant, der auch
hier das spezifisch Asthetische klarer erblickte als irgendjemand vor ihm,
fa&t dennoch die Beziehung zum Objekt reflexiv auf: Die Kategorien, die
die asthetische Subjektivitat aufbauen, sind nur fiir das Subjekt konstitu-
tiv und allgemeingiiltig, fiir die Beschaffenheit des Objekts kénnen sie
nicht von Bedeutung sein, sie haben eine blo& subjektive Allgemeinheit.
Diese Fassung der asthetischen Subjektivitat, deren tiefe, wenn auch rela-
tive Berechtigung — jenseits ihrer Notwendigkeit im Kantschen System —
sich erst spater, bei der Analyse des letzten Verankertseins des Astheti-
schen im Subjekt wirklich enthiillen wird, ist von der Stellungnahme
bedingt, daB eine konstitutiv-gegenstindliche Objektivitat nur durch die
Verstandeskategorien des Theoretischen méglich ist. Weil das transcenden-
tale Motiv zur Entstehung des Asthetischen eine »subjektivex« Sehnsucht
nach einer dem Subjekt angemessenen Wirklichkeit ist, muf ihre Erfiillung
auch eine blo& subjektive, die Objektbeschaffenheit des Gegenstandes
unberithrt, lassende Wesensart haben. Damit ist aber der transcendentale
Grund der Erlebnisimmanenz, die die reine Subjektivitit des Asthetischen
tragt und aufbaut, doch den eigenen, vom Objekt ganzlich unabhingigen,
102 Heidelberger Asthetik
es nur als Veranlassung gebrauchenden Kriften des Subjekts zugesprochen.
Es wird an das Subjekt die Anforderung gestellt, in sich eine derart inner-
lich vollendete Méglichkeit der ihr — sub specie Erlebnis — angemessenen
Wirklichkeit fertig zu tragen, da& ihre Verwirklichung dem beliebigen
veranlassenden Objekt der AuSenwelt ohne dessen Zutun sozusagen
geschenkt werden kann. Oder es muS angenommen werden, daf ihr
innerer Aufbau schon an sich diesen Anforderungen gemif ist, was jedoch
nur in einer metaphysischen Naturphilosophie méglich wire, die die
objektiven Prinzipien der Natur selbst in bezug auf das menschliche Auf-
fassungs- und Erlebnisvermégen (oder umgekehrt, was hier auf’s Gleiche
auslduft) denken wiirde; dies ist aber gerade im Kantschen System, trotz ge-
legentlicher Schwankungen, von vornherein ausgeschlossen. Der Grund dieser
Annahme liegt in der Verwechslung des asthetischen Menschen »ganz«
mit dem »ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit, oder, was dasselbe
besagt, in der Fassung des asthetischen Verhaltens als etwas Konkret-
Einheitlichen, wahrend seine Einheitlichkeit nur in der gemeinsamen
abstrakt-formellen Vorbedingung der konkreten Verhaltungsméglichkeiten,
die das eigentlich Asthetische konstituieren, begriindet ist; kurz: in der
Verkennung der Fiedlerschen Prioritét der einzelnen Kiinste (letzten
Endes: der einzelnen Kunstwerke) als Trager des Eigentlich-Asthetischen
vor dem — theoretisch-philosophischen — einheitlichen Begriff der Kunst.
Der Mensch »ganz« ist aber, wie wir wissen, isoliert, ohne konstitutiv
zugeordnetes Objekt gedacht, nichts als ein Gerichtetsein auf eine, dem
Prinzip seiner homogenen Reduktion gemife, angemessene Wirklichkeit.
An sich ist sein Gerichtetsein etwas ganz Leeres, Unerfiillbares, nicht ein-
mal bis zum Zustand der klargewordenen Sehnsucht Gelangendes; es kann
sich nur im Objekt erfiillen, entweder indem es das Objekt selbst gestaltet,
oder indem es sich einem auf den Prinzipien seiner homogenen Reduktion
aufgebauten Objekt in reiner Kontemplation gegeniiberstellt: also nur
dem Kunstwerk gegeniiber. Nur durch die Reduktion wird ein ange-
messener Gegenstand médglich, aber gerade die Reduktion macht es
unmdglich, da& dieser Gegenstand ein Produkt subjektiv-reflexiver Kate-
gorien, die beliebigen, »zufilligene Gegenstinden auf’s Geratewohl zuge-
wiesen werden kénnten, sei. Da diese Kategorien nicht die der Verstan-
deserkenntnis sein kénnen, ist selbstverstandlich, und es ist deshalb not-
wendig, da sie niemals die Grundlage objektiv allgemeingiiltiger Aus-
sagen — die immer theoretisch sind — sein kénnen; aber ebenso selbstver-
stindlich ist es, da& der Mangel dieses konstitutiven Charakters sie im
Subjekt-Objekt-Beziehung 103

eigenen Gebiet, als Aufbauformen der dsthetischen Objektivitat, nicht


reflexiv machen muf.
Im Gegenteil: die véllige Selbstandigkeit und Fremdheit von jeder theo-
retischen Objekti it, mit der die asthetischen Kategorien ihren Gegen-
stand begriinden und aufbauen, wodurch er in seiner eigentlichen Ge-
formtheit fiir die Theorie unaussagbar wird, ist gerade die Grundlage
der konstitutiven Wesensart der asthetischen Kategorien und damit der
Autonomie des asthetischen Wertgebiets. Denn die — bei Kant als allein
miéglich erscheinende — Entgegensetzung der theoretischen Kontemplation
mit ihren Verstandeskategorien und der dsthetischen Kontemplation des
erlebenden »ganzen Menschen«, der sich deshalb nur bis zur subjektiven
Allgemeingiiltigkeit seiner Aussagen iiber das »Schénheits«-Erlebnis in
den reflexiven Kategorien auf dem Niveau der Urteilskraft erheben kann,
setzt die theoretische Gegenstandsetzung und die durch sie zustande
gebrachte Objektstruktur als vollzogen und geltend voraus. Ja diese
ganze Problemstellung ergibt sich erst als eine Art Riickkehr aus dem
objektiven und allgemeingiiltigen — aber um den Preis des Aufgebens der
sinnlich bedeutsamen und iibersinnlich sinnfalligen Welt der auf den
Menschen orientierten Zwecke errungenen und darum zu engen — Kosmos
der theoretischen Gegenstandlichkeit in eine Wirklichkeit der Lebens-
nahe und der »Humanitat« (im weitesten Sinne des Wortes). Jedoch
— und dies ist das Entscheidende — bei Beibehaltung der theoretischen (und
ethischen) Gegenstandlichkeit, als unverlierbar eroberten Positionen, an
denen jede andere Stellungnahme zur Welt und ihre Objektsgestaltung
gemessen werden muf; wihrend bei der Begriindung der theoretischen
und der ethischen Sphire es, natiirlicherweise, nicht als Widerspruch ange-
sehen wurde, da den Verstandeskategorien im Ethischen iiberhaupt keine,
den Vernunftideen im Theoretischen nur eine relative Bedeutung zufal-
len konnte. Nur bei — wenn auch stillschweigendem, so doch geltendem —
Aufrechterhalten der theoretischen Gegenstindlichkeit besteht die Not-
wendigkeit, die Riickwendung auf die Subjektivitit als Riickkehr zum
»ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit zu vollziehen; und da8 die-
sem Subjektsniveau nur eine reflexive Objektstruktur entsprechen kann,
wird aus allem hierbei Erérterten als selbstverstindlich erscheinen. Aber
als ebenso selbstverstandlich mu es erscheinen, da& diese Art der Riick-
wendung unméglich eine Wertsphire begriinden kann, ja die Art der
Riickwendung bereits die letzthinige Heteronomie des so entstehenden
Gebietes voraussetzt und durch keine, noch so tief und geistvoll ange-
104 Heidelberger Asthetik

strebte Bewegung auf Autonomie wieder wettgemacht werden kann. Denn


die Begriindung einer wahrhaft autonomen Wertsphire kann nur auf
Grund der Annahme der Unableitbarkeit ihres leitenden Wertes voll-
zogen werden; wie sich das ganze Wertgebiet, als Ganzes, in das System
der Werte einfiigen la&t, ist, im Vergleich dazu, eine Frage secundarer
Bedeutung, hauptsachlich darum, weil ihre Beantwortung eine ganz neue
Dimension der Fragestellung erfordert. Wenn also bei der Begriindung
einer Sphire, bei dem Aufsuchen ihrer spezifischen Objektstruktur ein
anderer Wert als geltend gesetzt ist, d. h. wenn er bereits Gegenstindlich-
keiten bestimmt, wenn also die Untersuchung nicht ganz vom Beginn,
von der »Urgegebenheit« der Sphire ansetzt, ist es unméglich, zu etwas
anderem als zu reflexiven oder metaphysischen Objekten zu gelangen, je
nachdem: ob die Untersuchung, der Art der als geltend vorausgesetzten
Objektivitit entsprechend, sich in die Richtung auf die Erlebniswirklich-
keit hin oder iiber die vorausgesetzte Sphire hinaus bewegt. Im Fale
Kants, wo die theoretische Objektstruktur vorausgesetzt wurde, mu8
sich die riicklaufende Bewegung auf den »ganzen Menschen« der Erlebnis-
wirklichkeit richten, an dem eigentlich gesuchten Menschen »ganz« der
Asthetik vorbeigehen, wodurch, infolge der unangemessen gesteigerten
Subjektivitat, das Objekt als blof reflexiv erscheinen muSte.
Die theoretische Orientierung der Objektstruktur in der Asthetik Kants
zeigt sich auch darin, da das Objekt durchwegs im Zusammenhang mit
anderen Objekten und nicht als das geforderte isolierte Objekt der Asthe-
tik erscheint. Allerdings fehlt es nicht an Ansiatzen, die sich in dieser
Richtung bewegen, nur kénnen sie nicht zum eigentlich Asthetischen fiih-
ren, da ihr Impuls ebenfalls ein metadsthetischer, ein ethischer ist; wir
meinen die ganze, sehr bedeutsame Lehre von der »Interesselosigkeit« des
asthetischen Subjektverhaltens. Diese Interesselosigkeit hat eine Intention
auf Isolierung der Gegenstinde und erreicht sie sogar in dem, was Kant
»freie Schdnheit« (pulchritudo vaga) nennt; die hier vollzogene Setzung
eines isolierten Gegenstandes ist jedoch rein negativ: sie »setzt keinen
Begriff von dem voraus, was der Gegenstand sein soll« 5; sie ist also eine
Abstraktion, ein Absehen von der theoretischen Gegenstandsstruktur (die
dabei stillschweigend als die einzig konstitutive angesehen wird), denn
sonst wiirde »die Freiheit der Einbildungskraft, die in Beobachtung der

5 [A. a. 0, § 16. S. 299.]


Subjekt-Objekt-Beziehung 105

Gestalt gleichsam spielt, nur eingeschrinkt werden *«. Sobald jedoch von
der Gegenstindlichkeit nicht abgesehen, sie vielmehr in das asthetische Er-
leben einbezogen wird (anhingende Schinheit, pulchritudo adhaerens), soll
ein »Ideal der Schénheit« gesucht werden; »da muf irgend eine Idee der
Vernunft nach bestimmten Begriffen zum Grunde liegen, die a priori
den Zweck bestimmet, worauf die innere Miéglichkeit des Gegenstandes
beruhet’.« Diese Aufhebung der Isolation des asthetischen Gegenstandes
und seine Einfiigung in einen zusammenhingenden Kosmos, dessen ethi-
sche Tendenz in der Lehre von der Erhabenheit noch klarer zutage tritt,
beruht auf der Zwischenstellung, die Kant dem dsthetischen Erleben, dem
Akt der Interesselosigkeit als Zwischenstufe zwischen dem sinnlichen
Interesse der Erlebniswirklichkeit und dem sittlichen Interesse der ethi-
schen Sphire zuweist. »Das Schéne bereitet uns vor, etwas, selbst die
Natur, ohne Interesse zu lieben; das Erhabene, es, selbst wider unser
(sinnliches) Interesse, hochzusch’atzen®.« Die Schénheit und der sie her-
vorbringende Akt der Interesselosigkeit sind also eine Art Ausruhen der
Seele auf dem Wege zu ihrer eigentlichen Heimat, zur Sittlichkeit: eine
Abkehr von den Interessen des sinnlichen Lebens und ein Noch-nicht-
zugewendet-sein dem Interesse an dem Guten. Wegen dieser schwanken-
den und innerlichst unselbstindigen Wesensart des entscheidenden Aktes,
vermag die Interesselosigkeit die Gegenstinde, auf die sie sich richtet, nicht
im geforderten Sinn der Asthetik zu isolieren, ihnen keine eigene Gegen-
standlichkeit zu verleihen: die Gegenstinde sind reflexive, sofern die In-
tention sich auf die Natur richtet, aus deren Zusammenhang sie nicht
ginzlich herausgehoben, sondern nur — in der »subjektiven Betrachtung« —
auf das erlebende Subjekt bezogen werden, wobei sie entweder ihre
Gegenstandlichkeit verlieren oder durch ihre Gegenstandlichkeit ihre rein-
asthetische Wesensart transcendieren; sofern die Intention auf Vernunft-
ideen, als Gegenstinde der Ethik, gerichtet ist, im Erlebnis des Erhabenen,
so ist »das Wohlgefallen ... auch nur negative®, der asthetisch gesetzte Ge-
genstand ist noch mehr blo®e Veranlassung zum Transcendieren, seine
Isolation, wenn eine solche iiberhaupt vorhanden ist, nur ein Sprungbrett

6 [Ebda]
7 [Ebda. § 17. S. 303.]
8 [Ebda, S. 340.)
9 [Ebda, S. 341.)
106 Heidelberger Asthetik

zur Einfiigbarkeit in den eigentlichen, konstitutiven Kosmos dieser Gegen-


stinde: in das durch ethisches Verhalten erfafte Reich der Vernunftideen.
Und doch ist hier der entscheidende Schritt zum Auffinden des asthetischen
Gegenstandes getan: der Akt der Interesselosigkeit bedeutet letzten Endes
nichts anderes als die Intention des erlebenden Subjekts auf einen dem
reinen Erleben angemessenen Gegenstand. Daf dieser Gegenstand ein voll-
standig isolierter, alleinstehender, aus jedem nur als méglich gedachten Zu-
sammenhang herausgehobener ist, ist eigentlich nur die vom Objekt aus
bestimmte Seite dieser Setzung. Denn wenn es als Wesenszeichen, als Defi-
nition dieses Verhaltens bestimmt werden mufte, da die vollendete Im-
manenz des reinen Erlebens bewahrt bleiben soll, so ist das Nicht-hinaus-
gehen-kénnen tiber das Objekt nur der subjektive Aspekt der Art der
Objektsetzung: da der Gegenstand — in der Setzung, fiir die Geltung der
Setzung — als einzig existenter gedacht ist. Er ist selbstandiger Gegenstand
in einem ganz radikalen Sinne des Wortes: er ist als einzig seiender Gegen-
stand gesetzt. Wahrend also im Theoretischen die Selbstandigkeit eines
Gegenstandes letzten Endes nur relativ ist, und blo$ — im Sinne Husserls —
so viel bedeutet, »daf wir diesen Inhalt in der Vorstellung identisch fest-
halten kénnen bei schrankenloser (willkiirlicher, durch kein im Wesen des
Inhalts griindendes Gesetz verwehrter) Variation der mitverbundenen und
tiberhaupt mitgegebenen Inhaltee; aber »wir stellen ihn ... doch unaus-
weichlich in einem Zusammenhang vor, der Inhalt hebt sich von ¢inem mit-
erscheinenden gegenstandlichen Hintergrunde ab, er ist unausweichlich mit
vielfaltigen anderen Inhalten zugleich gegeben und mit ihnen in gewisser
Weise auch einige!®, Dieser Zusammenhang aller gedachten Gegenstiinde
ist das Spezifische der theoretisch-konstitutiven Objektswelt; er begriindet
sich darauf, da die Totalitat der theoretischen Gegenstande, als erfiillt ge-
dacht, zugleich die wirkliche Erfiillung der spezifischen Gegenstandlichkeit
der einzelnen Objekte ist, die »wirklich erkannt« doch nur in einem voll-
endeten System des ganzen miglichen Wissens sein kdnnten. Im Gegensatz
dazu ist die Totalitét oder das System der méglichen Gegenstinde fiir das
asthetische Verhalten etwas durchaus Abgeleitetes, Fremdes oder Secundares,
das die Gegenstandlichkeit der Objekte selbst ganz unberiihrt lat; diese
kénnen vielmehr ihre asthetische Erfiillung nur als isolierte Objekte rein
asthetischer Akte erhalten, wobei es fiir die Intention dem Sinne nach ent-

to [Logische Untersuchungen. 2. Aufl. Halle, Niemeyer, x913, II. Band, I. Teil. S. 235.)
Subjekt-Objekt-Beziehung 107
scheidend ist, da8 sie sich auf einen als einzigen gesetzten Gegenstand rich-
tet. Die homogene Reduktion auf das dem intendierten Objekt zugewandte
Organ laft vor allem die ganze »Wirklichkeit«, die sich darauf nicht be-
ziehen aft, ins Nichtsein versinken; und dieses als Nichtseiend-setzen mu
in ganz radikaler, wértlicher Bedeutung verstanden werden, es ist viel mehr
als ein »In-Klammern-setzen« im Sinne Husserls, Dadurch ist aber bereits
die gegenstandliche Struktur der »natiirlichen« oder der theoretischen »Wirk-
lichkeit« véllig zerstért, da das Auswahl-Prinzip dieser Reduktion jeder
wie immer gearteten Gegenstandlichkeit gegeniiber vollig indifferent ist.
Und die iibriggebliebene, homogen gewordene Erlebnismasse wird fiir die
nunmehr in Wirksamkeit tretenden bauenden Krafte zum »Material«, d. h.
zum Gestaltungssubstrat, dessen eigene Wesensart nur insofern in Betracht
kommt, als es dem formenden Willen, der am Werke ist, gema& werden
kann. Das besagt vor allem, was bereits von Fiedler nachdriicklichst hervor-
gehoben und dessen Bedeutung auch in der Phanomenologie betont wurde,
da das asthetische Verhalten an sich, als homogene Reduktion, als »Bereit-
schaft«, nur negative Méglichkeit und blo&e Bedingung, aber nicht hervor-
bringender Grund der dsthetischen Subjekt-Objekt-Beziehung zu sein im-
stande ist: da& durch die homogene Reduktion nur das Zerfallen der »natiir-
lichen Wirklichkeit«, nicht aber ohne weiteres die asthetische Objektsbil-
dung geleistet wird. Dies wird durch die Art der Setzung des dsthetischen
Gegenstandes als isolierten, auSer jedem »Zusammenhange oder »Medium«
stehenden verstandlich, wobei zugleich die Eigenart dieser Setzung im Gegen-
satz zu den entsprechenden theoretischen und ethischen Akten klarer erhelt
wird. Wo die Gegenstande, wie im Theoretischen, in einem »Mediume, in
einer »Sphare« stehen, ist der Akt, der der asthetischen Bereitschaft ent-
spricht, ein Sich-hineinbegeben in diese Sphare, ein wenn auch noch so un-
bestimmtes »Meinen« von irgendetwas, was in dieser Sphire als auffindbar
angenommen werden muf; das eigentliche Theoretisch-werden des Aktes ist
also nur ein immanentes Zuendefiihren dieser Ausgangsbewegung, nur ein
Klarer-, Reiner- und BewuSterwerden alles dessen, was im urspriinglichen
Akt intendiert war; das Entscheidende, das Sich-hineinbegeben in die
»Sphiree, ist ja bereits getan. Und im urspriinglichen Akt des Ethischen
sind die beiden Subjekte durch die ethische Setzung selbst zustande gekom-
men; der »Sprung« liegt hier — geradeso, nur deutlicher sichtbar wie im
Theoretischen — vor dem Eintritt in das Wertgebiet: das Eintreten selbst ist
der Sprung. Im Asthetischen dagegen geht die Intention der Bereitschaft auf
einen auBer jeden Zusammenhang, Medium oder Sphire gesetzten, isolierten
108 Heidelberger Asthetik
und unvergleichbaren Gegenstand; er muf also entweder fertig und in abge-
schlossener Vollendung gegeben sein, damit die Bereitschaft, sich ihm hin-
gebend, ihre Erfiillung in dieser Hingegebenheit finde, oder er mu von
dem Subjekt geschaffen werden.
Der Schaffensprozef erscheint in dieser Beleuchtung als ein merkwiirdiges
Ineinander von Aktivitét und Kontemplation, als eine Aktivitit, deren
Tendenz darauf ausgeht, eine ihr subjektiv-metasubjektiv aufgegebene Ob-
jektswelt fiir die Kontemplation (die Vision) als aufer ihr seiende, wirk-
liche, in sich abgeschlossene Totalitat (Werk) aus sich herauszustellen. Das
Gerichtetsein dieses Aktes geht immer auf ein vollstindig isoliertes Objekt.
Der Schaffende ist, gerade im metapsychologischen Sinn, dem Sinne seiner
Intention gemaf, stets nur der Schépfer eines Werkes, das seinen Werk-
charakter fiir ihn dadurch erhilt, da es sich ihm, in der Vision, als ver-
selbstandigte Welt der zu Erlebniserfiillungen gedichteten Formbeziehungen
darbietet; dessen objektives Gelten als Werk — der Sinn der schépferischen
Leistung — das entscheidende Kriterium in diesem Aufsichgestelltsein besitzt.
Auch der Receptive vermag nur dann in seinem Erlebnis das asthetische Ver-
halten zu realisieren, wenn er seinem Objekt als einzig méglichem oder —
besser gesagt — als einzig gesetztem, als einzig wirklichem gegeniibersteht;
taucht nur der Gedanke der Méglichkeit eines anderen Objekts auf, was
notwendigerweise geschehen muf, wenn die Méglichkeit eines Zusammen-
hanges, in dem dieser Gegenstand steht oder in den er eingefiigt werden
kann, zugegeben ist, so ist die Erlebnisimmanenz verlassen: es entsteht die
Uberleitung entweder in einen anderen Erlebnisstrom, der selbst wieder
immanent oder transcendierend sein kann, oder in ein erkennendes usw.
Verhalten; das Verhalten geht entweder in die Erlebniswirklichkeit zuriick
oder in eine andere Wertsphare hiniiber. In diesen Fallen ist die Gegen-
standlichkeit der »natiirlichen Wirklichkeit« (oder die eventuell stillschwei-
gend mitgesetzte ethische, logische usw. Gegenstandlichkeit) bestenfalls »in
Klammern« gesetzt; die Erfiillungstendenz einer derartigen, nicht auf ein
einziges und fertiges Objekt gerichteten blofen Bereitschaft — Kants Inter-
esselosigkeit etwa — kann entweder auf gar keinen Gegenstand auftreffen
und muf deshalb ins Leere hinauslaufen, oder sie ist gezwungen, die anders
gearteten gegenstandlichen Formungen — in unklarer Weise — wieder einzu-
setzen und die derart herbeigeschaffenen Objekte mit »subjektiven«, als
asthetisch gemeinten, Zutaten versehen. Diese Gegenstandlichkeit ist also
eine reflexive, oder eine Mischung von Gegenstandlichkeiten verschiedener
Spharen, die immer einen metaphysischen Accent haben mu. Die hier ge-
Subjekt-Objekt-Beziehung 109

forderte Immanenz ist aber so stark, da ihr nicht einmal ein polemischer
Accent zu der »ausgeschlossenen« Wirklichkeit zukommt. Wahrend in reli-
gidsen Erlebnissen die Qualitat der Héherwertigkeit der erlebten religidsen,
mystischen usw. Wirklichkeit, im Vergleich zur gewohnlichen, zum Sinn des
Erlebnisses selbst gehért, liegt dies dem Wesen des asthetischen Erlebens
durchaus fern, muff ihm fernliegen, da jeder wertbetonende Vergleich das
asthetische Objekt mit dem verglichenen in Beziehung setzen und dadurch
seine Abgeschlossenheit vernichten wiirde. (Daf das sogenannte »Natur«-
Erlebnis des Kiinstlers — mit den psychologisch wie phinomenologisch wich-
tigen Accenten der »hdheren« oder »tieferen« Stellung der »Natur« im
Gegensatz zur Kunst — die Immanenz des schépferischen Verhaltens nicht
aufhebt, wurde in der Phanomenologie gezeigt. Receptiv wiirde es die Zer-
strung des Asthetischen Verhaltens bedeuten, weil das receptive »Natur«-
Erlebnis keine Intention auf das Werk haben kann und durch Anlegen eines
fremden Mafstabes an das Werk nicht nur eine transcendierende Bewegung
in das Verhalten hineinbringen, sondern es zugleich theoretisieren wiirde.
Die eigentiimlichen Gegenstandsstrukturen, die sich fiir solche Verhaltun-
gen — besonders fiir die Receptivitat des Kiinstlers fremden Werken gegen-
iiber — ergeben, sollen in der nachkonstruktiven Psychologie untersucht
werden.)
Mit alledem ist die Selbstindigkeit des Werks nur negativ erkannt, nur
sein Herausgehobensein aus der Wirklichkeit, gewissermafen nur seine
Qualitit als »Umrahmtes«. Wesentlicher als diese Loslésung von aller
»Umwelt« ist die innere Struktur, die das asthetische Objekt als positive
Seite dieser Sachlage erhilt: der Mikrokosmos-Charakter des Kunstwerks.
Denn die Forderung, die die Erlebnisimmanenz an ihr erfiillendes Objekt
stellt, setzt zwar als negative Vorbedingung seine Isoliertheit voraus, denn
nur wo nichts daneben und dariiber gesetzt ist, kann das Erleben iiber
den so eingestellten Gegenstand nicht hinausgehen, aber die positive Er-
fillungsméglichkeit mu in der inneren Struktur des Gegenstandes selbst
begriindet sein: die Immanenz des Erlebens soll nicht die Folge des bloSen
Nichthinausgehenkénnens, sondern zugleich und wesentlicher des Nicht-
hinausgehenwollens sein; ihre Notwendigkeit, um den Charakter des
Erlebnisses als normatives Erlebnis zu rechtfertigen, ist eine innere, onto-
logische, aus dem Wesen der Subjekt-Objekt-Beziehung folgende, die
nichts Auferes an sich haben kann. Der Ausdruck Mikrokosmos wurde
oft und mit Recht auf das Kunstwerk angewandt, seinem Sinn haftet
jedoch eine Zweideutigkeit an, die von der Abstammung dieses Begriffes
110 Heidelberger Asthetik

aus der mystischen Naturphilosophie bedingt ist und die beseitigt werden
muf, um das wahrhaft Charakteristische der Bezeichnung klar hervor-
treten zu lassen, Wenn das Kunstwerk ein Mikrokosmos genannt wird,
so ist damit sein Kosmos-Charakter gemeint: da es eine in sich abge-
schlossene, vollendete und selbstgeniigsame Totalitat ist, die diese imma-
nente Selbstabrundung ihren rein von innen gesetzten Grenzen verdankt;
Grenzen, die nichts Schrankenhaftes an sich haben, da sie nichts weiter
bedeuten sollen als Bezeichnungen fiir das Maximum an innerer Erfiillt-
heit und innerem Sich-aus-leben, die in dieser Welt a priori méglich waren
und wirklich geworden sind. Diese Grenzen bezeichnen also nicht die Linie,
wo ein Anderssein beginnt oder beginnen kann, sondern leiten vielmehr zu den
immanenten, aus der Idee des Werkes sich ergebenden und von ihr aus not-
wendigen Héhepunkten und Ausklingungen und von diesen in das Zentrum
ihrer Welt zuriick. Eine Welt, der gegeniiber eine Abgrenzung nétig wire,
gibt es gar nicht: das ist der Sinn dieser Grenzen, darum sind sie wahrhaft
immanente Grenzen, Grenzen, die einem Kosmos zukommen. Daf das
Werk Mikrokosmos genannt wird, stammt aus einer villig anderen Dimen-
sion seiner Betrachtung: aus dem Vergleich der Werkidee mit der Idee des
Universums, wobei jedoch nur der abstrakte Formcharakter des Werks zum
Vergleich herangezogen werden kann; die Parallelitat, die die Gegeniiber-
stellung von Makrokosmos und Mikrokosmos ergibt, bezieht sich also blo&
auf die beiden Formstrukturen, und der Kontrast von grof und klein ist
cher geeignet die qualitative Unvergleichbarkeit quantitativ zu verdecken,
zur Vergleichbarkeit zu homogeneisieren, als den wahren Unterschied her-
vorzuheben. Die Mikrokosmosidee der Naturphilosophie ist hingegen gerade
auf dem Gedanken der inneren Gleichartigkeit von Makro- und Mikrokos-
mos begriindet: sie ist eine Vernunftidee; ihre Aufgabe ist die innere We-
sensgleichheit beider Komplexe zur vertieften und verbreiterten Erkenntnis
beider zu gebrauchen. Die naturphilosophische Mikrokosmosidee hat die
Homogeneitit des Universums zur Voraussetzung, ist doch eine ihrer ent-
scheidenden Funktionen, die Trennung der sublunaren und superlunaren
Wirklichkeit zu beseitigen, dieselben Prinzipien des Aufbaus und der Dyna-
mik iiberall zu entdecken und zum Bewuftsein zu bringen. Daf dadurch der
Kosmoscharakter von einem der beiden aufgehoben werden muf, ist selbst-
verstandlich; es wird von der letzten Position der betreffenden Metaphysik
abhangen, welchem sie die Prioritat und damit das wahre Kosmos-sein zu-
spricht. Der andere »Kosmos« ist es nur im uneigentlichen Sinne, nur alle-
gorisch; er ist es nur insofern, als in ihm alle Prinzipien des anderen sich
Subjekt-Objekt-Beziebung 11
wiederholen oder abspiegeln, insofern er ein Abbild des wirklichen Kosmos
ist. Der Mikrokosmos-Charakter des Kunstwerks — auf dem philosophischen
Niveau der Vergleichbarkeit mit dem Universum gedacht, also bereits meta-
asthetisch — ist dagegen symbolisch und formell, nicht allegorisch und inhalt-
lich; es ist ein Mikrokosmos, weil es ebenfalls ein Kosmos ist, weil die For-
men, die es konstituieren, ihm ebenfalls eine Absolutheit, eine innere Voll-
endung und eine immanente Erfiillung aller setzbaren Moglichkeiten verlei-
hen. Es kann aber nur deshalb ein Mikrokosmos sein, weil es — aufer dieser
ganz abstrakt-formellen Gleichartigkeit — mit dem Universum nichts Ge-
meinsames hat. Nicht nur da die Autarkie seiner bauenden Formen ihm
jede Ubernahme irgendeines »gemeinsamen Inhaltes« — der um »gemein-
same sein zu kdnnen als bereits geformt iibernommen werden miifte — ver-
bietet, sondern die Formen selbst kénnen mit denen des Universums aufer
der abstrakten Idee der Absolutheit nichts Gemeinsames haben, ja sie miis-
sen, um etwas gleich Absolutes im véllig Heterogenen verwirklichen zu kén-
nen, von diesen radikal verschieden und in ihrer konkret-formellen Wesens-
art mit ihnen villig unvergleichbar sein.
Die positive Seite dieser Unvergleichbarkeit des Werks driickt sich in seinem
absoluten Aufsichgestelltsein aus. Dies bedeutet fiir den begrifflichen Aus-
druck seiner Wesensart grofe Schwierigkeiten, denn jede Bestimmung, aus
der ein Accent des Einfiigens in einen Zusammenhang wohl niemals ganz
auszumerzen sein wird, kann leicht eine Logisierung bedeuten. Selbst die
Paradoxie des Werks, seine Bezeichnung als das wirklich gewordene Un-
wahrscheinliche, ja Unmiégliche, als das Wunder schlechthin, hat einen sol-
chen Beigeschmack des Vergleichs: rein asthetisch gesprochen hat dieses
»Wunder« ein schlichtes und selbstverstandliches, unbewegt in sich ruhendes
Sein. Dazu kommt noch, daf dieses so extrem isolierte zentrale Objekt der
Asthetik von den zugeordneten Subjektsverhaltungen scheinbar doch weni-
ger abldsbar ist, als das entsprechende, weniger isolierte theoretische Sinn-
gebilde. Ein Satz an sich etwa ist unentstanden, d. h. in seinem normge-
mafen Gelten niemals von einem Subjektsakt »hervorgebracht«, wahrend
selbst dem »Werk an sich« ein Schdpfer normativ zugeordnet ist; geradeso
verharrt der Satz an sich in einer vélligen Gleichgiiltigkeit gegeniiber dem
Gedachtwerden, ja sogar gegeniiber dem Gedachtwerdenkénnen, wihrend
die Wirkungsméglichkeit mit der Idee des Werkes mitgesetzt ist. Dennoch
ist die Objektivitat des asthetischen Gegenstandes eine absolute, denn die
unzerreif{bare Bindung an die Erlebbarkeit, deren Komponente die Notwen-
digkeit dieser Subjektszuordnung ist, bedeutet fiir das Werk nur eine be-
112 Heidelberger Asthetik

stimmte Geltungsqualitat. Die Erlebnishaftigkeit ist nur der Stoff, aus dem
sich seine innerlichst selbstgeniigsame und auf sich selbst gestellte Welt auf-
baut, und da& sie von den bauenden Formen des Werks nicht aufgesogen,
nicht »umfaft«, nicht »vertilgt« werden, sondern in ihnen zum eigensten
Eigenleben aufbliihen soll, ist gerade die Vollendung dieser absoluten Im-
manenz und Objektivitat. Und auch das normativ mitgedachte »Hervorge-
brachtsein«, der zugeordnete Begriff des Schipfers, steigert nur diesen seinen
Objektscharakter (ganz abgesehen von dem in der Phanomenologie behan-
delten und noch spater zu analysierenden Sprung, der den Schépfer vom
Werk trennt): das Werk verdankt sich selbst seine Objektivitat. Ware das
»Hervorbringen« des Werks nur etwas Scheinbares, nur ein anthropomor-
pher Uberrest oder ein Herabgezerrtwerden in die Subjektivitat aus seinem
raum- und zeitlosen An-sich-sein — wie das »Produktive« der Erkenntnis
aufgefaft werden kann und oft aufgefa&t wurde —; ware das Schaffen eine
Art Wiedererinnerung, eine Art Besinnung auf dieses An-sich-sein, auf das
vor dem Schaffensprozef liegende, transcendente Da-Sein des Werkes, so
wire seine Immanenz wieder aufgehoben. Wenn also Schopenhauer die
erhabene Objektivitat der Kunst dadurch begriinden will, da& in ihr das
Subjekt als Subjekt ausgeschaltet werden muf, um die »reine Objektivitat
der Anschauung« zu erreichen, die »dadurch bedingt (ist), da& man nicht
mehr seiner selbst, sondern allein der angeschauten Gegenstande sich be-
wut ist, das eigene Bewuftsein also blof als der Trager der objektiven
Existenz jener Gegenstiinde iibrig geblieben iste *, so verleiht er zwar der
Anschauung selbst eine hohe — metaphysische — Objektivitat, hebt aber zu-
gleich die autonome Objektivitit des Gegenstandes auf. Die Objektivitae
begriindet sich dann in einem Aufer-sich, in seinem Zusammenhang mit der
Ideenwelt, und er selbst wird zum Mittel und Weg zur Erlangung dieses
Zusammenhanges. »In Folge... meiner ganzen Ansicht von der Kunst, ist
ihr Zweck die Erleichterung der Erkenntnis der Ideen der Welt« **, sagt
er zusammenfassend. Der Mikrokosmos-Charakter des Kunstwerks fordert
aber, daf es seine Objektivitat ausschlielich auf sich selbst griinde.
Wie ist dies méglich? Wenn das Werk hierdurch nicht zu einer metaphysi-
schen Entitat verabsolutiert werden soll — was nicht nur unserer Anschau-

11 (Die Welt als Wille und Vorstellung. Simtliche Werke. Hrsg. von E. Griesebach.
Leipzig. Reclam. 2. Abdruck. Bd. II. S. 434.]
12 [Ebda, S. 478-479.]
Subjekt-Objekt-Beziehung 113

ungsart fernliegt, sondern auch den von anderen Voraussetzungen ausge-


henden Systembildungen stets fernlag, die ja eher die Tendenz haben miis-
sen, durch die metaphysische Setzung des Zentral-Asthetischen iiber das
Werk hinauszugehen —, wenn wir auf dem Niveau der Werttheorie
bleiben und die Asthetik als eigenes Wertgebiet betrachten wollen, so kann
dies nur eins bedeuten: da im Asthetischen Wert und Wertrealisation zu-
sammenfallen; da& wir hier nicht mit Akten (wie in der Ethik) noch mit
»idealen« Sinngebilden (wie in der Logik) zu tun haben, denen ein ihnen
transcendenter, absoluter Wert (oder Unwert) »anhaftet« und die als Wert-
realisationen dementsprechend wertvoll oder wertwidrig sind, sondern in
jedem einzelnen Gegenstand, der Gegenstand der Asthetik geworden ist, mit
dem transcendenten und absoluten, leitenden Wert der Asthetik selbst. Denn
auf diesem, prinzipiell unmetaphysischen Niveau vermag nur der Wert eine
causa sui in bezug auf Geltung zu sein, alles ihm bloS Zugeordnete, auf ihn
Intendierende kann blo durch sein Vermitteln eine Geltung beanspruchen.
Dadurch aber scheint die Paradoxie dieses strukturellen Tatbestandes eher
ins Absurde gesteigert als gehoben zu sein. Das Problem spitzt sich im we-
sentlichen auf die anscheinend unbeantwortbare Fragestellung zu: es wurde
bis jetzt immer mit grdStem Nachdruds auf die vollendete Immanenz des
Kunstwerks hingewiesen und gerade hierin sein unterscheidenstes Kennzei-
chen von allen anderen Sinngebilden erblickt; wie lat sich jedoch diese seine
Struktur damit vereinigen, da es, in dieser vollendeten Immanenz, der
transcendente Wert selbst sei? Um dies villig begreiflich zu machen, wird
es notwendig, auf die spezifische Eigenart der Transcendenz in der Asthetik
zu reflektieren und sie genauer herauszuarbeiten. Das Gemeinsame aller
Transcendenzbegriffe, welcher Wertsphare immer sie auch angehéren migen,
ist naher bestimmt die Subjektstranscendenz, wobei selbstverstindlicher-
weise nicht an das »natiirliche«, das reale, sondern an das der Sphire zuge-
hdrige Subjekt gedacht werden mu. Die Subjektstranscendenz des leiten-
den Wertes macht aus seiner Beziehung zum normativen Subjekt ein trans-
cendentes Sollen, die Geltungsart, durch die die Struktur und der Aufbau
der Sphire begriindet werden. Freilich reicht hier die bloBe Setzung der
Transcendenz nicht aus, ihr Wesen mu8 vielmehr eine notwendige und kon-
stitutiv bestimmende Beziehung zum normativen Subjekt der Sphare haben.
Fir die ethische Sphire wurde dies bereits in den Schriften Kants, fiir die
theoretische sowohl von ihm selbst wie von seinen Nachfolgern, am pragnan-
testen wohl von Rickert und Lask, so ausfiihrlich analysiert, da& der Hin-
weis auf sie geniigen mu8; fiir die Asthetik ist hier zu untersuchen, worin
114 Heidelberger Asthetik

das schlechthin Subjektstranscendente im Werke liegt und wie sich diese


Transcendenz mit den normativen Subjekten der Asthetik (dem Schaffenden
und dem Receptiven) so verbindet, da& das Gelten des Werks fiir sie zum
transcendenten Sollen wird, da erst durch dieses Sollen sowohl ihre Inten-
tion auf das Werk wie das Werk selbst in seiner Gegenstandlichkeit tran-
scendental begriffen werden kénnen.
Die Phanomenologie des Schaffenden zeigte uns — unter anderem — das
Auftauchen und das allmahlich Positiv-, Rein- und Substantiellwerden der
schépferischen Subjektivitat. Wir sahen damals, da& das Stadium des Natu-
ralismus dieses Problem aufwarf, freilich als schroffen und unverséhnbaren
Kontrast zwischen der schépferischen Subjektivitat und zwischen der ihr
fremden »AuSenwelt«, die sie in vergeblichem Bemithen »abzubilden« oder
»nachzuahmen« bestrebt war; da& also das Wesen des Naturalismus in dem
transcendenten Gegebensein der Objektivitat bestand und ebendeshalb nicht
das normativ-schdpferische Verhalten und die asthetische Subjekt-Objekt-
Beziehung verwirklichen konnte. Aus diesem uniiberbriiccbaren Dualismus
filhrte die gegenstandschaffende Werkform und ihr phanomenologischer Tri-
ger, das Genie, mit der ihm innewohnenden, zu seiner Definition gehdren-
den harmonia praestabilita von Erlebnisform und technisch-kiinstlerischer
Form heraus. Denn die phinomenologische Folge dieser Wesensart des Ge-
nies mute eine immer schwebende, dem Gleichgewicht und der Identifika-
tion zustrebende Relativierung von Subjektivitat und Objektivitat sein, wo
die beiden Prinzipien, aus denen sich der Gestaltungsproze8 des Genies
bildet, die Vision und die Technik, ihre Funktion als subjektive beziehungs-
weise objektive Prinzipien beliebig zu wechseln vermochten, so daf immer
das eine Prinzip als das der Objektivitat, das andere als das der Subjektivi-
tat erschien und die Gebundenheit in dieser willkiirlich-wechselvollen Set-
zung nur darin bestand, da das Als-subjektiv-Nehmen des einen Prinzips
notwendig das Objektiv-Werden des anderen bedeutet hat. Durch diese
Relativierung ist die eigentliche produktive Tatigkeit am Werk erst méglich
geworden, am Werk, dessen Wesen als »utopische Wirklichkeit«, als end-
giiltige und immanente Erfiillung des reinen Erlebens in der Identitét von
Subjektivitat und Objektivitat besteht. Aber die Tatigkeit ist blo& méglich,
blo& zur klargewordenen und zielstrebigen Intention auf das Werk gewor-
den, sie ist an sich ein unendlicher und prinzipiell unvollendbarer Proze8,
der — vom Standpunkt des schdpferischen Subjekts aus gesehen — mit einer
Resignation, mit einem bloBen »Aufgeben« der Arbeit enden muf; objektiv
jedoch das vollendete, selbstgeniigsame, Subjektivitat und Objektivitit zur
Subjekt-Objekt-Beziehung 115
Identifikation bringende Werk leistet. Unsere gegenwartige Frage bezieht
sich also darauf, in welchem Moment des Werks seine fiir das schaffende
Subjekt transcendente Wesensart begriindet liegt. Die Transcendenz des ob-
jektiven Moments war das phianomenologische Problem des naturalistischen
Stadiums: die Transcendenz der Objektivitat mu&te zum Problem des
»Nachahmens« und damit zur Selbstaufhebung der Kunst fiihren; das Genie
ist gerade dadurch Genie, daf fiir seine Stellungnahme zur Welt und zum
Werk die Frage von der subjektstranscendenten Objektivitat aufgehort hat
eine Frage zu sein, daf& es, infolge der eben hervorgehobenen harmonia
praestabilita, das »Objektive«, das »Aufere« als seinen innersten und sub-
jektivsten Besitz in sich einverleibt hat. Die Objektivitét des Werkes ist
also nur ein Aspekt seiner Immanenz: sie ist die vom Gegenstand aus be-
stimmte Seite der normativen Subjekt-Objekt-Beziehung als Bedingung der
Méglichkeit der Erfiillung, in ihr kann schon deshalb unmiglich der tran-
scendente Wert gesucht werden, weil ihr Sosein bereits das Gelten des Wer-
tes und damit seine Transcendenz voraussetzt, weil diese Objektivitat, ge-
rade als Objektivitat, vollig »normative Beziehung«, ganz von immanent-
konstitutiven Kategorien durchsetzt ist.
Der »Ort« der Begreifbarkeit der Transcendenz kann mithin nur im Begriff
der Subjektivitat selbst liegen, denn es wird sich bald erweisen, da& die
Identitat von Subjekt und Objekt im Werk, worin ja auch noch die struk-
turelle Heimat der Transcendenz gesucht werden kénnte, in bezug auf
dieses Problem dasselbe bedeutet. Das Subjektstranscendente ist die reine
Subjektivitat: ein Zustand der rein inneren Selbstvollendung des Subjekts,
der jede Gebundenheit an ein »Auferes« — an etwas, dem selbst durch seine
blofe Substratrolle in der vollendet innerlichen, subjektiven Tatigkeit auch
nur ein Minimum subjektsfremder Eigengesetzlichkeit zukommen kénnte —
iiberwunden hinter sich gelassen hat. Sobald das Wesen der ganz reinen
Subjektivitat so formuliert wird, erscheint ihre Bestimmung als transcen-
dent weniger paradox, Denn es ist selbstverstindlich, da® ein derartiger
Zustand der Subjektivitat nicht nur psychisch nicht realisierbar, sondern —
als struktureller Zustand einer Subjektivitat — nicht einmal konkret vorstell-
bar ist; so stark ist die Existenz der Subjektivitat ihrem Wesen nach an das
Dasein ihr gegeniibergestellter Objekte gebunden, Ja es scheint vielmehr,
als ob diese ganze Aufstellung eine willkiirliche Konstruktion ware, etwas,
das nicht einmal als Grenzbegriff, als transcendentes Endziel in der Ver-
wirklichungslinie der Intention auf reine Subjektivitat lage. Wenn wir je-
doch auf die Beziehung der »utopischen Wirklichkeit« zur dazugehérigen
116 Heidelberger Asthetik

Subjektivitat reflektieren, so wird es klar, da& der »utopische« Charakter


dieser »Wirklichkeit« gerade in ihrer Subjektdurchdrungenheit besteht, da8
sie nur ein Minimum an Subjektsfremdem enthilt, nur soviel, um sich als
etwas Selbstindiges, als dem Subjekt Gegeniiberstehendes iiberhaupt kon-
stituieren zu kénnen. Dadurch riickt der Proze& der kiinstlerischen Tatig-
keit, der phanomenologisch als stetiges Vertilgenwollen jeder subjektsfrem-
den Objektivitat begriffen wurde, um im vollendeten Werk iibergangslos
zu einer vom Subjekt véllig abgelésten Objektivitat umzuschlagen, in eine
neue Beleuchtung: das Umschlagen ist, an sich betrachtet, kein Abweichen
von der Richtung der kiinstlerischen Tatigkeit, geschweige denn ihre Verin-
derung ins Entgegengesetzte, vielmehr ihre geradlinige Fortsetzung, ihr
konsequentes Zum-Abschlu&-bringen. Es liegt aber im — apriorischen — We-
sen des Subjekts begriindet, da diese seine Vollendung ihm nur als unendli-
che Aufgabe aufgegeben sein und ihre Realisierung nur als Sprung, als Set-
zung eines von ihm absolut selbstandigen Gegenstandes geleistet werden kann.
Das Werk ist also, in dem Hegelschen Doppelsinn (und zwar mehr als con-
servare wie als tollere), die Aufhebung der kiinstlerischen Tatigkeit, es ist
weniger ihre Objektivation als ihre Selbstsetzung, ihre, wenn der eigentiim-
liche Ausdrudk gestattet ist, Subjektivation. Das Werk ist eine derart nach
innen gewendete, selbstherrlich gewordene reine Produktivitat, da& die
Tatigkeit aufhért ein Hervorbringen der — notwendig relativ subjektsfrem-
den — Inhalte, eine Tatigkeit an etwas zu sein, daf sie ein »ewiges Schaffen«
wird, in dem produktive Energie und Produziertes zur vollendeten Identi-
tat, zur absoluten Indifferenz kommen, in dem Subjekt und Objekt zusam-
menfallen.
Diese Bestimmung des asthetischen Wertes scheint in eine bedenkliche Nahe
zur intellektuellen Anschauung zu kommen und ihrer ganzen metaphysi-
schen Problematik anheimzufallen, aber gerade diese scheinbare Nahe bietet
die Méglichkeit, den reinen, metaphysikfreien Wertcharakter des Werks
klarzulegen. Denn das wirklich Gemeinsame in beiden ist nicht mehr als die
gefordert-vollendete Einheit von Subjekt und Objekt mit der struktiven
Folge, daf alle Entgegensetzungen, die aus ihrer Dualitat folgen, aufgelést
werden miissen. Und wenn diese Ubereinstimmung auch eine blo8 abstrakt-
formelle ist, die darum bei einer genaueren Analyse selbst formell aufhéren
muf eine wirkliche Analogie zu sein, so ist der Schein so bestechend, daf
gewif hier eines der wichtigsten Motive war, das Asthetische mit dem Me-
taphysischen in einen sehr engen Zusammenhang zu bringen und in der
Kunst das »Organon« der Metaphysik zu erblicken. Die radikale Verschie-
Subjekt-Objekt-Beziebung 117
denheit von beiden tritt in den wesentlichen Motiven, die zu ihnen fihren,
zutage. Das Motiv, das zur Forderung der intellektuellen Anschauung fihrt,
ist einerseits der Drang nach absoluter, das heif’t setzungsfreier Erkenntnis,
die eben darum andererseits der erkenntnistheoretischen Verfliichtigung der
Subjektivitat Einhalt tun und dem wesenhaft gewordenen Subjekt das wirk-
liche Haben des Absoluten, das Das-Absolute-sein verschaffen soll. Die Iden-
titdt von Subjekt und Objekt im Werk hingegen ist die Verewigung, das
Absolut-werden der aus der reinsten Subjektivitat stammenden Setzung
selbst; eine derart gestaltete Aufhebung ihrer »Willkiir«, die jedem subjek-
tiven Akt als solchem anhaften muf, daf sie gerade als Willkiir objektiv
werde. Die Intention geht also nicht auf das Absolute, sondern auf eine
solche Wesensart des Setzens, die die Frage nach dem Absoluten sinnlos
macht, auf ein Geltungsniveau, wo es iiberhaupt nicht vorkommen kann. Es
soll etwas Absolutes erreicht werden, aber keineswegs das Absolute, vielmehr
eine Sphire, in der das Absolute weder gedacht noch erlebt werden kann,
in der es nur letzte, in sich vollendete, voneinander unabhingige, zuein-
ander und zu der »AuSenwelt«, der wie immer gearteten Objektivitat (wo-
hin dann auch das Absolute gehirt) bezichungslose Komplexe gibt, iiber die
hinauszugehen nur durch Heraustreten aus der ganzen Sphare moglich ist.
Dadurch jedoch erhalt auch die Forderung des Zusammenfallens von Sub-
jekt und Objekt in jedem der beiden Fille eine verschiedene Bedeutung. Der
metaphysische Charakter der intellektuellen Anschauung zeigt sich unter
anderem auch darin, da& ihr Subjektsbegriff, wenn auch in den verschiede-
nen Systemen verschieden betont, am Endpunkt einer Intentionslinie steht,
die der der Erkenntnis diametral entgegengesetzt ist. Wahrend fir die Er-
kenntnis der Phinomene das Subjekt in der funktionellen Dualitat von
Subjekt und Objekt zum irreellen Grenzbegriff verbla&t, soll es hier wieder
»real« werden, denn nur so kann sein Einswerden mit der absoluten Reali-
tat den Zugang zur Welt des Absoluten erdffnen. Ein »reales« Subjekt, wo-
mit freilich keineswegs der »ganze Mensch« der Erlebniswirklichkeit gemeint
ist, soll also in dieser seiner setzungsfreien Tat zum Absoluten werden, soll
sich selbst als Absolutes, als mit dem Absoluten Identisches setzen. Durch
diese Tat des Subjekts wird eine absolut objektive Welt, die Welt des Abso-
luten erreicht, das schlechthin Subjektstranscendente also: das Sich-als-abso-
lut-setzen des Subjekts ist seine Selbstaufhebung, seine »Realitat« die Ver-
leugnung seines Subjektcharakters. So bleibt fiir die intellektuelle Anschau-
ung ein unauflésbares Dilemma bestehen: entweder zieht sie alle Konse-
quenzen dieser Selbstaufhebung und wird zur mystischen Kontemplation,
118 Heidelberger Asthetik
indem sie sich in eine Sphire erhebt, in der die ganze Entgegensetzung von
Subjekt und Objekt vor der alleinigen Wirklichkeit der erreichten substan-
tiellen Einheit, des Jenseits aller Gegensatze zunichte wird, was freilich zu-
gleich den Verzicht auf jegliche Erkenntnis und Aussagbarkeit bedeutet, oder
sie ist gezwungen, auch fiir die so errungene Welt des identischen Subjekt-
Objekts, um der Aussagbarkeit willen, die Dualitat von Subjekt und Objekt
wiederherzustellen, wieder eine »theoretische« Struktur aufzunehmen, was
dann den ganzen Aufstieg illusorisch machen muff. (Man denke an die Motive,
die Plotin zwangen, jenseits der Sphare des Erblickens der intelligiblen
Wirklichkeit als Gegenstand seiner intellektuellen Anschauung, dem unaus-
sagbaren év zuzustreben und dadurch die Absolutheit der Ideenwelt zu re-
lativieren.) Die Setzung des Werks ist unmetaphysisch; ihre Intention geht,
wie bereits hervorgehoben wurde, auf das Verewigen der Setzung, nicht auf
die Aufhebung der Willkiir der Setzung, sondern auf das Auffinden eines
Setzungsmodus, der das Kontrastieren mit einer transcendenten Objektivi-
tat, das den »Willkiir«-Charakter aller Willkiir verursacht, ohne ihr Wesen
zu beriihren, unméglich macht. Darum ist die leitende Idee der dsthetischen
Intention die reine, gegensatzfreie Subjektivitét: jedem Akt des Subjekts —
an sich betrachtet — muf dieser Makel der Willkiir anhaften, der nur durch
die vollzogene Setzung, die dann notwendigerweise das Setzen einer Objek-
tivitat ist, durch das Sicheinfiigen des Gesetzten in einen metasubjektiv gel-
tenden (oder metaphysisch seienden) objektiven (oder absoluten) Zusam-
menhang getilgt werden kann; die Willkiir ist — selbstredend im zeitlosen,
unpsychologischen Sinne gedacht — erst nachtraglich, durch das vollzogene
Biindnis mit dem Objektiven (oder Absoluten) notwendig geworden. Wenn
also etwa die existenzielle, metaphysische Ethik Kierkegaards in dem Satze
gipfelt, da die Subjektivitdt die Wahrheit ist, so ist damit keineswegs ein
Als-Absolut-Setzen der Subjektivitat gemeint, sondern vielmehr, da& die
existenzielle Subjektivitat das einzige Mittel des wahren Gottesverhiltnisses,
der wirklichen Beziehung zum transpersonalen Absoluten sei, im Gegensatz
zum scheinbaren, surrogatartigen Verhiltnis des theoretisch-asubjektiven
Verhaltens.
Die vollendet-reine Subjektivitat ist nur in einer Sphdre mdglich, in der
sie beziehungsfrei von jeglicher Objektivitat gesetzt ist, letzten Endes
also nur durch eine sphirenlose Selbstsetzung, da jede Sphire oder jedes
Medium einen irgendwie gearteten Zusammenhang und damit einen
transsubjektiven Mafstab bedeuten mu&. Darum kann sich die reine Sub-
jektivitat nur in einem Sich-als-Mikrokosmos-Setzen erfiillen, denn nur
Subjekt-Objekt-Beziebung 119
im Mikrokosmos ist jeder Gegensatzbegriff der »Willkiir«, durch die der
Mikrokosmos entstand, aufgehoben; weil sie hier vom Ziel zum Aus-
gangspunkt zuriickkehrt, zugleich Zentrum und Peripherie ist und als
ewiges Sich-selbst-Schaffen Anfang, Ende und Objekt ihrer selbst wird.
Darum muf diese Erfiillung in ihrer originiren und unverfalschten Form
subjektstranscendent sein, weil es dem Wesen jedes Subjekts widerspricht,
seiner selbst anders als praktisch habhaft werden zu kénnen, und der
Begriff des Handelns wieder das Dasein subjektsfremder Gegenstande, als
Substrate der Handlung, erfordert. Die Analogie zur intellektuellen An-
schauung besteht also zu Recht, indem fiir beide sowohl die Identitat von
Anschauendem und Angeschautem wie der daraus notwendig folgende
substantiell-reale Charakter beider Voraussetzung ist. Wahrend aber in
der intellektuellen Anschauung das Absolute den unbedingten, setzungs-
freien Primat hat, und das Subjekt vor die Aufgabe gestellt ist, sich in
Realitat mit ihm identisch zu setzen, was nur metaphysisch mdglich ist,
ist das Werk die Selbstsetzung der reinen Subjektivitét, von der nur eine
immanente, von jeder transcendenten Objektsgebundenheit freigewor-
dene Selbstvollendung gefordert wird. Dieser strukturelle Unterschied
zeigt den unmetaphysischen, den Wertcharakter der reinen Subjektivitat
auf: sie ist fiir das Subjekt eine Forderung und zwar eine in ihrer ur-
spriinglichen Reinheit unerfiillbare Forderung, deren Postulatscharakter
aber so gestaltet ist, da& die ihn zu erfiillen bestrebte Intention die asthe-
tische Sphire entstehen la®t und den transcendenten Wert realisiert. Und
es zeigt sich auch, da& die Transcendenz des Wertes selbst durchaus in
der subjektiven Beschaffenheit des Werks ihren Sitz hat, denn das Sollen,
das der Wert ausspricht, ist eben das Sollen der reinen Subjektivitit, der
vollendeten Erlebnisunmittelbarkeit, die sich im Werk vollkommen ver-
wirklicht, aber gerade durch diese vollkommene Verwirklichung fiir das
Subjeke als Subjekt unerreichbar bleibt. Das Werk als geleistete Subjekti-
vation der reinen Subjektivitit ist deshalb fiir die Asthetik das wirklich
Primare, wenn es auch eben deshalb fast rein negativ, nur durch das Ab-
ziehen aller aus dem »abgeleiteten« Niveau stammenden Bestimmungen
beschrieben werden kann. Als in sich vollendetes Objekt ist es bereits sub-
jektsgebunden, das heift, der vollendeten Subjektivation des Werks sind
die normativen Subjektivitaten des Schaffenden und des Receptiven zu-
geordnet, fiir die es nur als von ihnen unabhingiges Objekt gegeben
sein kann. Die Objektivitat des Werkes hebt also seine vollendete Selbst-
geniigsamkeit teilweise auf, es ist nunmehr als »utopische Wirklichkeit«,
120 Heidelberger Asthetik
als immanente Erlebniserfiillung, als Ziel der kiinstlerischen Tatigkeit da;
in Spiegelungen, die wegen ihrer Subjekt-Objekt-Dualitat, wegen der dar-
aus folgenden — wenn auch zum transcendentalen Strukturbestand ge-
wordenen — Subjektstranscendenz des Werkes und wegen der nur postu-
lierten, aber nicht erreichten reinen Subjektivitit der beiden normativen
Subjekte notwendig inadaquat bleiben miissen. Diese Inadiquatheit be-
steht selbstredend nur im Vergleich zum Werk an sich betrachtet, die
Subjekt-Objekt-Beziehung bezeichnet als solche die denkbar héchste Auf-
gipfelung der immanent médglichen Selbstvollendung sowohl von Sub-
jektivitit wie Objektivitit: das Objekt vollendet sich im Mikrokosmos
des Kunstwerkes und das Subjekt in seiner hichsten Erlebnisintensitat, in
dem Erleben der ihm vollendet angemessenen, der utopischen Wirklich-
keit.
Damit sind wir zu der friiher aufgestellten Bestimmung der Asthetischen
Sphire als der des vollendeten Sich-auslebens sowohl von Subjekt wie von
Objekt zuriickgekehrt, nur enthiillt sich jetzt diese Schicht als bloBe Vor-
letzte der Sphire, als das Niveau ihrer vom transcendenten Wert begriin-
deten, von ihm abhingigen und abgeleiteten immanenten Struktur. Die
aus diesem Abgeleitetsein stammende Auseinanderlegung der Subjekt-
Objekt-Identitat des Werks in die normative Beziehung des rein erleben-
den Subjekts zu einer ihm angemessenen Wirklichkeit mu in das
»schlichte Ineinander«, wie Lask18 das diesem Niveau entsprechende
logische Gebiet gliicklich bezeichnet hat, mannigfache Komplizierungen
bringen. Der Charakter des Werks als reine Subjektivation wird infolge-
dessen nicht nur durch sein Objekt-sein fiir die normativ zugeordneten
Subjekte verdunkelt, sondern erhilt auch eine Geltungsqualitit des »All-
gemeinen«, die dem an sich betrachteten Werte noch fremd war: das
Werk erscheint nunmehr, statt Selbsterfiillung schlechthin zu sein, als das
vollendete Schema der erlebbaren Erfiillung iiberhaupt. Freilich ist diese
Komplizierung der Urstruktur des Werks eine notwendige, aus seinem
Wesen als leitender Wert folgende, denn das Sollen der reinen Subjek-
tivitat, das sich in seinem Gelten ausspricht, ist zwar an isolierte Subjekte
gerichtet, deren Isolierung durch die Intention auf das als allein seiend
gesetzte Objekt ins Normgemafe gesteigert ist, es mu aber, um ein

43 [S.: Die Lehre vom Urteil. Gesammelte Schriften. Tubingen, Mohr. 1923. Bd. IL
S. 364]
Subjekt-Objekt-Beziehung iat
wirkliches, transcendentes Sollen zu werden, sich an jedes Subjekt richten
kénnen; das heift es setzt in jedem Subjekt eine allgemeine, formelle
Beschaffenheit der Subjektivitét voraus, die es gestattet, daf sich das
gleiche Sollen an jedes Subjekt wende, ohne es aus seiner Richtung auf die
nur ihm eigene, es von allen anderen qualitativ und unvergleichbar ab-
trennende Subjektivitat abzulenken, im Gegenteil um ihm gerade hier
die Erfiillung zu bringen. Diese paradoxe Art der Allgemeingiiltigkeit
der Norm (iiber deren Beschrinkungen und Voraussetzungen noch in
anderen Zusammenhingen zu sprechen sein wird) hat nur scheinbar eine
Khnlichkeit mit der Beziehung des kategorischen Imperativs zum ethi-
schen Subjekte. Dort ist die sogenannte »Irrationalitite der Beziehung,
die ja doch nur die Folge der Unableitbarkeit des Pflichtinhalts aus der
Form des Pflichtgebots ist, von der intelligibelen Zufalligkeit des kreatiir-
lichen Handlungssubstrats (auch in der Seele des Pflichtadressaten) im
Vergleich zu dem noumenalen Gesetz seiner Handlung bestimmt. Die
ethische Wesensgleichheit der durch das Erfiillen des Gebots zu Persén-
lichkeiten werdenden Subjekte, die freilich durchaus nicht die Identitét
ihres Wesens als Persénlichkeiten bedeutet, ist mit der Wertsetzung zu-
gleich vorausgesetzt: diese Wesensgleichheit ist gerade das, was im Aner-
kennen des Wertes gesollt wird. Im Gegensatz zu dieser normativen
Convergenz der Subjekte, die sich in der Idee vom »ethischen gemeinen
Wesen«, vom »Volke Gottes« klar und eindeutig ausspricht, wird im
Sollen der asthetischen Norm eine radikale Divergenz der Subjekte ge-
fordert. Die Frage nach dem »Gemeinsamen«, als strukturellem »Orte«
der »Allgemeingiiltigkeit« des Wertes, muf also hier eine véllig andere
Betonung erhalten. Die rein formelle Wesensart dieser »Gemeinsamkeit«
darf jedoch nicht zu einer Anniherung an die theoretische Sphire fiihren,
wie dies bei Kant der Fall ist, der ihre Bedingungen darum bei jedem
Subjekt als die gleichen anzunehmen fiir berechtigt fand, »weil sie sub-
jektive Bedingungen der Méglichkeit einer Erkenntnis iberhaupt sind,
und die Proportion dieser Erkenntnisvermégen, welche zum Geschmack
erfordert wird, auch zum gemeinen und gesunden Verstande erforderlich
ist, den man bei jedermann voraussetzen darf«14. Es handelt sich hier
bei ihm um ein entsprechendes In-Geltung-bleiben der Voraussetzungen
der theoretischen Allgemeingiiltigkeit, wie es uns bei den konstitutiven

14 [Kritik der Urteilskraft. § 39. Werke. Bd. 5. S. 366-367.]


122 Heidelberger Asthetik

Formen der Gegenstindlichkeit begegnet ist, wodurch seine tiefsinnige


und direkt auf das Wesen der Asthetischen Geltung ausgehende Lehre
von der »subjektiven Allgemeingiiltigkeit« der Geschmacksurteile ins
Reflexiv-Theoretische umgebogen und gerade in ihren eigentlichsten Be-
standteilen getriibt wird. Denn entsprechend der Verschiedenheit ihrer
Subjektsbegriffe miissen die Formbegriffe im Theoretischen und Astheti-
schen auch villig voneinander verschieden sein, so da die Bedingung der
Allgemeingiiltigkeit in der einen Sphare nicht nur nichts fiir die andere
bedeutet, sondern sogar ihre spezifische Struktur verfilschen muf. Die
hier wesentlich in Betracht kommende Seite der Formbegriffe ist die Art
ihrer relativen Gleichgiiltigkeit gegen den von ihnen umschlossenen In-
halt und, im engsten Zusammenhang damit, die Moglichkeit ihrer Funk-
tion als Trager einer adaquaten Mitteilung. Das dabei sogleich Auffallende
ist, da& die theoretische Form gerade wegen ihrer sehr weitgehenden
Freiheit vom umschlossenen Inhalt eine villig adiquate Mitteilung des
theoretisch relevanten Inhalts gewhrleistet, da gerade diese Gleichgiiltig-
keit die aufertheoretische Wesensart des Inhalts so stark neutralisiert, da&
das Problem von der Méglichkeit der adiquaten Mitteilung dberhaupt
erst durch ein In-Beziehung-setzen der theoretischen Sphire mit dem
vortheoretischen »Leben« aufwerfbar wird. In dieser Richtung sucht ja
auch Kant die Lésung, und seine »subjektive Allgemeingiiltigkeite ist die
Entdeckung von einer »Eigenschaft unseres Erkenntnisvermégens
...,
welche ohne diese Zergliederung unbekannt geblieben wire« ‘8; die Ent-
deckung der Konformitat aller theoretisch gerichteten, wenn auch sich
noch nicht rein theoretisch verhaltenden Subjekte, und damit die Ent-
deckung der Durchsetztheit der vortheoretischen Sphire von theoreti-
schen Kategorien. Der Geschmack wird dadurch zu »einer Art von sensus
communis«, und wenn hier auch zwischen logischem und 4sthetischem
sensus communis Unterschiede gefunden werden, so haben sie doch eine
gemeinsame Grundlage: die Tendenz »von den Beschrinkungen, die unse-
rer eigenen Beurteilung zufalliger Weise anhangen« zu abstrahieren,
»welches wiederum dadurch bewirkt wird, da& man das, was in dem
Vorstellungszustande Materie d.i. Empfindung ist, so viel wie méglich
wegla&t, und lediglich auf die formalen Eigentiimlichkeiten seiner Vor-

15 (Ebda. § 8. S, 282.]
Subjekt-Objekt-Beziehung 123

stellung oder seines Vorstellungszustandes, achthat« '*; d. h. es ist die


Tendenz da, bereits in der vortheoretischen Sphire, aus den Erlebnis-
inhalten alles blo& Erlebnishafte auszumerzen und ihnen — bevor sie noch
eine theoretische Gegenstindlichkeit erhalten hatten, bevor sie auf einen
Begriff bezogen wiren — eine Angelegtheit auf theoretische Formung,
eine erlebnisfreie, abstrakte Inhaltlichkeit tiberhaupt zu verleihen. Da-
durch wird die asthetische Form, die »unser Gefiihl an einer gegebenen
Vorstellung ohne Vermittelung eines Beegriffs allgemein mittelbar macht« 7,
statt wirklich begriindet und begriffen zu werden, zu einer — relativ —
verselbstindigten Vorform des Theoretischen gemacht. Denn die — eben-
falls relative - Freiheit der asthetischen Form von dem »umschlossenen«
Inhalt (was hier freilich ein sehr uneigentlicher Ausdruck ist) hat eine
wesentlich andere Struktur: die Form ist die des Erlebnisses selbst und
indem sie als Form »allgemein« wird, bezieht sich diese ihre Wesensart
auf die allgemeinen Grundlagen der Erlebbarkeit; sie »umschlieSt« ihren
Erlebnisinhalt auf solche Weise, da& er — als Erlebnisinhalt — erlebbar
wird. Die Erlebnishaftigkeit, deren sich bereits die vortheoretische Inten-
tion auf Erkenntnis entledigt hat, ist hier doppelt gegeben: als Form
sowohl wie als Inhalt; die asthetische Form macht einen konkreten und
in seiner Konkretheit bestimmten Erlebnisinhalt allgemein erlebbar. Die
Erfiillung dieser Form im Aufnehmenden ist also ihr Erlebtwerden und
zwar ihr inhaltliches Erlebtwerden, nicht das »Verstehen«, wie dieser
Formkomplex diese Erlebnisinhalte zu einem geschlossen-selbstgeniig-
samen Ganzen zu vereinigen imstande ist, sondern das unmittelbare Er-
leben des Ganzen als einer einzigartigen, alleindaseinden konkreten
Wesenheit, also: das inhaltserfiillte Erleben eines bestimmten Inhalts. Die
»Freiheit« der Form von dem Inhalt ist eine blo&e Folge der Unméglich-
keit der zugleich adaquaten und unmittelbaren, inhaltlichen Erlebnisver-
mittlung; eine Folge dessen, da® gerade die spezifische Qualitét des Er-
lebnisinhaltes, durch die er als reiner Erlebnisinhalt seine Gegenstandlich-
keit erhilt, in den verschiedenen Erlebnissen unméglich die gleiche sein
kann. Indem also die asthetische Form einen einmaligen und darum ad-
Aquat prinzipiell unmitteilbaren Erlebnisinhalt so umfaft, da seine Er-
lebnishaftigkeit durch die Formung nicht abstraktiv verfliichtigt oder ge-
triibt werde, und zugleich auf eine »Allgemeinheit« Anspruch erhebt,

16 [Ebda, § 40. S. 368.]


17 [Ebda. § 40. S. 369.)
124 Heidelberger Asthetik
kann die Allgemeinheit nur unter der Bedingung erfiillt werden, da& die
normativ erfolgenden subjektiven Erfiillungsakte prinzipiell und der
geltenden Norm entsprechend ihren Inhalten nach sowohl einander wie
dem erlebten Form-Inhalt gegeniiber in unvergleichbarer Verschiedenheit
auseinandergehen. Die »Allgemeinheit« ist deshalb in der Tat eine sub-
jektive, denn sie bezieht sich auf die allgemeinsten Bedingungen von
Subjektsverhaltungen, die in nichts anderem als in der rein formellen
Beschaffenheit der Intention auf die Erfiillung des reinen Erlebnisses, die
eine qualitative Unvergleichbarkeit zwischen ihnen statuiert, miteinander
vergleichbar, identifizierbar sind, die in bezug auf die Inhaltlichkeit
ihrer »Objekte« aber villig auseinandergehen sollen und miissen, da die
Gegenstindlichkeit des »Objekts« gerade in dieser divergierenden Erleb-
nisinhaltlichkeit besteht. Sie »sagen« infolgedessen tiber das »Objekt«
nichts »aus« — insofern trifft Kants »Mitteilung ohne Begriff« durchaus
den wesentlichen Sachverhalt -, ihre Beziehung zu ihm ist aber trotzdem
nicht reflexiv oder gar zufallig, sondern normativ und konstitutiv. Denn
die Objektivitit des Objekts besteht gerade darin, da es als Erfiillungs-
méglichkeit der reinen Erlebnisintensitat, als utopische Wirklichkeit dem
in seiner Subjektivitat homogen und rein gewordenen Subjekt gegeniiber-
steht, Schema der erlebbaren Erfiillung iiberhaupt ist. Die Bedingung
dieser Allgemeinheit ist in der Mdglichkeit zu suchen, da die Erfiillung
der reinen Erlebnisintensitat bestimmten — wenn auch vielleicht begriff-
lich nicht fa&baren ~ Gesetzen unterliegt, da die reine Subjektivitat
keine empirisch existente, psychische Gegebenheit, sondern eine Idee ist,
deren Verwirklichung fir jedes Subjekt eine unendliche Aufgabe ist,
jedoch der Wesensart der Idee entsprechend, fiir jedes eine von allen
anderen radikal verschiedene. Die Idee ist fiir jedes Subjekt nicht als die
Idee der reinen Subjektivitat iiberhaupt, sondern als die Idee seiner spre-
ziellen, unvergleichlichen, auf anderen Wegen unerreichbaren reinen Sub-
jektivitat aufgegeben.
Die relative Unabhangigkeit der asthetischen Form von ihrem Inhalt be-
steht somit nur fiir die Erkenntnis der asthetischen Sphire, nur fiir ihre
theoretische Strukturanalyse: im dsthetischen Erleben wird in normge-
forderter Weise jeder dieser unvergleichbaren Inhalte als der einzig mdg-
liche, als der mit der Form schlechthin identische erlebt; gerade weil es
dies zu verwirklichen vermag, diirfen wir das Werk als das Schema der
erlebbaren Erfiillung tiberhaupt bezeichnen. Die Werkform ist die voll-
endete Identitét von Form und Inhalt, ihr Sinn besteht gerade in dem
Subjekt-Objekt-Beziebung 125
Sinnlos-machen dieser Entgegensetzung. Fir den Schaffenden ist aber
diese Identitét eine Aufgabe, er soll einen (Erlebnis-)Inhalt zur Form
werden lassen, sein Formbegriff ist der einer Wirkungsform (forma
formans), wahrend dieselbe Identitit fiir den Aufnehmenden eine ihm
abgeschlossen gegeniiberstehende, (erlebnishafte) Anerkennung heischen-
de Wirklichkeit ist, in der die Form als etwas unabhingig vo ihm
fertig Gewordenes und Daseiendes (forma formata) erscheint. In diesem
Beziehungscharakter der beiden Formbegriffe — die aber entgegengesetzte
Richtungen haben: bei- dem Schaffenden vom Subjekt zum Objekt, bei
dem Receptiven vom Objekt zum Subjekt — liegt der Grund der Ein-
setzung des subjektiven Erlebnisinhalts in das Gebilde der Form-Inhalt-
Identitat, in das Werk, und zugleich der Grund fiir die Art dieses Ein-
setzens, die die relative Unabhingigkeit von Form und Inhalt in der
Asthetik bestimmt. Indem die Beziehung ein reines und normatives Er-
lebnis ist, mu sein Inhalt die spezifische Erlebnisqualitat des Subjekts
an sich haben, und die Unabhingigkeit der Form vom Inhalt bedeutet
die Méglichkeit, jede solche Erlebnisqualitit widerspruchslos in sich auf-
zunehmen, ja von ihr in einer solchen Weise erfiillt zu werden, da8 jedes
sich an ihr erfiillendes Erlebnis in dieser seiner spezifischen Qualitat so-
wohl als das subjektiv einzig mégliche, wie als das objektiv-inhaltlich
adaquate erscheint. Diese Einheit ist jedoch nur die einer vollendeten
Subjekt-Objekt-Beziehung, nicht die transcendente Identitat selbst. Wegen
der normativen Erlebnishaftigkeit des Subjektsverhaltens hat sie aber die
qualitative Andersheit und Unvergleichbarkeit des »erlebten« und zwar
als Objekt erlebten Erlebnisinhalts im Vergleich zu dem, der in der tran-
scendenten Form geformt ist, zur Voraussetzung. In diesem Sinne kann
das isthetische Verhalten, wie dies bereits in der Phinomenologie ge-
schehen ist, als normatives Mifverstindnis bezeichnet werden. Es kommt
dabei nicht auf die — immer nur nachtraglichen und begrifflichen, also
in ihrer asthetisch relevanten Qualitat niemals fa&baren — psychologischen
Inhaltlichkeiten der Erlebnisse (denn diese kénnen, da die psychologische
Begriffsbildung sie ihren methodischen Voraussetzungen entsprechend
homogeneisiert und vergleichbar gemacht hat, — psychologisch — sehr stark
convergieren), sondern auf den aus dem Wesen der reinen Erlebbarkeit
folgenden, strukturellen Tatbestand an, da& nur die eigene Erlebnis-
qualitit in dem reinen Erleben als solchem eine Gegenstindlichkeit er-
halten kann; da8 mithin nur solche Objekte Gegenstande des reinen Er-
lebens werden kénnen, die ihrer Formung nach auf eine derartige kon-
126 Heidelberger Asthetik

stitutive Durchsetztheit von der spezifischen Erlebnisqualitit des jeweili-


gen erlebenden Subjekts a priori und normativ angelegt sind.
Dem Unterschied von forma formans und forma formata entsprechend,
muf sich diese Beziehung von Subjekt und Objekt bei Schaffendem und
Receptivem verschieden dufern, trotz der tiefen Verwandtschaft, da es
sich fiir beide um die Verwirklichung des vollendeten Gleichgewichts
zwischen reinem Subjekt und angemessenem Objekt, zwischen geschlos-
sener Form und erlebbarem Inhalt, zwischen subjektivster Willkiir im
Verhalten und objektivster Notwendigkeit im Gebilde handelt. Die Rela-
tivierung der subjektiven und objektiven Prinzipien im Schaffensprozef
ist bereits erwahnt worden, ihre Bedeutung driickt sich fiir unser gegen-
wirtiges Problem in der Ausprigung des Sollenscharakters, den die Idee
der reinen Subjektivitét im Prozef der kiinstlerischen Tatigkeit zustande
bringt, aus. Die Intention auf das Werk als reine Subjektivitat ist hier
von zwei Beengungen gehemmt: erstens daft die Stilisierungsrichtung der
kinstlerischen Tatigkeit, die Einnahme des »Standpunkts«, der durch die
homogene Reduktion entstanden ist, dem Objekt gegeniiber relativ will-
kiirlich 2u sein scheint; zweitens da die Verwandlung des »ganzen Men-
schen« der Erlebniswirklichkeit in den Menschen »ganz«, ebenfalls eine
Folge der homogenen Reduktion, als Aspekt, als Prinzip der Auswahl, des
Ignorierens und Vergewaltigens, der Idee der reinen Subjektivitat gegen-
iiber auch etwas Willkiirliches an sich zu haben den Anschein hat, daf
diese Verwandlung weniger eine Entfaltung der eingeborenen subjektiven
Wesensart als ihr Dienstbarmachen subjektsfremden Eigengesetzlichkeiten
zu sein scheint. Die kiinstlerische Tatigkeit wird, wie wir wissen, zum
schwebenden Gleichgewicht zwischen Willkiir und Notwendigkeit, zwi-
schen Subjektivitét und Objektivitit, zum stets abwechselnden Aufneh-
men der Objektivitat in die Subjektivitac und umgekehrt. Und das Pro-
blem von Form und Inhalt relativiert sic: dementsprechend so, da&
der Inhalt — der hier das Erlebnis des Kiinstlers bedeutet — bald
als bloSer Inbegriff von Wirkungsmdglichkeiten, als bloBes Gestal-
tungssubstrat von der Form verschlungen wird, bald die Form zum
bloSen wirksamen Vehikel des Erlebnisausdrucks, des ungehemmten Sich-
auslebens der zur reinen Intensitat gewordenen, souverdnen Subjektivitat
erniedrigt. Die Reinheit und Normgemafheit der Intention offenbart sich
im Gleichgewicht dieser Schwankungen, in der Verwirklichung des Ge-
richtetseins auf das Werk durch die geleistete Verwandlung des Kiinstlers
in den Mensch »ganz« sub specie der spezifischen Werkform, in seiner
Subjekt-Objekt-Beziehung 127

vollendet vollzogenen Isolierung aus jeder subjektiven wie objektiven


Bindung und Gemeinschaft: in seiner Isolierung von jeder wie immer ge-
arteten Objektivitat durch ein immer reineres Herausarbeiten der nur
ihm eigenen Erlebnisqualititen, die in der homogenen Reduktion Frei-
heit, Richtung und Gebundenheit erhalten; in seiner Isolierung als Sub-
jekt von allen eigenen Erlebnisstrémen, die nicht im »Standpunkt« die
Weihe der Intention auf das Werk erhalten haben, von seiner eigenen
»Persénlichkeit« also, sofern sie »ganzer Mensch«, Mensch der Erlebnis-
wirklichkeit ist oder auf etwas Subjektstranscendentes, das aber auSerhalb
des Werkes liegt, auszugehen im Verdacht steht. Diese vollendete Isolie-
rung, in deren luftleerem Raum der reinen Subjektivitit jede Willkiir
sich von jedem Gegensatz loslést und den Weg zur Identifikation mit der
Notwendigkeit einschlagt, erméglicht erst die kiinstlerische Tatigkeit,
die im dynamischen Auseinander alle Elemente in sich birgt, die im Werk
sich als Indifferenz des Ineinanders konstituieren. Sie mu& gerade deshalb
unendlicher Prozef, erfiillungslose Aktivitat sein, weil sie sich nur durch
ihren — allerdings subjektstranscendenten — Aggregatzustand vom Werk
selbst unterscheidet. Sie macht als unendliche Bewegung in der Richtung
auf ganz reine Subjektivitit gleichzeitig das vollendet angemessene Ob-
jekt mdglich und verwirklicht so die eigentlichste und echteste Subjekt-
Objekt-Beziehung. Darum ist dieses Verhalten dem Werk objektiv — ge-
wissermafen von aufen betrachtet — unendlich nahe, darum aber ist es
subjektiv, als Akt, unendlich fern von ihm. Darum kann nur der Sprung,
als Erreichtsetzen des Unerreichbaren und als Resignieren im Moment
des Verwirklichthabens, die dynamisch-angemessene Subjekt-Objekt-Be-
ziehung zwischen Kiinstler und Werk, einen Abgrund zwischen ihnen
legend, stiften: als Vollendung der kiinstlerischen Tatigkeit ist das Werk
dem Subjekt des Kiinstlers véllig transcendent, aber die Ideenhaftigkeit
des Werks, sein Hinausgehen iiber das bloBe Objekt-sein, wenn es auch
angemessenes Objekt-sein fiir jede Subjektivitat ist, spiegelt sich in dem
unendlichen Proze® der kiinstlerischen Tatigkeit und dem sie krénenden
Sprung. Jede Tendenz des schépferischen Verhaltens, iiber dieses dyna-
mische Gleichgewicht hinauszugehen, verwandelt es in eine kennerhafte
Receptivitit, kompliziert die Struktur der Subjekt-Objekt-Beziehung
noch mehr und entfernt es noch mehr vom »schlichten Ineinander« der
Werkstruktur. Es entsteht entweder eine Lehre von den Wirkungsfor-
men, die das Prinzip der Aktivitat als inhaltsfreies, technisch-geschlosse-
nes System der reinen Beziehungsformen aus dem Begriff der forma
128 Heidelberger Asthetik

formans herauszuldsen bestrebt ist und auSer Acht lassen mu&, da selbst
die dynamische forma formans nur ein Aspekt der kiinstlerischen Tatig-
keit und die wiederum nur ein Aspekt des Werks ist, da die technische
Rationalisierung somit zur Abstraktion aus einer Abstraktion wird und
da& darum jedes Absehen vom »Inhalt« eine noch gréfere Entfernung
vom wirklichen Wesen des Werks bedeutet; oder das Verhalten schlagt
in eine vollig irrationelle kiinstlerische Erlebensmystik um.
Wesentlich einfacher gestaltet sich, gerade wegen der objektiv gré®eren
Distanz vom Werk, das receptive Subjekt-Objekt-Verhiltnis. Da hier die
Form als forma formata, als Daseinsform der reinen Kontemplation dem
Receptiven gegeniibersteht, da es hier keinen zum Werk fiihrenden Pro-
ze8 gibt, sondern der Sprung gewissermafen Anfang und Ende des Ver-
haltens ist (und nur die mehr oder weniger negativ betonte Bereit-
schaft als Zuwendung voraussetzt), da das Durchdringen des Objekts von
den Erlebbarkeitsformen der reinen Subjektivitét im Werk bereits ge-
leistet ist, fordert das Werk vom Receptiven nur reine Hingabe, damit
die Bezichung seiner rein gewordenen Subjektivitit zum Werk als vollen-
detem Objekte sich verwirkliche. Die Kompliziertheit dieser Beziehung,
ihre Entfernung vom »schlichten Ineinander« des Werks, besteht im
wesentlichen darin, da® hier ein fremder Form-Inhalt-Komplex normge-
mi als eigener, als Erfiillung der reinen Subjektivitdt erlebt werden soll;
da& die hier notwendige Erscheinung der Werkform als forma formata,
als Daseinsform ihr inhaltliches Erlebtwerden, das Umschlagen des Form-
Inhalts des Werks in die Erlebnisqualitit der Inhalte der receptiven Sub-
jektivitat und damit die Zersetzung der Form-Inhalt-Identitit im Werk
und ihr Sich-zusammenfiigen zu einer weniger identischen Erlebniseinheit
in der receptiven Kontemplation normativ bedingt. Kurz gesagt: die Iden-
titat der Gegensitze im Werk wird im receptiven Erlebnis zu ihrer
blofen Harmonie, ihr im schpferischen Proze8 dynamisches Gleichge-
wicht erscheint hier als ein statisches. Und dieses Durchscheinen der
kiinstlerischen Tatigkeit durch das Werk kann auf seinen Mikrokosmos-
Charakter auch nicht ohne Riickwirkung bleiben: das Werk erscheint
nunmehr auch als die Tat der schépferischen Persénlichkeit, es ist nicht
mehr véllig ungeworden, sondern etwas Geschaffenes. All dies ist jedoch
blo& eine Verwickelung der Struktur, ein Mitklingen transcendenter
TOne in der reinen Immanenz des receptiven Erlebens, dessen Reichtum
und Zusammenhang hier freilich nicht einmal angedeutet werden kann.
Das Entscheidende bleibt: die dem Receptiven zugewandte Seite des
Subjelet-Objekt-Beziehung 129
Werks, die forma formata la&t in diesem eine absolute Immanenz des
reinen Erlebens (in bezug auf die Werkform, also als Erlebnis des Men-
schen »ganz«) entstehen und verwirklicht auch in ihm die Selbstvollen-
dung der reinen Subjektivitét, die in der Kontemplation eines ihr vollig
angemessenen, da fiir diese Angemessenheit angelegten, Objekts, aus allen
Bindungen und Beziehungen herausgehoben, sich zum Kosmos der Er-
lebbarkeit steigernd, selbstgeniigsam und selbstherrlich in sich ruht.
Der Aufbau der Asthetischen Sphire zeigt also zwei voneinander struk-
turell durchaus verschiedene Schichten: die mikrokosmosartigen Welten
der transcendenten Werke an sich einerseits und die ihnen zugeordneten,
von ihnen abgeleiteten und abhingigen, angemessenen Subjekt-Objekt-
Beziehungen andererseits. Die beiden Schichten decken sich nur in ihrem
isolierenden Aufbau, darin daf& jeder der einzelnen realisierten Akte
oder Gebilde nur in sehr uneigentlichem Sinne in der Sphire steht, viel
eher die ganze Sphire erfiillt oder gar mit ihr identisch ist, da& also die
Sphiare ihre »Elemente« nur in einer ihnen vdllig fremden Dimension,
der theoretischen, wirklich umfa&t. Jeder Akt und jedes Gebilde ist eine
fensterlose Monade, die von allen anderen gleichartigen Monaden norm-
gem4& und prinzipiell nichts wissen, die mit ihnen — auf ihrer eigenen,
der Asthetischen Dimension — in keinerlei Beziehung gebracht werden
kann. Fiir das Werkniveau ergibt sich diese Struktur in einer selbstver-
standlichen, keinerlei Erérterung bediirftigen Evidenz. Fiir die Subjekts-
verhaltungen kann es vielleicht scheinen, als ob das Zugeordnetsein an
dasselbe Werk zwischen den schépferischen und receptiven Verhaltungs-
paaren eine wenigstens enger zusammenhingende Gruppe stiften wiirde.
Jedoch auch diese Annahme erweist sich als Schein, wenn bedacht wird,
da’ infolge des reinen Erlebnischarakters der Subjektsverhaltungen die
Identitat des zugeordneten Objekts sehr problematisch wird. Daf das
vom Schaffenden produzierte und vom Receptiven genossene Werk nicht
»dasselbe« ist, erweist sich schon aus dem Unterschied der ihnen zuge-
kehrten Werkseiten, aus dem Unterschied von forma formans und forma
formata, und der sich daraus ergebenden, strukturellen wie inhaltlichen
Differenzen. Aber auch das wirkende Werk als Schema der erlebbaren
Erfiillung iiberhaupt ist nur ein Knotenpunkt heterogener Verhaltungen,
weshalb auch die Geltungsform des im Werk realisierten Wertes, nicht
aber das zum Erlebnis gewordene Werk selbst - als konkreter, inhalts-
erfiillter Gegenstand ~ Trager der Identitat ist; es ist also nur eine iden-
tische Geltungsform da, aber die Identitat selbst hat kein Erfiillungs-
130 Heidelberger Asthetik

substrat. Wegen des normativen Erlebnischarakters der asthetischen Akte


vermag selbst die Zugehdrigkeit an »dasselbe« empirisch-psychologische
Subjekt mehreren auf »dasselbe« Werk gerichteten Akten keine Identitit
zu verleihen (wenn diese auch — psychologisch — so ahnlich sein kénnen,
da ihr Unterschied fiir die Psychologie mit Recht nicht in Betracht
kommt). Die Asthetik hat hier eine wahrhaft heraklitische Struktur, in
ihr kann niemand zweimal in denselben Flu8 steigen, nur daf dies hier
keine von auBen gezogene metaphysische Schranke, sondern ihre spharen-
theoretische Grenze und positive Eigenart ist.
Der Unterschied zwischen dem Werkniveau und dem der Subjekt-Objekt-
Beziehungen spiegelt sich auch darin, da& die Isolierung des Werkes eine
absolute ist. Das Werk bleibt von jeder theoretisch-allgemeinen Einstel-
lung in eine wie immer geartete Sphire villig unberiihrt. Jede Sphire, sei
sie nun kunsttheoretisch, geschichtsphilosophisch oder rein asthetisch, ist
dem Werk gegeniiber eine sein eigentliches Wesen niemals adaquat tref-
fende Abstraktion, wahrend die Differenz dieser Begriffswelten fiir das
Niveau der Subjekt-Objekt-Beziehungen von grofer Bedeutung ist. Die
entscheidenste Rolle kommt dabei dem kunsttheoretischen Niveau zu.
Es ist ja — wie im Anschluf an Fiedler betont wurde — im Vergleich zu
der Totalitit des Asthetischen das originir Asthetische, es bezeichnet die
Stelle, wo die Verwandlung des »ganzen Menschen« zum Menschen
»ganz« erreicht wird, so daf& hier die methodische Heimat der reinen
Subjektivitat in ihrer konkreten Realisierung ist, wahrend die Asthetik
selbst es nur mit dem abstrakt-strukturellen Begriff der reinen Subjek-
tivitdt tiberhaupt zu tun hat. Dieser Primat der Kunstart vor der Kunst
gibt der reinen Subjektivitat einen neuen Accent: ihr Aufgegebensein hat
divergente, einander véllig heterogene und einander ausschlieBende Rich-
tungen. Sie ist also nicht nur dem heraklitischen Fluf der reinen Erlebnis-
artigkeit unterworfen, der ja dann zum Ausdruck und Vehikel des un-
endlichen Prozesses, der notwendigen Beziehung zur Idee werden kénnte
und nur die Paradoxie hitte, aus diskreten Momenten der immanent voll-
endeten Erfiillung zu bestehen, sondern es entstehen innerhalb der asthe-
tischen Sphire - als Ganzes betrachtet - voneinander selbstindige quasi-
Sphiren, deren jede je eine der anderen gleichwertige, aber villig hetero-
gene Realisierungsstatte der reinen Subjektivitat reprasentiert. Da& jede
von ihnen den Menschen »ganz« und damit die reine Subjektivitit als
vollendeten Kosmos verwirklicht, da also jede in sich abgeschlossene
Totalitaten schafft, ist selbstverstindlich, kann aber an diesem Tatbestand
Subjekt-Objekt-Beziehung 131

nichts andern. Und soll es auch nicht, da der unmetaphysische Charakter


der in der Kunst verwirklichten reinen Subjektivitat sich gerade in diesem
Zum-transcendenten-Wert-werden der Setzung offenbart. Jeder Versuch
liber diese Vielheit im konkreten Aufgegebensein der isthetischen ‘Idee
hinauszugehen, mu8 zur metaphysisch-ontologischen Setzung der astheti-
schen Subjektivitit fiihren, die diese Differenzierungen als bloSe Stufen
durchschreitend ihrer konkret-einheitlichen Erfiillung zueilt, zugleich je-
doch die Idee der Kunst und damit sich selbst aufheben muf. Die Sehn-
sucht nach dem »Gesamtkunstwerk« ist auch aus dieser Problematik ent-
standen und auch sie setzt deshalb eine metaphysische Fassung der Kunst
voraus. Es zeigt sich in ihr der metaphysische Trieb zur Einheit, dem die
Fremdheit der erreichten reinen Subjektivitat von der »Persinlichkeit«
des Menschen (empirisch, ethisch oder religids genommen) bewuft wird,
der dieser ZerreiRung des Ichs in die »wesenlosen« Subjektivitatsakte ent-
gegenarbeiten und die substantielle Einheit wieder herstellen will. Diese
Einheit liegt aber nicht in der Idee der Asthetik, fiir sie sind die den Men-
schen »ganz« zusammenfassenden Einheiten der asthetischen Akte letzte
und unaufhebbare Gegebenheiten: die Bedingungen der Méglichkeit fir
Entstehen und Wirken des Werks, die transcendentalen Voraussetzungen
fiir die Verwirklichung des Wertes, so da selbst die Paradoxie, die sich
in dieser ihrer zerstiickelnden Wirkung zeigt, sich nur von einem sphiren-
fremden Gesichtspunkt aus ergeben kann, infolge der Vergleichung der
asthetischen reinen Subjektivitat mit dem Persénlichkeitsbegriff eines
anderen Gebietes. Fiir die immanente Asthetik als autonome Wertwissen-
schaft hat diese Sachlage nichts Paradoxes; sie ist nicht mehr als ein
anderer Aspekt der von ihren Normen geforderten, angemessenen Sub-
jekt-Objekt-Beziehung.
Scblugbemerkung. Diese Analyse ist rein werttheoretisch gemeint und
will nichts als die eigentliche Struktur der asthetischen Sphire heraus-
arbeiten; die anderen Sphiren wurden also nur um der Abgrenzungen
der sthetischen Sphire willen tiberhaupt beriicksichtigt. Die Frage wie
das so erkannte Asthetische Wertgebiet in einem System der Werte oder
in einem metaphysischen System steht, soll iiberhaupt nicht aufgeworfen,
geschweige denn beantwortet werden. Es kann jedoch auch nicht ver-
schwiegen werden, da der Wille zum System, mit seinem notwendigen
Willen zur Harmonie der Werte fast immer von vornherein auf ihre
Abstimmung aufeinander und auf die vorausgesetzte Harmonie zustrebt
und deshalb das aus der Ebene der anderen Werte herausstrebende Wesen
132 Heidelberger Asthetik

der Asthetik zu verschleiern und zu vermildern versucht. Hier soll da-


gegen im Namen der einfachen Erkenntnis der dsthetischen Sphire Ein-
spruch erhoben und betont werden, da& die metaphysischen »Feinde« der
Kunst — etwa Platon, Kierkegaard oder Tolstoi - sowohl ihr normatives
Wesen, wie ihre metaphysische Bedeutung klarer erkannt haben, als ihre
harmonisierenden Verteidiger. Wenn also jemandem bei der hier ver-
suchten — immanent werttheoretischen — Analyse das Luciferische als der
metaphysische »Ort« des Asthetischen in den Sinn kommt, so kann und
will ich ihm nicht widersprechen. Ich mu blo& wieder betonen, daf hier
nur eine immanente Strukturanalyse versucht und diese Frage gar nicht
aufgeworfen wurde, weil sie ja auf dem Niveau der Werttheorie gar nicht
aufzuwerfen ist®.

18 [Siche Appendix II.]


ZWEITER TEIL
Die transcendentale Dialektik der Schénheitsidee
135

Bei allen vorangehenden Erérterungen muBte es auffallen, da& der Begriff


der Schénheit, der in den klassischen Systemen der Asthetik im Mittelpunkt
stand, unerwdhnt geblieben ist, und es ist unvermeidlich, da& dieses Beiseite-
schieben einer extrem-polemischen Absicht gleichkommt: dem Versuch, diesen
Begriff dus der Reihe der Begriindungsprinzipien der Asthetik auszuschlieBen.
An und fiir sich genommen mii&te zwar eine derartige schweigsame Polemik
geniigen, denn das Gelingen des Unternehmens, des Aufbaus einer imma-
nenten, autonomen und werttheoretisch begriindeten Asthetik, die den Be-
griff der Schénheit nicht kennt, weil sie ihn nicht braucht, kénnte schon als
Beweis fiir seine methodische Uberflissigkeit gelten. Wobei es niemandem
vorbehalten bliebe, den Begriff der Werkvollkommenheit mit dem Terminus
»Schinheit« zu bezeichnen — jedoch ware es nur ein Wort durch das andere
ersetzt und am Wesen der Problemstellung nicht das Geringste gedndert.
Man kénnte freilich hier eine blo®e Zweckmafigkeitsfrage erblicken: der
Schénheitsbegriff ware in seiner historischen Entwicklung derart durch meta-
physische Nebenbedeutungen belastet, da sein Entfernen aus der Asthetik
die Eindeutigkeit ihrer Begriffsbildung wesentlich férdern miif&te und még-
liche Mifverstandnisse vermeidbar machen kénnte. So richtig dies ist, trifft
es doch nicht das Wesentliche, so wie auch die Konstruktion Fiedlers nicht,
der den Schinheitsbegriff als kunstfremd aus der Kunsttheorie weglieS, um
der Schénheit den Ort der Begreifbarkeit in der Asthetik zuzuweisen. Ganz
abgesehen davon, da eine »Asthetik« im Sinne der Kunstauffassung Fied-
lers wahrscheinlich gar keinen eigentlichen Gegenstand hatte und in ihrem
wesentlichen Gehalt ganz von der Kunsttheorie aufgesogen wiirde, so da8
die Zuweisung dieses Begriffs an die Asthetik sein Ausléschen aus dem phi-
losophischen BewuStsein bedeuten miifite, ist die Stellungnahme zum Pro-
blem der Schénheit doch mehr als eine Frage der terminologischen Zweck-
méBigkeit, der Vermeidung von Aquivocationen. Das Problem liegt viel-
mehr darin, daf& mit dem Begriff der Schénheit in den grofen philosophi-
schen Behandlungen der Asthetik stets etwas ganz Bestimmtes, Eindeutiges,
systematisch Notwendiges und Folgerichtiges gemeint wurde. Daf aber —
und dies ist der entscheidende Punkt — der richtig verstandene Schénheits-
begriff, konsequent zu Ende gedacht, zur Aufhebung der Autonomie der
Asthetik oder — was dieser Aufhebung systematisch gleichkommt — zu ihrer
metaphysischen Hypostasierung gefiihrt hat und wo dies nicht der Fall war,
es gerade nur auf Kosten der Abweichungen von der inneren Grundrichtung
der betreffenden Systeme ins Werk gesetzt werden konnte. Diese Sachlage
weist jeder Asthetik, die sich nunmehr dem transcendierenden Begriffe der
136 Heidelberger Asthetik
Schénheit zu entledigen sucht, die Aufgabe zu, nicht nur die Unvermeidlich-
keit der Transcendenz und mit ihr der Aufhebung der Autonomie der
Ksthetik fir jeden Typus der systematischen Denkbarkeit des Schénheitsbe-
griffes durch Begreifen seiner Voraussetzungen und durch Zu-Ende-gehen
seiner strukturellen Folgen darzutun, sondern fiir den hierdurch methodisch
heimatlos gewordenen Begriff seine systematische Stellung aufzuzeigen. Es
kommt also nicht nur auf die notwendigen und unauflésbaren Widerspriiche
zwischen dem Schénheitsbegriff in seinem folgerichtigen Gebrauch und den
transcendentalen Voraussetzungen des autonomen Geltens des asthetischen
Wertes an, sondern zugleich auf das Verstehen der systematischen Denkmo-
tive, die zum Gebrauch dieses Begriffs als des der Asthetik zentralen gefiihrt
haben. Denn nur ein derartiges verstehendes Zu-Ende-gehen des mit ihm zu
tiefst Gemeinten kann eine wirkliche Kritik des Schinheitsbegriffes sein: nur
in seiner begriffenen Positivitat kann er sich wahrhaft — und zwar gerade
als die Asthetik aus bestimmtem und systematisch notwendigem Grund trans-
cendierender und sprengender Begriff — enthiillen. Da& es sich hierbei
doch blo8 um die Analyse von Systemtypen und nicht um eine ausfiihrliche
Problemgeschichte der Asthetik handeln kann, wird hoffentlich als selbst-
verstandlich erscheinen, und es muf vielleicht kaum besonders hervorgeho-
ben werden, daf alle zu behandelnden Denkmotive nur in ihrer hier we-
sentlichen Funktion betrachtet werden kénnen und keine der hier vollzoge-
nen Analysen den Anspruch erhebt, etwas Entscheidendes iiber die Totalitat
des Denkoeuvres, dem sie ihre Beispiele entnimmt, auszusagen.
Die auf die Schénheit orientierten Denkrichtungen kénnen nach ihren letzten
Motiven am besten charakterisiert und auseinandergehalten werden, wobei
sich zugleich drei bedeutsame Gruppen zeigen werden, je nachdem, ob dieses
Motiv ein logisch-metaphysisches, ein spekulativ-entwicklungsphilosophisches
oder ein substanziell-ethisches ist. Es versteht sich von selbst, da diese drei
Motivenreihen sich oft in demselben System kreuzen und verschlingen, so da
die Betrachtung eines Philosophen aus der Perspektive des einen Motivs
nur seine besonders charakteristische Herausarbeitung dieses Motivs besagen
will, nicht aber, daf die anderen seinem Denkganzen notwendigerweise feh-
len miissen.
137

1v. Die logisch-metaphysische Idee der Schénheit

Das Entscheidende der logisch-metaphysischen Problemstellung ist das Stre-


ben, die Schinheit als etwas Absolutes zu setzen, sie hierdurch jedem Ver-
ankertsein im Sinnlich-Verganglichen, mithin im Anthropologisch-Relativen
zu entreiffen und der so gefundenen Idee der absoluten Schénheit ihre coor-
dinierte Stelle zum gleichfalls absoluten Wahren und Guten im System zu
sichern. Das Schéne wird durch diese Setzung einerseits etwas schlechthin
Transcendentes, andererseits aber eine Gegenstandlichkeit konstituierende
Beschaffenheit der Objekte, die ihnen — je nach ihrer mehr oder weniger
innigen Verkniipftheit mit dem Absoluten, je nach der Weite der Entfer-
nung, die sie von ihm trent, je nach dem Grad ihrer Durchdrungenheit
von ihm — mehr oder weniger »anhaftet«. Die Intensitat dieses Anhaftens
macht die Gegenstinde schén, sie werden der — ihnen an sich transcenden-
ten — Schénheit »teilhaftig«, und das Erkennen dieser »Teilhaftigkeit«, das
Erkennen der transcendenten Idee macht das Wesen des Schénheitserlebnis-
ses aus. Das Wichtigste an dieser Problemstellung ist, da& die Schénheit, in
doppelter Richtung, eine transcendente Wesensart erhilt: sie ist den Gegen-
stnden, die ihrer »teilhaftig« werden — sofern sie als‘konkrete, als »erschei-
nende« Gegenstinde gesetzt sind — transcendent, sie steigt aus einer ihnen
fernen und fremden Sphire, die fiir sie an sich unerreichbar bleibt, auf sie
herab und umhiillt sie mit diesem, auf sie gnadenvoll herabsenkenden, un-
verdienten Licht der Ideenhaftigkeit, aber die neue Gegenstindlichkeit, die
die Objekte in ihrem Schén-sein erhalten, ist fiir sie doch keine radikal neue,
ihre hierarchische Stellung, die sie infolge ihrer primaren und originaren
Gesetztheit, der metaphysischen, erhielten, kénnen und sollen sie trotzdem
behalten. Der Subjektsakt des Schénheitserlebnisses ist deshalb notwendiger-
weise ein transcendierender: er zerreift das nicht konstitutive Band zwischen
dem »schénen« Objekt und der Idee, die es schén macht, und sucht, den nun-
mehr wesenlos gewordenen Gegenstand erledigt hinter sich lassend, den Weg
zu der Quelle der Schénheit selbst zu finden. Das Schénheitserlebnis ist also
zwar, wie Plotin sagt, ein Wiedererkennen des Wesens der Seele, die »wenn
sie etwas Verwandtes oder eine Spur des Verwandten erblickt, sich freut; in
heftige Bewegung gerit, den gesehenen Gegenstand in Beziehung zu sich
setzt, sich ihres Wesens wieder bewuft wird«!, aber das Erlebnis kann —

1 [Die Enneaden. I. Buch 6, Kap. 2, Ubersetzt von H. Fr. Miiller. Berlin, Weidmann.
1878, Bd. I. S. 44.]
138 Heidelberger Asthetik

und darf — hier nicht stehenbleiben, denn es kommt auf das Erkennen, und
nicht auf die mehr oder weniger zufalligen Veranlassungen seines Eintretens
in das Bewuftsein, auf die Schénheit selbst und nicht auf die schénen Gegen-
stande, auf das Wirkende und nicht auf das Gewirkte an. »Was du daher
auch zur Form erhebend der Seele zeigst, sie sucht in diesem ein anderes,
das Gestaltendee, sagt Plotin®).
Aber die transcendierende Bewegung im Erlebnisakt ist doch ein secundiires
und abgeleitetes Moment: es ist unméglich, beim Objekt stehen zu bleiben,
weil kein Objekt des Stehenbleibens wiirdig ist, weil das der im Schdnheits-
erleben sich aussprechenden Sehnsucht angemessene Objekt nur die absolute
Idee selbst sein kann. Aus alledem folgt vor allem, da& die Platonische
Schénheitslehre in erster Reihe eine Objektivitatslehre des Schénen ist. Es
zeigt sich nicht nur historisch, ‘da® neben den vielerlei Schwankungen (die
mitunter auffallend relativistisch und sensualistisch ausfallen), denen das
Schinheitserlebnis in diesen Fassungen unterworfen ist, die Bestimmung des
vom Erlebnis unabhangigen An-sich der Schénheit stets mit einer groSarti-
gen Eindeutigkeit und Pricision auftritt, sondern es liegt im Wesen dieser
Systematisation, da& dem »objektiven« Prinzip der Schénheit vor den sub-
jektiven Akten, die sie zu erreichen suchen, ein unbedingter Primat zu-
kommt. Diese objektive Bestimmung der Schénheit zeigt sie als das an sich
Vollkommene, als die totale und konfliktlose (und darum nur intuitiv erfaf-
bare) Realisation der Idee, als das Urprinzip aller — sinnlichen wie geistigen
— Realisationen, in dem alles, dessen Zerfall und Zwiespalt unsere Wirk-
lichkeit ausmacht, unterschieden und doch einheitlich vereint enthalten ist.
In dem etymologischen Teil des Kratylos bestimmt Platon das Schéne als
die Namen Gebende (16 xahév 1d xadoiv)’, eine Definition, die iiber den
Neuplatonismus, iiber Dionysius Areopagita bis in die Scholastik und den
Florentiner Platonismus hinein wirksam bleibt. Die wirkliche Bedeutung
dieser Definition 1a&t sich, was freilich hier blo& angedeutet werden kann,
aus der Rolle verstehen, die in jeder transcendent-metaphysischen Philoso-
phie, und erst recht in jeder magischen oder halbmagischen Religiositat, der
Namen spielt. Magisch ist das Namengeben das eigentliche und wirkliche
Beherrschen der Dinge, das Wissen von ihrer ewigen Bestimmung, von ihrer

2 [Ebda, VI. Buch 7., Kap. 33. Bd, IL. S. 4or.]


3 (Si: Kratylos 416. Werke. Stuttgart, Metzler: 1855. Dritte Gruppe, Bdchn. I. Obersetzt
von J. Deuschle. S. 89.)
Logisch-metaphysische Schinheitsidee 139

Zuordnung im Schépfungsplan und ihrem Schicksal in der geschaffenen Welt.


Darum beruft sich Gott in den altjiidischen Schépfungsmythen, wo Mensch
und Engel um den Vorrang streiten, auf die dem Menschen allein gegebene
Fahigkeit, die Namen aller Geschépfe zu kennen. Darum beschreibt der
chinesische Denker Sung Lin in seinem Versuch iiber den Ursprung der Ma-
lerei die Namengebung als das eigentliche Heraustreten aus dem Chaos. »Als
Himmel und Erde zuerst sich schieden, gingen alle Dinge hervor, ..
. doch
alles war in Verwirrung, denn da war kein Name. Auch Himmel und Erde
wuften nicht, wie sie benennen, bis ein Mann der Eingebung aufstand und
allen Dingen ihre Namen gab, so da8 Unten und Oben, bewegliche Wesen
und sprieBende Pflanzen so voneinander geschieden wurden.« Philosophisch
gewendet bedeutet deshalb der Name die vollstandige und adaquate Be-
stimmung der Gegenstande, wobei nicht vergessen werden darf, da8 sowohl
Bestimmung wie ihre Adjective hier einen metaphysisch-ontologischen Sinn
haben; d. h. daf ihr Sinn das Zusammenfallen von Existenz und Essenz be-
zeichnet und nicht blo& die Bedingung der Méglichkeit des Gesetztseins in
irgendeiner werttheoretisch oder axiomatisch bedingten immanenten Sphire.
Darum kann Plotin die Schénheit als vollstaindige Bestimmtheit bezeichnen.
»Schin aber sind die Dinge in Verbindung mit ihrer Ursache; heif&t doch
auch jetzt etwas schin, weil es alles ihm Zukommende umfaft. Denn dies
versteht man auch unter Form, daf sie alles umfa&t und da sie die Ma-
terie beherrscht; sie beherrscht dieselbe aber, wenn sie nichts von ihr unge-
staltet zuriicklaGe« 4,
Von solchen Ausgangspunkten breitet sich die objektive Panarchie des
Asthetischen iiber das ganze Universum folgerichtig aus. Das Schéne ist eine
Form, ja es ist die Form schlechthin, das formende Prinzip des Kosmos
selbst, das sich in das Nicht-Sein der Materie herabsenkt, diese — soweit es
ihre ideenfremde Abstammung und Beschaffenheit zula&t — durchdringt und
dadurch zur eigentlichen Existenz erhebt. Das zwischen Sein und Nichtsein
dahinpendelnde Werden, unsere Wirklichkeit, ist nichts anderes als der
Schauplatz und das Substrat fiir den Kampf dieser Prinzipien, der Form
und der Formlosigkeit, und die Schénheit jedes Gegenstandes bedeutet,
da in ihm das Sein einen Sieg iiber das Nichtsein. errungen hat. Schin-
heit ist Form und deshalb mit der Existenz im metaphysischen Sinne
identisch; oder, um es in der Terminologie der klassischen deutschen Philo-

4 (Die Enneaden. VI. Buch 7., Kap. 3. Bd. II. S. 369.]


149 Heidelberger Asthetik

sophie auszudriicken, Schénheit ist Idealitit, ist das Sichtbarwerden der


Idee an einem Gegenstand. Damit ist fiir diese Asthetik jede Schwankung
und Relativismus aufgehoben: fiir den erweckten Geist gibt es keine Schwie-
rigkeit, Form und Geformtes oder gar Form und Formfremdes auseinander-
zuhalten; er wird an jedem Gegenstand erkennen kénnen, inwiefern er
formdurchdrungen, d. h. schén ist, denn sein Erwedktsein ist ja nichts ande-
res als das innerlich Lebendig-geworden-sein der Verbindung mit dem alles
erzeugenden Urprinzip, mit dem Prinzip der Formen. So baut sich die ein-
heitliche (und gegenstindliche) Hierarchie der Schénheit auf: von den einzel-
nen schénen Gegenstanden, die die Sinneswahrnehmung darbietet, iiber den
Begriff dieser schénen Gegenstande iiberhaupt zu der Formdurchdrungenheit
der Seele und ihrer Handlungen und der Gebilde, in denen sie sich objekti-
viert — der Institutionen und der Erkenntnisse — und noch dariiber hinaus:
zu der Schénheit der reinen Formen, die durch keine Beziehung mit der
Materie mehr befleckt sind, zu der intelligibelen Schénheit der Ideenwelt.
So erweist sich die Schénheit als einheitliches, objektives und absolutes Prin-
zip des Weltaufbaus. Sie la&t Platon im Timaios die vier regelmaSigen Kér-
per als konstitutive Prinzipien des Universums in identischer Zuordnung zu
den vier Elementen setzen, denn, sagt er zu Beginn dieser Deduktion, beim
Aufzeigen ihres Aufbaus aus den regelmafigsten Dreiecken »dann brauchen
wir es Niemandem zuzugeben, daf schénere Kérper als diese (vier) zu er-
blicken seien, jeder in seiner Art« 5, So schafft der Demiurg die Welt als
kugelférmig »so daf sie von der Mitte aus iiberall gleich weit von ihren
Endpunkten entfernt war, nach MaSgabe der Kreisform, welches von allen
Gestalten die vollkommenste und am meisten sich selber gleiche ist, indem
er das Gleiche fiir tausendmal schéner als das Ungleiche hielt« *. Deshalb
kann Plotin — die Beispiele lieSen sich ins Unendliche vermehren — das
Feuer — gegeniiber den anderen Dingen als »an sich schin« bestimmen, »weil
es im Verhiltnis zu den ibrigen Elementen den Rang einer Idee einnimmt;
denn es ist nach oben gerichtet, es ist der diinnste von allen iibrigen Kérpern,
gleichsam der Ubergang zum Kérperlosen; das Feuer allein nimmt nichts
andres in sich auf, wahrend es selbst alles andre durchdringt; ...es enthalt
die Grundfarbe und die anderen Dinge entlehnen von ihm die Farbung

5 [Timaios 53. Werke, Stuttgart, Metzler. 1856, Vierte Gruppe, Bdchn’ 7. Ubersetzt von
F, Susemihl. S. 772-773.]
6 [Ebda, 33. Werke. Vierte Gruppe, Bdehn. 6. S. 691.]
Logisch-metaphysische Schinbeitsidee 14
schlechthin. Es leuchtet also und glanzt, als wire es selbst eine Idee« 7.
Es lieRe sich also — und Platon und die, die seinen systematisierenden Weg
folgten, haben mehr als Beitrage dazu geliefert — eine nach dem einheitli-
chen Gesichtspunkt der Schénheit geordnete Hierarchie alles Seienden und
Denkbaren aufstellen, worin die Schénheit allem, das zum Gegenstand
werden kann, mit seiner Stelle in der Hierarchie zugleich das ihm zukom-
mende Sein, die ihm spezifisch eigene Gegenstandlichkeit zuweisen wiirde. Es
wire also eine alles umfassende und konstitutive Lehre vom Schénen miég-
lich, die sich widerspruchslos begriinden lie&e — und jeden mdglichen Inhalt
und Gesichtspunkt der gesamten Philosophie umfassen wiirde, die die Phi-
losophie selbst ware. Anders ausgedriickt lat sich dieses erste Dilemma der
Platonischen Schénheitslehre so formulieren: die Schénheit hebt sich durch
ihre absolute Setzung selbst auf; sie hért auf etwas Selbstindiges und Eigen-
artiges in der Welt der Ideen zu sein, sie fallt mit der Idee des Wahren und
damit mit der des Seins (im metaphysischen Sinne) und mit der des Guten
zusammen. Die Form, die sie den Gegenstanden, die ihrer »teilhaftig« werden,
verleiht, ist mit den konstitutiven Formen der Gegenstandlichkeit iiberhaupt,
mit der Form der Wahrheit identisch. Aus dieser Absolutheit des Schénen
erwichst fiir die darauf 2u begriindende Asthetik das folgende, unauflésbare
Dilemma. Entweder wird an dieser Identitat festgehalten, wodurch eines
von beiden als fiir das System iiberflissig, als metaphysische Tautologie
erscheint (es wird von der Struktur des Systems abhingig sein, ob Wahrheit
oder Schinheit den Primat in ihm erringt) und das Als-Absolut-Setzen der
Schénheit mu& zur Aufhebung ihrer spezifischen Wesensart fiihren. Oder es
wird, was im philosophischen System ohne Selbstzersetzung kaum anders
sein kann, trotzdem an der Prioritét des Wahren, des Metaphysisch-Logi-
schen, des eigentlich Philosophischen festgehalten, dann mu aber der »ab-
soluten« Schénheit eine relative Bedeutung zufallen, sie bleibt — was mit
ihrer Absolutheit schwer vereinbar ist — doch etwas blof& Vorbereitendes;
es wird in der Hierarchie des Systems eine Stufe angenommen, wohin ihre
Kategorien nicht hinaufreichen, und zwar gerade das Niveau, das — als das
philosophisch letztlich konstitutive — fiir den Aufbau des Universums im
System ausschlaggebend ist. Damit aber sinkt die Schénheit zur unvoll-
kommenen Vorstufe einer ihr transcendenten Formung herab, ihre Vollkom-
menheit hat eine blo& propideutische Bedeutung, nur die des Hinweises auf

7 (Die Enneaden. I. Buch 6., Kap. 3. Bd. I. S, 46.]


142 Heidelberger Asthetik
das Eigentliche; und wenn die Vollkommenheit sich als solche, als selbst-
geniigsame und selbstherrliche Immanenz zu konsolidieren versucht, so mu8
diese ihre Selbstverwirklichung als ein Abbiegen von der Heerstrafe des
Geistes, als Aufstand und Siinde der Kreatiirlichkeit erscheinen.
Fir Platon selbst gab es dieses Dilemma freilich noch nicht; sein System
charakterisiert sich gerade durch die absolute Einheitlichkeit des Ideenni-
veaus, durch das vollstandige Aufgehen der Schonheitsidee in den Ideen des
Wahren und des Guten (deren Verhiltnis zueinander zu analysieren hier
nicht unsere Aufgabe ist): durch die Aufhebung jeder wie immer gearteten
Selbstandigkeit des Asthetischen. Es wird wohl eine immer vergebliche Miihe
bleiben, aus den zerstreuten Ausspriichen Platons iiber das Schéne eine Asthe-
tik — selbst im Grundri& — konstruieren zu wollen. Jeder Ausdruck, der
auf etwas Asthetisches hinzuweisen scheint, ist doch nur ein mit ethischen
und logischen Formungskategorien simultan und austauschbar gebrauchter
Terminus, so daf selbst in seinen Theorien iiber Maf und Harmonie das
Erkenntnismaffige und Sittliche die entscheidende Rolle spielten. Und jede
asthetische Bewertung, die mit dem Anspruch der Autonomie auftritt, wird
mit der gréften Entschiedenheit abgewiesen.
Die wesentlichen systematischen Schwierigkeiten, die sich aus dieser Identi-
fikation der Ideen ergeben, zeigen sich am scharfsten bei Schelling.
Schellings System faft die innerliche Identitat der Ideenwelt von der ande-
ren Seite: fiir ihn ist es zwar ebenfalls selbstverstandlich, da& » Wahrheit und

sind« 8, aber den wirklichen Vorrang von beiden hat die Schénheit (und
damit ihre transcendentale Erzeugerin: die Kunst). »Denn obgleich die Wis-
senschaft in ihrer héchsten Funktion mit der Kunst eine und dieselbe Auf-
gabe hat, so ist doch diese Aufgabe, wegen der Art sie zu lésen, fiir die
Wissenschaft eine unendliche, so da& man sagen kann, die Kunst sei das
Vorbild der Wissenschaft, und wo die Kunst sei, soll die Wissenschaft erst
hinkommen« *, Das Dilemma der metaphysischen Tautologie hat sich dadurch
zwar wesentlich verfeinert, konnte aber doch nicht gehoben werden. Denn
falls, wie unvermeidlich, beide Formungen als konstitutiv angenommen
werden, differenziert sich das Dilemma danach, ob die Unvollendbarkeit

8 [Philosophie der Kunst. Samtliche Werke. Hrsg. von K. F. A. Schelling. Stuttgart,


Cotta. 1859. Abt. I. Bd. V. S. 370.)
9 [System des transzendentalen Idealismus. VI. § 2. Simtliche Werke. Stuttgart, 1858.
Abe. I. Bd, IIT. S. 623.)
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 143

der Wissenschaft ernst genommen wird oder nicht, was von dem metaphy-
sischen Gegeben- oder transcendentalphilosophischen Aufgegebensein der
Wahrheit abhangt. Im zweiten Fall ist die Wahrheit von der Schénheit
mediatisiert und die Kunst ist wirklich die »Wiederholung desselben (des
Systems — G. L.) in der héchsten Potenz« 1° so sehr, da& das Wahre und
das Gute als aufgehobene, zur Indifferenz gefiihrte, einseitige Momente
(Notwendigkeit und Freiheit) in ihr enthalten sind. Wird hingegen, was
fiir eine Metaphysik unvermeidlich ist, das System dennoch geschlossen, die
Wahrheit ergriffen und erreicht, indem die Wissenschaft ihre Gegenstainde
konstruiert und durch dieses Verfahren »am Ende mit der vollkommenen
und geschlossenen Totalitat itberrascht« ‘4 wird, so mu — ob eingestande-
nermafen oder stillschweigend, gleichviel — das erreichte System, dessen
Fuhrer und Organon die Kunst gewesen ist, als das einzig wahre und wahr-
haft konstitutive Kunstwerk, der Philosoph (als Philosoph der Kunst) als
der letzte, den Abschlu& bringende Kiinstler erscheinen. Wenn, was notwen-
dige Folge »der selben Aufgabec ist, »die Formen der Kunst... die Formen
der Dinge an sich« '? sind, so kann das Mitte] ihres Erfassens auch nur das-
selbe sein: die intellektuelle Anschauung.
Die Identitaét von Wahrheit und Schénheit bedeutet somit die wechselseitige
und intensive Durchdringung des Logischen vom Asthetischen und umge-
kehrt. Dadurch muf — je intensiver diese Einheit ist, desto starker — die
spezifische Gegenstindlichkeit, die jede Form den von ihr erfaSten Objekten
verleiht, getriibt werden und einer Gegenstandlichkeit, die auf einer zum
Prinzip gemachten petéPaoic eis &AAo yévoc beruht, Platz machen. Die Logisie-
rung der asthetischen Form verbietet ihr, ihre Gegenstande — so wie es ihre
Formungsweise gebieten wiirde — zu isolieren, sie zu selbstherrlichen Mikro-
kosmen zu verwandeln; jedoch indem sie in die theoretische Form eingeht,
zwingt sie der theoretischen Form eine sich innerlich und adaquat abrun-
dende Vollendung auf, macht deren utopisches Ziel, die Ideenwelt, zu einem
kosmischen Kunstwerk, verdinglicht ihr Gelten zum sinnlich-iibersinnlichen
Dasein. So wird die Idee vom Universum als Kunstwerk, ein notwendiger
Zentralbegriff jeder platonisierenden Philosophie, zum Vereinigungspunkt

10 [Philosophie der Kunst. Samtliche Werke. Abt. I. Bd, V. S. 363.]


11 [Ebda, S. 418.
12 [Vorlesungen tiber die Methode des akademischen Studiums. 14. Vorlesung. Simtliche
Werke. Abt. I. Bd. V. S. 350.]
144 Heidelberger Asthetik

des Asthetischen und des Theoretischen; hier verwirren sich und verschlingen
sich ihre unlésbar verkniipften Faden, und dieses Ineinander zwingt der
Begriffsbildung — rein systematisch, ganz abgesehen von der an und fiir sich
bestehenden metaphysischen Intention — eine metaphysische Richtung auf.
Denn die Ideenwelt, von ihrer Realisation im wirklich seienden Universum
ganz abgesehen, hat, als rein theoretisches Sinngebilde betrachtet, keine ihr
innerlichst innewohnende Tendenz zur kosmosartigen Selbstabrundung; der
Kosmos ist ein asthetischer Begriff: die hypostasierte Idee des Kunstwerks.
Asthetisch ist erstens die hier notwendig entstehende und fiir das Folgende
entscheidende Verdinglichung der Idee. Die Idee, soweit sie rein theoretisch
bleibt, ist auch bei Platon einerseits ein spharenbestimmender Grenzbegriff,
andererseits aber eine Form, die durch ihr Umfassen des ihr an sich fremden
Materials, oder durch ihr Erzeugen der Methode der Denkbarkeit des zum
Denkobjekt gewordenen Materials, die Erkenntnis itiberhaupt moglich macht
und verwirklicht. Es liegt also in ihrem Wesen, fern von jeder Substanziali-
tit oder Verdinglichung zu sein, da fiir das rein theoretische Verhalten das
Ding-sein — selbst im héchsten, im metaphysisch-ontologischen Sinn — nur
eine der vielen theoretischen Formungen sein kann, das im Vergleich zur
Form selbst immer etwas Abgeleitetes sein mu&, dessen Eigenschaften ihr
niemals zugesprochen werden kénnen. Gleichviel, ob in der Aristotelischen
Kritik der Ideenlehre ein Mifverstehen von Platons eigentlichen Absichten
oder etwas relativ Berechtigtes erblickt wird, ihr Ausgangspunkt liegt doch
in der Beobachtung dieses Umschlagens der Ideenwelt in eine Welt des ur-
bildlichen Seins, der urbildlichen Gegenstande begriindet, nachdem der Auf-
stieg dahin so tief und stark den inhaltsfreien reinen Formcharakter der
Ideen herausgearbeitet hat. Gerade dort, wo sie ihren ureigenen Erfiillungs-
ort gefunden haben, wo sie ganz reine Form geworden sind, werden sie
wieder mit konkreten Inhalten erfiillt, werden zu dinglichen Urbildern der
Dinge. Wie sehr sich auch Platon an vielen Stellen gegen diese Konsequenz
wehrt, wie sehr er das Nicht-Materielle des hier entstehenden, neuen ding-
schaffenden Inhalts betont, ganz aufzuheben ist sie doch nicht. Und, wo-
gegen er sich noch starker und ausdriicklicher wehrt, der asthetische Cha-
rakter dieser Dinghaftigkeit ist noch zweifelloser vorhanden: es ist gerade
das Spezifische der asthetischen Form, Form eines bestimmten Materials zu
sein, ein Material so zu umfassen, da dessen Materialitat in ihr zur Form
werde, daf& er als Material »vernichtet« werde. Und das ist gerade im
urbildlichen Material geschehen. Die innerste Entgegengesetztheit von theo-
retischer und Asthetischer Formung zeigt sich eben am deutlichsten in ihrer
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 145

reinen Erfiillung: die theoretische Form ist dann »rein«, wenn sie Form
iiberhaupt ist, der eine unendliche Aufgabe oder das »Material iiberhaupt«
gegeniibersteht, die asthetische, wenn sie zur reinen Erfiillung des Materials,
zur nunmehr unlésbaren Einheit von Form und Material geworden ist. Die
Aufnahme des dsthetischen Formungsprinzips in das theoretische lebt sich
also in der Gestaltung der Ideenwelt aus und racht sich fiir das Ver-
schlungenwerden der Asthetik von der Theorie durch diese Asthetisierung
des letzten, reinsten theoretischen Erfiillungsgebiets.
Hieraus erwachst, worauf jedoch nur im Vorbeigehen hingewiesen werden
kann, die sowohl fiir Asthetik wie Theorie gleich verhangnisvolle Nach-
ahmungslehre, die zugleich eine Verwissenschaftlichung der Asthetik und
eine Asthetisierung der Erkenntnis bedeutet. Asthetisch fiihrt sie zu einem
irdischen oder transcendenten Naturalismus: das Geformtsein ist fiir diese
Anschauung an den Gegenstanden schon vor ihrem Betroffenwerden von
der asthetischen Form da, deren Funktion also nur in einer Wiederholung
des Gegebenen bestehen kann. Daf diese Annahme eine Aufhebung der
sthetischen Form ist, wurde bereits oft nachgewiesen; daf sie auf theore-
tischen Voraussetzungen beruht, ist leicht einzusehen. Selbst wenn die
transcendenteste und subtilste Wendung der Nachahmungslehre genommen
wird, die vom Neuplatonismus der Renaissance und noch von Winckelmann
geteilte Anschauung, da& kein irdischer Gegenstand der ewigen Idee der
Schénheit ganz angemessen sein kann, da also die asthetische Tatigkeit
vor die Aufgabe gestellt ist, die in der Welt zerstreute Schénheit zu sam-
meln und zu suchen und das so Gefundene in einem Gegenstand, im Kunst-
werk zu verewigen, so enthiillt es sich leicht, daf& mit dieser Tatigkeit etwas
ganz oder halb Wissenschaftliches und nicht genuin Kiinstlerisches gemeint
ist. (Es kommt hier freilich auf die Theorie an; da es Kiinstler gegeben
hat, die — in theoretischer Selbsttduschung — diese Ansicht geteilt, aber nach
rein kiinstlerischen Prinzipien geschaffen haben, gehdrt nicht hierher.) Denn
die Tatigkeit des Kiinstlers besteht hier im Erkennen des bereits — ohne
sein Zutun und unabhiingig von seiner Anschauung — Vorhandenen, dessen
asthetische Wesensart derart transcendent gesichert ist, daf& selbst im »Zu-
sammenfiigen« des auf diese Weise Gesammelten nur eine an sich seiende
Gegenstindlichkeit anerkannt und in integrum restituiert wird; das Ver-
halten des Kiinstlers ist im Wesen seines Gerichtetseins von dem des Natur-
forschers oder des Historikers, die ja ebenfalls die empirisch »zerstreuten«
Bedeutsamkeicen ihrer Sphire sammeln und vereinigen, prinz
unterschieden: es kommt auf eine »Treue« einer »gegebenen Tatsachlichkeit«
146 Heidelberger Asthetik
gegeniiber, auf das Auffinden eines in den »Tatsachen« innewohnenden
Sinnes, auf ein 1 qpevtd qarvopeva und nicht auf eine Produktion an. Und
da& der moderne, sich selbst als wissenschaftlich bezeichnende Naturalis-
mus — sofern auch er nicht ein sich selbst verkennendes Kiinstlertum und
wirklich Naturalismus ist — eine solche hybride Kreuzung kiinstlerischer
und wissenschaftlicher Tendenzen sei, haben manche seiner Reprasentanten
wohl bis zur Karrikatur deutlich bewiesen.
Auch die theoretische Abbildlichkeitslehre kann erkenntnistheoretisch als
erledigt betrachtet werden; wenn aber, wie hier notwendig, gefragt werden
wiirde, welcher Art nun die Gegenstandlichkeit jener transcendenten Ob-
jekte ist, die von der Erkenntnis »abgebildet« werden muf, so wiirde es
sich bei ihrer genauen Analyse zeigen, daf sie sehr wesentliche dsthetische,
besser gesagt halbasthetische Bestandteile an sich hat. Dies liegt vor allem
in der ungetrennten und untrennbaren Ubereinstimmung mit sich selbst, die
die urbildliche, metatheoretische Gegenstandlichkeit haben mu, damit sie
fiir das sie »nachbildende« erkennende Verhalten den Mafstab der Richtig-
keit abgeben kénne; in dem adaquat und intuitiv erfa&baren, »organischen«
Zusammensein, Ineinandergeflochtensein aller Elemente und Merkmale, die
die »nachbildende« Erkenntnis nur getrennt erreichen und nur auf dem dis-
kursiven Niveau, als Begriff, Urteil und Schlu8 wieder zusammenfiigen
kann. Kurz gesagt, wie immer auch eine metatheoretische, urbildliche Ge-
genstandsbeschaffenheit formuliert sei, sie wird stets etwas Kunstwerkhaftes
an sich haben. So sehr, da& ihr selbst die Nuance der Isoliertheit, der »Insel-
haftigkeit« des Kunstwerks zugesprochen werden mu8: wenn auch freilich
nicht in dem radikalen Sinn, wie es hier fiir die asthetisch-normative Ge-
genstandlichkeit nachgewiesen wurde, so doch als eine Art der Prioritat des
selbstandigen Fiir-sich-seins des Gegenstandes vor dem Erkenntniszusammen-
hang, in dem er steht. Gehért es doch zu den entscheidenden strukturellen
Revolutionen der »kopernikanischen« Umwéalzung Kants, da8 in ihr mit
jeder Art von ontologischer, sphirenjenseitiger Objektsmiglichkeit gebrochen
und die Gegenstindlichkeit in die vollkommene Bestimmbarkeit, in das
In-der-Sphire-stehen, in das In-Zusammenhang-gesetzt-sein gelegt wurde.
Erst diese Auflésung der Substanzialitdt der theoretischen Gegenstinde in
Funktionalitat und — im Zusammenhang damit — die immer anwachsende
logische Suprematie des Urteils vor jeder ontologisierenden Begriffsprioritat
konnten die pseudodsthetischen Elemente in der theoretischen Sphire be-
seitigen: Residuen einer sinnlich-iibersinnlichen Gegenstandsform, die in
ihrer »Materialechtheit« gerade die Einzigartigkeit des betreffenden Ge-
Logisch-metaphysische Schinheitsidee 147
genstandes — selbst wenn dieser eine abstrakte Idee war — in seinem Fiir-
sich-sein gestaltet hat, anstatt ihn zum erkennbaren Substrat méglicher und
rationaler Erkenntniszusammenhange zu verwandeln und in diese als homo-
genes Glied einzufiigen.
Die asthetische Formnuance des urbildlichen Ma&stabes der Erkenntnis darf
freilich nicht so verstanden werden, als ob sie oder nur etwas Ahnliches in
der Intention des Systems lage; sie ist vielmehr ein gegen die eigentliche
Intention des Erkenntnistriebes hinzutretendes Moment, dessen Da-Sein
durchaus nicht aus dem blofen Zum-Gegenstand-werden der theoretischen
Formen selbst, auch nicht aus der ontologisch-intuitiven Methode stammt
(wie ja dies der Phinomenologie Husserls etwa durchaus fernliegt), sondern
daraus, daf& die asthetische Erzeugungsart, wenn auch als aufgehobenes
Moment, in den theoretischen Formungsproze8 aufgenommen wurde und
darum aus seiner héchsten und reinsten Erscheinungsform auch nicht elimi-
niert werden konnte. Die »materialechte« Dinghaftigkeit der einzelnen Ge-
genstinde, die fiir die autonome Asthetik ihre Erfiillung in der reinen Sub-
jektivitat findet, die dort deshalb freilich eine Erfiillung sub specie formae
und eine Dinghaftigkeit ad hoc, d. h. in bezug auf die Gestalrungsqualitat der
spezifischen Form, also durchaus unmetaphysisch ist, mute in dem einheit-
lichen, itiberwiegend theoretischen Verhalten den Einzeldingen gegeniiber
transcendiert und in einem geradlinigen Aufstieg zu ihren Ideen gefihre
werden. Diese dort beiseite geschobene »materialechte Dinghaftigkeit« kehrt
in der Ideenwelt wieder, und hier metaphysisch und die theoretische Struk-
tur kreuzend, denn hier muf sie in einem An-sich, ohne ihre transcendenta-
len Bedingungen, die auf der Beziehung auf reine Subjektivitat und Erleb-
nisqualitat beruhen, wirken.
Eine sehr ahnliche Komplikation und Verschlingung zeigt sich in dem Pro-
blem vom Ganzen der Erkenntnis, deren »System«-charakter freilich, als
eigenes Problem, erst bei Schelling auftaucht. Hier fille vor allem die
Asthetisierung der Beziehungen der Formen untereinander und ihrer Zusam-
menfiigung zum Ganzen des Systems auf. Denn es kann die Frage aufge-
worfen werden, ob der Gedanke des Systems als einer aus Parallelititen,
gewissermafen rhythmischen Wiederholungen, einander im Gleichgewicht hal-
tenden Correspondenzen etc. zusammengefiigten Harmonie und Totalitit,
also der Gedanke der »Architektonik« des Systems nicht ebenfalls aus sich
im adaquaten Gebiet nicht ausgelebten und hier erfiillenden Asthetischen
Motiven entsteht. Die Denkmotive, die einer Asthetisierung des System-
gedankens zustreben, sind einerseits die Geschlossenheit und das Allumfassen
148 Heidelberger Asthetik

der Systemtotalitat und andererseits die iibersichtliche, »evidente« Art der


Verkniipfung ihrer Glieder untereinander. Obwohl rein fiir sich betrachtet
die asthetische Wendung dieser Motive einem homogenen theoretischen
System der Wahrheit, etwa der Bolzanoschen Welt der Wahrheiten an sich
oder einer als vollendet gedachten Leibnizschen Scientia generalis durchaus
fernsteht, kann das Transcendieren des Asthetischen ins Intelligibele hinauf
auch hier zu Komplizierungen fihren, Wenn nimlich, wie es hier gezeigt
wurde, die asthetische Kontemplation nicht ein erlebnisimmanentes Auf-
nehmen des Asthetischen Gegenstandes bleibt, sondern seine »Formen« als
Spuren des An-sich-Schénen vom Gegenstand abtrennt und sie im eigentlichen
»Ort« ihrer Begreifbarkeit, in der Ideenwelt — ungetriibt vom Material und
dessen zersetzenden Wirkungen — aufzufinden bestrebt ist, so ist es unver-
meidlich, da& dem téxog vontés selbst die an den irdischen Einzelgegen-
stnden getriibt erscheinende asthetische Wesenheit in durch nichts gehemm-
ter Intensitat und Allgemeinheit zukomme. So miissen dann die Elemente
und Erkennungszeichen der Schénheit, Ma8 und Rhythmus, Harmonie und
Symmetrie, die an den einzelnen Dingen nur anhaften, weil an diesen ja,
wie Plotin sagt, »ihr Sein als Kérper verschieden ist von ihrem Sein als
schéne Kérper«"3, sich in aufsteigender Linie von den Kérpern bis zur
Ideenwelt immer starker finden und erfiillen, um dort — deren Wesen aus-
machend — vollendet zu erscheinen. So bliiht dort jene Schénheit, die »noch
nie ein Dichter wiirdig besungen hate, die so sehr das Wesen der Ideenwelt
ausmacht, da im Philebos — vielleicht in ironischer Verlegenheit — am
Ende der Deduktion des Mafes in allen Dingen und Denkbarkeiten gesagt
werden kann, da »das Wesen des Guten in die Natur des Schénen« ™
entflieht, da& das Gute aus »Schénheit, Symmetrie und Wahrheit« *5 be-
steht.
Sobald dieser Gedanke zum Programm des Systems der Erkenntnis wird,
was freilich erst bei Schelling in voller Konsequenz geschehen ist, enthiillen
sich die asthetisierenden Umbildungen der theoretischen Formelemente. Die
ganze Idee der Konstruktion als Methode der Philosophie beruht auf dem
Kunstwerkartigen des intelligiblen Universums, darauf, da& sein Aufbau

13 [Die Enneaden. I, Buch 6., Kap. I. Bd. I. S. 43.]


14 [Philebos, 64. Werke. Zweite Gruppe, Bdchn. 7, 1869. Obersetzt von L. Georgii
S. 831.J
15 [Ebda, 65. S, 831. - In der Ubersetzung von Georgii anstatt »Symmetriee: »Ebenmage.]
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 149

einander entsprechende Reihen, in diesen symmetrisch geordnete Glieder etc.


aufweist, da also z. B. das Vorhandensein eines Gliedes in einer Reihe das
Vorhandensein eines entsprechenden in der entsprechenden Reihe erfordert
usw. Was wieder die struktiven Annahmen voraussetzt, daf erstens die
Totalitat der Wahrheiten ein sowohl von aufen abgerundeter wie von innen
gegliederter Kosmos ist, wo das Fehlen eines Gliedes, wie Schelling sagt,
eine Art »horror vacuie !# verursacht und gebieterisch nach Erfilllung ver-
langt; da& zweitens die Beziehung der Wahrheiten untereinander ein Zu-
sammenhang ihrer »Formenc als »Formen«, d.h. als konkreter Wesenheiten,
ist, die wie die »Teile« des Kunstwerks (was ausfiihrlich erst spater nach-
gewiesen werden kann, worauf jedoch bereits hingewiesen wurde) bei einem
bestechenden und faszinierenden Schein der Selbstindigkeit und des orga-
nischen Aufsichberuhens ihr Dasein nur aus dem kompositionellen Zusam-
menhang enthalten. Kurz gesagt: sie kénnen weder wirklich selbstindig sein,
nach der Art der Axiome etwa, noch aus anderen Satzen abgeleitet werden.
Denn die theoretische »Form« unterscheidet sich gerade darin am scharfsten
von der 4sthetischen, da& sie Bestimmung und nicht Gestaltung erzweckt.
Ihre Funktion beruht auf der sich in jede Richtung steigernden Beziehbarkeit
und auf Bestimmung fiir die ihr zugeordneten Inhalte, wahrend eine asthe-
tische Form als erlebbare Form eines bestimmten Inhalts im eigentlichen
Sinne keiner Steigerung fahig, sondern schlechthin vollendet oder iiberhaupt
nicht geltend ist. Die Unvollendbarkeit des Theoretischen, deren Schatten
selbst in das Ideenreich Schellings fallt, hangt ja mit dem Aufgegebensein
dieser Beziehbarkeit auf und Bestimmung fiir zusammen: ein theoretisches
»System« ist immer »offen«, d. h. bereit, alles Neuauftauchende zu bewal-
tigen — selbst auf Kosten seiner inneren Umwandlung; wobei das hier viel-
leicht entscheidende Motiv die stets offene Moglichkeit vollkommen neuer
»Dimensionen« der Erkennbarkeit ist, die — selbst wenn alle »alten« Wahr-
heiten »inhaltlich« unangetastet bleiben — ihre »Beziehung« untereinander
umgestalten mu. Darum beruht die »Deziehung« der theoretischen Formen
zueinander auf ihrer Funktionalitat und ist deshalb prinzipiell variabel und
ohne Anspruch auf Stabilitat: die leitende Idee der Theorie, die der voll-
endeten Ordnung iiberhaupt als System der méglichen Wahrheiten, wiirde
durch eine derartige Substanzierung ihrer »Formen« die ihre »asthetische«
»Beziehung« auf einander erst mdglich macht, erstarren und zu Grunde

16 [S.: Philosophie der Kunst. Simtliche Werke. Abt. I. Bd. V. S. 419.]


150 Heidelberger Asthetik

gehen. Es ist mehr als eine historische Coinzidenz, da& nur relativ primi-
tive Stadien einzelner Wissensgebiete solche Asthetische Substanzierungen
zulassen, da& es z. B. eine asthetische, »heilige« Mathematik fiir die Ele-
mentararithmetik, nicht aber fiir die Differential- und Integralrechnung
geben konnte, weil den hier standig auftauchenden und theoretisch bew4l-
tigten neuen Dimensionen keine »asthetischee Tendenz auf »Gegenstindlich-
keite und »Formbezichung« mehr gewachsen sein kann. Denn die Wechsel-
wirkung von »Selbstandigkeit« der Teile und ihrer gegenseitigen Durch-
dringung ist fiir beide Formungsarten diametral verschieden: jedes theore-
tische Formungselement, das vselbstindige wirkt, fordert gerade durch diese
»Selbstandigkeit« eine nur auf sich selbst beruhende Geltung, es kann aber
keines geben, dessen Geltung nicht zugleich das Ganze, die »Sphare«, in
der es steht, und keine Sphire, die nicht die Geltung eines ihr iibergeordne-
ten Zusammenhanges voraussetzen wiirde, wahrend der Schein der Selb-
standigkeit der asthetischen Formungselemente nur ein Abglanz ihres voll-
endeten Eingefiigtseins in einen einzigartigen Sineszusammenhang ist, der
Schein ihrer auf sich selbst beruhenden Geltung ist nur die spezifische Gel-
tungsqualitit des Ganzen — das aber eine absolute und wirklich auf sich
beruhende Geltung beansprucht und keinem iibergreifenden Zusammenhang
mehr eingefiigt werden kann. Die Formelemente eines asthetischen Form-
gebildes durchdringen sich also wechselseitig und erreichen durch diese un-
lésbare Ineinanderverschlungenheit das absolute und vollendete Aufsich-
gestelltsein ihres Ganzen, wahrend die theoretischen Formen nur »auf ein-
ander bezogen«, von einander »abhangig«, von einander »abgeleitet« etc.
sind, so daf&§ die relative Selbstandigkeit ihres Geltens eine wirkliche ist:
die Abhangigkeit von einer, als Idee aufgegebenen Totalitat, deren — selb-
stindige — Glieder sie sind. Die bereits gefundenen Satze, da es keine
Asthetische, iibergreifende und umfassende Totalitat der asthetischen Wert-
realisationen geben kann und da jeder als geschlossen, harmonisch zusam-
mengefiigt und in seiner Harmonie erfafbar gedachte Kosmos von »Asthe-
tischer« Wesensart ist, besagen dasselbe: sie bestimmen das Geltungssubstrat
der konstitutiven asthetichen Formen und weisen die Verwirrung der Ge-
genstindlichkeit, die durch ihre »Anwendung« auf andere Materien ent-
steht, auf.
Aus alledem wird die bereits aufgefundene, bestechende Gleichartigkeit von
Asthetischer Kontemplation und intellektueller Anschauung immer verstind-
licher. Man kénnte sagen, wenn auch hierin sich mehr die struktiven Folgen
als die treibenden Motive aussprechen wiirden: die intellektuelle Anschauung
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 151

ist eine auf die Ideenwelt (oder auf das Universum) angewandte asthetische
Kontemplation. Schelling hat dieses Problem in voller Deutlichkeit erblickt,
indem er eine Garantie fiir die intellektuelle Anschauung, den Trager seines
ganzen Systems suchte, wodurch diese in allgemein anerkannter Objektivitat
erwiesen werden kénnte. Die Garantie soll das Kunstwerk liefern: »Denn
die dsthetische Anschauung eben ist die objektiv gewordene intellektuelle.
Das Kunstwerk nur reflektiert mir, was sonst durch nichts reflektiert wird,
jenes absolut Identische, was selbst im Ich schon sich getrennt hate *7, Das
Bedeutsamste an dieser Fassung ist die — wegen spater klarwerdender syste-
matischer Notwendigkeiten — nicht festhaltbare Parallelisierung der intel-
Jektuellen Anschauung mit dem Kunstwerk und nicht mit einer der ihm
zugeordneten Asthetischen Verhaltungsarten. Es spricht sich darin die Ein-
sicht aus, die freilich die methodische Problematik der intellektuellen An-
schauung nur erhéht, da& die geforderte, absolute Aufhebung der Gegen-
satze in die Indifferenz durch kein Subjektsverhalten, sondern blo& durch
eine Subjekt-Objekt-Identitat zu leisten ist, da& die intellektuelle Anschau-
ung deshalb, ohne diese Objektivation im Kunstwerk, nicht nur ohne Evi-
denz und problematisch bliebe, sondern auch im Einzelnen nicht funktio-
nieren kénne. »Aber nicht nur das erste Princip der Philosophie und die
erste Anschauung, von welcher sie ausgeht, sondern auch der ganze Me-
chanismus, den die Philosophie ableitet, und auf welchem sie selbst beruht,
wird erst durch die asthetische Produktion objektiv« 48, So erscheint, diesmal
von der Seite der metaphysischen Philosophie angesprochen, die frither her-
vorgehobene Ahnlichkeit zwischen intellektueller Anschauung und reiner
Subjektivitat in unserem Sinne, die freilich im Wesen nicht mehr als das
gleiche Niveau in Bezug auf die betreffenden Sphiren besagen kann. Das
bedeutet soviel, daf fiir diese konstitutiv-metaphysische Erkenntnis einerseits
ein Subjekt, das auf dem Niveau der »reinen Subjektivitit« steht, also mit
seinen Objekten villig identisch ist, und andererseit ein »Medium« der
Gestaltung, das die véllige, homogene Durchdrungenheit gestattet und zur
Gestaltung bringt, unbedingte struktive Voraussetzungen sind. Hierin liegt
das tief Asthetische des Platonismus: da fiir ihn das Wesen des erkennba-
ren Universums, das der Erkenntnis Wiirdige daran, das metaphysisch
Seiende also, diese dynamisch homogene Beschaffenheit, diese Durchdrungen-

17 [System des transzendentalen Idealismus. VI. § 3. Simtliche Werke, Abt. I. Bd. III.
S. 625.]
18 [Ebda, S. 625-626.)
152 Heidelberger Asthetik
heit von einer Qualitit, die — ohne ihren qualitativen Charakter zu verlie-
ren — alle Qualitaten in sich aufnehmen, zu ihrer (qualitativen) Wesenheit
bringen kann, aufweist. »Es fliet aber alles so zu sagen aus einer Quelle«,
sagt Plotin »die nicht etwa wie ein Hauch oder ein Warmestrom zu denken
ist, sondern so wie wenn eine Qualitat da ist, die alle Qualititen in sich
befa&t und bewahrt: sii®e Wohlgeriiche und zugleich die Qualititen des
Weines und aller Fliissigkeiten Krafte, die Farben und alles, was der Tast-
sinn erkennt. Dazu mag auch gehiren, was der Gehérsinn wahrnimmt, alle
Melodien und jeder Rhythmus«.** Es entsteht hier eine Welt, deren Wesen
die konkrete Einheit des sonst zwiespaltigen und in sich zerfallenen Mannig-
faltigen, der alle Stoffe stoffecht umfassende »Allteig« ist, eine Welt, die
alles, was in den Kunstwerken vom »Standpunkt« aus und in Bezug auf die
von ihm bedingte reine Subjektivitat gestaltet wird, »Standpunkt«-los,
setzungsfrei, in alles vereinigender Fiille verwirklicht. Plotin schildert diese
Wirklichkeit an den verschiedensten Stellen seines Werkes, und iiberall tritt
dieser Kunstwerkcharakter der intelligiblen Wirklichkeit klar zu Tage; am
pragnantesten wohl in der mit Recht beriihmten Stelle des Buches von der
intelligiblen Schénheit: »...und sie sehen alles, nicht als die werdenden
sondern als die seienden, und sehen sich in andern; denn alles ist klar und
durchsichtig, nichts dunkel und widerstrebend, sondern jeder ist jedem offen-
bar nach innen und durch alles hindurch, denn »Licht zu Licht: heift’s dort.
Es hat auch jeder jedes in sich selbst und wiederum sieht er in dem andern
alles, so da iiberall alles und alles alles und jedes alles und unermeflich
der Glanz;...Hier ist auch reine Bewegung, denn sie stért auf ihrem
Gange nicht eine andere von ihr verschiedene Bewegung, auch die Ruhe
wird nicht erschiittert, weil sie nicht getriibt wird durch Unbestandigkeit;
.. Ein jeder schreitet nicht wie auf fremdem Boden, sondern eines jeden
Statte ist er selbst was er ist, und da sein Lauf sich nach oben richtet, geht
sein Ausgangspunkt mit, und nicht ist er selbst ein anderes noch der Raum
ein anderes... Hier nun [in der Sinnenwelt] geht wohl ein anderer Teil
aus dem Teil hervor und jeder Teil bleibt allein fiir sich; dort aber geht
aus dem Ganzen immer jeder Teil hervor und doch ist immer zugleich der
Teil und das Ganze. ... unermiidlich, unerschdpft ist alles,... denn im An-
schauen vergréfert sich das Schauen...« 2. Dazu kommt noch, da diese

19 [Die Enneaden, VI. Buch 7., Kap. 12. Bd. II. $. 380.]
20 [Ebda. V. Buch 8., Kap. 4. Bd. II, S, 204-205.]
Logisch-metaphysische Schonheitsidee 153

Qualitét zugleich nicht nur vom Subjekt »erfaSbar« ist, denn das ware
auch in einem erkenntnismafig distanzierenden, die Qualitaten in »Begriffe
von Qualitaten« verwandelnden System denkbar, sondern mit dem Wesen
des Subjekts identisch ist, da& dieses also gewissermafen nur sich selbst, sein
eigenes wahres Wesen wirklich erreichen muf, um ihrer teilhaftig, mit ihr
identisch zu werden. Jedoch der Preis dieser Identitat des substanziell ge-
wordenen Subjekts mit dem an sich Seienden ist, wie bereits gezeigt wurde,
der Subjektscharakter des Subjekts. Die nochmalige Betonung dieser aus dem
Wesen der intellektuellen Anschauung stammenden Aporie ist hier darum
so wichtig, weil sie das Herabsinken der in ihr angestrebten Wirklichkeit
ins Asthetische besser erhellt. Die die intellektuelle Anschauung als genuine
und originelle metaphysische Bestrebung erfiillende Intention geht auf die
Aufhebung der Subjekt-Objekt-Dualitit aus, auf das Auffinden der Heimat
der Seele, wobei es fiir diese Intention, gerade in ihrer ganz eigentlichen
Form, entscheidend ist, da& das »Finden« hier ein »Haben« oder ein Eins-
werden und weder ein Gestalten noch ein Erkennen sein kann. Diese
»Heimate« ist der Seele nicht angemessen (wie das Kunstwerk der normativ
rein werdenden Subjektivitat), sondern ist sie selbst: das »Finden« ist das
Hinuntergraben bis auf den Urgrund, wo jede Vereinzelung, jedes Distinkt-
sein und damit die Méglichkeit unangemessener (oder angemessener) Bezie-
hungen notwendig aufhéren miissen, weil schon in dem Begriff der Bezie-
hung eine Verfalschung des hier zu Erringenden liegt. Jedoch dem abstrak-
ten An-sich des Absoluten gegeniiber muf selbst das zum Grenzbegriff ver-
fliichtigte Subjekt noch als menschlich bedingt erscheinen, und da die zu dem
Absoluten aufsteigende Bahn im Gegenteil ein immer substanzieller werden-
des Subjekt erfordert, mu entweder das wesenhaft gewordene Subjekt sich
— in einem unvermittelten Akt — selbst aufheben, oder es muf seiner auf
diesem Weg errungenen Substanzialitit eine geradeso substanzielle Objekts-
welt gegeniiberstellen, die an und fiir sich »objektslose« metaphysische In-
tention in die vollendete und kunstwerkhafte »Objektivitat« der intelli-
giblen Wirklichkeit verwandeln und das identische Subjekt-Objeke zur
blo&en Angemessenheit herabstimmen.
Es vereinigen sich also im Problem der intellektuellen Anschauung zwei un-
vereinbare Intentionsreihen: erstens das Erreichen-wollen einer vollkomme-
nen meta-anthropologischen Sphare, wo alle Formen und Inhalte der
»menschlichen« Bediirftigkeit wie Vereinzeltheit, Distanz, Dualitat, diskur-
sives Denken zuriickgelassen worden sind, die deshalb, wie bereits betont
wurde, ein von jedem Setzungsakt unabhangiges »Sein« hat; zweitens die
154 Heidelberger Asthetik

Forderung, die an das Subjekt gestellt ist, sich mit dieser Welt zu vereini-
gen, ihr nicht in der distanzvollen theoretischen Verhaltungsart als Erken-
nendes zum Erkannten gegeniiberzustehen, sondern gerade diese Distanz zu
tiberwinden. Diese Distanz ist, wie gezeigt wurde, im Kunstwerk (im Ge-
gensatz zu den Verhaltungsakten) tiberwunden, und das hier geforderte Sein
ist das Sein, das alles, was im Kunstwerk gestaltet ist, erhalt. Darum zeigt
sich in der Fassung Schellings vom Kunstwerk als Garantie der »Objektivi-
tat« der intellektuellen Anschauung nicht nur eine spekulative Tiefe, son-
dern auch eine tief angemessene Anschauung vom Wesen des Kunstwerks.
Nur gerade wegen der wirklich metaphysischen (und nicht asthetischen)
Grundstrémung seiner Philosophie, in Vereinigung mit der richtigen Er-
kenntnis vom Wesen des Kunstwerks, kann die »Objektivitat« des Kunst-
werks keineswegs die der intellektuellen Anschauung garantieren. Das Auf-
einanderbeziehen beider muff ein blofes Bild bleiben, da ihre Verwandt-
schaft nicht mehr als das gleiche Niveau der iiberwundenen Gegensatzlich-
keit ist, sonst aber in Struktur wie in Intentionsqualitat und -richtung eine
vollige Divergenz aufweist. Das Kunstwerk kann nur durch Verfalschung
ihrer eigentlichen Wesensart (Einzigartigkeit, Erlebbarkeit, Materialechtheit
etc.) zum Symbol der intellektuellen Anschauung werden und diese verliert
durch eine solche »Garantie« ebenfalls ihre eigenste Wesenheit: das wirkliche
»Haben« und »Erreichen« der wirklichen metaphysischen Essenz, die Be-
freiung von jedem Bedingenden-ad-hoc, dessen Ewigwerden das Wesen des
Kunstwerks ausmacht. Dazu kommt noch, da& um diese »Garantie« real in
Wirksamkeit treten zu lassen, der struktive Gegensatz von Werk und Schaf-
fen abgeschwacht werden muf; denn hier muf ja nicht nur das »Erkannte«
zum kunstwerkartigen Subjekt-Objekt werden, sondern es muff sich im Akt
der intellektuellen Anschauung, also doch im Subjekt, realisieren. Dadurch
heben sich aber beide gegenseitig auf: das ganze System — das sich ja dann
auf das standige Funktionieren dieses so gesicherten Prinzips griindet — wird
zum Kunstwerk verwandelt, das Metaphysische asthetisiert und die-Kunst
doch zur platonischen metaphysischen Tautologie erniedrigt. Die tiefe und
echte metaphysische Intention, hinter die erstarrende und erstarrte »objek-
tive« Gegenstandlichkeit des diskursiven Verstandes zu greifen, mu8 hier
gerade an der Vergegenstindlichung scheitern: das von der intellektuellen
Anschauung und fiir sie geforderte Niveau mu — wenn es unverfalscht fest-
gehalten wird — jede Gegenstindlichkeit aufheben; die Sehnsucht darnach
ist eine, im weitesten Sinne des Wortes praktische und nicht rein kontempla-
tive, eine Eros-Sehnsucht im platonischen Sinne, die Forderung einer »Medi-
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 155

tation« in religidser Richtung, die — als Kontemplation — zur inneren Tat


wird und keine — unberiihrte und unantastbare — Gegenstindlichkeit ihr
entgegengelten lat. Ihre Forderung nach echter Substanzialitat erschafft
dieses Niveau, wo das Subjekt zu substanziell geworden ist, um den Objek-
ten kontemplativ gegeniiberzustehen, und das, was es ergreift, auch zu sub-
stanziell ist, um blo& »kontempliert« zu werden, wo also das Einswerden,
die villige Identitat notwendig aus ihrer gegenseitigen Bewegung aufeinan-
der mit der Richtlinie auf Substanzialitat entsteigt. Fiir diese Identitat
kénnte das Kunstwerk — als transcendente Subjektivation der reinen Sub-
jektivitit — allerdings als Symbol figurieren, aber wir wissen, welcher tran-
scendentalen Einschrankung es diese seine Wesensart verdankt und da& es,
sobald es sich einem Subjekt zukehrt, in blo&e »Angemessenheit« umschla-
gen, zum Objekt werden mu&. Diesem Schicksal muf die intellektuelle An-
schauung, wenn sie »Objektivititen« begriinden, d. h. zur »Erkenntnis«
werden will, ebenfalls anheimfallen; nur da hier das Umschlagen nicht im
Wesen des Transcendenten selbst liegen und-also keine »angemessene«,
transcendentale Gegenstandlichkeit begriinden kann. Dies ist nur bei einem
transcendenten Wert, nicht aber bei einem metaphysischen Sein méglich, da
nur der Wert, nicht aber das Sein durch das Wesen seiner Setzung auf dieses
Umschlagen angelegt ist. Denn dieses Umschlagen der transcendenten Rein-
heit ins Abgeschwachte, Getriibte und Inadaquate ist vom Wert aus gesehen
das Normativ-Angemessene: es ist das Wesen des Geltens, daf seine Reali-
sation in den Subjektsakten und den Gebilden, die aus ihnen entstehen, in
den normativen Subjekt-Objekt-Beziehungen nur eine Richtung auf den
Wert habe, ihn selbst aber niemals erreiche, wahrend das in der intellektuel-
len Anschauung ergriffene metaphysische Sein, wenn nicht adaquat erfaft,
garnicht da ist oder in der unaussagbaren negativen Transcendenz des Kan-
tischen Dinges an sich verharrt, das allerdings, wie Schelling sagt, »wenig-
stens den ersten Anstof gegeben, der die Philosophie iiber das gemeine Be-
wuftsein hinaus fiihren konnte« *, jedoch in dieser reinen Negativitat die
Leugnung jedes konkreten metaphysischen Seins bedeuten muf. Diese Nega-
tivitit soll im identischen Subjekt-Objekt der intellektuellen Anschauung
zur vollendeten und konkreten Positivitit gebracht werden, die Bedingung
dieser Realisation ist aber ein klares Entweder-Oder, ein entschiedenes
Alles-oder-Nichts, Fiir das Alles schien das vom Kunstwerk geleistete Sub-

21 [System des transzendentalen Idealismus. Samtliche Werke, Abt. I. Bd. III. S. 46r.]
156 Heidelberger Asthetik

jektivationsniveau der reinen Subjektivitat Gewahr und Wegweiser zu sein;


weil aber diese Struktur hier auf nicht dafiir pradestiniertes Material und
ohne die transcendentalen Bedingungen ihrer Méglichkeit angewendet und
demzufolge in Subjektsakte und deren Gegenstinde zerlegt werden mufte,
ist auch hier ein Abbiegen von der transcendenten Adaquatheit notwendig
geworden, das hier deshalb nicht gewollt, nicht normativ und infolgedessen
nicht eine eigenartige und autonome Gegenstandlichkeit begriindend werden
kann, Die Gegenstandlichkeit, die bei der real gewordenen intellektuellen
Anschauung entsteht, mu8 im Vergleich zur eigentlich gesuchten eine depra-
vierte, eine blo& theoretische sein, und nur insofern sie iiber das blo
Theoretische doch hinausgehen will — und das muf sie —, wird sie gegen
die urspriingliche Intention, und diese in anderer Richtung ebenfalls depra-
vierend, eine Asthetische, eine »Nachahmung« der kiinstlerischen, der ange-
messenen und utopischen Wirklichkeit sein.
Auch Plotin ist vor dieser Aporie der Asthetisierung der intelligiblen Wirk-
lichkeit in der intellektuellen Anschauung gestanden. Wenn man seine friiher
angefiihrte Schilderung der intelligiblen Wirklichkeit liest, so ist es unmég-
lich, nicht an Schelling und an das Zur-Asthetik-werden der gesamten Meta-
physik zu denken. Auch bei ihm durchdringt die kunstwerkhafte dynami-
sche Homogeneitat die Ideenwelt, auch hier ist das Ideal des Kunstwerks,
die konkret daseiende und absolute Einheit aller Entzweiungen der Empirie
(Vielheit und Einheit, Ruhe und Bewegung, Ding und Raum etc.) zur Wirk-
lichkeit geworden; auch hier ist die Schénheit das »volle mangellose Sein« =.
Sein Platonismus erschreckt aber vor den Folgen, diese Setzung als Abschlu8
des Weltaufbaus anzusehen, und er zersetzt die hier auf den ersten Blick
als erreicht erscheinende Einheit in die bloSe adaquate Coordination des In-
tellekts mit dem Intelligiblen und geht dariiber hinaus zu dem Einen, »wo-
raus der Intellect und das mit ihm verbundene Intelligible entstanden ist« *5,
Damit ist — fiir den Endpunkt seiner Philosophie — alles Asthetische iiber-
wunden: das Eine »will nicht einmal schén sein«, denn »wo das Schone auf-
hort, da hért auch das Sein auf« %, Es ist nicht schén, denn es ist mehr als
schin, mehr als wahr, mehr als seiend, nur sein »Das« ist fiir die Erleuchte-

22 [Schelling: Uber das Verhaltnis der bildenden Kiinste zur Natur. Simtliche Werke.
Abt, I. Bd. VII. S. 303.)
23 [Die Enneaden. III. Buch 8, Kap. 9, Bd. I. S. 266.]
24 [Ebda, V. Buch 8., Kap. 8-9. Bd. II. S. 209-210.)
Logisch-metaphysische Schonheitsidee 157

ten ein gesichertes Wissen, aber eines, das gar keine Aussagbarkeit iiber das
»Was« haben will. Man kann es »haben«, sprechen aber nur von seiner
Wirkung, nur davon, »was es nicht ist ®5.«
Der Sprung in die negative Theologie ist eine Rettung fiir Grund und Gip-
fel des Systems, wenn auch fiir seinen Aufbau hieraus ungeheure, hier nicht
analysierbare Schwierigkeiten entstehen, aber er kann die »asthetische«
Struktur der intelligiblen Wirklichkeit auch nicht aufheben, nur daf die
methodischen Folgen weniger krass hervortreten als bei Schelling, dessen
spekulative Tiefe und Kiihnheit in dieser Paradoxie selbst den Lésungsweg
gesucht hat. Und es bleiben fiir alle derart aufgebauten Systeme die Proble-
me bestehen, die aus dem Einander-nahe- oder Zur-Identitat-bringen von
asthetischer und intellektueller Anschauung folgen: die Notwendigkeit, der
Kunst eine metaanthropologische Sphire zuzuweisen, und die Intention im
Asthetischen, die Werkstruktur auf die Subjekt-Objekt-Beziehung anzuwen-
den, die Intention auf das Einswerden mit dem Schénen, das Erosproblem.
Die Aporie des Anthropologismus kann nur auf dem Boden der Theoreti-
sierung des Asthetischen entstehen. Denn fiir die reine Theorie ist notwen-
digerweise eine Dualitat zwischen den ewigen, aus dem Wesen des Theore-
tischen selbst stammenden »Formen« der Erkenntnis und zwischen ihrem
»sinnlichen«, also menschlichen, bedingten und zufalligen Substrat gegeben,
woraus sogar fiir Kant das »ganz Zufallige« der »méglichen Erfahrung« 2°
folgt. Das Bestreben der reinen Theorie muf also darauf hinausgehen, eine
Sphare des schlechthin Apodiktischen zu finden, die von jeder triibenden
Beriihrung mit dem Menschlich-Sinnlich-Zufalligen véllig frei ist. Ob dies
nun in der reinen Isolierung einer — um mit Spinoza zu reden — adaquaten
Erkenntnis von der inadaquaten ist; ob es die »kritische« Klarlegung der
blofen Substratrolle der Sinnlichkeit ist, wobei sie durch diese Grenzsetzung
gewissermafen neutralisiert, zum »Material tiberhaupt« verwandelt wird
und — innerhalb der konkreten Grenzsetzung — die metaanthropologische
Apodiktizitat der theoretischen Formen nicht mehr zu triiben vermag; ob es
die »Erzeugung« der »Sinnlichkeit« durch die theoretischen Formen ist, wel-
che freilich — was fast immer vergessen wird und allerdings nur fiir das
System als Ganzes, nicht aber fiir die reine Theorie von Bedeutung ist —

25 [Ebda, V. Buch 3., Kap. 14. Bd. II. 8. 172,]


26 [S.: Kritik der reinen Vernunft, Werke. Hrsg. von E, Cassirer. Berlin, Cassirer. 1913
Bd. 5. S. 499.)
158 Heidelberger Asthetik

auch nur das »Material iiberhaupt«, die theoretisch neutralisierte Sinnlichkeit


ist, kommt hier nicht in Betracht. Es bleibt allen rein theoretischen Systema-
tisationen gemeinsam, daf sie sich von allem Sinnlichen im eigentlichen Sinne
losreiSen kénnen und miissen. Wenn also die theoretische Systematisation
in die metaphysische aufgenommen wird, so mu& diese struktiv notwendige
Beziehung zum Sinnlich-Zufalligen, zum Anthropologischen ebenfalls meta-
physisch umgedeutet werden, und da die unmittelbare Gegebenheit der
Kunst unlésbar an dieses Niveau gekniipft ist, kann sich ihre Auffassung
und Bewertung den Folgen der sich hieraus ergebenden Umbildungen auch
nicht entziehen. Das Wesentliche dieses Prozesses ist bereits in anderen Zu-
sammenhangen angedeutet worden: die Abtrennung der »reinen« Form von
ihrem »sinnlichen« Substrat in der receptiven Kontemplation und dement-
sprechend das Herabsteigen der so gearteten Form aus ihrer Reinheit in das
— depravierende — sinnliche Material in der schépferischen Vision, die folge-
richtig als Kontemplation der Urbilder gefaf&t wird. Die »Reinheit« der so
erreichten Form muf darum in der Reinheitsrichtung der theoretischen Form
liegen, sie mu8 zwar auf die Sinnlichkeit bezichbar (»anwendbar«) sein, aber
selbst das Prinzip einer solchen Anwendbarkeit mu in den derart theoreti-
sierten Formen als solchen begriindet und deshalb in ihnen selbst, durch
Analyse ihrer spezifischen Struktur, auffindbar sein. Das so erreichte voll-
endete Losgeléstsein der Formen von allem, was dem Menschen als bloSen
Menschen zukommt, bringt die in die Theorie aufgenommene, mit ihr iden-
tifizierte oder parallellisierte asthetische Form vor ein neues Dilemma: ent-
weder muff das Wesen der asthetischen Form, der Schénheit von jeder »Sinn-
lichkeit« und damit von jeder notwendigen Beziehung zum »Menschlichen«
unabhangig gemacht werden, wodurch sie in eine villige Transcendenz ge-
riidkt wird, aus der es keinen Riickweg mehr in die »Wirklichkeit« gibt,
hdchstens mittels unbewufter Verfalschung dieses Wesens, oder es muf in
dem an das Sinnlich-»Menschliche« geketteten Asthetischen eine bloe Vor-
bereitung des rein Theoretischen oder seine minderwertige Triibung erblickt
werden.
Fiir beide Seiten des Dilemmas hat Platon, wie immer, radikal und folge-
richtig alle Konsequenzen gezogen. Uber seine Auffassung der Kunst wird
erst spater gesprochen werden kénnen. Die Loslésung des ungetriibten asthe-
tischen Prinzips von jeder Beziehung auf eine Receptivitat zeigt sich am
deutlichsten in seinem naturphilosophischen Schénheitsbegriff. Hier spricht
er unter anderem, im Anschluf an die bereits angefiihrte Stelle von den
Aufbauformen des Universums und betont, da der Weltschépfer die Welt
Logisch-metaphysische Schonheitsidee 159

»auswendig... ringsherum auf das Genaueste vollstandig glatt [machte],


und zwar aus vielerlei Griinden«, deren entscheidenster die Vollkommenheit
und Bediirfnislosigkeit ist: »Bedurfte sie doch der Augen nicht, denn es war
nichts Sichtbares, noch auch der Ohren, denn es war nichts Horbares aufer-
halb ihrer zuriickgelassenen« *?. Sie bedarf nichts: »Denn er teilte ihr eine
Bewegung zu, ... die am meisten der der Vernunft und der Erkenntnis
nahe kommt. Namlich gleichma8ig in demselben (Raume) und in sich selber
fiihrte er sie herum und lief sie so sich umschwingend im Kreise bewe-
gen ...« 28, Damit ist diese Loslésung fiir die himmlische und erst recht fiir
die iberhimmlische Schénheit geleistet: sie ist mangellos und in sich voll-
kommen und hat geradesowenig wie die an sich seiende Wahrheit etwas mit
menschlichen Bediirftigkeiten und ihren Auflésungsformen zu tun, denn sie
ist das an sich seiende Wesen selbst. Und so wie von diesem Wesen ein Wis-
sen gefordert wird, das die Menschen, das Menschliche in ihrem Theoretisch-
werden ablegend, erreichen, so soll eine Kontemplation dieses an sich Sché-
nen méglich werden, eine Kontemplation, die rein von jeder menschlichen
Sinnlichkeit ist, denn selbst bei der Betrachtung des »Sinnlichen« lést sie
die unsinnlichen Formen vom Gegenstand ab und steigt zu ihren Ur-
quellen, zum iiberhimmlischen Ort auf. So wird die Kontemplation des
Urschénen zum Wissen vom Wesen des Universums, und alles, was auf
Erden mit den Sinnen erfaSbar erscheint, ist bestenfalls ein Anlaf, es zu
suchen. Und die Kunst, deren in Sinnlichkeit getauchte Formen Spuren
dieser Reinheit aufzuweisen: scheinen, wird rein gemacht: die pythago-
raeische, heilige Mathematik erkennt in der Musik die ewigen MaSver-
haltnisse, aus denen sich die wahre, jedenfalls des Sinnenscheins liegende
Welt aufbaut, wieder; und spitere Deutungen erfassen sie auch anderswo,
in den Proportionen, die uns die Sinnesobjekte als »schdn« erscheinen las-
sen, und finden im »goldenen Schnitte eine ewige konstruktive Kategorie
alles Seienden, dessen — getriibtes — Anhaften, der Wiederschein des Oberen
im Irdischen das Schénheitserlebnis ausmacht. Aber je folgerichtiger diese
Gedanken 2u Ende gegangen werden, desto gleichgiiltiger mu jeder »An-
la“« erscheinen, an dem sich diese Formen verwirklichen. Es ist doch nur
ein Kompromif{, wenn die Weihe der Musik aus ihrem Verankertsein in
dem Aufbau des Planetensystems deduziert wird. Denn von den Propor-

27 [Timaios, 33. Werke. Vierte Gruppe, Bdchn. 6. Obersetzt von F. Susemihl. S, 691.]
28 [Ebda, 34. S. 692.]
160 Heidelberger Asthetik
tionen, deren Kontemplation angestrebt wird, filhrt kein gangbarer Weg
zur hérbaren und zur hérenden Musik, zu der Musik, die als Kunst
gegeben ist. Da in einer naturwissenschaftlichen Psychologie bestimmten
»Erlebnissen« Zahlenverhaltnisse zugeordnet, oder daf in einer »Psycholo-
gie der Receptivitit« das Gefallen an bestimmten Proportionen, am »gol-
denen Schnitt« etwa, erfolgreich analysiert werden kénnen, bleibt hierbei
au&er Frage, hat aber mit diesem Problem nichts zu tun. Diese Propor-
tionen sind, wenn die Musik als Musik, als Klang und Hérbarkeit aufrecht-
erhalten werden soll, nichts als ein methodisches Hilfsmittel fiir die theo-
retische Erkenntnis der physikalisch-physiologischen Bedingungen ihres tat-
sachlichen — nicht asthetischen — Verwirklichtwerdens; die Musik als Musik
folgt niemals ihren Gesetzen, und die erhabene Harmonie der Planeten-
abstande, die himmlische Harmonie der Spharen ware — fiir die Musik —
eine diirftige Elementarlehre primitiver Tonverhiltnisse. Darum war es
stets eine doppelt sinnwidrige Anthropomorphisierung der groBen pytha-
goraeischen Lehre, wenn die Harmonie der Sphiren als »hérbar« gedeutet
wurde, und ihr letzter Erneuerer, Kepler, hat sie mit voller Energie von
jeder Hérbarkeit losgelést, er lat das Auge, oder besser gesagt, die dem
‘Auge analogen occulten Organe zu Organen ihrer Kontemplation werden,
und weigert sich, diesen Sprung zur Sinnlichkeit — der ein wahrer Salto
mortale ist, denn er gibt alles Errungene preis, ohne das Wieder-zu-Errei-
chende, Niedrigere zu erlangen — zu vollziehen.
Hier ist mit grofartiger Konsequenz der Sinn der menschenjenseitigen
Schénheit gefa&t; es wird aber dabei zugleich deutlich, da& damit das Auf-
gehen der Asthetik in Theorie vollendet ist, es ist eine mathematisch-meta-
physische Naturphilosophie entstanden, die in dem ontologischen Begriff der
Schinheit als Inbegriff von Ma8, Proportion, Harmonie etc. gipfelt; Schén-
heit ist die Eigenschaft der rein gewordenen, zu sich gekommenen »letzten
Dinge«, eine konstitutive Kategorie fiir den naturphilosophisch-metaphy-
sischen Aufbau des Universums. Fiir den »Betrachter«, das Subjekt der Kon-
templation ist die Schénheit nur ein objektivierender Ausdruck fiir die Er-
griffenheit des Geistes vor der erhabenen Grofartigkeit der Gesetze des Uni-
versums; und das »Erleben« dieser Schinheit ist in der Tat etwas durchwegs
Secundires, nicht im Wesen der Schinheit selbst Begriindetes, was sie also
als »Erlebbares« und auf »Erlebbarkeit« Angelegtes nicht in eine anthropolo-
gische Sphdre herabziehen kann: es ist das »Erlebnis« der einfachen Ein-
leuchtungskraft dieser Gesetze. (Daf hierbei dann doch asthetische Motive
mitspielen und die »Reinheit« triiben, ist aus den friiheren Analysen ver-
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 161

standlich. Da& etwa bei Kepler fiir die Annahme eines begrenzten Kosmos,
wie iiberhaupt fiir den Wertbegriff des négas in der platonischen Kosmo-
logie die Idee des Universums als »Kunstwerk« wenigstens mitentscheidend
war, kann hier nur angedeutet werden.)
Aber diese Folgerichtigkeit konnte sich selbstverstandlich duferst selten in den
philosophischen Systemen verwirklichen. Um die Sinnenwelt, mit ihren
»schénen Dingen« und derer Gestaltungen in den Kunstwerken zu retten,
mufte der Salto mortale ihrer Verkniipfung mit der himmlischen Harmonie
doch versucht werden. Das Einfachste, wenn auch freilich Banalste war, an
die Lehre von der Triibung ankniipfend das Sinnlich-Schéne (in Natur und
Kunst) als Sphare des Noch-Nicht, als Vorhalle des Theoretischen zu kon-
stituieren und das »Sinnlichee daran als das noch nicht zur BewuStheit ge-
langte Theoretische zu fassen, das der Mensch eben dieser Zugeordnetheit
wil-
len, aber ohne den wahren Grund zu kennen, als »schén« erlebt. Aber es
ist notwendig, da& die wahre Erfiillung nur im vélligen BewuStwerden,
also in der Abkehr vom »Sinnlichen« (und damit vom Asthetischen) miglich
sei. Diese Auffassung hat die ganze vorkantische Zeit beherrscht, fiir deren
Philosophie die Kunst und mit ihr das Asthetische als aufgegebenes Problem
immer weniger auszustreichen war. Fiir Spinoza gibt es noch kein Asthe-
tisches als Problem der Philosophie, Leibniz bestimmt es schon auf diese
Weise: »Die Musik entziickt uns, obgleich ihre Schénheit nur in der Ent-
sprechung von Zahlen besteht und in der unbewuften Zahlung, die die
Seele an den Schligen und Schwingungen der ténenden Kérper vornimmt,
die in gewissen Intervallen mit einander zusammenstimmen. Die Freude,
die das Auge an den Proportionen empfindet, ist von derselben Art, und
auch die der iibrigen Sinne wird auf etwas Abnliches hinauslaufen, obgleich
wir sie nicht so deutlich zu erklaren vermégen« **. Aber selbst fiir Kant sind
solche Anschauungen noch nicht véllig iberwunden und wenn er die »reinen
Geschmacksurteile« von den auf Reize bezogenen genau unterscheiden will,
so miissen die Farben, als blo&e Reize, aus dem eigentlich Asthetischen
ausscheiden; ihre Rettung fiir die Asthetik sei nur dann méglich, wenn sich
die Eulersche Theorie von den Atherschwingungen bewahrheitet, denn »so
wiirde Farbe und Ton nicht blo&e Empfindungen, sondern schon formale
Bestimmung der Einheit eines Mannigfaltigen derselben sein und alsdann

29 (Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. § 17. Philosophische Werke. Hrsg.
von E. Cassirer. Leipzig, Durr. 1906. Bd. II. S. 433-]
162 Heidelberger Asthetik

auch fiir sich zu Schinheiten gezahlt werden kénnen« %, Damit spitzt sich
das Dilemma noch scharfer zu: die Asthetik soll als autonome Wertsphire
oder als selbstindiges Gebiet der metaphysischen Philosophie begriindet
werden, diese Autonomie erfordert ihr Verankertsein in der ewigen, men-
schenjenseitigen Welt der Werte oder der urbildlichen Ideen, es ist also eine
Lebensfrage fiir die Asthetik, ihre Organe und Formen entweder von der
Sinnlichkeit villig frei zu machen oder in (besser: hinter) dieser die konsti-
tutive Verbindung aufzufinden, ohne jedoch (eine Exschwerung, die fiir den
reinen Platonismus nicht bestand) das Asthetische als Asthetiches aufzu-
heben. Die Unauflésbarkeit dieses Dilemmas stammt aus der theoretischen
Fragestellung, denn nur in ihr und durch sie entsteht der zu iiber-
windende Begriff der anthropologischen Sinnlichkeit und ist fiir sie, wie
gezeigt wurde, nicht zu vertilgen. Denn solange an dieser methodischen
Stelle fiir die Sinnlichkeit festgehalten wird, kann die Allgemeingiiltigkeit
des Asthetischen nur in den »unsinnlich« theoretischen Elementen seiner
Form begriindet sein, das Asthetische in seiner eigentlichen Gestalt mu8
also transcendiert werden; eine wirkliche Verbindung beider ist nicht her-
stellbar, und das Kriterium der wirklichen asthetischen Geltung und Gegen-
standlichkeit ist notwendigerweise auferasthetisch; man denke noch an den
kantischen Begriff des Ideals in der pulchritudo adhaerens. Der einzige
Winckelmann ist hier der Autonomie der Asthetik nahe gekommen, indem
er fiir ihre Geltungsart eine von der gewdhnlichen abweichende und selb-
standige Sinnlichkeit im Gestaltungsmaterial der Kunst auffand, dessen
Wesen als ein »aus der Materie durch Feuer gezogener Geist« *! erscheint.
Doch selbst bei ihm ist diese Bewegung auf Autonomie eine scheinbare:
auch dieses Material ist es nur im uneigentlichen Sinn, es ist mehr eine Art
von »intelligibler Materie« als das wirkliche, sichtbare, hérbare etc.
Material der Kunst. Denn dieses »quasi corpus« dient ja in erster Reihe zur
Unterscheidung des Helden von dem Vergotteten, jenem, der »noch nicht
an das Ziel seiner Arbeiten gelanget war, von dem mit Feuer gereinigten,
und zu dem Genu& der Seligkeit des Olympus erhabenen Kirper dessel-
ben« *, Die »absolute«, nicht mehr menschlich-sinnlich-zufallige Materialitat

30 [Kritik der Urteilskraft. § 14. Werke, Hrsg. von E. Cassicer. Berlin, Cassirer. 1914.
Bd. V. S. 294.)
31 [Geschichte der Kunst des Altertums. Buch IV., Kap. 2, § 22. Werke, Hrsg. von
H, Meyer und J. Schulze. Dresden, Walther. 1811, Bd. IV. S. 52-53.]
32 [Ebda, Buch. V., Kap, 1., § 28. Werke. Bd. IV. S. 95.)
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 163
ist also doch das blo&e Erkennungszeichen eines An-sich, der vorasthetisch
daseienden konstitutiven Kategorien der »schénen Dinges, ein metaphysi-
sches Inventar gewissermaffen der Kennzeichen der Gétter und der Men-
schen, wie ja das Kriterium der Schénheit, das Windcelmann sucht, dazu
dienen soll, die Schénheit in allen irdischen Erscheinungen unterscheiden
und ihre Beurteilung der Relativitat der Geschmacksurteile entrei&en zu
k6nnen. »Die Schénheit wird durch den Sinn empfunden, aber durch den
Verstand erkannt und begriffen, wodurch jener mehrentheils weniger emp-
findlicher auf alles, aber richtiger gemacht wird und werden soll« 58,
Diese aus der Art der Fragestellung selbst entstehende Unmiglichkeit ihrer
Beantwortung weist auf ein anderes Motiv hin, das von der Seite des
Asthetischen zur intellektuellen Anschauung und ihrem Objekt, der intelli-
giblen Wirklichkeit dringt, Wenn namlich fiir das Asthetische eine Objek-
tivitdt gefordert wird, die — wenn auch in absteigender Linie — doch eine
Briicke zur Sinnlichkeit, durch die die »schénen Dinge« erblickt werden,
schlagen soll, so ist es notwendig, da in der die Objektivitat begriindeten
Heimat aller Formen sich nicht nur die von der Beflecktheit reingewordenen
Formen (die, wie wir wissen, immer theoretisch sind) vorfinden, sondern
gleichsam auch die reingewordenen Vorbilder des Materials. Die intelligible
Wirklichkeit ist ein Gegenstindlichwerden der reinen Formen, aber dies ist
nur dadurch méglich, da& sie aus sich eine »intelligible Materie« entlassen
und sich mit ihr vereinigt haben. Der Anschauungscharakter der intellek-
tuellen Anschauung geht auch darum iiber das diskursive, rein theoretische
Erkennen hinaus, weil diese letzte Erfiillung der reinen Formen von ihr
miterfa&t wird. Intellektuelle und sthetische Anschauung kénnten also sich
von hier aus betrachtet gegenseitig erginzen und objektivieren: wahrend
aber die asthetische Anschauung doch nur eine empirische Gew4hr, eine
blo& exoterische Sichtbarmachung der intellektuellen sein kann, ware um-
gekehrt fiir die Berechtigung des Zusammensehens von Form und Materie
in der sthetischen Anschauung die Erkenntnis eines Zusammens von urbild-
licher Form und »intelligibler« Materie’ in der intellektuellen Anschauung
in Wahrheit die Garantie ihrer Objektivitat. Das Irdische und Sinnliche —
und deshalb das blo& Menschliche und Zufallige — der Materie ware also
aufgehoben, wenn man nachweisen kénnte, da ihre Materialitat nur ein
Abglanz jener ist, die die Formen der intelligiblen Wirklichkeit erfiillt, da8

33 [Ebda, Buch IV. Kap. 2., § 18. Werke. Bd. IV. S. 48]
164 Heidelberger Asthetik
sie demzufolge — weder als etwas blo& an den Menschen als Sinneswesen
Gebundenes, noch als von den Formen »zufallig« Umfaftes — von ihnen
abtrennbar und abzutrennen ist. Dadurch erhilt die friiher betonte »asthe-
tische« Wesensart der intelligiblen Wirklichkeit eine neue Beleuchtung: in
ihr ist das Ideenhafte der »sinnlichen« Wirklichkeit mitaufgenommen, und
das Wiedererkennen der Urheimat, das die Seele im Schénheitserlebnis so
sehr erschiittert, entreift sie nicht véllig ihrer irdisch-menschlichen Umwelt,
sondern zeigt diese vielmehr in ihrem eigentlichen, nur fiir den uneinge-
weihten Blick getriibten Glanze; zeigt sie wie sie in der Anschauung Gottes
da ist. So wird der Schaffensproze8 der Kiinstler, die Vision zu einer heili-
gen Entriidctheit, zu einer der vier Arten des Wahnsinns, von denen Platon
im Phaidros spricht, zu einem der Wege, die bei Plotin tiber den Schaffens-
prozef des Kiinstlers auf dem Weg des Eros zur Heimat fiihren. Und so
wie es fiir Gott keinen Unterschied der Tatigkeit und des Geschaffenen,
keinen Abstand zwischen Ding und Begriff gibt, so sind auch diese Diffe-
renzen in der Vision zur Einheit gebracht. »Eine jede Seele«, sagt Solger,
die dieser Gnade teilhaftig wird, »... hat in sich selbst ein der Gottheit
abgegrenztes und geweihtes Gebiet, und in dessen Mitte einen heiligen
Tempel, in welchem nicht blo ein Abbild der Gottheit verehrt wird, son-
dern sie selbst gegenwirtig und schaffend wohnt« #4, Und diese Gattlichkeit
durchstrahlt das ganze geschaffene Universum, diese Seele zieht »die ganze
tibrige Welt der Besonderheit und Wirklichkeit, so weit sie dieselbe nach
au&en umfa&t, mit nach sich« und tragt sie »mit frohem Triumph als ein
aus der Gottheit selbst hervorgegangenes Leben, zu dieser zuriick« *5,
Ist aber damit die »Sinnlichkeit« wirklich »gerettet« und der Schénheir,
ohne Vernichtung ihrer irdisch-menschlichen Erscheinungsform, eine wahr-
hafte Objektivitit zugewiesen? Ist nicht vielmehr durch diese Fassung der
Vision — Solger nennt sie Phantasie — nur neues Zwischenglied zwischen
zwei auf diesem Boden unverbindbare Formgruppen, zwischen das trans-
cendent Seiende und die irdische Nichtigkeit geschoben? Plotin, der als
erster diese von Platon folgerichtig abgelehnte Versdhnung suchte, konnte
sie auch nur fiir die Vision anerkennen: das Bild, das in der Seele des
Schaffenden lebt, hat dieses Niveau der reinen Bildhaftigkeit erreicht; sobald
es jedoch mit dem wirklichen Material in Beriihrung kommt, ist der Triibung

34 (Erwin. Vier Gespriche tiber das Schine und die Kunst, Berlin, 1815. Teil II. 8. 15.]
35 [Ebda, S. 16.]
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 165
durch die Sinnlichkeit doch nicht zu entgehen. »Es wohnte also in der Kunst
diese weit héhere Schénheit; doch ging nicht diese in den Marmorblock ein,
sondern indem jene bleibt, eine von ihr ausgehende geringere; und auch
diese blieb nicht rein in sich selbst und gehorchte dem Willen des Bildners
nur insoweit, als der Stein der Kunst nachgab. .. Soweit sie namlich in den
Stoff eingehend sich ausgedehnt hat, um soviel ist sie swacher als die in sich
selbsteinig verharrende« %*, Und auch Solgers »Phantasie« bleibt innerlich
beziehungslos zu der zu gestaltenden Wirklichkeit, wie sehr er sich auch be-
miiht, den Abgrund wischen Urbild und Nachbild, das »schéne Ding« mit
der Idee selbst gleichsetzend, zu iiberbriicken; da Phantasie und Sinnlich-
keit die beiden Brennpunkte einer Ellipse sind, »welche ein ganz wirkliches
und doch in sich selbst ewig zuriicdkkehrendes Dasein am vollkommensten
ausdriickt« 87, ist doch nur ein Bild, das ihre Beziehung zu einander, die
Objektivitit und Notwendigkeit des Sinnlichen umso weniger zu erklaren
vermag, als die Sinnlichkeit auch hier ins Dunkel der Irrationalitat gehiillt
bleibt.
Hier zeigt sich in endgiiltiger Klarheit, da8 der theoretische Ausgangspunkt
dieses metaphysischen Systemtypus nicht zu iiberwinden ist. Denn das ganze
Problem von der Zufalligkeit des Menschlich-Sinnlichen ist nichts anderes
als die notwendige methodologische Folge der theoretischen Fragestellung,
und die intelligible Materie kann zwar, wie bei Thomas von Aquino, zur
Grundlegung der Mathematik verhelfen, eben weil sie von rein theoretischer
Struktur ist, verharrt aber gerade deshalb dem Material des Schénen und
seinen Aufnahmeorganen gegeniiber in genau derselben abweisenden »ab-
strakten« Transcendenz, wie die theoretischen Formen selbst. Wenn die
intelligible Materie zum Verbindungsglied zwischen den ewig-urbildlichen
Formen und der Materie der »schénen Dinge« in Natur und Kunst, und
damit zur Garantie der Objektivitat ihrer Schénheit werden soll, muf sie
das utopische Endziel und die endgiiltige Erfiillung ihrer spezifischen,
menschlich-zufalligen, subjektiven Wesensart sein; d. h., gerade dieses Sub-
jektive, Zufallige, Willkiirliche an ihnen muf in ihr zur Idee werden. Die
von den grofen Neuplatonikern der romantischen Asthetik erhobene Forde-
rung des Zusammenfallens des Allgemeinen mit dem Besonderen kann diese
Funktion nicht erfiillen, weil dieses »Besondere« der bereits rein theoretische

36 (Die Enneaden. V. Buch 8., Kap, 1. Bd. II. S. 201.]


37 (Erwin, Teil I1. S. 271.]
166 Heidelberger Asthetik
Correlatsbegriff des Allgemeinen ist und deshalb von der asthetischen Sub-
jektivitdt durch keinen geringeren oder iiberwindbareren Abstand als das
Allgemeine selbst getrennt ist. Es ist mdglich, das Niveau der intelligiblen
Wirklichkeit sich zu einem metaphysischen Sein substanzieren zu lassen,
wie dies in der scholastischen Angelologie geschehen ist, wobei es jedem auf-
merksamen Beobachter auffallen mu8, da8 die Struktur der Engelwelt alle
unseren Postulate an eine utopische, asthetisch-gegenstindliche Wirklichkeit
(z.B. Zusammenfallen von Kategorie und Einzelfall, den Raum umfassen,
ohne von ihm umfaft zu sein usw.) genau erfiillt; aber diese Wirklichkeit
ist von der menschlich-sinnlichen qualitativ und unverbindbar getrennt, sie
kann als Zwischenglied des géttlichen und menschlichen Daseins begriffen,
jedoch niemals zur Erklarung des Menschlichsten herbeigezogen werden. Als
Welt der Ideen bleibt sie theoretisch, freilich metaphysisch-theoretisch, und
je heftiger sie bestrebt ist das Menschliche in sich aufzunehmen, desto krasser
mu8 sich dessen Nichtigkeit in dieser Verbindung offenbaren. Schellings
spekulativer Optimismus und konstruierende Eleganz vermochten noch iiber
den Abgrund dieser Abstraktheit hinwegzutduschen. Solger, der hier am
entschiedensten alle begonnenen Wege unerschrocken zu Ende ging, mu&te
sein panasthetisches System in der Selbstaufhebung der Schénheit und in
der Verzweiflung der Ironie gipfeln lassen; in dem »herben Widerspruch«
und »ewigen und unzerstreubaren Schmerz« 38, der bei diesem Anblidk jeden
erfassen mu, »... denn nicht durch den Untergang des einzelnen Dinges
wird er in uns erregt, ja nicht einmal blo& durch die Verganglichkeit alles
Irdischen, sondern durch die Nichtigkeit der Idee selbst, die, mit ihrer
Verkérperung, zugleich dem gemeinsamen Geschick alles Sterblichen unter-
worfen wurde ...«%; und ein »bleibend Schénes« gibt es nur fiir Gott
selbst. Und auch die Kunst kann hier keine Rettung bringen, denn gerade
sie steht nicht auSerlich dem Besonderen gegeniiber, »driickt sie sich nicht
allein darin ab, erscheint auch nicht blof& als zeitlich und verginglich, son-
dern sie wird das gegenwartige Wirkliche, und, da auBer ihr nichts ist,
die Nichtigkeit und das Vergehen selbst, und unermefliche Trauer muf uns
ergreifen, wenn wir das Herrlichste, durch sein notwendiges irdisches Da-
sein in das Nichts zerstieben sehn. Und doch kénnen wir die Schuld davon

38 [Erwin. Bd. I. S. 257.]


39 [Ebda.)
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 167

auf nichts anderes wilzen, als auf das Vollkommene selbst in seiner Offen-
barung fiir das zeitliche Erkennen . . .« 4,
Wir konnten hier verfolgen, wie das immer konkretere und begriffenere
Aufsteigen und Eintreten der Kunst in die Asthetik zur Selbstauflésung
des platonischen Systemtypus der Lehre von der Schénheit fiihrt. Fiir Platon
selbst waren alle Probleme, die hier lagen, nicht unbekannt, aber gefahrlos
und unwesentlich, denn sie schienen alle blo& aus der sich verkennenden
oder sophistischen Anmafiung und Unwissenheit der Kunsttreibenden zu
stammen. Die immer wiederkehrende Verurteilung der Kunst als wesenlose
Nachahmung der Nachahmung kann uns jetzt nicht mehr als zeitliche Be-
fangenheit Platons, als etwas der Erklarung oder gar der Entschuldigung
Bediirftiges vorkommen, sondern zeigt sich als unabweisbare Folge seiner
ganzen Problemstellung. Und es zeigt sich auch, daf alle entscheidenden
Griinde, die von ihm fiir diese Substanzlosigkeit der Kunst angefiihrt
werden, weniger aus einem Verkennen ihres Wesens, als aus ihrer — wenn
auch bedingt — richtigen Erfassung und aus dem metaphysisch folgerichtigen
Bewerten des so Erfaften herriihren; da& also Verurteilung und Selbstauf-
Tésung der Kunst, die zu Beginn und Ende der platonischen Asthetik stehen,
die dialektischen Endpunkte und notwendigen Spitzen eines in sich coha-
renten Gedankenaufbaus sind und in innigster Beziehung zu einander stehen.
Der entscheidende Punkt an der Kunst, gegen den sich die platonische Pole-
mik richtet, ist der Begriff des Gestaltens, die AnmaSung »alle [Dinge]
zusammen zu machen und auszufiihren mit einer einzigen Kunst« “!, Die
logisch-metaphysische Grundstruktur des Systems kann nur eine Art von
Sein anerkennen, die von der Wirklichkeit bis zu den Urbildern nur quanti-
tative Abstufungen an Seinsnahe und Seinserfiilltheit, nicht aber qualitative
und deshalb radikale Andersheiten zula&t. Da das Wesen der Kunst der
Anspruch auf die Setzung einer solchen Seinsqualitat ist, ist gerade in der
Abweisung Platons deutlich erkannt, und die Erneuerer seines Systemtypus,
die die Kunst dennoch retten wollten, sind auch nicht iiber seine, in bezug
auf Substanzialitat homogene Seinsstruktur hinausgekommen; und weil sie
daran festhaltren muften, muften sie die Kunst mit der substanzvollen,
der géttlichen Tatigkeit identifizieren und sie dadurch der Selbstauflésung

40 [Ebda, Bd. II. S. 277.]


41 [Der Sophist, 233. Werke. Dritte Gruppe, Bdchn. 3. 1857. Ubersetzt von J. Deuschle,
S. 347.)
168 Heidelberger Asthetik
in der Ironie Solgers zutreiben. Platon weist freilich den von ihm deutlich
erkannten Anspruch der Kunst auf die Selbstindigkeit ihrer Setzungsart ab
und trennt-damit diese deutlich von der metaphysich-konstitutiven, wenn
auch die Argumente, die dabei angefiihrt werden, oft einen trivialen oder
sogar einen banausischen Beigeschmack haben. Dieser Accent entstammt
jedoch aus dem vom System erforderten Entweder-Oder; da jede Setzung
und dementsprechend jede Form und ihre Inhalte entweder auf das Wesen
oder auf einen blo&en Schein gerichtet sein miissen und da& das Wesen
durch die Erkenntnis in ausschlieBlicher Eindeutigkeit gegeben ist. Es wird
also erkannnt, daf& die Kunst keine Intention auf das Wesen der Dinge
habe, vielmehr ihren »Schein«, d. h. ihre angemessenste Erscheinungsform fiir
die Menschen als Sinneswesen zu erreichen suche; daf ihre Formen deshalb
nicht die wirklichen konstitutiven Aufbauformen des Seins, sondern nur
Formen ad hoc zum Hervorrufen einer eigenartigen »Wirklichkeit« sein
kénnen. Die »Inhalte« dieser Wirklichkeit stimmen freilich mit den der
Empirie iiberein (da ja nicht einmal in der Ideenwelt ein radikal neuer
»Inhalt« vorkommt), aber auch diese sind in der Kunst in einer vom
Wesenserfassen durchaus verschiedenen Art gegeben; auch sie sind »Inhalte«
ad hoc. Darin liegt nun das entscheidenste Motiv der Verwerfung der Kunst:
sie will alle diese »Inhalte«, das ganze Leben, durch ihre Formen hervor-
bringen, will jedoch nicht den Weg des Erfassens ihrer wahren Wesenheiten,
den Weg der Erkenntnis einschlagen, sie wird also alles abbilden, »ohne das
Geringeste ... (davon) zu verstehen« “2, Und weil sie sich auf den mensch-
lichen Sinnesschein richtet, trifft sie darin nur einen Schatten des wahren
Seins, sie wird zur Nachahmung der Nachahmung.
Neben diesem Motiv und eng verkniipft mit ihm wirkt noch ein anderes:
das ethische Erosmotiv. Die an den Menschen als Sinneswesen gebundene
Kunst kann im platonischen System ihre Selbstindigkeit und damit ihre
von allen anderen Intentionen abweichende Richtung nur beanspruchen, aber
nicht aufrechterhalten, als Gebilde steht sie mitten in dem Kampfe um die
Errettung des Menschen aus seiner Gefangenschaft im Sinnlichen, um sein
Heimfinden in die Welt des wahren Seins. Und weil die Kunst diese auf-
wirts fihrende Bewegung nicht mitmachen will und sie nicht wollen kann,
mu sie verworfen werden. Sie wendet sich an die Sinnlichkeit des Men-

42 [Staat, X. 598. Werke. Vierte Gruppe. Bdchn. 5. 1856. Obersetzt von W. Wiegand.
S. 529]
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 169

schen und damit an das Unedle in ihm; ihre einschmeichelnde und beste-
chende Kraft bestarkt ihn in seinem trigen Verharren, schlafert seine Sehn-
sucht nach dem wiirdigen Gegenstand ein. Und nicht nur da die Kunst
sich an das Unwiirdige in dem Menschen wendet — und indem der Mensch
Unwiirdiges und Niedriges »nachahmte, der Schein in Seelenhaftes um-
schlagen und ihn selbst niedrig machen kann —, sondern auch das Héchste,
das der Kunst auszudriicken gegeben ist, ist etwas Sinnlich-Niedriges: der
Held der Tragédie; auch er muf§ das »Menschliche« in seiner Seele iiber das
den Urbildern Verwandte triumphieren lassen, damit sein Geschick den ge-
staltenden Formen der Kunst angemessen werde. »Nun hat doch nach einer
bereits ausgemachten offenbaren Wahrheit der fiir die Nachahmungspoesie
geschidkte Dichter erstlich zu einer solchen verstandig ruhigen Gemiitsart
keine urspriinglich angeborene Anlagen...; vielmehr hat er nur Anlagen
fiir die zu klaglicher und ungeduldiger Gebardung und zu vielfacher Ande-
rung aufgelegten Sinnesart, weil diese leicht nachzuahmen ist« ,
Diese Gedanken deuten die tiefste metadsthetische Grundstromung der pla-
tonischen Schénheitslehre an: die Kontemplation des »Schénen« ist nichts
Letztes und soll es auch nicht sein. Wenn die schénen Dinge dieser Wirklich-
keit zu Gegenstanden der Kontemplation werden, so geschieht dies, weil
sie der anderen, der cigentlichen Bestimmung, der Vereinigung mit der rein-
gewordenen Seele nicht wiirdig sind und weil die Seele der wahren Heim-
kehr nicht wiirdig ist; weil ihre Schénheit ihnen doch nur anhaftet und die
Sehnsucht der Seele noch nicht rein und heftig genug ist und bei ihnen
kontemplativ stehen bleibt. »Aber denen, die nicht das Ganze sehen«, sagt
Plotin, »erscheint nur die Oberflache als etwas schines, die aber, welche
ganz und gar gleichsam berauscht und von Nektar trunken sind, denn die
Schonheit durchdringt ja die ganze Seele, gehen nicht als blo&e Zuschauer
davon« “4, La&t der Beschauer das schénste Bild, obwohl es schén ist, hinter
sich, »dann ist alles zugleich eins mit jenem Gott, der in aller Stille herbei-
gekommen, und er ist mit ihm eins soweit er kann und will« 45, Die Schén-
heit ist nicht mehr als ein Anla& zur Entziindung dieser Sehnsucht der Seele,
und je echter die Sehnsucht geworden ist, desto weniger bedarf sie dieses
Anlasses und findet auch ohne ihn ihren Weg. Darum sind die hohen Arten

43 (Ebda, X. 605. S. 546.]


44 (Die Enneaden, V. Buch 8., Kap. 10. Bd, II. S. 212.]
45 (Ebda. V. Buch 8, Kap. 11. Bd. II. 8. 212,]
170 Heidelberger Asthetik

der Schénheit, die auf die rein gewordene Seele mehr wirken als die blo&
irdischen von dsthetisch nicht mehr erfaSbarer Wesensart: »Schénheiten«
der Institutionen und der Erkenntnisse, bei denen der Begriff der Schénheit
evidenterweise nichts anderes bedeutet, als das klargewordene Durchdrun-
gensein aller Inhalte von den iibermenschlichen, iibersinnlichen Kraften, von
dem, was in der Seele rein werden soll, von den Kraften der wahren Ver-
nunft. Darum heift es im Gastmahl: Eros »nimmt uns ... alles Fremde und
gibt uns alles Eigene wieder« 4; darum heif’t es aber zugleich, da& Eros
der Sohn des Poros und der Penia ist, ein Abbild der menschlichen Zwischen-
stellung zwischen Géttlichem und Tierisch-Sinnlichem, darum ist sein Ruf
ein Ruf alles Irdische zu iiberfliegen und der wahren Bestimmung der Seele
zuzueilen.
Die intellektuelle Anschauung der romantischen Neuplatoniker kehrt nur
die Vorzeichen um: wahrend fiir Platon und Plotin das Asthetische in dieser
logischen Religiositat aufging, saugt ihr Schinheitsbegriff, der ebendeshalb
geradeso theoretisch bleiben muf, alles Religiése in sich auf und wird zur
Religion. Am Wesen der Schénheit und an ihrer Funktion im System kann
sich aber hierdurch nichts indern: die Schénheitsidee hebt sich, wie gezeigt
wurde, geradeso durch die immanent-strukturellen Widerspriiche der Pro-
blemstellung selbst auf, nur da& diese Selbstauflésung, weil sie sich imma-
nent in der Schénheit selbst, die alles Religidse in sich vereinigt hat, voll-
zieht, einen tragischen Accent erhialt, der Platon und selbst den spatantiken
Platonikern véllig fremd bleiben mufte.

46 [Gastmahl, 197. Verdeutscht von R. Kassner. Jena, Diederichs, IV. Aufl. 1913. S. 41]
17

v. Die spekulativ-entwicklungsphilosophische Schénheitsidee


Die Uberwindung der logisch-metaphysischen Schinheitsidee konnte, ohne
den philosophischen Boden zu verlassen und einem blofen Historismus oder
Psychologismus anheimzufallen, nur durch ein Hinauskommen iiber ihre ab-
strakte Transcendenz geschehen. Dieser Versuch wurde unmittelbar nach Pla-
ton schon von Aristoteles unternommen; seine Asthetische Prinzipienlehre ist
uns jedoch leider nicht in eindeutiger Vollstandigkeit iiberliefert und ist dar-
um, abgesehen von den Schliissen, die aus ihrer Anwendung auf das kunst-
theoretische und nicht struktiv-asthetische Problem der Tragédie gezogen
werden kénnen, nur aus gelegentlichen Auferungen in nicht asthetischen Ge-
dankengangen zusammenstellbar und deutbar. Nicht nur wegen der Proble-
matik und der schwer iiberwindbaren Willkiir der Interpretation, die solchen
Deutungen notwendig anhaftet, sondern wegen der Klarheit und Scharfe der
prinzipiellen Problemstellung scheint es deshalb geeigneter, das Hinausgehen
iiber den dsthetischen Platonismus und die damit verkniipfte neue Schénheits-
idee in ihrer zweiten grofen Periode zu analysieren, in der Fassung, die das
Problem in der klassischen deutschen Philosophie, insbesondere bei Hegel er-
hielt.
1
Entscheidend in dieser Bewegung ist das Uberwinden der abstrakten Trans-
cendenz des Formbegriffes; diese Abstraktheit hat, wie aus dem vorher Ge-
sagten ersichtlich geworden ist, drei wesentliche Momente: erstens die Bezie-
hung der Form zu dem von ihr umfaften Inhalt iiberhaupt, zweitens das
Verhiltnis ihrer reinen und substanziell gewordenen Wesenheit zu dem un-
mittelbar Gegebenen, zur raum-zeitlichen »Wirklichkeit«, und endlich die
Rolle, die dem Subjekt, dem normativ gewordenen Menschen und seinen
»mensdhlichen« Aprioritaten in der wesentlichen Formhierarchie, der inne-
ren Struktur des Systems entsprechend, zukommt. Diese Momente sind na-
tiirlich Momente im eigentlichsten, Hegelschen Sinne des Wortes: Aspekte
eines und desselben struktiven Tatbestandes, die auf das Innigste miteinan-
der verkniipft sind, Aspekte als Setzungsarten, deren Geltungen untrennbar
aneinander gekettet sind. »Daf das Wahre nur als System wirklich, oder da
die Substanz wesentlich Subjekt ist, ist in der Vorstellung ausgedriidkt, welche
das Absolute als Geist ausspricht . . .«,* sagt Hegel in der Vorrede zur »Pha-

1 [Phdnomenologie des Geistes. Werke. 11. Aufl. Berlin, Duncker und Humblot. 1841.
Bd. 11. S. 19. - Ausgabe Hoffmeister. Hamburg, Meiner. 1952, S. 24.]
172 Heidelberger Asthetik
nomenologie«. Es ist hier freilich nicht der Ort, die Idee des Systems und den
Begriff des Wirklichen einer genauren Analyse zu unterwerfen, betont mu
nur das sowieso Bekannte werden, da unter System eine konkrete und er-
fiillte Totalitét und nicht ein Inbegriff abstrakter, der Erfiillung bediirftiger
Formen als Bedingungen der Moglichkeit von Erfiillungen iiberhaupt, und
unter Wirklichkeit weder alles blo& Daseiende, noch das abstrakte An-sich
transcendenter Urbilder, sondern »die unmittelbar gewordene Einheit des
Wesens und der Existenz«* verstanden werden soll.
Eine solche Uberwindung der abstrakten Transcendenz der Form muf schon
an und fiir sich den Formbegriff dem Asthetischen nahebringen: die Form
muf bis zu einem ziemlich hohen Grade »materialecht«, zur Form des be-
stimmten Inhaltes werden, um die geforderte Konkretheit zu erlangen; bleibt
die Spannung zwischen umfassender Form und umfaftem Inhalt in wirk-
licher Schiirfe bestehen, so verharrt ihre Beziehung im Zustand des bloSen
Sollens, einer fiir Hegel notwendigerweise abstrakten, blo& Schranken und
nicht wesenhafte Bestimmtheiten (blo& Dasein und nicht Wirklichkeit) set-
zenden Beziehung. Die Fremdheit von Form und Inhalt muf also das Erste
sein, was hier iiberwunden wird; wenn auch fiir die Reflexion ihre Dualitat
nicht ganz aufgehoben werden kann, wenn auch, um die Weiterbewegung der
Begriffe und ihre Selbstvollendung im System zu ermiglichen, jede partiku-
lare Einheit von Form und Inhalt eine unvollendete sein muf, iiber die fort-
geschritten werden soll, so ist die dennoch bleibende Fremdheit aufs starkste
relativiert. Und das entscheidende Motiv in dieser Relativierung ist, da
hierbei der Inhalt einen bestimmten Primat vor der ihm zukommenden Form
besitzt. Der Inhalt ist »das in Form und Materie Identische, so daf diese nur
gleichgiiltige du@erliche Bestimmungen wiren. Sie sind das Gesetztsein iiber-
haupt, das aber in dem Inhalte in seine Einheit oder seinen Grund zuriick-
gegangen ist«8; nachdem frither »die Tatigkeit der Form auf die Materie,
und das Bestimmtwerden dieser durch jene« als »nur das Aufheben des
Scheins ihrer Gleichgiiltigkeit und Unterschiedenheit«‘ definiert wurde. Dar-
um ist philosophisch, im Gegensatz zu den transcendenten Wahrheitskriterien
des gewohnlichen BewuBtseins, Wahrheit die »Ubereinstimmung eines Inhalts

2 [Encyclopadie der philosophischen Wissenschaften. § 142. Werke. Bd. v1. 1843, S. 281.]
3 [Wissenschaft der Logik. Werke. Bd. rv. 1841, S. 86, - $, Ausgabe Lasson, Hamburg,
Meiner. 1969. Zweiter Teil. S. 75.]
4 (Ebda. S. 81. - Ausg. Lasson, S. 72.]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 173

mit sich selbst«, wodurch das Schlechte und das Unwahre »in dem Wider-
spruch, der zwischen der Bestimmung oder dem Begriff und der Existenz eines
Gegenstandes statt findet« § bestimmt wird; Vorstellungen iiber solche Ge-
genstiinde kénnen »richtige (d. h. formell richtig) sein, bleiben aber dennoch
»unwahre. Dieser Primat des Inhalts vor der Form oder, mit anderen Wor-
ten, der der erfiillten Form vor der abstrakten, auf dessen Bedeutung fiir
diese ganze Problemstellung noch oft zuriickzukehren sein wird, gibt bereits
den Elementen des Systemaufbaus etwas Kunstwerkhaftes. Dies steigert sich
noch in der — hier ebenfalls nur andeutbaren — Lehre vom konkreten Be-
griff. Wenn in diesen »alle Bestimmtheit, aber wie sie in ihrer Wahrheit ist«
erblidct wird, wenn seine Momente »nicht abgesondert werden« kénnen und
»indem im Begriff ihre Identitat gesetzt ist, kann jedes seiner Momente un-
mittelbar nur aus und mit den andern gefaft werden«,® so erscheint es noch
deutlicher, da& der Ort des Eintretens asthetischer Strukturelemente in den
Aufbau des Systems hier der Proze& des Denkens selbst und nicht sein uto-
pisch-transcendentes Ziel ist. Die theoretische Form vergewaltigt hier nicht
auf den Stufen der Immanzenz die asthetische, um sie in ihrer letzten Erfiil-
lung wider Willen doch in sich einzuverleiben, sondern die erste verschlingt
die letzte von Anbeginn: die theoretische Form iiberwindet die abstrakte For-
malitét des Theoretischen und seine schlechthinige und briickenlose Transcen-
denz, indem sie ihm auf dem Niveau der Immanenz — und dieses als das
gegenwartige Absolute festhaltend — eine vollendete und vollendet in sich
ruhende Gegenstandlichkeit verleiht. Sie ist, wie dies fiir das asthetische Form-
prinzip wiederholt gezeigt wurde, nicht nur Form eines bestimmten Inhalts
und nur in dieser immanent sich vollendenden Bestimmung sich selbst ange-
messen und deshalb wahr, sondern hebt in dieser Identitat mit dem Inhalt
auch ihre Eigenbestimmtheit als etwas Relatives, der unangemessenen Be-
trachtung (hier der Reflexion) Zugehdriges auf. So wie die asthetische Form,
indem sie ihren »Inhalt« formt, ganz in ihm aufgeht und als Geltungsqualitat
die Kontemplation der geformten Einheit beider, die des konkret-vollende-
ten Gehalts, und nicht die der Form selbst fordert, so verschwindet die blo&
formale Bestimmtheit des Inhalts im konkreten Begriff vor der wahren Un-
endlichkeit, die aus der Vereinigung von Form und Inhalt und in ihr entsteht:
Der Geist erblickt sich selbst im konkreten Begriff, und da sein Wesen Kon-

5 [Encyclopadie. § 24, Zusatz 2. Werke, Bd. v1, S. 52.]


6 (Ebda, § 164. Bd. vr. S. 323-324]
174 Heidelberger Asthetik
kretion ist, vermag er dies nur in dem vernunfterfiillten, vernunftdurchdrun-
genen, vernunftgewordenen Inhalt, im erfiillt-konkreten Gehalt zu tun.
Freilich scheint das »Fliissige« der Begriffe, ihre von ihrem Wesen selbst ge-
botene Weiterbewegung, die einen Abschluf nur in der Riidckehr des Geistes
zu sich selbst im System als vollendeter und abschlieRender Totalitat gestat-
tet, einer derartigen kunstwerkhaften Deutung des Begriffs zu widersprechen.
Aber dieser Widerspruch, der nicht geleugnet werden soll, ist doch ein blo&
partialer. Denn einerseits treibt allerdings die wahrhaft theoretische We-
sensart dieser Begriffsbildung iiber jedes einzelne Moment als Partikularitat
hinaus und der Idee der allein wahren Totalitat des Systems zu, jedoch an-
dererseits ist die Méglichkeit und die Methode dieses unendlichen Flusses
wenigstens teilweise von der asthetischen Beschaffenheit der Momente selbst
bedingt. Der Motor der dialektischen Bewegung, die Aufhebung des Satzes
vom Widerspruch unterscheidet sich bei Hegel gerade in ihrer, die Konkret-
heit begriindenden Tendenz von der coincidentia oppositorum fritherer Phi-
losophen: fiir diese ist die Sphare des aufgehobenen Widerspruchs die der ab-
soluten Transcendenz, die Forderung seines Daseins und seiner Denkbarkeit
eine Art von Propaedeutik des Sprunges — z.B. im Begriff des raptus bei
Nicolaus Cusanus — und das mit ihm Erlangte doch nur eine Variante der
negativen Theologie, wahrend fiir Hegel gerade das Steckenbleiben des Ver-
standes bei seinen abstrakten, einander ausschlieSenden und widersprechen-
den Bestimmungen ein Noch-nicht der konkreten, d.h. der verniinftigen
Wirklichkeit ist. Wahrend also dort das der Empirie gleichgesetzte Wirkliche
mit uniiberwindbaren Widerspriichen behaftet ist, ist fiir Hegel der festge-
haltene Widerspruch die konstitutive Kategorie der Wirklichkeit im Gegen-
satz zu ihrem Noch-nicht in der Reflexion und der Vorstellung, wohin so-
wohl die Empirie wie die abstrakt-formelle Transcendenz gehdren, die sich
vom Widerspruch »beherrschen und durch ihn sich seine Bestimmungen nur in
andere oder in Nichts auflésen« * lassen. Wenn deshalb »alle Dinge« als
»sich selbst widersprechend«? bestimmt werden, so ist damit gerade ihre
werkhaft-konkrete In-sich-Geschlossenheit, ihre erfiillte Abrundung in sich
selbst kraft ihrer vom Geist durchdrungenen Organisation, die nicht blo&
ihre abstrakte Andersheit den anderen Gegenstanden gegeniiber, sondern eben
diese konkrete Selbstbestimmung hervorbringt, gemeint. Das Negative der

6a [Wissenschaft der Logik. Werke. Bd. rv. S. 68 - Ausg. Lasson. Zweiter Teil. S. 60.]
7 [Ebda. S. 65. - Ausg. Lasson, S. 58.]
Entwidelungsphilosophische Schinheitsidee 175
sich widersprechenden Momente ist keine Privation, sondern »positive Nega-
tivitat«, denn sie ist das inhalthich-organisch Aufeinander-Angewiesen-sein,
das wechselseitige Sich-Steigern, -Befruchten und im Kampfe zur klargewor-
denen Selbstheit Bringen der in ihrer Isoliertheit trib und abstrakt bleiben-
den Bestrebungen. In dieser immanenten Erfiilltheit, mit der Hegel iiber das
Abstrakte der Schellingschen Identitat und Indifferenz als Endziele der Kon-
struktion hinauskam, liegt das asthetische Element seiner Begriffsbildung, im
Gegensatz zu Schelling, dessen Widerspruchslehre rein theoretisch bleibt, wenn
auch das System als ganzes im Asthetischen miindet. Denn die konkrete und
erfiillte coincidentia oppositorum, als Wirklichkeit und nicht als unendliche
Aufgabe des Denkens, ist, wie seinerzeit in der Phanomenologie gezeigt
wurde, die transcendentale Grundlage der asthetischen Setzung. Die asthe-
tische Gegenstandlichkeit des Kunstwerks entsteht, indem einander fremde,
auf einem vor-asthetischen Niveau in gegenseitiger zufalliger Beriihrung und
darum Abschwachung verharrende Gegenstandlichkeitsbestimmungen in das
Verhaltnis der Dissonanz zueinander gebracht werden; d.h. wenn ihre
Fremdheit zur Gegensatzlichkeit und zum Sich-AusschlieBen, zum konkreten
und bestimmten Widerspruch gesteigert wird, der im Werk nicht verschwin-
den, nicht zur Indifferenz, sondern zum voll-anschaulich festgehaltenen Zu-
sammen des nunmehr unlésbar verschlungenen Sinnes und seines Widersin-
nes gebracht werden soll. Daf dem Hegelschen Aufheben der Geltung des
Satzes vom Widerspruch ein diesem mindestens bestechend ahnlicher strukti-
ver Tatbestand zugrunde liegt, kann wohl nach dem bisher Gesagten evident
erscheinen und das Widerstreben jener Denker, die am rein Theoretischen der
Begriffsbildung festhalten, verstandlich machen, wenn es freilich bei weitem
nicht ausreicht, um weder die systematischen Motive, die zu dieser Aufstel-
lung gefiihrt haben, noch den Aufbau selbst, den sie tragen soll, und die Be-
deutung, die sie in ihm erhalt, zu erklaren.
Wir begegnen blof in der hier angedeuteten struktiven Vermischung theore-
tischer und Asthetischer Formbestandteile auf einem neuen Niveau und in
neuem Zusammenhang den Aporien, die fiir den abstrakten Idealismus im
Problem der intellektuellen Anschauung lagen: des unabweislichen Umschla-
gens der Theorie in asthetische Struktur, wenn sie ihren Gegenstinden eine
konkrete, mit ihren Formen organisch verwachsene, gewissermafen »anschau-
liche« Gegenstindlichkeit verleihen will. Freilich hat Hegel jede »Unmittel-
barkeit« und damit jede Art von intellektueller Anschauung stets schroff ab-
gelehnt, es fragt sich jedoch, ob diese Ablehnung in Wahrheit ein Dariiberhin-
ausgehen bedeutet. Dies ist bereits von vielen und mit vielerlei Argumenten
176 Heidelberger Asthetik
bestritten worden, fiir uns kommen hierbei die folgenden Motive in Betracht.
Die Aufhebung der abstrakten Transcendenz kann auch bei Hegel nur durch
das Erreichen des identischen Subjekt-Objekts geleistet werden. Wenn die
Moglichkeit dieser Identitdt auch nur im Prozef selbst erlangt werden kann
(auf der Stufe des Geistes in der »Phanomenologie«, auf der Stufe der Wech-
selwirkung — bei dem Ubergang von der objektiven Logik zur subjektiven — in
der Logik selbst); wenn diese Méglichkeit auch erst durch das vollendete Zu-
sich-kommen des absoluten Geistes, also durch das ganze System zur wahren
Wirklichkeit wird; wenn diese Identitat des Geistes mit sich selbst, seine an-
gemessene Selbstspiegelung mehr ein Sich-Begegnen und Einander-als-Glei-
ches-Erkennen von Subjekt und Objekt, mehr eine immanente Steigerung des
Objekts zur Subjektivitit, als ein Sich-Hinaufschwingen des Subjekts in
eine an sich transcendente und doch mit ihm identisch sein-sollende Objekts-
welt ist, so ist damit am Wesen der Aporien, die aus dem identischen Sub-
jekt-Objekt entstehen miissen, wenig geandert. Der Sprung vom konstruier-
ten theoretischen Subjekt, das sich einem von ihm transcendental hervorge-
brachten, aber gerade deshalb ihm stets blo& gegeniiberstehenden, mit ihm
niemals identischen Objekt gegeniiber theoretisch-kontemplativ verhdlt, zu
dem substantiellen Subjekt der intellektuellen Anschauung kann durch keine
Vermittlung seinen Sprung-Charakter verlieren, Die Vermittlung kénnte
héchstens bis 2u dem Sprung, zu den eben aufgezeigten Punkten fihren —
oder, und dies ist der Fall Hegels, er ist zu Beginn des systematischen Gan-
ges als bereits vollbracht vorausgesetzt. Das Auseinander von Subjekt und
Objekt auf den fritheren Stufen ist dann ein blofer und deshalb leicht ent-
hiillbarer Schein: es ist das Sich-suchen des identischen Subjekt-Objekts, das
blo&e Sich-noch-nicht-gefunden-haben. Dieses Absolute ist dann allerdings
Resultat, kann es aber nur dann sein, wenn es als Resultat im Proze& selbst
implicite auf jeder Stufe enthalten war. Darum staut sich das Hegelsche Pro-
blem der intellektuellen Anschauung im Problem des konkreten Begriffes. Das
entscheidende Symptom ihres Mitwirkens im Hervorbringen des konkreten
Begriffes haben wir bereits erblickt: seine Mitbestimmtheit von dsthetischen
Formelementen; es kommt nur darauf an, die systematische Notwendigkeit
dieser Mischung naher zu beleuchten. Diese Notwendigkeit liegt selbstver-
standlicherweise in seiner Konkretheit, in seiner innigen Identitat mit sich
selbst, im Vergleich zu welcher alles »was man gemeinhin unter Konkretem
versteht, eine duferlich zusammengehaltene Mannigfaltigkeit«® ist. Aber der

8 [Encyclopadie, § 164. Werke. Bd. v1. S. 324.]


Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 177

konkrete Begriff ist auf seiner héchsten Aufgipfelung, als Idee, notwendiger-
weise das identische Subjekt-Objekt und weil er dies ist, ist er keine »inhalts-
lose Form unseres subjektiven Denkens«, sondern »unendliche, schépferische
Form, welche die Fiille alles Inhalts in sich beschlie&t und zugleich aus sich
entla&t«.® Die Spuren der Abstraktheit, die auch diesem Begriffe anhaften,
bestehen nicht im Vergleich zur empirischen Anschaulichkeit, sondern bezeich-
nen das Noch-nicht-Erreicht-haben des Ideenniveaus; die Unvollstandigkeit
dieser abstrakten Wahrheit »liegt nicht darin, da& sie jener vermeintlichen
Realitdt, die im Gefiihl und Anschauung gegeben sei, entbehre; sondern daf
der Begriff noch nicht seine eigene, aus ihm selbst erzeugte Realitit sich ge-
geben hat.«!° Sobald der Geist sich in Wahrheit erfa&t hat, ist jedes dem
Geist angemessene Verhalten kein Verhalten mehr zu einer — eventuell
selbstgesetzten — Sache, »sondern die Sacve selbst sein«,*! und der Unter-
schied vom identischen Subjekt-Objekt des abstrakten Idealismus bleibt nur,
da das Objekt dieser intellektuellen Anschauung nicht passiv das entgegen-
strebende Subjekt erwartet, sondern auf seinem Wege zu sich selbst das Sub-
jekt als Durchgangspunkt des Begegnens mit sich selbst benutzt. »So ist die
Religion Wissen des géttlichen Geistes von sich durch Vermittlung des end-
lichen Geistes.«*® Aus alledem ist die mit dem abstrakten Idealismus ge-
meinsame systematische Notwendigkeit der intellektuellen Anschauung er-
sichtlich: der Zwang der unwahren oder scheinhaften empirischen Wirklich-
keit eine andere, wesenhafte, sich selbst innerlich angemessene und deshalb
inhaltlich erfiillte Wirklichkeit gegeniiberstellen und nicht blo8 ein Geltungs-
reich abstrakter, der inhaltlichen Erfillung bediirftiger Formen, deren »In-
halt« dann nur aus der Empirie stammen kann. Darum ist die Ablehnung der
Kantischen Dualitat von Form und Inhalt auch hier eine systematische Not-
wendigkeit und darum muf die von Kant — allerdings als unerfiillbar —
konstruierte anschauende Vernunft hier als wirksame Wirklichkeit, als sich
erreichter Geist erscheinen. Denn das Dilemma des diskursiven und intuitiven
Denkens entscheidet sich gerade in dem Problem, ob der Erkenntnisinhalt
von der Erkenntnisform blo& »umfa&t«, also in die Sphare der Ratio erho-

9 [Ebda, § 160, Zusatz. Bd. v1. S, 316.]


10 [Wissenschaft der Logik. Werke. Bd. v. 1841. S. 24. - Ausg. Lasson. Zweiter Teil.
S. 230]
11 [Vorlesungen iiber die Philosophie der Religion. Werke, Bd, x1.1840. S. 198.}
12 [Ebda, S. 200.]
178 Heidelberger Asthetik
ben, oder spontan »hervorgebracht« wird; der Gegensatz des konstruiert-
theoretischen Bewuftseins iiberhaupt zu dem notwendig substantiellen Sub-
jekt jeder intuitiven Erkenntnis (die Exposition der Substanz ist ihre Ent-
hiillung »und diese ist die Genesis des Begriffs«, 18 sagt Hegel) ist nur die -
allerdings wichtigste — struktive Folge dieser Sachlage. Wenn also das He-
gelsche System die »Wirklichkeit« durch die iiberwirkliche und doch nicht
abstrakt-transcendente Wirklichkeit des erfiillten Systems als Abschlu8 und
Resultat des Prozesses iiberwinden will, so ist dafiir das produktiv-kunst-
werkhafte Wesen des konkreten Begriffs in seiner Subjekt-Objekt-Identitat,
mit seiner materialechten Form, durch sein Hervorbringen der eigenen In-
haltlichkeit das einzig mégliche Mitel. Zugleich zeigt sich jedoch, da dieses
Mittel im Wesentlichen seiner Struktur und seiner Voraussetzungen die in-
tellektuelle Anschauung nur an einem anderen Punkt als Trager des Systems
einsetzt, sie aber geradesowenig entbehren und darum den aus ihr entstam-
menden Antinomien entgehen kann wie der abstrakte Idealismus. Daf die
intellektuelle Anschauung hier aus ihrer Statik im Platonismus in eine Dyna-
mik verwandelt wird - die Forderung dieser Verwandlung ist, wie wir sa-
hen, schon bei Schelling ausgesprochen worden —, kann am Schicksal des Pro-
blems nichts Entscheidendes andern.
Das Dynamisch-werden der intellektuellen Anschauung hat aber eine andere,
sehr folgenschwere Konsequenz fiir den ganzen Aufbau des Systems: das
wechselseitige Sich-durchdringen theoretischer und dsthetischer Formen ist
hier ebenfalls dynamisch geworden, es konzentriert sich nicht mehr auf ein
bestimmtes Niveau, wie z.B. auf das der intelligiblen Wirklichkeit bei Plo-
tin, sondern setzt sich im ganzen Prozef, der das System zustande bringt, auf
jeder Stufe vollstandig durch. Dadurch erhiilt die Aufhebung des Satzes vom
Widerspruch eine neue Beleuchtung: sie bedeutet nicht blo& die kunstwerk-
hafte, substantiell-geschlossene Selbstkonstituierung des Begriffes, sondern zu-
gleich die Aufhebung dieser Konstituierung und das Weitertreiben zu und
das Umschlagen in eine andere, ebenso festgehaltene, aber ebenso aufzuhe-
bende Einheit neuer Widerspriiche; sie ist also zugleich und in untrennbarer
Weise aus theoretischen und dsthetischen Prinzipien zusammengeschmolzen.
Dennoch vermag diese Untrennbarkeit die Aporien, die aus dieser gedoppel-
ten und zwiespiltigen Struktur stammen, keineswegs zu beseitigen, sie mu
sie vielmehr einer unauflésbaren Problemverschlingung zutreiben.

13 [Wissenschaft der Logik. Werke. Bd. v. S. 11. ~ Ausg. Lasson, Zweiter Teil. S. 218.]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 179

Diese liegt im Wesentlichen darin, da das Prinzip sowohl der Substanzierung


des konkreten Begriffes wie das des Weitertreibens zu héheren und vollende-
teren Stufen der Konkretheit derselbe aufgehobene Widerspruch sein soll, in
Wahrheit jedoch beide niemals auf vollig gleicher Ebene liegen, sondern das
erste stets auf der Praevalenz der asthetischen, das zweite auf der der theo-
retischen Tendenz beruht. Betont muf freilich werden, da8 in beiden Fallen
immer nur eine Praevalenz und niemals ein Alleinherrschen des einen Prin-
zips gemeint ist, daf das andere stets enthalten und nur in den Hintergrund
gestellt, nicht aber beseitigt werden kann. Dies kann auch so formuliert wer-
den: das werkhafte Wesen des konkreten Begriffes ist ein sich »asthetisch«
erfiillendes theoretisches Sollen des Gegenstandes, das Sollen der Identitat
von Sein und Wesen im festgehaltenen Widerspruche. Solange die Praeva-
lenz des asthetischen Prinzips unaufgehoben bleibt, vollendet sich diese Ver-
einigung und der Gegenstand ist in einer alle Empirie beschattenden und
tiberholenden Konkretheit konstituiert. Dieser Sieg mu aber das blo& Sol-
lende der Vereinigung von Sein und Wesen auf der Stufe der bloSen Parti-
kularitat — und sei sie eine noch so hohe und umfassende — sogleich ent-
hiillen: das mit der blo& relativen Erfiillung niemals zufriedenstellbare -
jetzt rein theoretische — Sollen tritt in sein Recht und treibt einem neuen
Widerspruch, einer wesenhafteren Vereinigung von Sein und Wesen zu und
kann nur auf der Stufe des schlechthin Absoluten endgiiltige Ruhe finden.
»Die Endlichkeit der Dinge« sagt Hegel »besteht dann darin, da ihr unmit-
telbares Dasein dem nicht entspricht, was sie an sich sind... Was iiberhaupt
die Welt bewegt, das ist der Widerspruch und es ist lacherlich zu sagen, der
Widerpruch lasse sich nicht denken.« 4 Es zeigt sich hier, da& das zusam-
menfallende Sein und Wesen mit dem auseinanderfallenden nicht villig ho-
mogen ist, da8 um beide Prozesse zu bewerkstelligen, sowohl bei den Mo-
menten der Prozesse wie bei den Prozessen selbst ihre Struktur und das Ni-
veau ihrer Bestimmbarkeit verschoben werden miissen. Der die Widerspriiche
vereinigende und festhaltende und in diesem Festhalten sich konstituierende
Gegenstand erhalt, dank der praevalierenden asthetischen Tendenz, einen
vollig transcendentalen, jedes AuSen und jede Fremdheit ausschlieSenden
Aufbau, so daB gerade darum das Weitergehen nicht mehr — wie es der dia-
lektischen Methode nach sein mii®te und wie es bei Hegel den Anschein hat
— aus seinem immanenten Wesen notwendig erfolgt, sondern eines Aufens,

14 [Encyclopadie. § 119, Zusatz 2. Werke. Bd. vI. S. 242.]


180 Heidelberger Asthetik
eines Vergleichs, mithin der Aufhebung seiner rein transcendentalen Struk-
tur, der Aufzeigung einer Transcendenz bedarf, die allerdings durch das Wie-
derzurechtriicken auf das friihere Niveau zu einer Wiedervereinigung gefihrt
wird. Das Problem dieser den Prozef§ bewegenden, stets neu auftauchenden
Transcendenzen ist freilich ein sehr verwickeltes. Denn was ihnen letzten En-
des zu Grunde liegt, ist ein viel echter transcendentales Prinzip als das her-
vorbringende der Gegenstandsimmanenz: die Grundidee alles Theoretischen
von der Unvollstandigkeit und Erginzungsbediirftigkeit jedes theoretischen
Gegenstandes, es sei denn im als vollendet gedachten System; die Transcen-
denz, die als unerfiilltes Sollen auftritt und sich zum neuen Widerspruch
konkretisiert, ist dann nichts anderes als das In-Kraft-treten des theoreti-
schen Leitsatzes von der vollendeten Bestimmbarkeit, die die Einseitigkeit,
das Negative und Widerspruchsvolle, das Aufzuhebende jeder partikular-iso-
lierten Selbstvollendung mit dem grellen und unbarmherzigen Licht des Theo-
retischen plétzlich beleuchtet. Jedoch wegen der Verschiedenheit der beiden
transcendentalen Gegenstandsstrukturen kann dieses Theoretischwerden sich
auch nicht rein vollziehen: nur die Tendenz und das Ziel, das teleologische
Wesen der Transcendenz stammt aus der Sphire des rein Theoretischen und
ist deshalb nur scheinbar, nur in Bezug auf den aufzuhebenden Begriff trans-
cendent, der reale Prozef{ des Aufhebens der partikularen Vollendung kann
die reale — die metaphysische — Transcendenz doch nicht entbehren. Das
Sollen des wahrhaftigen Zusammenfallens von Sein und Wesen, das die
Nichtigkeit der versuchten und als geleistet gedachten Identitat enthiillt, ist
ein metaphysisch-ontologisches Sollen, kein transcendentales, und in seiner
Beleuchtung muf der Gegenstand — gerade wegen seiner inhaltlich erfiillten
Beschaffenheit — in die Empirie zuriicksinken: die Diskrepanz, die hier zu
Tage tritt, ist die alte, platonische Diskrepanz zwischen transcendenter Idee
und blo8 »wirklicher« Erscheinung. Der historische Prozef, dessen Verwick-
lung mit dem dialektischen so grofe struktive Schwierigkeiten verursacht,
scheint wenigstens teilweise aus dieser Not des Systems zu entstammen und
kann aus diesem Grunde mit ihm weder villig identisch werden, noch eine
bestimmte methodische Stelle in ihm einnehmen (das erste wurde in der
»Phanomenologie«, das zweite im System selbst versucht, konnte aber in kei-
nem konsequent zu Ende gefiihrt werden), sondern muf jedesmal als Ort des
unerfiillten Sollens auftreten, um durch seine Aufhebung jedesmal in das
kunstwerkhafte An-und-fiir-sich eines sich konstituierenden Momentes, in das
zeitlose System des Geistes errettet zu werden. Das Hineinspielen der Ge-
schichte in den zeitlosen Proze8 der Begriffsentwidklung liegt also weniger in
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 181

der inhaltlichen Erfiillung der konkreten Erfiillungsmomente — wie dies He-


gel zumeist vorgeworfen wird -, wo das Metatheoretische mehr in der as-
thetischen Struktur der Gegenstiindlichkeit liegt und die geschichtliche In-
haltlichkeit des konkreten Inhalts daneben als etwas Secundaeres erscheint,
als vielmehr in der methodischen Notwendigkeit, die Geschichte als Verwirk-
lichungsniveau des noch nicht vollendeten, aber stets der Vollendung zutrei-
benden Zusammenfallens von Sein und Sollen, zum Brechen der Asthetischen
Immanzenz der partikularen Momente immer wieder in das System einzu-
fihren.
Man wende gegen diesen Gedankengang nicht Hegels stiindiges Ablehnen des
Sollens gerade in der Geschichtstheorie ein. Das Sollen, das hier gemeint ist,
ist — wie Hegel es selbst bestimmt — zugleich mit der Schranke ein Moment
des Endlichen, und zwar das Moment, das sein Hinausgehen iiber sich selbst
verursacht; indem das Sollen ein Nicht-sein in sich birgt, denn »was sein soll,
ist und ist zugleich nicht. Wenn es ware, so sollte es nicht blo& sein«,
driickt es die eine, die weitertreibende Seite der Negativitat des endlichen
Etwas aus, und Hegels Auseinandersetzungen zielen gerade dahin, dieses
Sollen aus dem immanent geschlossenen Gesetztsein des Endlichen sprunglos
entstehen zu lassen. Es fragt sich aber, ob nicht auch hier die eben aufgezeigte
Niveauverschiebung doch stattfinden muf. Die Qualitat des Etwas »ist seine
Grenze, mit welcher behaftet, es zundchst affirmatives, ruhiges Dasein
bleibt«,'* welche Grenze »das dem Etwas Immanente und die Qualitat
seines Insichseins ausmachend, die Endlichkeit ist«.!7 Um hier nun das wei-
tertreibende Moment im Etwas selbst zu finden, muf die Grenze in Negativi-
tat umschlagen, zur Schranke werden; der Sinn der Grenze verschiebt sich
und wird »das Gemeinschaftliche des Etwas und des Andern«, '® wodurch -
gegen die Intention des Systems, jedoch notwendig aus seiner Struktur fol-
gend — die Immanenz des Weitertreibens verfalscht wird: das von der zu-
letzt bestimmten Grenze umfafte Etwas ist das Produkt einer von der frii-
heren qualitativ verschiedenen Setzungsart; die erste ist die konkret-inhalt-
liche (wie hier gezeigt wurde: asthetische) Setzung der materialecht in sich
vollendeten Einheit von Form und Inhalt, die zweite ist das Einfiigen eines

15 [Wissenschaft der Logik. Werke. Berlin, 1841, Bd. rrr, S. 135. — Ausg. Lasson. Hamburg
1971, Exster Teil. S. 120.]
16 [Ebda, S. 130-2.a.0., S.116.]
17 [Ebda, S. 133 - 2.2.0, S.119,]
18 [Ebda, S. 134 - 2.2.0., . 120.]
182 Heidelberger Asthetik
abstrakt-unvollstandigen, theoretischen Gegenstandes in das Ganze, wo er
erst seine Erfiillung und Bestimmbarkeit erhalten kann. Hieraus entsteht
eine doppelte Bewegung: kénnte an der nun vollzogenen Wendung zur rein
theoretischen Setzung festgehalten werden, ware das Ziel der Logik nicht das
wieder konkret-inhaltlich erfiillte Unendliche, so liefe die Bewegung entwe-
der einer platonischen oder einer kantischen, einer abstrakt-transcendenten
oder formell-geltenden Ideenwelt zu. Da dies von vornherein ausgeschlossen
ist, kann Hegel nur entweder ein abstraktes Weitergehen von einem End-
lichen zum Anderen ins Unendliche, oder das Umschlagen des Endlichen ins
Unendliche zugeben. Der erste Proze& bliebe rein theoretisch, ware aber als
die schlechte Unendlichkeit des »perennierenden Sollens« fiir das System be-
deutungslos, der zweite ist nur durch die Riickkehr zur intellektuellen An-
schauung zu leisten. Aber selbst wenn diese Niveauverschiebung zugegeben
werden kénnte, ware der methodische Doppelsinn des Sollens doch nicht be-
seitigt: dem System kommt es ja nicht auf den Ubergang vom Etwas zum Un-
endlichen iiberhaupt, sondern auf die Selbstbewegung des Geistes von einem
seiner konkret-inhaltlichen Momente zum anderen an. Allerdings scheint der
Unendlichkeitsbegriff Hegels gerade zur Hebung dieser Schwierigkeit ge-
schaffen zu sein. Es wird ja durch ihn jede abstrakte Transcendenz, jedes
starr-jenseitige Ideenreich als schlechte Unendlichkeit nachgewiesen, und die
Aufhebung des Endlichen ins Unendliche darf nichts an dessen konkreter
Beschaffenheit verandern; »es entsteht dasselbe, von dem ausgegangen wor-
den war, d. i. das Endliche ist wiederhergestellt; dasselbe ist also mit sich selbst
zusammengegangen, hat nur sich in seinem Jenseits wiedergefunden.«' Da-
durch erhebt sich auf diesem héheren Niveau der wahren Unendlichkeit das-
selbe Problem, und hier wird die Notwendigkeit des Eintretens der Geschichte
als Richterin in das System unabweislich. Damit das System nicht auf jeder
Stufe der erreichten, gegenw4rtigen, wahren und daseienden Unendlichkeit
stehen bleibe, mu diese wieder an eine Schranke stofen, an eine innere Un-
angemessenheit mit sich selbst erinnert werden, mu8, kurz gesagt, wieder
zum Endlichen werden — um zur hdheren Unendlichkeit weitergefiihrt wer-
den zu kénnen. Dieses Aktuell-werden des Endlichen im Unendlichen und
umgekehrt leistet die Geschichte fiir das System als »die Gestaltung des Geistes
in Form des Geschehens, der unmittelbaren natiirlichen Wirklichkeit« 29; in
ihr stellt der sich entfaltende und in der Entfaltung weiterschreitende Geist

19 [Ebda, S. 153 - 2.2.0., S. 136.]


20 [Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 346. Werke, Berlin, 1840, Bd, vrrr. S. 425.]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 183

seine Forderung an seine erscheinenden, geschichtlich-wirklichen Objektiva-


tionen und diejenigen unter ihnen, die dem aktuellen Sollen entsprechen,
werden durch dieses erneute Zusammenfallen von Sein und Wesen in die
Sphire des Absoluten, zur Ideenhaftigkeit erhoben, die, welche diese Kon-
gruenz nicht oder nicht mehr besitzen, miissen — ihrer Ideenhaftigkeit (als
Staat, Religion, Kunst etc.) zum Trotz — in die Negativitat des Endlichen,
in die »Unwahrheit« versinken. Darum wird das Hegelsche Prinzip der Welt-
geschichte, der Gedanke von dem herrschenden Volk und der Unmiglichkeit
fiir ein Volk mehr als einmal das herrschende zu sein, als systematische Not-
wendigkeit verstandlich. Es zeigt sich jedoch, daf dieses Prinzip nicht nur den
Ort beherrscht, den Hegel ihm selbst im System zugewiesen hat (als Bezie-
hung von Staat und Geschichte, als Ubergang vom objektiven Geist zum
absoluten), sondern das ganze System durchdringt: keine konkrete Erfiil-
lung und kein konkretes Weitergehen von dem einen Monat zum anderen—
weder von einer Stufe des Geistes zur héheren, noch innerhalb einer Stufe -
kann ohne diese Konstruktion als vollbracht gedacht werden.

2.
Diese vieldimensionale Relativierung von Immanenz und Transcendenz, von
der hier unserer Fragestellung gema& nur auf einige Aspekte hingewiesen
werden konnte, hat ihre Wurzeln und ihre Notwendigkeit in einem anderen
Zentralproblem des Hegelschen und jedes konkret-spekulativen Systems: im
Problem des Organischen. Es kénnte problemgeschichtlich eine mehr als reiz-
volle Aufgabe sein, den Nachweis zu fiihren, daf dem Drang, iiber die ab-
strakte Transcendenz hinauszugehen, stets wenigstens als wesentlich mitbe-
stimmendes Motiv das Begreifenwollen des Organischen zu Grunde lag. Ja es
ware nur eine Einseitigkeit der Betrachtung und keine Verfalschung der
Sachlage, wenn als das radikal Trennende beider Richtungen das als Organon
dienende Urphanomen der Erkenntnis, das fiir den abstrakten Idealismus
die Mathematik, fiir den konkreten die Organik ist, erschiene. (Auf Ober-
gangstypen, wie z. B. Schelling, kann hier leider nicht eingegangen werden.)
Fiir uns ist an diesem Kreuzweg der Probleme das Wichtigste die neue Rolle,
die das Problem des Anthropologismus im Universum der Erkenntnismittel
und -Méglichkeiten und mit ihm das der Kunst in der Asthetik erhalt. Dies
ist der Punkt, wo die »Kritik der Urteilskraft« und zugleich Goethes Art der
Naturbetrachtung schicksalhaft-entscheidend in die Entwidslung der spekula-
tiven Philosophie eingreifen. Es kann nicht unsere Aufgabe sein zu unter-
suchen, inwiefern die drei Probleme der »Kritik der Urteilskraft«, die Asthe-
184 Heidelberger Asthetik
tik, die methodische Grundlegung einer Erkenntnistheorie der Organik und
die — hier allerdings stets nur regulativ gebrauchte — Teleologie, von Kant
aus absichtlich sich in ein einziges zentrieren und den Wirkungen Goethes be-
starkend entgegenkommen, da die Tatsache ihrer Vereinigung in der spekula-
tiven Philosophie, mit dem deutlichen Zuriidkgehen auf diese Quellen offen-
sichtlich vor uns steht. Die abstrakte Transcendenz des platonischen System-
typus kann nur dann iberwunden werden, wenn die stindig aufsteigende,
substantieller werdende Formenhierarchie an einer noch irdisch-menschlichen
Stufe Halt macht, in sich einkehrt und in dieser Einkehr und in der Imma-
nenz, die durch sie erreicht wird, eine gesteigerte Substanzialitat findet; mit
anderen Worten: wenn ein Phanomenon auffindbar ist, auf das die Katego-
rie der ZweckmaSigkeit und zwar so, daf es als Endzweck gesetzt wird, an-
gewendet werden kann, wenn es derart organisiert ist, da& in ihm »alles
Zweck und wechselseitig auch Mittel ist«.24 Hier liegt das fiir die spekula-
tive Philosophie Epochemachende der Kritik der teleologischen Urteilskraft;
das Aufzeigen der Notwendigkeit einer iiber das Kausal-Mechanische hin-
ausgehenden Begriffsbildung fiir die Begreifbarkeit des Organischen bliebe in
ihrer Isoliertheit nur fiir die Grundlegung eines Teiles der Naturwissenschaf-
ten bedeutsam, daff sie aber in der Analyse eines méglichen und widerspruchs-
los denkbaren Endzwecks im Begriffe des Menschen als Noumenon, des Men-
schen »unter moralischen Gesetzen«?* stehend — wodurch der Begriff der
Kultur miteinbegriffen wird -, gipfelt, erméglicht die hier notwendige Wen-
dung zu der der Wirklichkeit innewohnenden Idealitit und damit zu der
Verwandlung des Absoluten in Geist, der im Menschen heimfindet und zu
Worte kommt und iiberbriickt hierdurch den im Platonismus notwendigen
Abgrund zwischen dem Menschen und dem Absoluten, die Quelle aller Anti-
nomien des Anthropologismus. Freilich bleibt die Verbindung der beiden Pro-
bleme in der »Kritik der Urteilskraft« selbst eine ziemlich lose und metho-
disch stets trennbare, so dafZ — fiir den Kantschen Standpunkt - die Grund-
legung der Wissenschaft vom Organismus, um sich als Wissenschaft zu kon-
stituieren, dieser Verkniipfung keineswegs unbedingt bedarf. Umso bedeut-
samer ist die vorhandene Tatsichlichkeit ihrer Verkniipfung als Grundlage
einer spekulativen Méglichkeit ihres metaphysischen Zusammenhanges ge-
worden.

a1 (Kant: Kritik der Urteilskraft. § 66. Werke. Hrsg. von E. Cassirer. Berlin, 1914. Bd. 5.
S. 454]
22 [Ebda, § 87. S. 529.]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 185

Dieser Zusammenhang ist fiir Goethe entscheidend gewesen. Es ist sicher kein
Zufall, da& bei seinem wechselvollen Angezogen- und Abgestofensein von
der Kantschen Philosophie gerade die »Kritik der Urteilskraft« einen ganz
eindeutig férdernden Einflu&, als Bestatigung lang gehegter Uberzeugungen
gehabt hat, und zwar gerade die fiir diese Verkniipfung wichtigsten Ab-
schnitte, die die Méglichkeit eines intuitiven Verstandes behandeln. In dem
kleinen Aufsatz iiber »Anschauende Urteilskraft« werden die wesentlichsten
Satze zitiert, allerdings mit einem Kommentar, der deutlich zeigt, wie wenig
Goethe gesonnen war, die Einschrankung ihrer Giiltigkeit auf das blo&e Re-
gulative wirklich mitzumachen. Mit dem ihm eigenen Drang auf das Resultat
und mit seiner Unbekiimmertheit um erkenntnistheoretisches Bedenken, setzt
er dem Einschranken auf das Diskursive und Regulative, worin er etwas
»schalkhaft Ironisches« erblickt, sein Gelingen, »auf jenes Urbildliche, Typi-
sche« auszugehen und das Kantsche »Abenteuer der Vernunft«* zu be-
stehen, entgegen. Mit allen Einschrinkungen, die jeder derart abkiirzenden
Darstellung, wie diese ist, geboten sind, kann also gesagt werden: in dem
Goetheschen »Urphanomen« und in der Méglichkeit seines Erfassens und
seiner Explikation ist das blo Regulative der teleologischen Methode (und
zugleich jede ihr anhaftende abstrakte Transcendenz) iiberwunden. Sie ist
iiberwunden, weil die Schranke, an der bei Kant der »menschliche«, blo
diskursive Verstand immer scheitern mu&, das Problem der reflektierenden
Urteilskraft, das Gewinnen des nicht gegebenen Allgemeinen aus dem Beson-
deren, das Problem der Spezifikation als erledigt erscheint. »Was ist das All-
gemeine?« fragt Goethe und seine Antwort lautet: »Der einzelne Fall«.%
Freilich ist dieser »einzelne Fall« nicht der der gewdhnlichen Empirie. Als
»Ideal-real-symbolisch-identische bestimmt Goethe das Urphinomen;
»Ideal, als das letzte Erkennbare; real, als erkannt; symbolisch, weil es alle
Fille begreift; identisch, mit allen Fillen.«®5 Eine solche Stellungnahme
zu den Phanomenen setzt eine von dem von Kant als »menschlich« be-
stimmten Verstand so radikal verschiedene Organisation der Erkenntnisfak-
toren und ihrer Beziehungen zu den Erkenntnisobjekten voraus, da darin
der Unterschied von Intuitivem und Diskursivem nur ein Symptom, nicht
aber die Sache selbst ist. »Wer die Welt verniinftig ansieht«, sagt Hegel,

23 [Anschauende Urteilskraft. Simeliche Werke. Jubilaums-Ausgabe. Stuttgart—Berlin, Cotta,


Bd. 39. S. 33-34.)
24 [Maximen und Reflexionen. A.a.0. S. 69.]
25 [Ebda, S. 112.)
186 Heidelberger Asthetik

nden sieht sie auch verniinftig an«,® ein Ausspruch, der nur dann weder
eine Tautologie noch eine Sinnlosigkeit ist, wenn die »Vernunft« in beiden
Satzen dieselbe ist, wenn das sich zum Standpunkt der Vernunft Erheben so
viel bedeutet, daf& in dem betrachtenden Subjekt das Wesen der Welt, die
Vernunft der Welt laut wird, wenn sie im »verniinftigen« Betrachten sich
selbst betrachtet. Die scheinbare Annaherung Goethes an Kant ist vielmehr
eine vollendete Umkehrung des »kopernikanischen« Standpunktes: in bei-
den Fallen kann der Geist nur sich selbst begreifen, aber fiir die kritische
Philosophie heift dies, das selbst Geschaffene (das vom BewuBtsein iiberhaupt
transcendental Produzierte) zu begreifen, wahrend es fiir Goehte ein Kos-
misch-werden des Subjekts, sein Sich-zum-Weltgeist-Erheben und ihn brii-
derlich-verwandt Begriif&en bedeutet. Wenn also Goethe in der Verwendung
eines Plotinschen Ausspruchs (» War’ nicht das Auge sonnenhaft, / Wie kénn-
ten wir das Licht erblicken«?’) ebenfalls einem Transcendentalismus nahe
zu kommen scheint, so ist auch diese Annaherung eine blof scheinbare: denn
keine vom Subjekt ins Objekt »hineingelegtex Gesetzmafigkeit wird im Ob-
jekt gefunden, sondern es enthiillt sich die Wesensverwandtschaft von Sub-
jekt und Objekt, ihre substantielle Gleichartigkeit, indem das Subjekt durch
innig-hingebungsvolles Anschauen des Objekts sich selbst in wirklicher We-
senhaftigkeit erblickt. Darum kann hier das Auge als »ruhendes Licht«2*
bestimmt werden, derum handelt die ganze Farbenlehre von »den Taten und
Leiden des Lichts«,®° was fiir Goethe sicherlich kein blo&es Bild gewesen
ist; darum — um statt einer Haufung von Beispielen an einem anderen Punkt
den gleichen Grundtrieb aufzuzeigen — lehnt Goethe das moralische Gebot
der Selbsterkenntnis immer schroff ab und fordert an seiner Stelle ein Han-
deln in der AuSenwelt oder eine Kontemplation der Natur. Denn das wahre
Selbst ist nur auf diesem Umweg zu finden, es ist eine sich allmahlich-orga-
nisch entfaltende, kosmische Wesenheit, die in ihrem Auswirken erlebt, aber
nicht erkannt werden kann (hdchstens im Spiegel der wesensgleichen Welt),
die durch »Bildung« zur bewuSten Bliite zu bringen, aber nicht durch Ent-
schliisse zu modifizieren ist. Mit der Aufhebung der Wesensfremdheit zwi-
schen phanomenaler, nur in »Gesetzen« erkennbarer Natur und noumenal-

26 [Vorlesungen uber die Philosophie der Geschichte. Werke. Berlin, 1840. Bd. rx. S. r5.~
Ausgabe Hoffmeister. Hamburg, Meiner. 1968, S. 31.]
27 [Entwurf einer Farbenlehre. Jubilaums-Ausgabe. Bd. 40. S. 71.]
28 [Ebda]
ag (S.: Vorwort zur Farbenlehre. A.2.0. S. 61.]
Entwidelungsphilosophische Schénbeitsidee 187
geltendem Selbst ist die Scheidung von theoretischer und praktischer Philoso-
phie fiir diesen Standpunkt hinfallig geworden: das Niveau der »Kritik der
Urteilskraft«, mit ihren zur Einheit gebrachten Problemen, ist deshalb fiir
Goethe keine Vermittlung zwischen ihnen, wie fiir Kant, sondern die ur-
spriingliche, ungetrennte und untrennbare Einheit selbst. Das Erlebnis der
Erhabenheit des Sternenhimmels ist fiir Kant die Ehrfurcht vor der Gesetz-
mafigkeit, die in ihm waltet, die — wenn auch nicht das »Was« ihrer Sub-
stanz — uns zu erkennen gegeben ist. Der Wilhelm Meister der »Wander-
jahre« hat auch das Erlebnis der Erhabenheit vor »demselben« Objekt, das
Wesentliche seines Erlebnisses ist aber das Auffinden eines dem erhabenen
Makrokosmos analogen Mikrokosmos in sich selbst. »... darfst du dich,«
fragt er, »in der Mitte dieser ewig lebendigen Ordnung auch nur denken,
sobald sich nicht gleichfalls in dir ein herrlich Bewegtes um einen reinen
Mittelpunkt kreisend hervortut?«8° Und als utopisch-reale kosmische Voll-
endung dessen, was im Meister nur menschlich-moralisch' und darum verwor-
ren hervortritt, erscheint die héchste Verwirklichung dieser Lebensform, Ma-
karie, in der das Sonnensystem in Wahrheit lebendig geworden ist, die das
Sonnensystem ist und es unmittelbar lebt, die in ihrem Leben die Verzweif-
lung des jungen Faust-Goethe, seine tiefste, tragischste Verzweiflung: »du
gleichst dem Geist, den du begreifst, Nicht mir« erfiillend auflést.
Es handelt sich um uniiberbriidcbare Entgegengesetztheiten der Weltanschau-
ungen. Als Kepler mit seinem System auftrat, protestierte der englische My-
stiker Robert Fludd mit sehr ahnlichen Argumenten gegen das mathemati-
sierende Weltbegreifen wie spater Goethe gegen Newton: »Mathematicorum
vulgarium est, circa umbras quantitativas versari, chymici et Hermetici ve-
ram corporum naturalium medullam complectuntur.«*! Es ist hier nicht der
Ort, auf die wissenschaftstheoretischen Folgen dieses Gegensatzes selbst an-
deutend einzugehen, es kommt nur darauf an, das Prinzipielle der Goethe-
schen Stellungnahme zu verstehen (nicht zu kritisieren) und ihre Konsequenz
fiir die Asthetik darzutun. Auch fiir Goethe ist die mathematische Methode
»schattenhaft«, ja mehr sogar: sie vergewaltigt die Natur, und »die Natur
verstummt auf der Folter.«** Das Organische, als unauflésbare, nicht auf

30 [Wilhelm Meisters Wanderjahre. Buch 1, Kap, 10. Jubilaums-Ausgabe. Bd, 19. S. 137.]
31 (Zit. nach E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der
neueren Zeit. Berlin, Cassirer. 1906. S. 561.)
32 [Maximen und Reflexionen, Jubiliums-Ausgabe. S. 58.]
188 Heidelberger Asthetik
abstrakte Begriffe bringbare und niemals in abstrakt-allgemeine Gesetze auf-
gehende Selbstvollendung, das jedoch gerade in dieser Selbstvollendung un-
abléslich mit dem All verbunden ist und nur als sein verkleinertes Spiegel-
bild begriffen werden kann, wird hier zum Wertbegriff, zum Organon der
Gesamterkenntnis, zum inneren Vorbild jeder erkennenden Tatigkeit. Denn
die »Folter«, das »Kiinstliche« der Newtonschen Methode etwa, wogegen
sich Goethe aufgelehnt hat, liegt einerseits in den nicht aus dem Wesen des
Gegenstandes, de reingewordenen Urphanomens selbst stammenden, ab-
strakt-iibergreifenden Gesetzen und Zusammenhingen, in die es eingefiigt
und zu denen es ~ durch ebenfalls »kiinstliche« Experimente — in angeblich
erklarende Beziehungen gebracht werden soll, und andererseits in der not-
wendigen Ausschaltung des Menschen und seiner sinnlichen Beschaffenheit
aus den subjektiven Bedingungen der Erkenntnis. Inwiefern doch eine Wis-
senschaft vom Organischen begriindet werden konnte und zwar erkenntnis-
theoretisch gerade durch das Weitergehen auf den von der »Kritik der Ur-
teilskraft« eréffneten Wegen, und besonders inwiefern nur mit diesen »kiinst-
lichen« Formen eine reine Naturwissenschaft zustande gebracht werden kann,
gehért nicht hierher. Hier ist nur die Tatsache von Belang, da Goethe und
die Naturphilosophie des deutschen Idealismus — der sich nicht nur Goethes
Sache gegen die Verteidiger Newtons annahm, sondern auch in vielen ent-
scheidenden Punkten seine letzte Stellungnahme zu den Dingen und die dar-
aus folgende Methode teilte — in bewuftem Gegensatz zu jeder abstrahie-
renden Ausschaltung der Sinnlichkeit gerade den sinnlich-wirklichen Men-
schen zum Organon der Erkennbarkeit der Natur gemacht haben. Der Ge-
gensatz beruht selbstredend blo& darauf, wo das letzte konstitutive Prinzip
gesucht und gefunden werden soll. Fiir die abstraktest gesetzmaSige Natur-
wissenschaft bleibt ein Minimum an menschlicher »Sinnlichkeit« kaum villig
ausschaltbar, wenn auch ihre Tendenz darauf ausgehen mu&, derartig ein-
heitliche, iibergreifende Prinzipien zu finden, die z. B. Gebietsabtrennungen,
die auf »sinnlichen« Differenzen beruhen, iiberflissig zu machen fahig sind
(also gerade die isoliert behandelte Optik). Andererseits gehen auch Goethe
und die, die ihm folgen, auf »Gesetze« ein, diese Gesetze sollen aber gerade
die vom Menschen aus abgegrenzten Spharen in unangetasteter Einheitlich-
keit begreiflich machen, sie sollen die »intelligibele Zufalligkeit« des Men-
schen und seiner »Sinnlichkeit« aufheben, indem sie ihn in dieser Beschaffen-
heit notwendig machen, indem sie hier das Organ und den transcendentalen
Ort der wesenhaften Erkenntnis der wesenhaften Gegenstinde aufzeigen.
Hier ist also der zum Erkenntnisorgan gewordene intuitive Verstand nichts
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 189

als das Zur-Bewuftheit-Bringen des »ganzen Menschen«; nicht das abstrakt-


konstruierte und darum blof des diskursiven Denkens fahige theoretische
Subjekt soll Trager der Erkenntnis sein, sondern der klargewordene, sich
selbst bewuBte und in dieser Bewuftheit sich vollendende »ganze Mensch«. Es
ist die vertiefte und bewuStergewordene Wiederaufnahme des Mikrokos-
mos-Gedankens der deutschen Renaissancephilosophie: das Erkennen-wollen
der Wirklichkeit durch eine andere Wirklichkeit; ein symbolisch-metaphysi-
scher Empirismus. »Dann also muf die Philosophie der Artzney gefiihrt wer-
den«, sagt Paracelsus, »da& auch die Augen den verstand begreiffen: unnd
daf es in den Ohren thine, wie der fall des Rheins, und da& das gethén der
Philosophey also hell in den Ohren lige, als die sausenden Winde auss dem
Meer: unnd die Zunge derma&en ein wissen tragen, als des Honigs und der
Gall: Und die Nase schmecke ein jeglich Geruch des gantzen Subiects.’ Aufer-
halb dieser erkandtnuss ist widerwertig alles das, das der Natur zugeleget
unnd geben wirt.«
Diese doppelt-leitende Stellung des Organischen im System, als letztlich Be-
stimmendes sowohl fiir Aufbau und Wesensart des Objekts wie fiir Beschaf-
fenheit und Niveau des Subjekts, hebt die anthropologischen Aporien des
Platonismus auf. Wenn das Wesen der Welt ein absolut Einheitliches ist und
seine endgiiltige Aufgipfelung im Menschen erhilt, dann ist die notwendige
Gebundenheit des Asthetischen an den »sinnlichen Menschen« kein Abbiegen
mehr von dem eigentlichen Wege des Geistes, keine eitle Selbstgefalligkeit der
Kreatur, auch nicht eine verworrené, noch nicht bewufte Erkenntnis, die zur
Klarheit gebracht und so — gerade in ihrer asthetischen Wesensart — iiber-
wunden werden soll, sondern etwas schlechthin Letztes und Absolutes. Es ist
kein Zufall, da8 sowohl Goethe wie die Verteidiger seiner Farbenlehre in der
Praxis der Malerei ein entscheidendes Argument gegen Newton erblidkt ha-
ben: die Kunst ihrer Farbengebung ist nichts anderes als die intuitiv-prakti-
sche Anwendung dessen, was zur begrifflich fa&baren Bewuftheit zu bringen
Goethes Bemiihung war: die wirkliche Wesenheit der Farben in der sinn-
lich-sittlichen, konkreten Totalitét ihrer Selbstauswirkung und die wesen-
haften Beziehungen zwischen ihnen, die aus dieser ihrer konkreten Beschaf-
fenheit abzulauschen sind. So da einerseits die Farbenlehre eine Bestatigung
in der Praxis des Malers findet und andererseits es als eine ihrer wichtigsten
Aufgaben erscheint, die der Malerei langst fehlende »Kenntnis des General-

33 (Das Buch Paragranum, Hrsg. von Fr. Strunz. Leipzig, 1903. S. 25-26.]
190 Heidelberger Asthetik
basses ..., einer aufgestellten, approbierten Theorie, wie es in der Musik der
Fall ist« zu liefern. Diese innige Verbundenheit des Bewuftwerdens der kos-
misch-konstitutiven Naturgesetzlichkeiten mit dem Menschen als bewuftem
Sinnenwesen ist die systematische Stelle der Schénheit fiir den konkreten Idea-
lismus. »Das Schéne ist«, sagt Goethe, »eine Manifestation geheimer Natur-
gesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig waren verborgen geblieben.«*
Diese Bestimmung setzt einen neuen Asthetischen Gegenstand, die konkrete
Naturschénheit und stellt die Asthetik dadurch vor ein neues Problem. Der
Gegensatz von Kepler und Fludd, als ewiger Gegensatz betrachtet, erhilt
einen neuen Aspekt: ihr Widerstreit ist der Kampf von zwei metaphysischen
Schénheitsideen, von zwei unvereinbaren Konzeptionen einer Asthetik der
Natur. Denn fiir beide Anschauungen offenbart sich in der Gesetzlichkeit, die
in der Natur waltet, die Idee ihrer vollendeten und vollendet in sich ruhen-
den Organisation, die in der Kontemplation des sie Erkennend-Betrachten-
den zum Schénheitserlebnis werden mu. Wahrend aber fir die erste An-
schauung der Ort der Schénheit die von jeder Konkretion losgeléste reine
Gesetzlichkeit ist, die Schonheit also zu der der Proportionen und Relationen
wird, zur Schénheit der einheitlich erfaften Ganzheit der Natur, der exten-
siven und absoluten Totalitit des Makrokosmos, erscheint das Schone fiir die
andere Betrachtungsweise in den konkreten Erscheinungen in ihrer Konkret-
heit als mikrokosmisches Spiegelbild der Schénheit des Ganzen, das aber nur
in seiner konkreten Vollendung, als wahrer Kosmos im Kleinen, dieser Voll-
endung fahig werden kann. Fiir die erste Stellungnahme kann deshalb nur die
abstrakt-theoretische Erkenntnis zu der wahren Kontemplation der unver-
falschten Schdnheit fiihren, denn ihr letzter konstitutiver Wertbegriff ist das
Mathematische, fiir die zweite hingegen ist in jedem Ding, wenn es nur wahr-
haft erfaBt wird, was nur in der von der Sinnlichkeit getragenen Anschau-
ung méglich ist, das Prinzip der Schdnheit, als Prinzip des zum Wert gewor-
denen Lebens, gegenwartig. Und diese zweite Schénheit kann sowohl un-
mittelbar zum BewuBtsein gebracht werden, wie auch durch die Vermittlung
der Kunst. Und die Kunst, als bewuftes Weiterfiihren und Zur-Klarheit-
bringen dessen, was in der Natur, so wie sie uns unmittelbar gegeben ist,
nicht ausnahmslos eindeutig zu Tage tritt, erscheint in diesem Zusammenhang
als unerlaBliche und unverwindliche Methode dieser Erkenntnis des Wesens
der Natur, der Kontemplation ihrer Wesenheit und Gesetzlichkeit. »Der

34 (Maximen und Reflexionen iiber Kunst. Jubiliums-Ausgabe. Bd. 35. S. 305.]


Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 191

Zusammenhang der ganzen Nature sagt Goethe in den Bemerkungen 2u


Moritz’ »Bildender Nachahmung des Schénen« »wiirde fiir uns das héchste
Schéne sein, wenn wir ihn einen Augenblick umfassen kénnten. Jedes schéne
Ganze der Kunst ist im Kleinen ein Abdrudk des héchsten Schénen im Gan-
zen der Natur.«* Oder in anderem Zusammenhang: »Vor den Urpha-
nomenen, wenn sie unseren Sinnen enthiillt erscheinen, fiihlen wir eine Art
von Scheu, bis zur Angst... . Die wahre Vermittlerin ist die Kunst.« ¢
Das Begreifen der konkreten Naturschénheit, die weder erkenntnismafig
auf das sinnlich unfaBbare Ganze der Natur gerichtet ist, noch platonisch-
erotisch sich an den »schénen Dingen« entziindend und der wahren Heimat
der Seele entgegeneilend zur abstrakten Transcendenz fiihrt, macht ein phi-
losophisch bejahendes und positiv bewertendes Verhalten zur Kunst miglich.
Schon Aristoteles sprach davon, da die Kunst »dasjenige noch ginzlich voll-
endet, was die Natur ins Werk zu setzen unvermogend ist«®7 (wenn er auch
ein »teilweise« hinzufiigte und der Kunst auch die Nachahmung der Natur
als Aufgabe zuwies) und hat damit die systematische Stelle der Kunst im
konkreten Idealismus andeutend vorweggenommen. Dadurch scheinen nun
alle Aporien, die einer Erfassung des Wesens der Kunst aus dem Schénheits-
begriff und somit der einheitlich-systematischen Begriindung der Asthetik fiir
den abstrakten Idealismus im Wege standen, gehoben zu sein: dasselbe Abso-
lute, derselbe Geist offenbart sich in der Schénheit von Natur und Kunst, und
beide sind gleich wesensvoll und unentbehrlich, denn in beiden erscheint die-
selbe Idee und kann sich nur in beiden vollenden. Der zum leitenden Wertbe-
griff gewordene Organismus und seine Aufgipfelung im Menschen als nur
abstraktiv trennbarer Einheit des Sinnlich-Erscheinenden und der geisterfiill-
ten Innerlichkeit miissen also die Vereinigung der konstitutiven Prinzipien
von Natur und Kunst in der Idee der Schénheit zustande bringen und zu-
gleich ihr Auseinandergehen in die unverwechselbar getrennten Spharen von
Naturschénheit und Kunstschénheit erklaren. Wenn deshalb Hegel die Schén-
heit als »das sinnliche Scheinen der Idee« ** bestimmt, so ist darin keine Spur
mehr ihrer platonischen Herabsetzung zu merken. Das Schéne — und zwar

35 [Ober Moritz, ... A.a.0. Bd. 33. S. 61.]


36 [Maximen und Reflexionen iiber Kunst. A.a.O. Bd. 35. S. 303.]
37 (Physik. Buch r1. 199 a. Werke. Hrsg. von K. Prantl. Leipzig, Engelmann. 1854. Bd. x.
S. 91-93.]
38 [Vorlesungen iiber die Asthetik. Werke. Berlin, 1842. Bd. x. Abt. 1. S. 141. ~ Aufbau-
Ausgabe. Berlin, 1955. S. 146.]
192 Heidelberger Asthetik
das der Kunst - und das Wahre kénnen in keinen Widerstreit mehr mitein-
ander geraten, denn »die Kunst hat keinen anderen Beruf, als das Wahre,
wie es im Geiste ist, seiner Totalitét nach mit der Objektivitat und dem Sinn-
lichen verséhnt, vor die sinnliche Anschauung zu bringen.«** Beide sind
Selbstorganisationen desselben Geistes, der in der Natur seiner noch nicht be-
wuft, dasselbe zur Erscheinung bringt wie das, was er in der Kunst als be-
wuftgewordener Geist, als schaffender Mensch, als Kiinstler produziert. Dar-
um muf in beiden dieses Gewachsene, jeder regelmafig konstruierenden, ver-
standesmaig-abstrakten Begrifflichkeit Spottende, Organisch-Lebensvolle als
Gipfel und Wert erscheinen. In diametralem Gegensatz zum Platonismus ist
nicht mehr das mathematisch Wohl-Proportionierte, das Krystallinische der
wirkliche Trager der Schénheitsidee, sondern das ratselhaft in sich Vollen-
dete, das Lebendige, Seelenerfiillte und diese Erfiilltheit in seiner Erschei-
nungsform Ausstrahlende; und darum ist auch in der Kunst das allen Regeln
Entriickte, das scheinbar von selbst Gewachsene die adaquate Objektivation
der Schénheit. Schon Kant hat der Kunst die Aufgabe gestellt, da sie »wenn
wir uns bewuft sind, sie sei Kunst, ... sie uns doch als Natur« aussiehe,
und Friedrich Schlegel driickt dieses gemeinsame Grundgefihl ganz pragnant
aus, indem er sagt: »Schén ist was uns an die Natur erinnert, und also das
Gefiihl der unendlichen Lebensfiille anregt. Die Natur ist organisch, und die
héchste Schénheit daher ewig und immer vegetabilisch, . . .« 4!

cn
Die Asthetik muf aber, bevor die Pforte dieser Verséhnung von Natur und
Kunst im Begriff der Schénheit iiberschritten wird, die Frage aufwerfen: wie
ist diese Vereinheitlichung méglich? Und fordert sie nicht notwendigerweise,
um folgerichtig zu Ende gedacht werden zu kénnen, die Aufhebung der as-
thetischen Wesensart der Kunst? Um das Folgende zusammenfassend vor-
wegzunehmen, kann hier gleich gesagt werden: die dynamische Vereinigung
von theoretischer und dsthetischer Formstruktur, die friher im konkreten
Begriff Hegels und in dem auf ihm fuBenden Begriff des Geistes und seiner
Entwicklung aufgezeigt wurde, ist die unerlafliche Voraussetzung dieses ver-
einheitlichenden Erfassens der Schénheit als Grundprinzips von Natur und

39 [Ebda. Bd. x., Abt. rr. 1843. S, 255. - Aufbau-Ausgabe, S. 585.]


40 (Kritik der Urteilskraft. § 45. Werke. Bd. 5. S. 381.]
4x [Ideen, 86, Prosaische Jugendschriften. Hrsg. von J. Minor. Zweite Aufl. Wien, Ko-
negen. 1906. Bd. x1. S. 298.]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 193
Kunst. Daraus folgt fiir die Objektstruktur der beiden Gebiete, da& der
organisch-konkrete Naturbegriff asthetisiert, der der Kunst theoretisiert wer-
den mu&; fiir die subjektiven Verhaltungsarten, daf sie, infolge der theore-
tisierenden Grundstruktur, weit iiber das Asthetische hinausgehend, dem
theoretischen Meinen und Verstehen sich annahernd, einander gleichgesetzt
werden miissen, zugleich aber, um das Streben auf substantielle Subjektivitat
erfiillen und die hier geforderte intellektuelle Anschauung verwirklichen zu
k6nnen, sowohl den theoretisch-konstruierten, wie den Asthetisch-stilisierten
Subjektsbegriff hinter sich zu lassen und einem Ideal des »ganzen Menschen«,
das aber als erreichbar gedacht wird, zuzustreben gezwungen sind. Diese Ein-
heit des Theoretischen und Asthetischen im kosmisch gewordenen Subjekt ist
am deutlichsten bei Goethe sichtbar geworden. Die Grofartigkeit jedoch, mit
der er beides sowohl in der gestaltenden Praxis Kunst und Natur gegeniiber,
wie in der eigenen Lebensfithrung realisiert hat, ist sehr geeignet, die unauf-
lésbaren Probleme, die darin verborgen sind, zu verdecken und den Anschein
zu erwecken, als ob eine gestaltete Lebenseinheit zugleich auch die systemati-
sche Vereinbarheit ihrer Elemente garantieren kiénnte. Dazu kommt noch,
da& er niemals den Versuch des systematischen Zusammendenkens unterneh-
men wollte, da& seine Problemstellungen und Fixierungen jeweils auf be-
stimmte Fragen gerichtet und nur symbolisch auf das letzte Zentrum bezogen
waren und deshalb vor allem aus diesen bestimmten Zusammenhangen zu
verstehen sind, so daf§ die Beziehung von Natur und Kunst zueinander und
ihre Zusammenordnung im Begriff der Schénheit je nach dem aktuellen Pro-
blem, auf das sie bezogen werden, ohne Inkonsequenz zu verursachen, ver-
schiedene Bedeutungen erhalten kénnen. Und der Mangel eines Willens zum
System muf diesen symbolisch-metaphysischen Empirismus Goethes auch phi-
losophisch als gerechtfertigt erscheinen lassen: der letzte Grund, der Kunst
und Natur vereinigt, ist ein Ratsel und muf es bleiben; alle Versuche kén-
nen sich nur auf das — allerdings zum Symbol des Alls gesteigerte - Ein-
zelne richten und kénnen deshalb, ihrem jeweiligen Gegenstand entsprechend,
divergierende Richtungen haben (Kunst und Natur genau trennen, unter
»Natur« in Beziehung auf Kunst anderes meinen, als wenn sie selbst zum
Objekt des Schauens geworden ist), wenn nur die grofe Gesinnung auf das
wahre Ganze - die hier das Subjekt Goethes garantiert — bewahrt bleibt.
»Die Unmiglichkeit«, sagt er, »Rechenschaft zu geben von dem Natur- und
Kunstschénen: denn ad 1. miiften wir die Gesetze kennen, nach welchen die
allgemeine Natur handeln will und handelt, wenn sie kann; und ad 2. die
Gesetze kennen, nach denen die allgemeine Natur unter der besondern Form
194 . Heidelberger Asthetik

der menschlichen Natur produktiv handeln will und handelt, wenn sie kann«.*
Durch eine solche Bestimmung erscheinen Naturschénheit und Kunstschén-
heit als genau getrennte, aber in einem unauffindbaren Zentrum dennoch
zusammengebundene Objektivationen desselben Geistes, der sich einmal in
den Phanomenen der Natur, das anderemal in den Gestaltungsformen der
Kunst auswirkt, dessen allerletztes Wesen jedoch, gerade wegen dieser unaus-
sagbaren Einheitlichkeit, etwas Metaisthetisches sein mu8. Die Vereinigung
von Theorie und Asthetik in der Gegenstandsstruktur beider beruht darauf,
da keine von beiden in Wahrheit etwas Letztes, ein an und fiir sich Gelten-
des sein kann, sondern ein notwendiges und je nach Notwendigkeit gehand-
habtes Mittel, das Subjekt zur kosmischen Schau der Urphanomene zu stei-
gern. »... so ruht der Stile, sagt Goethe, »auf den tiefsten Grundfesten der
Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sicht-
baren und greiflichen Gestalten zu erkennen.«‘* Damit treten die beiden
Forderungen der einheitlichen Denkbarkeit von Natur- und Kunstschénheit,
deren struktive Voraussetzungen wir in der Vermischung theoretischer und
sthetischer Formungsfaktoren in der Begriffsbildung und Methodik bereits
erkannt haben, klarer zu Tage: erstens die Notwendigkeit, in den objektiven
Aufbaukategorien der Natur die Formen der Asthetik als konstitutive Kate-
gorien nachzuweisen; zweitens die Notwendigkeit, die Formen der Kunst in
dem metaisthetischen, letzten Wesen des Universums zu verankern. Die un-
auflésbaren Antinomien jedoch, die aus beiden, auf diesem Boden unaus-
weichlichen Postulaten entstehen, offenbaren sich in voller Deutlichkeit erst
dort, wo mit dem systematischen Vereinheitlichen der Asthetik, als der Lehre
vom Schénen in Natur und Kunst, ernst gemacht wird. Fiir Goethe selbst
erwachst aus dieser »wahrhaft heldenmafigen Idee«, “ wie es Schiller nannte,
etwas Héheres und Gréferes: eine tiefe und erschiitternde, weil aus echtester
Notwendigkeit entsteigende Tragik; die Tragik der Unmiglichkeit, weder
auf Kunst noch auf Vereinigung mit dem All, auf das mystische Welterleben
in der Makarienform zu verzichten, die Faust-Tragik: das Unvereinbare
immer wieder zu vereinigen suchen zu miissen, die Faust-Tragik der inneren
Reinlichkeit, die jede lau-unklare Mischung von Heterogenen, jede banale
Verséhnung verbietet und auseinandergehende Wege dem nach der Einheit-

42 [Maximen und Reflexionen iiber Kunst. Jubiliums-Ausgabe. Bd. 35. S. 325.]


43 (Binfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil. A.a.0. Bd. 33. S. 57-]
44 [Brief an Goethe, 25. August 1974. Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Stuttgart,
Cotta. Bd. 1. S, 30.)
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 195

lichkeit lechzenden Geiste aufzwingt. Gundolf beschreibt in seiner Faustana-


lyse diese Tragik richtig und schén, wenn auch sein kiinstlerischer Formbe-
griff dem Goethes so verwandt ist, da& dadurch die Tragik von Goethes
Kiinstlertum nicht in voller Scharfe hervortreten kann. »Denn der blofe
Mystiker wird ohne tragischen Konflikt seine beschrinkte Form aufgeben,
um in das All oder in die Gottheit einzugehn. Der blofe Kiinstler wird ohne
tragischen Konflikt auf das Universum verzichten, um sich an der Nachbil-
dung ihrer Formen zu erbauen und zu befestigen. Jener braucht keine Form,
dieser keine Allheit.« 45
Hegel hat die Schwierigkeiten, die im Begriff der Naturschénheit liegen, mehr
intuitiv erkannt, als klar herausgearbeitet. Es ist ihm bereits von seinen frii-
hen Kritikern vorgeworfen worden, daf er einerseits seine Asthetik als Phi-
losophie der Kunst bezeichnet und so die Naturschénheit aus dem Gebiete der
Asthetik ausweist, andererseits aber dennoch nicht umhinkann, die Entwick-
lung des Schénheitsbegriffes mit der Natur zu beginnen und aus der in ihr
sich offenbarenden Schénheit die eigentliche, die der Kunst sich entwickeln zu
lassen. Darum deutet er die Antinomie der Naturschénheit blo an: das Na-
turschéne erscheint »nur als ein Reflex des dem Geiste angehdrigen Schénen«
und die Asthetik kénne sich ruhig auf die Kunst beschranken, »denn soviel
auch von Naturschénheiten ... die Rede ist, so ist doch wohl noch Niemand
auf den Einfall gekommen, . .. eine Wissenschaft, eine systematische Darstel-
lung dieser Schénheiten machen zu wollen.«* Daf hierin aber mehr ein
Ausweichen vor dem eigentlichen Problem als seine Lésung vorliegt, zeigt sich
darin, da& er doch einen, wenn auch skizzenhaften und diirftigen Abrif des
Aufsteigens und des Substantiellerwerdens der Schénheitsidee von der leb-
losen Natur des Krystallinischen bis zum Organismus und zum Menschen
gibt und damit das oben ausgesprochene Ausstreichen der Naturschinheit
aus der Asthetik doch zuriiccnimmt. Diese Schwankung ist sehr charakteri-
stisch, da man sie sowohl bei den Vorgangern Hegels beobachten kann, wie
auch dadurch, da seine Nachfolger, die dem Problem nicht ausgewichen sind
und die von ihm fast spottend abgewiesene Systematik der Naturschénheit in
Angriff nahmen, auf die unaufléslichen Schwierigkeiten, die hier verborgen
sind, stoSen muften. Das auffalligste Symptom, da& das Zum-Begriff-erhe-
ben der Naturschénheit die heillos unsicheren Grundlagen dieses Begriffes

45 (Goethe. Berlin, Bondi. 1916. S. x31.]


46 [Vorlesungen iiber die Asthetik. Werke. Bd, x. Abt, 1. S. 5. — Aufbau-Ausgabe. S. s0.]
196 Heidelberger Asthetik

aufweisen muf, zeigt sich schon darin, daf& das Setzen der Naturschénheit zu-
gleich ein Mitsetzen ihrer Zufalligkeit ist. Das Schdne in der Natur, selbst
wenn es als das Sichauswirken kosmischer Krifte gefa&t wird, vermag sich
niemals mit eindeutiger Notwendigkeit zu objektivieren, und weder die Be-
dingungen seines Hervortretens noch die es kreuzenden Hemmungen sind
einer Begreifbarkeit fahig. Diese von Goethe, wie wir sahen, vorsichtig for-
mulierte, auch bereits von Kant angedeutete Problematik (er spricht in der
»Kritik der teleologischen Urteilskraft« von der Naturschénheit »als eine
Gunst, die die Natur fiir uns gehabt hat«, im betonten Gegensatz zu dem
Standpunkt der Asthetik, wo »wir... die schéne Natur mit Gunst« ‘7 an-
sehen) stellen Vischer und Weisse in den Mittelpunkt ihrer Spekulation iiber
Naturschénheit. Vischer stellt das Problem mit voller Klarheit und Folge-
richtigkeit: wenn in der Schénheit der Natur etwas — sowohl fiir die Natur,
wie fiir die Schénheit — Konstitutives aufzufinden wire, so »miifte in der
Asthetik ein das Schone schaffender Wille sein vor diesem Willen, d.h. ein
Kiinstler miifte da sein, ehe wir das Naturschéne haben, das dem Kiinstler
vorliegt«,#® und er erblickt zugleich in voller Scharfe, da& damit die
Kunst mediatisiert werden muf und nur eine neue Wendung zur platonischen
Verwerfung der Kunst zu erreichen ist. Die Schénheit haftet also der Natur
»zufallig« an; von den Kriften, die die Natur aufbauen und gestalten, kann
sie hervorgetrieben, kann aber sogleich wieder aufgehoben oder vernichtet
werden, und als Aufgabe des Kiinstlers erscheint es, diese »Gunst des Zu-
falls« gestaltend festzuhalten, wie als Aufgabe des Philosophen der Kunst,
ihre Méglichkeiten, Bedingungen und die Systematik ihrer konkreten Erfiil-
lungen im Reiche der Natur spekulativ klarzulegen. Damit ist der Asthetik
der Natur eine offensichtlich unlésbare Aufgabe gesetzt: sie hat eine Systema-
tik aufzustellen, deren Prinzip die zufallige Coinzidenz unbekannter Katego-
rienreihen ist. Denn die eine, die der Natur, mu wenn auch nicht als villig
unbekannt, so doch wenigstens als von problematischer Erkennbarkeit ge-
dacht werden, da sonst das In-Erscheinung-treten der Schénheit in der Natur
nicht zufallig, sondern notwendig sein miifte, und Asthetik und spekulative
Naturphilosophie zusammenfallen wiirden. (Einen Versuch dieser vélligen
Vereinheitlichung hat Oersted unternommen, wurde jedoch blo& durch die
Unklarheit seiner Begriffsbildung vor dem Einsehen-miissen der notwendi-

47 (Kritik der Urteilskraft. § 67. Werke. Bd. 5. S. 458-459.]


48 [Asthetik oder Wissenschaft des Schdnen. § 233, Reutlingen ~ Leipzig, Made. 1847.
Zweiter Theil. S. 6.]
Entwicklungsphilosophische Schonheitsidee 197

gen Folgen, des Zuriidkfallens in die abstrakte Transcendenz des Platonis-


mus und damit des villigen Aufhebens der Kunst gerettet.) Und die andere
Kategorienreihe, die der kiinstlerischen Formen, mu8 ebenfalls — auf dieser
Stufe der Erkenntnis ~ als unbekannt gesetzt werden. Wenn niamlich die
»Gunst des Zufalls«, das Einanderentgegenkommen der Naturerscheinung
als solcher und der Forderung, die der Kiinstler von den Bedingungen seiner
Form aus an die zum Gestalrungsubstrat werdenden Erscheinungen stellen
muf&, in den klar begriffenen Formen der Kiinste die Erklarung und Auflé-
sung findet, so ist die Naturschénheit — als wenn auch noch so relativ selb-
stindiger Bestandteil der Asthetik — zu nichts geworden. Dann mu den
allein und nur aus eigener Selbstherrlichkeit konstitutiven Formen der Kiinste
eine ungeformte An, etwas — kiinstlerisch — schlechthin »Irrationelles« ge-
geniiberstehen, auf das die asthetischen Werturteile (hier »schén«) geradeso-
wenig angewendet werden kénnen, wie das Pradikat »wahr« auf Erlebnis-
elemente etwa, die noch nicht durch Umschlossenheit von der theoretischen
Form in die Sphare des Logos erhoben worden sind, Vischer beantwortet die-
ses Dilemma — aus Griinden, auf die spater noch zuriickzukommen sein wird
— mit einem Kompromif. Die Lehre von der Naturschénheit soll eine »Phy-
siognomik der Natur« werden, wo »unter der Voraussetzung des gliic-
lichen Zufalls das Eigentiimliche der Schénheit jeder Hauptstufe in ihren
Gattungen und Arten zu betrachten« ® ist; und ihre Methode ist ein »Hand
in Hand gehen« der Asthetik und der Naturwissenschaft. Es kann hier un-
miglich unsere Aufgabe sein, die absurden Konsequenzen, die sich aus dieser
unméglichen Aufgabe ergeben, im Einzelnen aufzuweisen; es kommt nur dar-
auf an zu zeigen, wohin das systematische Vereinigenwollen des Unverein-
baren einen so bedeutenden Denker wie Vischer fiihren mufte. Das Inventar
samtlicher Natur- und Kulturerscheinungen, die Vischer ausbreitet, kann als
Grundlage nur die reine Willkiir haben, denn das Auswahlprinzip, wonach
die einzelnen Gattungen, Arten und Individuen schén, ha8lich, erhaben, he-
roisch etc. sind, liegt weder in ihrer eigenen gegenstindlichen Beschaffenheit,
noch in der Gegenstandsstruktur der Kunstformen; ist also véllig prinzipien-
los und willkiirlich, einmal sich an konventionelle Begriffe des Alltagslebens
anlehnend, ein anderesmal die bereits vollzogenen Gestaltungen der historisch
vorliegenden Kiinste — methodisch unberechtigt und darum wahllos — her-

49 [Ebda, § 235. S. 13.]


so [Ebda, S, 12.]
198 Heidelberger Asthetike

beiziehend u. s. w. Diese Physiognomik der Natur kann also weder eine Er-
fillung der Natur, noch eine Vorform der Kunst sein.
Weisse hat den anderen Weg, den folgerichtigen eingeschlagen. Er kehrt des-
halb, ebenfalls konsequenterweise, das Problem des Zufalls um. Die Schén-
heit ist »als eine unbegrenzte Méglichkeit innerhalb der Natur gesetzt«, die
»durch das In- und Gegeneinanderwirken der Naturkrafte und das Zusam-
mentreffen der Naturgegenstande unablassig in Wirklichkeit umgesetzt, aber,
eben so unablissig auch wieder aufgehoben wird.«*! So weit wire freilich
die Obereinstimmung des Ausgangspunktes und der Problemstellung in einer
grofen Nahe zu der Vischers. Weisse aber erblickt gerade in dieser Méglich-
keit, in diesem Dennoch-zur-Wirklichkeit-werden des Schénen in der Natur
etwas Hoheres, als die Gestaltungen der Kunst zu sein vermégen. Denn in der
Naturschénheit, wenn sie hervortritt, ist der Zufall wirklich bezwungen und
aufgehoben, wahrend die Kunst ihn »als ein ihr feindseliges von sich entfernt
halten mufte, um die Reinheit ihrer Gebilde nicht zu triiben und ihren Ein-
druck zu stéren.« * Die Geschlossenheit und die Selbstvollendung der Kunst
erscheinen also als Zeichen ihrer Negativitat: sie ist die erste, konkrete Ob-
jektivierung der Idee der Schénheit, nachdem in der Selbstentwicklung des
Begriffs (im Weg vom abstrakten Begriff der Schénheit zum Ideal) »gleich-
sam der Boden des Geistes geebnet ist, der ihre wirklichen Gestalten aufneh-
men soll.«® In der Kunst verwirklicht sich das Schéne in voller, ungetriib-
ter Reinheit, denn ihre Sphare ist nicht mehr das Ringen des Begriffes um
seine eigene Klarheit und noch nicht die echt-konstitutive, das All durch des
Geistes wahrhaftige Kraft durchdringende Idee, die sich angemessen nur in
dem Ubersichhinausgehen der Schénheit werden kann: in der Liebe, auf dem
Wege zu Gott. Die Naturschénheit erhilt so eine eigenartige Stellung im Sy-
stem: einerseits ist sie der Natur selbst gegeniiber durchaus zufallig und be-
wahrt deshalb ihre villige Unabhangigkeit ihr gegeniiber und entgeht dem
Schicksal, in der Naturphilosophie aufzugehen, andererseits ist sie von dem
kategoriellen Aufbau der Kunst in den Kunstformen gleichfalls unabhangig,
denn sie ist, ihrer Idee nach, eine bereits der letzten Einheit nahende Vereini-
gung des géttlichen Lichtes, das in den Gestaltungsformen der Kunst, wie das

s1 [System der Asthetik als Wissenschaft von der Idee der Schénheit, Leipzig, Hartmann.
1830, Zweiter Theil. S. 423.)
52 [Ebda, S. 425.]
53 [Ebda, S. 5.]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 199

Licht in der Atmosphire, sich in den verschiedenen Farben ausgebreitet hat.


Darum kann auch, ohne Inkonsequenz, die naheliegende, aber die ganze Sy-
stematik ins Absurde ziehende Folgerung abgewiesen werden, als ob aus die-
sem hierarchischen Héherstehen der Naturschénheit die asthetische Uberle-
genheit der einzelnen Naturerscheinungen vor den Gestaltungen der Kunst
abzuleiten ware. Der Vorzug der Naturschénheit besteht vielmehr in der
grdéeren Bedeutsamkeit, die ihrer Totalitat fiir das Gesamtleben des Geistes
vor der Totalitaét der Kunstschénheit zukommt. Diese Uberlegenheit, die
Weisse als die der »Lebendigkeit« bezeichnet, ist der frither erwihnte bewil-
tigte Zufall: die das Reinwerden und das Zu-sich-kommen des Geistes tren-
nenden und kreuzenden Prinzipien. Die Hindernisse auf dem Wege zu Gott
werden hier wirklich tiberwunden; die vereinzelten und immer wieder zu-
nichte werdenden Siege der Schénheit in der Natur iiber die Machte der
Gleichgiiltigkeit und der Hiflichkeit sind echtere als die endgiiltigen, aber
ebendeshalb erstarrten, einer Weiterfiihrung unfahigen und darum — meta-
physisch — blo& scheinbaren Siege in den Werken der Kunst. So kehrt sich,
ebenfalls konsequenterweise, das Verhaltnis der Kunst, beziehungsweise der
kiinstlerischen Tatigkeit zum Schénen in der Natur um. Wahrend fiir die
ganze klassische Asthetik die Naturschénheit als eine Vorform der Kunst er-
scheint, wird hier die Kunst von der Naturschénheit nur deshalb nicht iiber-
fliissig gemacht, weil »der Geist der menschlichen Individuen, so wie der des
Geschlechts und seiner Geschichte, die Idee nur durch selbstschépferische Tha-
tigkeit vollstindig fiir sich gewinnen und in Besitz nehmen kann.«™ (Es sei
hier nur beilaufig an die struktive Verwandtschaft dieser transcendierenden
Metaphysik mit dem Positivismus Fiedlers erinnert, als erneuter Beweis da-
fiir, da& jede Asthetik — und sei sie noch so positivistisch und noch so sehr
»aus der Seele des Kiinstlers« geschrieben — zu platonisieren gezwungen ist,
wenn sie ihren Ausgangspunkt nicht in dem allein méglichen »Analogon einer
Tatsache«, in dem Werk verankert.)
Das von Plotin Erstrebte, das Einschalten der kiinstlerischen Tatigkeit in den
Proze& des Aufstieges zum Absoluten, ohne deshalb die im Werk erstarrte
Kunst seiner Weihe teilhaftig werden zu lassen, ist hier erfiillt; damit kehrt
aber dieser konkret sein wollende Idealismus zur abstrakten Transcendenz
des Platonismus zuriick. Indem das eigentlich Substantielle — der Genius und
die Naturschénheit — hierarchisch jenseits der Kunst beginnt und die Asthe-

54 [Ebda, S. 426.]
200 Heidelberger Asthetik
tik ihre Erfiillung in dem aus der Naturschénheit - als dem Genius in objek-
tiver Gestalt — zu sich heimkehrenden Geist, auf der Stufe der Liebe findet,
so ist hierdurch das platonische Verwerfen der Kunst wiederhergestellt, und
selbst ihre Rolle als dialektische Etappe erscheint als etwas Gekiinsteltes, als
eine Kapitulation vor der empirischen Realitat der Kunst, als ein Kompro-
mi. Denn zu der — echt platonischen — intellektuellen Anschauung der Liebe,
in der »sich die concrete Einzelheit des gegenstandlichen Schénen, zugleich mit
der substantiellen Schénheit, ... zur organischen Einheit dergestalt [abrun-
det], da® das Anschauen selbst wieder Gegenstand fiir das Angeschaute
wird«, 5 ist der Weg iiber die Naturschénheit evidenterweise notwendig, die
Kunst jedoch, wenn auch als unterste Vermittlung, nicht nur iiberfliissig, son-
dern der inneren Struktur des Systems geradezu widersprechend. Die schein-
bare und oft kritisierte Inkonsequenz Weisses, da er das Genie nach der
Kunst behandelt, ist nur ein Symptom der Unldsbarkeit seiner Aufgabe: der
Kunst im platonischen System eine Stelle zuzuweisen. Die systematische Be-
deutung des Genies und seiner »kiinstlerischen« Tatigkeit liegt ja hier nicht
im Schaffen des Werks, sondern in dem fiir die Menschen Erarbeiten der
Naturschénheit, das Werk ist dabei nur Mittel, dessen Wert nur an dieser
seiner weiterfiihrenden Potenz zu messen ist, das als Werk, als in sich Ruhen-
des, als Eigenwert hier etwas véllig Undenkbares ist. Die wirkliche Inkonse-
quenz Weisses liegt also darin, da er den menschlichen Anteil an dem Be-
wuftmachen der Naturschénheit doch an die Kunst ankniipft und ihn mit der
kiinstlerischen Tatigkeit identifiziert, wo doch das, was mit ihm wirklich ge-
meint werden kann, mit dieser innerlich nichts zu tun hat; wenn sich auch
zwischen ihnen in der Empirie Coinzidenzen aufweisen lassen, so kénnen
diese das Nichtzusammengehéren ihres Wesens doch nicht aufheben. Denn
die kiinstlerische Tatigkeit ist, auch fiir Weisse, von dem Gerichtetsein auf
das Werk nicht freizumachen; sie kann sich nur im an sich fremden Stoff
uBern, ist innerlichst an ihn gebunden, so »da in ihr das geistige Erfinden
der Schénheit von dem technischen Ausfiihren oder dem Behandeln des me-
chanischen Stoffes gar nicht so scharf getrennt ist.« ** Die Leistung des Genies
muf sich also in diesem Kampf und in dem hier errungenen Siege auern,
dessen Resultat nur das in sich geschlossene Werk sein kann, das jedoch -
nach Weisses bereits angefiihrten Worten — den Zufall nicht bewiltigt, son-

55 [Ebda, S. 479.]
56 [Ebda, S. 7]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 201

dern von sich fernhalt und deshalb unter das Nivau der Naturschénheit her-
absinkt. Die wirkliche Intention auf »Lebendigkeit«, das standige Bereitsein
und Sich-offen-halten fiir das Héhere, zu dem Aufstieg, kann sich, phycholo-
gisch, auch im Schaffensprozef vorfinden, gehért aber nicht zu dessen We-
sensbestimmtheit; die Richtung dieser Intention liegt vielmehr in einem Sub-
stantiellwerden des Subjekts durch die ergriffene Anschauung des geheimnis-
vollen und doch innig verwandten Geistes, der sich in der Schdnheit der Na-
tur offenbart, in einem theoretisch-mystischen Verhalten der Natur gegen-
tiber, das dem Goethes in dieser Beziehung sehr nahekommt. Die einzige In-
konsequenz, die diesem spekulativ tiefen und folgerichtigen System der Schon-
heit vorgeworfen werden kann, ist also blo& — daf es eine Asthetik ist; in
ihm zeigt sich am krassesten, da die zu Ende gedachten Begriffe von Schén-
heit und Kunst sich gegenseitig aufheben miissen.
Die friiher aufgewiesenen Schwankungen in Vischers Bestimmung der Natur-
schonheit stammen zum grofen Teil aus dem Bemiihen, diesen Konsequenzen
zu entgehen und der Naturschénheit eine Stelle im System zu sichern, ohne
die Kunst mediatisieren zu miissen. Die Hauptschwierigkeit, die wir bis jetzt
nur in ihren Folgen beobachten konnten, liegt in dem Begriff des Zufalls als
konstitutiver Kategorie der Naturschénheit. Diese Schwierigkeit ist unauf-
hebbar, denn fiir diesen Systemtypus muf es derselbe Geist sein, der sich in der
Schénheit sowohl von Natur wie von Kunst verwirklicht; wenn also der
Kunst als Erscheinungsform des Geistes eine wirkliche Bedeutung im System
zukommen soll, so muf die Objektivation der Schénheitsidee in der Natur
eine unvollkommene sein, die ihre wahre Erfiillung erst in der Kunst findet.
Andererseits darf auch diese Erfiillung nicht die hdchste Stufe des sich errei-
chenden Geistes sein, denn sonst ist die Schellingsche Identifizierung von Phi-
Josophie und Kunst mit ihren bereits behandelten Antinomien unvermeidlich.
Der Zufall, der bereits in dem Hegelschen Begriff von der »Prosa der
Welt« 57 eine groSe Rolle spielt, liegt in der Unangemessenheit von Idee
und Erscheinung, die die Schénheit im Konkret-Sinnlichen zur Verséhnung
bringen soll; »das Schéne ist also die Idee in der Form begrenzter Erschei-
nung«,®® sagt Vischer. Die Unangemessenheit, die als zu lésendes Problem

57 [S.: Vorlesungen iiber die Asthetik, Werke. Bd. x. Abt. 1. S. 189. - Aufbau-Ausgabe.
S. 178]
58 [Asthetik oder Wissenschaft des Schénen. § 14, Reutlingen - Leipzig, Mack. 1846, Erster
Theil. S. 54.]
202 Heidelberger Asthetik
aufgegeben ist, ist die der Idee und der Erscheinung oder, was hier das
Gleiche besagt, die der Gattung und des Individuums. Das Individuum und
die Gattung sind in Beziehung aufeinander zufillig, d.h. sie sind zwar un-
zertrennlich aneinander gekniipft - das Individuum kann nur als der Gat-
tung zugehirig erscheinen, und die Gattung kann sich nur in den Individuen
verwirklichen — ihr Zusammenhang haftet aber beiden blo& auferlich an;
weder ist das Individuum aus der Gattung deduzierbar, noch ist die Gattung
im Individuum in restlos-addquater Sinnfalligkeit gegenwértig. Hier soll
die Idee der Schénheit die Verséhnung bringen. Sie kann und soll die Zu-
falligkeit dieser Bezichung nicht aufheben, dies ist der Wahrheit vorbehal-
ten; ihre Aufgabe ist, den blo& stérenden Zufall, der aus den einander in
Raum und Zeit begegnenden, verschiedenen und heterogenen Gattungen trii-
bend entsteht, von der Gestalt fernzuhalten und Individuum und Gattung
in eine dynamisch-sinnfallige Einheit zu bringen, in der die widerstreitenden
Momente einander zur Klarheit und ihrer Einheit zur Erfiilltheit verhelfen.
So soll in der Schénheit ein dem Sinne der Welt innewohnendes, in ihr jedoch
blof& »zufallig« zur Erscheinung werdendes Ideal realisiert werden: »Das
Schéne kann nunmehr bestimmt werden als eine Vorausnahme des vollkom-
menen Lebens oder des héchsten Guts durch einen Schein.«* Dieser Schein,
das rein Formale der Schénheit, das dadurch entsteht, daf das zur Gestalt,
zum Bild gewordene Individuum aus allen triibenden Zusammenhingen her-
ausgehoben wird und die Momente der Verséhnung von Gattungsmafigkeit
und Individualitat auf die sichtbare Oberflache heraustreten, fihrt zur Pro-
blemstellung der »Kritik der Urteilskraft« zuriick: wir haben hier die syste-
matische Synthese aller Strémungen, die in ihr getrennt waren, vor uns; diese
Schénheit hat die anschauende Urteilskraft in einem Zusammen des Astheti-
schen und des Teleologischen zur Grundlage. Damit ist freilich auch ihr nicht
asthetischer Charakter bestimmt. Kant, der diese Problematik wohl empfun-
den haben mag, will die Reinheit und die Autonomie des Asthetischen durch
strenge Wahrung seiner blo& subjektiven Wesensart retten, muf jedoch, wie
gezeigt wurde, sobald er zur Gegenstindlichkeit iibergeht, zum Theoretischen
transcendieren. Fir den konkreten, nicht mehr blof& formellen Idealismus
Vischers kann diese Lésung nicht ausreichen, er ist gezwungen, von diesen
Voraussetzungen aus eine asthetische Gegenstandlichkeit zu deduzieren. Durch
dieses Konkret- und Gehaltvoll-werden hebt sich jedoch sein Schénheitsbe-

59 [Ebda, § 53. S. r45.]


Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 203

griff selbst auf. Vor allem muf, wie iiberall, wo in einem philosophischen
System der Wahrheit und der Schinheit gleichgerichtete Aufgaben in einem
homogenen Stoff gestellt sind, die Wahrheit die Schénheit mediatisieren, sie
wird zu einer unvollkommenen Vorstufe der Wahrheit. » Wenn die Schénheit
den Gegensatz des Allgemeinen und Einzelnen scheinbar auf Einem Punkte
lést, so 1ést ihn die Wahrheit tiberhaupt und im Ganzen. Die Wahrheit setzt
nicht das Allgemeine und Notwendige und la&t das Einzelne und Zufallige
liegen, sie begreift jenes in diesem, fiir den aufgelésten Schein der unmittel-
baren Einheit gibt sie die scheinlose vermittelte Einheit, ...«®° Aber hiervon
vorlaufig ganz abgesehen, liegt dem Begriff des »reinen Scheins« — in der zu
seiner Erfillung unvermeidlichen Verkniipftheit mit der Idee als Gattung —
eine ahnliche unauflésbare Antinomie zu Grunde, wie der Naturschénheit
Weisses. Denn in dem »reinen Schein« als Einheit von Gattung und Indivi-
duum verschlingen sich zwei heterogene Problemreihen: entweder ist die so
erreichte Einheit das wirkliche Innewohnen der Gattung im Individuum, dann
haben wir einen Fall der Gegenstandsbildung des intellectus archetypus vor
uns, ein Urphanomen im Sinne Goethes, wobei jedoch der Sichtbarkeit im
»reinen Schein« nur die Rolle eines Mittels zukommen kann, oder ist das im-
manente Geschlossensein der zur Oberfliche getretenen, ungehemmt sich aus-
lebenden Momente das Entscheidende, also der Asthetische Sinn des »reinen
Scheins«, dann kann das hierdurch Erreichte mit der Idee der Gattung nichts
zu tun haben, dann muf die in sich ruhende Vollendung des Gegenstandes
aus den formenden Kategorien der Oberflache, aus autonom Asthetischen Ka-
tegorien ihre Geltung ableiten. Die Vereinigung beider Prinzipien in diesem
Akt, wie bei Vischer, wiirde zur Voraussetzung fiihren, da8 die intuitive Sub-
sumtion des Einzelnen unter die Idee der Gattung, die Lésung des Kantschen
Spezifikationsproblems, den Formen der Kiinste notwendig und in a priori
deduzierbarer Weise zugeordnet ist; d.h. jeder Méglichkeit einer solchen
Subsumtion miifte eine bestimmte Kunstform entsprechen und jeder diirfte
nur eine entsprechen. Das System der Kiinste wiirde, als letzte Folge dieser
Annahme, das System der mdglichen Spezifikationen der Naturerscheinungen
sein; die asthetische und die reflektierende teleologische Urteilskraft Kants
mii&ten sich also in einer intuitiv bestimmenden Urteilskraft vereinigen, und
die Asthetik ware wieder in Naturphilosophie aufgelést.
Vischer versucht diese Antiomie dadurch aufzuheben, daf er der Naturschon-
heit einen Erfiillungsort als Vorform des Kiinstlerischen zuweist: »das Na-

60 [Ebda, § 69. S. 173.)


204 Heidelberger Asthetik

turschéne ... [ist] bestimmt, Ausgangspunkt und Stoff zu werden.« *! Hier-


durch wird die Schwierigkeit nur abgeschwacht und auf einen anderen Punkt
verlegt, aber nicht gelést. Denn Stoff bedeutet fiir Vischer »die Idee, wie sie
irgend einmal, abgesehen von der Kunst, Form angenommen hat; der Kiinst-
ler findet diesen so weit schon geformten Stoff in der Erfahrung vor und
wahlt ihn zur Umbildung in die reine Form.«® Das Problem lautet in die-
ser neuen Wendung so: wenn der Stoff schon vorkiinstlerisch geformt ist, wor-
auf beruht diese seine Geformtheit und was ist das Neue, das die kiinstlerische
Tatigkeit dann an ihm leistet? Hier tritt die Unlésbarkeit der Aufgabe in
unvermilderter Schroffheit zu Tage, und es ist Vischer jedenfalls als groSes
Verdienst anzurechnen, daf er durch seine ausfiihrliche und ins Einzelne ge-
hende Behandlung diese Schwierigkeiten klar hervortreten lat, die bei Hegel
etwa durch die mehr andeutende Darstellung verborgen geblieben sind. Die
Antinomie besteht im Wesentlichen darin, da& wenn die Geformtheit des
Stoffes als asthetisch konstitutiv und relevant anerkannt wird, die Tatigkeit
der Kunst zur Scheinbarkeit herabsinkt, sie ist nur ein Deutlicher-Machen von
etwas bereits normativ Gegebenem, so daf& der Wertmafstab ihrer Leistung
im — doch auferasthetischen — Gegenstand liegt und dadurch die Autonomie
der Asthetik aufgehoben wird; wenn hingegen die kiinstlerische Tatigkeit
eine radikal und qualitativ neue Setzungsart ist, mu das Geformtsein des
Stoffes zerschlagen und dadurch die Naturschénheit asthetisch vernichtet wer-
den. Vischer mufte sich nach der ganzen Art seiner Problemstellung fiir den
ersten Weg entscheiden. Um die kiinstlerische Tatigkeit doch zu retten und sie
mit dem Bestehen und Gelten der Naturschénheit in Einklang zu bringen,
konstruiert er sie und ihr Organ, die Phantasie, als etwas rein Subjektives.
Diese Subjektivitat soll zwar ideenhaft, d. h. produktiv, von autonomer Be-
wegtheit und auf das Wesen gerichtet sein, ist aber, um zur wahren Produk-
tivitat zu kommen, auf die Naturschénheit, die sie als Stoff »zufallig« vor-
findet, angewiesen. (Das Zufillige ist hier im Sinne des Goetheschen »Tychee,
der produktiv-machenden Gelegenheit zu verstehen, worin auch das nicht rein
Asthetische des Vischerschen Subjektbegriffs sichtbar wird: denn dieses Auf-
einandertreffen von Erlebnisform und Erlebnis kann nur vom »ganzen Men-
schen« aus, also biographisch etwa, als zufallig gefa&t werden, fiir das asthe-
tische Subjekt des Schaffenden kann es nicht einmal zu der Fragestellung
kommen, ob sein zum Werk fiihrendes »Erlebnis« zufallig oder notwendig

6x [Ebda, § 233, Zweiter Teil. S. 8.)


62 [Ebda, § 55. Erster Teil. S, 11.]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 205

sei: es ist die transcendentale Bedingung der Méglichkeit des Werks — und
damit des dsthetischen Subjekts des Schaffenden selbst.) Abgesehen von den
Fragen, worin diese Produktivitat bei dieser Angewiesenheit besteht und wie
sie ohne gegenstandlichkeitschaffende Wesensart denkbar ist, entsteht die
Schwierigkeit, da alles Richtunggebende in das Objekt, in den Stoff gelegt
wird. Der Stoff wird so zum Leiter und Correctiv des Schaffensprozesses,
denn, sagt Vischer, »man wird, wenn man nicht so verfahrt, immer das Sub-
jekt behalten, das nun herumsucht, mit Absichtlichkeit irgend eine Idee in
irgend ein Objekt legt, und es ist kein Grund da, warum es nicht die Idee der
Freiheit in die Form eines Thiers, die Idee des Staats in den Korper eines
Steins u.s.w. lege.«* Aber wir wissen, da dieses Correctiv selbst der
Correctur bedarf: das Naturschéne ist noch getriibt, zerstreut und verwor-
ren, und es ist an ihm noch die Arbeit der Ballung und der Konzentration von
néten. Diese Arbeit vollzieht sich natiirlicherweise in die Richtung seiner im-
manenten Intendiertheit, in die Richtung auf die im Einzelnen sinnfallig ge-
wordene Gattung; es ist eine Leistung, »welche die im naturschdnen Gegen-
stand schon gegebene, aber unvollkommene Zusammenziehung an ihm fort-
setzt und so vollendet, daf in seiner ganzen Form, was individuelle Bindung
der Idee ist, durch ein verhiilltes Zuzahlen aus den umschwebenden Gat-
tungsbildern erganzt wird, was diese Bindung strt, durch ein verhiilltes Ab-
zahlen ausgeschieden unter diese zerflie&t, und so dieselbe in voller Reinheit
hervortritt.« (Dieses Zusammenfallen von Idee und Gattung in der zur
Gestalt gewordenen Schénheit ist fiir den ganzen konkreten Idealismus un-
vermeidlich; nicht nur aus den verschiedenen Asthetiken dieser Richtung lie-
en sich zahllose Beispiele dafiir aufzahlen, sondern auch die Kunstbetrach-
tung Goethes ist sehr wesentlich davon bestimmt; ich verweise blof auf den so
tiefempfundenen Aufsatz »Myrens Kuh«. Vischer zieht also auch hier blo&
alle methodischen Konsequenzen einer Problemstellung, die aber als solche
gar nicht von ihm selbst stammt.) Um diese Arbeit vollbringen zu kénnen,
mu8 das schdpferische Subjekt den gattungsmiaig-ideenhaften Gestaltungen
der Natur zuordnbar sein: die Phantasie differenziert sich in »landschaft-
liche, thierische, menschliche und zwar entweder allgemein mensdbliche oder
geschichtliche Phantasie. Auch diese Arten verzweigen sich zu einer reichen
Reihe von Unterarten, die den engeren Kreisen dieser Reiche zugetheilt sind.«®5

63 [Ebda, § 393. Zweiter Teil. S. 339.]


64 [Ebda, § 396. S. 347-]
65 [Ebda, § 403. S. 373.]
206 . Heidelberger Asthetik

So erscheint die Naturschénheit als das wahre schépferische Prinzip der Kunst,
indem sie das, was sie an sich, in ihrer unmittelbaren Erscheinungsform zur
Vollendung zu bringen unvermigend war, auf dem Umweg durch das Sub-
jekt, in dessen Phantasie ihre Tendenzen zur Produktivitat reifen, realisiert.
Thre Rolle ist aber auch hierdurch nicht erschépft: das zusammenballende
Weiterfiihren des Naturschénen in der Phantasie erscheint als deren »Schulde:
die Objektivitat des Naturschinen ist aufgehoben, es mu nun aber iiber die
blo&e Subjektivitét der Phantasie auch hinweggeschritten werden, um die
endlich erfiillee Objektivitat der Kunst zu erringen. Hier kehrt die Phantasie,
gleichsam um diese ihre Schuld abzubiif&en, zur Naturschonheit wieder zu-
riids und vermag ohne diese Riidkkehr ihren Weg zur Objektivitat, zum
Kunstwerk nicht zuriickzulegen. Erst damit hat das Naturschine seine Be-
stimmung erfiillt: »es besteht neben der Phantasie ebensosehr als ihr Cor-
rectiv, als sie sein Correctiv ist.«® Nur durch dieses ihr Zusammenwirken
kénnen beide die stérenden Zufalligkeiten, die ihnen anhaften, ausmerzen
und das Ideenhafte zur Wirklichkeit »in einem idealen Scheinbilde« §? auf-
bliihen lassen.
Die Ausfiihrlichkeit dieser Analyse kann sich blo& dadurch rechtfertigen,
daf hier der Punkt des Versagens der konkreten Schénheitsidee, als Erschei-
nungsform des einheitlichen Geistes, zur Begriindung der Asthetik mit Han-
den greifbar wird. Es zeigt sich in diesem ganzen scharfsinnigen und kunst-
reich erdachten dialektischen Gang die Unmdglichkeit zur autochthonen
Kunstform zu gelangen, denn alle Momente, die dem Naturschénen als wei-
tertreibende zugesellt werden, haben mit ihm Gehalt und Struktur — die im
Einzelnen intuitiv und adaquat erfafte Gattungsidee — gemeinsam. Die
Asthetik des konkreten Idealismus vermag also die spezifisch asthetische Ge-
genstandlichkeit nicht abzuleiten und zu begriinden, sie bleibt, was ihr ihre
Gegner stets vorgeworfen haben, blo&e »Gehaltsasthetik«. Mit dieser Fest-
stellung soll jedoch den hauptsiichlichsten Vertretern dieser Richtung, der
Herbart-Zimmermannschen »Formisthetik« nicht recht gegeben werden; denn
indem diese das Asthetische in einer von jedem »Inhalt« abgelésten »Forme
erblicken, theoretisieren auch sie die Asthetik nur in abstrakter Weise und
gelangen zu einem Platonismus ohne Metaphysik oder mit abgeblaSter und
unintensiver, aber nichtsdestoweniger abstrakter Transcendenz und sind des-

66 [Ebda, §513. Dritter Theil. 1851. S. 84.]


67 (Ebda)
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 207

halb geradeso unvermigend, zu einer Begriindung der asthetischen Gegen-


stindlichkeit zu gelangen, wie Hegel oder Vischer mit ihrer Intention auf
konkrete Gehaltserfiilltheit. Wenn etwa Herbart sagt: »Der Stoff und das
ihm eigene Interesse dient, in der Regel zum Verbindungsmittel (gleichsam
zum Geriiste) fiir ein sehr mannigfaltiges, daran gefligtes Schénes. Die Ein-
heit eines Kunstwerks ist nur selten eine dsthetische Einheit . . .«,** so zeigt
es sich ganz klar, daf eine Kritik, die von diesem Standpunkt ausgeht, den
konkreten Idealismus nicht einmal verstehen, geschweige denn treffen und
tiberwinden kann,
Der Grund der Unfahigkeit des konkreten Idealismus, die Setzung des asthe-
tischen Gegenstandes zu vollziehen, liegt in der Durchdrungenheit seiner ur-
spriinglichen, allgemeinen, auf den ganzen Kosmos des Erkennbaren gerichte-
ten Setzungsart von Asthetischen Formelementen, die freilich, wie gezeigt
wurde, auf jeder Stufe mit theoretischen unauflésbar vermischt sind. Durch
diese asthetische Wesensart jeder philosophisch relevanten Gegenstindlich-
keit kénnen erst Natur- und Kunstschénheit auf die hier erstrebte Homoge-
neitat und tibergangsreiche Vergleichbarkeit gebracht werden, aus diesem sel-
ben Grunde jedoch ist es unmiglich, wenn die eigentliche asthetische Setzung
im systematischen Gange des dialektischen Fortschreitens an die Reihe kommt,
diese Setzung — da sie bereits vollzogen wurde — an der systematisch not-
wendigen Stelle wirklich zu vollziehen. Das asthetische Problem des Stoffes
und damit das der ganzen Naturschénheit — da diese ins System des konkre-
ten Idealismus, ohne es vollig aufzuheben, blo& durch die Vischersche Fas-
sung iiberhaupt einzuordnen ist — liegt darin, ob sein zweifellos vorwerk-
liches Formungsniveau auch ein Gesetztsein vor der kiinstlerischen Tatigkeit
und — ideell — unabhangig von ihr zula&t. Es ist hier freilich nicht der Ort,
die asthetische Formstruktur des Stoffes eingehend zu behandeln, nur soviel
mu, um das spiter Auszufiihrende andeutungsweise vorwegzunehmen, be-
tont werden: das Wesen des Stoffes liegt in seiner Méglichkeit zum kiinstle-
rischen Geformtwerden; d.h. der Stoff ist ein Umformen der Erlebnisele-
mente, der zum Erlebnis gewordenen »Inhalte«, mit dem Ziel, da& an ihnen
der Formungsproze8 vollzogen werden kénne. Sein auffallendstes Kennzei-
chen ist also eine Geformtheit, deren Intention reine Bearbeitbarkeit, villige
Passivitat, blo®es Angelegtsein auf die an ihm in Wirksamkeit tretende tech-
nische Behandlung ist. Der Aufbau des Stoffes, die Beziehung seiner Bestand-

68 [Lehrbuch zur Einleitung jn die Philosophie. § 110. Hamburg ~ Leipzig. Voss. 1883.
S. 164.)
208 Heidelberger Asthetik
teile zueinander beruht auf diesem Zugeordnetsein zu den technischen For-
mungsméglichkeiten der spezifischen Form, ja in streng asthetischem Sinne
zu den Wirkungsqualitaten, auf die der konkrete und einzelne Schaffenspro-
zeB, in dem der Stoff zum Stoff wird, ausgeht. Es ist also ein uneigentlicher
und irrefiihrender Ausdruck, davon zu sprechen, daf verschiedene Kiinstler
»denselben« Stoff bearbeitet haben; denn das asthetisch Stoffartige eines an-
tiken Mythos etwa, der zum Stoff der griechischen und modernen Tragiker
geworden ist, liegt nicht in der blofen Begebenheit, in der Ereignis-, Cha-
rakter- und Beziehungsfiille, die er an und fiir sich enthalten mag, sondern in
der Auswahl und dem Arrangement dieser Bestandteile in Hinblick auf das
zu schaffende Drama, so da&, um ein moglichst drastisches Beispiel zu geben,
das Rachen von Agamemnons Tod auch stoffartig vollig verschieden ist, je
nachdem ob Elektra oder Orestes als Held der Tragédie gedacht wird. Ge-
gen diese Deutung des Stoffbegriffes scheint die gerade in technischen Erérte-
rungen von Kiinstlern oft auftauchende Ansicht, von dem Geeignet-, bezie-
hungsweise Ungeeignetsein bestimmter Stoffe fiir bestimmte Formen zu spre-
chen. Bei einem grofen Teil dieser Erérterungen zeigt es sich indessen, da
das zur Diskussion Stehende garnicht der Stoff im asthetischen Sinne ist; z. B.
bei den auf dieses Problem beziiglichen Darlegungen Goethes iiber Stoffe der
Malerei, wo — da er das eigentlich kiinstlerische Formungsprinzip der Male-
rei, die reine und unmittelbare Sichtbarkeit in der Farbenlehre schon natur-
philosophisch vorweggenommen hat — rein literarische Themata behandelt
werden, die, in der Form wie sie Goethe darbietet, mit dem Stoff zu Bildern
nichts zu tun haben, bei denen es evident ist, da wenn verschiedene Kiinstler
»dieselben« bearbeiten wiirden, ihre Stoffe im Asthetischen Sinne nichts mit-
einander gemeinsam hatten. Einleuchtender scheint diese Wendung des Stoff-
problems fiir die Dichtung zu sein, in der Weise wie es etwa gelegentlich von
Goethe und Schiller, von Corneille und Alfieri, von Hebbel und Paul Ernst
behandelt wurde. Jedoch bei genauerem Hinsehen erweist es sich auch hier,
daf das Stoffproblem nicht nur blo& von einer bestimmten Form aus, son-
dern innerhalb dieser auch blo& von einem bestimmten Kunstwollen aus auf-
zuwerfen war; da& alle Gesichtspunkte der Beurteilung des Geeignet- oder
Nichtgecignetseins, z.B. gréfere oder geringere Konzentrierbarkeit, Fille
oder Mangel an Fiille etc., nur von einer bestimmten Formvision aus ver-
stehbar sind, und es sich kein allgemeines — gewissermafen im Stoff als be-
reits geformt gedachtem Gegenstand begriindetes — Prinzip einer solchen Be-
urteilung auffinden la&t. So hat z.B. Paul Ernst mit grofer Feinheit und
vielem Scharfsinn den Nibelungenstoff und seine Bearbeitung durch Hebbel
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 209

analysiert, um zum Resultat zu gelangen, daf er an der Tragédie von »Sieg-


frieds Tod« scheitern mufte, weil die im Stoff miteinander verwobenen Ge-
schidse sich nicht zur tragisch-schicksalhaften Konzentration ballen lassen,
da@ nur in »Kriemhilds Rache« eine wirkliche und dann von Hebbel auch
wundervoll gestaltete Tragédie steckt — bis ihm einige Jahre spater gerade in
diesem Stoff die Grundlage seiner vollendetsten Tragédie vorlag. Freilich:
blo& infolge einer Verwandlung aller Charaktere und damit der Verwand-
lung aller wesenhaften Beziehungen zwischen ihnen, so daf fast nur noch die
Namen und einzelne ganz rohe Begebenheiten aus dem »Stoff« iibriggeblie-
ben sind, etwas, das nur mit auferster Brutalisierung der Tatsachen »Stoff«
genannt werden darf; das, was seinem Drama Asthetisch als Stoff diente, steht
ganz auferhalb seiner eigenen Erérterung iiber den Stoff des Nibelungenthe-
mas: es ist in dem Schaffensproze8 seiner »Brunhild« entstanden.
In der transcendentalen Abfolge der asthetischen Formungsschichten, gewis-
sermafen in der apriorischen »Geschichte« der Entstehung der Asthetischen
Gegenstandlichkeit steht der Stoff mithin nach der homogenen Reduktion
(und der in ihr vollzogenen Zersetzung der gegebenen Wirklichkeit), nach der
Verwandlung des »ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit in den Men-
schen »ganz« der Asthetik und vor dem Beginn der kiinstlerischen Tatigkeit
in engerem Sinne, vor dem Beginn der technischen Arbeit. Die Gegenstind-
lichkeit des Stoffes — ein Geformtsein, das in reiner Potenzialitat besteht —
kann nur durch diese Einordnung in den Schaffensproze8 sinnvoll gedeutet
werden; denn nur so wird es verstandlich, da8 der Stoff zwar eine, von den
sonstigen (theoretischen, ethischen etc.) Formungsméglichkeiten seiner »In-
halte« unabhangige und von ihnen glatt ablésbare Gegenstandsstruktur be-
sitzt, also im Weisse-Vischerschen Sinne sich zu dem »natiirlichen« Dasein
und Sosein dieser »Inhalte« zufallig verhilt, da& aber diese Gegenstindlich-
keit sich doch nicht aus eigener Kraft zu erfiillen und sich als Selbstandiges
zu konstituieren vermag, sondern, um immanent erfiillt zu werden, einer neu
hinzutretenden Formung, der technisch-kiinstlerischen Tatigkeit bedarf, die
ihre reine Potenzialitat in Aktualitit verwandelt. Die Geformtheit des Stof-
fes ist also ein freischwebendes ideales Sein, ein bereits Verlassen-haben des
einfachen Seinsniveaus, dem seine »Inhalte« entnommen sind, und ein Noch-
nicht-Erreicht-haben des asthetischen Geltungsniveaus, wohin diese »Inhalte«
durch die technisch-kiinstlerische Tatigkeit gefiihrt werden; diese freischwe-
bend-potenzielle Form ist deshalb nur als Intention auf das Geformtwerden,
nur im Rahmen des Schaffensprozesses begreifbar. Die Méglichkeit der Ver-
kennung dieser Struktur Jiegt wohl darin, daf& die Umwandlung der Erleb-
210 Heidelberger Asthetik
nisinhalte in Bestandteile des Stoffes dem realen kiinstlerischen Schaffenspro-
ze sehr oft so vor sich geht, da ihre empirisch-»natiirlichee Gegenstind-
lichkeit scheinbar unberihrt bleibt, da& diese Umwandlung sich nur in der
»Seele« des Kiinstlers vollzieht; dann erscheint es als méglich, den Stoffcha-
rakter den empirischen Gegenstanden (oder ihren »Ideen«) selbst zuzuspre-
chen, den Stoff aus dem Prozef der kiinstlerischen Tatigkeit herauszulésen
und in ihm das Resultat eines Auswirkens »Asthetischer«, aber vorkiinstleri-
scher Formen zu erblicken. Diese Verselbstandigung des Stoffes mu aber
seine asthetische Wesensart aufheben, denn die freischhwebende Form des
Stoffes zergeht in Nichts mit dem Akte seines Herausldsens aus dem Schaf-
fensproze8, und an die Stelle seiner eigentlichen Form mu eine andere -
theoretische oder halbtheoretische ~ Gegenstandsform substituiert werden,
die durch keine sich an ihr entziindende kiinstlerische »Phantasie« wieder ins
Ksthetische riickverwandelt werden kann. Die mannigfaltigen und im Ein-
zelnen oft glanzenden und treffenden Analysen technisch-kiinstlerischer Fra-
gen, die wir im konkreten Idealismus finden kénnen, diirfen uns nicht iiber
die hier aufgezeigte, durch sie unberiihrte Problematik hinwegtauschen. Denn
alle diese Analysen werden an bereits geformten Kunstwerken vollzogen und
ihre Richtigkeit und Tiefe hat mit der Frage, ob die asthetische Gegenstind-
lichkeit des Werks, auf das sie sich beziehen, philosophisch abgeleitet wurde
oder nicht, nichts zu tun. Ja es kann als Kennzeichen des konkreten Idealis-
mus angesehen werden, daf er sich stets an beide Extreme, in ihrer konkreten
Fiille hilt: einerseits an die konkrete Einheit des Geistes im Gesamtleben des
Universums und andererseits an die ebenfalls konkreten Einzelheiten kon-
kreter Werke, die Frage der philosophischen Verbindung beider aber ent-
weder dahingestellt la&t oder an ihr scheitern mu. Die Autonomie der As-
thetik als selbstandigen Wertgebiets ist jedoch nur dann widerspruchsfrei
denkbar, wenn ihre Setzung in vélliger Selbstindigkeit einem als ungeformt
gedachten »Material« gegeniiber auftritt (dessen Wesen sich dann nur als das
Nicht-Asthetische ansprechen la8t, so wie bei einer transcendentalen Begriin-
dung der theoretischen Sphare alles als »irrationell«, d. h. als von den Kate-
gorien des Logos noch nicht umfaBt, als blo®e Aufgabe des Formens er-
scheint); und alles was zur 4sthetischen Gegenstandlichkeit gedeiht, dies nur
in und durch die konstitutiven Formen des Asthetischen, in und durch die
Werkkategorien zu tun vermag. Die scheinbare Selbstandigkeit vorwerk-
licher Formungsstrukturen J4&t sich nur durch ihr Beziehen auf das Werk
begreifen: die zu der freischwebenden Geformtheit des Stoffseins gewordene
Erlebnissumme, mag sie an »realen« oder »erdachten« Gegenstanden »haf-
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 211

tens, ist immer ein Ordnen von Erlebniselementen in Bezug auf die Wir-
kungsqualitaten einer bestimmten Kunstform; da& in vielen Fallen der For-
mungsproze& hier stehenbleibt, da& »kiinstlerisch« veranlagte Menschen
(ohne selbst Kiinstler zu sein) Erlebnisse haben, die eine dieser Struktur ahn-
liche Form aufweisen, ist fiir die Asthetik, fiir die es auf den transcendenta-
len Ort der Begreifbarkeit der einzelnen Formungsniveaus ankommt, nicht
von Belang.

4
An diesem Problem, das nur auf den ersten Blick als Detailfrage erscheint,
dessen Lésung, wie wir sahen, iiber die Méglichkeit einer selbstandigen asthe-
tischen Setzung und damit tiber das Schicksal der Asthetik als autonomen
Wertgebiets entscheidet, zeigt sich ganz klar, da die unauflésbaren Wider-
spriiche, die hier hervortreten, nicht aus verfehlten Ansatzen einzelner Den-
ker stammen, sondern mit dem innersten Wesen dieses Systemtypus innigst
verbunden sind. Ganz allgemein kann die Frage so formuliert werden: die
transcendentale Fragestellung fordert, da jeder Wert, der als Wert zu gel-
ten den Anspruch erhebt, als etwas schlechthin Letztes und Unableitbares ge-
gesetzt werde, Das System der Werte liegt in einer von der Begriindung der
einzelnen Werte véllig verschiedenen Dimension und behandelt die apriori-
schen und formellen Beziehungen der Werte zu einander, deren Unabhangig-
keit von einander es nicht beriihrt, die es im Gegenteil in dieser ihrer klaren
Unberiihrtheit als einander erginzend (oder einander feindlich u. s. w.) be-
greift. Kant hat diese Abgeschlossenheit der Wertspharen gegeneinander nicht
nur zum Ausgangspunkt ihrer konkreten Begriindung gemacht, sondern hat
jeden Versuch, die »Vermégen«, wie er das Letzte, worauf sie beruhen, oft
— wenn auch nicht gerade gliicklich — bezeichnete, aufeinander zuriickzu-
fiihren oder auf eines zu reduzieren, ausdriicklich abgewiesen. »Wir kén-
nene, sagt er in der erst neuerdings veréffentlichten »Ersten Einleitung in die
Kritik der Urteilskraft«, »alle Vermégen des menschlichen Gemiits ohne Aus-
nahme auf die drei zuriidcfiihren: das Erkenntnisvermdgen, das Gefibl der
Lust und Unlust, und das Begehrungsvermgen. Zwar haben Philosophen,
die wegen der Griindlichkeit ihrer Denkungsart iibrigens alles Lob verdie-
nen, diese Verschiedenheiten nur fir scheinbar zu erkldren und alle Vermé-
gen aufs blo&e Erkenntnisvermégen zu bringen gesucht. Allein es laft sich
sehr leicht dartun, ... da dieser, sonst im echten philosophischen Geiste un-
ternommene Versuch, Ejnheit in diese Mannigfaltigkeit der Vermégen hin-
212 Heidelberger Asthetik
einzubringen, vergeblich sei.«** Schon der junge Fichte hat gegen diese Ver-
absolutisierung der Grundlagen der Wertgebiete, in ihrer weit weniger apo-
diktischen Fassung, als sie die »Einleitung zur Kritik der Urteilskraft« ent-
halt, Einspruch erhoben und wollte — bereits 1790/1 — zu einer wirklich ein-
heitlichen Darlegung der letzten Prinzipien des BewuStseins, die diesen Plu-
ralismus aufhebt, fortschreiten. Und Hegel spottet in seiner historischen Dar-
stellung der kantischen Philosophie iiber den »Seelensack«, in dem herumge-
sucht wird, »was darin noch fiir Vermégen sich befinden; und so wird zu-
falliger Weise oben auch die Vernunft angetroffen. Es ware ebenso gut, wenn
sich auch keine finde ...«7° Auch schon im frithen Aufsatz iiber »Glauben
und Wissen« wendet er sich scharf gegen die Kantsche Unterscheidung von
Vernunftideen und asthetischen Ideen (eine Unterscheidung, mit deren grund-
legender Bedeutung fiir die transcendentalphilosophische Begriindung der As-
thetik wir uns noch eingehend zu beschaftigen haben werden): »als ob nicht
die asthetische Idee in der Vernunftidee ihre Exposition, die Vernunftidee in
der Schénheit dasjenige, was Kant Demonstration nennt, namlich Darstellung
des Begriffs in der Anschauung, hatte.«7! Wie sehr dies zum Programm der
ganzen nachkantischen idealistischen Philosophie, zu ihrem gemeinsamen
Grundprinzip trotz aller Verschiedenheiten in der Ausfiihrung geworden ist,
ist zu bekannt, als da& mehr als ein Hinweis darauf von néten ware. Wich-
tiger fiir unser Problem ist die Bestimmung der oft iibersehenen Folge dieser
Sachlage, namlich da& die von den grofen Nachfolgern Kants vollzogene
Vereinheitlichung der letzten Grundlage jeder Setzung eine Setzung im streng
transcendentalen Sinn unméglich macht. Der Gegensatz beruht im Wesent-
lichen darauf, da& die in der kritischen Philosophie als aus einander unableit-
bar angenommenen »Vermégen« nur Marksteine dafiir sind, da& in den
verschiedenen Spharen yon einander qualitativ verschiedene und deshalb
untereinander nicht vermittelbare Gegenstandssetzungen vollzogen wurden,
da also die transcendentale Gegenstandlichkeit einer Sphire die reine Funk-
tion der in ihr konstitutiven Formen ist. Dagegen hat die Vereinheitlichung
des philosophisch-relevanten Bewufitseins zur notwendigen Folge, da das
von ihr Erzeugte, das, worin der alles setzende, einheitliche Geist sich selbst
erkennt, also der Geist selbst etwas im Wesen Einheitliches sei und jeder Dif-
ferenz nur die Bedeutung einer Stufe oder eines Momentes in dem Proze des

69 (Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. Werke. Bd. 5. S. 187-188.]


70 [Vorlesungen iiber die Geschichte der Philosophie. Werke. Berlin, 1844. Bd. xv. S. 518.]
7x [Glauben und Wissen, Werke, Berlin, 1832, Bd. 1. S. 40.)
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 213

Sich-selbst-Erreichens des Geistes zukomme. Auch Goethe hat — in einem


Gesprach mit Riemer — betont: » Wir sollten nicht von Dingen an sich reden,
sondern von dem Einen an sich. Dinge sind nur nach menschlicher Ansicht,
die ein Verschiedenes und Mehreres setzt. Es ist alles nur Eins; aber von die-
sem Einen an sich zu reden, wer vermag es?» 7? Die klare und folgerichtige
Antwort Hegels auf diese Frage ware: das System, als der zu sich gekom-
mene Geist in seiner konkret-entfalteten Totalitat. Diese substantielle Einheit
des Systems. schafft ein homogen-hierarchisches Verhiltnis zwischen seinen
Bestandteilen. Jeder ist an seiner Stelle wesensvoll und konstitutiv, denn er ist
Erscheinungsform des Geistes an einem notwendigen Durchgangspunkt seines
Prozesses, jeder ist aber nur in dieser Beziehung wesensvoll und konstitutiv
und wire, an sich betrachtet, aus diesem Zusammenhang herausgenommen,
abstrakt und nichtig. So erscheint hier, worauf zu Beginn dieser Erérterungen
bereits hingewiesen wurde, ein vom kantischen vollig verschiedener Form-
begriff: der Begriff der Form als Erscheinungsform des Wesens: »Es kann
also nicht gefragt werden, wie die Form zum Wesen hinzukomme, denn sie
ist nur das Scheinen desselben in sich selbst, die eigens ihm inwohnende Re-
flexion.«”? Die aus der Einheitlichkeit des Geistes folgende fundamentale
Homogeneitat aller im System vorkommenden Gegenstandsstrukturen hat
die anfangs hervorgehobene Vereinigung dsthetischer und theoretischer Ele-
mente in ihrem Aufbau zur notwendigen Voraussetzung; es wurde bereits
gezeigt, da& sowohl die konkrete Erfiilltheit der einzelnen Momente, wie der
Ubergang aus dem einen in das andere nur durch dieses dynamische Ineinan-
der von theoretischer und asthetischer Form zu bewerkstelligen ist; nur ihre
Abwechslung vermag die Spannung zwischen dem kunstwerkhaften Totali-
tatscharakter der einzelnen Momente und ihrer villigen Vereinigung in der
schlechthin einheitlichen Idee des Ganzen auszugleichen und ein dynamisches
Gleichgewicht zwischen ihnen aufrecht zu erhalten. Die beiden struktiven
Haupttrager des Kantschen Systems, der Dualismus von Form und »Inhalt«
und der Pluralismus der Wertgebiete, werden hier notwendig — da sie un-
abtrennbar zueinander gehéren und nur verschiedene Aspekte eines Typus
der Systematisation sind — auf einen Schlag iiberwunden. Damit tritt an die
Stelle der kantischen, spharenbegriindenden Fragestellungen »wie ist... még-

72 [Goethes Gespriche. Gesprich mit Riemer, 1807. August 2. Hrsg. von F. F. von Bieder-
mann, Leipzig, Biedermann, 1909. Bd. I. S. 506.]
73 [Wissenschaft der Logik, Werke. Bd. rv. S. 78. ~ S.: Ausgabe Lasson. Zweiter Teil.
S. 69.)
214 Heidelberger Asthetik
lich?« das Problem der Ent-wicklung des Geistes aus seinen Momenten, der
Aufbau der konkret-wesensvollen Welt als hierarchisch gegliederte Erschei-
nungsform des Geistes, die apriorische und zeitlose »Geschichte« seines Zu-
sichkommens. »Non critice sed historice est philosophandum«™ lautet eine
der Jenaer Disputationsthesen Friedrich Schlegels, in dessen Jugendentwiir-
fen zur Philosophie eine dem konkreten Idealismus sehr nahe verwandte Ge-
sinnung sich ausspricht.
Statt des Nachweises eines spezifischen und quantitativ eigenartigen katego-
rialen Aufbaus als transcendentaler Folge der Autonomie des Wertgebietes
muf hier aufgezeigt werden, da& das betreffende Moment sowohl seiner
konkret-qualitativen Eigenart wie seiner Bedeutung fiir das System nach
gerade dort das vorhergegangene Moment iiberwindend auftreten und ge-
rade dort vom nachfolgenden Moment wieder aufgehoben werden muf, wo
ihm dies von der dialektischen Entfaltung des Geistes anbefohlen wird. Die
kantische transcendentale Reflexion iiber die Bedingungen der Méglichkeit
einer bestimmten Gegenstandlichkeit wird also ersetzt durch das Zusammen-
fallen der konkreten Erfiillung der betreffenden Erscheinungsform des Geistes
mit ihrer notwendigen Rolle als Entstehendes und Vergehendes in dessen dia-
lektischer Selbstentfaltung. Daf dabei, sowohl in der »Phanomenologie« wie
im System selbst, historische und apriorische Kategorien der dialektisch-hier-
archischen Ordnung ineinander verschlungen sind, haben wir jetzt nicht zu
untersuchen, umso weniger als auf wenigstens eines der systematischen Mo-
tive ihrer Vermischung bereits hingewiesen wurde. Fir uns kommt es darauf
an, zu priifen, ob diese Reihe homogener, aus einander entwickelter, zu ein-
ander im vergleichbaren Verhiltnis der mehr oder weniger relativen Ver-
wirklichungen des Geistes stehender Stufen eine eindeutige Fassung des As-
thetischen zulaft oder nicht. Das erste und gerade im Sinne des Hegelschen
Systems entscheidendste Problem ist die Stelle, die der Schénheit und mit ihr
der Kunst im Gang der Selbstverwirklichung des Geistes zugewiesen wird; ge-
nauer: das Aufzeigen des Momentes, dessen dialektisch auftretender innerer
Widerspruch zu seiner Aufhebung und damit in seiner Weiterbewegung not-
wendig zur Idee der Schénheit fiihrt. Hier zeigen nun die verschiedenen Be-
arbeitungen des Systems die verschiedensten Lésungen. In der »Asthetik«
selbst wird die Schénheit zuerst in der Natur, aber als abstrakte, unvoll-
kommene, nicht in der Sache beruhende, sondern nur »fiir uns« daseiende ge-

74 [S.: Caroline, Briefe aus der Frihromantik. Hrsg. von E. Schmidt. Leipzig, 1913.
Bd. 11. S. 585.]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee ais

setzt und aus ihrer inneren Unangemessenheit entsteigt die wirkliche Gestalt
der Idee, die der Kunst. Abgesehen von den Antinomien, die fiir jede Ab-
leitung der Kunst aus der Naturschénheit eben nachgewiesen worden sind,
wiirde hier, wenn dies die wirkliche Meinung Hegels wire, die systematische
Schwierigkeit entstehen, da& die Kunst — in irgendeiner Weise - an die
Naturphilosophie angekniipft werden miifte; eine Schwierigkeit, der Vischer,
der sie deutlich erblickt hat, so zu entgehen sucht, da& er als Naturschénheit
ein bestimmtes Stadium der asthetischen Idee bezeichnet, das deshalb nicht
nur die Schénheit der Natur im eigentlichen Sinne, sondern auch die des ge-
sellschaftlich-geschichtlichen Lebens umfaft. Fiir Hegel selbst ware dieser
‘Weg nicht recht gangbar gewesen, da er eine allzu groSe Selbstindigkeit der
asthetischen Idee voraussetzt, wie ja auch Vischer in seiner Polemik gegen
Hegels Begriff der Naturschénheit ihm geradezu die Verwechslung der Idee
der Schénheit mit der Idee tiberhaupt vorwirft. Der Vorwurf ist insofern
ungerecht, als das ganze Hegelsche System auf die innere und wesenhafte
Einheit der Idee aufgebaut ist, so da& es konsequenterweise nur eine Ver-
wirklichung der Idee als Schénheit, nicht aber eine eigene und selbstandige
Idee der Schénheit zulassen kann. Es zeigt sich aber hier die Quelle jener
Schwankung in Hegels Asthetik, auf die schon hingewiesen wurde, da& nam-
lich die prinzipielle Grundlegung der Asthetik, als Philosophie der Kunst,
also mit Ausschlu8 des Naturschénen aus dem Bereich der Asthetik entwor-
fen wurde, in der tatsaichlichen Durchfiihrung jedoch die Naturschénheit doch
nicht entbehrt werden konnte. Die Unmiglichkeit, die von der systemati-
schen Entwicklung geforderte totale Ausscheidung der Naturschénheit aus
der Asthetik zu vollziehen, liegt in der tiefen Verwandtschaft des Schénheits-
begriffes mit dem Begriff des Organischen. Schon bei Schelling gipfeln im rea-
len All die Potenzen der Materie und des Lichtes in der Indifterenz des Orga-
nismus, ganz parallel zu dem idealen All, wo die Kunst eine entsprechende
Indifferenz des Wissens und des Handelns bedeutet. Dieselbe Parallelitit
muf auch bei Hegel, fiir den das Organische noch prignanter zum Wertbe-
griff geworden ist, freilich in dynamisch-geschichtlicher Wendung erscheinen,
so da8 nicht blo& die Gesamtidee der Kunst mit der des Organismus paralle-
lisiert wird, sondern auch der Weg vom Leblosen zum Organismus und diber
den Organismus hinaus zum nicht mehr blof organischen Geist sich sowohl in
der Kunstphilosophie selbst, wie in ihrem Praeludium, in der Lehre von der
Naturschénheit wiederholt. Denn Kunst im kanonischen Sinn ist fiir Hegel
nur die klassische Kunst, »Die classische Kunstform namlich hat das Héchste
erreicht, was die Versinnlichung der Kunst zu leisten vermag, und wenn an
216 Heidelberger Asthetik

ihr etwas mangelhaft ist, so ist es nur die Kunst selber, und die Beschranktheit
der Kunstsphire.«?5 Das Klassische ist aber fiir Hegel dem Gehalte nach
das wirklich und echt Menschliche, die Idee der Menschlichkeit, der Form
nach das reine und vollendete Innewohnen der Idee in ihrer sinnlichen Er-
scheinung; was davor liegt, ist ein Noch-nicht-Durchdrungensein der Erschei-
nung von der Idee, was darauf folgt, ein Zerfallen der Erscheinung, weil die
Idee sich substantielleren, ihr wesentlicher angemessenen Offenbarungsfor-
men zuwendet. Es ist leicht ersichtlich, da& die Hegelsche Darstellung der
Naturschénheit einen diesem Schema sehr ahnlichen Gang einnimmt, nur da
auf dieser Stufe das Hinausgehen iiber die relative Selbstvollendung des Or-
ganischen seine abstrakte Mangelhaftigkeit und damit die der ganzen Natur-
schénheit aufdeckt und den Ubergang zur Kunst notwendig erscheinen 1a8t.
Dieser Ubergang ist jedoch blo& dann zwingend und diberzeugend, wenn in
der Natur, bis zum Organismus und dariiber hinaus, wirklich die Schénheits-
idee um ihre Verwirklichung in der Prosa der Welt rang, wenn also Schén-
heit und Naturphilosophie in den Zusammenhang miteinander gebracht wer-
den, dessen Antinomien bei Weisse und Vischer erdrtert wurden. Ist dies nicht
der Fall, so ist der von Hegel in der Einleitung gewahlte Standpunkt der
folgerichtigere: die Asthetik mit der Philosophie der Kunst gleichzusetzen;
dann darf aber der Schénheitsbegriff nicht einmal abstrakt und reflexiv
auf die Natur angewendet werden, geschweige denn daf die Idee der Schén-
heit aus der Mangelhaftigkeit der — nichtseienden — Naturschonheit ent-
steigen kénne.
In der »Enzyklopadie« nimmt Hegel einen anderen Ausgangspunkt zur me-
thodischen Fixierung der Kunst: sie ist die erste Stufe des absoluten Geistes,
der absolute Geist auf der Stufe der Unmittelbarkeit, der Anschauung, die in
Vorstellung und dann in Begriff, in Religion und dann in Philosophie aufzu-
gehen berufen ist. Wie ist aber dieser Ubergang vom vollendetsten Grad des
objektiven Geistes, von der konkreten Sittlichkeit zur Kunst dialektisch be-
greiflich zu machen? Auf diesem Punkt lat uns die eigene Darstellung He-
gels ganz im Stich. Hier erscheint die Kunst, wie Hegel es in Bezug auf das
Absolute in der »Phanomenologie« Schelling vorwarf, wie aus der Pistole
geschossen. Die Selbstauflésung und das Ubersichhinausweisen des objektiven
Geistes zeigt hier kein einziges Symptom, das als dialektischer Ubergang zur
Kunst dienen kénnte. Und selbst wenn man als hermeneutische Erginzung

75 [Vorlesungen tiber die Asthetik. Werke. Bd. x. Abt. r. S, roo, - Aufbau-Ausgabe.


S. 115-116.)
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 217
den Schlu8 der »Rechtsphilosophie« herbeiziehen wiirde, wo das weitertrei-
bende Moment und mit ihm der Ubergang zum absoluten Geiste die Ge-
schichte ist, so erscheint es geradeso unmiglich, darin eine zwingende Uber-
leitung zur Kunst zu finden, es sei denn in einer ironischen Selbstzersetzung
der Geschichte aus der wirkenden Wirklichkeit in den nichtigsten Schein, der
sich dann zum substantiellen Schein der Kunst verdichten wiirde — eine Még-
lichkeit, die vielleicht einem extrem-romantischen Theoretiker der verabsolu-
tierten Ironie, niemals aber Hegel offenstand.
Es gibt aber neben diesen beiden noch eine dritte dialektische Entstehung der
Kunst im Hegelschen System: ihre Emporsteigen aus der Religion und damit
eng verkniipft ihr Wiederuntertauchen in der Religion. So ist die Kunst be-
reits in der »Phinomenologie« systematisch eingeordnet worden, und die
spateren Darstellungen, vor allem die »Asthetik« selbst, aber auch die »Reli-
gionsphilosophie« und die »Philosophie der Geschichte« folgen gerade im
Wesentlichen ihren Spuren. Diese Einordnung ins System erscheint als die
folgerichtigste und den Aporien der anderen am wenigsten ausgesetzte. Vor
allem bewegt sich die ganze Ableitung auf dem bereits erreichten homogenen
Niveau des absoluten Geistes, sie muf also Gleiches aus Gleichem entstehen
lassen, ja genauer ausgedriickt: es miissen blo& die Gesichtspunkte der Form-
bestimmung verschoben werden, um von der Religion zur Kunst und von die-
ser wieder in jene zu gelangen. (Freilich bleibt damit der Ubergang vom ob-
jektiven Geist zum absoluten ungelést, aber abgesehen davon, da sich ein
Transcendieren der Sittlichkeit zur Religion leichter denken lat als das zur
Kunst, kann dieses Problem hier, wo wir uns nur mit der Stelle der Kunst im
System zu befassen haben, unerértert bleiben.) Denn das Absolute ist schlecht-
hin einheitlich als das »Absolut-Absolute«, als »das in seiner Form in sich
zuriickgekebrte Absolute, oder dessen Form seinem Inhalte gleich ist«;7
aber es ist auch eine »Identitat, deren Momente jedes an ihm selbst die Tota-
Litdt, und somit als gleichgiiltig gegen die Form, der vollstindige Inbalt des
Ganzen ist.« 7? Die konkrete Aufgabe der Kunst erscheint hiermit als mit der
der Religion im Wesen identisch: »Wir sahen bereits, die Kunst habe vor
Allem das Géttliche zum Mittelpunkte ihrer Darstellungen zu machen«,”®

76 (Wissenschaft der Logik. Werke. Bd. rv. S. 183. - Ausgabe Lasson. Zweiter Teil,
S. x60-161.]
77 (Ebda, S. 180. — A.a.0. S, 158.]
78 [Vorlesungen iiber die Asthetik. Werke. Bd. x. Abt. 1. S. 220, — Aufbau-Ausgabe.
S. 199.]
218 Heidelberger Asthetik
und in dieser wesentlichen Beziehung stimmen auch Religion und Philosophie
tiberein, denn indem »sich die Vorstellung in die Form des Denkens auflést«,
so ist es »jene Bestimmung der Form . .., welche die philosophische Erkennt-
nis der Wahrheit hinzufiigt . . .; vielmehr ist die Religion eben der wahrhafte
Inhalt nur in Form der Vorstellung und die Philosophie soll nicht erst die
substantielle Wahrheit geben, noch hat die Menschheit erst auf die Philoso-
phie zu warten gehabt, um das Bewuftsein der Wahrheit zu empfangen.«
Damit ist fiir das System nur die Aufgabe gestellt, die Bestimmungsform des
Absoluten aufzuzeigen, die es in der Gestalt der Schénheit erscheinen laft.
Wir wissen, da diese Form die Unmittelbarkeit der Anschauung ist oder —
vom Standpunkt des Gegenstandes aus betrachtet — das vollstindige und
restlose Innewohnen der Idee in der Erscheinung. Wir wissen aber auch, da
diese Bestimmung nicht auf das Ganze der in der »Asthetik« behandelten
Objektivationsformen des absoluten Geistes zutrifft, sondern nur auf die
mittlere der dort dargestellten Epochen der Geschichtsphilosophie der Kunst:
auf die Klassik; in der symbolischen Kunst hat die Idee die Erscheinung noch
nicht durchdrungen, in der romantischen Kunst ist sie bereits iiber diese Ver-
wirklichungsform hinweggeschritten, so da& die immer mehr zu leeren Hiilse
werdende Gestalt zu zerfallen droht, um in der letzten, vierten Epoche, die
die Hegelsche »Asthetik« allerdings blo andeutet, die aber eine tiefe, syste-
matische Notwendigkeit fiir sie besitzt, ganz verworfen zu werden. »Die
Kunst in ihren Anfangen la&t noch Mysteridses, ein geheimnisvolles Ahnen
und eine Sehnsucht iibrig, weil ihre Gebilde noch ihren vollen Gehalt nicht
vollendet fiir die bildliche Anschauung herausgestellt haben. Ist aber der voll-
kommene Inhalt vollkommen in Kunstgestalten hervorgetreten, so wendet
sich der weiterblickende Geist von dieser Objectivitat in sein Inneres zuriids
und sté&t sie von sich fort. Solch eine Zeit ist die unsrige.«®° Da der Motor
der Weiterbewegung das immer Substantiellerwerden des Geistes, das Sich-
finden des wahrhaften Subjekts im wahrhaften Objekt, die Aufhebung jeder
abstrakten Transcendenz ist, wird es verstandlich, daf& die Kunst ihre dia-
lektische Stelle zwischen den beiden grofen Typen der Religion, der noch
transcendenten und der bereits ins Subjekt eingesenkten, erhialt, als das Sta-
dium, wo das Absolute bereits Subjekt geworden ist, jedoch gewissermafen
nur Subjekt an sich, nur herausgestellte und in dieser isolierenden Herausstel-

79 (Vorlesungen iiber die Philosophie der Religion, Werke. Bd. xr. Berlin, 1840. S. 150.]
80 [Vorlesungen iiber die Asthetik. Werke. Bd. x. Abr. 1. S. 132, — S.: Aufbau-Ausgabe.
S. 139]
Entwicklungsphilosophische Schonheitsidee 219

lung abstrakt und zufallig gewordene Subjektivitit, Menschlichkeit ohne


wahre wissende Innerlichkeit. »Da mag man sich nun fiir Schénheit und
Kunst begeistern so viel man will, diese Begeisterung ist und bleibt das Sub-
jektive, das sich nicht auch in dem Objekt ihrer Anschauung, in den Géttern,
befindet«,®! hei&t es in der »Asthetik« und sehr ahnlich und erganzend in
der »Religionsphilosophie«: »Das Kunstwerk als sich selbst nicht wissend, ist
in sich unvollendet ...<® Diese metaphysische Briickigkeit der Kunst fligt
sie in das System ein und macht ihre Rolle als Verbindungsglied zwischen
zwei Religionsformen verstandlich. Es handelt sich in dem Prozef, der sich
hier vollzieht, um das Sich-Herausarbeiten des in der Natur entauferten
Geistes aus dieser seiner EntauSerung, um sein Heimfinden in die ihm allein
angemessene Gestalt: in den Menschen. Die Kunst, die klassische Kunst, gibt
die erste, duferlich vollendetste Form dieser Heimkehr, wahrhaft vollzogen
kann sie aber nur in echter Heiligung des Anthropomorphismus, in der
Menschwerdung des Logos-Christus werden. Die spekulative Notwendigkeit
der Kunst erweist sich also darin, da sie die Uberwindung der Natur, die
Erhebung iiber sie vollbringt; in der symbolischen Kunstform objektiviert
sich erst in adaquater Weise das, was so widerspruchsvoll der Naturschén-
heit zugesprochen und ihr wieder entzogen werden mufte: das vergebliche
Ringen »nach der wahren Einheit des Geistigen und Natiirlichen«, so da das
Objekt, »durch dessen Aufhebung in der klassischen Kunst der Geist sich seine
Selbstindigkeit erwirbt,... nicht die Natur als solche, sondern eine selbst
schon von Bedeutungen des Geistes durchzogene Natur, die symbolische
Kunstform« ® ist.
Die dialektisch-systematische Ableitung der Kunst scheint damit vollendet
zu sein: ihr Entstehen und ihr Wieder-aufgehoben-werden ergeben sich als
notwendige Momente fiir das Zu-sich-kommen des Geistes, sie selbst als eine
wiirdige Erscheinungsform desselben, eine Form, die die hier allein wesent-
liche konstitutive Kraft hat, Bestimmungsform des Absoluten auf einer seiner
Stufen und damit das Absolute in einer bestimmten (damit: beschrankten und
aufzuhebenden) Totalitat zu sein. Ist aber dadurch nicht zugleich jede ihre
Selbstindigkeit aufgehoben? Geht sie nicht vallig in der Religionsphilosophie
auf? Schon Rosenkranz hat diese Schwierigkeit klar erblickt: »Vergleichen

8x [Ebda, Bd, x. Abt. 11. S, 103. - S. 2.2.0. S. 483-484]


82 [Vorlesungen iiber die Philosophie der Religion. Werke. Bd. xr. S. 136.]
83 [Vorlesungen uber die Aschetik. Werke. Bd, x. Abt. 11. S. 24-25. - .: Aufbau-
Ausgabe. S. 432.]
220 Heidelberger Asthetik
wir Hegel’s Religionsphilosophie, so finden wir darin offenbar Wiederho-
lungen der Asthetik. Die Religion der Schénheit tritt in ihr als ein besonderes
Moment ganz ahnlich hervor, wie die Asthetik sie in der Beschreibung des
klassischen Kunstideals darstellt. Entspringt nun diese Wiederholung aus einer
Willkiir und Unachtsamkeit Hegel’s, oder ist ein innerer Grund vorhanden,
der sie erklart?<* Man mu in der Aufzeigung der Parallelititen noch
viel weiter gehen als es Rosenkranz tat, um ihre systematische Notwendigkeit
ganz einzusehen. Denn nicht nur die »Religion der Schénheit« entspridtt ge-
nau dem klassischen Kunstideal, sondern auch die Darstellung des Griechen-
tums in der »Philosophie der Geschichte« baut sich als das »subjektive, objek-
tive und politische Kunstwerk« auf die Kategorien der Asthetik auf. Und
wenn man den Hegelschen Begriff des Asthetischen streng und ernst nimmt,
so ist er, wie gezeigt wurde, nur auf das Klassische anwendbar. Die Analyse
der symbolischen Kunstform entspricht in allem Wesentlichen der »Religion
des Ritsels« mit einigen, mehr episodischen Zuordnungen an die »Religion
der Erhabenheit«, und da& die Romantik nichts als die Betrachtung des Chri-
stentums ist, insofern sein Gehalt eine — notwendig transcendierende, nicht
mehr rein dsthetische — Kunstform angenommen hat, ist nicht weniger evi-
dent. Hier kann auch auf die vierte Epoche, die der vollendeten Auflésung
der Kunst, deren Gehalt »nicht an und fiir sich kiinstlerisch bestimmt bleibt,
sondern die Bestimmtheit des Inhalts und des Ausgestaltens der willkiir-
lichen Erfindung iiberla&t«,® deutlicher hingewiesen werden: in ihr hat
der Geist sich als Begriff erreicht, und indem er auch die Form der Vorstellung
tiberwunden hat, kann in seiner vollendet substantiellen Gestalt die blofe
Unmittelbarkeit und Anschauung der Kunst konsequenterweise nichts mehr
zu suchen haben. So daf in den Gestalrungen, die wesentlich dieser Epoche
angehéren, in erster Reihe in der Komédie, »die Gegenwart und Wirksamkeit
des Absoluten nicht mehr in positiver Einigung mit den Charakteren und
Zwecken des realen Daseins« hervortritt, »sondern ... sich nur in der negati-
ven Form« geltend macht, »daf alles ihm nicht Entsprechende sich auf-
hebt .. .«® Die Frage, ob diese Epoche wegen Hegels Vorliebe fiir die tria-
dische Form — die durch ihre Einfiigung gesprengt worden ware — nicht
ausgefiihrt wurde, oder ob er aus anderen Griinden ihre fiir die Kunst ver-

84 [Erliuterungen 2u Hegel’s Encyklopadie, Heidelberg, Weiss. 1882. S. 119-120.)


85 [Vorlesungen iiber die Asthetik, Werke, Bd. x, Abt. 11. S. 235 — S.: Aufbau-Ausgabe.
S. 570}
86 (Ebda. Abt, rrr. 1843. S. 580. ~ $. a.a.0, S. 1105.)
Entwicklungsphilosophische Schinbeitsidee zor
nichtenden Konsequenzen nicht ziehen wollte, bleibe hier, wo es sich nur um
ihre Stelle im System handelt, dahingestellt. Die Rosenkranzsche Interpre-
tation dieser Wiederholungen, daf »der Geist... auf jedem seiner Stand-
punkte in der Besonderheit desselben zugleich der totale Geist« sei und daf
es deshalb unméglich ware, »die Darstellung der besonderen Wissenschaften,
in welche sich sein Begriff auseinander legt, so abstract zu isoliren«®’ wie
die Naturwissenschaften etwa, weist auf das wesentlich struktive Problem
des Systems hin; umso unerklarlicher ist seine Anschauung, da wenn Hegel
selbst die Lehre vom absoluten Geiste ausgearbeitet hatte, sie diese »Vermi-
schungen und Wiederholungen« nicht aufweisen wiirde. Denn der letzte
Grund fiir diese liegt ja darin, da& Unterscheidungen wie Kunst oder Reli-
gion als apriorische, sich voneinander ausschlieBend abhebende Bestimmun-
gen eigenartiger Gegenstindlichkeiten fiir das Hegelsche System in seinem
folgerichtigen Zuendedenken garnicht existieren. Sie haben den wesentlichen
Gehalt gemeinsam, und bei Hegel muf iiberall der Gehalt iiber die Erschei-
nungsform entscheiden. Die Unterschiede des Gehalts kénnen hier von nichts
anderem abhingen als von der Stufe, die der Geist eben erreicht hat; jede
Stufe hat eine bestimmte, pragnant hervortretende Qualitat an Substanzia-
litat, an Objektivitat etc. und dementsprechend an Formstruktur. Da aber
jede Stufe der Geist in seiner bestimmten, einheitlichen und konkret-erfiillten
Totalitat ist, mu& diese Stufenkategorie (also etwa Anschauung, Vorstel-
lung, Begriff) fiir die ganze Totalitét des auf dieser Stufe verwirklichten
Geistes die allein mafgebende, konstitutive Gebietskategorie sein. Wenn also
z. B. die »Religion der Schdnheit« dasselbe enthilt wie die »klassische Kunst«,
so ist dies kein Mangel an Sorgfalt der Ausarbeitung, denn selbst in dem Falle,
wenn Hegel das konkrete Illustrationsmaterial nicht wiederholt hatte, ware
das Prinzip beider, ihr Gehalt und seine angemessene Erscheinungsform das-
selbe, und nur héchst secundare Gesichtspunkte der Auswahl, die Riidksicht
auf die empirische wissenschaftliche Praxis wiirden eine wirklich genaue Tren-
nung rechtfertigen kénnen, die aus Griinden des inneren systematischen Auf-
baus unter allen Umstanden undurchfiihrbar bliebe. Darum wird das Hegel-
sche System auch von Vorwiirfen, die etwa Croce dagegen erhebt, daf der
Ubergang aus einer absoluten Sphire in die andere, ihre Aufhebung in die an-
dere, besonders fiir die Kunst, undenkbar ware, nicht getroffen, ja der Vor-
wurf kann nur von einem das ganze System ablehnenden Standpunkt aus

87 (Erlauterungen zu Hegel’s Encyklopadie. S. 121.]


222 Heidelberger Asthetik

iiberhaupt ausgesprochen werden. Die dialektische Vermittlung zwischen den


einzelnen Stufen »ist nichts anders als die sich bewegende Sichselbstgleich-
heit«,* sie kann sich nur auf dem homogenen Boden des einheitlichen
Geistes vollziehen, sie ist nichts anderes als das Suchen der einen absoluten
Idee nach der ihr wahrhaft angemessenen Form und ihr Aufnehmen und Ab-
legen der relativ angemessenen im Verlauf dieses Suchens. Die Schénheit ist
eine dieser relativ-absoluten Bestimmungsformen der Idee und fiigt sich des-
halb widerspruchslos in den Kranz des dialektischen Zusamnenflechtens und
Auseinanderlegens ein. Es bleibt dabei freilich eine Schwierigkeit unaufge-
lést, und die Einwande Croces und anderer beziehen sich im Wesentlichen auf
diese: wie lassen sich diese dialektisch begriindeten Stufen entweder mit dem
empirisch-historischen Objektivationen oder mit den transcendentalphiloso-
phischen Ideen von Spharen (Kunst, Religion etc.) vereinigen? Wird durch
diese notwendige und evidente Einfiigung in den Entwicklungsgang des Gei-
stes ihr wahres Wesen erkannt? Diese Frage mu, nach allem bisher Gesagten,
entschieden verneint werden; die Inkonsequenz Hegels, die dabei zu Tage
tritt, ist aber der, die ihm vorgehalten wird, véllig entgegengesetzt. Man
kénnte sagen, da& Hegel in der Uberwindung der abstrakt-reflexionsmafi-
gen Transcendentalphilosophie nicht radikal genug zu Ende gegangen ist.
Denn, um die Beziehungsmiglichkeit auf das Empirisch-Historische aufer
der Diskussion zu lassen, kénnen Kunst und Religion nur dann philosophisch
als etwas Einheitliches gedacht werden, wenn ihre Formen transcendental ab-
geleitete, apriorische und fiir ihr Gebiet konstitutive Formen einer spezifischen
Gegenstandlichkeit sind. Eine solche Ableitung und Begriindung schlieSt aber
das Wesen der dialektischen Methode aus, so daf fiir ihre Anwendung der
Zwang entsteht, entweder diese Formen, als historisch objektivierte Bedeut-
samkeiten, unverarbeitet in das System einzuverleiben, oder mit diesen Norm-
begriffen, als blo& empirischen, iiberhaupt zu brechen und bloS in den dia-
lektischen Momenten — unbekiimmert darum, welche Gebilde ihnen im ge-
schichtlichen Leben entsprechen mégen — angemessene und konstitutive For-
men des Geistes zu erblicken. Es ist evident, da dem Geist des Hegelschen
Systems nur die zweite Methode entsprechen kann, und wenn man sie zur
Interpretation des dialektischen Stufenbaus benutzt, heben sich alle Schwie-
rigkeiten, denen ihr einheitliches Zusammendenken sonst ausgesetzt ist. Denn
so unméglich es ist, die transcendental gesetzte Gegenstandlichkeit der Kunst

88 [Phinomenologie des Geistes. Werke. Bd. 11. S. 16. - Ausgabe Hoffmeister. 1952. S. 21.]
Entwicelungsphilosophische Schinbeitsidee 223
durch eine andere dialektisch zu iiberwinden, da der Akt der transcenden-
talen Setzung ein Setzen als Absolutes und Unaufhebbares bedeutet, so evi-
dent ist der Ubergang von der Stufe der Schénheit zu der der vorstellungs-
miafigen Gestaltung des absoluten Geistes. Die Inkonsequenz Hegels liegt
also darin, da& er Formgebilde, die nur in »kritischer« Fassung einen eindeu-
tigen Sinn enthalten kénnen, obwohl er ihre Setzung und damit ihren Sinn
aufhebt, obwohl sein Formbegriff ihre Geltung ausschlieft, doch in sein Sy-
stem einfiigen will. Das Substrat der dialektischen Entwicklung kann aus
diesem Grunde fiir solche Teildisziplinen wie die Asthetik keine eindeutig
bestimmte Einheitlichkeit haben: einerseits ist es zwar einheitlich als das
jeder Objektivation dieser Stufe zu Grunde Liegende, als der einheitliche ab-
solute Geist, und andererseits kénnte es auch einheitlich sein als die Summe
der empirisch-geschichtlichen Erscheinungen, die die Einzelwissenschaften un-
ter dem Namen »Kunst« zusammenzufassen pflegen (obwohl diese Forderung
im vorliegenden System nicht erfiillt ist); die erste Bestimmung ist aber zu
weit, um eine stringente Entwicklung leiten zu kénnen, und die zweite kann
als empirische zur philosophischen Einheitlichkeit nichts beitragen. (Inwiefern
der Begriff des Geistes eine Umdeutung im modernen Sinne, also etwa als
Inbegriff der Kultur, als »Geist« bei Dilthey, auch fiir seine Hegelsche Fas-
sung zulaft und somit seine Anwendung auf eine blo8 geschichtlich-bedeut-
same, aber nicht transcendental-einheitliche Totalitat méglich macht, kann
hier nicht untersucht werden. Auf das Prinzipielle dieses Problems wird bei
Behandlung der Geschichtlichkeit des Kunstwerks noch ausfiihrlich einzuge-
hen sein.) So muf die »Asthetik« als briichig und widerspruchsvoll erscheinen,
weil sie keinen philosophisch einheitlichen und genauen Begriff der Kunst
aufweisen kann; sofern sie hingegen als Aspekt der Totalitat des Geistes ge-
fa&t wird, ist weniger das Einbeziehen »fremder«, nicht »Asthetischer« In-
halte etwas Willkiirliches, als vielmehr der Gesichtspunkt der Kunst iiber-
haupt, der auf die Klassik zwar adiquat anwendbar ist, aber auch sie nicht
in ihrer wahren Totalitat umfa&t, fiir das Vorher und das Nachher jedoch
schief und unangemessen ist. Die wahre Einheit der Idee kann nur in wahren
Totalititen erfa&t werden, und das Auseinanderlegen ihrer Entfaltung nach
Prinzipien, deren Wesen und Beziehung auf einander nicht aus dieser Einheit
und der Methode ihres Erfassens stammt, kann nur als triibendes Kompromif
erscheinen.
Dies alles bezieht sich jedoch blo& auf die Ausfiihrung, die das System, be-
sonders in den detaillierenden Vorlesungen, erfahren hat. Die spekulative
Eindeutigkeit der Schénheit und ihre dialektische Ableitung bleiben dadurch
24 Heidelberger Asthetik
unangetastet, als eine bestimmte und notwendige Stufe in der Selbstent-
faltung des Geistes, als die Stufe seiner vollendeten Immanenz, als »die dem
Geist angemessene Identifikation des Geistigen und Natiirlichen, welche nicht
nur bei der Neutralisation der beiden entgegengesetzten Seiten stehen bleibt,
sondern das Geistige zu der hdheren Totalitat heraufhebt, in seinem Anderen
sich selber zu erhalten, das Natiirliche ideell zu setzen, und sich im Natiir-
lichen und am Natiirlichen auszudriidken« ® Und als geradeso spekulativ
folgerichtig erscheint es, da dieses Moment des Geistes — als Moment der
Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit, der geisterfiillten Organik — durch ein
hdherstehendes aufgehoben wird: es liegt im Wesen dieser Bestimmungsform,
die Jugendform des Geistes zu sein, eine friihe Vollendung und ein bald ver-
blassender Glanz, iiber den hinaus Echteres und Substantielleres zu suchen
und zu finden geben muf. »Zum Schénen wird erfordert ein Gesetz, das in
die Erscheinung tritt«, sagt Goethe. »In den Bliiten tritt das vegetabilische
Gesetz in seine héchste Erscheinung, und die Rose ware nur wieder der Gipfel
dieser Erscheinung . .. Die Frucht kann nie schén sein: denn da tritt das vege-
tabilische Gesetz in sich (ins blo&e Gesetz) zuriick.«*° Und man kann die Ach-
tung vor der grofartigen spekulativen Tiefe und Konsequenz der so erfaften
Schénheitsidee nicht besser aussprechen, als indem man sie an ihrem wahren
systematischen Ort zu begreifen versucht und ihre zufallige und darum Ver-
wirrungen stiftende Beziehung auf die Kunst als Kunst, als transcendental
eigenartige und unabhangige Gegenstandlichkeit von ihr ablést und sie von
diesem unniitzen Ballast befreit.

89 [Hegel: Vorlesungen iiber die Asthetik. Werke. Bd, x., Abt. 11, S. 9, - S. Aufbau-
Ausgabe, S. 422.]
90 [Maximen und Reflexionen iiber Kunst. Aus dem Nachla8. Simtliche Werke. Jubilaums-
Ausgabe. Bd. 35. S. 325.]
225

Appendix I*)
Die folgenden Darlegungen sind einem System der Asthetik entnommen
und tragen deshalb wohl an manchen Stellen den Stempel der Erginzungs-
bediirftigkeit an sich; manches Problem konnte hier nur angedeutet, man-
ches nicht einmal angedeutet werden, weil der systematische Zusammenhang
einen anderen Ort fiir seine Lusung bestimmt — doch wird ja dieser Mangel
jeder Behandlung jedes Einzelproblems mehr oder weniger anhaften. Zum
Verstandnis dieses Abschnittes ist nur eine Bemerkung nétig: er setzt eine
»Phinomenologie des schipferischen und receptiven Verhaltens« voraus und
einige Begriffe, die auch hier vorkommen (wie homogene Reduktion, Tech-
nik, Vision usw.), erhalten dort einen konkreten und erfiillten Sinn, im
Gegensatz zu ihrer blo& abstrakt-funktionellen Bestimmung in diesem Ab-
schnitt, In bezug auf den Begriff der Phinomenologie sei hier es nur soviel
bemerkt, da& er mehr im Sinne Hegels als in dem Husserls verstanden sein
will: als der Weg, den der »natiirliche«, erlebende Mensch zuriicklegen mug,
bis er zum 4sthetischen Subjekt (zum Schaffenden und Receptiven) verwan-
delt wird; da& dabei mannigfache Beriihrungen mit Husserl und viele Ab-
weichungen von Hegel mitgedacht sind, ist selbstverstindlich, aber fiir das
Verstndnis des Vorliegenden ohne Bedeutung.
Der innere Aufbau jeder Wertsphare hebt sich sowohl von den anderen
Wertsphiren, wie von der »natiirlichen« Wirklichkeit am auffallendsten
wohl durch die Art ab, die die Subjekt-Objekt-Beziehung in ihr Ein-
nimmt. Wenn sich auch diese ganze Schicht spater als eine abgeleitete und
secundire erweisen wird, so zeigt sie doch den einzigen Weg, der zur wirk-
lichen Erkenntnis des Entscheidenden, des transcendenten Wertes selbst
fihrt. Und ganz besonders ist hier der einzige Weg, der es méglich macht,
die spezifische Eigenart einer Wertsphare im Unterschied zu den anderen
herauszuarbeiten und der Gefahr einer allzuraschen Harmonisierung der

* Das dritte Kapitel der »Asthetik« war der einzige Teil der Heidelberger Manuskripte,
der zu Lukdcs Lebzeiten — im ersten Heft des achten Bandes von »Logos« [1917-1918] - im
Druck erschien. Fiir diese Publikation — so ergibt der Vergleich mit dem Originell-Manuskript
— hat Lukdcs das Kapitel mit einer langeren einleitenden Fu&note versehen, den ersten Absatz
anzlich umgeschrieben und auch den weiteren Text etwas modifiziert und gekiirzt, Im Haupt-
text haben wir die handschriftlichen Formulierungen wiederhergestellt. Der Vollstandigkeit
halber bringen wir hier die einleitende FuSnote des Logos-Artikels und die Version seines
ersten Absatzes - G. M.
226 Heidelberger Asthetik
Wertgebiete, ihrer allzu geflissentlichen Abstimmung aneinander, die die
eigentiimlichen Strukturen der einzelnen Spharen verfalschen mu8, zu ent-
gehen. Der systematische Charakter der Sphiren hat aber auch zur Folge,
da& mit der Entscheidung einer Frage die Losungsrichtung aller Probleme
gegeben ist, so daf sich auch die Moglichkeit bietet, durch diese scheinbar spe-
zialistische Fragestellung das Grundproblem der Asthetik durchscheinen zu
lassen.
227

Appendix II*)
2. Die intelligible Zufalligkeit und der Anthropologismus der Kunst
Die monadenhaft zerkliiftete Welt der Asthetik, der Pluralismus, in dem
sich ihr Aufbau vollendet, ist fiir sie notwendige Folge ihrer Setzung, Be-
dingung der Méglichkeit der Verwirklichung ihres leitenden Wertes. Die
philosophische Erkenntnis kann aber trotz der sphirenimmanten Notwen-
digkeit des Pluralismus bei dieser seiner Faktizitat doch nicht stehen bleiben,
sie fordert neben dieser Exposition noch eine — gewisserma&en »aufer-
halb« der Sphire ansetzende — transcendentale Deduktion der Rechtmafig-
keit dieser Setzung. Nicht an ein System der Werte ist hierbei gedacht, um
durch den Nachweis der Stelle, die der asthetische Wert darin einnimmt,
zu der Rechtfertigung seiner Setzungsart und auf diesem Umweg zu der
Rechtfertigung der bisher als Faktizitat erscheinenden strukturellen Folgen
zu gelangen. Es wurde bereits gesagt und kann nicht ausdriicklich genug
wiederholt werden: eine autonome Wertsphare kann nur durch einen prin-
zipiell unableitbaren Wert begriindet werden, das System der Werte ist also
ein System von autonomen und unableitbaren, einer Rechtfertigung nicht
mehr bediirftigen Werten; vom System aus kann niemals etwas im Bezug
auf die einzelnen Werte ausgemacht werden, denn die systematische Frage-
stellung liegt in einer Dimension, wo diese Fragen nicht mehr aufwerfbar
und beantwortbar sind. Das »Auferhalb-der-Sphire« ist deshalb nur so zu
verstehen, da wir versuchen werden ihre Urgegebenheit auf einem anderen
Weg zu erreichen, indem wir diese von dem dunklen Hintergrund sich ab-
heben lassen, von dem sich auch die anderen Wertspharen abheben, und in

* Im handschrifelichen Manuskript des Verfassers trigt das dritte Kapitel der Heidelberger
Asthetik den Titel »Die Idee des Werkes an sich«. Das dritte Kapitel dieser Ausgabe »Die
Subjekt-Objekt-Beziehung in der Asthetik« ist im Manuskript als der erste Punkt dieses um-
fassenderen Kapitels bezeichnet. [Auf der ersten Seite des Lukécs’s gehérenden Sonderdrucks
des Logos-Astikels - welcher den gleichen Titel trigt und mit dem handschriftlichen Text
wesentlich identisch ist (siehe Appendix 1.] - findet sich die eigenhindige Anmerkung: »Asthe-
tik. 3. Cap."] Im Originalmanuskript folge diesem ersten Unterabschnitt ein 2weiter mit dem
Titel: »Die intelligible Zufalligkeit und der Anthropologismus der Kunst.« Dessen zitka
eine handschriftliche Seite umfassender Text bricht aber — in der Mitte der Seite und eines
Satzes — ab. Das offensichtlich von Lukdcs selbst aufgegebene Bruchstiick bringen wir im
nachfolgenden. G. M.
228 Heidelberger Asthetik
diesem und in der Beziehung der Sphare zu ihm den Rechtfertigungsgrund
fiir das So-sein der Sphare, fiir das Resultat der vorhergegangenen Analytik
zu finden versuchen. Wir kehren also wieder zu dem Niveau der Erlebnis-
wirklichkeit zuriick, nur mit dem Unterschied, da® unsere bisher erreichte
Erkenntnis von der Struktur der Sphare sowie von ihren Differenzen von
anderen Spharen durch diese Riidcwendung nicht aufgehoben wird, sondern
als »Faktizitét« das Problem unserer Untersuchung ausmacht, daf also nur
ihre Giiltigkeit bis zur Entscheidung iiber deren Rechtsgrund gewissermafen
»in Klammern gesetzt« werden mu&, ohne darum das Inhaltliche oder
Struktive daran anzutasten.
Die Grundtatsache, die hier den Ausgangspunkt bildet, ist die Unméglich-
keit einer zugleich einheitlichen, allesumfassenden und konstitutiven Syste-
matisation der Totalitét der Welt und darum die Unmidglichkeit einer
Stellungnahme zu ihr, die derart beschaffen ist, da sie alle anderen mdg-
lichen Stellungnahmen gewissermafen in sich vereinigt oder wenigstens aus
sich — restlos und sprunglos — ableitbar macht. Kurz gesagt: die Unmég-
lichkeit der Aufhebung der intelligiblen Zufalligkeit. Dieses Problem muS
doch freilich, um nur andeutungsweise der Lésung nahe gebracht zu sein,
als allgemeine Theorie der Systematisation iiberhaupt gestellt werden und
miiffte die Kritik aller Systemtypen enthalten, die den Anspruch erheben,
die intelligible Zufalligkeit iiberwunden zu haben. Dieser Zusammenhang
gestattet selbstredend eine derartige Fragestellung nicht und bedarf ihrer
auch nicht, insofern es nur iiberhaupt zur Einsicht gebracht werden kann,
da& wenigstens eine derartige, im Wesen der Setzung und der gesetzten
Universa begriindete Zufalligkeit unaufhebbar gegeben ist. Die Zufallig-
keit ist dann in dem Sinn des unableitbaren Gegebenseins zu verstehen, als
ein Dasein, das als solches anzuerkennen, aber dem homogen und einheitlich
zusammenhangenden Kategoriensystem nicht einzufiigen ist. Anders ausge-
driickt, da& es voneinander unabhangige Setzungsarten gibt, wodurch ein-
ander heterogene Gegenstandlichkeiten begriindet werden. Von den histo-
risch bekannten Systemtypen ist das Hegelsche der einzige, der diese Frage
a limine abzuweisen berechtigt ist. Der konkrete Begriff und die dialektische
Methode erheben den Anspruch, nicht nur jede Objektivation und ihre Ob-
jektivitit — von der »natiirlichen Wirklichkeit« bis zur Selbsterkenntnis des
absoluten Geistes — einheitlich zu begreifen, sondern das Dasein und das
Sosein von jeder in und mit derselben Methode hervorzubringen. Fiir jedes
andere System...
[Das Manuskript bricht hier ab — Hrsg.]
229

DAS FORMPROBLEM DER MALEREI


(Eine Vorlesung und zwei Entwiirfe)
231

Bevor ich auf das eigentliche Thema eingehe, muf ich nur ganz kurz ein paar
Bemerkungen machen, damit Ihre Erwartungen nicht etwa in falsche Rich-
tungen gehen sollen, und damit die Art, in der ich diesen Vortrag halten
werde, gekennzeichnet wird. Vor allem mu ich betonen, daf die folgenden
Bemerkungen aus dem Systeme herausgenommen sind und deshalb nicht eine
Abgerundetheit und vollkommene In-sich-Abgeschlossenheit aufweisen kén-
nen. Das Problem des Systems interessiert nur in dieser einen Beziehung, daf
also die meisten Kategorien, die hier beniitzt werden, aus einem viel gréferen
und umfassenderen Zusammenhang herausgenommen sind, so daf sie hier
nicht in ihrer vollstandigen Klarheit und ihrem vollstandigen Begriindetsein
in der Systematik herausgebracht werden. Dabei mu noch bemerkt werden,
da8 die Kategorien, in die hier versucht wird, die Malerei einzuteilen, weder
hierarchische noch wertende Kategorien sind.
Hier soll nur von einem Problem der neuen Einteilung der Malerei die Rede
sein. Nur beildufig will ich bemerken, da alles, was hier iiber den Kiinstler
oder den GenieBenden gesagt wird, nicht psychologisch gemeint ist. Die An-
schauungen, die hier vertreten sind, gehen vom Werke aus, und der Schaf-
fende und der GenieSende kommen nur vor, insofern sie in einer seinsollenden
Beziehung zum Werke stehen. Ebenso, wenn von historischen Dingen die
Rede ist, ist hier ein rein geschichtsphilosophischer Standpunkt vertreten, und
ebenfalls kommen also kunstgeschichtliche Gesichtspunkte und Einteilungen
iiberhaupt nicht in Betracht.
Das Problem, das hier behandelt werden soll, ist ganz kurz dieses: ob die
Malerei an und fiir sich ein nicht mehr weiter analysierbarer Komplex in der
Asthetik ist, also eine Form, fiir die nur eine einheitliche Formenlogik gilt,
oder ob es innerhalb der Malerei verschiedene Kategorien, verschiedene Grup-
pen solcher Formen gibt, die eine eigene Struktur besitzen. Die alte Asthetik
hat die Malerei zumeist nach Gegenstanden eingeteilt, wodurch selbstver-
stindlich etwas vollstandig Inaddquates ausgesprochen wurde. Denn wir
wissen, da es vom rein malerischen Standpunkte aus gleichgiiltig ist, welche
Gegenstiinde zu Gruppen gemalt werden. Zum groSen Teil aus Opposition
gegen diese Asthetik ist die moderne, »kiinstlerische« Theorie, deren Haupt-
vertreter Fiedler und Hildebrand sind, entstanden, die die Malerei und sogar
232 Vorlesung

die bildende Kunst als einen einheitlichen Komplex gefaft hat, der von der
kiinstlerischen Tatigkeit, namentlich von der Reduzierung der Welt auf die
reine Sichtbarkeit und durch das fortsetzende kiinstlerische Verfahren geleitet
wird.
Es ist also die Frage, ob diese Fiedler-Hildebrand’sche Auffassung eine defi-
nitive ist, ob es innerhalb dieses [einheitlichen Komplexes] keine einzigen
Unterabteilungen oder Formen gibt. Es handelt sich hier um die Frage, ob es
eine Gegenstandstheorie der Malerei gibt, ob aus der Idee der Malerei heraus
ein gewisses Reich von apriorischen Gegenstinden und diesen Gegenstinden
entsprechenden apriorischen Gesinnungen zu entwickeln sind, die dann die
verschiedenen malerischen Formen bilden wiirden. Daf die Malerei Gegen-
stinde darzustellen hat, das ist eigentlich vorauszusetzen. Von den beiden
Kiinsten, die als Flachen, als schéne Flachen wirken, sind Teppich und Malerei
im Wesen dadurch getrennt, da& der Teppich gar nichts darstellen will. Wenn
irgendwelche Zeichen im Teppich vorkommen, die eine Realitat enthalten,
dann haben sie eine rein allegorische, dekorative Bedeutung. Ob sie in einer
religidsen Periode Allegorien fiir irgendetwas sind, das geht uns, wenn wir
die Kunst als Kunst betrachten, gar nichts an.
Es wire also die Fiedler’sche Theorie der reinen Sichtbarkeit, die aus allen
Erscheinungen der bildenden Kunst eine Einheit macht, naher zu untersuchen.
Fiedlers Standpunkt ist, da& wir in einer vollkommen verworrenen Welt
leben, wo Sichtbares, Gedachtes und Empfundenes durcheinander gehen, und
wir durch dieses Durcheinander in einem standigen Zustande der Gequiltheit
leben. Es gehért eine Anstrengung dazu, diese Welt auf eine reine Sichtbarkeit
zu reduzieren. Durch diese Reduzierung entstehen aber nur unzusammen-
hangende, fremde Bruchstiicce. Wenn wir alles, was nicht rein sichtbar ist, aus
der Welt entfernen, entsteht irgendeine voriibergehende Vorstellung. Fiedler
halt die kiinstlerische Tatigkeit fiir eine Fortsetzung dieser [Reduzierung zur]
Sichtbarkeit und glaubt, da sie so intensiv werden kann, daf sie zum Werke
fihrt. Da ist vor allem zu bemerken, da Fiedler diesen Ubergang von dem
Sehen zur Tatigkeit einfach als Faktum hinnimmt und andererseits, daf die
Tatigkeit bei ihm nicht zu dem fiihren kann, was fiir uns eigentlich Kunst
ist, namlich zu dem Kunstwerke, zu dem Kunstwerk als irgendeiner Welt, die
einem ganz tiefen, iiber das Individuelle und Empirische hinausgehenden
Bediirfnis des Menschen entspricht. Diese Bahn ist fiir Fiedler unerreichbar.
Die kiinstlerische Tatigkeit versucht er zu erreichen. Es ist aber blo& eine
standige [Approximation], die hier geleistet wird. Dazu kommt noch eines,
da diese Theorie eine rein asthetische ist. Fiedler verlangt, da& wir den
Formproblem der Malerei 233

Proze&, den der Kiinstler vollzieht, nachmachen sollen, damit wir ihn ver-
stehen. Dadurch ist natiirlich alles Werk, von dem wir sprechen wollen, iiber-
sprungen.
Wir miissen also vom Werke ausgehen. Das Werk bedeutet, daf es eine Welt
gibt, da& es eine vollkommen harmonische, in sich abgeschlossene, begliickende
Totalitat gibt. Es ist eine Art von utopischer Welt, die in allem unserer sehn-
suchtsvollen, verlangenden Wirklichkeit entspricht, und zwar das Werk ist
[etwas Konkret-Individuelles]. Da muS man Fiedler mit seiner Theorie,
daf es keine Kunst, sondern nur Kiinste gibt, Recht geben. Jede Kunst ent-
spricht einem Bediirfnis, einem tiefen Leiden der Menschheit — und dieses
Leiden der Menschheit entspricht dem Objektiven, der empirisch sich selbst
und uns unangemessenen Welt -, dem eine Welt gegeniiberzustellen sei, die
gerade diesen Anspriichen gegeniiber sich selbst angemessen ist.
Hier wiirde es sich nun darum handeln, da8 wir eine ding- und raum-
schaffende, farbige Welt bekommen, die in sich selbst angemessen ist, d. h.
da ein Raum dargestellt wird, der fiir diese Dinge da ist, da& diese Dinge
zueinander in Beziehungen stehen, als ob sie nur fiir diese Beziehungen da
waren. Sie kénnen sehen, da wenn Sie an jedes mégliche Erlebnis der sicht-
baren Welt gegeniiber denken, immer diese Unangemessenheit empfinden,
da das Ding ein Dasein hat, das von der utopischen Verwirklichung der
teleologischen Idee [der Welt] unabhingig ist. Hier tritt die kiinstlerische
Tatigkeit in die Asthetik entscheidend ein. Diese objektive Angelegenheit
kann nur wirksam werden, wenn sie eine subjektive Seite hat, namlich da
die Dinge so dargestellt sind, als ob sie nur fiir unsere subjektiven Bediirf-
nisse geschaffen waren. Wahrend die aufere Welt in ihrer Sichtbarkeit ganz
unabhingig davon ist, wie unsere Bediirfnisse gestaltet sind, gestaltet die
Kunst gerade [eine unseren Bediirfnissen und unserer Sehnsucht entsprechen-
de Welt].
Zu der Anschauung Fiedlers ist zu bemerken, da& das Werk eben ein Werk,
eine vollendete Totalitat ist. Fiedler scheidet die Elemente [der Wirklichkeit]
in die Teile, die rein sichtbar werden kénnen, und die Teile, die nicht sichtbar
werden kénnen, die unkiinstlerisch sind. Die Gegenstandslehre der Kunst hat
also zur Aufgabe, davon zu sprechen, wie Dinge, wie Gegenstinde in einer
Kunst durch die Stilisierung entstehen kénnen. Das ist so zu verstehen, daf
zwischen den beiden [Welten des] rein Sichtbaren und des Nicht-Sichtbaren
eine Welt des Einbeziehbaren, also eine an und fiir sich nicht rein sichtbare,
aber durch die kiinstlerische Stilisierung sichtbar zu machende Welt existiert.
Dies ist sehr leicht einzusehen. Es ist leider keine Zeit, das ausfiihrlicher aus-
234 Vorlesung

einander zu setzen. Hier ist z. B. die stoffliche Struktur der Dinge. An und
fiir sich besitzt ein Ding, wenn es auf reine Sichtbarkeit reduziert wird, eben
nur seine Konturen, seine Farben, seine Couleur. Es ist aber durchaus nicht
selbstverstindlich, da& diese Farbe irgendeine stoffliche Beschaffenheit der
Dinge ausdriickt. Damit, da8 wir der Farben gegeniiber die Forderung stellen,
die stoffliche Beschaffenheit auszudriicken, sind wir iiber den Begriff des rein
Sichtbaren schon hinausgegangen. Ich kann hier leider nicht die ganze Steige-
rung der Gegenstandslehre geben. Einerseits z. B. ist die Struktur der Dinge
durchaus nicht mit dieser Sichtbarkeit selbstverstindlich gegeben. Das Ge-
wachsensein eines Baumes, die innere Struktur eines Berges oder Menschen
ist nicht mit seiner Sichtbarkeit gegeben. Wir fordern aber, daf eine Totalitat
erwirbt werde, fordern, da diese Eigenschaften der Dinge in der Malerei
erscheinen. Dazu kommt, daf in der Malerei auch der Mensch erscheint, und
der Mensch kann fiir uns nicht zum diesen fliichtigen Schema werden, was er
infolge seiner Sichtbarkeit ware. Es muf, wie friiher der Farbe gegeniiber, die
Fiktion auftreten, es entsteht hier die weite, gro&e Forderung, da das rein
auBere Aussehen des Menschen sein Inneres wiederspiegeln muf, da& von
einer gewissen Bewegung eine gewisse innere Intensitat ausstromen muf. Ich
will betonen, da& hier nicht von einem Dualismus von Gegenstand und
Malerei die Rede ist, sondern gerade davon, wie weit das Malerische imstande
ist, alle Gegenstande durchzudringen, und so eine Welt zu schaffen, in der das
Innere mit dem Auferen vollstandig iibereinstimmt. Da die Malerei nur iiber
das Aufere verftigt, dennoch aber eine all unserem Leiden an der Wirklich-
keit entsprechende Welt schaffen will, mu sie von der Fiktion ausgehen, da8
das Innere das Aufere sei und zum Ausdruck fahig ist. Wenn man diese
Gegenstandslehre (ausarbeitete], die in dem Wesen also Stoff, Struktur, Aus-
druck und Bezichung — die Beziehungen der Dinge und der Bewegungen
zueinander, Beziehungen der Dinge zum Raum und Stimmungsbeziehungen
[sein kénnen] — zusammenfassen wiirde, wiirden wir eine Gegenstandslehre
der Kunst bekommen, von der wir in diesem Falle ausgehen kénnen.
Die Frage ist nun, vor der wir jetzt stehen, ob wir durch diese Gegenstands-
lehre, durch die Forderung, daf die Kunst eine Welt ausdriicke, ob wir da-
durch zur Méglichkeit einer Differenzierung der Kunst kommen. Denn es
ware immer noch die Position denkbar, daf dies alles schén und richtig sei,
aber dies waren blo8 die Prinzipien des rein Malerischen und wir blieben bei
der Einheit, bei der Fiedler stehen geblieben ist. Wir sahen, da& bei der rein
malerischen Gesinnung man gar nicht zum Werke kommen kann, da von
der kiinstlerischen Tatigkeit zum Werke eine Art Sprung [fiihrt, ohne den]
Formproblem der Malerei 235
die kiinstlerische Tatigkeit unendlich ware, daf es ein Sprung gesetzt werden
muf, da& das Werk erreichbar sei. Auferdem sehen wir bei dieser Gegen-
standslehre, da die Kunst durchaus gar nicht zu begreifen ist, ohne einen
vollstindig neuen Begriff einzufihren, den ich nach der Terminologie der
neueren [Asthetik] Kunstwollen nenne, Dies bedeutet eine Gesinnung des
Kiinstlers, in der das Werk abgezogen wird, eine Gesinnung, die diese Welt
und gerade diese Welt hervorbringt. Wenn also hier diese Gesinnung analy-
siert wird, und es versucht wird, innerhalb dieser Gesinnung verschiedene
Abstufungen, denen objektiv-malerisch verschiedene Kunstformen der
Malerei entsprechen, zu finden, dann mu noch etwas betont werden, namlich
daf diese Gesinnungen einander vollstandig koordiniert sind. Es handelt sich
nicht darum, irgendwie eine zu sich kommende Idee der Malerei in verschie-
denen Stadien darzustellen, sondern diese Gesinnungsgruppen sind jede fir
sich genommen, und es handelt sich darum, solche Gruppen innerhalb der
Malerei zu finden.
‘Wenn wir uns auf den Standpunkt stellen, den man jeder Malerei gegeniiber
einnehmen muf, da irgendwie ein Zustand der reinen Sichtbarkeit bereits
erreicht ist und der Kiinstler vor der zu gestaltenden Welt steht, kénnen wir
drei verschiedene Verhaltungsarten finden. Diese Verhaltungsarten waren
kurz die folgenden: Die erste ware gegeben als die Freude an dieser neu
entdeckten Welt, als der Auszug in diese, das Finden der neuen Welt, das
Finden eines vollstandig neuen Komplexes, eines bunten, weiten und reichen
Lebens und ein Stehenbleiben bei dieser Buntheit, bei diesem Komplex, bei
diesem fast unendlichen Reichtum des Lebens, wo die Dinge miteinander
eigentlich durch die blo&e Subjektivitat des Erlebens verkniipft sind, wo
nichts anderes als diese gesucht wird. Andererseits wird dieses Erlebnis den
Dingen gegeniiber so vertieft, da gerade ihre [scharfste Negation] aufgesucht
wird. Es ware die Gesinnung, die am nachsten zu den rein Malerischen steht,
wo von dem Einbeziehbaren nur ein Minimum genommen wird, das Ein-
fachste, das Stoffliche, das rein auf die Oberflache tretende Charakteristikum,
Dadurch bleibt natiirlich die urspriingliche Dualitit in der Stellungnahme
zur Welt bestehen. Das Subjekt steht ganz auferhalb der Welt, die es dar-
stellt, und die Dinge bleiben in einer Objektivitat stehen. Demgegeniiber steht
eine vollkommen heterogene Stellungnahme, das Eingehen des Menschen in
sich selbst, des Menschen, der sich selbst gefunden hat, der in sich geblidst hat,
und nun in allen duSeren Dingen etwas Wesenloses erblickt oder Zeichen
seines Inneren, entweder als ob die Dinge nicht existierten, oder Arabesken
seien, oder — was die aller tiefste Sehnsucht in dieser Stellungnahme zum
236 Vorlesung

Leben ist — Spiegel seien, in dem das sich selbst erreichte Ich sich selbst wieder
erblidct. Die dritte Stellungnahme wire eine [iiber die zweite] hinausgehende,
in dem Sinne, da& der Mensch nicht zufrieden ist, sich selbst gefunden zu
haben, sondern eine sich selbst angemessene neue Welt sucht. Wahrend wir
bei der zuerst bezeichneten Stufe der Objektivitat eine unserem gewohnlichen
empirischen Ich angemessene dufere Welt suchten und fanden, wird in dieser
dritten Stufe das sich selbst erreichte Ich in die Stellung kommen, sich eine
angemessene Welt zu finden. Diese Welt kann nur eine Welt der vollkom-
menen Erléstheit sein, d. h. da& die Dinge nicht mehr in ihrer gewohnlichen
Dinghaftigkeit bleiben und nur von der Subjektivitit des Lebens umsponnen
werden, sondern sie als Dinge die absolut méglichst héchste Vollendung
erreichen, und als solche sich widerspruchslos und ohne Dissonanz in die neue
Welt, in die angemessene, in die Welt des Werkes fiigen.
Diese drei méglichen Stellungnahmen habe ich aus praktischen Griinden
Gemiit, Seele und Geist genannt. Gemiit wiirde den Auszug, Seele die Ein-
kehr und Geist die Heimkehr bedeuten. Gemiit wiirde [dem Leben], Seele
der Tiefe und Geist der Hoheit entsprechen. In dem Gemiit herrscht [Neu-
sier], [in der Seele] Vertiefung, [in dem Geist] Ergriffenheit. In dem Gemiit
ist eine bejahende und verneinende, sowohl ablehnende wie akzeptierende
Stellungnahme méglich. Die Seele ist die Sphare der Innigkeit und Mit-sich-
Vertrautheit, wahrend der Geist die Sphire der Kilte ist. [Dieser letzte] Be-
griff befremdet vielleicht im ersten Augenblick, da er ungewohnt ist und wir
durch falschen historischen Respekt zur Kunst in ein zu schnell vertrautes Ver-
haltnis zu ihr gekommen sind. Jeder Mensch, der sich mit den gré8eren und
bedeutenden Werken befa&t hat, wird aber ganz gewif darin eine abschrek-
kende Kailte, eine ablésende Grofe und Hoheit, eine Art von Welt empfin-
den, in die wir absolut nicht hineinkommen kénnen. Ich will Sie nur, um
ein Beispiel anzufishren, daran erinnern, wie sehr der junge Schiller, der
dieser Begriffsbildung nach in der Atmosphire der Sele lebte, von den
groBen Tragédien Shakespeares als etwas Kaltem und Unmenschlichem abge-
stoBen wurde. Objektiv ausgesprochen wiirden also diese drei Stadien vedeu-
ten: die Wahrheit iiber die Dinge als Atmosphare des Gemiits, die Dinge als
Spiegel als Atmosphire der Seele und die Dinge in Wahrheit als Atmosphare
des Geistes.
Damit waren die drei Gesinnungen charakterisiert, die meiner Erachtung
nach die Einteilung der Malerei méglich machen. Der Sphire des Gemiits
entspricht das Stilleben. Ich muf Sie nun einen Augenblick um Geduld bitten,
weil ich hier historisch-stofflich festgestellte Kategorien als apriorische Kate-
Formproblem der Malerei 237
gorien setze, und den Grund dieser Namengebung erst am Schlusse erklaren
kann. Ich bitte Sie also, weder eine Stofflichkeit vorauszusetzen, noch an
scheinbaren Paradoxien sich zu stofen. Das Stilleben entspricht eigentlich der
phinomenologischen Gesinnung des rein Malerischen, wie es Fiedler ausge-
sprochen hat, wie man es unziahlige Male bei rein naiven Malern empfinden
kann. Das empfinden Sie alle beim Stilleben, wenn [ein Augenblick in der
Malerei] stehen geblieben ist; daraus entsteht eine merkwiirdige Ruhe inner-
halb dieser Bewegtheit. Das Ding ist als malerisches Objekt aufgefat, als
welches es stillstehen muf. Das Stillstehen ist fiir das Ding durchaus nicht
konservativ. Das Modell des Malers muf eben still stehen. Darum ist in
dieser Sphire, weil sie diese grofe Nahe zur blo8 kiinstlerischen Gesinnung
hat, das Minimum dessen, was ich Einbezogenheit nenne, eben zumeist das
Allerauffallendste: etwa das Stoffliche. Denken Sie an die hollandische Still-
leben- und Genremalerei, wo Sie sehen werden, da8 das liebevolle Eingehen
auf das Stoffliche der einzelnen Dinge ein wesentliches Charakteristikum
dieser Art von Malerei ist. Das Stoffliche ist tatsachlich das Teil des Ein-
beziehbaren, was dem rein technischen Verfahren des Malers am nichsten
steht. Es ist dieser Teil, was in der Farbenmischung und der Pinselfithrung
liegt. Dieses Stoffliche fithrt zu einer nicht ins Auferste getriebenen Stufe des
Ausdrucks, namlich zu dem, was man im allgemeinen das Charakteristische
nennt. Unter Charakteristischem kénnen wir verstehen, da irgendwelche
Ziige eines Menschen oder Dinges eben irgendetwas ausdriicken, was in einer
merkwiirdigen Zusammenstellung frappiert und uns irgendeine, zumeist
ziemlich unklare Stimmung von etwas Psychologischem aufzwingt. Aber
dieses Charakteristische ist eigentlich wieder nur von der Oberfliche der
Dinge genommen, und ich will nicht auf seine eigenste Struktur und Beschaf-
fenheit eingehen. So ist auch der Raum, der gestaltet wird, eben ein Mittel
zum Arrangement der Dinge der tiefsten Dissonanz. Das Problem von Ding
und Raum wird noch nicht aufgeworfen, sondern iiberbriickt, unsere Leiden
werden vergessen gemacht. Alles das, was ich hier Oberfliche nennen wiirde,
soll durchaus nicht in einem das Werk verneinenden Sinne gemeint sein. Hier
ist die reine Freude da. Durch die Sichtbarkeit tritt alles an die Oberflache,
und diese ist so vehement und so verschwendend geworden, da aus ihr diese
Welt, diese Welt der ruhigen, einfachen, charakteristischen Schénheit ent-
steht. Diese Kunst, die am reinsten malerisch zu sein scheint, hat aber, wie
man es vielmals beobachten kann, doch das starkste stoffliche Interesse. Wenn
etwa ein hollandischer Stilleben- oder Genremaler eine Familienscene gemalt
hat, hat er sie aus einer vollkommen malerischen Gesinnung gemalt, sie war
238 Vorlesung

seiner malerischen Gesinnung entsprechend das gliidklichste Motiv. Da er


aber die Handlung als menschlichen Ausdruck in die Malerei hineingezogen
hat — hier deute ich darauf hin, da& die Dualitat von Subjekt und Objekt
innerhalb der Sphare des Gemiits [weiter] besteht —, so ist der Ausdruck in-
haltlich auerhalb des Malerischen genommen, und das Mifverstindnis, da&
etwas rein Malerisches thematisch erfa®t werden kann, ist fiir diese Stufe der
Malerei am charakteristischsten. Ich kann auf den franzésischen Impressionis-
mus hinweisen, der, wenn auch nicht der anekdotenhaften Inhaltlichkeit,
sondern vor allem der soziologischen Inhaltlichkeit zum Opfer gefallen ist,
und wieder mit vollkommenen Rechte, weil bei dieser Art der Malerei die
héchste Objektivitat nicht einbezogen wird. Darum wiirde ich alle Malereien,
wenigstens den gréften Teil der Malereien des Impressionismus als Stilleben
bezeichnen, und trotz ihrer Grofziigigkeit und Flichtigkeit der Pinselfith-
rung finden wir gerade dieselbe Kleinlichkeit [den Dingen gegeniiber wie] in
der holldndischen Malerei, nur da& es in der hollandischen Malerei etwas
kleinlich analisierendes, etwas [auf das Riumliche anwendbares] war. Der
Impressionismus analysiert zeitlich, indem er scheinbare Gegenstande bei
jedem Wedhsel des Lichtes gemalt hat. In dies sehe ich dieselbe Gesinnung,
auf das an der Oberflache Liegende einzugehen, wie bei der hollandischen
Malerei.
Wenn wir jetzt das Gebiet suchen, das innerlich der Gesinnung der Seele ent-
spricht, so kommen wir zu der paradoxesten [Stellungnahme] in der Malerei.
Denn wir haben die Seele als rein Innerliches, als auf Tiefes Eingehendes, als
die auBere Welt Verachtendes, nur sich selbst Lebendes, in der auferen Welt
seinen eigenen Spiegel Sehendes betrachtet. Daf hier iiberhaupt eine Malerei
entsteht, ist das paradoxeste Problem, und daf es lésbar ist, ist nur dadurch
miglich, da&, wie wir es gesehen haben, auch der Ausdruds einbeziehbar ist.
Hildebrand, der in seiner Gesamtauffassung auf das rein Kiinstlerische noch
viel strenger als Fiedler eingeht, gibt zu, da& gewisse Kérperformen an und
fiir sich einen malerischen Ausdruck an sich tragen. Es ist unvermeidlich mit
einer gewissen Hand oder gewissen Form etwas Psychologisches zu verbinden.
Wahrend aber Hildebrand — und als Bildhauer hat er darin recht — in diesem
nur irgendeine Gegebenheit, an der man nicht vorbeigehen kann, erblickt
hat, erblicken wir hier die sehr groe Méglichkeit der Malerei. Fiir die
Malerei ist der Ausdrudk nicht ein notwendiges Ubel, sondern etwas absolut
aus dem allertiefsten Gewolltes. Daraus folgt selbstverstandlich, daf die rein
duBere Welt, die [die Menschen] durch ihre Formen umgebende Welt, nicht
diesen Ausdruck, sondern héchstens einen in sich hinein getraumten Ausdruck
Formproblem der Malerei 239
besitzen kann, wo es nur darauf ankommt, da wir aus Dingen eine gewisse
Stimmung zu entnehmen scheinen — und dies entspricht unserem inneren
Bediirfnis. Dadurch ist aber das Ding: nicht gemalt. Dieser Spiegel, den die
Seele sucht, ist in diesem Falle nicht rein zu erreichen. Es wird klar sein, da8
dieses Erreichen in diesem Falle nur der Mensch sein kann, da& der Mensch
nur im Menschen sich selbst erbliccen kann, da nur in diesem Falle, wenn
das Aufere, das Gesicht des Menschen durch die Fiktion, die die Malerei
tragt, zum rein adaquaten, zum absolut ausdriickenden Vehikel der Mittei-
lung fiir das Innere geworden ist, also nur im Portrait die Seele ihren aufe-
ren Ausdruck erblidcen kann. Es klingt vielleicht gar nicht mehr paradox,
wenn ich sage, da& daraus folgt, da& jedes echte Portrait ein Selbstportrait
ist, in dem doppelten Sinne, in dem es einerseits in dem zufalligen Modell
das Seelische des Malers ausdriickt, andererseits da® fiir uns von jedem
solchen Portrait alle Schleier fallen und wir den Eindruck haben, uns selbst
zu erblicken.
Nun miissen wir zur dritten Kategorie zuriicckommen und suchen, wie sich
nun die Welt, die der hier erreichten Stufe adaquat ist, entsteht. Hier miissen
wir nun zwei verschiedene Gebiete unterscheiden, die objektiv in sich ange-
messene Welt in zweierlei Art. Betrachten wir namlich die Welt, die uns
umgibt, ohne daf wir an dieser [voriibergehen diirfen, die Welt des Natiir-
lichen], und die Welt, in der wir unser utopisches Subjekt mit unserem intelle-
giblen Ich hervorbringen. Die erste Welt ist selbstverstandlich die Landschaft,
die Landschaft aber in einem ganz anderen Sinne als sie empirisch-historisch
aufgefa&t wurde. Das Problem ist hier die Einbeziehung [der Struktur], da&
das Ding irgendwie als etwas aus eigenen sichtbaren Strukturen zusammen-
gesetztes erscheint, als Ding in Beziehungen zu anderen Dingen und zum
Raume, der sie umgibt, tritt, da& also die Welt, die uns umgibt, nicht nur in
dem oberflachlichen Sinn, den wir friiher sahen, von allem Quilenden befreit
wird, sondern in ihrem innersten Wesen, in ihrer Monumentalitat vor uns
steht. Man kdnnte fast sagen, wenn das Wort nicht verwechselbar ware, daf
hier eine naturphilosophische Gesinnung arbeitet, eine naturphilosophische
Gesinnung in dem Sinne, wie es Goethe gemeint hatte, der von dem Gefiihl
erfiillt war, da& in den sichtbar zutagetretenden Erscheinungen der Natur ihr
innerster Kern, ihr Wesen zutagetritt. Der Mensch kann kein adaquates
Objekt fiir diese Gesinnung sein — ich meine, es ware denkbar, daf diese Art
der Darstellung, die in der [Natur] ihr Wesen erblickt, auch den Menschen
wahlt, es wire denkbar, aber es wird sowohl bei dem Nachdenken, wie wenn
man sich an historische Beispiele erinnert, klar, da& hier blo& etwas Experi-
240 Vorlesung

mentelles entsteht. Wenn nicht diese naturphilosophisch sichtbar gewordene


Anatomie der Natur, sondern irgendwie eine biologisch-naturphilosophisch
gewordene Anatomie des Menschen zutage trete, dann wiirde der Mensch,
den wir in der Malerei erstreben, abgeschwacht, er wiirde verschwinden—dies
ware irgendeine Art von Atelierexperiment. Wir suchen eben in der Malerei
ein ganz anderes Innere, als was hier in den Menschen zutage tritt. Daf dies
in der [Skulptur] vollkommen anders ist, bezeugt, da& jede [Kunst] nun ihre
eigene [Kunstlehre] besitzt.
Um den Unterschied von den vorhergehenden Gruppen klar hervorzuheben,
mu ich ein Weiteres tiber die Komposition sagen, da namlich die Kompo-
sition des Stillebens notwendigerweise eine Komposition des Nebengeordnet-
seins ist, eine [nicht] hierarchische Komposition. Die Komposition des
Portraits ist eine absolut hierarchische Komposition, indem die Seele, die im
Gesicht zutage tritt, zum absoluten Mittelpunkt des Bildes gemacht wird und
alles andere versinkt. Sie miissen nur an Rembrandt denken. In der Land-
schaft entsteht eine peripharische Harmonie, indem die Dinge harmonisch
neben und iiber einander geordnet sind, andererseits die Harmonie stumm
ist wie die Natur. Es fehlt der Mittelpunkt, der Herrscher. Dieser Herrscher
tritt in der vierten Kategorie, die ebenfalls dem Geiste enspricht, die man die
groBe Komposition nennen kénnte, zutage. Alles, was in der Landschaft das
Wesentliche war, wird hier zum Hintergrund. Das Leiden, das wir in der
Wirklichkeit in dem Verscheiden [der Ewigkeit] der Natur gegeniiber, in dem
Erdriicktsein der Quantitat der Natur gegeniiber haben, wird aufgelést. Der
Mensch steht in der Mitte der Dinge, und die Natur wird zum Hintergrund
zuriickgedrangt. Das Einbeziehbare in dieser Komposition, die wir als das
rein Hierarchische bezeichnen kénnen, besteht hauptsichlich in der Bewegung.
Denn der Mensch, der hier auftritt, ist nicht mehr die in sich zuriickgezogene
Seele, sondern ist der objektiv gewordene Geist. Darum wird das Gesicht
etwas Nebensichliches, etwas eine viel geringere Rolle Spielendes als [im
Falle des Portraits]. Der Mensch ist eine Bewegungseinheit, der durch seine
Bewegungsintensitat den objektiven Geist ausdriickt. Daraus folgt also, da&
der Mensch hier nicht mehr allein auftritt. Ein sich bewegender Mensch
innerhalb irgendwelcher Staffage bliebe unerlést; seine Bewegungsintensitat
wiirde in die leere, stumme Natur hineinflieSen und wire in sich unabgeschlos-
sen. Darum ist es eine notwendige Forderung — und darum heift ja diese
Kategorie Komposition -, da® hier eben mehrere Menschen miteinander in
eine gewisse Beziehung treten sollen, da& ihre Bewegungen, die auf eine
méglichst gro8e Intensitat streben, miteinander einen gewissen Strom bilden,
Formproblem der Malerei 241
daf die Bewegung des einen sich in der Bewegung des anderen fortsetzt, dort
Ruhe findet, der Strom hin und her kreist, ohne ins Leere zu miinden, so da&
eine Welt entsteht, wo die aufs duferst Intensive, auf Ausdruck gerichtete
Menschheit vollkommen ruhig, harmonisch ist. Daf dieser Ausdruck einen
Sinn haben mu&, ist selbstverstindlich. Denn wir wiirden, wenn wir die
Menschen nur in der Natur sich bewegen lieRen, wieder zu einer Art Stumm-
heit, wieder zu einer Art der »naturphilosophischen« Gestaltung zuriick-
kommen. Darum ist historisch vollkommen gerechtfertigt, da alle groBe
Malerei hier ‘eine thematische war, da8 nur mit der totalen Verkniipplung
aller gesellschaftlichen Struktur diese gro&e Malerei unthematisch geworden
ist. Wir diirfen aber nicht vergessen, da die Malerei etwas absolut unmittel-
bar Wirkendes ist, da alles, was ich hier von Ausdruck gesagt habe, durch-
aus nicht Gegenstand einer Reflektion sein darf, da® der Sinn eben irgendwie
mit den Formen und Bewegungen und Bewegungsintensitaten simultan auf-
genommen ist. Da8 es dann nachtraglich auf einen [anderen] Sinn lokalisiert
wird, ist gleichgiiltig. Wenn wir denken wiirden, daf alle Inhalte der katho-
lischen Kirchen verschwunden waren und wir Malereien von Michelangelo,
Raphael und Tizian betrachten wiirden, [in denen doch] einen sinnvollen,
einen apriorischen Sinn finden wiirden, ob wir dies auch nicht in Worte klei-
den kénnten, wahrend moderne Bilder, die diesen Untergrund, diesen unbe-
wuft tragenden Grund nicht besitzen, in dem Augenblick, wo man den
thematischen Charakter nicht kennt, unverstandlich wiirden.
Ich habe Ihre Geduld schon etwas zu lange in Anspruch genommen, so da
ich auf eine weitere Analyse der Begriffsbildung der Malerei verzichten mu8,
in der diese Kategorien entsprechend geschichtsphilosophisch dargestellt
waren. Ich muf zusammenfassend darauf zuriickgehen, da die Kategorien
von Stilleben, Portrait, Landschaft und heroischer Komposition eben Katego-
rien fiir sich sind, apriorische Kategorien, deren Aprioritat darin besteht, daf
die malerische Gegenstandlichkeit, die in jedem solchen Stadium ausgedriickt
wird, eben nur darin ihre apriorische Idee, den vollstindig adaquaten Aus-
druck finden kann, daf also der Gesinnung, die wir Seele genannt haben, nur
das Portrait addquat entsprechen kann usw.
Dem Portrait gegeniiber kann man das Ziel leicht finden. Denn wir haben ja
gesehen, daf einer subjektiven Geltung den Dingen gegeniiber die Stimmung
entspricht. Die Stimmung ist etwas rein Reflexives, ist eine Vollkommenheit,.
die wie ein Mantel iiber die Dinge gebreitet wird, die sie in rein subjektive
Beziehung bringt, aber nicht die Fahigkeit besitzt, die Dinge aus ihrer ding-
242 Vorlesung
lichen Unerldstheit heraus zu erlésen; eine Gesinnung, wie es Lord Byron
ausdriickt:
[>I live not in myself, but I become
Portion of that around me; and to me
High mountains are a feeling.«]
Dies ist eine Gesinnung, die malerisch nie zu einer kanonischen Form kommen
kann. Darum behaupte ich, da& diese Gesinnung der Seele, die sich in der
romantischen Landschaft ausdriickt, sich in der Landschaft nie vollkommen
zum erlésenden Aussprechen seiner selbst bringen kann, sondern nur in dem
als Selbstportrait gefa&ten Portrait. Daf gewisse [romantische Landschaften]
eine malerische Vollendung besitzen kénnen, hat damit nichts zu schaffen.
Wenn wir die malerische Méglichkeit des Portraits betrachten, miissen wir
finden, da& das Portrait auf jeder Stufe der dargestellten [Kunststadien]
vorkommt. Es kann als charakteristisches Portrait, als Stilleben vorkommen.
Ist das aber das, was wir ein Selbstfinden in der Auferlichkeit eines Andern
nennen kénnen? Jeder, der Portraits der grofen rein malerischen Kiinstler,
etwa Liebermann’s, in alten Zeiten von Franz Hals gesehen hat, muf das
verneinen, mu sagen, daf auf diesen Bildern die Stoffmalerei des Anzugs,
der Pinselstrich, der rein artistische Genuf§ dem Menschen gegeniiber durch-
aus die Ergriffenheit, die man einem Rembrandtschen Bilde — speziell aus
der spiteren Zeit — oder einem Portrait von Lorenzo Lotto gegeniiber empfin-
det, [entsetzen miissen]. Portrait ist freilich auch in der Komposition drin,
sogar die samtlichen Portraits der grofen Renaissance-Kiinstler waren dieser
Art, aber diese Portraits sind wieder nicht Portraits in unserem Sinne, son-
dern Abbildungen von reprisentativen Scenen, in denen zufallig nur ein
Mensch vorkommt. Die Komposition schafft die Erscheinung, da8 das, was
auf unserer Welt vorkommen kann, in einem mythischen Sinne historisch
wird, in einem fiir die Menschen symbolischen Gehalt zutage tritt. In diesem
Sinne gehirt ein Papstportrait Raphaels in dieselbe Kategorie, zu der seine
Fresken gehdren. Drittens kann aber, trotz der vorhergehenden Bemerkun-
gen, der Mensch auch naturphilosophisch betrachtet werden, nicht in dem
biologischen Sinne wie ich es an einzelnen Exempeln gezeigt habe, sondern
in dem Sinne, wie alles Objektive in seiner Schwere, in seiner Massigkeit, in
seiner inneren Bewegtheit ohne Riicksicht auf irgendeine innere, seelische zu
Charakterisierende zutage tritt. Jeder Mensch, der ein Portrait von Cézanne
gesehen hat, wird wissen, was ich meine, daf in seinen Portraits dieselbe
Gestaltungsart zutage tritt wie in seinen [Landschaften].
Um den Ubergang [zur groSen Komposition] zu finden, werden Sie es selbst-
Formproblem der Malerei 243
verstandlich halten, daf ich die Portraits von Cézanne in die Kategorie der
heroischen Landschaft stelle. Die Landschaften, Stilleben und Portraits von
Cézanne gehiren geradeso zur selben Kategorie der Landschaft, wie die
Portraits von Franz Hals und Liebermann zur Kategorie des Stillebens
gehéren. Bei der gro&en Komposition ware nur das eine zu bemerken, daf sie
die am geschichtsphilosophisch empfindlichste Kategorie ist. Ich habe schon
darauf hingewiesen, da& jede gro&e Komposition einen Sinn haben muf,
auch wenn unsere Ausdrucksméglichkeit dieses Sinnes eine vollstandig inada-
quate ist. Wir kénnen in unserer Zeit bei den einigen groSen Kompositoren,
die wir haben, erblicken, da in dem Maler historisch-geschichtsphilosophisch
irgend ein Inhalt ist, der so im Bewuftsein seiner seinsollenden Zuschauer ist,
daf sie ihn von der Stimmung und dem Innerlichkeitscharakter [des Schaf-
fenden] ablésen und [so wiedererleben kénnen]. Delacroix hat es am besten
bezeugt. Er lebte in den Nachklangen einer humanistischen Renaissance, wo
Dante, Hamlet und Faust in der Gesinnung der Menschen mit einer ganz
anderen Unmittelbarkeit des Erlebnisses lebten [als je]. Dies gab Delacroix
die Méglichkeit, seine Komposition ganz in dem Sinn friherer groSer Kom-
positoren, in dem Sinne Rubens etwa, zusammenzuschliefen. Wenn auch uns
der Sinn verschwunden ist, muf ein Einblidc auf spater entstandene Bilder,
etwa Anselm Feuerbach’s, iiberzeugen, wie sehr Delacroix von diesem Sinne
getragen wurde. Man kann es an der grofen Dreieckkomposition von
Cézanne, die er manchmal verwarf und dann wieder aufnahm, in der er
zwischen Baumen nackte Gestalten zu komponieren versuchte, sehen. Wir
kénnten das absolut betrachten, wenn wir nur die Geometrie betrachten
wiirden. Falls alle Geometrie eine Gleichwertigkeit besitzen wiirde, dann
kénnte man sicher entgegensetzen, daf& das Thema vollstandig gleichgiiltig
sei, der Maler sei dann nicht gebunden, er kann mit den Bewegungsintensita-
ten arbeiten, wie er will. Wir sehen aber, da es durchaus nicht notwendig
ist, da& der Maler mit allen Méglichkeiten frei schalten kann, so wie es
durchaus kein Zufall ist, da& wir von den gleichwertigen Geometrien eben
eine anwenden. Weil hier eine Aprioritat an irgendeinem Punkte die Ent-
scheidung miéglich macht, so spielt das Thema als ein zur Sinnfilligkeit wer-
dender Sinn in das rein Malerische hinein. Je gebundener [das Thema], desto
gréBer die Notwendigkeit. Komposition ohne irgendwelchen Sinn kann nicht
zustande kommen. Denn rein malerisch kann man gar nicht auswahlen. Das
Stilleben besitzt durchaus nicht diese geschichtsphilosophische Empfindlich-
keit, die wir an der Kompositon bemerkt haben, die Sie aber in Cézanne’s
Stellung zur heroischen Landschaft ebenfalls erblicsen kénnen.
244

Entwurf 1.
L
Aus System. Nicht wertend oder hierarchisch (also keine Metaphysik), aber
weder historisch noch psychologisch.
Das Problem. Die alten Einteilungen. Scheidung von Teppich und Malerei.
»Gegenstand« der Malerei: Gegenstandstheorie aus dem Begriff der
Malerei.
Die »kiinstlerische« Theorie Fiedlers. Kein »Werk«. Das »Verstandnis«.
Was wire eine solche Kunst fiir uns? Was ist Sichtbarkeit?
Die »Einbeziehung«: Stoff, Struktur (Schwere), Ausdruds (Gesicht, Bewe-
gung), Beziehung (Ding-, Raum-, Bewegungsbeziehung; Stimmung). Ad
hoc Character (Vergleich mit Plastik). — Totalitat und Ding.
Die Angemessenheit des Werks. Subjektiv und objektiv (Inneres und Aufe-
res). Es sollen Welten entstehen. Das Kunstwollen (nachkonstruktiv) —
Tatigkeit (phanomenologisch).
Ob es System des Kunstwollens gibt? Eine (gegenseitig bedingte) Reihe von
Gesinnungen und ihnen entsprechenden Werkwelten. Das »Malerische«
ist vorausgesetzt. — {Wenn die hier entstehende Hierarchie dariiber
wirklich hinausgehen wollte, ware sie keine Malerei; wenn sie sie! aber
nicht transcendieren wiirde — was wire sie uns?}* — »Einbeziehunge: auf-
gefangenes Transcendieren. — Gegen Atelier-Esoterik und falsche Analo-
gie zur Wissenschaft bei Fiedler. — Gesinnung: Stadien, nicht Etappen
(Kierkegaard), jede in sich vollendet.
n
Gemiit: Der Auszug. Neugier und Lebensgier. Freude (oder Leiden) an der
Buntheit etc. des Lebens, Das Leben. {Emotionale Gleichgiiltigkeit: die
schamfremde Welt. Kann natura Form sein?} Die urspriingliche Duali-
tat bleibe, weil das Ich nicht vorkommt und die Dinge unberiihrt bleiben.
Seele: Einkehr in sich und Sichfinden. Die Dinge werden zu Zeichen und
Spiegel — sonst versinken sie. Tiefe. Mystik.
Geist: Die diesem Ich angemessene Welt. Die Erléstheit: alles kommt zu sich
und findet seine Heimat. Gréfe und Hoheit. Konstitutive Beziehungen.
Die Sichtbarkeit wird mythisch.

1 sie — d. i. Sichtbarkeit (Hrsg.)


2 Alle in Akkoladen stehenden Phrasen stammen von dem ersten Konzept dieses Entwurfes
(Hrsg.)
Formproblem der Malerei 245
G: Auszug Leben Neugier Emotionale Wahrheit ber
Gleichgiiltig- die Dinge
keit

S: Einkehr _Tiefe Ver- Innigkeit Dinge als Spiegel


tiefung des Ichs

G: Heimkehr Hoheit —Ergrif-—Kallte Die Dinge in


fenheit Wahrheit

Stilleben (Leben): Die phanomenologische Gesinnung des Malers. Minimum


des »Einbezogenen«. Stoffmalerei. Raum als Mittel des Arrangements.
Das Characteristische (Fremdheit und Gleichgiiltigkeit). Die (durch reine
Sichtbarkeit) vehement gewordene Oberflache: bewuft und gewollt. Hin-
gebung an Einzelnes. (Stofflich: Holland; zeitlich: Impressionismus).
Keine Hierarchie der Komposition: Hintergrund unentdeckt. — Durch
Gleichgiiltigkeit gegen Thema (nicht »einbezogen«) entsteht das stoffliche
Interesse (Holland): die urspriingliche Dualitat. Emotionale Gleichgiiltig-
keit.

Portrait (Tiefe): Einbeziehung des Ausdrucksproblems, Unmittelbarkeit als


Solipsismus. Stimmung als reflexives Sichfinden (Landschaft). Der Mensch.
Bedeutungslosigkeit der Bewegung. Das Gesicht. Portrait als Selbst-
portrait. Das Paradox-Malerische. Keine Hierarchie der Komposition —
weil rein central (Rembrandt). Kein Hintergrund.
Landschaft (Gréfe): Einbeziehung der Struktur (Schwere, stabile Intensitat,
Gewachsensein). Ding- und Raumbeziehung. Die uns umgebende, uns
angemessene Natur (Mensch verschwindet). (Anatomie des Menschen —
inadtiquat. Experiment. Plastik.) Herrschaft des Hintergrundes: hierar-
chische Centrumlosigkeit. - Sichtbarer Sinn der Natur.

Komposition (Hoheit): Einbezichung aller Kompositionsprobleme. Bewe-


gungsbezichung. Centrale Hierarchie: Beherrscbung des Hintergrundes.
Bewegungsintensitat: Strom in der Komposition: Erléstheit in der Kom-
position. Der Sinn: »Ausdrudk« der Bewegungen. Unmittelbarkeit des
Sines, Mythos: sichtbarer Sinn von Mensch und Welt, {Der Mensch
als Herrscher der Welt.}
246 Entwurf

mL.
{Geschichtsphilosophie}. Abstand (Erledigung von Platonismus und Na-
turalismus). Abstand zur utopischen Welt. Gewachsene Vollkommenheit
und Vollkommenheit als Mafstab. Vollkommenheit in der Darstellung
(Spuren von Sehnsucht und Streben) und axcb im Objekt.
Abstandslos:
a. Primitiv (kommt malerisch nicht vor)
b. Klassisch (Giotto). Bewegungskomposition. Kopf. Flache und Inbegriff.
Abstandsvoll:
a. Barock. Nahe Beziehung zum Klassischen. »Je gelockerter die Ebene,
desto strenger die Symmetrie«. »Auferste Bewegung der Teile, auferste
Ruhe des Ganzen.« 8 — Steigerung der klassischen Bewegung, Gestalt,
Komposition. Das Expressive. (Rubens als Landschafter naher zur
Klassik).
b. Klassizistisch. Abgestumpft. Abnahme der Bewegungsintensitit. Nahe-
rung zur Fliche. Der (fiir die Gestalten) reflexive Rythm.
c. Quattrocento. Leugnen der (historisch) klassischen Technik: von Technik
zum Geist. Fremde Vollendung (Filipino, Hodler). Van Gogh. - Das
Expressive als Lyrik. Képfe.
d. Romantik: Goldener Zeitalter. Beziehung auf Seele (Claude Lorrain,
Ruysdael). Intendieren auf Portrait als apriorische Kategorie: Charac-
teristik, Tiefe, Wiirde (Gebirde), Monumentalitit (Cézanne).
Ubergang zur Landschaft: Breughel, Cézanne (Stilleben von Cézanne).
» » Komposition: Cézannes Dreieckkomposition. Gleichnis von
absoluter Geometrie und Physik: Delacroix.
» zum Stilleben— rein historisch, weil rein malerisch. Anderungen
der Optik oder der Emotionalitat (Vermeer und
Toulouse-Lautrec) unendlich entwicklungsmég-
lich und variabel.

3 Zitate von A. Riegl: Die Entstchung der Barockkunst im Rom. Wien, Schroll, 1908.
S. 35-36. (Hrsg.)
4 Erklarung dieser Namengebung: der empirische Gegenstand (Portrait) ist der einzig aprio-
rischer Gegenstand fiir »Seelee. Andere Lésungen méglich, aber paradox und nicht harmo-
nisch — wenn auch (als Werke) vollkommen. (Anmerkung von Lukes)
247
Entwurf u.

Gemit: Die Wahrheit iiber Abbild der der Auszug:


die Dinge: »Stellungnahme«: — Leben
Seele: Die Dinge als Die Stellungnahme: Die Einkehr:
Spiegel: Tiefe
Geist: Die Dinge in Die Dinge: Die Heimkehr:
Wahrheit: Erléstheit

G: Urspriingliche Technik und Sujet Immanent


Dualicat: jedes fiir sich:
S: Die Wagnis des Ich (Technik als Hilfs- Transcendent
Subjekts: mittel. Allegorie. Das
Transcendieren):

G: Das erreichte Die erldste Welt Transcendental


Objekt: (Technik als Form):

G: Wissenschaft + Erlebnis (Bergson)


S: Mystik
G: Philosophie
G-S-G: Nicht Hegelisch, keine »Bewegung«, sondern Stadien (Seelenwande-
rung) — Verbindung »Sprung«
ad Seele: Kategorie: Tiefe verdeutlichen.
: Jedes Portrait (wenn nicht »Anlaf«: Gemiit; oder Heros: Geist) =
Selbstportrait; darum gibt es Landschaften, die Port-
raits sind. Schopenhauers Byron-Zitat. Analogie der
Lyrik.
ad Geist: Gegen die Instinkte (P. Ernst: Kalte). Beziehung zum »Erhabenen«.
Immer: Mytisch
ad Gemiit: Nur emotionale und optische Veranderungen. Nur Geschichte,
keine Geschichtsphilosophie (Technik und Thema)
G-S-G umfassen immer den ganzen Menschen; sie sind keine Gestaltungs-
prinzipien der Kunst und in jedem Stadium ist eine
Vollkommenheit miglich.
Seele und Gemiit: Italien und Holland.
248 Entwurf

Die Gestaltung wird bedingt:


1. Von der reinen Sichtbarkeit als apriorischem Prinzip jeder Malerei — jede
soidisant »malerische« Gestaltung, die dies nicht hat, ist nicbt Malerei.
2. Innerhalb der reinen Sichtbarkeit:
a. menschliche Stufe der Gesinnung des Kiinstlers (G-S-G)
b. die geschichtsphilosophische Art der Gesinnung des Kiinstlers (Klassik
etc.)
c. das Thema (im Werksinn, die Maler malen nur Stilleben, weder das
psychologische Bewuftwerden des Werksollens (Marées), noch ein
ganz anderes psychologisches Bewuftsein andert hier etwas. Gesinnung
ist fiir den Kiinstler apriori und gegeben)
Die Reihe: Stilleben, Portrait, Landschaft, Mensch in der Landschaft. Ist
ontologisch aus dem Begriff der méglichen Themata zu erreichen.
Stilleben: natura morte: reine Sichtbarkeit und nichts als dies: der Sinn ist
allegorisch — oder gar nicht da. Es gibt kein Inneres, subjektiv ist nur die
Technik.
Portrait: dem Wesen nach Selbstportrait: den Begriff des »Charakteristi-
schen« — Unterschied zur Ahnlichkeit — erklaren — und selten zum Still-
leben weisen: darum reine Innerlichkeit: rein allegorisch. Alles »Aufere«
ist transparent geworden. Es ist notwendig — aber aus der Gesinnung
heraus: Anla&, aber Abstand. Sehnsucht nach Festem. »Ahnlichkeit«. Im
Von-sich-loskommen Ichfinden. Die gré&te Paradoxie der malerischen
Immanenz. »Ahnlichkeit« kommt nur bei Seele vor: weder bei Manet,
noch bei Michelangelo ist sie wesentlich.
Geist: Das Innere ist das Aufere. Hegel. Kierkegaards Haf (Er ist Lyriker).
Jeder Abstand iiberwunden: Symbol. Er ist nicht mehr »Menschlich«.
Landschaft: der stumme Geist; der Geist, der alles »Menschliche« nieder-
bricht. Wo es verstummt.
Mensch in der Landschaft: Der Geist (Mensch) als Herr. Lautgeworden. Ge-
schichtlich und ....5
Das Problem des malerischen Werts ist von G-S—-G unberiihrt: er ist rein
immanent... .5 Reine Sichtbarkeit: Reihe und... .* Der transcendentale
Ubergang vom (blo) Malerischen zum synthetisch Malerischen, das aber,
als Malerei, immanent sein mu8 (auch als Alegorie, die eben darum, als
Malerei, oft »natura morte« bleibt),

5 Das Wort ist unlesbar (Hrsg.)


Formproblem der Malerei 249
Ubergange zum Thema:
a Die dritte Dimension
2. Das Motiv
3. Die Unvermeidlichkeit des »Sinnes«. Der wenn nicht »malerisch« ge-
macht: transcendieren wiirde. (Nur der Teppich hat keinen »Gegen-
stand«, Darum ist aber jeder Teppich allegorisch.) Aus dem Postulat, da8
das Seiende notwendig werde (das Ausdruckbare, »Einbeziehbare« in
einer zur Form praestabilierten Harmonie erscheine) die transcendentale
Deduktion des Themas machen. Anfang: das Einbeziehbare. (Was um-
fa&t die — radikal — reine Sichtbarkeit?) Probleme der Schwere. »Aus-
druck« (Hildebrand) — Landschaft. Menschen beisammen. — Historiscb-
soziologische Mglichkeiten. Malerei als stark gebundene Kunst: weil
der Sinn nur Postulat (Notwendigwerden des Unvermeidlichen), nicht
aber formales Apriori (wie in der Dichtung) ist.
Sichtbarkeit ist ein Postulat: unerreichbar. Da sie negativ ist (Entfernung
des »Wissens«), entsteht eine neue Gegenstandslehre: zum Beispiel Pro-
blem der Soliditét (Raum auf einer Weise bei Impressionisten und
Cézanne).
Analogie der absoluten Geometrie. Daraus: a) Abweisung der blofen
Thementheorien; b) Erreichen des Minimums an Unmalerischen (im eng-
sten Sinne), das Einbeziehbare. Die »verschiedenen« (quasi-coordinier-
ten) malerischen Welten.
Wenn das »Motiv« rein »gegeben« wire, und rein aus der »Sichtbarkeit«
heraus, so ware eine Anderung der Gesinnung etwas rein Optisch-Male-
risches (Modellierung etc.) Wenn aber (freilich Hand in Hand mit dieser
Veriinderung) die Bewegung sich dndert, die (nicht rein optischen) Ac-
cente (Individualisierung des Gesichtsausdrucks z.B.) sich verschieben,
so zeigt sich eine andere Verdnderung der Gesinnung. (Riegl iiber
Barock).
Ist »Soliditat« aus reiner Anschauung zu entwickeln? Oder setzt auch
sie einen »Gegenstand« voraus und ist dessen »Eigenschaft«? Ist also in
Sichtbarkeit zu verwandeln; nicht gegeben sondern aufgegeben.
. Thema als Begrenzung der rein malerischen Gestaltungen.
Das Optisch-Seelische (Hildebrand) — ad. 3.
To, Transcendentale Deduktion des Gegenstandes aus Mittel und Material
(Zusammenhang mit »Einbeziehung«). Malerei und Plastik.
20 Entwurf

Obergénge zum Thema:


1. Raum — ohne Dinge undenkbar. Wie sind Dinge in Sichtbarkeit gegeben?
2. Reihenfolge: a) Stoff; b) Struktur (Soliditat, Schwere); c) Ausdruck; d)
Ding; e) Komposition (die Beziehungen, Raumbeziehungen, dekorative
Beziehungen, Stimmung)
Es gibt also: a) das rein Sichtbare; b) das Einbeziehbare; c) das Nicht-
existente.
Die Lehre von der »angemessenen« Welt.
Forderung der Totalitat,
a \ d. h. des inneren Abschlusses.
Die méglichen Die méglichen
Gegenstande Stellungnahmen
Abstandsvoll: Vollendung wie ein Mantel iiber die Dinge gebreitet.
‘Ad Geschichtsphilosophie:
Gemiit: rein Malerisch
Sele: Malerisch-Menschlich — Mystisch
Geist: Malerisch-Geschichtsphilosophisch — Steigern des Geféhrdetseins
ins In-Erscheinung-treten-kénnen (Delacroix)
a. kosmisch;
b. mytisch.

Stilleben: Breite + Buntheit: Kein Hintergrund- Minimum der Ein-


problem: beziehung
Portrait: Tiefe: Verschwinden des Prinzip der Ein-
Hintergrunds: beziehung: Aus-
druck als Sinn
Landschaft: GroSe: Herrschaft des Struktur und
Hintergrunds: Dingbeziehung:
»Ausdruck« als
konstitutive
Beziehung
Mensch in Hohe: Beherrschung der Mensch als
Landschaft: des Hintergrunds: Herr der Welt

Portrait: | Stimmung und Tiefe. Problematik der Landschaft


Landschaft: Struktur. Problematik des Menschen (Skulptur?)
Formproblem der Malerei 251

Portrait:
Gemiit: Die Objektivitat des Malers (Fr. Hals) Charakter
Seele: Die Subjektivitat des Kiinstlers Tiefe
(Rembrandt)
Geist: Objektivitat der Haltung (Barock, Wiirde
Klassizistische)
Das Sein des Menschen (ins Natur- Monumentalitat
philosophische umschlagend. Cézanne
malt auch den Menschen natur-
philosophisch).
NACHWORT
von Gyérgy Markus
Nachwort 255

»Ich begann als Literaturkritiker und Essayist, der in den Asthetiken Kants,
spater Hegels theoretische Stiitze suchte. Im Winter 1911-12 entstand in Flo-
renz der erste Plan einer selbstandigen systematischen Ashetik, an deren
Ausarbeitung ich mich in den Jahren 1912-1914 in Heidelberg machte. Ich
denke noch immer an das wohlwollend-kritische Interesse, das Ernst Bloch,
Emil Lask und vor allem Max Weber meinem Versuch gegeniiber zeigten. Er
ist vollstandig gescheitert ... AuSerlich gesehen unterbrach der Kriegsaus-
bruch diese Arbeit«, schrieb Georg Lukdcs 1962, im Vorwort seines wichtig-
sten asthetischen Spatwerks Die Eigenart des Asthetischen (Werke Bd. 11,
Neuwied 1963, S. 31) iiber den ersten Anlauf bevor er sich dem Marxismus
zuwandte. Im wesentlichen dieselbe Information findet man in seinen spate-
ren kurzen Schriften, die die eigene geistige Entwicklung veranschaulichen;
doch wird die Haltung gegeniiber den friiheren Versuchen weniger strickt
zuriicdkweisend. Zumindest in Hinblidc auf die eigene Entwicklung streicht
er die Wichtigkeit des Grundproblems dieser Versuche, der in »Kantscher
Form« gestellten, aber ihrer Orientierung nach dem Kantschen Subjektivismus
entgegengesetzten, der Wirklichkeit naher treibenden Frage: »Es gibt Kunst-
werke, wie sind sie méglich?« heraus. Ebenso nachdriicklich betont er die
Bedeutung einer Trennung von Asthetik und Ethik, die er in dieser Zeit
ausgearbeitet hat. (S. Utam Marxhoz (Mein Weg zu Marx) Bd. 1. Vorwort.
Magveté, Budapest 1971, S. 13; Magyar irodalom, magyar kultura (Unga-
rische Literatur, ungarische Kultur), Vorwort. Gondolat, Budapest 1970,
S. 13.)
Seinen dem engeren Kreis angehérenden Schiilern war bekannt, da einzelne
Teile dieses friihen Asthetik-Manuskripts (der »Heidelberger Asthetik«, wie
Lukdcs sie.zu nennen pflegte) existierten, genauer, daf sie in den 6oer Jahren
von Arnold Hauser (London) zu Lukécs zuriickgelangt waren. Dieser iiber-
gab Hauser 1919 einige fertiggestellte Kapitel des Werkes mit der Bitte, sie
aufzubewahren. LukAcs erklirte mehrmals, er habe die wiedergefundenen
Manuskripte nicht einmal durchgelesen; diese Tatsache mag nur den verwun-
dern, der sein negatives Verhalten gegeniiber der eigenen pramarxistischen
Arbeitsphase ebensowenig kannte wie die ihn kennzeichnende allgemeine
Denkerattitiide, fiir die das eigene »geistige Schicksal« stets an Probleme
gebunden war, die vom eben in Arbeit befindlichen Werk gestellt wurden,
wahrend er den einmal bereits zu Papier Gebrachten gegeniiber vollstindige
Gleichgiiltigkeit an den Tag legte.
Im Sommer 1970 aber, als der Plan eines Sammelbandes seiner Friihwerke
in ungarischer Sprache in konkreter Form aufkam, iibergab Lukdcs diese
256 Markus
Typoskripte einigen seiner Schiiler, namentlich Ferenc Fehér, Agnes Heller,
Mihaly Vajda und dem Verfasser dieses Nachworts mit der Bitte, zu beur-
teilen, ob es sich lohne, den Stoff oder Teile davon in die Publikation aufzu-
nehmen. Das Typoskript enthielt drei, offensichtlich nicht miteinander ver-
bundene Kapitel; diese sind, in der Terminologie der vorliegenden Ausgabe,
das dritte Kapitel der Philosophie der Kunst (im folgenden: PhK), sowie das
erste und das fiinfte Kapitel der Asthetik (im folgenden: Ast). Die Befragten
gelangten einhellig zu der Meinung, die unverdffentlichten Werkfragmente
miiSten in vollem Umfang publiziert werden; Lukdcs zeigte sich einverstan-
den. Da er aber zu dieser Zeit bereits schhwerkrank war, konnten die Detail-
fragen hinsichtlich Aufbau, Entstehungsgeschichte usw. der Heidelberger
Manuskripte mit ihm im wesentlichen nicht mehr geklart werden, bei einigen
Gesprichen kamen aber einige erginzende Momente auf. Teils erhirtete
Lukdcs die Annahme (als »sehr wahrscheinlich«), daf die in Nr. 1917-18/1
von »Logos« veréffentlichte Studie Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der
Asthetik (im vorliegenden Band: Ast. Kap. 3) ebenfalls Teil desselben Ma-
nuskriptes darstelle. Andererseits erinnerte er sich daran, der Kriegsausbruch
habe seine Arbeit an einer Asthetik nur zeitweilig unterbrochen und er habe
sie nach Beendung der Theorie des Romans wieder aufgenommen. (Erst spi-
ter wurde klar, da& Lukdcs diese Tatsache auch schriftlich mitteilte: in einem
Brief aus dem Jahr 1969 an Istvan Mész4ros, der diesen unlangst veréffent-
lichte.)
Als Georg Luk4cs 1971 starb, war die redaktionelle Arbeit an den Manu-
skripten gerade erst angefangen worden. Bei der Ordnung seines Nachlasses
kamen aber weitere Schriften zum Vorschein, die die bisher bekannten Manu-
skriptteile nicht nur bereicherten, sondern sie auch in ein anderes Licht riick-
ten. Unter den Papieren seiner bereits frither verstorbenen Frau fand sich
namlich ein auch dem Umfang nach beachtenswertes Manuskriptbiindel mit
teils vor 1919, teils 1933-1944 verfaSten Schriften. Darunter die handschrift-
liche Fassung von drei Kapiteln der (mit dem Logos-Artikel insgesamt) vier
bislang bekannten Kapitel, ferner weitere drei Kapitel in Manu- wie Typo-
skriptform: das erste und zweite PhK-Kapitel und das vierte Ast-Kapitel.
Man darf fast mit Gewifheit behaupten, Lukdcs selbst habe vom Vorhanden-
sein dieser Papiere nichts gewuSt; wenigstens konnte er sich an diese in den
6oer Jahren nicht mehr erinnern.
Bei weiteren zwei Gelegenheiten kam noch Material zum Vorschein, das mit
den Heidelberger Manuskripten in Bezichung steht; ihre Bedeutung ist aller-
dings wesentlich geringer. Zum einen stellte sich heraus, da& Luk4cs nicht
Nachwort 257

nur A. Hauser, sondern auch Charles Tolnay (Florenz) Typoskript-Teile


seiner Asthetik zur Aufbewahrung iibergab; diese erwiesen sich jedoch als
Durchschlage bereits bekannter Kapitel. Zum anderen gelangte vor einigen
Monaten (iiber recht abenteuerliche Umwege) ein Koffer in das Lukdcs-
Archiv der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, der Briefe, Manu-
skripte und Notizen enthielt: Lukd4cs hatte ihn, bevor er von Heidelberg
nach Budapest zuriidckehrte, in einer Bank in Deutschland deponiert. Schon
eine fliichtige Ubersicht des Inhalts bewies, da& Luk4cs die seine Asthetik
betreffenden Papiere nicht in Heidelberg zu lassen gedachte, sondern vermut-
lich mit sich nach Budapest nahm. Aber unter die Notizen aus den Jahren
1914-1915 fiir sein Buch iiber Dostojewski (von dem nur das erste, einleitende
Kapitel, bekannt unter dem Titel Die Theorie des Romans beendet wurde)
* sind auch Aufzeichnungen und Notizen zum 5. Ast-Kapitel geraten. Zutage
kam ferner das gesamte Notizen- und Skizzenmaterial zum Vortrag Das
Formproblem der Malerei, dessen Text ebenfalls in diesen Band aufgenom-
men worden ist. Dariiber aber spater.
Fiir die Redaktion der vorliegenden Publikation standen mithin folgende
Manuskripte unmittelbar zur Verfiigung (in der Nomenklatur dieses Bandes):
PbK 1: Manuskript mit dem Titel 1. Die Kunst als »Ausdrucke und die
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit + ein Typoskript-
Exemplar, gebunden, auf dem Umschlag die Aufschrift Philoso-
phie der Kunst 1 (nicht Lukdcs’ Handschrift);
PhK 2: Manuskript, mit der — offensichtlich spateren — Bleistift-Ober-
schrift 2. Phénomenologische Skizze des schépferischen und re-
ceptiven Verhaltens + zwei Typoskript-Exemplare, eines in
ebensolchem Einband wie das 1. Kapitel, mit der Oberschrift 2,
das andere in losen Blattern, auf der ersten Seite in LukAcs
Handschrift: Asthetik 2. Cap.
PhK 3: Manuskript, das mit Seite 5, mit einem gestrichenen Satzfrag-
ment beginnt (der Anfang des Satzes fehlt), dariiber der spater
mit Bleistift geschriebene Titel Geschichtlichkeit und Zeitlosig-
keit des Kunstwerks + zwei ungebundene Typoskript-Exem-
plare, die an derselben Stelle beginnen; eines ohne, das andere
mit der Bleistiftiiberschrift 177;

Ast or: Kein Manuskript vorhanden; das einzige Typoskript-Exemplar


fiihrt die Uberschrift 1 mit rotem Bleistift;
258 Markus
Ast 3: Manuskript mit der Oberschrift 111. Die Idee des Werkes an sich.
1. Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Asthetik, am Ende ein
neuer Untertitel: 2. Die intelligibile Zufalligkeit und der
Anthropologismus der Kunst, worauf noch eine Seite Text folgt
(s. Ast, Appendix u). Typoskripte sind nicht vorhanden, unter
den 1971 aufgefundenen Papieren fand sich jedoch ein Separa-
tum des Logos-Artikels, darauf, in Luk4cs’ Handschrift, die Be-
merkung Asthetik. 3. Cap.

Ast 4: Manuskript mit dem Haupttitel 2. Die transcendentale Dialek-


tik der Schénheitsidee; nach rund etwa einer Textseite folgt der
Untertitel 1. Die logiscb-metaphysische Idee der Schénheit, +
ein Typoskript-Exemplar mit der handschriftlichen Bemerkung
Asthetik 4. Cap.

Ast 5: Manuskript mit dem Titel 2. Die spekulativ-entwicklungsphilo-


sophische Schénheitsidee + zwei Typoskript-Exemplare, auf
dem einen die handschriftliche Oberschrift »Asthetik 5. Cap.
(Transcendentale Dialektik 11).«

Sobald, unmittelbar nach Lukdcs’ Tod, die bis dahin unbekannten Kapitel
der Heidelberger Manuskripte zum Vorschein kamen, fand sich die Redak-
tion vor einem neuen Problem. In seinen Schriften und Worten erwahnte
Lukécs stets eine gro&e, umfassende Asthetik in Manuskriptform, an der er
wahrend seines Aufenthalts in Heidelberg gearbeitet habe. Die geborgenen
Materialien jedoch kénnen nicht als Teile eines sensu stricto einzigen Werkes
angesprochen werden. Der Form und dem Inhalt nach enthielt dieses Material
namlich zwei »erste Kapitel« (Kunst als »Ausdruck«... bzw. Asthetische
Setzung), welche zwar bei derselben Fragestellung ansetzen, in der inhalt-
lichen Darlegung jedoch weitgehend divergieren. Dariiber hinaus vertreten
sie — wovon noch die Rede sein soll —hinsichtlich gewisser, philosophisch zwei-
fellos wesentlicher Fragen grundsitzlich verschiedene, unvereinbare Stand-
punkte. Die logische und geschichtliche Rekonstruktion der Manuskripte, das
Erhellen der eigentlichen Struktur und der Entstehungsumstinde wurden
somit zu einer besonders wichtigen und nachdriicklich zu férdernden Auf-
gabe, und zwar um so mehr, da die Kapitelnummern von Lukacs auf den
verschiedenen Manuskripten auf den ersten Blick weder klar noch konsistent
erscheinen. In der vorliegenden Ausgabe sind die Manuskripte selbstver-
stindlich bereits in der rekonstruierten Folge enthalten; dieses Nachwort
Nachwort 259

verfolgt zuallererst den Zweck, diese zu begriinden und gleichzeitig Details


hinsichtlich der Entstehungsgeschichte der Manuskripte, soweit mdglich, zu
beleuchten.
Mafgeblich erleichtert wurde die Rekonstruktion durch den Umstand, da8
in den Manuskripten — im Gegensatz zu den Typoskripten, die jeweils mit
S. 1 begonnen wurden (ausgenommen Kap. 4 und 5 von Ast., die laufend
paginiert sind) — Lukdcs selber mehrere Kapitel mit laufender Seitennumerie-
rung versah, wodurch ihre Zusammengehérigkeit zweifellos ist. Solche sind
zum einen das 1. und 2. PhK-Kapitel, zum anderen das 3., 4. und 5. Ast-
Kapitel. Somit bestand die Aufgabe letzten Endes darin, die strukturelle und
zeitliche Beziehung von vier groSen Manuskriptgruppen zueinander klarzu-
stellen.
Weiter erleichtert wurde die Arbeit infolge der Tatsache, da& Lukdcs, im
Gegensatz zu allen anderen uns verbliebenen Kapiteln, im Fall des einzig
vorhandenen Typoskriptexemplars des ersten Kapitels von Ast. seine Quellen
in der Form von FuSnoten angab. Auf S. 64 des Typoskripts beruft- er sich
etwa auf die dritte Ausgabe von Rickerts Der Gegenstand der Erkenntnis,
wodurch das post quem dieses Kapitels eindeutig 1915 ist. Schon durch diese
Angabe allein wurde wahrscheinlich, da& das »andere« erste Kapitel (sowie
das auch formal an dieses anschlieSende Phanomenologie-Kapitel) noch vor
Kriegsausbruch entstanden waren. Ausdriicklich erhdrtet wird dies durch
mehrere Hinweise in den beiden Kapiteln auf Essays aus Die Seele und die
Formen, von dessen Standpunkt sich Luk4cs — auch nach Aussage der ver-
Offentlichten Werke — nach 1914 schon betrachtlich entfernte. Ebenso finden
sich in diesen mehrere Hinweise auf Arbeiten des Ende 1911 verstorbenen
guten Freundes Leo Popper, dessen Studien Lukacs, wie aus der Korrespon-
denz hervorgeht, im Sommer 1912 gemeinsam mit Kéroly Polanyi zur Publi-
kationsreife zu redigieren versuchte. Da zu Beginn des zweiten Kapitels
(PbK. S. 54.) ein — auch ohne Quellenangabe unmifverstindlicher — Hinweis
auf Lasks Anfang 1912 erschienene Lehre vom Urteil zu lesen ist, konnte
die Arbeit am Manuskript ebenfalls nicht viel frither in Angriff genommen
worden sein. Es erscheint also iiberaus plausibel, diese beiden Kapitel irgend-
wann um 1912 anzusetzen. (Einblick in die Korrespondenz erhartete spater
mafgeblich die Vermutung, daf das erste Kapitel nicht vor dem Herbst 1912
zu Papier gebracht wurde. Mit Sicherheit festgestellt werden konnte hin-
gegen, da& Ende 1913 beide Kapitel bereits fertig waren: Erwin Bauer, der
Bruder von Béla Bal4zs, bedankt sich am 9. Februar 1914 brieflich fiir die
Zusendung des Typoskripts der genannten Kapitel.)
260 Markus

Die Frage beschrankte sich nunmehr darauf, wie sich die iibrigen erhalten
gebliebenen, in zwei gréfere Gruppen zerfallenden vier Kapitel zu den
beiden Manuskript-Anfangen verhalten.
Im Verlauf weiterer Untersuchungen wurde klar, da& das Geschichtlichkeit-
Kapitel — aufgrund inhaltlicher wie formaler Merkmale — zum vor Kriegs-
ausbruch entstandenen Manuskript gehért und wahrscheinlich Ende 1913 bis
erste Hilfte 1914 aufgesetzt worden war. Die drei anderen Kapitel (Subjekt-
Objekt-Beziehung und die beiden Teile der Transcendentalen Dialektik), im
Manuskript als Einheit aufzufassen, schlieSen hingegen an das Manuskript
an, das 1916 in Angriff genommen wurde; niedergeschrieben wurden sie
wahrscheinlich zwischen Ende 1916 und Anfang 1918. (Ebenfalls aufgrund
der Korrespondenz la&t sich der Zeitpunkt, da Lukd4cs mit der Niederschrift
dieses spateren Manuskripts begann, eindeutig auf den Herbst 1916 ansetzen,
als Lukdcs, nach einjahrigem Wehrdienst in Budapest, nach Heidelberg zu-
riidkgekehrt war.) Die auf den Manuskripten sichtbaren Titelangaben beriick-
sichtigend erschien es zweckmiafiig, das erste, vor Kriegsausbruch entstandene
Manuskript Philosophie der Kunst, das spatere hingegen Asthetik zu nennen,
obwohl die Authentizitit der Benennungen keineswegs garantiert werden
kann: der Titel Philosophie der Kunst erscheint nur auf einem Typoskript-
Exemplar eines Kapitels, und nicht in Luk4cs Handschrift. Eine begriffliche
Bedeutung ist diesen Benennungen keineswegs zuzuschreiben: Lukdcs bezeich-
net das Werk, an dem er arbeitete, auch in Briefen vor 1915 haufig als
Asthetik, bedient sich jedoch auch nach 1916 der Formel Philosophie der
Kunst.
Diese Rekonstruktion von Aufbau und Chronologie ist, unseres Erachtens,
auch durch Argumente hinsichtlich der Form ausreichend begriindet. Dies-
beziiglich sei vor allem die Terminologie genannt. Samtliche PhK-Kapitel
sind durchwegs und konsequent in einer — wenn erlaubt — »Verhaltung«-
»Verhalten«-Terminologie formuliert: Luk4cs schreibt von logischem, ethi-
schem, religidsem, asthetischem usw. Verhalten, von Verhaltungsarten u. 4.
Zweifellos erscheint dieser Terminus haufig auch in der Asthetik, jedoch be-
reits in einem engeren Sinn. Damit wird hier namlich — mehr oder weniger
konsequent — das Verhiltnis, die Einstellung des Subjekts zu irgendwelcher
fertig gegebenen Sphiire bezeichnet, ebenda erscheint jedoch auch der Begriff
und Terminus der »Setzunge der Sphire, was in PhK. kein einziges Mal
zu finden ist. In diesem Sinn spricht Luk4cs von theoretischer, ethischer, asthe-
tischer, metaphysischer Setzung, von Setzungsarten, von Setzungsnotwendig-
keit usw. Ferner: Wahrend Lukdcs in PhK. den Bereich der Erkenntnis als
Nachwort 261

»logische« Sphiire bezeichnet und die Ausdriicke »logische Forme, »logisches


Objekt«, »logisches Subjekt« in diesem Sinn gebraucht, erscheint an ihrerstatt
in Ast. die Formulierung »theoretische (theoretische Sphire, Geltung, Set-
zung, Form usw.); »logische steht hier (ebenfalls mehr oder weniger konse-
quent) als Bezeichnung nur einer bestimmten Ebene der theoretischen Sphire.
Ganz allgemein 1é8t sich behaupten, da8 sich die Terminologie der neukan-
tianischen Geltungsphilosophie in der Ast. — in Zusammenhang mit gewissen
inhaltlichen Verschiebungen — bedeutend konsequenter durchsetzt als in PhK.
(obgleich zu bemerken ist, da& schon der Terminus »Verhalten« wahrschein-
lich von Lask iibernommen wurde). Dem sei hinzugefiigt, da8 der Text von
Ast, — besonders was das erste und das dritte Kapitel anbelangt — hinsichtlich
der Terminologie einen starken Einflu&8 von Husserls »Ideen ...« aufweist
(»In-Klammern-setzen«, »Reduktion«, »Umwelt der natiirlichen Einstel-
lunge, »natiirliche Wirklichkeit«), wovon in PhK. keine Spur zu finden ist.
Eine ahnliche Folgerung gestattet die Untersuchung der — in beachtlicher Zahl
vorhandenen — Hinweise auf friiher Erértertes. Alle solche Hinweise des
Kapitels Gescbichtlichkeit lassen sich eindeutig mit entsprechenden Stellen der
zwei vorangehenden PhK.-Kapitel identifizieren. Besonders bedeutsam er-
scheint in diesem Zusammenhang, daf es im Text zumindest einen unmif-
verstandlichen Hinweis auf das erste PhK.-Kapitel gibt, und zwar an Hand
eines Problems (das Problem der Unmitteilbarkeit in der Erlebniswirklichkeit),
das in Ast. iberhaupt nicht behandelt wird — angesichts der inhaltlichen Auf-
fassungsveranderungen auch gar nicht behandelt werden kann. Am Anfang
des 3. Ast.-Kapitels findet sich hingegen ein Hinweis auf friihere Ausfiihrun-
gen, und zwar an Hand einer Formulierung (das normative dsthetische Ver-
halten als reines Erlebnis), die - wiederum aufgrund prinzipieller Ursachen -
nur im ersten Ast.-Kapitel hervortritt, dieses Mal jedoch mit besonderem
Nachdruck. SchlieBlich lat sich am Manuskript die langsame Veranderung
von Lukdcs’ Ortographie feststellen, mit einer Tendenz zur sukzessiven Ver-
minderung von Wértern, die in lateinischer Orthographie geschrieben wer-
den. Diese Tendenz wird durch ein Studium der Korrespondenz erhirtet; die
Richtung der Verinderung aber entspricht der zeitlichen Abfolge des Schrei-
bens, so, wie hier hypothetisiert.
Subjektiv betrachtet, zumindest fiir mich persinlich, erschienen inhaltliche
Erwigungen wichtiger als diese formalen Zusammenhinge: namlich die Frage
wesentlicher grundsatzlich-theoretischer Standpunkt-Unterschiede, die unter
den solcherart rekonstruierten zwei Manuskripten hervortreten. Diese geben
Aufscilu8 auch hinsichtlich der Frage, warum Lukécs nach 1916 die Arbeit
262 Markus

an seinem vorgeschenen groBen asthetischen Werk aufs neue in Angriff nahm,


anstatt das Vorhandene einfach fortzusetzen. Dieses Problem, das bereits
eine Interpretation des gesamten Werks involviert, kann leider in einem
Nachwort des Herausgebers nicht meritorisch erdrtert werden. Daher nur ein
Hinweis auf den Umstand, da& PhK. und Ast., vom Blickwinkel einer
sensu stricto asthetischen Charakterisierung des Kunstwerks, zwar einen voll-
kommen identischen Standpunkt vertreten, dieser wird jedoch in den zwei
Manuskripten von zwei wesentlich verschiedenen gesamtphilosophischen
Gesichtspunkten aus begriindet und interpretiert (woraus folgt, da& der
»Orte der asthetischen Sphiire als Ganzes sich ebenfalls verindert). Der We-
senskern dieser Veranderung lieBe sich kurz so charakterisieren; anstelle
senskern dieser Veranderung lie&e sich kurz so charakterisieren: anstelle
einer Synthese von Lebensphilosophie und Kantianismus, wie in PhK. zu fin-
den, tritt in Ast. ein extrem dualistisch interpretierter, konsequenter Kantia-
nismus. Das zeigt sich vor allem in der Auslegung des Begriffs Erlebniswirk-
lichkeit. In PhK. wird die Erlebniswirklichkeit dem Wesen nach — wenngleich
keineswegs iiberall konsequent— von einer lebensphilosophischen Basis her in-
terpretiert, als die unausdriickbare, subjektive Sphare der Unmittelbarkeit und
reinen Qualitat, deren innere Struktur im Solipsismus begrifflichen Ausdruck
findet. (Hier kénnen wir leider nicht darauf eingehen, zu welch inneren
Schwierigkeiten die Vereinigung dieser Konzeption mit der ausgesprochen
kantianistischen Auffassung der normativen Sphiren fuhrt.) In Ast. hingegen
wird die Erlebniswirklichkeit zum direkten Gegensatz der »echten Unmittel-
barkeite, sie wird als »objektiv sekundares« und »gekiinsteltes« Objektgefiige
begriffen, als ein wirres Konglomerat von »fertigen« Objektivationen, gebil-
det durch primar-normative Setzungsformen, Objektivationen also, die den
homogenen Sinneszusammenhingen entrissenen, dadurch jegliche Spur der
teleologisch-verniinftigen Konstruktion eingebii&t haben und zu »blo&em
Sein«, zum factum brutum herabgesunken, zersplittert sind. Infolge all
dessen verandert sich notgedrungen auch die allgemein-globale Charakteri-
sierung der asthetischen Sphire, und zwar indem die Welt des Kunstwerks
noch weiter von der »empirischen Wirklichkeit« »entfernt«, von ihr noch
schirfer abgesondert wird. So fallt beispielshalber die gesamte Problematik
der Unmitteilbarkeit innerhalb der Erlebniswirklichkeit weg, der Mifver-
standnis-Begriff erhialt in Ast. bereits eindeutig nur mehr in bezug auf die
asthetische Sphire eine Interpretation (ebenso verschwinden auch die Ten-
denzen von PbK., die asthetische Form genetisch von einer Bereinigung,
Homogeneisierung der qualitativ-individuellen Ausdrucksschemata der ge-
Nachwort 263

wohnlichen, alltaglichen Mitteilung, von ihrer absoluten Bezogenheit auf-


einander abzuleiten). Gewisse begriffliche Bestimmungen, die in PhK. fiir die
Erlebniswirklichkeit ebenso giiltig sind wie fiir die Sphare des Asthetischen
(z. B. »reines Erlebnis«) erhalten in Ast. eine rein asthetische Bedeutung (vgl.
S. 23, 31, 87 von PhK. mit Seiten 52 f., 83 f., 85 f. von Ast. 1 usw.). Was
aber noch wichtiger ist: Die in PhK. ausgefithrten, auch in dem spiteren
Manuskript unverandert wiederkehrenden Charakteristika der Werkstruk-
tur, die alle implizit-gedankliche Bezugnahmen auf das Subjekt der Erleb-
niswirklichkeit enthalten (wie etwa die Begriffe Schema der erlebbaren Er-
fiillung, der utopischen Wirklichkeit, der verschiedenen coincidentia opposi-
torum) erscheinen in Ast. konsequent als abgeleitet-sekundare Bestimmungen,
die nicht die eigentliche, in ihrer Reinheit begriffene asthetische Sphire, das
Werk an sich, sondern das zweifellos notwendig-normative, jedoch ebenso
notwendig inaddquate Verhiltnis der zugeordneten Subjektivitaten (oder
auch die theoretische Transposition der asthetischen Setzung) charakterisieren.
(Vgl. Ast. ur, 119 f., Ast. 1, 75 ff., 87-88 usw.)
Damit sind die wesentlichen Veranderungen in der theoretischen Auffassung
jedoch nicht einmal katalogmiig erschépfend aufgezahlt und die Frage
ihrer weltanschaulichen Ursachen bzw. Implikationen ist nicht einmal ge-
streift worden. Wir meinen aber, daf dies hier auch nicht zu unserer Aufgabe
gehirt. Es sollte lediglich angedeutet werden, da die solcherart rekonstruier-
ten Manuskripte von PhK. und Ast. als Ganzheiten auch inhaltlich klare
und wesentliche, zusammenhangende Unterschiede aufweisen, die das im
Zuge der Redaktion angenommene Schema von Aufbau und Niederschrift zu
erhdrten scheinen.
Schweigend wurde hingegen bis jetzt ein Problem iibergangen, demzufolge
das bisher aufgezeigte Bild zweifellos bedeutend komplizierter wird, das
eigentlich bei der Frage der Hinweise auf friher Erwahntes und spater zu
Behandelndes hatte angeschnitten werden sollen. Das 1. Ast.-Kapitel will
nimlich zweifellos eine allgemeine und methodologische Einleitung eines
unmittelbar danachfolgenden Kapitels iiber die Phanomenologie des schdpfe-
rischen und rezeptiven Verhaltens sein, und der in »Logos« verdffentlichte
Text des 3. Kapitels von Ast. beruft sich darauf als einen diesem voran-
gehenden, bereits vorhandenen Text; kurz wird in einer Fu&note auch die
Problematik dieses Kapitels zusammengefaSt. Dariiber hinaus finden sich
mehrere Dutzend Hinweise im Text der Ast. auf dieses Phinomenologie-
Kapitel, welche sich, iiberwiegend, eindeutig mit dem zweiten Kapitel der
PbK. ahnlichen Titels identifizieren lassen.
264 Markus

Da die Zugehdrigkeit dieses zweiten Kapitels zum Vorkriegs-Manuskript


keinesfalls zu bezweifeln ist (und zwar nicht aufgrund der friiher erwahnten
formalen Ursache, namlich der gemeinsam-kontinuierlichen Paginierung mit
dem »Ausdruck«-Kapitel, sondern auch aufgrund inhaltlicher Zusammen-
hinge), ergeben sich drei Méglichkeiten. Entweder schrieb Lukdcs noch ein
Phanomenologie-Kapitel, das abhanden gekommen ist; oder er schrieb das
entsprechende PhK.-Kapitel fiir Ast. um, in welchem Fall auch dieses umge-
schriebene Manuskript verschollen ist; oder aber er wollte das betreffende
PhK.-Kapitel in das spaitere Manuskript einfiigen. Ich neige zu dieser letzten
Auffassung, obschon zweifellos gewichtige Argumente auch gegen diese
Hypothese sprechen.
Argumente fiir eine Neufassung bzw. Umarbeitung sind vorwiegend inhalt-
licher Natur. Obwohl der gesamtphilosophische Standpunkt der PhK., den
wir vorhin kurz in seinem Gegensatz zu der Auffassung von der Ast. um-
rissen haben, im ersten Kapitel explizit dargelegt und ausgefiihrt ist, beruft
sich das zweite Kapitel von PhK. zweifellos manchmal auf diese Auffassung
und, wichtiger noch, es baut auch hinsichtlich der Ideen in zahlreichen wesent-
lichen Beziigen auf diese. Dariiber hinaus entspricht die Auffassung iiber Auf-
gabe und Methoden der dsthetischen Phanomenologie, wie sie im 1. Ast.-Ka-
pitel dargelegt ist, unseres Erachtens, nicht ganz den einschligigen allgemei-
nen Erérterungen in PhK. 2, teilweise sogar nicht der methodologischen Pra-
xis der hier auffindbaren Darlegungen. In der Funote des — in »Logos« ver-
ffentlichten — dritten Kapitels wird sehr klar zusammengefaft, daf die
Phinomenologie »mehr im Sinne Hegels als in dem Husserls verstanden sein
will: als Weg, den der »natiirliche:, erlebende Mensch zuriicklegen mu8, bis er
zum Asthetischen Subjekt (zum Schaffenden und Rezeptiven) verwandelt
wird.« Diese »Hegelschee Prigung wird in Ast. x. eindeutig dahingehend
konkretisiert, da& der Aufbau der phanomenologischen Sphire als »eine
Reihe mit bestimmter, hierarchisch geordneter Struktur« zu begreifen sei. Am
PhK.-Text la&t sich jedoch dieser starke Hegel-Einflu8 nicht nachweisen. Vor
allem wird hier Hegel nicht einmal genannt; die lapidare Bemerkung Luk4cs’
am Anfang des Kapitels iiber die Vorgeschichte der phanomenologischen
Methode (»bewuft methodische Forschungen zur Phinomenologie wurden
bis jetzt nur noch in der Logik vorgenommen«) scheint sogar vollends zu
vergessen, da es eine Hegelsche Phanomenologie gibt — inhaltlich lat sich
diese Bemerkung kaum auf Hegel beziehen (dem explizit und ins Einzelne
gehenden Ausfiihrungen von Ast. nach miifte sie auch unbedingt Husserl
betreffen). Wichtiger ist aber, da& die Definition der Phinomenologie als
Nachwort 265

»psychologia rationalis normativa et methodologica« in PhK. 2. dem oben


Angefihrten nicht zu entsprechen scheint. Den knappen methodologischen
Bemerkungen am Anfang des Kapitels ist eher zu entnehmen, daf es Aufgabe
der Phinomenologie sei, das Dasein des zentralen Werts der durch sie zu
»begriindenden« Sphire vorausgesetzt, im Subjekt der Erlebniswirklichkeit
all jene (lediglich »unzusammenhingend vorliegende Fragmente« bildenden)
Verhaltungsmomente aufzufinden, welche als Erlebnisform oder als »Treiben
und Sehnsucht« eine Orientierung auf diesen Wert aufweisen; tatsichlich ist
die methodologische Praxis in der ersten Kapitelhilfte mit dieser Auffassung
kongruent. Zweifellos erscheint zwar in der zweiten Kapitelhilfte (im we-
sentlichen von der Problematik der »reinen Form« angefangen) klar die Idee
der — von den Widerspriichen des Subjekt-Objekt-Verhiltnisses getriebenen
— Umwandlung des Subjekts der Erlebniswirklichkeit zu einem normativ-
asthetischen Subjekt, welcher Wandel iiber bestimmte Stadien vor sich geht;
die Ausfithrung iiber »reine Form — transcendentale Form — wiederkehrte
reine Form« kénnte sogar als klassisch Hegelsche Trias begriffen werden. Ob
wir hier nun wirklich dem Einflu& Hegels, oder aber eines eigenartig inter-
pretierten Kierkegaards konfrontiert sind, kann nicht naher ins Auge gefaBe
werden. Wie dem auch sei - die erwahnte theoretische Diskrepanz zwischen
den beiden Manuskripten ist dadurch noch nicht behoben.
Neben diesen Argumenten, denen zufolge der unveranderte Text von PhK.
2 aufgrund inhaltlicher Bedenken kaum ins Gefiige von Ast. einzugliedern
ware, gibt es wenigstens ein Argument dafiir, da& die Neufassung oder Um-
arbeitung tatsichlich erfolgt war. In Ast. 3 heift es niimlich: »Da& das soge-
nannte »Natur<-Erlebnis des Kiinstlers — mit den psychologisch wie phino-
menologisch wichtigen Accenten der »héheren< oder >tieferen< Stellung der
Natur im Gegensatz zur Kunst — die Immanenz des schopferischen Verhal-
tens nicht aufhebt, wurde in der Phanomenologie gezeigt.« Mir wenigstens
ist es nicht gelungen, im Text von PhK. 2 eine Passage zu finden, die mit
diesem Hinweis identifiziert werden kénnte.
Des ungeachtet bin ich der Meinung, daf man die Méglichkeit eines neu ver-
fa&ten Phanomenologie-Kapitels ausschlieSen mu. Da iibrigens dokumenta-
risch belegbar ist (worauf wir noch kommen werden), da® Lukdcs 1918 in das
seinerseits als einheitlich betrachtete Manuskript, das die iibrigen Teile von
Ast, enthielt, ein Kapitel iiber Phanomenologie (als zweites Kapitel) einschal-
tete, nehme ich als wahrscheinlich an, da dies das zweite PhK.-Kapitel war.
Sofern er dieses umzuarbeiten gedachte (was leicht vorstellbar ist, wenn er
266 Markus

das Gesamtwerk in seine letzte Form hiatte bringen kénnen), so ist dies im
Zuge der Arbeit am Manuskript (d. h. bis Anfang 1918) nicht geschehen.
Vor allem sei bemerkt, da Luk4cs nicht erst zu einem bedeutend spiteren
Zeitpunkt, sondern bereits 1916-1917, also noch wahrend er an der Ast.
arbeitete, das vorliegende PhK.-Material und das entstehende Ast.-Material
im wesentlichen als ein Manuskript betrachtete, das fiir den Druck irgendwie
(offensichtlich durch Weglassen von Kapiteln oder Teilen von PhK., die er
als iiberholt betrachtete) geordnet werden mufte. So klagte er im November
oder Dezember 1916 in einem Brief an Paul Ernst iiber »diese immer an-
wachsenden Massen von Manuskripten und Notizen«, obwohl er die Ast.
kaum ein oder zwei Monate zuvor in Angriff genommen hatte und von dieser
wahrscheinlich nur ein Kapitel fertiggeschrieben sein konnte (andere Briefe
legen die Vermutung nahe, das Kapitel Subjekt-Objekt-Beziehung sei erst im
Marz 1917 beendet worden). Schon Ende 1916 schreibt er von seinem Vor-
haben, einen Teil des Materials »beiseite schaffen« zu wollen und dieses in
einem separaten Band, als ersten Teil des Gesamtwerkes, herauszugeben.
Andererseits sei bemerkt, da& die an verschiedenen Stellen von Ast. auffind-
baren, duferst zahlreichen (vor- und riicklaufigen) Hinweise auf das Phino-
menologie-Kapitel mit Ausnahme des einen, oben angefiihrten Falls samtlich
mit entsprechenden Textstellen von PhK. 2 identifizierbar sind, ja, sie um-
fassen und erschdpfen samtliche wesentlichen gedanklichen Momente davon.
Das Phénomenologie-Kapitel, das sich aus diesen Hinweisen abzeichnet, ist,
dem Themenkreis und dem wesentlichen Inhalt nach, zweifellos mit dem ent-
sprechenden PhK.-Kapitel identisch. Unter solchen Umstinden muf, meines
Erachtens, die Vermutung, Lukdcs habe ein ganz neues Kapitel geschrieben,
als unbegriindet wegfallen.
Die Umarbeitung ist aus zwei Erwagungen unwahrscheinlich. Minder
wesentlich ist der Umstand, da& man — in Kenntnis von Lukacs’ Manuskrip-
ten — erklaren darf, er habe Verbesserungen und Umarbeitungen in der Regel
auch dann am handgeschriebenen Text vorgenommen, wenn das maschinen-
geschriebene Exemplar schon zur Verfiigung stand (im handschriftlichen Kon-
zept ist jeder beschriebenen Seite eine leere zugeordnet, fiir die Verbesserun-
gen und Einschaltungen). So war es beispielhalber im Fall von Ast. 3. Dieser
Text wurde, vor Veréffentlichung in »Logos«, geringfiigig umgearbeitet. Im
Manuskript finden sich von zwei verschiedenen Zeitpunkten stammende
Autorenkorrekturen und Hinweise fiir das zweimalige Tippen. Am Manu-
skript von PhK. 2 findet man hingegen keine Spur einer spateren Umarbei-
tung.
Nachwort 267

Andererseits erscheint seit Anfang 1917 in den Briefen von Luk4cs immer
wieder, mit wachsender Ungeduld ausgedriidkt, das Vorhaben, den »ersten
Band« zu beenden; da gleichzeitig auch in den Vordergrund riickt, sich an der
Heidelberger Universitat zu habilitieren, wird dies tatsachlich immer drin-
gender. Fast jeder Brief enthalt ein neues »letztes« Datum, da die Arbeit
beendet werden soll. Dennoch konnte die — nunmehr als Habilitationsschrift
gedachte — Asthetik nicht nach dem urspriinglichen Plan vollendet werden.
Der dritte, Kant gewidmete Teil von Transcendentale Dialektik, auf den in
Ast. mehrfach vorausgewiesen wird, wurde nicht fertiggestellt; im Mai 1918
reichte Luk4cs das Manuskript unvollendet, ohne diesen Teil ein. Angesichts
dieser Umstinde erscheint es auBerst fragwiirdig, ob er sich dagegen Zeit fiir
das Umarbeiten des von dem friiheren Manuskript stammenden Phanomeno-
logie-Kapitels genommen hitte — fiir eine Aufgabe, die ihm, allen Anzeichen
nach, duBerst lastig erschien.
Freilich stellt sich auch unabhingig vom Problem des zweiten Ast.-Kapitels
die Frage, wieweit das in die vorliegende Publikation aufgenommene Mate-
rial als vollstindig angesehen werden darf, ob weitere Kapitel der Heidel-
berger Manuskripte nicht noch irgendwo verborgen sein kénnten. Hinsichtlich
des Manuskripts aus den Jahren 1916-1918 muf diese Frage eindeutig nega-
tiv beantwortet werden. Die eingereichte Habilitationsschrift kam zwar
nicht zum Vorschein, doch befinden sich im Archiv der Universitit Heidel-
berg die Dokumente in bezug auf Lukdcs’ Habilitationsgesuch (Univ.-Archiv
Heidelberg m, 5 a, 186, fol. 223-253). Darunter findet sich Rickerts Gutach-
ten mit einem kurzen Aufri& des Inhalts des eingereichten Werkes. Darin
heift es: »Methodologische Erérterungen nehmen daher in den ersten Ab-
schnitten einen breiten Raum ‘ein. Sie sollen besonders die Notwendigkeit
einer dsthetischen »Phanomenologie« darthun, die der eigentlichen Wertlehre
der asthetischen Sinngebilde voranzugehen hat. Eine umfangreiche »Skizze:
dieser Phinomenologie des schépferischen und receptiven Verhaltens fiillt
das zweite Kapitel. Darauf kann im dritten die Darstellung der zentralen
&sthetischen Begriffe beginnen, und sie setzt mit einer Erérterung der Sub-
jekt-Objekt-Beziehung ein. Dann geht jedoch die Untersuchung nicht wie
bisher rein systematisch weiter, sondern bricht zu einer Auseinandersetzung
mit der Metaphysik des Schénen ab, die in den vorgelegten Kapiteln noch
nicht ihren Abschluf findet. Wie das Ganze des Systems sich aufbaut, ist noch
nicht zu ersehen.« Wie aus diesem Gutachten klar wird, dedkt sich die Habili-
tationsschrift mit dem Text, der uns heute zur Verfiigung steht. Da aber
Lukécs nach 1918 die Arbeit an dem Manuskript nicht wieder aufnahm,
268 Markus

datf die Frage nach etwaigen verschollenen Manuskript-Teilen hinsichtlich


der Asthetik eindeutig negativ beantwortet werden.
Wenngleich auf minder unanfechtbarer Grundlage, diirfte eine negative Ant-
wort auch in bezug auf die Philosophie der Kunst wahrscheinlich sein. Als
ganz unwahrscheinlich abgetan werden muf die Vermutung, zwischen den
Kapiteln Phanomenologie und Geschichtlichkeit habe es urspriinglich ein
oder mehrere Kapitel gegeben. Das Geschichtlichkeit-Kapitel enthalt zahl-
reiche Hinweise auf friher Ausgefiihrtes, welche simtlich mit dem Material
der vorhandenen zwei Kapitel identifizierbar sind. Ebenso unwahrscheinlich
mutet es an, da& Lukd4cs nach dem Geschichtlichkeit-Kapitel noch weitere
Teile zu Papier gebracht hatte. Die Arbeit an diesem Kapitel war in der
ersten Hialfte 1914 offensichtlich bereits im Gang. (Die Skizze des Vortrags
Das Formproblem der Malerei konnte aus Griinden, die noch ins Auge
gefa&t werden sollen, nicht vor Ende 1913 fertiggestellt worden sein. Hin-
gegen enthiillt diese Skizze den Gedankengang des letzten Punkts von PhK.
3, jedoch in weitaus weniger ausgereifter Form.) Im Herbst, allerspatestens
im Winter 1914 arbeitet Lukdcs bereits an seinem Buch iiber Dostojewski.
Das in den vorliegenden Band aufgenommene Material ist somit mit groSer
Wahrscheinlichkeit vollstandig. Wie wir noch sehen werden, ist denkbar, da&
Lukdes noch vor Beginn mit der Philosophie der Kunst aufgrund eines ande-
ren Plans eine asthetische Arbeit in Angriff genommen hat, von der jedoch
nur Anfangliches fertiggestellt werden konnte. Wenn dies so ware, dann ist
das fragliche Manuskriptfragment bis heute nicht gefunden.
Zum Problem der Rekonstruktion des Aufbaus gehért unbedingt noch die
Beantwortung. einer weiteren Frage. Die Manuskripte von PhK. wie von
Ast, sind unbeendet. Welcher Ort war nun den vorhandenen Teilen im vor-
gesehenen Ganzen zugedacht?
Leider kennen wir keinen Aufrif des gesamten Werkes von Lukdcs’ Hand,
der gleichlaufend mit der Arbeit am Manuskript zustande gekommen ware.
Gut ein halbes Jahrhundert spater aber versuchte Lukdcs diese Frage, auf
Ansuchen von Istv4n Mészéros, im bereits erwahnten Brief vom 2. Dezember
1969 zu beantworten. Darin heifit es: »Was die alte Asthetik anbelangt, ist
es sehr schwer, den alten Plan genau zu rekonstruieren. Der erste Teil ware
»Die asthetische Setzung: gewesen. Als Einleitung des zweiten Teils war der
Logos-Artikel gedacht, darauf wire die »Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit
des Kunstwerks« gefolgt. Demnach wiren im zweiten Teil noch zwei Kapi-
tel gefolgt: »Individualitét und Uberpersénlichkeit des Kunstwerks« und
»Das erreichte Werk als Formenkomplex:. Der dritte Teil hatte sich mit den
Nachwort 269

verschiedenen Typen der Rezeptivitit beschiftigen sollen. All das ist freilich
nur Erinnerung, die gar nicht genau sein kann, denn der Plan wurde wahrend
des Schreibens mehr als einmal abgedndert.«
Hinsichtlich dieser spaten Rekonstruktion des Autors ist unbedingt zu be-
merken, da Lukdcs, als er das schrieb, seines Wissens nur iiber vier Kapitel
der Heidelberger Manuskripte verfiigte, und auch diese nicht wieder durch-
gelesen hatte. Jedenfalls mutet diese Planskizze problematisch an, und zwar
mehrfach. Das Phanomenologie-Kapitel wird nicht einmal erwihnt, obschon
dieses den zweiten Teil von PhK. wie Ast. bildete; das Geschichtlichkeit-Ka-
pitel ist den Ast. zugehdrenden Textteilen zugeordnet, obwohl wir wissen,
daf Lukacs, als er diese als Habilitationsschrift eingereicht hatte, ihnen dieses
PhK.-Kapitel nicht mitgab; tiberhaupt nicht untergebracht im Konzept sind
die zwei Kapitel der Transcendentalen Dialektik, obgleich das Hegel gewid-
mete zweite von diesen zum fraglichen Zeitpunkt bereits im Besitz von
Lukdcs war. Was am Konzept tatsichlich interessant anmutet, ist vor allem
die Bemerkung iiber die nie zu Papier gebrachten Kapitel des hier als »zwei-
ter Teil« erwahnten gréferen Komplexes, der zweifellos der Problematik
des »Kunstwerks an sich« gewidmet gewesen ware. Es ist nicht ausgeschlossen,
da das im Brief erwahnte vorgesehene Kapitel iiber »Individualitat und
Uberpersénlichkeit des Kunstwerks« dem Thema nach wenigstens teilweise
mit dem kurzen Kapitel-Fragment identisch ware, das mit dem Titel Die
intelligibile Zufalligheit und der Anthropologismus der Kunst in diesen Band
als Appendix 1 zu Ast. aufgenommen worden ist.
Vertrauenswiirdigere Anhaltspunkte als diese sehr spate Erinnerung schei-
nen, zumindest was die geplante allgemeine Struktur des Werkes anbelangt,
die im Manuskript selbst auffindbaren verstreuten Hinweise zu bieten. Diese
zeigen — und zwar sowohl in PhK. wie in Ast. vollstandig iibereinstimmend.
(und somit beweisend, da die Idee hinsichtlich der grundlegenden Struktur
wahrend der ganzen Arbeit nicht verdindert worden war) — folgendes allge-
meines Struktur-Geriist: Auf das erste Kapitel, das als allgemeine philoso-
phische und methodologische Einfiihrung gedacht ist (das » Ausdruck«- bzw.
das »Setzunge-Kapitel) sollte sich das Werk zu drei Teilen gliedern: Phiino-
menologie — Werklehre — nachkonstruktive Psychologie (letztere erscheint in
Ast. 1 zwar als »transcendentale Psychologies, des spiiteren kehrt jedoch der
Terminus »Nachkonstruktion« wieder). Diese Dreigliederung ist dem Wesen
nach nichts anderes, als die theoretische Wiederspiegelung und Transposition
vder dreiteilig gegliederten Urstruktur der asthetischen Welt« (PhK. S. 52):
»der Weg zur dsthetischen Setzung, die Setzung, wie sie an sich ist, und die
270 Markus

Setzung, wie sie sich in den normativen Subjektivitaten spiegelt« (Ast 1,


S. 70). Von den beiden »subjektiven« Spharen steht die Phanomenologie
»vor« dem Werk, als »andeutende Vorstufe zum Werk«, die Nachkonstruk-
tion hingegen danach als »abgeleitete methodische Folge aus dem Werk und
nach dem Werk« (PhK., S. 61). Ihre Beziehung zueinander, die in beiden Ma-
nuskripten mehrfach behandelt wird, wird am klarsten (und der spateren, aus-
gereiften Auffassung von Lukdcs entsprechend) durch folgende Stelle in Ast.
beleuchtet: »... die Phanomenologie steht begrifflich »>vor< dem Werk, sie ist
die Demonstration der Bedingungen der Méglichkeit der asthetischen Set-
zung, sie hat also eine Intention auf den Vollzug der asthetischen Setzung,
wiahrend die Transcendentalpsychologie — ebenfalls begrifflich — »nach« dem
Werk liegt, indem sie die normativ apriorischen Modifikationen der Gegen-
stindlichkeit des Werks aufzeigt, die auf dem Niveau dieser subjektbezoge-
nen Geltung notwendig entstehen. Die Phanomenologie ist also ... der Ver-
wandlungsproze8 des seinsbezogenen Erlebnisses im reinen Exlebnissinn,
wahrend die Transcendentalpsychologie eine Typologie der dem Werk zu-
geordneten Erlebnisméglichkeiten anstrebt; jene ist ein Prozef, eine Reihe,
diese eine Typologie, jene stellt ihre Stufenfolge als hierarchisches Uberein-
ander und Auseinander in die Richtung auf das zu setzende Werk auf, diese
kennt keine Stufenfolge oder Hierarchie, sondern einander nebengeordnete,
apriorische Méglichkeiten.« (Ast. 1, S. 68) Gleichzeitig kommt — aus
Griinden, die im Manuskript eingehend dargelegt sind — in der Phanomeno-
logie dem Schaffenden, in der nachkonstruktiven Psychologie dem Rezeptiven
die fidhrende Rolle zu (vgl. PK. S. 67, Ast. 1, S. 69 usw.). Die grund-
legenden Kategorien des dritten umfangenden Teils, der nicht einmal in An-
griff genommen wurde, waren dem schépferischen Vorhaben Lukdcs’ nach die
schopferische Akribie und die receptive Ergriffenheit gewesen (s. z.B. PhK.
S. 177).
Eingeschlossen in die beiden groSen Teile iiber die Subjektverhaltungen sollte
die Analyse der eigentlichen asthetischen Sphire selbst, des »schlicht gegebe-
nen« Asthetischen Werts: des Werks an sich stehen. Der Darlegungsweise von
Ast. zufolge ware die Eréffnung dieses groBen Teils die Untersuchung der
»Subjekt-Objekt-Beziehung« gewesen; es ist anzunehmen, da dieser in bei-
den Manuskripten als aus mehreren Kapiteln bestehend gedacht war. Wahr-
scheinlich scheint, da& die Plane hinsichtlich des Aufbaus in der Zeit, die
zwischen den beiden Manuskripten verstrichen war, tatsachlich wesentlicher
Abinderung unterlagen, wenngleich den Schwerpunkt in beiden Fassungen
die Untersuchung des gegenseitigen Verhiltnisses der verschiedenen Formen-
Nachwort 271

schichten im Werk hatten bilden sollen. Keines der beiden Manuskripte er-
laubt, den Aufbau des »Werk an sich«-Teiles genau so rekonstruieren; die
ausfiihrlichste Information enthilt der zitierte Brief Luk4cs’ vom Dezember
1969.
Diese Rekonstruktion des hauptsdchlichen Geriists der Arbeit bietet jedoch
noch immer nicht ausreichenden Aufschlu& hinsichtlich des logisch genauen
Ortes einiger Teile des uns verbliebenen Manuskriptes. Es ist unklar, oder
wenigstens nicht ganz offensichtlich, wie sich zwei Teile in diesen Struktur-
plan eingliedern lassen: das dritte PbK.-Kapitel (»Geschichtlichkeit«) sowie
die (die »Transcendentale Dialektike bildenden) zwei letzten Kapitel von
Ast.
Was das Geschichtlicbkeit-Kapitel anbelangt: Es wurde, wie erwahnt, un-
mittelbar nach den zwei vorangehenden PhK.-Kapiteln geschrieben. Daraus
folgt aber nicht unbedingt, da es auch logisch auf diese folgt. Es ware denk-
bar, da8 Lukdcs aus irgendwelchem Grund dieses Kapitel, das der logischen
Struktur nach spater am Platz ware, vorausgreifend zu Papier brachte. Da
er, aus ungeklarten Griinden, die ersten vier Seiten des handschriftlichen
Konzepts noch vor Maschinenabschrift verwarf, beginnen die Ausfihrungen
tatsachlich in medias res; im Gegensatz zum zweiten Kapitel wird hier der
logische Ort der erdrterten Problematik nicht erwahnt. Wir kénnen uns daher
nur auf inhaltliche Erwagungen verlassen, Die Problematik des Kapitels ge-
hdrt zweifellos schon zur Analyse des Werks an sich — Lukdcs betont sehr
entschieden, da® das Neue, die Ewigkeit, die Geschichtlichkeit usw. Katego-
rien des an sich begriffenen Werkes darstellen. Gleichzeitig ist die Problema-
tik sehr eigenartiger Natur. Sie hebt das grundlegende Charakteristikum des
Kunstwerks — seine absolute Immanenz und In-sich-Geschlossenheit — not-
wendigerweise auf. Tatsichlich beschaftigt sich dieser Teil abermals mit den
Bedingungen der Méglichkeit des Kunstwerks — jedoch, im Gegensatz zu
dem Phdnomenologie-Kapitel — nicht mit den subjektiven, sondern mit den
objektiven Bedingungen; genauer, diese objektiven Bedingungen werden hier
»in bezug auf den objektiven Werksinn« ins Auge gefa’e (PhK. S. 173 und
176). Gerade darum kommt in diesem Kapitel Begriffen, die zur Analyse des
schdpferischen bzw. des rezeptiven Prozesses (zur Phanomenologie bzw. zur
nachkonstruktiven Psychologie) gehéren, eine so wichtige Rolle zu (s. PhK.
S. 175, 177 usw.). Der »Oberleitungs«-Charakter dieses Teils ist kaum zu
bezweifeln: er leitet entweder von der Phinomenologie zur Werklehre oder
von dieser zur Nachkonstruktion. Fiir diese zweite Méglichkeit auszusagen
scheint die grundlegende Rolle der typologischen Methode in diesem Kapitel;
272 Markus

das erscheint jedoch nicht ausreichend genug, um die Méglichkeit einer »Ein-
fihrung« in die Werklehre auszuschliefen, namlich den Fall, da& die Ge-
schichtlichkeit auch logisch das dritte Kapitel darstellt.
Anders verhiilt es sich in Ast. 4-5: die Transcendentale Dialektik fiigt sich
in ihrer Gesamtheit nicht in das hier aufgerissene Grundschema des Werks
ein. Richtig hatte Rickert bemerkt, da& die bis dahin systematischen Aus-
fiihrungen hier abgebrochen werden und an ihrer Stelle eine historisch-kri-
tische Analyse tritt; ein Platz fiir diese ist aber in der Aufbau-Skizze nicht
angegeben.
Die neuestens zutage gekommenen Luk4cs-Materialien zeigen jedoch, daS
der Gedanke einer derartigen kritischen Analyse der Geschichte der Asthetik
bereits vor seiner Arbeit an der Philosophie der Kunst aufgekommen war; es
ist sogar méglich, da& dieser Gedanke das erste konkrete Konzept der
geplanten grofen asthetischen Arbeit gewesen ist. Jedenfalls finden sich unter
den neu geborgenen Papieren zwei Aufrisse mit dem Wesen nach gleichem
Inhalt, die, aufgrund duBerer Merkmale, auf Ende 1911 - Anfang 1912 an-
zusetzen sind. Da sie in zweifelloser geschichtlicher und logischer Beziehung
mit den Heidelberger Manuskripten stehen, diirfte es zweckmafig sein, den
detaillierter ausgearbeiteten hier zu verdffentlichen. Dieser lautet:
»Das Formproblem in der Asthetik
(Historisch-kritische Prolegomena zu einer Philosophie der Formen)
1, Die Verfliichtigung der Form im Rationalismus.
1. Die Stellung der Kunstphilosophie in dem System des Rationalismus.
2. Form und metaphysische Wirklichkeit.
3- [Plotin]* Der Griechische Rationalismus und das Problem der Nach-
ahmung.
4. Die Kunst als Objektivation der Idee.
1, [Schelling] Kunst und Mythologie.
s. Die Kunst als Objektivation der Idee. 11. [Hegel]
Das Problem des Weltprozesses.
ut, Die Zersetzung der Form durch den Empirismus
1. Die Entstehung der neuen Psychologie
2. [Lessing und Herder] Die Psychologie der Schaffenden und GenieBen-
den.
3. Die moderne Psychologie und das Problem der Kunst.

* Textteile in eckigen Klammern im urspriinglichen Manuskript gestrichen.


Nachwort 273

im. Die Entstehung der Form aus dem Kriticismus


1. Der Formbegriff in Kants System.
2. Kritik der Urteilskraft.
3. Excurs: Der dsthetische Empirismus der Dichter und der Kiinstler.
4. Méglichkeiten und Probleme der Asthetik als Philosophie der For-
men.«
Gewisse Momente des Briefwechsels legen die Vermutung nahe, Lukdcs habe
die Realisierung des Projekts im Frithjahr oder Sommer 1912 auch in Angriff
genommen. Fest steht jedenfalls, da& dieser Plan nach kurzer Zeit verdringt
wird; im Herbst und Winter desselben Jahres arbeitete Lukacs héchstwahr-
scheinlich bereits am PhK.-Manuskript. Anzusehen ware hingegen, da& das
Vorhaben, die Geschichte der Asthetik kritisch aufzuarbeiten, nicht vollends
aufgegeben wurde: im Text von PhK. finden sich in ansehnlicher Zahl Be-
merkungen, die auf spatere geschichtlich-kritische Ausfiihrungen innerhalb
des Rahmen des Werkes selbst hinzuweisen scheinen (z. B. PhK. S. 34, 36, 61
usw.); sosehr eindeutig, da& man sie als iiber jedem Zweifel erhaben anspre-
chen diirfte, sind diese jedoch nicht.
Vollends eindeutig ist hingegen, da& 1916, als Lukacs die Umarbeitung und
Fortsetzung seines Manuskripts in Angriff nahm, der genaue Plan fiir Nie-
derschrift bzw. Aufbau eines gréferen Teiles von diesem Charakter bereits
fertig stand. Am Anfang des ersten Ast.-Kapitels (S. 33) begegnet man
einen unmittelbaren Hinweis auf die »Transcendentale Dialektik der Schén-
heitsidee«, die nunmehr dem Titel nach genannt wird; dem genannten Hin-
weis nach sollte ihr dritter Teil das Verhaltnis von Ethik und Asthetik im
Einzelnen behandeln. Nun entspricht aber dieser Hinweis eindeutig dem
spater von Lukdcs klar formulierten Vorhaben (s. Ast. 1v, S. 136),
diesen historisch-kritischen Teil aus drei Kapiteln aufzubauen, von denen der
letzte, wahrscheinlich mit dem Titel »Die substanziell-ethische Schénheits-
idee«, Kants Asthetik hatte behandeln sollen. Bekanntlich hegte Lukdcs der
Kantschen Asthetik gegeniiber gerade den Vorbehalt, daf sie die asthetische
Sphire ethisiert, wodurch Kant in Gegensatz zu seinen eigenen Grundgedan-
ken gerat und die Autonomie der Asthetik wieder aufhebt.
Auf welchen Zeitpunkt immer wir auch das Aufkommen des Gedankens
ansetzen mégen, eine geschichtlich-kritische Darlegung in die Arbeit zu neh-
men, eins steht fest: Ihren logischen Platz kann man sich kaum anderswo
vorstellen, wie nach den vorhin erérterten systematischen Ausfiihrungen, in
deren organisch-engen Aufbau sich ein Exkurs von ahnlichem Umfang ja
kaum einschalten lieRe. Ebenso fest steht hingegen auch, da& Luk4cs seine
274 Markus
Arbeit an der systematischen Ausfiihrung unterbrach, um die »historischen«
Teile zu schreiben; schlieSlich reichte er das Manuskript in der vorgestellten
Form als Habilitationsschrift ein.
Diese letztgenannte Tatsache findet ihre Erklarung offensichtlich in au8eren
Umstinden: die Zeit wurde knapp. Insoweit ist die aktuelle Struktur von
Ast. auch nicht als Realisierung — nicht einmal teilweise Realisierung — eines
vorherigen Redaktionsplans zu betrachten, sondern vielmehr als eine nach-
trigliche Ordnung bereits frisher fertiggestellter Kapitel, die, der Struktur
nach, an verschiedene Stellen gehéren wiirden. Uber die Ursachen des Auf-
gebens der systematischen Darlegung geben uns die von Lukdcs stammenden
Dokumente keinerlei Erklarung; nicht einmal ein einschlagiger Hinweis ist
zu finden. Wir sind somit auf (4uferst ungewisse) Vermutungen angewiesen.
Dennoch darf man das Problem nicht stillschweigend iibergehen. Die Tat-
sache, da& die Ausarbeitung einer Asthetik, in deren Zentrum programm-
gema& und ausschlieflich das Kunstwerk an sich stiinde, stets dort abge-
brochen oder aufgelassen wird, wo die eigentliche Ausfiihrung dieses Pro-
blems beginnen miifte, ist all zu auffallend.
Haben wir es nicht mit einer Koinzidenz zu tun, so liegt die Erklarung
miglicherweise bei den unbezweifelbaren inhaltlichen und methodologischen
Schwierigkeiten, die der Lukdcs’schen Konzeption des Werks an sich inharent
sind. Bereits im Winter 1911, da die Grundgedanken seiner Asthetik erst
im Entstehen begriffen sind, beschrieb sie Lukdcs als »demiitige negative
Theologie« (s. Tagebucheintragung vom 23. November 1911, Ms.) — und
tatsachlich lieBe sich kaum eine treffendere Charakterisierung geben. Beson-
ders gilt dies fiir die Konzeption der Ast. In der PhK. erscheint die Vollen-
dung des Werkes namlich noch als Losung der grundlegenden Widerspriiche
des Lebens — selbst wenn diese Auflésung und Erlésung, gerade weil sie sich
in einer vom Leben scharf und vollstandig abgehobenen Sphire als Sollen
realisisiert wird und daher dessen seiende Widerspriichlichkeit unangetastet
1aBt — auch »luziferisch« ist: »vorgeschossene Vollkommenheit, Harmonie vor
der Erlésung« (so fa&t Béla Bal4zs in seinem Tagebuch, aufgrund eines Ge-
sprachs mit Lukdcs, die Idee des Luziferischen der Kunst zusammen). Der
Konzeption der Ast. zufolge jedoch charakterisiert schon die coincidentia
oppositorum selbst auch nur die theoretische Transposition der asthetischen
Geltung bzw. das »inadaquate« Verhiltnis des Schaffenden und des Rezep-
tiven zum Werk; das Werk an sich ist jenseits allen Widerspruchs, die
»schlichte, differenzjenseitige Einheit« selbst. Infolge all dessen gleicht sich
das » Werk an sich« zweifellos sehr stark dem unbegreifbaren, fiir Menschen-
Nachwort 275

verstand unfaSbaren und unaussagbaren »leeren« Gott der »negativen Theo-


logie« an, samtliche, historischh so wohlbekannte theoretisch-methodische
Schwierigkeiten und Paradoxa mit einbegriffen. Es gehért auf ein anderes
Blatt, da sich Lukécs iiber all diese Probleme vollstandig klar ist; ein be-
deutender Teil von Ast. 1 will gerade diese auf allgemein methodologischer
Ebene beantworten.
Was immer auch die Rolle der meritorischen Schwierigkeiten im wiederholten
Unterbrechen der Realisierung des urspriinglichen Plans gewesen sei, persin-
lich finde ich gewisse, eher »subjektive« Faktoren betreffende Bedenken iiber-
zeugender und bedeutsamer. Es muf auffallen, da& von den sieben fertig-
gestellten Kapiteln der Heidelberger Manuskripte im wesentlichen nur eines
(PAK. 2.) als sensu stricto »asthetisch« zu bezeichnen ist. Die anderen sechs
Kapitel beschaftigen sich (zumindest prima vista) nicht erstrangig mit der
immanenten Analyse der asthetischen Sphiire, sondern — bald auf philosophi-
scher, bald auf methodologischer und bald auf ideengeschichtlicher Ebene -
mit der Erhellung ihres »Ortes«, ihres Verhaltnisses zu den iibrigen autono-
men Setzungsformen, zur Erlebniswirklichkeit, zu den geschichtlichen Gebil-
den. Wahrend Lukdcs immer wieder betont, er erkenne seine Aufgabe nicht
in der Untersuchung der Beziehungen der asthetischen Setzung zu den iibri-
gen Sphiren, befat sich das Manuskript tiberwiegend gerade damit: mit dem
Aufzeigen des Lebenssinnes der Kunst. Diese Bemerkung 1a8t sich aber auch
auf den Inhalt der Konzeption iibertragen: Die Paradoxie — wenn die sub-
jektive Bemerkung gestattet ist: die Gréfe — von Lukacs’ friiher Asthetik liegt
gerade darin, da& diese Konzeption, in der die absolute Autonomie und
Immanenz des Kunstwerks mit extremster Scharfe herausgestrichen wird,
die »Erklarung«, die Vorbedingung fir das »Faktum« Kunst dennoch erst-
rangig »in dem tiefen Bediirfnis nach Kunst in den nicht kiinstlerischen Men-
schen« (PhK. S. 38) erkennt und aufzeigt, und zwar in dem Sinn, da die
auf der vollstandigen In-sich-Geschlossenheit, dem vollstandigen kosmischen
Charakter des Werkes beruhenden entscheidend konstitutiven Kategorien
seines Aufbaus — Begriffe wie die utopische Wirklichkeit, Schema der Erfiil-
lung, vollendete Welt, concidentia (oder schlichte Einheit) oppositorum, Sinn
und Widersinn u. a. — letztes Endes alle auf seinen existenziell-menschlichen
Sinn bezogen sind und ihn erkliren. Es ist vielleicht keine allzu gewagte
Behauptung wenn man erklart, da der sehr bewufte schépferische Plan, in
dem die Frage nach dem Werk als Formkomplex eindeutig in den Mittelpunkt
geriickt wird, stindig gegen das zutiefst menschliche und denkerische Interesse
276 Markus

des Verfassers zu hadern scheint, das vor allem der Lebensnotwendigkeit der
Kunst, deren Funktion in der Totalitat des Lebens galt.
Mit diesen Erwagungen sind wir aber weit von der Rekonstruktion der
Manuskripte abgekommen. Sie betreffen offensichtlich Probleme der Inter-
pretation, die zu erdrtern weit iiber den Rahmen eines Nachwortes hinaus
liegen.
+ ee
Was nun die unmittelbare redaktionelle Arbeit - iiber die Rekonstruktion
des Aufbaus und der Entstehungsgeschichte des Textes hinaus — anbelangt:
Das erstrangige Ziel bestand verstandlicherweise darin, eine genauen, wort-
getreuen Text zu verdffentlichen. Das nur oberflichlich korrigierte Typoskript
wurde Satz fiir Satz mit den handschriftlichen Texten — sofern vorhanden
—kollationiert und denen entsprechend korrigiert.
Stellenweise ergab sich die Notwendigkeit geringfigiger Abinderungen:
offensichtlich hatte Lukacs die letzte Autorenkontrolle an den Texten nicht
vorgenommen, weshalb in der Regel offensichtliche, die Verstandlichkeit des
Textes dennoch mehr oder weniger beeintrachtigende Irrtiimer (etwa in der
Satzabstimmung etc.) zu finden waren. Wir waren bemiiht, diese iiberall zu
korrigieren.
SchlieBlich ergab sich in sehr wenigen (kaum einigen Dutzend) Satzen des
Gesamtmanuskripts die Notwendigkeit, aus Griinden der Verstandlichkeit
etwas tiefer greifende Abanderungen vorzunehmen. So war es beispielsweise
an Hand des Kontextes klar, da& das Verneinungswort ausgeblieben war, so
da die Aussage des Satzes das Gegenteil des Beabsichtigten wurde; infolge
mehrfacher Korrektionen und Einfiigung von Satzteilen wurden Satze
agrammatisch oder vollends uniibersichtlich usw. In solchen Fallen — jedoch
nur wenn dies entschieden unumgianglich war —- wurde der Satz den sinn-
gemafen Forderungen entsprechend umformuliert. Da es hier nicht um eine
textkritische Ausgabe geht und die genannten redaktionellen Eingriffe zah-
lenmafig geringfiigig sind, erschien es uns nicht notwendig, diese separat
anzugeben.
In Bezug auf Rekonstruktion und Redaktion des Textes seien noch zwei
Momente erwhnt. Stellenweise (vor allem im PhK. 2) schrieb Lukdcs im
Manuskript lange, bis zu 20-30 Seiten umfassende Textteile ohne jegliche
Gliederung (Absatze) nieder. Da dies, die Gesamtheit des Manuskripts vor
Augen haltend, keineswegs als Stileigenart anzusprechen war, die Lesbarkeit
des Textes jedoch schwerwiegend beeintrachtigte, gliederten wir den Text
der sinngemafen Aufteilung entsprechend zu Absatzen.
Nachwort 277

Und schlieBlich die Frage der Ortographie. Wie bereits erwahnt, bediente
sich Lukdcs sehr hiufig der lateinischen Ortographie, wenn es um Worter
lateinischen Ursprungs ging, jedoch von Anbeginn recht unkonsequent. Es
gibt Manuskriptseiten, wo ein und dasselbe Wort mit zweierlei Schreibweisen
(z.B. »Complex« und »Komplex«), ja sogar in dreierlei Formen zu finden ist.
Bei der Ubertragung in Maschinenschrift, zu verschiedenen Zeitpunkten und
offensichtlich von verschiedenen Personen durchgefiihrt, wurde die Orthogra-
phie meist je nach dem Geschmack der Abschreiber umgestaltet. Da die Wie-
derherstellung der urspriinglichen Schreibweise von Lukdcs eine sehr groSe,
und in Hinblick auf die vorliegende Ausgabe auch iiberfliissige Arbeit erfor-
dert hatte, wurde lediglich die Ausgestaltung einer konsistenten Schreibart
angestrebt, die die urspriingliche Luk4cs’sche Eigenart nur andeutet.
Bestandteil der redaktionellen Arbeit war ferner die Kollationierung und
Kontrolle der Zitate. Mit der Ausnahme eines einzigen Kapitels gab Lukdcs
die Quellen seiner Zitate nirgend an (wenngleich im Manuskript stellenweise
die entsprechende Seitenzahl mit Bleistift iiber das Zitat geschrieben er-
scheint). Offensichtlich zitierteer auch viel aus dem Gedachtnis: ein Teil der
Anfihrungen war mehr oder weniger ungenau. Es gelang, die Quellen mit
wenigen Ausnahmen festzustellén (ebenso auch, welcher Ausgaben sich Luk4cs
bediente). Die entsprechenden Stellen wurden dementsprechend korrigiert,
die Hinweise in den FuBnoten angegeben. FuSnoten der Redaktion erschei-
nen in eckigen Klammern.
Ein anderes und komplizierteres Problem als die sich bei den Grundtexten
der Manuskripte ergebenden stellte die Redaktion des Vortrags Das Form-
problem der Malerei dar. Sein 34 Seiten umfassende Typoskript kam.unmit-
telbar nach Lukdcs’ Tod zum Vorschein, in dem Biindel friiher Manuskripte,
das auch die handgeschriebenen (und teil weise maschinengeschriebenen) Manu-
skripte von PhK. und Ast. enthielt. Schon das fliichtige Durchlesen dieser
Seiten lie8 klar erkennen, da& man offensichtlich das nachtraglich niederge-
schriebene und wesentlich nicht korrigierte Stenogramm eines Vortrags vor
sich hat. Gedanklich kniipft der Text zwar eng an die Problematik und die
Ideen der Heidelberger Manuskripte, doch bildet er in keinerlei Hinsicht
deren Bestandteil. Er muf als separate Einheit aufgefa&t werden. Unter den
Lukécs-Texten, die 1973 aufgefunden wurden, befanden sich jedoch Aufrisse
und Notizen zu diesem Vortrag auf insgesamt sieben groSen Manuskript-
seiten. Der gréfere Teil davon, der Eigenwert besitzt, wurde in diesen Band
ebenfalls aufgenommen. Ein Teil der Notizen, die nicht hier zu lesen sind,
enthielt Literaturhinweise und Quellenangaben. Mit ihrer Hilfe konnte der
278 Markus

Vortrag mit relativer Genauigkeit datiert werden. An zwei Stellen beruft sich
Lukdcs namlich auf Wolfflins Artikel Uber den Begriff des Malerischen, der
im rv. Band von Logos erschienen war; der Vortrag konnte mithin nicht vor
Ende 1913 fertiggestellt werden. Zum anderen aber — wie erwahnt — kamen
die Notizen vor Beendigung des dritten PhK.-Kapitels, d. h. vor dem Som-
mer 1914 zustande.
Am Typoskript unternahm zwar jemand (nicht Lukdcs) geringfiigige Korrek-
turen (vor allem im Hinblids auf die absurderweise mifverstandenen und
schlecht abgeschriebenen Fremdnamen), doch war der Text noch immer —
weit iiber die sprachliche Laxheit eines freien Vortrags hinausgehend — iiber-
fille mit offensichtlichen Mifverstandnissen; beim ersten Durchlesen erschie-
nen mehrere Sitze vollends sinnlos zu sein. Die Person, die die Rede mit-
stenographierte, konnte mit ihm offenbar hiufig nicht schritthalten: Satze
bleiben im Fragment, auch grammatikalisch unbeendet. An anderen Stellen
wurden Ausdriicke einfach schlecht verstanden; so liest man etwa anstelle
von (sinngemaf&) Neugier »neu hier«, yon Kultur »Skulptur« von ziemlich
»sinnlich«, was freilich auch den Sinn der betroffenen Satze vollstandig ver-
zerrte. Das urspriingliche Anliegen konnte daher erst mit Hilfe der nach-
traglich aufgefundenen, sehr ausfiihrlichen Notizen — hoffentlich dem ur-
spriinglichen Sinn entsprechend — wiederhergestellt werden. Hypothetische
Erganzungen fragmentarischer Satze bzw. in mifverstandene Passagen ein-
gefiigte Ausdriicke oder Verbesserungen stehen in eckigen Klammern. Doch
gab es iiber diese hinausgehend noch so viel zu Korrigierendes an dem Text,
da es unmdglich war, alles separat anzuzeigen, ohne die Lesbarkeit schwer-
wiegend zu beeintrachtigen.
Die Freunde, — sie wurden eingangs genannt — deren Meinung Lukdcs ur-
spriinglich hinsichtlich der Veréffentlichung der Heidelberger Manuskripte
héren wollte, waren mir bei der Redaktion weitgehendst behilflich. Separat
danken michte ich jedoch Agnes Heller, die das gesamte Manuskript mit mir
durchsah und deren Meinung ich selbst bei den geringfiigigsten technischen
Details beriicksichtigte. Ohne ihre Hilfe ware die Arbeit fiir mich schlechter-
dings unmdglich gewesen,

Budapest, im Oktober 1973 G.


279

‘Namensverzeichnis

Alfieri, V. 208 Hals, F. 243, 251


Aristoteles 144, 171 Hartmann, E. 97
Hauser, A. 255, 257
Balazs, B. 259, 274 Hebbel, F. 208 f.
Bauer, E. 259 Hegel, G. W. F. 18, 19 ff., 35, 37 .,
Bergson, H. 247 49 f., 73, 116, 171 f., 174 ff,
Bloch, E. 255 178 f., 181 ff., 185, 191 f., 195,
Bolzano, B. 44, 148 201, 204, 207, 215 ff., 220 ff.,
Byron, G. G. N. 242, 247 225, 247, 255, 264f., 269

Cohen, H. 19 f. Heller, A. 254, 278


Croce, B. 221 f. Heraklit 130
Herbart, J. F. 206 f.
Delacroix, E. 243, 246, 250 Herder, J. G. 272
Descartes, R. 28 Hildebrand, A. 23: f., 238, 249
Dilthey, W. 23, 25, 295 Hodler, F. 246
Dionysios Areopagita 138 Husserl, E. 10, 12, 37; 42 ff., 47,
56, 106 f., 147, 295, 264
Ernst, P. 208 f., 247, 266
Euler, L. 161 Jacobi, F. H. 54
Féhér, F. 256 Kant, I. 9, 11, 14, 17 f., 19, 21 ff,
Feuerbach, A. 243 44 67, 71£., 83, 93, 98, 101 ff.,
Fichte, J. G. 212 113, 121 f., 124, 146, 157, 161,
Fiedler, K. 77 ff., 87, 102, 107, 130, 177; 182, 184 ff., 192, 196, 203,
135, 231 fF. 237 f., 244 212 f., 255, 267, 173
Fludd, R. 187, 190 Kepler, J. 187, 190
Kierkegaard, S. 118, 132, 244, 248,
Giotto di Bondone 246 265
Goethe, J. W. 101, 183 ff., 189 ff., Kopernikus, N. 93, 146
193 ff., 201, 205 ff., 208, 213, Kuntze, F. 45
224, 239
Gogh, V. van 246 Lask, E. 11, 16, 56, 113, 120, 255,
Gundolf, F. 195 259, 261
280 Namensverzeichnis

Leibniz, G. W. 148 Riegl, A. 246, 249


Lessing, G. E. 272 Riemer, F. W. 213
Liebermann, M. 242 f. Rubens, P. P. 243, 246
Lippi, F. 246 Ruysdal, J. 246
Lorraine, C. 246
Lotto, L. 242 Schelling, F. W. 40, 97 f., 142,
148 f., 151, 154. 157) 175»
Manet, E. 248 178, 183, 201, 215, 272
Marées, H. 248 Schiller, F. 59, 208, 236
Mészdrés, I. 256, 268 Schlegel, F. 70, 192, 214
Michelangelo Buonarroti 248 Schopenhauer, A. 112, 247
Moritz, K. Ph. 199 Shakespeare 236
Spinoza, B. 157, 161
Newton, I. 187 ff. Stein, A. 23
Nicolaus Cusanus 174 Sung Lin 139

Oerstedt 196 Thomas von Aquin 167


Tizian Vecellio 241
Paracelsus, A. Th. 189 Tolnay, Ch. 257
Plato 78, 88, 132, 138, 140 ff., 144, Tolstoi, L. 152
151, 154, 156, 158, 162, 164, 167, Toulouse-Lautrec, H. 246
170 f., 178, 180, 182, 184,
189, 191 f., 196 f., 199 f., Vajda, M. 256
206, 246 Vischer, F. Th. 196 f., 201 ff., 207,
Plotin 118, 137 ff., 148, 152, 156, 209, 215 f.
164, 169 f., 178, 186, 199, 272
Polanyi, K. 259 Weber, M. 255
Popper, L. 259 Weisse, Ch. H. 196, 198 ff., 203,
Pythagoras 159 f. 209, 216
Winckelmann, J. J. 145, 163
Raphael Santi 24: f. Wolfflin, H. 279
Rembrandt 240, 242, 245, 251
Rickert, H. 10, 56, 67, 74, 113, 267 Zimmermann, R. 206

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