海德堡美学
海德堡美学
BAND 17
oF
SYOULS
GEORG LUKACS
LUCHTERHAND
Eckige Klammern umschlieSen Zusatze der Herausgeber.
36
hb 7635
IQA
vil]
Erster Teil
I. Das Wesen der asthetischen Setzung
TL. Phinomenologie des schépferischen und receptiven
Verhaltens go
UI. Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Asthetik gu
Anhang
Appendix I und II
Namensverzeichnis 279
ERSTER TEIL
1. Das Wesen der asthetischen Setzung
»Es gibt Kunstwerke — wie sind sie méglich?« — mit dieser, dem Geiste,
wenn im Einzelnen auch dem Buchstaben nach nicht, kantischer Frage
muf jede Asthetik beginnen, die als reine Geltungslehre des Asthetischen,
also weder als Metaphysik noch als Psychologie, begriindet werden soll.
Der Schein der Anerkennung einer blofen »Faktizitat«, den diese Formu-
lierung fiir den ersten Blick enthilt, enthiillt sich sogleich als blofer
Schein, wenn bedacht wird, da einerseits das hier anerkannte und zum
Ausgangspunkt gewahlte Dasein der Kunstwerke nicht die Breite und die
Fille ihrer tatsichlichen, ihrer geschichtlichen Gegebenheit, sondern ihre
bestimmte, wenn auch noch nicht konkret erkannte spezifische Struktur
bezeichnen soll, an deren Wesen sich nichts indern wiirde, wenn es in der
uns gegebenen Wirklichkeit tiberhaupt keine realen Kunstwerke gibe (da8
damit freilich ihre Erkennbarkeit unmdéglich wiirde, ist richtig, aber hier
unwesentlich). Dies bedeutet andererseits, da das »es gibt« nur auf die
»Analogie einer Tatsache« und auf keine wirkliche, weder empirische noch
metaphysische Tatsichlichkeit hinweist, sondern blo& das schlechthin Hin-
zunehmende, Unableitbare, Voraussetzungslose der dsthetischen Setzung,
der Geltung der Kunstwerke scharf bezeichnet. Es besagt also nur soviel,
da& es keine Deduktion, dialektische Synthese oder systembildende Kon-
struktion irgendwelcher Art geben kann, aus der diese origin’are Gegeben-
heit zu gewinnen oder abzuleiten wire, daf diese vielmehr, genau so wie
das »synthetische Urteil a priori« fiir die Fassung der theoretischen Sphire
bei Kant, wie die Ursetzung des Ethischen, von der Transcendentalphilo-
sophie als Letztes, als Absolutes — Unbedingtes im buchstablichen Sinn —
hingenommen und nur auf die Bedingung ihrer Méglichkeit untersucht
werden soll.
Die erste Voraussetzung der eindeutigen Fragestellung ist also die még-
lichste Kldrung und Konkretisierung dieser Gegebenheit; die Frage: was
die transcendentalphilosophische Bedeutung, die objektive Struktur und
Geltungsart des Sinngebildes »Kunstwerk« sein mag. Freilich kénnte hier
gleich eingewendet werden, da®& in der Beschrinkung der dsthetischen
Setzung auf das Kunstwerk ein unberechtigtes »Vor-urteil« steckt, daf
andere — allgemeinere und »hdhere« — asthetische »Urgegebenheiten«,
ganz besonders die Schénheit, uns vorliegen, denen gegeniiber das Kunst-
10 Heidelberger Asthetik
x Ober Metaphysik soll hier tiberall als von einer spezifischen Art der Systematisation die
Rede sein, ohne tiber ihre Berechtigung weder im positiven, noch im negativen Sinne
ein Urteib zu fallen. Diese Aufgabe ist freilich dadurch sehr erschwert, da die klassische
Asthetische Setzung Ir
tungsformen, auf die bereits hier hingewiesen werden muf, ist die Ver-
mischung der Asthetischen mit der theoretischen Geltung. Nicht nur der
weit vorgeschrittenere Ausbau dieser Sphire, im Vergleich mit unserer
noch so primitiven Erkenntnis der Struktur des Asthetischen, sondern
auch die Panarchie des Logischen, die Notwendigkeit, da jede Erkennt-
nis von der Form der Theorie umgeben erscheinen mu, begiinstigt das
Verdecken der asthetischen Urstruktur durch theoretische Formelemente.
Ohne jetzt noch auf das Problem des »isthetischen Urteils« naher ein-
gehen zu wollen, woriiber freilich spiter oft die Rede sein wird, muf hier
bereits gesagt werden: die Geltung eines »asthetischen Urteils« ist eine
rein theoretische Geltung, da seine Geltungsform die theoretische ist und
dem Asthetischen dabei nur die Funktion der »irrationellen«, in die theo-
retische Geltung hinaufgehobenen Materie zukommt. Wenn also hier
- wie es noch Kant annahm - eine fiir die Asthetik entscheidende Struk-
turform vorliegen wiirde, so ware ihre Geltung eine Unterart der theore-
tischen und die Begriindung einer autonomen Wertsphare ware von vorn-
herein unméglich. Es muf§ deshalb immer an die von der theoretischen
Geltungsform unberiihrte, an die — nach Lasks* treffendem Ausdruck -
»logisch nackte« Gegebenheit des Asthetischen, an das Kunstwerk, wie es
an sich ist, an die subjektiven Verhaltungsarten im Werk (Produktion und
Receptivitat), wie sie in ihrer originaren, rein Asthetischen, noch nicht
theoretischen Weise klarwerden kénnen, gedacht werden, wenn die Gel-
tungsart des Asthetischen als autonomer Geltungsform erforscht werden
soll. Inwiefern sich diese Reinheit der asthetischen Setzung — besonders in
den subjektiven Verhaltungsarten — in der Wirklichkeit zu realisieren
vermag, wie weit es in der Wirklichkeit miglich ist, alles »Urteilsartige«
vom Asthetischen fernzuhalten, kann und soll uns hier nicht beschaftigen.
Metaphysik so gut wie niemals reine Metaphysik ist, sondern zugleich die Funktion der
Geltungsphilosophie auszufiillen bestrebt ist. Eine weitere Schwierigkeit der Darstellung
liegt darin, da& die Abhebung des Asthetischen von Theorie und Ethik eine Fassung jener
Geltungsarten voraussetzt, die sich mit der heute herrschenden nicht in allen Punkten
deckt und die hier dennoch aus begreiflichen Griinden unausgefithrt bleiben muf. Im all-
gemeinen soll die Auffassung des Neukantianismus, besonders in der Form, die sie bei
Rickert und Lask erhielt, der Kontrastierung der Asthetik mit der Theorie und Ethik
zu Grunde gelegt werden.
* [S. Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, Tubingen, Mohr. r9rr, Erster
Teil, 5. Abschnitt. S. 72-79.]
1m Heidelberger Asthetik
Es kommt auf das Herausarbeiten der rein dsthetischen Geltungsart an,
und wenn es sich zeigt, daf es eine solche gibt — dessen Beweis freilich
erst das Ganze dieses Werkes zu tragen im Stande ist -, so liegt in der
eventuell notwendigen Vermischung des »tatsichlichen« Verhaltens mit
theoretischen Formelementen entweder eine vom Originaren abgeriickte
Strukturkomplizierung, die aus dem Originiren zu begreifen ist und nie-
mals dieses begreiflich machen kann, oder sogar eine blof& psychologische
Notwendigkeit, im Hineinspielen des »Denkense als psychischer »Wirk-
lichkeit« in den Zusammenhang des tatsichlich psychischen Ablaufs des
Verhaltens, was mit Geltungsfragen selbstredend nichts zu tun haben kann
und darf,
Das Kunstwerk kann auf dieser Stufe unserer Erkenntnis — also in héchst
primitiver, sogar brutal-abstrakter Weise — bestimmt werden als ein
Formkomplex, der eine derart in sich abgeschlossene Struktur, eine so
vollendete, im unmittelbaren Erleben erfa&bare und zu erfassende Imma-
nenz besitzt, daf& er seine Geltung ausschlieRlich dieser Immanenz, und
nicht dem Einfiigen in einen tibergreifenden Zusammenhang oder dem
Zuordnen zu einem Prinzip hdherer Art als das Sinngebilde selbst, ver-
dankt. Die subjektive Seite dieser Bestimmung ist die Forderung des gel-
tenden Sinngebildes an das ihm zugeordnete Verhalten, daf es iiber seine
Kontemplation, die ein unmittelbares Erleben ist, nicht hinausstrebe, da
es ebenfalls immanent in sich ruhe und nicht uber das eine Objekt der
Kontemplation hinaus auf andere Objekte intendiere. Daraus folgt eine
ganz andere Stellung zur »Wirklichkeit«, zur »Aufenwelt« als in den
anderen Geltungsspharen vorliegt. Die »Wirklichkeit« — und sei sie die
Umwelt der natiirlichen Einstellung, die »objektive« Wirklichkeit der Er-
kenntnis oder die »wahre Wirklichkeit« der Metaphysik — ist mit der
Setzung des Asthetischen nicht etwa blo& — mit Husserls Ausdruck — »in
Klammern gesetzt«, sondern sie ist als radikal nichtseiend gesetzt. Dieses
»Nichtsein« jeder Wirklichkeit mit Ausnahme der des einzelnen Kunst-
werks, wobei das als Nichtsein Setzen von jedem einzelnen Kunstwerk
aus sich notwendig auch auf alle anderen Kunstwerke bezieht, bedeutet
eine so absolute Annihilierung von allem, was, bildlich gesprochen, aufer
dem Rahmen liegt, wie es bei keiner anderen Setzungsart vorgefunden
werden kann: Kunstwerk und Wirklichkeit sind — fiir die Geltung der
originaren asthetischen Setzung — in eine villige Beziehungslosigkeit zu
einander gesetzt: die Denkbarkeit des einen bedeutet die Aufhebung des
anderen. Diese Struktur der asthetischen Setzung, die uns im spateren
Asthetische Setzung 13
noch viel beschaftigen wird, hat zur notwendigen Folge, da8 das normge-
miife subjektive Verhalten, die Sollensform, die der asthetische Wert fir
die zugeordneten Subjekte annimmt, das reine Erlebnis ist. Die Totalitat
der theoretischen Sphire, die in jedem Akt des Denkens oder des Er-
kennens mitgemeint, ja als das Wesentlichste intentioniert wird, hat die
Abgeriicktheit der Form von der Unmittelbarkeit des Erlebens zur Folge;
erkennendes Subjekt und letzthinniges Objekt der Erkenntnis kénnen der
Struktur der theoretischen Sphire gem in keine unmittelbare Bezie-
hung zueinander gebracht werden (die ganze Problematik des »intuitiven
Verstandes« hat uns hier nicht zu beschaftigen, obwohl gerade seine For-
derung das Sosein dieser Sachlage mehr als alles andere zu erharten ver-
mag); die mikrokosmische Totalitit des Kunstwerks kann keine andere
normative Beziehung als die der Unmittelbarkeit des reinen Erlebens
zulassen.
Damit ist, wenn auch in héchst abstrakter Weise, die Einzigartigkeit und
die Paradoxie der asthetischen Setzung klargeworden: sie fordert ein nor-
matives Erlebnis, was, von der Seite der Objektivitat ausgedriickt, soviel
bedeutet: ihre Geltungsform ist erlebnisartig, ist das Formwerden, der
immanente Sinn des Erlebnisses. Das Paradox-Andersartige den anderen
Geltungssphiren gegeniiber tritt hierbei grell zutage: die Geltungsform
bedeutet iiberall sonst — sowohl in der Kontemplation der Theorie wie in
der Aktivitit des normgebotenen Handelns — stets ein Abriicken von jeg-
licher Erlebnishaftigkeit. Es ist vielleicht sogar (fiir Theorie und Ethik)
gar keine allzu schroffe Formulierung, wenn die Form als das dem Er-
lebnis Entriickte, als das schlechthin Erlebnistranscendente bestimmt wird,
das ebendeshalb die Funktion der geltenden Form, die Erhebung auf das
Geltungsniveau, dem stets irrationellen, stets »erlebnishaften« Material
gegeniiber auszuiiben fahig und befugt ist. So da& in der Correlation
Form-Material wir durchwegs und mit Recht gewohnt sind, die Erlebnis-
haftigkeit auf der Seite des Materials (beinahe als mit ihm gleichwertig)
zu erblicken. Diese Materialposition des Erlebnisses bleibt auch von der
asthetischen Setzung unangetastet, dadurch mu aber, mit diesem nachsten
notwendigen Schritt zu ihrer Konkretisierung, ihre Paradoxie noch ge-
steigert erscheinen. Form und Geformtes sind hier einander homogen,
sind aus dem gleichen »Material«: beide sind erlebnisartig. Diese einzig-
artige Struktur der dsthetischen Geltung macht es verstindlich, daf
ihr wahres Wesen so gut wie nie unverfalscht erblickt und ungetriibt
herausgearbeitet wurde. Die Unklarheiten, die dabei zu entstehen pflegen,
14 Heidelberger Asthetik
setzt und aufgeliést werden mu&; wie sehr Fragestellungen, die in der
einen Sphire direkt auf den absoluten Wert hinzielen, in der anderen
nichts als Verwirrungen und unauflésliche Antinomien zu stiften im
Stande sind. (Man vergegenwirtige sich recht genau Probleme wie die
Gegenstindlichkeit des »Ichs« als Persénlichkeit fiir Theorie und Ethik,
und diese Struktur wird keiner weiteren Erérterung mehr bediirftig
scheinen.) Als illustrativer Typus der zweiten Art mag eine Formstruktur
wie die Kultur dienen. Auch die Setzung der Kultur erschafft eine eigen-
artige, wenn man will, véllig neue Welt, scheint also durchaus die Kenn-
zeichen einer echten Setzung an sich zu tragen, jedoch — und dies ist das
hier Entscheidende ~ ihre Setzung ist prinzipiell nicht voraussetzungslos,
setzt vielmehr eine durch andere Setzungen (ob diese blo dem ersten
Typus angehéren kénnen, bleibe hier unerértert) bereits geformte Welt
voraus. Damit die neue Synthese, der neue Strukturzusammenhang »Kul-
tur« mdglich werde, muf eine Welt da sein, in der es Kunstwerke, philo-
sophische Systeme, Staaten, Wirtschafts- und Rechtsordnungen usw. be-
reits gibt. Ihre originiren Gegenstindlichkeiten will auch die Setzung der
Kultur nicht aufheben; das Kunstwerk etwa soll ja im Kulturzusammen-
hang nicht aufhoren Kunstwerk zu sein, sondern soll blof in einen neuen,
in einen anderen Zusammenhang gebracht werden. Es kann aber, wenn
man alle Komplikationen, die bei solchen Modifizierungen der Gegen-
standlichkeit entstehen mdgen, hier bei Seite la®t, gesagt werden: die
Form, von der solche Sphiren wie die Kultur ihre spezifische Qualitit und
damit ihr eigentliches Dasein erhalten, ist eine Form, welche untereinander
und der formenden Form gegeniiber heterogene Formen umfaft; eine
Form, die blo& Gegenstandsverkniipfungen, aber nicht radikal neue Ge-
genstindlichkeiten erschafft, da ihr Material etwas bereits — und unauf-
hebbar - Geformtes ist.
Was ist aber, muf nun gefragt werden, das Material der ersten Formungs-
art? Anders ausgedriickt: was bedeutet die Voraussetzungslosigkeit der
reinen und autonomen Setzungen? Negativ, im Kontrast zum soeben Aus-
gefiihrten mii®te die Antwort lauten: Voraussetzungslosigkeit bedeutet,
da den gegenstandsschaffenden, den geltenden Formen gegeniiber keine
fremde Gegenstindlichkeitsform ihre Giiltigkeit zu bewahren vermag,
da also das Material nur eine andere Bezeichnung fiir das schlechthin Un-
geformte, der Formung Bediirftige ist. Diese Correlation von Form und
Material, in der alles Geltungsartige auf der Seite der Form stehen muf,
gestaltet sich in den verschiedenen Setzungen (und in den verschiedenen
16 Heidelberger Asthetik
2 Vrgl. »Ober eine Entdeckunge usw. Phil, Bibl. 36 [S.: Werke. Hrsg. von E. Cassirer.
Bd. VI. Berlin, 1914. S. 32-33.] Die Kantische »Sinnlichkeite deckt sich weitgehend mit
unserem Begriff vom »Erlebnise; da es sich hier nicht um eine Kantinterpretation handelt,
kommen Abweichungen im Einzelnen, die nicht geleugnet werden sollen, fiir uns nicht in
Betracht.
18 Heidelberger Asthetik
eine Urdualitét von Form und Material als Grundlage der Geltungssphi-
ren anerkannt und ewig geworden. Innerhalb der Geltungssphiren selbst
ist es freilich verwirrend von Dualitat zu sprechen: hier gibt es nur eine
unauflésliche Correlation von Form und Material, wobei das Material als
Formungssubstrat einen Formcharakter (als Angelegtheit auf Form, als
Bediirftigkeit der Formung) besitzt, seine »Irrationalitit« zur blo& funk-
tionellen, positionellen wird, und das unerkennbare Material verwandelt
sich in einen Grenzbegriff der Erkennbarkeit, in eine unendliche Aufgabe,
in ein ewiges Noch-Nicht der Erkenntnis, in das X des zu Erkennenden.
Es darf dabei jedoch nicht iibersehen werden, da dieser Sinn des schlecht-
hin Gegebenen als Grenzbegriff der Erkenntnis sich von einem anderen
Aspekt aus ergibt, wie der oben erwahnte; dieser ist ein sphirenimmanen-
tes Correlat der giiltigen Erkenntnis, wahrend es sich in der friiheren, in
der eigentlichen Dualitat um die Entgegensetzung absolut heterogener
Elemente handelt, deren Bezichung zueinander die Sphire erst. miglich
macht, in ihr selbst jedoch keinen »Ort« beanspruchen kann. Wenn der
Begriff des Dinges an sich so gefa&t wird, so erscheint jede metaphysische
Auslegung als iiberfliissig (freilich blo& soweit von der Theorie der Er-
kenntnis und nicht von dem ganzen System die Rede ist): eine Erkenntnis
des Dinges an sich, als metaphysische Erkenntnis im Gegensatz zu einer
blo8 phanomenalen, ist schon darum ein Scheinproblem, weil der Kanti-
sche Erkenntnisbegriff, sein struktives Urverhiltnis von Form und Ma-
terial, zwar das Ding an sich als Bedingung der Méglichkeit der Materiali-
tat (der »Sinnlichkeit«) iiberhaupt voraussetzt, aber es ebenso notwendig
auf diese Rolle der blofen Bedingung der Méglichkeit beschrinkt: mit
derselben Notwendigkeit, mit der es gesetzt ist, ist es als unerkennbar
gesetzt; diese Unerkennbarkeit ist keine von aufen gesetzte Schranke der
Erkenntnis, sondern ihr inneres Wesenszeichen, sie kénnte nicht aufge-
hoben, also das Gebiet der Erkenntnis auf diesen Urgrund ausgedehnt
werden, ohne die Erkenntnis selbst aufzuheben und zu vereiteln.
Diesem »relativen« Idealismus Kants steht der »absolute« seiner grofen
Nachfolger, am grellsten der Idealismus Hegels gegeniiber. Der fiir uns
wesentliche Punkt ihres Unternehmens, den Begriff des Dinges an sich aus
dem System der Philosophie zu entfernen und das ganze, konkret-erfiillte
System aus der selbstherrlichen Produktivitat der autonomen Formen auf-
zubauen, ist das Problem des Systemanfangs, ein von Hegel selbst fiir das
Schicksal des Systems als entscheidend anerkanntes Problem, dessen Not-
wendigkeit fiir diesen Lésungstypus sich auch darin zeigt, daf jedes Hin-
Asthetische Setzung 19
3 Man denke an das »Urteil des Ursprungse in Cohens Logik [S.: Logik der reinen Er-
kenntnis. Erste Klasse, § 1]; da hier nur das systematisch Typische von Bedeutung ist,
beschriinken wir uns auf die Analyse Hegels, umso mehr, als sich bei ihm eine gréBere
Folgerichtigkeit in der vollstandigen Voraussetzungslosigkeit des Anfangs aufzeigen lat,
wie bei Cohen.
4 Wk. IIT [Berlin, 1841] 61. [S.: Wissenschaft der Logik, Lassonsche Ausgabe. Hamburg,
Meiner. 1971. Erster Teil. S. 56.]
20 Heidelberger Asthetik
heit und Leere. — Es ist nichts in ihm anzuschauen, wenn von Anschauen
hier gesprochen werden kann; oder es ist nur dies reine, leere Anschauen
selbst. Es ist ebensowenig etwas in ihm zu denken, oder es ist ebenso nur
dies leere Denken. Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat
Nichts, und nicht mehr noch weniger als Nichts«S. Dieses Nichts ist kein
Gegensatz des Etwas, kein Mittel oder Umweg zu dem Etwas zu gelangen,
wie es Cohen annimmt; Hegel unterscheidet sehr schroff »das dem Etwas
entgegengesetzte Nichts, das Nichts von irgend Etwas«, das »bestimmte
Nichts« von diesem — mit dem Sein identischen — Nichts schlechthin®. Das
Niveau der Denkbarkeit des Etwas und seiner eventuellen Gegensitze ist
schon sphirenimmanent, setzt schon die entstandene theoretische Gegen-
standlichkeit voraus; es ist charakteristisch, wie sich ja auch Cohen auf
Prinzipien wie das der Continuitat berufen mu, um diesen »Umweg iiber
das Nichts« erfolgreich zu Ende gehen zu kénnen, wahrend Hegels
Fragestellung tatsachlichh an den »Anfang«, an das Stadium »vor« der
Sphire ankniipft, wirklich nach der xgdty tAn der Theorie fragt. Jedoch
gerade diese Folgerichtigkeit schafft fiir das Hegelsche System uniiberwind-
liche Schwierigkeiten: dieses Sein=Nichts kann kein Denkprodukt, kein
Produkt der spontanen Formen der Theorie sein, denn erstens ist deren
Wesen, wie dies Hegel iiberall scharf hervorhebt, Vermittlung, wahrend es
hier um reine Unmittelbarkeit, um die vollendete Ausschaltung jedweder
Vermittlung handelt; zweitens besteht die objektive Funktion des
Denkens, gerade fiir Hegel, in dem Setzen von Bestimmungen, und die
Folgerichtigkeit in seinem Erblicken des wahren Anfangs liegt in erster
Reihe darin, da& aus ihm jede Bestimmung, ja selbst jede Méglichkeit
einer Bestimmung ausgeschaltet worden ist. Wie gesagt: die Kritik der
Methoden, die die Vermittlung und die Bestimmung und mit ihnen die dia-
lektische Weiterbewegung des Denkens in dieses Sein=Nichts hinein-
bringen, gehért nicht hierher. (Es mag im Vorbeigehen nur darauf hinge-
wiesen werden, da& der erste dialektisch-synthetische Begriff, der von
ihnen aus erreicht wird: der Begriff des Werdens nur sprunghaft — durch
5 Ebd. 72-73, [S.: a. a. O., 66-67] Es ist auch hier unméglich, die Beziehung des Hegel-
schen Begriffes von Unmittelbarkeit zu unserem Erlebnisbegriff ausfhrlich zu erdrtern;
ihre Verwandschaft und ahnliche systematische Funktion ist jedem Kenner Hegels ein-
leuchtend und dies mag fiir unsere Zwecke geniigen.
6 Ebd. 74. [S.: a. a. O., S. 67-68.] Vrgl. Logik der reinen Erkenntnis, 2. Aufl. (Berlin,
1914] 84.
Asthetische Setzung ar
lichkeit ihrer spezifischen Materie reflektiert wird. Was also von der
einen aus erblickt wird, ist mit dem von der anderen aus Sich-Ergeben-
den durchaus nicht notwendigerweise wesensgleich; eine Unterscheidung,
die nur darum iibersehen werden konnte, weil die Begriindung der Philo-
sophie in den grofen historischen Systemen so gut wie immer mit der
Begriindung der theoretischen Sphare — die freilich fast immer auch
metaphysischen Funktionen zu erfiillen hat — gleichbedeutend ist und die
Ethik fast nie, die Asthetik iiberhaupt nie autonom begriindet wurde.
Sonst wire diese ganz eigenartige systematische Funktion des Chaos langst
klar geworden: als das ewig, dem Wesen nach »vor« der Setzung Liegende,
kann es niemals, in welcher Weise immer, selbst negativ nicht, erfa8t
werden, aber selbst dieser sein Begriff ist mit der Sphire, die in der
Setzung entsteht, normativ und unaufldslich verbunden. Der Gedanke,
da® diese Verbundenheiten auf ein gemeinsames Substrat hinweisen
miissen, da also die verschiedenen »Riickblicke«, von denen aus sich das
Chaos als methodisch notwendiger »Ort« jeweils verschieden ergibt, nur
verschiedene Aspekte »desselben« Chaos sind, stammt bereits aus einer
ganz anderen Dimension der Fragestellung, aus der eines Systems der
Werte oder der einer, alle Setzungen vereinheitlichenden Metaphysik,
und ermangelt ebendeshalb der unmittelbaren Beziehung zum Chaos.
Diese jedoch ist, aller Unaussagbarkeit zum Trotz, jeder originaren
Setzung gegenwirtig: indem die Setzung die fiir sie bedeutungslose Wirk-
lichkeit aufhebt, in Inexistenz verwandelt, mu notwendigerweise der
»Augenblick« entstehen, wo das setzende Subjekt der Sphiire dem Chaos
gegeniibergestellt wird und das Chaos aufhebt, das Chaos ~ alle zwischen-
geschichtlichen Formen iberspringend — zur Form erhdht, indem es die
Setzung vollzieht. Alle gro&en Systematiker haben das »vortheoretische«
Chaos erlebt und geschildert, Kant und Hegel sind hierfiir blo nur
typische Beispiele, und nur die Spezialisten der theoretischen Einzel-
forschung, die sich notwendig stets blo& innerhalb der Sphire bewegen
und niemals das Problem der Setzung selbst beriihren, konnten seinem
Anblick entgehen. Und jede echte ethische Setzung, jede wirkliche Ent-
scheidung von normativem ethischem Ernst setzt das Subjekt diesem
— dem »vor«-ethischen — Chaos gegeniiber. Indem das Subjekt vor die
Entscheidung gestellt ist, indem es die Norm in seinen Willen aufnimmt
und damit die natiirliche Wirklichkeit, in der es als natiirlicher Mensch
dahingelebt hat, kiindigt und sich in den eigenen Charakter, in ein ethi-
sches Sinngebilde verwandelt, taucht es in grdfere Tiefen hinab als die
Asthetische Setzung 23
Tiefe, die diese natiirliche Existenz des Menschen der Norm gegeniiber zu
bedeuten vermag. Denn die ethische Setzung greift durch alle Objektiva-
tionsformen und subjektiven Ballungen des natiirlichen Menschen hin-
durch und annihiliert sie; der triage Widerstand ihres wertindifferenten
Daseins ware niemals im Stande das ethische Pathos zu entziinden, und
der freie Wille in der Entscheidung bedeutet im buchstablichen Sinne, daf
gehandelt werden muB, als ob dies die erste und die letzte Handlung im
Kosmos ware, als ob es keine Griinde gabe, die zur Situation, in der die
Entscheidung fillt, gefiihrt haben, als ob die Handlung direkt vor dem
jiingsten Gericht geschehen miifte, wo die Zeit aufgehrt hat und es nur
diejenigen Folgen der Tat geben kann, die in ihrer rein ethischen Inten-
tion ontologisch mitgesetzt waren. In der so gefaf&ten Entscheidung, in
der wahrhaft absoluten ethischen Setzung kann erst das ethische Subjekt,
der Charakter entstehen; aber sein Entstehen begriindet sich eben darauf,
da der Charakter keiner »Continuitat« irgendwelcher »Wirklichkeit«
allmahlich und die Continuitdt bewahrend entsteigt, sondern diese radikal
annihilierend, zu ihr véllig heterogen, d. h. absolut gesetzt wird. Und
diese absolute Setzung bedingt, mit derselben systematischen Notwendig-
keit, mit der Kants Ding an sich oder Hegels reines Sein gesetzt werden
muBten, da8 der absolute Charakter einem ethischen Chaos, dem Chaos
sub specie Ethik, der ngdty tan der Ethik entgegen-gesetzt werden muf,
da der Entscheidung dieser Schauer des Abgrundes notwendig vorauszu-
gehen hat. (Daf durch diese schroffe Betonung der Absolutheit jeder ein-
zelnen ethischen Tat und ihres unmittelbaren Zuriickgehens auf das »vor«-
ethische Chaos weder die Einheit des Charakters noch der Zusammenhang
der ethischen Sphiire als ganzes genommen zerrissen wird, kann hier
leider nicht ausgefiihrt werden.)
Der andere Typus der Setzung scheint auf den ersten Blick eine konkre-
tere Annazherung zum Urgrund zu bedeuten, als die soeben charakteri-
sierte reine und autonome Setzungsart. Ist doch das auffallendste Kenn-
zeichen ihrer Unterscheidung, da& wahrend wir es in den autonomen
Setzungen mit normativen Subjekten zu tun haben, mit Subjekten, die
mit dem »Menschen« nicht wesentlich zusammenfallen, ja oft nicht ein-
mal zusammenhingen brauchen, es sich hier um ein dem »Menschen«
irgendwie angenihertes, von ihm nicht loslésbares Subjekt handelt. » Wir
sind« sagt Dilthéy? »zuerst geschichtliche Wesen, ehe wir Betrachter der
7 Zit. von A. Stein: Der Begriff des Geistes bei Dilthey. [Bern, Drechsel. 19:3] 45.
24 Heidelberger Asthetike
Geschichte werden, und nur weil wir jene sind, werden wir zu diesem.«
Es kam hier jedoch nicht auf die Kontrastierung des Erfassens der Kultur
zu der reinen Theorie, auf die von Verstehen und Erkennen ankommen.
Die Berufung auf die Stellungnahme zur Kultur muf ein bloSes illustrie-
rendes Beispiel fiir diese andere Art der Setzung bleiben, bei der uns ein
ganz anderes Niveau der »Wirklichkeit« bedeutsam wird: die sogenannte
»natiirliche Wirklichkeit«; jedes Problem, das aus der Zuordnung der
Kultur zu diesem Typus der Setzungen entstehen mag, vor allem die
Frage, inwiefern dieses Ergreifen der Kultur doch zur Wissenschaft wer-
den kann, gehdrt nicht hierher; die Andeutung ihres Subjektsbegriffes
und ihrer Gegenstandsstruktur mufte nur die Méglichkeit dieser anderen
Setzungsart kurz beleuchten.
Auch die »natiirliche Wirklichkeit« wurde sehr selten auf ihre Struktur
und systematische Funktion hin untersucht. Entweder wurde sie mit dem
unaussagbaren »Vor« der Setzung gleichgestellt, oder ihre Zergliederung
der Psychologie iiberwiesen. Daf die erste Annahme falsch ist, erweist
sich schon daraus, da es sich bei dem Chaos um eine gestaltlose Setzungs-
notwendigkeit handelt, wahrend die »natiirliche Wirklichkeit«, die Welt
der »natiirlichen Einstellung«, die Erlebniswirklichkeit, wie wir sie in
Zukunft nennen werden, eine bestimmte Art des Lebens in der konkret-
gegebenen Welt des hic et nunc ist, tiber dessen konkrete Gegebenheit
und Aussagbarkeit kein Zweifel bestehen kann, wenn seine spezifische
Gegenstindlichkeit auch noch nicht ergriindet ist. Es ist aber ebenso
falsch, diese Ergriindung der Psychologie iiberlassen zu wollen. Denn die
Gegenstandssphare der Psychologie ist — einerlei wie sonst iiber ihre Me-
thode und Stellung im System gedacht wird — der Struktur- oder Gesetz-
zusammenhang, der die sogenannten seelischen Erscheinungen, als solche,
miteinander verkniipft. Die Psychologie ist deshalb geradeso eine Homo-
geneisierung, eine Abstraktion, eine Projektion auf eine bestimmte Ebene
der Erkennbarkeit wie irgendeine andere Art der Wissenschaft und ist
nicht einmal dem Stoffe ihrer Untersuchung nach an den der Erlebnis-
wirklichkeit gebunden. Der Schein eines intimeren Zusammenhanges
zwischen Erlebniswirklichkeit und Psychologie entsteht aus der Unge-
klartheit der Funktion des Erlebnisses in beiden. Fiir die Psychologie ist
das Erlebnis der Stoff der Untersuchung; die Erlebnisse werden von der
Valenz ihrer gegenstndlichen Bezogenheiten frei, d. h. diese kommen nur
insofern in Betracht als sie fiir die Struktur der Erlebnisse, fiir ihre Ein-
ordnenbarkeit in psychologische Zusammenhinge von Belang sind, und
Asthetische Setzung 25
die Erlebnisse werden nur auf diesem so erreichten Niveau ihrer Ver-
gleichbarkeit miteinander, ihrer Einordnenbarkeit in tibergreifende Typo-
logien, ihrer Subsumierbarkeit unter Gesetze von der Psychologie erkannt.
Die Psychologie mu&, als die Wissenschaft vom Erlebnis, stets iiber das
blo& Erlebnishafte hinausgehen, es in einer Weise zerlegen und wieder
zusammenstellen, homogeneisieren und ordnen, die dem erlebnishaften
Wesen des Erlebnisses notwendig transcendent sein mu8; das Psychische,
das Niveau der Erkennbarkeit fiir die Psychologie ist deshalb — vom
Standpunkt des Erlebnisses aus betrachtet — eine Abstraktion, ein material-
fremder Aspekt. Dieser Standpunkt kann ebendeshalb iiberall in Geltung
treten, wo nur ein derartig ablésbares »Psychisches« diberhaupt gegeben
ist; also nicht nur der Erlebniswirklichkeit, sondern auch den normativen
oder den metaphysischen Verhaltungsarten gegeniiber, insofern sich in
ihnen Prozesse auffinden lassen, die auf die homogene Ebene der »psychi-
schen Zusammenhingee projiziert werden kénnen. Die Erlebniswirklich-
keit hingegen ist die Einstellung der »Welt« gegeniiber, wo die Erlebnis-
haftigkeit die Form ist, von der umfaft die Gegenstinde, als Gegenstinde
des Erlebens, gegeben sind. Ihre Erkenntnis kann also niemals auf die
Ablésung der hierdurch psychisch gewordenen Erlebniselemente gerichtet
sein, sie will vielmehr die Struktur des Subjektverhaltens und der Gegen-
standlichkeit, die sich hierbei ergeben, in ihrer, von keinerlei Projektion
oder Homogeneisierung entstellten Wesensart ergriinden. Daraus ist
ersichtlich, da das Gebiet der Psychologie zwar — als Stoffgebiet betrach-
tet - mehr umfaft, als die Erlebniswirklichkeit, diese jedoch im Gegen-
satz zur abstrakten Homogeneisierung auf das »Psychische«, die jene voll-
zieht, eine lebendige Totalitit vorstellt. Die Eigenart und die Erkennbar-
keit dieses Gebietes sind bereits von Diltheys »beschreibender Psycho-
logie« und von der Phanomenologie anerkannt worden, der uns wesent-
liche Gesichtspunkt, der zu dem ihren hinzutreten muf, ist blof, da hier
kein allmahlicher Ubergang, der von der so erlangten und erkannten
Wirklichkeit in die Wertsphiren fiihrt - wie dies etwa bei Dilthey in
Bezug auf die Geisteswissenschaften den Anschein hat -, angenommen
wird, sondern da8 mit der Anerkennung der Eigenart der Erlebniswirk-
lichkeit zugleich ihre schroffe Abhebung von allen Gebieten des Geltens
und der Wertbeziehung behauptet wird; daf also ihre Erkenntnis fiir uns
niemals den Ubergang in eine dieser Sphiiren bilden kann. Ein solcher
kann vielmehr nur in Momenten, worin die Erlebniswirklichkeit sich
26 Heidelberger Asthetik
selbst transcendiert, und auch in diesen nur negativ und andeutungsweise,
aufweisbar sein.
Das Wesen des Aufbaus der Erlebniswirklichkeit lift sich nach dem bis-
her Ausgefiihrten ganz kurz so fassen: sie bedeutet eine Welt von fertig
gegebener Gegenstindlichkeit, deren Prinzipien jedoch heterogene sind und
darum die Gegenstindlichkeit als eine prinzipiell gemischte bestimmen.
Dies folgt und erhellt sich noch besser aus dem Subjektsbegriff der Erleb-
niswirklichkeit im Gegensatz zu dem der Geltungssphiren: ihr Subjekt
ist der »ganze Mensch« und seine Funktion als Subjekt la®t sich im
schlichten Begriff des »Lebens« am einfachsten zusammenfassen (da& der
biologische Begriff des Lebens diesem gegeniiber genauso eine Abstraktion
ist, wie das »Psychischee dem Erleben gegeniiber, bedarf hoffentlich keiner
eingehenden Erdrterung). »Leben« und Geltung schlieSen sich ihrem
Wesen nach aus und dies hat zur Folge, da eine autonome, homogene
und konstitutive Gegenstandlichkeit nur den normativ zugeordneten
Subjekten entgegen gelten kann, niemals aber vom »Leben« des »ganzen
Menschen« der Erlebniswirklichkeit erfaSt zu werden vermag. Mit dem
Begriff des »Lebense ist also eine nicht homogene, eine »gemischte«
Gegenstindlichkeit simultan gesetzt. Wahrend aber in Strukturgebilden,
wie z.B. in der »Kultur«, obwohl ihre Gegenstandlichkeit keine auto-
nome, sondern blo& die Umformung einer bereits gesetzten ist, dennoch
eine normative Objektsbeziehung waltet, fehlt hier, dem Wesen dieses
Gebietes nach, jede Maxime der Objektsordnung und dementsprechend
jede Maxime des subjektiven Verhaltens. Die Erlebniswirklichkeit ist nicht
blo& das Gebiet, wo der »ganze Mensch¢ beheimatet ist, sondern auch
seine »natiirlichee Heimat, die er nur durch einen Sprung, durch den
Entschlu8, sich den Maximen einer Geltungssphire zu unterwerfen (wo-
durch er uno actu aufhért »ganzer Mensch« zu sein und ins normative
Subjekt der betreffenden Sphire verwandelt wird), also vom Standpunkt
des »Lebens« aus betrachtet nur auf »unnatiirliche« Weise verlassen kann.
Wie ist aber dann auf diesem Niveau eine Gegenstandlichkeit iiberhaupt
moglich? Der Ausdruck »gemischtex Gegenstindlichkeit bedarf also einer
naheren Bestimmung, die sich nur darum fiir den ersten Anschein etwas
paradox ausnimmt, weil man leicht geneigt sein mag, von der »Natiirlich-
keit« des Verhaltens in und zu der Erlebniswirklichkeit auf die Ur-
spriinglichkeit ihrer Objektstruktur zu schlieBen. Jedoch: dieses unmittel-
bare, dieses natiirliche Verhalten setzt voraus, da& es sich in einer
fertigen Welt der Gegenstindlichkeit befande, die es auf seine Weise in
Asthetische Setzung . 27
Gegenstinde auf diesem Gebiet, die Gegenstinde selbst sind jedoch dem
Wesen ihrer Gegenstindlichkeit nach unabhingig davon, ob sie hier
vorkommen oder nicht. Alle Probleme, die man unter dem Namen der
Frage nach der »Realitat der AuSenwelt« zusammenfassen kann, sind
nichts weiter als metaphysische Hypostasierungen dieser paradox zwei-
seitigen Objektstruktur der Erlebniswirklichkeit: auf ihrem Niveau kann
zwischen Wachen und Triumen, zwischen Gesundheit des Geistes und
Wahnsinn kein giiltiges Kriterium der Unterscheidbarkeit gefunden wer-
den, denn die unvermeidlich gegebenen Kategorien einer Gegenstindlich-
keit tiberhaupt sind fiir Traum und Wahnsinn genau dieselben wie fiir
ihren Gegensatz und sind bei diesen genau so wenig geltend wie bei jenen.
Darum erkannte Descartes mit tiefem Instinkt, da es aus diesem »Zwei-
fel« keinen anderen Ausweg gibt als das entschiedene Verlassen der Erleb-
niswirklichkeit: mit dem Faktum der autonomen Setzung, mit der Resti-
tution der Geltung der Geltungsformen ist dieses Problem nicht nur
gelést, sondern hat aufgehért ein sinnvoll stellbares Problem zu sein.
Die Erlebniswirklichkeit ist also — weit entfernt im systematischen Sinn
etwas Urspriingliches zu sein — das gekiinstelteste Objektsgefiige, das sich
nur denken lift. So gekiinstelt, daf& sogar die Frage auftauchen kann, ob
es sich hier nicht — wie beim Chaos — um eine methodische Konstruktion
handelt, ob es eine Erlebniswirklichkeit iiberhaupt gibt. Diese Frage ist
freilich gerade so wenig sinnvoll, wie der Versuch von dem Standpunkt
der Erlebniswirklichkeit aus philosophische Probleme aufwerfen und
lésen zu wollen sinnvoll ist, denn es handelt sich hierbei um eine Ein-
stellung, die geradeso eine weiter nicht ableitbare und nicht beweisbare,
aber ebenso wenig bezweifelbare innere Evidenz besitzt, wie die Setzungen
der autonomen Geltungssphiren. Ihr Gesichtspunkt ist auch genauso
universell wie der jener und kann jedem Phanomen der Aufen- oder der
Innenwelt gegentiber genauso in sein Recht treten: ob ich nun einen
Gegenstand betrachte oder etwa einen Gedanken habe, jedesmal ist es
gerade so moglich, ihn auf seine Wahrheit hin zu untersuchen, wie mein
Erlebnis mit anderen Erlebnissen in Beziehung bringend, seine »psy-
chische« Struktur zu erforschen usw., wie es auch méglich ist, das Erlebnis
in seinem Erlebniszustand verharren zu lassen und nur darauf zu achten,
was er mir bringt, was fiir neue Erlebnisse etc. in der Folge seines Aus-
wirkens in mir zustande kommen. Daf dieses »in mir« bereits die Ethik,
da jeder Gegenstand bereits die Theorie voraussetzt, ist schon betont
worden, wichtig ist aber die Feststellung, da hierbei weder die Theorie,
Asthetische Setzung 29
noch die Ethik, noch irgendeine andere Setzung als die Intention bestim-
mend in Betracht kommt, sondern daf die Intention der Erlebnisses aus-
schlieBlich auf den »ganzen Menschen« als lebendige Einheit, auf das die-
sen Férdernde, ihm Hemmnisse Wegriumende usw. gerichtet ist. Es ist
die Welt des Pragmatismus, in der wir uns befinden, und die stetige
Wiederkehr der pragmatischen Philosophie, deren neuere Form sich nicht
einmal durch besondere Originalitat in der Neuformulierung alter Ge-
danken auszeichnet, ist auch ein indirekter Beweis dafiir, da& hier eine
Einstellung von unerschiitterlich evidenter Notwendigkeit vorliegt; nur
iert jeder Pragmatismus, wenn er die Evidenz dieser Einstellung fiir mehr
als ein Problem, fiir mehr als eine uns gegebene Tatsache, deren Wesen
die Philosophie zu erklaren hat, halt und glaubt, von der Position dieser
Einstellung aus irgendetwas Allgemeingiiltiges aussagen zu kénnen. Der
Irrtum liegt offenkundig darin, da& von jedem Pragmatismus iibersehen
wird, da& sein Standpunkt die Geltung, in ihrer erlebnistranscendenten
Begriindung, bereits voraussetzt; da® die Erlebniswirklichkeit aus dieser
verstanden, niemals aber die Geltung selbst aus ihren verkiinstelten und
depravierten Erscheinungsformen, die sie in der Erlebniswirklichkeit,
um diese zu erméglichen, annehmen mu8, abgeleitet oder erklirt
werden kann. Auch die pragmatische Skepsis lést sich — von hier
gesehen - von selbst auf, in der Einsicht, da& auf diesem Niveau keine
Allgemeingiiltigkeit aufgefunden werden kann; aber der Wert einer sol-
chen Skepsis tritt auch zu Tage, wenn bedacht wird, da die Allgemein-
giiltigkeit hier ja nur darum nicht gefunden werden kann, weil sie von
der Thesis der Erlebniswirklichkeit wesensnotwendig ausgeschaltet, »in
Klammern gesetzt« wurde.
Damit kann die Erlebniswirklichkeit naher bestimmt werden als das
Niveau der vollstindig transcendenten Gegenstindlichkeit in dem allein
eindeutigen Sinn, den der Begriff des Transcendenten in der Transcen-
dentalphilosophie erhalten kann, in dem Sinne der Setzungsjenseitigkeit.
Der hier auftauchende Transcendenzbegriff ist vor allem sowohl von der
frither analysierten setzungsjenseitigen Notwendigkeit des Chaos, wie
von der ebenfalls setzungsnotwendigen Transcendenz der Werte genau
zu unterscheiden. Denn beide sind, ungeachtet ihrer durch nichts gemil-
derten und zu mildernden Transcendenz, unerlaliche Voraussetzungen
von normativen, mithin von transcendental erfaSbaren Gegenstindlich-
keiten: die Transcendenz beider ist die Bedingung der Mglichkeit einer
nicht transcendenten Gegenstindlichkeit; wahrend es sich hier um die
30 Heidelberger Asthetik
tet werden. Das hiermit Gemeinte driickt sich bereits in der Sprache aus,
wenn etwa von der Stimmung gesprochen wird, die die Dinge »umgibt«,
wodurch angezeigt wird, da die Dinge zwar in Erlebnis der Stimmung
aufgenommen werden, daf ihr Gegebensein fiir den erlebenden Menschen
von dieser Stimmung abhingig ist, zugleich jedoch, da8 ihr Dingsein, ihre
eigentliche Gegenstindlichkeit von der Stimmung unberiihrt bleibt und
bleiben muf. Die eigenartige Gegenstandsstruktur, die sich hierbei ergibt,
wird uns spiter noch viel beschiftigen, hier kann und mu nur der Tat-
bestand fixiert werden, daf ein natiirliches und unmittelbar-erlebendes
Verhalten eines »ganzen Menschen« nur bereits fertigen Gegenstinden
gegeniiber iiberhaupt miglich ist, und jede Synthesis, jedes Erzeugen eines
Gegenstandes ein Abriicken von der Unmittelbarkeit des Erlebens, eine
Aufhebung des »ganzen Menschen« zu Gunsten eines normativen Sub-
jektes voraussetzt. Es wire aber dennoch falsch wegen dieser Unméglich-
keit das kontemplative Erleben dieses »ganzen Menschen« dem vortheo-
retischem Chaos gleichzusetzen. Denn diese Kontemplation ist ganz ohne
Intention auf die Erkenntnis des Gegenstandes, wahrend das Setzen des
Chaos schon in Bezug auf die Theorie geschicht; diese ist rein »empfin-
dungsmiig«, »subjektive: Hingabe, aber nicht an den Gegenstand, son-
dern an die ihn umgebende, vom Subjekt produzierte Stimmung. Die
Elemente dieser Verhaltungsart wiirden also bei genauer Analogie viel
mehr Verwandschaft zu den Elementen der Ethik zeigen, wie zu denen
der Theorie: vor allem Sympathie und Antipathie in ihren mannigfaltig-
sten Nuancen. Die objektiv sekundire, abgeleitete und gekiinstelte We-
sensart dieser »natiirlichen« Sphdre des Lebens zeigt sich hier von der
entgegengesetzten Seite wie friiher, bei der Beziehung mit den Elementen
theoretischer Verhaltungsart: sowie das »Denken« fiir die Unmittelbar-
keit des Lebens praktisch wird, so miissen Erlebnisse, die ihre adiquate
Erfiillung nur im Praktischen erhalten kénnen (Liebe und Ha, Achtung
und Abscheu usw.), sobald ihnen - im »natiirlichen« Verhalten — diese
Erfiillung entzogen wird, sobald sie zum »Lebene depraviert werden, in
Kontemplation umschlagen und die ihnen notwendig transcendenten Ge-
genstinde nur »gebrauchen«, nur »umgehen«, nur bei Gelegenheit ihres
Erlebens durch sie »entziindet« werden, niemals aber diese wirklich be-
stimmen. Die sehr komplizierte Frage, wie die Gegenstandsstruktur sol-
cher Intentionen bei adaquater Erfiillung zu Denken ist, kann nur von
der Ethik selbst beantwortet werden, eine einigermafen eingehende Ana-
lyse des hier Wesentlichen miifite jedoch zeigen, da wir bei dem ganzen
Asthetische Setzung 33
Komplex dieser Erlebnisse vor dem Dilemma stehen: entweder wird das
Objekt des Erlebens einfach hingenommen, dann haben wir die hier an-
gedeutete transcendente Gegenstandlichkeit der Stimmung vor uns, oder
es schligt in eine innere Handlung um, die wiederum einerseits die Ver-
anlassung des Erlebnisses véllig ignorieren kann (»Und wenn ich dich
liebe, was geht’s dich an«) oder aber das »Gegebene« des geliebten oder
gehaften usw. Gegenstandes selbstbewuft zersetzt und aus eigenen Krif-
ten sich einen eigenen aufbaut. Jede sogenannte »Kontemplation«, die
mit Recht in einer ethischen Systematik vorkommt, zeigt diese Wesens-
zeichen, die konstitutive Bezogenheit auf die im ethtischen Akt entstehende
Person und dementsprechend das Ignorieren oder das Neuschaffen des so
»kontemplierten« Gegenstandes; ein Verhalten wie das eines stoischen
Weisen etwa und das dadurch entstehende neue Weltbild midge hier als
Beispiel fiir diese Struktur geniigen, besonders dafiir, da eine echte — der
theoretischen oder der Asthetischen wesensverwandte — Kontemplation
ethisch unméglich und nur auf dem Boden der Erlebniswirklichkeit denk-
bar ist. Auch diese Sachlage hat oft nach einem wissenschaftlichen Aus-
druck gesucht, nur ist der dabei entstehende Irrtum viel weniger klar
hervorgetreten, als dies bei der pragmatischen Deutung des »natiirlichen
Denkens« der Fall war, weil das Falsche der Deutung, wegen der Unge-
klartheit der gesuchten Erfiillungssphire, seltener entlarvt wurde als bei
dem Pragmatismus: wir meinen die »asthetische« Deutung solcher Erleb-
nisse. Denn wahrend fiir die Theorie wenigstens die Grundtatsachen ihrer
Setzungsart lange bekannt waren und friih gegen jeden Pragmatismus sich
zu wehren vermochten, ist das Wesen der Ethik, gerade von der Gel-
tungsphilosophie, so eng-formalistisch gefabt worden, da8 die — trotz
aller Depravation, doch der Intention nach — ethische Wesensart dieser
Erlebnisse verkannt werden konnte. Und die Méglichkeit einer solchen
Verkennung steigert sich noch dadurch, da& die allzu weitmaschig ge-
fafte Art der asthetischen Geltung, deren Sphire fa&t eine Heimstatte
aller sonst heimatlosen Erlebnisse geworden ist, ein Unterbringen dieser
depravierten ethischen Intentionen nicht von vornherein abgesperrt hat*.
Diese transcendente Gegenstandlichkeit mu aber auch die Wesensart des
Subjekts dieser Welt, des »ganzen Menschen« entscheidend bestimmten:
8 Uber diese Beziehungen von Ethik und Asthetik kann erst im dritten Teil der
»Transcendentalen Dialekt der Schénheitsidee« ausfiihrlich gesprochen werden, [Dieses
Kapitel wurde vom Verfasser nicht geschrieben - Hrsg.)
3A Heidelberger Asthetik
aus der Correlation von Subjekt und Gegenstand, aus ihrer notwendigen
Wesensverwandschaft folgt, da& auch das Subjekt der Erlebniswirklichkeit
eine transcendente Struktur zeigt. Um spiater Ausfiihrendes wenigstens
andeutend vorwegzunehmen, sei hier ganz kurz so viel gesagt: auch das
Subjekts der Erlebniswirklichkeit ist — auch fiir sich selbst — eine schlecht-
hin hingenommene, von keinem Sinn durchleuchtete und zu konstitu-
tiver Form gebrachte Gegebenheit. Jede wie immer geartete Systemati-
sation schafft ein Subjekt, das die Maximen der Sphire normativ bedingen
und bestimmen und das deshalb fiir sich und fiir die ihm gegeniiber-
stehende Objekte bestimmt und bestimmend ist; die Personlichkeit der
Ethik, die Seele der Metaphysik, das Bewuftsein der Psychologie, ja selbst
das Bewuftsein tiberhaupt der reinen Theorie kommen einander in dieser
systematischen Funktion, bei allen anderen schwerwiegenden Unterschie-
den, gleich und stehen dem »ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit
als geschlossene Gruppe gegeniiber. Da die Erlebnisse des »ganzen Men-
schen« ihre Gegenstinde nicht bestimmen, sondern ihnen sozusagen nur
beigegeben sind, ist die Ausdehnung seiner Subjektivitat ungehemmt und
ins Schrankenlose gestattet; daraus folgt, daf er als Subjekt einerseits ganz
ohne gegenstandliche Gebundenheit, ohne Gebundenheit an seinem Ver-
halten angemessene Objekte ist, andererseits jedoch vollstindig den Ob-
jekten seiner Erlebnisse ausgeliefert ist: er ist nur insofern als er an einem
Objekt (das er freilich auch fiir sich selbst sein kann) etwas erlebt, gerade-
so wie die Objekte fiir ihn nur insofern vorkommen als etwas an ihnen
erlebt wird. Diese Doppelseitigkeit der schrankenlosen Willkiir und der
normenlosen Gebundenheit macht das Subjekt von sich aus geradeso ge-
staltlos und verschwimmend, wie es seine Objekte waren, hiatten sie nicht
von den suspendierten Geltungsformen aus ihre transcendente Gegen-
standlichkeit erhalten. Und diese kann — dies folgt aus allem bisher Aus-
gefiihrten von selbst — auch dem Subjekt nicht abgesprochen werden:
auch in ihm walten die Subjektsbegriffe der Geltungsformen und inso-
fern es eine — relative — Gestalt besitzt, besitzt es sie von ihrer Gnade
(also ethisch usw.). Dann muf aber diese Subjektsform fiir den »ganzen
Menschen« geradeso transcendent sein, wie es die Objektsformen ge-
wesen sind.
Die Anniherung der Erlebniswirklichkeit an das wahrhaft Setzungs-
jenseitige, an die wahre Unmittelbarkeit hat sich also wirklich als Schein
enthiillt und es hat sich gezeigt, da& der Unmittelbarkeit des gewohn-
lichen Erlebens eine abgeriickte, véllig transcendente Objektwelt ent-
Asthetische Setzung 35
9 Wk. IIL. 58. [S.: Wissenschaft der Logik. Lassonsche Ausgabe. Erster Teil. S. 53.
36 Heidelberger Asthetik
2.
Die Sphiren der Geltung und der Metaphysik heben sich also einerseits
vom Chaos, andererseits von der Erlebniswirklichkeit ab und diese ihre
doppelseitige Selbstbegrenzung bedingt, da& fiir ihre Begriindung zwei
Ausgangspunkte denkbar sein kénnen, namlich entweder bei der voraus-
setzungslosen Setzung selbst, d. h. beim Chaos, oder bei der Erlebniswir-
lichkeit, wodurch zwei Methoden der Aufzeigung ihres Aufbaus gegeben
wiren, die nach dem Vorbild Hegels, in dessen System diese Differenz
am klarsten zum Ausdruck kam, als die systematische und die phiinome-
nologische?® Methoden gekennzeichnet werden kénnen. Grob kontra-
stiert, sind die beiden Typen der Systematisation von der Frage bedingt,
ob die Setzung als villig voraussetzungslos gedacht ist oder ob sie von
dem »Gegeben«-sein der »natiirlichen« Wirklichkeit, der Erlebniswirklich-
keit ausgeht und von ihr aus sich den Weg zu dem Niveau der autonomen
Geltung oder zu dem An-sich-Sein der Metaphysik bahnen will. Es ist
aber ersichtlich, da& diese Zweiteilung durchaus nicht mit unserer, bis
jetzt behandelten Zweiteilung von Spharentypen zusammenfiallt. Denn bis
jetzt wurde die Zweiteilung blo auf Grund der struktiven Urtatsachen
der Gegenstindlichkeit vollzogen und das Problem der Systematisation
mufte daher notwendigerweise ignoriert werden. Wenn fiir die Setzung
des Chaos das System auch unerlaflich mitgesetzt ist, ja das Chaos erst
aus dieser Setzung gewissermafen »entsteht«, so ist dies fiir die Erlebnis-
wirklichkeit durchaus nicht der Fall. Die Vorausgesetztheit der Geltungs-
formen, die fiir diese Schicht, nachgewiesen wurde, bedeutet nur soviel, da8
die Erlebniswirklichkeit nur durch diese eigenartige Stellung der Geltungs-
formen in ihr begriffen werden kann, keineswegs wird jedoch dadurch
eine Entscheidung dariiber gefillt, ob und wie weit der Erlebniswirklich-
keit selbst eine Rolle als Ausgangspunkt oder Hintergrund oder sonst
etwas in der Systematisation zufillt. Daraus folgt, da& fiir das Problem
der Systematisation, das uns hier zu beschaftigen hat, die Frage nach der
primaren oder sekundaren Art der Gegenstindlichkeit einer Sphire (also
10 Der terminologischen Klarheit wegen sei hier ein fiir allemal bemerkt, daS bei dem
Ausdrude »Phinomenologie«, wenn nicht ausdriidlich das Gegenteil hervorgehoben
wird, an die von Hegel und nicht an die von Husserl zu denken ist; iiber die Bezie-
hung der beiden Phinomenologien werden weiter unten ein paar andeutende Bemer-
kungen folgen.
38 Heidelberger Asthetik
etwa Typus autonome Ethik und Typus Kultur) nicht die grundlegende,
die entscheidung-bringende Frage ist. Es ist z. B. durchaus méglich den
Sphiarentypus Kultur aus der inneren Differenzierung des rein theoreti-
schen (voraussetzungslosen) Setzungstypus blo& durch seine innere, imma-
nente Differenzierung abzuleiten, ohne dabei gezwungen zu sein auf die
- struktiv-typologisch — »verwandte« Sphire der Erlebniswirklichkeit
irgendwie zuriickzugreifen. Die phinomenologische Fragestellung Hegels,
an deren systematische Funktion hier angekniipft werden soll, bedeutet
hingegen das Aufzeigen der Notwendigkeit fiir die Philosophie von dem
Faktum, d.h. von dem struktiven Tatbestand der Subjektivitit und der
Gegenstindlichkeit in der Erlebniswirklichkeit auszugehen, um von ihr
emporsteigend die normative Correlation des philosophischen Subjektes
und seines Objektes, was bei Hegel ihre Identitat ist, zu erreichen; und
der hierbei sich ergebende Weg und sein notwendiges Ziel sollen sich als
unerlaBliche Vorbedingungen eines streng begriindeten philosophischen
Systems erweisen.
Die ungeheueren Schwierigkeiten, die einer methodischen Analyse der
»Phinomenologie des Geistes« im Wege stehen, entstammen, wie bekannt,
aus der Verschlingung der verschiedenartigsten Probleme in das dennoch
grofartig-einheitliche Gewebe dieses einzig dastehenden Werkes der klas-
sischen Philosophie. Das wohlbekannte unauflésliche Zusammen der ge-
schichtlichen und der apriorischen Etappen im Gange der Phinomenologie
soll hier unerdrtert bleiben, da es fiir unser Problem nicht von entschei-
dender Bedeutung ist: es ist ein Erfiillungsproblem, wahrend wir uns
hier mit Problemen der Begriindung, noch im weiten Diesseits jeder Er-
fiillung, zu beschaftigen haben, Zudem vermag der Begriff der Phino-
menologie auch bei vélligem Absehen von jeder Art Erfiillung einen ein-
heitlichen und methodisch bedeutsamen Sinn zu ergeben; die Frage nach
der notwendig zugeordneten historischen Erfiillung, d.h. nach der Még-
lichkeit und Wesensart eines Erfiillungstypus, bei dem jeder einzelnen
Etappe der apriorisch-phinomenologischen Reihe je ein bestimmtes Mo-
ment einer zeitlich-geschichtlichen (oder geschichtsphilosophischen) Reihe
notwendig zugeordnet wird, mu deshalb hier gar nicht aufgeworfen
werden. Auch auf die Diskussion der dialektischen Methode wollen wir
verzichten: die Tatsache der phanomenologischen Etappen, die sich mit
Wesensnotwendigkeit apriori ergeben, muf fiir den momentanen Stand
unserer Fragestellung ausreichen, ohne auf die Art ihrer Beziehung zu-
einander vorliufig naher reflektieren zu miissen. Trotz dieser notge-
Asthetische Setzung 39
11 Wk, II, (Berlin, 1841] 20. [S.: Phinomenologie des Geistes. Ausgabe Hoffmeisters..
Hamburg, Meiner. 1952. S. 25.]
40 Heidelberger Asthetik
Akt, durch den es »gefundene wird, der Akt der Ablésung des geltenden
Sinngebildes von allen Seinsartigen, kennt keine Abstufung einer gréSeren
oder kleineren Nahe zum Wesen des Theoretischen. Mit einem Wort: die
theoretische Sphire kann nur uno actu gesetzt werden; am »Anfang« der
Theorie steht der Sprung und jenseits des Sprunges handelt es sich um
etwas im Wesentlichen durchaus Homogenes, Einschichtiges. (Die innere
Schichtung der theoretischen Sphire hat uns hier nicht zu beschiftigen.)
Dagegen ist diese selbe Frage tief und wesentlich fiir jede Begriindung
einer Metaphysik, ja sie kann als die Grundfrage einer kritischen, nicht
mehr naiven Metaphysik bezeichnet werden, einer Metaphysik, die den
Proze& der Selbstbesinnung bereits vollzogen hat. Wir sagten: es kann an
der Metaphysik als das ihr Wesen am scharfsten erhellende Kennzeichen
angesehen werden, daf eine konstitutive Beziehung zwischen einem sub-
stantiell-existierenden Subjekt und einem ebenfalls substantiell-existieren-
den Objekt gefordert wird, womit sowohl jedes blo normativ zuge-
ordnete Subjekt (oder Objekt) wie auch jede sinngebildeartige Struktur
beider von vornherein abgelehnt werden miissen; und die Pravalenz
eines von beiden oder die Annihilierung des einen durch das andere
hat eine reale Pravalenz oder die Annihilierung eines »unechten« Seins
durch ein »echtes« zu bedeuten. Die sogenannte Naivitit einer Meta-
physik besagt also soviel, da8 diese metaphysisch echte Subjekt-Objekt-
Struktur, dieses Niveau eines »wahren Seins« in irgendeiner Verhaltungs-
art zur »natiirlichen« Wirklichkeit oder eventuell in der eines bestimm-
ten Geltens ohne weiteres als gegeben angenommen wird und die Meta-
physik sich hiermit des Nachweises enthoben fihlt, die Realitat und die
Notwendigkeit ihrer Einstellung, des Verhaltens, in dem die Metaphysik
gesetzt wird, eigens aufzuweisen und auf seinen Rechtsgrund zu priifen.
Wir haben hier keine Problemgeschichte der Metaphysik zu schreiben, so
da& der Hinweis der Position Hegels zu der seines unmittelbaren Vor-
gingers, zu der Identitatsphilosophie Schellings, geniigen kann. In der
beriihrten Stelle der Vorrede zur »Phanomenologie« macht Hegel der
metaphysischen Methode Schellings diesen Vorwurf des Dogmatismus,
des naiven Realismus: da in ihr das wahre Wesen, das Absolute wie
»aus der Pistole« geschossen erscheine, daft die Notwendigkeit des Organs
der Metaphysik, der intellektuellen Anschauung, und die ihres Gebrau-
ches und demzufolge die konkret erfiillte Fiille der durch sie erreichten
metaphysischen Wirklichkeit nicht aufgezeigt wurden. Das Programm der
Asthetische Setzung 4
14 Fr. Kuntze: Die kritische Lehre von der Objektivitit. Heidelberg, 1906. 189 f.
15 Inwiefern dieser Versuch tiberhaupt durchfuhrbar und wieweit seine Verwirklichung
Hegel im Einzelnen gelungen ist, kann hier naturgema® nicht beriihrt werden, Auch
nicht, wieweit eventuell Vorginger des Hegelschen Unternehmens nachweisen lassen,
46 Heidelberger Asthetik
zu sein, sondern so, wie sie fiir das Bewuftsein sind, oder wie dieses selbst
in seiner Beziehung auf sie auftritt . ..«17,
Diese Selbstbesinnung der Metaphysik in der »Phinomenologie des Geistese
birge freilich eine neue, tiefgehende Problematik der Metaphysik in sich, die
hier nur deshalb gestreift werden mu&, damit wir die Méglichkeit und die
Notwendigkeit der Anwendung der phanomenologischen Methode auf die
Asthetik ganz klar erbliccen kénnen. Das Problem kann ganz kurz so zu-
sammengefa&t werden: die Aufgabe der Phinomenologie ist die metaphy-
sische Attitude und ihr Objekt apriori zu demonstrieren; zugegeben, da
ihr dies gelungen wire, fragt es sich, ob hier eine »objektivee Metaphysik,
sei sie nun als Wissenschaft gedacht oder nicht, ansetzen kann, ob die Ablé-
sung des Gegenstandes vom Subjekt — die unabwendbare Folge der von
Hegel als »Logik« geforderten Metaphysik — die Sphiire nicht notwendig
in eine theoretisch-geltende verwandeln mu&, ob also die Phinomenologie
nicht, statt Einleitung in die Metaphysik zu sein, die Metaphysik selbst ist.
Die Wichtigkeit dieses Bedenkens zeigt sich, wenn an die friiher betonte
Bestimmung des metaphysischen Erlebnisses als konstitutives oder hetero-
nomes Erlebnisses und an die seiende Ichhaftigkeit des metaphysischen Sub-
jektes erinnert wird. Denn daraus folgt einerseits, daf der metaphysische
Gegenstand, dem Wesen nach und nicht psychologisch, zwar vom Erlebnis
unabtrennbar gegeben ist (man denke an welchen Tatbestand immer, an die
intellektuelle Anschauung, an die amor dei intellectualis, an die #edgia, an
die unio mystica usw., immer wird sich diese Verbundenheit zeigen), anderer-
seits aber das metaphysisch Entscheidende doch nicht das Erlebnis selbst,
sondern das Erlebte ist. Darum wird ein rein »objektives«, also nicht mehr
phinomenologisches Niveau der Metaphysik nur dadurch denkbar, da in
der Phanomenologie, wie etwa bei Hegel selbst, die Identitat von Subjekt
und Objekt, von Erlebnis und Erlebtem enthiillt wird (oder etwa das Sub-
jekt im Objekt »aufgeht« oder umgekehrt, was aber methodisch-struktiv aufs
Gleiche hinauslduft) und dieses identische Subjekt-Objekt zum Gegenstand
der »objektiven« Metaphysik wird. Hierbei ergibt sich aber folgendes, unauf-
ldsliches Dilemma: entweder wird mit diesem Zum-Gegenstand-Erheben
wirklich ernst gemacht, dann muf der Gegenstand theoretissiert werden, da
die Form, in der er steht, nur eine theoretische Geltungsform sein kann und
das Subjekt, auf das er bezogen wird, das Bewuftsein iiberhaupt der Theorie
ist, so da& das Subjekt aus einem seienden in ein der Geltung zugeordnetes
verwandelt wird, wodurch die Metaphysik sich selbst aufhebt; oder das
Konstitutiv-Sein des (metaphysischen) Subjekts wird im identischen Subjeke-
Objekt consequent beibehalten, dann bleibt sein Auf-den-Begriff-bringen
im wesentlichen doch innerhalb der Phanomenologie, deren Struktur (Gestalt
des Bewuftseins im metapsychischen Sinn und ihr notwendig zugeordnetes
Objekt) dann doch nicht verlassen wird. Fir die Metaphysik ist jede hier
ergebende Wahl gleich verhingnisvoll: das wirklich erreichte Niveau der
Metaphysik, die Aufhebung der Dualitit von Subjekt und Objekt erweist
sich als ein Niveau der Unaussagbarkeit schlechthin. Denn jede Objektivie-
rung, die versucht werden kann, muf ihre Wesensart verfalschen: das zum
bloRen Objekt gewordene identische Subjekt-Objekt hat durch sein Zum-
Gegenstand-werden gerade diese Identitat wieder eingebiit, und jede phi-
nomenologische »Objektivitite, die die metaphysische Urstruktur besser be-
wahrt, kann die erreicht erfiillte Idealitat nur als Telos besitzen. Ein »Reich«
der Metaphysik, das durch die Phanomenologie als alleinige Methode der
Metaphysik erobert werden soll, mu ein blo& »relativ-metaphysisches« sein:
um von der Phanomenologie erfa&t werden zu kénnen, mu in ihm ein
Noch-nicht, eine trennende Distanz zwischen Subjekt und Objekt enthalten
bleiben: die wahre Identitat von Subjekt und Objekt bleibt fiir die Phano-
menologie eine Idee. Was dieser Tatbestand fiir die Metaphysik zu bedeu-
ten hat, kann hier nicht einmal angedeutet, da die Hegelsche Metaphysik
tiberall diesem Dilemma unterliegt, kann ebenfalls nur behauptet, aber nicht
einmal in grofen Ziigen bewiesen werden, denn selbst dieser Exkurs recht-
fertigt sich nur dadurch, da er die Stelle und die Funktion der phinome-
nologischen Methode im System der Asthetik klarer zu zeigen geeignet ist.
Das asthetische Erlebnis wurde — im Gegensatz zum metaphysischen — als
autonomes Erlebnis bestimmt. Diese Autonomie griindet sich darauf, da& die
im Asthetischen Erlebnis sich vollziehende asthetische Setzung nicht auf das
Ergreifen eines dem Erleben transcendenten Seins gerichtet ist, wie dies
sowohl in der Erlebniswirklichkeit wie in der Metaphysik der Fall ist,
sondern nach dem Sinn des Erlebnisses als Erlebnis fragt; da8 sie eine
Sphire — im echt transcendentalen Sinn — zu begriinden im Begriff ist, fir
die die Kategorien des Erlebens konstitutive, die Gegenstindlichkeit be-
stimmende Kategorien sind. Die Notwendigkeit, die phinomenologische
Fragestellung auch fiir die Begriindung der Asthetik aufzuwerfen ergibt sich
also aus dem strukturellen Tatbestand, den die Asthetik mit der Metaphysik
52 Heidelberger Asthetike
—und nur mit ihr—teilt: da& gerade aus dem héchsten Niveau ihres Gesetzt-
seins, gerade aus der origindrsten Schicht ihrer Sphire das Erlebnis nicht
eliminierbar ist; da& die Asthetik deshalb ebensowenig uno actu begriind-
bar ist wie die Metaphysik, im Gegensatz zur Theorie oder Ethik, wo die
Setzung selbst mit der villigen Loslésung von jeder Art Erlebnis, das nur
zur irrelevanten psychologischen Erscheinungsform der erlebnisjenseitigen
Sinngebilde gehért, aquivalent ist. Alle systematischen Motive, die fiir die
Metaphysik die »kritischex Begriindung in der Form der Phinomenologie
notwendig gemacht haben, gelten auch fiir die Asthetik: das normative
asthetische Verhalten darf auch nicht »aus der Pistole« geschossen erscheinen,
sonst kann es entweder von der blo&en Unmittelbarkeit nicht klar losgelést
werden, oder muf einer erlebnisjenseitig-sinnhafter Uniformierung anheim-
fallen. Mit dieser Gemeinsamkeit des Grundproblems, woraus auch der ge-
meinsame Ausgangspunkt in der Erlebniswirklichkeit folgt, sind jedoch alle
Beriihrungspunkte von asthetischer und metaphysischer Phiinomenologie er-
schépft. Denn das den ganzen phinomenologischen Gang determinierende,
seine Richtung und seine Stationen bestimmende Ziel ist in beiden Phino-
menologien grundverschieden und — dieser Verschiedenheit entsprechend —
miissen in beiden grundverschiedene »Gestalten des Bewuftseins« vorkom-
men, ja selbst der gemeinsame Ausgangspunkt, die Erlebniswirklichkeit in
ihrer transcendenten Subjekt-Objekt-Struktur, mu& in beiden von ganz
verschiedenen Aspekten aus erscheinen. Der teleologische Mafstab, an den
gemessen alle in unmittelbarer Evidenz gegebenen Subjektverhaltungen
ihre Selbstandigkeit verlieren, dem gerecht zu werden alle auf das Endziel
transcendieren, ist hier, wie wiederholt hervorgehoben wurde, der Sinn des
Erlebnisses, eine formale Angemessenheit des Erlebnisses an sich selbst, d. h.
die Forderung einem Objekt erlebend gegeniiberzustehen, dessen konstitu-
tive Gegenstindlichkeitsformen mit den inneren Organisationsformen des
Erlebens, seinen Postulaten der Erfiillung qua Erlebnis identisch sind. Der
Motor des Transcendierens, der Selbstentlarvung der Unangemessenheit in
den unmittelbar evidenten Etappen des phinomenologischen Weges ist hier
nicht die Sehnsucht nach der substantiellen Identitat von Subjekt und Ob-
jekt wie in der Metaphysik, sondern die Sehnsucht nach der »Erzeugung«
eines Objekts, das den Anforderungen des Erlebnisses angemessen ist. Die
Transcendenz der Erlebniswirklichkeit zeigt sich hier nicht in der materiell-
seienden Distanz, die Subjekt und Objekt voneinander trent, sondern in
der formalen Unangemessenheit jedes Objekts — und damit wesensnotwen-
dig auch jedes Subjektverhaltens — den Erfiillungsméglichkeiten und -not-
Asthetische Setzung 53
wendigkeiten des reinen Erlebens gegeniiber. Hieraus ergibt sich als Telos
der asthetischen Phinomenologie das Subjektverhalten, das die Setzung des
asthetischen Objekts, des dem reinen Erleben angemessenen Gegenstandes,
des Kunstwerks vollzieht: die asthetische Phinomenologie steht deshalb, im
Gegensatz zur metaphysischen, in keinem paradox-unaufldslichen Zwitter-
verhiltnis zur »objektiven« Sphiire des gesetzten Objekts, zur Werksphiire,
sondern fordert diese vielmehr als notwendige Erganzung und Erfiillung.
Dieser iiberraschende Anblick, das unerfiillbare methodische Programm der
Metaphysik in der Asthetik verwirklicht zu sehen, hat seinen Grund in der
Richtung, die die phanomenologische Verwandlung der Subjektivitit, dem
Telos der Asthetik entsprechend, hier einschlagt. Denn wahrend der Ver-
wandlungsprozef in der Metaphysik von der unangemessenen Existenzform
der Erlebniswirklichkeit zu der erfiillt-angemessenen Existenzform des meta-
physischen Niveaus fihrt, soll hier jene Existenzform in eine Geltungsform
verwandelt werden. Das am Zielpunkt des phinomenologischen Weges zu
erreichende Niveau ist nicht eine bestimmte Art des metaphysischen, des ab-
soluten Seins, sondern das normative Verhalten einem absoluten Wert gegen-
fiber; die Verwandlung ist deshalb nicht eine Steigerung der Existenz
von der substanzlosen Transcendenz zur wahren Substantialitat, sondern
die Vertilgung des Seins zu Gunsten einer rein aufsteigenden Form des
Geltens: aus dem »ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit entsteht
keine »Seelex, kein »Geist«, sondern das normative Subjekt der Ast-
hetik: der Mensch »ganz« sub specie einer bestimmten Erfiillungsform
des Erlebens. Diese Wesensart der Asthetischen Phanomenologie macht
es verstindlich, da®, ohne sie aufzuheben, die »objektive« Lehre vom
Wert sie erginzend und erfiillend sich an sie angliedern kann. Die Auto-
nomie des Erlebens erfordert geradezu ein solches Objekt, das in seiner
Gegenstandlichkeit von den Prinzipien der Erlebbarkeit iiberhaupt be-
stimmt ist, zugleich jedoch jedem Erlebnis gegeniiber die Selbstindigkeit
seines Gegeniiberstehens, seines Entgegengeltens zu bewahren fahig ist. Wah-
rend aber das heteronome Erlebnis der Metaphysik vom Objekt seiner In-
tention, ohne dies in seiner eigentlichen Struktur zu entstellen, niemals abzu-
lésen ist, eben weil das Wesentliche im Objekt selbst und nicht in seinem
Erleben beruht, fordert das autonome Erlebnis der Asthetik geradezu diese
Ablésbarkeit. Denn indem dieses Objekt als »objektivierter« Sinn des Erleb-
nisses gesetzt wurde, steht es dem Seinsniveau des Erlebens, dem »ganzen
Menschen« der Erlebniswirklichkeit nicht als ein hdheres, echteres oder sub-
stantielleres Sein gegeniiber, dessen Existenz vom Subjekt ersehnt werden
54 Heidelberger Asthetik
kann, sondern als eine Forderung, als ein Sollen. Das seinen Sinn suchende
Erlebnis hat deshalb eine, von dem metaphysischen ganz verschiedene Ge-
bundenheit an die Objektivierung der Sinnhaftigkeit, an die Erfiillung die-
ses Suchens, an das normative Objekt: einerseits steht es autonom dem Ob-
jekt gegeniiber, denn das Objekt ist nichts weiter als die »Objektivation«,
das Gegenstandlichwerden des gesuchten Sinnes, es ist der Sinn des Erlebens
der Subjektivitdt selbst; andererseits jedoch geht das Erlebnis nicht in seinem
Gegenstand auf, es ist nicht blo& das Vehikel, das zur Einswerdung von
Subjekt und Objekt fiihren soll, sondern ist diesem — in selbstandiger, nor-
mativer Correlation — als Bedingung seiner Méglichkeit zugeordnet. Freilich
darf auch kein metaphysischer Gegenstand so gedacht werden, als ob er in
dem einzelnen Erlebnis gewissermafen »entstehen« wiirde, er hat vielmehr
ein von allem Erlebnis villig unabhangiges Sein, das weder in seinem Das,
noch in seinem Wie von Erlebnis bestimmt werden kann; es gehért aber zum
Wesen dieses Seins, da8 es adiquat nur im metaphysischen Erlebnis erfaSe
werden kann, da der einzige Weg, der zu ihm fiihrt, das metaphysische
Erlebnis ist. Der Ausspruch Jacobis, daf ein gewufter Gott kein Gott mehr
sei, entstammt aus einer sehr feinen Empfindung fiir den struktiven Tatbe-
stand der Metaphysik, da das Subjekt des Wissens nicht mehr das meta-
physische Ich-Subjekt, sondern ein blofes theoretisches Bewuftsein iiber-
haupt sein kann. Die Gebundenheit an das Erlebnis und damit an das Sub-
jekt erweist sich als die Gebundenheit an die Ichartigkeit, an die Seinshaf-
tigkeit des setzenden Subjekts; sie ist vom Standpunkt des Erlebnisses eine
blo& struktive, abstrakt-formelle Gebundenheit, die weder auf das Erlebnis,
noch auf seinen Gegenstand irgendwie Licht zu werfen im Stande ist, die
keine weitere Funktion als die unausschaltbare und durch nichts ersetzbare
Verkniipfung von Subjekt und Objekt zu leisten hat. Die transcendente
Dualitat, bezichungsweise erreichte Identitat von Subjekt und Objekt hat
mithin fiir den Aufbau der Metaphysik den absoluten Primat, das sie ver-
kniipfende Erlebnis ist nichts als die Spiegelung dieses — an sich, vom Erleb-
nis unabhangig gegebenen — Verhiltnisses, wenn das Erlebnis als AuBe-
rungsform des metaphysischen Subjekts aus der Art der Objektsetzung auch
niemals weggedacht zu werden vermag. Der metaphysische Gegenstand ist
also von der einen Seite villig unabhingig von dem Erlebnis (darauf weist
sowohl die uralte Terminologie vom An-sich wie unsere Bestimmung von
der Heteronomie des metaphysischen Erlebens), von der anderen Seite ist
aber die Setzung seines Seins im unaufléslichen Zusammen, nur simultan mit
dem Erlebnis denkbar. Der asthetische Gegenstand dagegen, das Kunstwerk
Asthetische Setzung 5S
ist nur an das Prinzip der Erlebbarkeit iiberhaupt gebunden: es ist in seinem
innersten Wesen, in seinem konstitutiv-kategoriellen Aufbau erlebnishaft,
die Objektivierung des Erlebnisses. Es steht deshalb jedem Erlebnis fordernd
gegeniiber: das Suchen des Sines kann sich nur in ihm erfiillen, ihm muf es
sich hingeben, vor seinen Maximen muf es sich beugen, um der Erfiillung
teilhaftig werden zu kénnen. Darum steht das Kunstwerk in selbstandiger
Normativitat jedem Erlebnis gegeniiber da; darum bedeutet aber diese Selb-
stindigkeit des Kunstwerks, seine villige Unabhangigkeit von den Erlebnis-
akten gerade die Autonomie des Erlebens in der Asthetischen Sphire:
die Maximen des Werks, die das asthetische Subjekt in seinem Erleben
aufnimmt, sind die Maximen seines Erlebens selbst, die Bedingungen
der Méglichkeit fir die Erfilllung seines Erlebens, gerade als Erleben
betrachtet.
Diese vollkommene Selbstandigkeit des Werks, die Méglichkeit es zum selb-
stdndigen Gegenstand zu machen, unabhiingig von den darauf gerichteten
subjektiven Akten, zeigt von neuem den transcendentalen, nicht metaphy-
sischen Charakter der asthetischen Sphiire, zwingt uns aber zugleich die
Frage nochmals aufzuwerfen, warum bei ihrer Begriindung der fiir die
transcendentalen Spharen so ungewohnte, weil fiir Theorie und Ethik tiber-
fliissige, ja unmégliche phanomenologische Weg notwendig eingeschlagen
werden muf. Die Eigenart dieser Selbstindigkeit beruht darauf, daf die
hier geforderte und auf dem Wege der Phinomenologie erreichte, normativ
gewordene Subjektivitit die Bedingung der Méglichkeit des Werks ist, daS
es nur auf diesem Niveau — dann allerdings in der oben angedeuteten Un-
abhangigkeit von ihr — gesetzt werden kann. Die Paradoxie, da ein selb-
standiges, geltendes Sinngebilde die transcendentale Bedingung seiner Még-
lichkeit in einem bestimmten Subjektverhalten hat, beruht darauf, da& das
letzte aufbauende Prinzip des Sinngebildes selbst das Prinzip der reinen
Erlebbarkeit ist: ein Prinzip, das zwar die selbstandige, in sich vollendete
und abgerundete Wesensart des Sinngebildes nicht nur méglich macht, son-
dern als notwendig erfordert, jedoch ein bestimmtes Niveau der Subjektivi-
tat als ebenso unerlaflich voraussetzt. Anders ausgedriickt: ein theoretisches
Sinngebilde ist vollkommen unabhiangig von seiner Denkbarkeit, ja es ent-
stehen im Bereich der Theorie ganz eigene Gebiete durch Beziehung der
Sinngebilde auf Denkbarkeit und Erkennbarkeit; die Asthetik hingegen
kennt ein solches Niveau der Setzung, also eine Unabhangigkeit von der
Erlebbarkeit nicht. Der Niveau-Unterschied, der den erwahnten theoreti-
56 Heidelberger Asthetik
schen Schichten!® entspricht, existiert freilich auch in der Asthetik und wird
spater ausfiihrlich behandelt werden miissen, aber der Begriff der Subjek-
tivitét als Prinzip der Erlebbarkeit tiberhaupt kann aus der Asthetik nicht
weggedacht werden. Das dem reinen An-sich entsprechende Niveau ist nam-
lich fiir die Asthetik die reine Erlebbarkeit, die gegensatzlose reine Subjek-
tivitét, in Vergleich zu welcher selbst das Niveau des reinen Erlebens und
seines angemessenen Objekts als ein blo& abgeleitetes erscheinen muf. Wie
immer es aber um diese Niveau-Unterschiede der bereits gesetzten astheti-
schen Sphire auch stehen mag, fiir den momentanen Stand des Problems ist
nur die freilich nicht wenig paradoxe Sachlage von Wichtigkeit, da8 die
Subjektivitat als Prinzip, als Prinzip einer reinen Erlebbarkeit iiberhaupt,
zum Wesen der Asthetischen Geltung selbst notwendig hinzugehért. Diese
Sachlage erfordert, daB »bevor« die asthetische Sphare selbst gesetzt werden
kénnte, dieses Niveau des Subjektverhaltens, das Niveau des reinen Erleb-
nisses, wo das Erlebnis ausschlieBlich auf seinen eigenen Sinnn als Erlebnis
gerichtet ist, erreicht werden soll.
Das Niveau des reinen Erlebens nimmt innerhalb der Mannnigfaltigkeit der
miglichen Subjektverhaltungen eine durchaus einzigartige Stellung ein.
Denn diese sind entweder von seiender Wesensart sowohl im empirischen, wie
im metaphysischen Sinn, wobei der jeweilige Subjektivititsbegriff stets etwas
Seiend-Ichhaftes an sich hat, also die Gesamtheit des »Seelischen«, das im
Subjekt gegeben ist, vom Zentrum seines erreichten Niveaus aus in irgend-
einer Weise zur Totalitat formt, wobei freilich die Art dieser Formung von
unserem jetzigen Standpunkt aus ganz gleichgiiltig ist, oder sie sind zuge-
ordnete Correlate zu einer bestimmten Wertsetzung, und ihre prinzipiell
erlebnisjenseitige Struktur ist die reine Funktion des Wertes, dem sie zuge-
ordnet sind. Die asthetische Subjektivitat unterscheidet sich gleich streng
von beiden Gruppen: da sie das Gerichtetsein des Subjekts auf den Sinn
seines Erlebnisses ist, besteht das Entscheidende ihres Wesens in einem Rein-
werden, Homogenwerden des Erlebens selbst, in seiner Abwendung von
seinen »zufalligen«, der Seinswelt angehérigen Gegenstinden und damit
zugleich in seiner Abwendung von der Subjektivitat selbst, sofern sie als
»ganzer Mensch« der Erlebniswirklichkeit (oder eines anderen Seinsniveaus)
dieser Welt angehért, sofern sie von seiend-ichhafter Wesensart ist. Dieser
Bruch mit der Seinstotalitat geschieht aber in der Intention auf die erfiillte
Totalitit des den immanenten Anforderungen des Erlebens angemessenen
Gegenstandes; die Seinstotalitat wird also nur darum verlassen, um die for-
male Totalitit der adaquaten Erlebbarkeit zu erreichen: die Subjektivitat
wendet sich nur von dem Seinsartigen und damit von der Zentrierung im Ich
des Erlebens ab, isoliert in sich das auf sich selbst bezogene Erleben und gibt
ihm die homogene Gerichtetheit auf das angemessene Objekt. Dank diesem
Akt wird die Subjektivitat zwar ein Gerichtetsein auf einen Sinn, auf etwas
Wertartiges, darf aber dabei ihre Unmittelbarkeit, ihre Erlebnishaftigkeit,
ihre Totalitat als erlebendes Subjekt doch nicht verlieren. Damit gelangt die
paradoxe Aufgabe der asthetischen Phanomenologie zu einer bestimmteren
Formulierung: es soll in ihr eine konkret erfiillte Totalitat der reinen Sub-
jektivitdt erreicht werden, die auf einen abgeschlossen-gegenstindlichen Kos-
mos der Erlebbarkeit bezogen ist, Subjektivitit und Erlebbarkeit jedoch
sollen alles Seiend-Ichhafte von sich ablegen und in dieser ihrer vom Ich
abgelésten, sinnhaften Wesensart zur Gestalt werden. Die objektive Para-
doxie der Asthetik, da& der Sinn des Erlebnisses als Erlebnis niemals erleb-
nisjenseitig sein kann, da& dieser Sinn sich nur als erfiillte Erlebnishaftigkeit
zu verwirklichen im Stande ist, steht mit der subjektiven Paradoxie, da
die auf Reinheit des Erlebens intentionierte Subjektivitat nichts Ichhaftes
an sich haben darf, im innigsten Correlation. Denn die objektive Tran-
scendenz der Erlebniswirklichkeit besteht, vom Telos der Asthetik aus ge-
sehen, darin, da& das Erlebnis stets das Erlebnis von Etwas sein mu und
zwar von einem Etwas, das seine Gegenstindlichkeit erlebnisjenseitigen
Kategorien verdankt, das also, um erfaft werden zu kénnen, vom Subjekt
ein Transcendieren des Erlebnisses fordert. Und die vom Subjekt aus betrach-
tete Seite dieser selben Transcendenz zeigt, da das Erlebnis stets das Erleb-
nis eines wirklichen Subjekts, eines Ichs sein mu&, das seinen subjektiven
Sinn darum nur im Zusammenhang dieses Ichs, also gleichfalls auf einem
erlebnisjenseitigen Niveau erhalten kann. Wenn deshalb das Erlebnis seinen
Sinn als Erlebnis finden soll, so mu es von beiden Gebundenheiten, von
der an den Gegenstand und von der an das Ich, die beide seiender Wesens-
art sind, freigemacht werden; mit der Lésung der Beziehung zum Etwas
wird die Beziehung zum Ich zugleich vernichtet, denn das Ich der Erlebnis-
wirklichkeit ist ja nichts anderes als das wovon das Etwas gesetzt wurde.
58 Heidelberger Asthetik
Diese Loslésung ist aber eine formelle: sie scheidet das Seinshafte aus Subjekt
und Objekt des Erlebnisses aus, um beide in dieser Freiheit von erlebnisjen-
seitigen Gegenstindlichkeitsbestimmungen zur immanenten Erfiillung der
Erlebbarkeit zu fihren. Das Erlebnis soll rein und homogen qua Erlebnis
werden, es soll seine Bestimmungen von den eigenen Méglichkeiten der Er-
fiillung erhalten. Dies erfordert einerseits die bereits oft angedeutete Ob-
jektstruktur, andererseits ein Subjekt, das nichts weiter ist als »Trager«
eines derartigen reinen und homogenen Erlebnisstromes, das aber seinen Sinn
und seine Erfiillung in sich selbst enthilt, niemals auf ein Ich irgendwelcher
Art bezogen werden kann, ohne deshalb der inhaltsleeren Zugeordnetheit
der sonstigen Geltungsobjekte nahe zu kommen. Das unmittelbare Erlebnis
ist stets das Erlebnis von Etwas. Der Verwandlungsprozef in der Richtung
auf dsthetische Form kann deshalb niemals eine Abwendung von der inhalt-
lichen Fiille bewerkstelligen wollen, er kann und soll vielmehr nur die Be-
wegung anstreben, den »Inhalt« und sein Subjektscorrelat von jeder Seins-
bezogenheit véllig frei zu machen, gerade um die in der Erlebbarkeit auf-
gehende Fiille des Inhalts zu diesem ihrem erfiillten Sinn zu fiihren, Trotz
aller, nunmehr klarergewordenen Distanz also, die ein solches Subjekt vom
»ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit trennt, mu% sowohl dessen
»Ganzheit« wie sein »Menschsein« beibehalten werden: das Gerichtetsein auf
den Sinn Jat hier nicht ein dem Sinngebilde hinzukonstruiertes Subjekt
entstehen, wie in der theoretischen Sphire, das mit dem »ganzen Menschen«
schlechterdings nichts mehr zu tun hat, das von ihm durch den Sprung ge-
trennt ist, sondern erfordert einen Stilisierungsprozef, der durch Umwand-
lung der Intention des Erlebnisses von Sein auf Sinn vollzogen werden soll,
der von der Forderung nach dem autonomen Erlebnis und seinem angemes-
senen Gegenstand geleitet ist, als dessen Ziel das stilisierte Subjekt der
Asthetik, der Mensch »ganz« sub specie der Erfiillbarkeit des Erlebnisses
gesetzt ist. Die Reihenbildung der Phanomenologie wird durch die Konkret-
heit dieser Subjektivitat erméglicht; wenn die aufeinanderfolgenden Sub-
jektivitatsstufen der dsthetischen Phanomenologie auch nicht von seiend-ich-
hafter Wesensart sind, wie die der metaphysischen, so haben sie einerseits
die zur Reihenbildung notwendige konkret-inhaltliche Fille bewahrt und
andererseits stehen sie in einer — wenn auch ablehnend-polemischen — Be-
ziehung zur seiend-ichhaften Struktur der Subjektivitat: die asthetische
Phiinomenologie kann ja von diesem Gesichtspunkt aus als der Selbstbe-
freiungsproze8 der Subjektivitit aus ihrer Ich-Gebundenheit aufgefa’e
Asthetische Setzung 59
werden, die nur in der letzten Etappe des Weges, beim Erreichen des stili-
sierten Subjekts der Asthetik vollig gelést zu werden vermag.
Diesen Stilisierungsproze& der Subjektivitat zu vollziehen ist die Aufgabe
der asthetischen Phinomenologie. Daf die asthetische Setzung nur auf dem
durch sie erreichten Niveau méglich wird, erhellt sich noch besser als aus dem
bisher Angefihrten von der Erwagung aus, da& das objektive Sinngefiige
der Astehetik von derart rein formaler Wesensart ist, da& in ihm jede
»Materie«, jeder »Inhalt« nur positionell, nur »relativ« Materienhaft ist,
sofern Materie, wie fiir Theorie und Ethik, als Gegensatzbegriff der Form
gefa&t wird. Im Formgefiige der Asthetik kommen nur formartige Bestand-
teile vor; wenn der Relativierungsproze der Form-Inhalt-Dualititen zu
Ende gegangen wird, so muf eine gewissenhafte Analyse immer auf bereits
formartige Elemente stofen: die asthetische Form »umfaSt« also nicht die
Materie-Correlation, in der Asthetik nicht vorkommen kann; mit anderen
sondern soll sie — nach Schillers plastisch-zutreffendem Ausdruck — vertilgen.
Dieses Vertilgen kann vom Standpunkt der Strukturanalyse nur soviel be-
deuten, daf etwas schlechthin Materieartiges, sei es als Grenzbegriff, sei es
als erkenntnistheoretische Hilfskonstruktion zur Erklarung der Form-
Materie-Correlation in der Asthetik nicht vorkommen kann; mit anderen
Worten: da& das Ding-an-sich-Problem in der Asthetik nicht aufwerfbar
ist, da® die Welt der dsthetischen Formen sich nicht vom Chaos abhebt, da
ihr »Erzeugen« nicht auf das Chaos zuriickgreift. Der Widerspruch, in dem
diese Auffassung der dsthetischen Formenwelt zu der gewohnten steht, be-
ruht teilweise auf der allgemeinen Gewohnheit, die theoretische Formkon-
struktion mit geringen Modifikationen auf die Asthetik zu iibertragen, teil-
weise auf der irrefiihrenden Terminologie, durch die dsthetische Form-
begriffe — wie Stoff, Material usw. — eine derartige Deutung zulassen,
obwohl diese ihrer schlicht-dsthetischen Wesensart durchaus nicht entspricht.
Die wirkliche Widerlegung kann also nur die rein asthetische Deutung all
dieser Formelemente bringen, wobei gezeigt werden soll, da& ihr eindeutig
asthetischer Sinn nur durch ihre Fassung als reine Formelemente, die blo&
in Beziehung zu anderen Formelementen zum Stoff, zum Material usw.
werden, erreicht werden, kann; hier miissen andere, allgemeine Erwagungen
zur Einsicht dieser Wesensart des Asthetischen fithren. Wie immer auch der
Gegensatzbegriff zur Form gefa&t sei, sein entscheidender, transcendentaler
Sinn kann nur als die Bezogenheit der Form auf etwas der Form Wesens-
fremdes oder, was damit aquivalent ist, als die Bezogenheit der Geltung auf
Seiendes gedacht werden. Es bleibt also fiir Theorie und Ethik, wie sehr auch
60 Heidelberger Asthetik
innerhalb jeder Sphire der Gegensatz der Form und des Geformten relati-
viert wird, wie sehr auch das Geformte eine relativ-formale Beschaffenheit
erhalt, ein prinzipieller, uniiberbriicsbarer Gegensatz zwischen ihnen beste-
hen, ein Gegensatz, der in die Asthetik, ohne sie ganz aufzuheben, nicht ein-
gefiihrt werden darf. Es wurde bereits hervorgehoben, da in der Asthetik
Form und Geformtes einander véllig homogen, oder genauer: da8 beide von
erlebnishafter Wesensart sind. Konkreter ausgedriickt bedeutet dies, da8 in
der Asthetischen Setzung — und nur in ihr — die Abwendung vom Sein
keine Abwendung vom Erlebnis ist, wahrend fiir die theoretische und
ethische Einstellung eine unaufhebbare Heterogeneitit von Form und Ge-
formtem wesensnotwendig gegeben ist, da die Form das schlechthin Erleb-
nisjenseitige ist und das Geformte, wenigstens in iiberwiegenderweise, aus
dem Bereich des Erlebten, und zwar als Seiendes Erlebten stammt. Es wurde
bereits als Programm der Phanomenologie, also als Aufgabe der Verwand-
lung der normativen Subjektivitat hervorgehoben, da& diese Abwendung
von der Seinsbezogenheit des Erlebnisinhalts das auf den Sinn des Erlebens
gerichtete Subjekt zu vollziehen hat; diese Erkenntnis bedarf nunmehr zur
Erganzung blo& der Einsicht der Notwendigkeit, da& dies nur vom norma-
tiven Subjekt geleistet werden kann und da ohne die Voraussetzung dieser
Umwandlung die Setzung des Wertes selbst undenkbar ist.
Das Wesen dieser Setzung beruht, wie wir wissen, auf der absoluten Selbst-
vollendung und Aufsichgestelltheit der entstehenden Formgebilde, denen ge-
rade in ihrer einzigartigen Individualitat, in ihrem sinnlich unmittelbaren
hic et nunc der Wert innewohnt. Denn die geforderte, erlebnishafte Homo-
geneitit der Form und des Geformten setzt die wechselseitige Annaherung
beider Prinzipien aneinander voraus: einerseits mu das Geformte bereits
in seinem innersten Wesen zur Formartigkeit erhoben sein und diese An-
naherung an die Form muf viel mehr sein als eine eindeutig-substrathafte
Bediirftigkeit nach Form, muf bereits im positiven Sinne die Formhaftigkeit
aufweisen, andererseits muf die Form, als reine Form betrachtet, jede Mate-
rialfremdheit, jede allgemein-erhabene Wesensart ablegen, mu die Un-
mittelbarkeit des sinnlichen hic et nunc in ihr eigenes Wesen aufnehmen: sie
muf, dem Wesen nach, zur Form des bestimmten Inhalts werden. Dadurch
daf die Form die des bestimmten Inhalts geworden ist, was soviel bedeutet,
daf sie diesen Inhalt nicht nur zur Geltung erhebt, sondern von ihm nun-
mehr unabtrennbar wird, ist die in allen Geltungsspharen vorhandene
Distanz zwischen Wert und Wertrealisation aufgehoben. Bei jedem inhalts-
jenseitigen Formbegriff namlich kann jedes Sinngebilde des Wertes nur teil-
Asthetische Setzung 61
haftig sein, der Wert selbst aber, der mit dem seinsartigen Substrat der For-
men prinzipiell keine Gemeinschaft haben kann, ist den Sinngebilden tran-
scendent, das heift, diese sind nur in ihrer Formartigkeit mit dem Wert ver-
bunden und eben diese ihre Formartigkeit weist iiber sie hinaus, auf die
Quelle dieses Wesens, auf den Wert selbst hin, Wenn aber die Form nach
ihrem eigensten Wesen nach zur Form des bestimmten Inhalts wird, so gibt
es fiir sie — gerade als Form — keine derartige transcendierende Bewegung
mehr: die das einzelne Sinngebilde konstituierende Form kann keine Ver-
wirklichung mehr eines transcendenten Wertes, sondern muff, da Werthaftig-
keit fiir jede Geltungssphire die reine Erscheinung der Form bedeutet, der
Wert selbst sein. Dieses Zusammenfallen von Wert und Wertrealisation in
den Formgebilden der Asthetik bestimmt die Struktur der Beziehung von
Subjekt und Sinngebilde in der hier geforderten, von jeder anderen Gel-
tungssphire villig verschiedenen Weise. Denn einerseits mu die Distanz
von Subjekt und Sinngebilde hier, wo das Sinngebilde der Wert selbst ist,
wo also das Subjekt dem absoluten Wert unmittelbar gegeniibersteht und
nicht blo& durch ein transcendierendes Sinngebilde hindurch, in einem un-
endlichen Proze8 sich auf ihn zu bewegt, von einer sonst unerhérten Schroff-
heit und Uniiberbriickbarkeit sein, andererseits muf sich diese selbe Beziehung
inniger und intimer als sonst irgendwo gestalten, da das mit dem Wert iden-
tische Sinngebilde selbst von einer dem Subjekte homogenen, von erlebnis-
hafter Beschaffenheit ist. Es zeigt sich also, da& das vollendete Insichruhen
des asthetischen Sinngebildes, seine Wertimmanenz, sein materialloses, lau-
ter fomales Wesen, sein Formwerdenlassen des hic et nunc und seine reine
Erlebbarkeit nur Seiten einer und derselben Wesensart der dsthetischen Set-
zung sind und nur die verschiedenen Aspekte ihres Wesens reprisentieren:
da sie sich von keinem, auf die vollzogene Setzung beziehbaren und zu
beziehenden Chaos abhebt, sondern einem absoluten Nichts gegeniibersteht;
da& alles, was in dem Werk nicht gesetzt wurde, in einer derart radikalen
Art als Nichtseiend gesetzt wurde, daf jede Transposition sein Wesen nur
verfalschen. kann, es in ein relatives Nichts, in eine Aufgabe, in ein Chaos
verwandeln mu8. Daraus kann aber auch die Notwendigkeit der Phano-
menologie fiir die objektive Sphare der Asthetik begriffen werden: das lau-
ter formale Wesen des Wertes setzt dieses Vertilgtsein jedes Seins voraus,
erfordert, da& die zur Form gewordene Erlebnishaftigkeit nicht sinnlich
seienden Erlebniselementen gegeniiberstehe, sondern der bereits geformten,
weil vom Sein abgelésten sinnlichen Fiille der Erlebnisinhalte. Wenn also
die Abwendung vom Sein des Erlebens als Programm der Phainomenologie
62 Heidelberger Asthetik
bestimmt wurde, so hat das fiir die objektive Sphare der Asthetik die Bedeu-
tung, daf durch die in ihr vollzogene Verwandlung des Subjekts — und nur
durch diese — die hier notwendig erforderte gegensatzlose Form entstehen
kann. Fiir die theoretische Sphare kann diese Verwandlung durch die uno
actu sich vollziehende Anerkennung ihrer Maxime (die etwa als Wille zur
Wahrheit formuliert sein mag) ersetzt werden, weil fiir sie die Form etwas
schlechthin Inhalts- und Erlebnisjenseitiges ist und das Sein nur als factum
brutum aufgehoben wird, als unendliche Aufgabe, als Problem jedoch be-
wahrt bleibt. Fiir die Asthetik, die die Aufhebung des Seins in ganz radi-
kaler Weise zu vollziehen hat und dabei gerade das Konkret-Inhaltlich-
Erlebnishafte retten mu&, kann dies nur die Frucht des Stilisierungsprozes-
ses sein, den die Phanomenologie am Subjekt der Asthetik vollzieht.
Damit sind wir zu einem neuen paradoxen Aspekt des asthetischen Sinnge-
bildes angelangt: es ist seinem Wesen nach etwas Erschaffenes, etwas
Hervorgebrachtes. Hierbei darf man selbstredend niemals an das tatsich-
liche Produziertwerden des Kunstwerks denken, sondern daran, da& es ge-
rade seinem nicht-seienden Sinne, seinem Wesen nach genauso als Hervorge-
brachtes erfa&t werden soll, wie das theoretische Sinngebilde als unabhangig
von jeder Art der Verwirklichung auf tatsichlichen Boden gedacht werden
mu&; dieses »Entstandene« ist also genauso eine Geltungsqualitat des asthe-
tischen Wertes, wie das »Unentstandene« des theoretischen. Alle Paradoxien,
die sich daraus ergeben, sollen spater eingehend behandelt werden, hier
sind nur jene Seiten dieser Sachlage von Belang, die sich auf das Verhiltnis
des so wesensnotwendig gewordenen Schdpfers zum Werk und damit auf
das Verhiltnis der Phanomenologie zur Werklehre beziehen. Die Paradoxie
Jat sich in aller Kiirze so aussprechen: wenn das Werk auch als Werk des
Schépfers erfa&t werden soll, so soll damit seine véllige Unabhangigkeit
von ihm nicht aufgehoben und die Distanz, die sie voneinander trennt, nicht
gemildert werden. Mit anderen Worten: trotz seines wesensnotwendigen
Hervorgebrachtseins verbleibt dem Werk der absolute Primat vor dem
Schépfer: der Schpfer ist dem Werk, nicht dieses jenem zugeordnet. Denn
das Hervorgebrachtsein ist zwar eine Geltungsqualitit des Werkes, es ist
aber die Geltungsqualitit des Werkes an sich, eines rein geltenden Sinn-
gebildes, das seine Geltung — und darin diese mitgesetzte Qualitat — aus-
schlieBlich sich selbst verdankt, dessen Geltung ausschlieSlich aus sich selbst
zu begreifen ist. Das Geschaffensein zieht das Werk nicht in das Bereich des
Seienden hinab (und gestattet nicht, da es als metaphysische Entitat auf-
gefa&t werde), sondern unterstreicht am scharfsten seine uniiberbriickbare
Asthetische Setzung 63
Distanz von jeder Art des Seins, sein lauter geltendes Wesen. Gerade weil
isoliert betrachtet samtliche Elemente des Werkes, als Erlebniselemente, der
Seinswelt angehéren, weil sie von einer Form umfaft werden, die ebenfalls
»seiend erlebnishaft« ist, werden sie diesem Niveau blo& durch ihren Zu-
sammenhang, durch die Art ihrer Zusammenfiigung entrissen. Diese Ge-
barde des einsamen Emporgehobenseins iiber jede Wirklichkeit, die jedes
Werk notwendig besitzt, gibt ihm seine Geltungsqualitie als Geschaffenes:
die Erlebnisnotwendigkeit des Geschaffenseins entsteht also aus dem Aufsich-
beruhen des Werkes, aus seiner villigen Negation jedes Aufersichs; es darf
bei aller normativen Unmittelbarkeit seiner Geltung weder als »Natur«, als
Gewachsenes, spontan Entstandenes, noch als von Ewigkeit her An-sich-
Seiendes (oder Geltendes) wirken, denn beide Nuancen eines derartigen un-
erschaffenen Gesetztseins wiirden es wesensnotwendig in einen iibergreifen-
den, dem Werke selbst transcendenten Zusammenhang einfiigen, es seiner
Wesensart als Werk entkleiden. Dieser struktive Tatbestand hat zur ersten
wichtigen Folge, da8 der notwendig mitgesetzte Schépfer ebenfalls ein
Sinngebilde sein mu8, dessen »Existenz« in der Asthetischen Sphire auf
dieser seiner Funktion, Bedingung der Méglichkeit des Werks zu sein, be-
ruht, der also mit der empirisch-seienden Person des Schipfers schlechter-
dings nichts zu tun hat: es ist das stilisierte Subjekt der Asthetik, das am
Ende der Phinomenologie als Resultat ihres Umwandlungsprozesses erreicht
wird. Das stilisierte Subjekt der Phinomenologie hat diese Isolation des
Werkes zu leisten; das rein nach innen gekehrte, nirgends iiber sich hinaus,
nach aufen weisende Wesen des Werks ist ja nur ein anderer Aspekt seiner
lauter formalen Wesensart, denn jede andere Form, die auf ein Material,
also auf etwas Wesensfremdes bezogen ist, mu notwendig eine sich selbst
transcendierende Tendenz in sich haben, Indem also das stilisierte Subjekt
der Asthetik in der Phinomenologie entsteht, indem sein Entstehen die Ab-
wendung vom Erlebnis als Sein und seine Verwandlung in Erlebnissinn bei
Bewahrung der unmittelbaren Fiille ist, wird die Bedingung der Méglichkeit
des Werkes erfiillt: das Erlebnisniveau dieses stilisierten Subjektes hat jedes
sinnesfremde Material vertilgt, hat das Materialhafte an sich, das hic et
nunc des Erlebens in lautere Form verwandelt. Jedoch — und die Betonung
dieser Seite ist fiir die Struktur der Asthetik von gréfter Wichtigkeit — nur
das Niveau ist hiermit erreicht, worauf die asthetische Setzung vollzogen
werden kann, nur die Bedingungen der Méglichkeit des Werkes sind zur
Evidenz gebracht, das Werk selbst beharrt diesem Niveau gegeniiber in der
unerreichbaren Transcendenz des absoluten Wertes. Denn aus der phino-
64 Heidelberger Asthetik
Abwendung vom Sein, der in der reinen Kontemplation als Zuwendung auf
das vollendete Werk vollzogen wird, geradeso eine Bedingung der Maglich-
keit des Werkes, also Aufgabe der Phanomeenologie ist, wie die im Schaf-
fensprozef angedeutete Verwandlung des Subjekts; da& auch hier ein stili-
siertes Subjekt zu entstehen hat. Die asthetische Phinomenologie zeigt mit-
hin — und hier unterscheidet sie sich abermals scharf von der metaphysi-
schen — eine klare Bifurkation: das stilisierte Subjekt der Asthetik zeigt
zwei voneinander grundverschiedene Typen, die in der Phanomenologie
zur Evidenz gebracht werden sollen: den Schaffenden und den Receptiven,
Wahrend aber die Entstehung des Schaffenden in Wahrheit ein — an sich —
unendlicher Proze ist, der von dem Sprung jah und transcendent abgeris-
sen zur Entstehung des Werks fihrt, ist die Verwandlung des »ganzen
Menschen« der Erlebniswirklichkeit in den auf das vollendete Werk zuge-
wandten Menschen »ganz«, in die Bereitschaft der reinen Receptivitat, ein
mehr negativer, an und fiir sich weitaus diirftiger und der eigenen Erfiillung
noch unfahiger Akt: er ist—wieviel Komplikation er im Einzelnen auch auf-
weisen mag — doch die blo&e Abwendung vom Sein des Erlebens und die
bloBe Zuwendung auf den im Werk bereits objektivierten Erlebnissinn: die
Deduktion der Bereitschaft als Bedingung der Méglichkeit der Geltung des
Werks. Daf auch fiir die auf das receptive Subjekt bezogene Geltung des
Werks die stilisierte Wesensart dieses Subjekts Bedingung der Méglichkeit
der Geltung selbst ist, folgt aus der normativen Unmittelbarkeit und Erleb-
nishaftigkeit des asthetischen Wertes. Ware das auf das Werk gerichtete
Subjekt der »ganze Mensch« der Erlebniswirklichkeit, so miiSte das Werk
fiir es als Seiendes gegeben sein und in dem Erlebnisstrom dieses Niveaus
untertauchen; wenn aber die Verwandlung fiir dieses Subjekt, wie in der
Theorie, uno actu vollziehbar ware, so miifte das Wesen der so entstehen-
den Subjektivitit erlebnisjenseitig und ihr Gegenstand damit zum theore-
tischen Gegenstand werden. Die im Stilisierungsproze8 der Phanomenologie
entstehende Bereitschaft sorgt fiir ein Niveau des Subjektverhaltens, wo
weder das Material eine Bezogenheit auf das Sein, noch die Form eine
Transcendenz auf Erlebnisjenseitiges hat, wo also die Unmittelbarkeit und
Erlebnisimmanenz, als Folgen der gegensatzlos formalen Wesenheit des
Werks, erfiillt zu werden vermdgen. So leer an und fiir sich diese Bereit-
schaft auch sein mag — sie ist als der reinste aufweisbare Typus der Kontem-
plation eben Hingabe schlechthin, nichts als Zuwendung zu einem vollig
unabhingig und geschlossen entgegengeltenden Sinngebilde —, so ist sie doch
fiir die Geltung des Werks unentbehrlich: seine Isolation jedem Sein gegen-
6 Heidelberger Asthetike
iiber ist so absolut, ist eine derart vollendete Bezichungslosigkeit zu jedem
Sein, da es die selbstandige Emporhebung der ihm zugewandten Subjekti-
vitit notwendig voraussetzt. Denn jeder — freilich geltungsmafige —
Zwang, den der asthetische Wert auf die Subjektivitit auszuiiben fahig ware
(etwa im Sinne der Theorie), wiirde eine Bezichbarkeit der Geltung auf
Nichtgeltendes voraussetzen und damit die asthetische Setzung aufheben.
Damit die gegensatzlose Form des Werks verwirklicht werde, muf die Zu-
wendung der receptiven Subjektivitit eine ganz spontane, nicht vom Werk
ausgehende, mit einem Wort Bereitschaft sein. Das fordernde Wesen der
Subjektivitat gegeniiber tritt in der asthetischen Sphare nur in Kraft, wenn
die Bereitschaft schon erreicht ist, wahrend fiir die Theorie das Sollen, das
der Wert ausspricht, sich direkt an den »ganzen Menschen« der Erlebnis-
wirklichkeit richtet und ihn, uno actu, in das theoretische Subjekt verwan-
delt. Das Werk an sich steht ganz Beziehungslos zu jedem Sein und die
Bereitschaft mu erreicht werden, damit es sich mit seinem Sollen an das
Subjekt wenden kénne. Diese Notwendigkeit der Bereitschaft fiir die Gel-
tung des asthetischen Wertes weist auf eine andere seiner Geltungsqualitaten
hin, die viel zu auffallend ist, um da sie nicht bereits von manchen er-
kannt worden ware; darauf, da& der asthetische Wert keine erzwingbare
Geltung besitzt, da& also sein Leugnen, das Nicht-eintreten-wollen in die
asthetische Sphare keinen Selbstwiderspruch enthilt, wie etwa die Position
der absoluten Skepsis fiir die Theorie. Ob es Kant gelungen ist diesen
Selbstwiderspruch fiir den kategorischen Imperativ als Urtatsache der ethi-
schen Setzung nachzuweisen, mu unerértert bleiben, ebenso auch alle Pro-
bleme der Struktur, die sich aus dieser Wesensart der asthetischen Sphire
ergeben, hauptsichlich da& hierdurch die Allgemeingiiltigkeit des asthetischen
Wertes unberiihrt bleibt, da& die Unerzwingbarkeit der Geltung nicht mit
einer Willkiir oder Anarchie innerhalb der Geleungssphire gleichbedeutend
ist. Wichtig ist hier blo& diese struktive Sachlage und ihre notwendige
methodische Consequenz: die Demonstration der Bereitschaft als Bedingung
der Méglichkeit fiir die asthetische Geltung, die als zweite Aufgabe der
asthetischen Phanomenologie erscheint.
Damit sind jedoch noch nicht alle Méglichkeiten des MiSverstandnisses
fiir die asthetische Phinomenologie beseitigt; wenn sie sich nunmehr,
wenigstens als Programm, sowohl von jeder Art Psychologie wie von der
modernen Phanomenologie klar abhebt, so kann sie doch eventuell mit
einem Teil der allgemeinen Geltungsanalyse verwechselt werden, der in
der modernen Logik, wenn auch selten in scharfer Abgrenzung von ande-
Asthetische Setzung 67
ren Teilen, eine bedeutsame Rolle spielt: mit der Disciplin, die Rickert
als subjektiven Teil der Logik, als transcendentale Psychologie bezeichnet,
als deren Funktion er bestimmt, da sie ein »Mittelreich« zwischen tran-
sceendentem und immanentem Niveau, zwischen reinem Sinn und bloSem
Sein bilden soll?®. Dieser Teil der Logik, von dem Rickert mit Recht
betont, da® er sich sehr weitgehend mit Kants Verfahren deckt, muf
zwar an Urspriinglichkeit der Geltung dem »objektiven« Teil den Primat
iiberlassen, ist aber fiir die Theorie, wenn sie das ganze Problem der Er-
kenntnis nicht ausschalten will, doch unvermeidlich, weil das Niveau des
»immanenten Urteilsinnes« ein Niveau ist, das »obwohl es gewif
mehr als einen psychischen Proze8 bedeutet, immer auch ein psychischer
Prozef ist...« Die Méglichkeit einer Verwechslung von Phanomenologie
und transcendentaler Psychologie in der Asthetik liegt umso naher, weil
diese Fragestellung Rickerts auch in der Asthetik als véllig gerechtfertigt
erscheint, weil es in der Asthetik ebenfalls eine transcendentale Psycholo-
gie geben muff. So wie in der Theorie zwischen dem Niveau des reinen,
des »objektiven« Geltens und zwischen dem seiner subjektbezogenen Be-
schaffenheit ein Unterschied gemacht werden soll, so ist es notwendig in
der Asthetik das Werk an sich von den darauf bezogenen subjektiven
Akten, vom Schaffen und von den verschiedenen Stufen der Receptivitat
zu unterscheiden. Und so wie in der Theorie das erstgenannte Niveau
zwar als das urspriingliche, ungekiinstelte, die wahre Gegenstindlichkeit
der Sphire unverfalscht representierende erscheint, dafiir aber dem
»realen« Proze& der Erkenntnis vollig entriickt ist, so ist auch fiir die
Kethetik das Werk an sich die einzige wahre Erscheinungsform des unge-
triibten Wertes, das aber in die »Realitit« nur als utopische Wirklichkeit,
nur als angemessener Gegenstand des Erlebens, nur als auf einen ProzeS
des Schaffens und der Receptivitit Bezogenes herabsteigen kann. Damit
ist fiir die Asthetik in dieser abgekiirzt-programmatischen Weise die Not-
wendigkeit und der methodische Ort einer Transcendentalpsychologie
klar geworden: es miissen die normativen, aus dem Wesen der Sachlage
der Geltung sich ergebenden Méglichkeiten und Typen der Subjektver-
haltungen zum Werk und die Gegenstindlichkeitsverinderungen, die sie
normativ in dem ihnen zugeordneten Werk hervorbringen, dargelegt
werden, d. h. es mu gezeigt werden, da die Mannigfaltigkeit der psy-
19 Vrgl. Gegenstand der Erkenntnis. 3. Aufl. [Tibingen, Mohr. rgrs.] 296 ff.
68 Heidelberger Asthetik
Erkenntnis dieser struktiven Sachlage zeigt. Diese Erkenntnis kann aber die
Schwierigkeit, vor der wir stehen, nicht heben, sie mu8 sie vielmehr noch
folgenreicher machen. Denn unsere Aufgabe kann nur darin bestehen, die
Voraussetzungen und das Wesen der asthetischen Setzung aufzudecken, und
das Aufwerfen der Frage nach dem Wesen des ganzen Systems, in dem diese
Setzung ihre methodische Heimat findet, mii&te den Rahmen dieser Frage-
stellung vollig sprengen. Andererseits aber setzt unsere Fragestellung einen
ganz bestimmten Typus der Systematisation voraus und kann nur inner-
halb einer solchen Systematisation wirklich sinnvoll verstanden und gedeutet
werden; es ist aber nicht blo aus duferlichen Griinden ganz ausgeschlossen,
diese Fragen hier, wenn auch noch so fragmentarisch aufzuwerfen und ihre
Lésung zu unternehmen. So mu die Position eines andeutenden Dogmatis-
mus angenommen werden: d. h. es kann blo& der Systemrahmen skizziert
werden, der unsere Lasungsversuch der Asthetik umspannt, ohne auf die
Fragen, die sich dabei ergeben, irgendwie eingehen zu kénnen.
Diese vorausgesetzte System ist, wie aus dem Obengesagten wohl schon
sowieso hervorgegangen ist, in den meisten entscheidenden Punkten dem
Kantischen sehr nahe verwandt. Seine Grundthesis ist, die freilich bei Kant
selbst nicht immer in voller Klarheit zum Ausdruck kommt, die véllige
Unabhangigkeit voneinander und die véllige Unableitbarkeit auseinander
samtlicher autonomen Setzungen. Dies bedeutet den schirfsten Gegensatz
zu dem Systemtypus der grofen Nachfolger Kants, fiir die jede Sphiire nicht
als von sich — und nur von sich — aus begriindbar erscheint, wie im Wesent-
lichen bei Kant selbst, sondern innerhalb des einheitlich-homogenen Systems,
durch dessen einheitlich-homogene Methode deduziert, konstruiert oder dia-
Iektisch hervorgebracht wird. Daraus folgt, daf fiir diesen Systemtypus die
Erkenntnis einer bestimmten Setzungsart mit der Erkenntnis ihrer Stelle im
ganzen System zusammenfallt, wahrend fiir die andere Art der Systemati-
sation die Begriindung einer bestimmten Sphare eine vollstandig andere
Dimension der Fragestellung erfordert, als das Problem des systematischen
Zusammenhangs der einzelnen Spharen. Unsere Position, auf deren Folgen
im Spiateren noch oft zuriickzukommen sein wird, besagt in diesem Fall
soviel, da die wirkliche Begriindung einer autonomen Wertsphire nur auf
dem Kantischen Weg méglich ist, da& der Primat des Systems vor der Spha-
re ihre Autonomie und damit die Absolutheit ihrer Wertsetzung notwendig
aufheben mu8. Denn das einheitlich-homogene System kann seinem Wesen
nach nur ein theoretisches System sein (wobei freilich die Méglichkeiten:
geltend-theoretisch, metaphysisch-theoretisch oder die Synthese beider dahin-
72 Heidelberger Asthetik
sein. Diese Sachlage, die nur deshalb paradox scheint, weil wir allzusehr an
die theoretische Struktur gewohnt und darum geneigt sind, alles davon
Abweichende aus der Perspektive dieser Abweichung, also als Umkehrung
einer »natiirlichen« Sachlage zu betrachten, ergibt sich in sehr einfacher Evi-
denz aus der Betrachtung des Kunstwerks, wie es an sich ohne Riicksicht
auf andere Setzungsméglichkeiten gegeben ist. Die asthetische Form ist, wie
bereits hervorgehoben wurde, gerade in ihrer originaren Erscheinungsweise
stets als Form eines bestimmten Inhalts zu denken, zudem eines Inhalts,
dessen Wesen seine Formartigkeit, sein Nichthinausweisen aus dem geschlos-
senen Formgebilde notwendig mitbedingt. Daraus folgt, da das »Einzelne«,
das »Singulare« auf diesem Niveau der Asthetischen Setzung in keinerlei
Gegensatzverhiltnis zu einer »Allgemeinheit« irgendwelcher Art stehen
kann; ja die ganze Entgegensetzung des »Einzelnen« und des »Allgemeinen«
hat fiir diese Setzung jeden Sinn verloren: alles, was hier als geltendes
Formgebilde gegeben ist, ist unzertrennbar zugleich »einzeln« und »allge-
mein«, ist eine symbolische Individualitat, eine kanonische Singularitat, und
zwar in einer Weise, da die methodische Art der Symbolik, des Kanoni-
schen gerade in der Singularitat selbst liegt. Diese Struktur darf keinesfalls,
wie es oft geschieht, mit der »individualisierenden Begriffsbildung« der Ge-
schichtswissenschaft verwechselt werden; ganz abgesehen von ihrer metho-
dologischen und nicht konstitutiven Wesensart kontrastiert das Geschichtlich-
Individuelle normgema& mit einer ganzen Reihe von Formgruppen, die ihm
gegeniiber notwendig relativ oder absolut »allgemein« sind, schon darum,
weil alle geschichtlichen Individualitaten in einer gemeinsamen Wirklichkeit,
in der geschichtlichen stehen, die wenn auch mit der »objektiven« Wirklich-
keit nicht identisch ist, so doch ihnen gegeniiber eine ihr ahnliche Funktion
zu erfiillen hat. Dagegen handelt es sich hier um eine Setzungsart, in der
jeder derartige Kontrast aufgehoben ist, diese ganze Entgegensetzung ihren
Sinn verloren hat und nur in der theoretischen Transposition als coinciden-
tia oppositorum und nicht als schlichte, differenzjenseitige Einheit — wie in
der origindren Gegebenheit selbst — vorkommt.
Dieser Gedankengang fithrt zu der Urstruktur der asthetischen Setzung
zuriick: das Prinzip der Erlebbarkeit, als Grundprinzip dieser Setzung,
und ihr vollendet in sich abgeschlossenes Wesen als seine notwendige
Folge bedingen das hier blo& in neuen Wendungen Wiederholte: das
Kunstwerk tragt seine Werthaftigkeit immanent in sich, es ist zugleich
Wert und Wertrealisation, seine Individualitat, seine Singularitat kann
mithin in keiner blo&en Beziehung auf den Wert bestehen, sondern muf
Asthetische Setzung 77
tisches ist. Das Dilemma zeigt also von neuem das Problem der dstheti-
schen Geltungsform als Form der Erlebbarkeit: wire die Fiedlersche Auf-
fassung (und vollends eine, die in einer Kunst iiberhaupt die asthetische
Geltungsform erblickt) die richtige, so miifte im Kunstwerk, wie es an
sich ist, etwas blo& Seiendes erblickt werden, das durch sein »Teilhaben«
an dieser Geltungsform und dadurch in eine »objektivee Wirklichkeit
eingefiigt auf das Niveau des Sinnes erhoben wird. Fiedler selbst ist auch
zu solchen Folgerungen gezwungen: »Und damit hingt es endlich auch
zusammeng, sagt er®! »daf die kiinstlerische Arbeit immer eine fragmen-
tarische bleiben mu8. Sie stellt sich dar als ein immer und iiberall sich
wiederholender, zu den verschiedensten Graden des Gelingens fiihrender
Versuch, in das Gebiet des sichtbaren Seins vorzudringen und es in ge-
stalteter Form dem Bewufttsein anzueignen... Die Aufgabe der Kunst...
bleibt immer dieselbe, im ganzen ungeldste und unldsbare, und muf
immer dieselbe bleiben, solange es Menschen gibt.« Dadurch erhilt die
asthetische Sphire eine theoretische Struktur, wobei das »Gestalten« ein
zweideutiger und Aquivocationen verursachender Terminus wird: einer-
seits soll es das Glied in einer Annaherungsreihe an eine gemeinsame und
darum einheitlich erfa&bare »objektive« Wirklichkeit sein, deren Gesetzt-
heit aber jedes Gestalten iiberfliissig macht, denn der Akt des Gestaltens
enthalt wesensnotwendig eine iiber sich selbst nicht hinausweisende Inten-
tion, eine Intention, die mit deren, die auf eine »objektive« Wirklichkeit
orientiert sind, schon deshalb unvereinbar ist. Andererseits ist durch den
notwendigen Uberschu& an Selbstindigkeit, den ein noch so herabge-
stimmter Begriff des »Gestaltens« im Vergleich zu den Gliedern einer
Anniherungsreihe haben muf, die theoretische Wesensart der »objekti-
ven« Wirklichkeit getriibt: um den selbstindigen Gegenstindlichkeiten
des »Gestaltens« gegeniiber doch den Primat bewahren zu kénnen, mug
sie selbst ins Metaphysische, ins Uberseiend-Gegenstindliche, ins Ideen-
hafte, im Sinne einer platonischen Ideenwelt, erhoben und ihrer nur
geltenden Wesensart entkleidet werden. Diesem — platonischen — Dilemma
der asthetischen Sphire, das uns noch viel beschaftigen wird, kann auch
Fiedler nicht entgehen; so sehr sein Bemiihen darauf gerichtet ist, die
rein kiinstlerische Essenz der Kunst rein herauszuarbeiten, mu seine
Konstruktion ins Platonische umschlagen in allen Momenten, wo er ge-
zwungen ist tiber das Werk, als einzige Urform des asthetischen Geltens,
hinauszugehen. »Wenn nun das, was der Dichter schildert, was der bil-
dende Kiinstler darstellt, keinem Vorgange, keiner Erscheinung gleich
ist«, sagt er®® »... wo hat man den Mafstab, mit dem man den Kiinstler
messen kénnte? ... man mu an der Hand des Kiinstlers die driickende
und triibe Enge des eigenen Bewuftseins zu verlassen suchen, man muf
sein eigenes Bewuftsein.zu dem Weltbewuftsein erweitern und steigern,
welches in den grofen Werken der Dichter, in den Gebilden der Maler
und Bildhauer niedergelegt ist.«
Der Aufbau der asthetischen Sphire ist dementsprechend so zu denken:
als schlicht-originire Gegebenheit erscheint das einzelne und isolierte
Werk, dessen zugeordnete Subjektsbegriffe ebenfalls als auf sein singu-
lares Geradesosein gerichtete Subjektivitatsakte bedingt sind, in dessen
Aufbau sdmtliche Kategorien der eigentlich asthetischen Setzung enthalten
sind, die aber auch zu seinem Gesetztsein vollstandig ausreichen. Seine
Homogeneisierung des Erlebnisstromes — die Folge der Verwandlung des
seienden »ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit in den sinnhaften
Menschen »ganz« sub specie der Erlebniserfiillung — ist nicht blo& die
Homogeneisierung auf z.B. »reine Sichtbarkeit«, die dabei oder daneben
individuelle Wesenszeichen aufweist, sondern ist eine bestimmte, qualitativ
einzigartige und unvergleichliche »reine Sichtbarkeit«, der — so wie sie
an sich ist — die Vergleichbarkeit mit anderen »reinen Sichtbarkeiten«,
die zusammenfassende Zuordnung zu ihnen vollstandig fernliegt, so daf
diese Zuordnung nur unter der Bedingung des Verlassens dieser Geltungs-
weise iiberhaupt méglich wird. Und noch in viel schrofferer Weise be-
steht dieser Primat des schlicht asthetischen Wesens dem allgemeinen Be-
griff der Kunst gegeniiber; schon Fiedler hat ja klar erkannt, daf der
Kunstgattung — der Kunst iiberhaupt gegeniiber — der Primat an Wesens-
nihe zum Urfaktum der Asthetik zukommt, wenn er betont?s, da es
»nicht eine Kunst im allgemeinen, sondern nur Kiinste gibt«, nur da er
bei diesem, der Urschichtung zwar naherliegenden, dieser selbst gegeniiber
jedoch dennoch distanzierten Niveau stehen bleibt. Die scheinbare Para-
doxie, da die Integration eine Entfernung von der Urstruktur bedeutet
und des Hinzutretens neuer — erkenntnismafiger — Momente zum schlich-
22 Ebd. 178-9
23 Ebd. 184
80 Heidelberger Asthetik
ten Tatbestand der asthetischen Geltung bedarf, wird ganz klar, wenn
bedacht wird, da& jede Integrationsstufe die »unter« ihr liegende, die
der Singularitét naherstehende voraussetzt und nicht umgekehrt, wahrend
im Bereich der Theorie das sachliche Prius stets in der Richtung der Ent-
fernung von der Singularitit zu suchen ist. Um ein Geltungsniveau wie
die »reine Sichtbarkeit« setzen zu kénnen, miissen Kunstwerke in quali-
tativer Einzigartigkeit bereits gesetzt sein und ihre — qualitativ einzig-
artige, erlebnishafte - Geltung darf nicht aufgehoben werden, damit
aus ihnen das »Prinzip«, das ihnen »gemeinsam« ist, herausgehoben
werden kénne. Dieses »gemeinsame Prinzip« ist freilich keine blo&e Ab-
straktion, kein bloes heuristisches Prinzip zur »Erklarung« der »Wir-
kung« der einzelnen Werke: es bestimmt ein ganz eigenes Niveau der
Betrachtung der dsthetischen Struktur, es hat seine eigene, bestimmte,
von aller Empirie unabhingige Aprioritit (liber die spater ausfithrlich
gesprochen werden soll), aber es ist dem schlichten Gelten des Werks ge-
geniiber doch sekundar, abgeleitet und distanziert. Die Paradoxie dieses
Niveaus beruht darauf, daf dabei, um das Wesen der reinen Qualitat,
die in der asthetischen Setzung erscheint, zu erfassen, von allem Qualita-
tiven, das seinen methodischen »Ort« ja doch nur in der Einzigartigkeit
haben kann, abstrahiert werden muf, wodurch das so erfafte »Wesen«
sich von dem wirklichen Wesen der Geltung, das in der originiren Set-
zung in schlichter Selbstverstandlichkeit gegeben war, notwendig entfernt:
aus der Wesensauftassung der Kunsttheorie ist es unméglich adaquat zu
dem schlichten Wesen der asthetischen Geltung im Werke herabzusteigen,
dieser Auffassung gegeniiber verharrt es stets in einer unaufléslichen
Irrationalitat, bleibt — nach dem Wort der Kunstlehre des XVIII. Jahr-
hunderts - ein »je ne sais quoix, wahrend ihre Richtigkeit unabweislich
das — von ihr sachlich unabhingige — Gelten der einzelnen Kunstwerke
voraussetzt. Diese Struktur hat in der Theorie kein Analogon. Denn die
Unmiéglichkeit, etwa von einer formalen (oder auch transcendentalen)
Logik aus zu der »sachlichen« Richtigkeit oder Falschheit der einzelnen
Urteile zu gelangen, beruht auf einer vdllig verschiedenen Sachlage.
Erstens kann diese Unméglichkeit als blo anthropologische gefaft wer-
den, die fiir einen »erkenntnistheoretischen Gott« nicht vorhanden ist,
wihrend es hier um eine wesensnotwendige Unmidglichkeit, die auch fir
einen »dsthetischen Gott« vorhanden wire, handelt; zweitens weist diese
»Irrationalitit« der einzelnen Urteile auf die aus dem Bereich des Seins
stammende Urteilsmaterie, wo es doch in der Asthetik keine formfremde
Asthetische Setzung 81
Materie geben kann; drittens aber — und dies ist das Entscheidende — hat
trotz dieser »Irrationalitat« die »allgemeine« Sphare den sachlichen Pri-
mat: die Geltung jedes einzelnen Urteils setzt die Logik voraus, wahrend
die Geltung des einzelnen Kunstwerks — gerade qua Geltung — den in der
Kunsttheorie isolierten Prinzipien gegeniiber die Wesensprioritat hat. Mit
alledem soll freilich die in der Kunsttheorie (oder in der allgemeinen
Asthetik) erlangbare Erkenntnis keineswegs herabgesetzt, es sollte blo&
die Kluft, die jede Erkenntnis iiber asthetische Geltung von dieser selbst
trennt, klar herausgearbeitet werden. Heute erscheinen alle alten Kunst-
lehren, die ihre Erkenntnisse als »Regeln« des asthetischen Schaffens oder
Geniefens aufgefaft haben wollten, als anmafend oder komisch, es darf
aber nicht vergessen werden, da diese Komik nur dann begriindet ist,
wenn die Kluft zwischen asthetischer Erkenntnis und originarer astheti-
scher Geltung zur vollen Klarheit gebracht wurde. Denn ist in irgend-
einer kunsttheoretischer oder asthetischer Einsicht nur die Spur der Ver-
wischung dieser Kluft vorhanden, ist die Annahme nicht a limine abge-
wiesen, da& die Kategorien der Kunsttheorie oder Asthetik eine struk-
tive Prioritat vor den Aufbaukategorien des Werks selbst haben kénnen,
so bleibt dem Sinne nach, wenn auch uneingestanden und sogar verleug-
net, die alte, scheinbar iiberwundene Struktur bestehen: eine »objektive«
Wirklichkeit der Kunst diberhaupt (oder der Kunstgattung), deren Kate-
gorien fiir das einzelne Kunstwerk konstitutiv, seine Gegenstandlichkeit
als Kunstwerk bestimmend und nicht blo& methodologisch, d.h. auf das
Erkenntnisziel der Asthetik (oder Kunsttheorie), auf die Erkenntnis der
Kunst iiberhaupt (oder der Kunstgattung) orientiert sind.
Mit dieser Verlegung der konstitutiven Region der isthetischen Geltung
auf das Kunstwerk ist die zweite Frage dem Wesen nach auch beant-
wortet. Die Méglichkeit, ja die Notwendigkeit der Aufwerfung der Frage
nach dem quid juris der asthetischen Geltung soll selbstredend nicht ge-
leugnet werden, aber der wesentliche Unterschied in der Stellung des
Kunstwerks zur Asthetik im Vergleich zu der der Einzelwissenschaft zur
Erkenntnistheorie zeigt sich darin, da& hierbei keine neue — asthetische -
Formenwelt entstehen kann, wahrend die erkenntnistheoretische (und
phanomenologische) Fragestellung fiir die Theorie das Erlangen einer
ganz neuen — theoretischen — Formenwelt bedeutet, in der die theoretische
Gegenstindlichkeit in einer Reinheit und Wahrheit erscheint, die ihrer
Erscheinungsform nach dem Niveau der Seinserkenntnis mindestens eben-
biirtig ist. Mit anderen Worten: eine »Logik der Philosophie« bedeutet
82 Heidelberger Asthetik
eine Erweiterung der theoretischen Geltungssphiare iiber die blo®e Seins-
erkenntnis hinaus, bedeutet die Entstehung neuer theoretischer Struktur-
verhiltnisse, Kategorien usw., geht also ihrem sachlichen Wesen nach weit
iiber das Interesse, das in ihrer Ursprungsfrage niedergelegt ist, weit
tiber die »Selbstbesinnung« der Seinserkenntnis hinaus. Dagegen kann
die Asthetik prinzipiell niemals mehr als diese »Selbstbesinnung« re-
presentieren; ja selbst der Begriff dieser »Selbstbesinnung« bedarf der
einschrinkenden Korrektur, da sie die theoretische Reflexion iiber den
Tatbestand der dsthetischen Geltung bedeutet, da sie also nicht nur
keine neue asthetische Formenschicht hervorbringt, sondern ihrem Wesen
nach tiber das Originar-Asthetische hinausfiihren und in das Bereich der
Theorie hineinfiihren mu&. Daran wire noch an und fiir sich genommen
nichts Merkwiirdiges: ist ja die erkenntnistheoretische Reflexion der Me-
thode der Seinserkenntnis gegeniiber auch durchwegs heterogen, so daf
die hier aufgezeigte Diskrepanz des Schlicht-Asthetischen und der theore-
tischen Reflexion iiber das Wesen des Asthetischen nur eine Steigerung
der Heterogeneitat, nicht aber eine radikal verschiedene Struktur zu
zeigen scheint. Und doch ist hier eine durchaus prinzipielle und nicht
mehr graduelle Verschiedenheit vorhanden. Denn wenn auch jede er-
kenntnistheoretische Reflexion die problem-diesseitige Schlichtheit. einer
jeden Gegebenheit aufheben und sie zum Problem machen muf, so ge-
schieht dies in der Theorie auf dem gleichen Boden, so da& das Zum-Pro-
blem-werden nur eine Ubergangsstufe wird, die zur gelésten Problema-
tik, zur wahren Selbstbesinnung der theoretischen Attitiide fihrt, wah-
rend in der Asthetik’ das Problematisch-werden durch die notwendige
Transposition ins Heterogene der Theorie eine Problematik anzeigt, die
als Problematik — allerdings blo fiir die theoretische Transposition —
wesensnotwendig unaufhebbar bleibt. Das Problem selbst, um das es sich
hierbei handelt, kann an dieser Stelle nur angedeutet werden, seine Be-
handlung wird an vielen — man kénnte sagen: allen — Stellen der aus-
fiihrlichen Analyse der Geltungsstruktur der Asthetik wiederkehren.
Kurz gefa&t kann die Sachlage so formuliert werden: Das normativ
asthetische Verhalten ist ein reines Erlebnis. Das Erlebnis ist jedoch
seinem Begriffe nach ganz subjektsgebunden (wenn wir jetzt auch bereits
wissen, da® dieses Subjekt nichts Ichhaftes an sich haben darf) und ist
darum, ebenfalls per definitionem, fiir jedes Subjekt ein prinzipiell ver-
schiedenes und in dieser Verschiedenheit — gerade darin, worin es der
Norm der Asthetik entspricht, also reines Erlebnis ist - prinzipiell nicht
Asthetische Setzung 83
24 Kritik der Urteilskrafe § 34. [Werke. Hrsg. von E. Cassirer. Bd. V. S. 359:]
* (Ebd.)
84 Heidelberger Asthetik
jektives Prinzip dieser Art »schlechterdings unméglich« ist, »denn ich
muf unmittelbar an der Vorstellung desselben die Lust empfinden, und
sie kann mir durch keine Beweisgriinde angeschwatzt werdene, bedeutet
keinesfalls eine subjektivistische Willkiir und Anarchie in der asthetischen
Sphire. Und Kant sieht mit tiefem Instinkt das Problem in der Auf-
deckung der subjektiven Bedingungen, die ein solches Verhalten notwen-
dig begriinden, wenn er auch im Konkreten, wie spiter 2u zeigen sein
wird, doch stets einer Theoretisierung der asthetischen Sphire zutreibt.
Der Schein einer solchen subjektivistischen Willkiir, der durch das radikale
Verwerfen jedes Kriteriums der Giiltigkeit entsteht, hebt sich jedoch,
wenn bedacht wird, da das blo&e Erlebnis von etwas Seiendem und das
reine Erlebnis des gestaltgewordenen Erlebnissinnes nur von der Warte
der Theorie aus ununterscheidbar sind, sonst aber eine wesensnotwendige
Correlation zwischen den gestaltgewordenen Erlebnissen (Werk) und
zwischen dem reinen Erlebnis als auf es gerichteten Akt vorliegt, so da8
ein reines Erlebnis nur dem Werk gegeniiber méglich ist. Da& das Ver-
haltnis sich nicht umkehren lat, da& also dem Werk gegeniiber nicht nur
reine Erlebnisse méglich sind, folgt einerseits aus der Unerzwingbarkeit
der asthetischen Geltung, andererseits aus der Erlebnishaftigkeit des Ver-
haltens, aus dem daraus entstehenden »Incognito«, bedeutet aber fiir das
hier entscheidende Problem keine wesentliche Verwickelung. Denn das gel-
tende Wesen des Werks ist ein Gesetztsein als Erlebnissinn: wird es also
nicht im Akt des reinen Erlebnisses erfaft, so hért es in solchen Akten
eben auf ein geltendes Sinngebilde zu sein, es wird ins Sein riickverwan-
delt; das Bild wird etwa eine bemalte Leinwand, die als solche durchaus
dem Sein angehdrt, da darauf Dargestellte zum Sinnbild eines physisch
oder psychisch Existenten usw. All dies jedoch, da es ein villiges Heraus-
treten aus der asthetischen Sphire bedeutet, kann mit dem wirklichen
Problem von Willkiir oder Normgemafheit nichts zu tun haben; Riick-
verwandlungen der Sinngebilde ins Sein sind eben fiir jede Wertsphire
denkbar, wenn ihre Unterscheidbarkeit im Theoretischen freilich iiber
ganz klare Kriterien verfiigt. (In der Ethik sind die Verhiltnisse nicht
ganz unahnlich zu der hier Geschilderten; hierauf einzugehen ist aber
an dieser Stelle leider ganz unméglich.) Die vom Werk aus sich ergebende,
eindeutige und normgemafe Correlation zum reinen Erlebnis hat ein
villig eindeutiges und normgemifes Subjekt-Objekt-Verhiltnis zur Folge:
das reine Erlebnis ist ein Kriterium fiir das vollendete Gestaltetsein des
Werks, da es nur dem in sich vollkommenen Werk gegeniiber miglich
Asthetische Setzung 85
ist, da das Versagen der Gestaltung — und sei es in einem noch so »un-
wesentlichen« Punkte — notwendig das reine Erleben aufhebt und das
Sinnverhiltnis in eine Beziehung zum Seienden verwandelt; es ist nur im
Konkreten unméglich aufzuzeigen, wo dieses reine Erlebnis vorliegt. Und
die ebenfalls normative Divergenz der Erlebnisqualitaten in jedem dieser
normgemafen Akte hebt diese Eindeutigkeit keineswegs auf: die Ein-
deutigkeit dieser Akte besteht ja darin, daf in ihnen die Sinnhaftigkeit
des Erlebnisses als Erlebnis realisiert wird. Wenn auch also jeder dieser
Sinn in einer unvergleichlichen Qualitat verwirklicht wird, ist zwar dieser
Sinn niemals »derselbe«, wie in der Theorie (und teilweise auch in Ethik),
sondern normgemaf in jedem Fall verschieden, da der immanente Erleb-
nissinn wesensnotwendig als qualitative Unvergleichbarkeit auftreten
muf. Es ist aber ebenso wesensnotwendig an sein »Objekt«, an das Werk
gebunden, ist keineswegs willkiirlich, keineswegs vom Gefallen des »Sub-
jekts« (worunter hier immer etwas Ichhaftes gedacht zu werden pflegt)
»abhingig«: es ist die normative Funktion zweier vom (ichhaften) Sub-
jekt unabhingiger Sinnesstrukturen, einerseits des Werks wie es an sich
ist und andererseits der — ebenfalls sinnhaften — reinen Subjektivitit des
auf das Werk gerichteten, stilisierten Subjekts der Asthetik, des Menschen
»ganz« sub specie der bestimmten Erlebniserfiillung, die ihm im Werk
entgegengilt.
Der Niveau-unterschied im Bezug auf Reinheit der Geltung, die in der
theoretischen Sphire die neue Kategorienschicht der »Logik der Philo-
sophie« zur Voraussetzung hat, ist jedoch auch in der asthetischen Sphare
vorhanden und man kann mit einer gewissen Berechtigung die hier auf-
gezeigte normative Subjekt-Objekt-Struktur mit der Position der Seins-
erkenntnis vergleichen, nur daf die sich dariiber aufbauende Schicht, die
der »Selbstbesinnung« der Seinserkenntnis in der Erkenntnistheorie ent-
spricht, nicht die Asthetik als Erkenntnistheorie dieser Sphare, sondern
das Werk selbst, in seiner héheren, reineren und noch schlichteren asthe-
tischen Geltung ist: das Werk an sich, unabhingig von jederlei darauf
gerichtetem Verhalten, als absoluter Wert der asthetischen Sphire, als
Mafstab der Richtigkeit der darauf gerichteten Akte, fiir die es selbst
— dies ist das niedrigere Niveau seiner Geltung — nur als Gegenstand des
asthetischen Verhaltens gilt. Dies kénnte nun den Anschein erwecken, als
ob das so geforderte Werk an sich gerade das aufgegebene Objekt der als
Erkenntnistheorie gedachten Asthetik ware. Daf aber das asthetische
Werk an sich keineswegs mit dem Gegenstand der Asthetik identisch ist,
86 Heidelberger Asthetik
erhellt sich, wenn bedacht wird, da& die erlebnishafte Wesensart aus dem
Werk an sich nicht ausscheidbar ist, ohne es seines wahren Wesens zu
entkleiden, wie es dies fiir den Gegenstand der Asthetik als einer theore-
tischen Disciplin durchaus notwendig ist, da8 es vielmehr gerade darum
das reinste Niveau der dsthetischen Geltung vorzustellen befugt ist, weil
in ihm diese reine Erlebnishaftigkeit noch reiner und unverfalschter zum
Ausdruck kommt, als es in der Subjekt-Objekt-Beziehung des (geschaffe-
nen, beziehungsweise genossenen) Werkes méglich wire. Die Paradoxie,
eine reine Erlebnishaftigkeit ohne Subjekt zu denken, hebt sich bei der
Einsicht, da ja bereits die dem Werk zugeordneten Subjektivititen von
durchwegs sinnhafter Struktur sind, daf sie geradeso eine vollkommene
Entfernung von der ichhaften Subjektivitit der empirischen (oder meta-
physischen) Wirklichkeit bedeuten, wie der Desubjektivationsproze8 der
Theorie. Im Gegenteil: diese neue Erlebnishaftigkeit ohne Subjekt, das
Niveau des Werkes an sich, bedeutet gerade das Niveau der Selbstver-
wirklichung der ganz reingewordenen Subjektivitit, die nicht einmal mehr
eines »angemessenen« Objektes — was das Werk fiir die normativen Sub-
jektivititen ist — bedarf, um sich zu verwirklichen, um zur Gestalt zu
werden. Diese neue Subjektivitit ohne Objekt, die das Werk an sich
representiert, iiber die an anderer Stelle ausfiihrlich gesprochen werden
soll, der absolute Wert der Asthetik in seiner adiquaten Verwirklichung,
enthalt also die wirklichen, rein sinnhaften Kategorien der dsthetischen
Sphire, ist die »Selbstbesinnung«, die fiir die normativen Subjektsakte,
als hdheres und echteres Niveau von néten ist. Wenn es »uns« mdglich
wire, auf diesem Niveau des reinen Erlebens zu erleben, so wire das
Kriterium der Richtigkeit oder Falschheit der auf das Werk gerich-
teten Subjektsakte — asthetisch ~ durchzuschauen: die Angemessenheit an
diese reine Subjektivitét enthalt die — asthetische — Beantwortung der
quid juris Frage dieser Sphire. Daf dies — uns — unmidglich ist, andert
garnichts an der struktiven Sachlage, geradesowenig wie die Tatsache, da
»ungedachte« Wahrheiten ebenfalls unvorstellbar sind, deren wesensnot-
wendiges Gegebensein fiir die theoretische Sphire nicht alterieren kann.
Diese Unméglichkeit macht aber andererseits die Asthetik als theoretische
Strukturanalyse, als Erkenntnistheorie der asthetischen Sphare méglich
und notwendig. Die Asthetik gibt das Werk an sich in einer theoretischen
Transposition und macht daraus, was es in schlichter Selbstverstindlich-
keit representiert, die paradoxen Strukturbeziehungen eines blo& denk-
baren Sinngebildes. Daraus folgt, da& die Asthetik keine neue asthetische
Asthetische Setzung 87
chologie und der Metaphysik, von der Lésung gerade dieses Problems
ihrem Wesen nach ausscheiden miissen. Ob und wiefern »dsthetische Ge-
genstinde« doch zum Gegenstand einer Metaphysik des Schénen oder der
Kunst erhoben werden kénnen, dariiber kann hiermit natiirlich nichts
ausgesagt werden, soll aber auch nicht, da die Beantwortung dieser Frage
- sowohl in bejahendem wie verneinendem Sinn — nichts mit diesem
Problem zu tun haben kann.
go
* [Siehe das zweite Kapitel von Lukdcs: Friihe Schriften zur Asthetik I.
Heidelberger Philosophie der Kunst (1912-1914), Werke Bd. 16, Darm-
stadt 1974, S. 43-150 und das Nachwort in diesem Band, S. 253 ff.
(263—267).]
or
lichen wahren Aussagen ist. Diese Unendlichkeit des Objekts hat also letzten
Endes sowohl die Tendenz zur Aufhebung der Subjektivitét wie die Ver-
wandlung des realen theoretischen Verhaltens in einen unendlichen und un-
vollendbaren Proze& zur Folge. Denn einem derart aufgebauten Objekt
kann weder ein — wie immer geartetes, aber doch endliches — Subjekt
koordiniert gegeniiberstehen, noch kann ein so entstehendes Subjekt-Objekt-
Verhaltnis mehr als eine Etappe, ein Annaherungsschritt im unendlichen
Prozef§ sein, also niemals etwas Feststehendes und Endgiiltiges. Dem unend-
lichen Objekt des Theoretischen muf notwendigerweise ein rein konstruiertes
Subjekt entsprechen; und sein Reinheitsgrad, der durch die Reinheit der
Konstruktion, mithin durch die absolute Abtrennung vom realen Subjekt
erreicht wird, bezeichnet die Stufe der geleisteten Erkenntnis; seine Voll-
endung ist in der Wirklichkeit unerreichbar, als Ziel und Grenzbegriff je-
doch nicht nur konstruierbar, sondern das notwendige Ideal, der einzig még-
liche Mafstab dieser Sphare. Deshalb zeigt es sich auch ohne Ausnahme, daf,
wenn im theoretischen Verhalten eine wirkliche Subjekt-Objekt-Beziehung
angenommen und infolgedessen der Weg der reinen Konstruktion verlassen
wurde, dadurch der rein theoretische Charakter des Verhaltens transcendiert
werden muSte: sein objektiver Sinn erhielt einen metaphysischen Accent,
und das Verhalten selbst verwandelte sich, vom Standpunkt des Subjekts
aus gesehen, in ein ethisches oder ethisch-religidses (z.B. die Sewpia des
Aristoteles als Gegenstand der dianoetischen Moral). Noch evidenter liegt
die Unmoglichkeit einer Subjekt-Objekt-Beziehung fiir die reine Ethik in
ihrem Unendlichkeitsbegriff begriindet. Durch die Ausschaltung des Pro-
blems von der Folge der ethischen Tat, soweit diese nicht in direkter Be-
ziehung zum Zweck und zur Gesinnung steht, kommt die Objektswelt
der seienden Gegenstande fiir diese Sphare iiberhaupt nicht in Frage. Die
Sphiare selbst baut sich aus einer unendlichen Reihe isolierter, stets von
neuem — vom Urbeginn gewissermafen — einsetzender Einzelhandlungen
auf, wo das Subjekt bei jeder Gelegenheit zur Tat die ethische Maxime
von neuem in seinen Willen aufnehmen muf und wo fiir die Beurtei-
lung des Realisiert- oder Nichtrealisiertseins der ethischen Norm nur die
Gesinnung bei dieser einen Tat, als ob sie die erste und einzige ware,
in Betracht kommt. Der Unendlichkeitsbegriff tritt in sein Recht durch
den Abstand, der diese Tat notwendigerweise vom ethischen Ideal trennt;
der es nicht gestattet, da& das in der ethischen Tat zur Persénlichkeit
werdende Subjekt dies sein Subjekt-sein zur Substanz gerinnen lasse, da8
es sich wegen der so entstehenden normativen Verbundenheit mit dem abso-
96 Heidelberger Asthetik
luten Wert zum intelligibelen Sein, zur »Seele« substanziiere und sich in
einer so entstandenen Welt »besitze«. Mit jeder Lockerung oder Verdichtung
dieser normativ-prozefartigen Atomisiertheit der Sphare — wo ein »Sein«
der »Seele« nur als Ideale, und die Totalitat der Ziele und der auf sie gerich-
teten anderen Subjekte nur teils als Ideal, teils als Bedingung des Handelns
vorkommen darf — ist die Ethik transcendiert, zur Metaphysik des Prak-
tischen geworden, wodurch selbstverstandlich ihr rein praktischer Charakter
sogleich vernichtet und zum Metaphysisch-Kontemplativen (oder quasi Kon-
templativen) verwandelt wird: Denn das rein ethische Subjekt ist ein uto-
pisch-postulatives, dessen Realisierung es selbst und mit ihm die ganze
Sphire aufheben wiirde, deren Aufbau so sehr von dieser Unrealisierbarkeit
abhingt, da selbst der Abstand von Gesinnung und Erreichen mehr die
Folge als der Grund dieser Konstellation zu sein scheint: der heilige Wille
ist in einem ganz anderen Sinn Grenzbegriff der Ethik, als das Bewuftsein
iiberhaupt der der Logik: dies liegt innerhalb der Sphare, jener auSer-
halb ihres Bereichs; dieses kann zwar nicht realisiert werden, sein Als-reali-
siert-gedacht-werden, ja die Konstruktion seiner Realisierung ist aber fiir die
Erkenntnis der immanenten Sphirenstruktur von héchster und fruchtbarster
Bedeutung, jener kann in der Sphare selbst nur negativ, nur als Maf des
Abstandes vorkommen, als realisiert gedacht, positiv und konkret geworden,
fordert er eine radikal anders gestaltete Umwelt. Das Wesen der ethischen
Sphare kann durch die doppelseitige Negativitat, die das reine, ununter-
brochene und doch stets von neuem ansetzende, unendliche Handeln des
ethischen Subjekts als Beweger und Substrat umgibt, am besten umschrieben
werden: durch das negative Werten der Neigungen und durch das negative
Erfassen des Wesens, des Ideals. Das Postulativ-Schwebende des Subjekts
entsteht so aus den entgegengesetzten Richtungen und Qualitaten der beiden
Negativitaten, die sich beide auf das Subjekt selbst beziehen: aus dem Ver-
neinen-miissen der eigenen Kreatiirlichkeit einerseits und aus dem Nicht-
aussprechen- und Nicht-besitzen-kénnen des eigenen, bewegenden Wesens
andererseits.
Das asthetische Gegeniiberstehen von Subjekt und Objekt (wobei wir — vor-
laufig — schdpferisches und receptives Verhalten einheitlich behandeln wol-
len) scheint keine derartige, abgrundschaffende Unendlichkeit zu kennen und
scheint sich deshalb dem »natiirlichen« Verhalten des Menschen seinen »er-
lebten« Gegenstinden gegeniiber zu nahern. Daf dies ein bloSer Schein ist,
wissen wir bereits, wir miissen jedoch, um durch den Umweg der Analyse
der Subjekt-Objekt-Beziehung zur richtigen Erkenntnis des Objekts selbst
Subjekt-Objekt-Beziehung 97
3 Die immer wiederkehrenden kritischen Hinweise auf Kant sind von der Anschavung
bestimmt, da8 die »Kritik der Urteilskrafte den Keim zur Lisung jedes Problems der
Struktur der asthetischen Sphare enthilt; daB also die Asthetik nur das dort implicite
Vorhandene klarmachen und zu Ende denken mu. Darum ist die Auseinandersetzung
mit diesem Buch von so entscheidender methodischer Bedeutung.
4 [Kritik der Urteilskrafe, § 7. Werke. Hrsg. von E. Cassirer. Berlin, Cassirer. r9z4.
Bd. 5. S. 282.)
Subjekt-Objekt-Beziehung 99
das Gelten des asthetischen Wertes fiir den anderen fordern muf, obwohl
dieser Wert, seinem subjektiven, keine Objektsbeschaffenheit treffenden
Wesen nach, keiner objektiven Begriindung fahig ist. Hierbei bleibt nicht
blo& der asthetisch durchaus secunda’re Charakter dieser Forderung aufer
acht, sondern die Eigenart des Verhaltens selbst wird verdeckt: die Merk-
wiirdigkeit, da& das asthetische Objekt von seinem zugeordneten Subjekt
diese Art seines Anerkennens, das reine Erlebnis fordert. Sonst kann das
Subjekt kein asthetisches werden, da das »kiinstlerisch<« noch so »richtige«
Urteil iiber ein Kunstwerk ebensowenig eine asthetische Subjekt-Objekt-Be-
ziehung begriinden kann, wie eine »richtige« aber theoretische Aussage iiber
eine — eigene oder fremde — Handlung oder Gesinnung ein ethisches Ver-
halten.
Das normative Erlebnis, worin das Werk als Realisation des Asthetischen
Wertes geschaffen, beziehungsweise als solches aufgenommen wird, ist ein
Gerichtetsein des Subjekts auf eine den immanenten Erlebnisanforderungen
vollendet angemessene Welt, die ihm in seinem normativ zugeordneten Ob-
jekt, im Werk entgegengilt; um dessen Gelten in sich zu verwirklichen, das
Subjekt in sich alles zur héchsten Intensitat zu treiben hat, was in der
Richtung dieser gesteigerten und rein gewordenen Erlebnisintensitat liegt,
und alles von sich fernhalten, in Nichtexistenz, ja Undenkbarkeit versinken
lassen soll, was diesem homogenen Strom nicht angehért oder gar seinen
Lauf hemmen kénnte. Trotzdem — oder gerade darum — liegt der Soll-
Accent des Wertes auf der Reinheit des Erlebnisses als Erlebnis, auf seinem
Nicht-Transcendieren der Erlebnishaftigkeit und als Folge dessen auf dem
wahrhaften Subjektscharakter des normativ erlebenden Subjekts. Die Ver-
wandlung, die das Gerichtetsein auf den Asthetischen Wert im Subjekt
vollzieht, ist also eine ihre Subjektivitat, bewahrende, eine nur innerhalb
der Subjektsimmanenz neue Ballungen und Ordnungen schaffende, eine —
vom Gesichtspunkt des Subjekts aus betrachtet — materialechte Verwand-
lung: sie macht aus dem natiirlichen Subjekt ein stilisiertes, das im Gegen-
satz zum konstruierten Subjekt der Logik und zum postulativen der Ethik
eine lebendige, die Totalitat der Menschlichkeit umfassende Einheit der in-
haltlichen Fiille der Erlebnisse ist. In der Phanomenologie wurde der lange
und an Abgriinden reiche Weg, der von der scheinbaren Erlebnistotalitit im
»ganzen Menschen« der Erlebniswirklichkeit zu dieser wahrhaft erfiillten
Totalitat im dsthetischen Subjekt fihrt, ausfiihrlich dargestellt. Der neue
Mensch, der als normatives Subjekt der Asthetik, als Genie beziehungsweise
reiner Receptive am Ende dieses Ganges erreicht wird, kann im Gegensatz
100 Heidelberger Asthetik
zum »ganzen Menschene der Erlebniswirklichkeit als der Mensch »ganze
— in bezug auf eine bestimmte, bestimmten Erlebnisméglichkeiten a priori
entsprechende Erfiillungstotalitat — bezeichnet werden. Der Mensch »ganz«
bedeutet dann eine Reduktion der Erlebnisméglichkeiten des Menschen auf
ganz bestimmte und in dieser Bestimmtheit homogen gewordene innere
Organe der Aufnahme der Welt (die freilich weder Sinnesorgane, noch gar
»Seelenvermigene sind), durch welche Reduktion eine in bezug auf diese
Organe aufgebaute, innerlich zur Totalitit gefiigte Welt in seinem Erlebnis
erfiillt aufleben kann. Dieser Mensch ist also Subjekt, Individuum, Persin-
lichkeit, Mensch im eigentlichsten Sinne des Wortes, denn es kann in diesem
seinem Subjekt-sein schlechterdings garnichts auftauchen, was seinem reinen
Erlebnisvermégen irgendwie transcendent wire, ja fiir alle Gegenstindlich-
keit, die sich ihm hier darbietet, ist die reine Erlebbarkeit die einzige und
absolute konstitutive Kategorie. Aber dieses Subjekt-sein ist ihm dennoch
nicht gegeben, sondern aufgegeben, wenn auch in einer Weise, die die Erfiil-
lung nicht nur zula&t, sondern erfordert. Die Erfiillung besteht darin, da&
die Reduktion zum Vehikel der Totalitat, da& die Verengerung der Sub-
jektivitat durch das homogen-einseitige Gerichtetsein auf ein nur durch
diese Einseitigkeit méglich gewordenes Objekt zur alles umfassenden Abge-
schlossenheit werde: zu einem Mikrokosmos, dessen kosmischer Charakter
— wie bereits gezeigt wurde — sich darin offenbart, daf alles, was von seinen
konstitutiven Prinzipien aus méglich ist, in ihm zur Wirklichkeit reift, da&
die Kategorien »mogliche, »wirkliche und »notwendig« in ihm den Sinn
ihrer Unterscheidbarkeit durch vollendetes Identischwerden verlieren.
Das Subjekt erreicht also diese seine hdchstmégliche Subjektivitat (aller-
dings sub specie einer bestimmten Form) in seiner Bezogenheit auf ein
ihm absolut angemessenes Objekt. Es kénnte hier jedoch die fiir das Fol-
gende nicht unwesentliche Frage auftauchen, ob zur Realisierung dieser
Subjektivitat ein derart zugeordnetes Objekt unbedingt notwendig sei;
ob es nicht durch eine ganz autonome, selbstherrliche Produktivitat des
Subjekts aus sich heraus und in sich hinein mediatisiert oder zur gelegent-
lichen, im héchsten Sinne zufalligen, wenn auch eventuell empirisch giin-
stigsten Veranlassung dieser Selbstrealisation herabgesetzt werden kénnte.
Auch diese Frage wurde bereits in der Phinomenologie aufgeworfen und
verneinend beantwortet. Das hier entscheidende Motiv aus diesem viel-
faltig verschlungenen Kniuel von Griinden ist die Einsicht, da die auf-
gegebene, mit dem »ganzen Menschen« durchaus nicht identische, reine
Subjektivitat auf sich selbst gerichtet sich nur im inneren Handeln auSern
Subjekt-Objekt-Beziehung 101
Gestalt gleichsam spielt, nur eingeschrinkt werden *«. Sobald jedoch von
der Gegenstindlichkeit nicht abgesehen, sie vielmehr in das asthetische Er-
leben einbezogen wird (anhingende Schinheit, pulchritudo adhaerens), soll
ein »Ideal der Schénheit« gesucht werden; »da muf irgend eine Idee der
Vernunft nach bestimmten Begriffen zum Grunde liegen, die a priori
den Zweck bestimmet, worauf die innere Miéglichkeit des Gegenstandes
beruhet’.« Diese Aufhebung der Isolation des asthetischen Gegenstandes
und seine Einfiigung in einen zusammenhingenden Kosmos, dessen ethi-
sche Tendenz in der Lehre von der Erhabenheit noch klarer zutage tritt,
beruht auf der Zwischenstellung, die Kant dem dsthetischen Erleben, dem
Akt der Interesselosigkeit als Zwischenstufe zwischen dem sinnlichen
Interesse der Erlebniswirklichkeit und dem sittlichen Interesse der ethi-
schen Sphire zuweist. »Das Schéne bereitet uns vor, etwas, selbst die
Natur, ohne Interesse zu lieben; das Erhabene, es, selbst wider unser
(sinnliches) Interesse, hochzusch’atzen®.« Die Schénheit und der sie her-
vorbringende Akt der Interesselosigkeit sind also eine Art Ausruhen der
Seele auf dem Wege zu ihrer eigentlichen Heimat, zur Sittlichkeit: eine
Abkehr von den Interessen des sinnlichen Lebens und ein Noch-nicht-
zugewendet-sein dem Interesse an dem Guten. Wegen dieser schwanken-
den und innerlichst unselbstindigen Wesensart des entscheidenden Aktes,
vermag die Interesselosigkeit die Gegenstinde, auf die sie sich richtet, nicht
im geforderten Sinn der Asthetik zu isolieren, ihnen keine eigene Gegen-
standlichkeit zu verleihen: die Gegenstinde sind reflexive, sofern die In-
tention sich auf die Natur richtet, aus deren Zusammenhang sie nicht
ginzlich herausgehoben, sondern nur — in der »subjektiven Betrachtung« —
auf das erlebende Subjekt bezogen werden, wobei sie entweder ihre
Gegenstandlichkeit verlieren oder durch ihre Gegenstandlichkeit ihre rein-
asthetische Wesensart transcendieren; sofern die Intention auf Vernunft-
ideen, als Gegenstinde der Ethik, gerichtet ist, im Erlebnis des Erhabenen,
so ist »das Wohlgefallen ... auch nur negative®, der asthetisch gesetzte Ge-
genstand ist noch mehr blo®e Veranlassung zum Transcendieren, seine
Isolation, wenn eine solche iiberhaupt vorhanden ist, nur ein Sprungbrett
6 [Ebda]
7 [Ebda. § 17. S. 303.]
8 [Ebda, S. 340.)
9 [Ebda, S. 341.)
106 Heidelberger Asthetik
to [Logische Untersuchungen. 2. Aufl. Halle, Niemeyer, x913, II. Band, I. Teil. S. 235.)
Subjekt-Objekt-Beziehung 107
scheidend ist, da8 sie sich auf einen als einzigen gesetzten Gegenstand rich-
tet. Die homogene Reduktion auf das dem intendierten Objekt zugewandte
Organ laft vor allem die ganze »Wirklichkeit«, die sich darauf nicht be-
ziehen aft, ins Nichtsein versinken; und dieses als Nichtseiend-setzen mu
in ganz radikaler, wértlicher Bedeutung verstanden werden, es ist viel mehr
als ein »In-Klammern-setzen« im Sinne Husserls, Dadurch ist aber bereits
die gegenstandliche Struktur der »natiirlichen« oder der theoretischen »Wirk-
lichkeit« véllig zerstért, da das Auswahl-Prinzip dieser Reduktion jeder
wie immer gearteten Gegenstandlichkeit gegeniiber vollig indifferent ist.
Und die iibriggebliebene, homogen gewordene Erlebnismasse wird fiir die
nunmehr in Wirksamkeit tretenden bauenden Krafte zum »Material«, d. h.
zum Gestaltungssubstrat, dessen eigene Wesensart nur insofern in Betracht
kommt, als es dem formenden Willen, der am Werke ist, gema& werden
kann. Das besagt vor allem, was bereits von Fiedler nachdriicklichst hervor-
gehoben und dessen Bedeutung auch in der Phanomenologie betont wurde,
da das asthetische Verhalten an sich, als homogene Reduktion, als »Bereit-
schaft«, nur negative Méglichkeit und blo&e Bedingung, aber nicht hervor-
bringender Grund der dsthetischen Subjekt-Objekt-Beziehung zu sein im-
stande ist: da& durch die homogene Reduktion nur das Zerfallen der »natiir-
lichen Wirklichkeit«, nicht aber ohne weiteres die asthetische Objektsbil-
dung geleistet wird. Dies wird durch die Art der Setzung des dsthetischen
Gegenstandes als isolierten, auSer jedem »Zusammenhange oder »Medium«
stehenden verstandlich, wobei zugleich die Eigenart dieser Setzung im Gegen-
satz zu den entsprechenden theoretischen und ethischen Akten klarer erhelt
wird. Wo die Gegenstande, wie im Theoretischen, in einem »Mediume, in
einer »Sphare« stehen, ist der Akt, der der asthetischen Bereitschaft ent-
spricht, ein Sich-hineinbegeben in diese Sphare, ein wenn auch noch so un-
bestimmtes »Meinen« von irgendetwas, was in dieser Sphire als auffindbar
angenommen werden muf; das eigentliche Theoretisch-werden des Aktes ist
also nur ein immanentes Zuendefiihren dieser Ausgangsbewegung, nur ein
Klarer-, Reiner- und BewuSterwerden alles dessen, was im urspriinglichen
Akt intendiert war; das Entscheidende, das Sich-hineinbegeben in die
»Sphiree, ist ja bereits getan. Und im urspriinglichen Akt des Ethischen
sind die beiden Subjekte durch die ethische Setzung selbst zustande gekom-
men; der »Sprung« liegt hier — geradeso, nur deutlicher sichtbar wie im
Theoretischen — vor dem Eintritt in das Wertgebiet: das Eintreten selbst ist
der Sprung. Im Asthetischen dagegen geht die Intention der Bereitschaft auf
einen auBer jeden Zusammenhang, Medium oder Sphire gesetzten, isolierten
108 Heidelberger Asthetik
und unvergleichbaren Gegenstand; er muf also entweder fertig und in abge-
schlossener Vollendung gegeben sein, damit die Bereitschaft, sich ihm hin-
gebend, ihre Erfiillung in dieser Hingegebenheit finde, oder er mu von
dem Subjekt geschaffen werden.
Der Schaffensprozef erscheint in dieser Beleuchtung als ein merkwiirdiges
Ineinander von Aktivitét und Kontemplation, als eine Aktivitit, deren
Tendenz darauf ausgeht, eine ihr subjektiv-metasubjektiv aufgegebene Ob-
jektswelt fiir die Kontemplation (die Vision) als aufer ihr seiende, wirk-
liche, in sich abgeschlossene Totalitat (Werk) aus sich herauszustellen. Das
Gerichtetsein dieses Aktes geht immer auf ein vollstindig isoliertes Objekt.
Der Schaffende ist, gerade im metapsychologischen Sinn, dem Sinne seiner
Intention gemaf, stets nur der Schépfer eines Werkes, das seinen Werk-
charakter fiir ihn dadurch erhilt, da es sich ihm, in der Vision, als ver-
selbstandigte Welt der zu Erlebniserfiillungen gedichteten Formbeziehungen
darbietet; dessen objektives Gelten als Werk — der Sinn der schépferischen
Leistung — das entscheidende Kriterium in diesem Aufsichgestelltsein besitzt.
Auch der Receptive vermag nur dann in seinem Erlebnis das asthetische Ver-
halten zu realisieren, wenn er seinem Objekt als einzig méglichem oder —
besser gesagt — als einzig gesetztem, als einzig wirklichem gegeniibersteht;
taucht nur der Gedanke der Méglichkeit eines anderen Objekts auf, was
notwendigerweise geschehen muf, wenn die Méglichkeit eines Zusammen-
hanges, in dem dieser Gegenstand steht oder in den er eingefiigt werden
kann, zugegeben ist, so ist die Erlebnisimmanenz verlassen: es entsteht die
Uberleitung entweder in einen anderen Erlebnisstrom, der selbst wieder
immanent oder transcendierend sein kann, oder in ein erkennendes usw.
Verhalten; das Verhalten geht entweder in die Erlebniswirklichkeit zuriick
oder in eine andere Wertsphare hiniiber. In diesen Fallen ist die Gegen-
standlichkeit der »natiirlichen Wirklichkeit« (oder die eventuell stillschwei-
gend mitgesetzte ethische, logische usw. Gegenstandlichkeit) bestenfalls »in
Klammern« gesetzt; die Erfiillungstendenz einer derartigen, nicht auf ein
einziges und fertiges Objekt gerichteten blofen Bereitschaft — Kants Inter-
esselosigkeit etwa — kann entweder auf gar keinen Gegenstand auftreffen
und muf deshalb ins Leere hinauslaufen, oder sie ist gezwungen, die anders
gearteten gegenstandlichen Formungen — in unklarer Weise — wieder einzu-
setzen und die derart herbeigeschaffenen Objekte mit »subjektiven«, als
asthetisch gemeinten, Zutaten versehen. Diese Gegenstandlichkeit ist also
eine reflexive, oder eine Mischung von Gegenstandlichkeiten verschiedener
Spharen, die immer einen metaphysischen Accent haben mu. Die hier ge-
Subjekt-Objekt-Beziehung 109
forderte Immanenz ist aber so stark, da ihr nicht einmal ein polemischer
Accent zu der »ausgeschlossenen« Wirklichkeit zukommt. Wahrend in reli-
gidsen Erlebnissen die Qualitat der Héherwertigkeit der erlebten religidsen,
mystischen usw. Wirklichkeit, im Vergleich zur gewohnlichen, zum Sinn des
Erlebnisses selbst gehért, liegt dies dem Wesen des asthetischen Erlebens
durchaus fern, muff ihm fernliegen, da jeder wertbetonende Vergleich das
asthetische Objekt mit dem verglichenen in Beziehung setzen und dadurch
seine Abgeschlossenheit vernichten wiirde. (Daf das sogenannte »Natur«-
Erlebnis des Kiinstlers — mit den psychologisch wie phinomenologisch wich-
tigen Accenten der »hdheren« oder »tieferen« Stellung der »Natur« im
Gegensatz zur Kunst — die Immanenz des schépferischen Verhaltens nicht
aufhebt, wurde in der Phanomenologie gezeigt. Receptiv wiirde es die Zer-
strung des Asthetischen Verhaltens bedeuten, weil das receptive »Natur«-
Erlebnis keine Intention auf das Werk haben kann und durch Anlegen eines
fremden Mafstabes an das Werk nicht nur eine transcendierende Bewegung
in das Verhalten hineinbringen, sondern es zugleich theoretisieren wiirde.
Die eigentiimlichen Gegenstandsstrukturen, die sich fiir solche Verhaltun-
gen — besonders fiir die Receptivitat des Kiinstlers fremden Werken gegen-
iiber — ergeben, sollen in der nachkonstruktiven Psychologie untersucht
werden.)
Mit alledem ist die Selbstindigkeit des Werks nur negativ erkannt, nur
sein Herausgehobensein aus der Wirklichkeit, gewissermafen nur seine
Qualitit als »Umrahmtes«. Wesentlicher als diese Loslésung von aller
»Umwelt« ist die innere Struktur, die das asthetische Objekt als positive
Seite dieser Sachlage erhilt: der Mikrokosmos-Charakter des Kunstwerks.
Denn die Forderung, die die Erlebnisimmanenz an ihr erfiillendes Objekt
stellt, setzt zwar als negative Vorbedingung seine Isoliertheit voraus, denn
nur wo nichts daneben und dariiber gesetzt ist, kann das Erleben iiber
den so eingestellten Gegenstand nicht hinausgehen, aber die positive Er-
fillungsméglichkeit mu in der inneren Struktur des Gegenstandes selbst
begriindet sein: die Immanenz des Erlebens soll nicht die Folge des bloSen
Nichthinausgehenkénnens, sondern zugleich und wesentlicher des Nicht-
hinausgehenwollens sein; ihre Notwendigkeit, um den Charakter des
Erlebnisses als normatives Erlebnis zu rechtfertigen, ist eine innere, onto-
logische, aus dem Wesen der Subjekt-Objekt-Beziehung folgende, die
nichts Auferes an sich haben kann. Der Ausdruck Mikrokosmos wurde
oft und mit Recht auf das Kunstwerk angewandt, seinem Sinn haftet
jedoch eine Zweideutigkeit an, die von der Abstammung dieses Begriffes
110 Heidelberger Asthetik
aus der mystischen Naturphilosophie bedingt ist und die beseitigt werden
muf, um das wahrhaft Charakteristische der Bezeichnung klar hervor-
treten zu lassen, Wenn das Kunstwerk ein Mikrokosmos genannt wird,
so ist damit sein Kosmos-Charakter gemeint: da es eine in sich abge-
schlossene, vollendete und selbstgeniigsame Totalitat ist, die diese imma-
nente Selbstabrundung ihren rein von innen gesetzten Grenzen verdankt;
Grenzen, die nichts Schrankenhaftes an sich haben, da sie nichts weiter
bedeuten sollen als Bezeichnungen fiir das Maximum an innerer Erfiillt-
heit und innerem Sich-aus-leben, die in dieser Welt a priori méglich waren
und wirklich geworden sind. Diese Grenzen bezeichnen also nicht die Linie,
wo ein Anderssein beginnt oder beginnen kann, sondern leiten vielmehr zu den
immanenten, aus der Idee des Werkes sich ergebenden und von ihr aus not-
wendigen Héhepunkten und Ausklingungen und von diesen in das Zentrum
ihrer Welt zuriick. Eine Welt, der gegeniiber eine Abgrenzung nétig wire,
gibt es gar nicht: das ist der Sinn dieser Grenzen, darum sind sie wahrhaft
immanente Grenzen, Grenzen, die einem Kosmos zukommen. Daf das
Werk Mikrokosmos genannt wird, stammt aus einer villig anderen Dimen-
sion seiner Betrachtung: aus dem Vergleich der Werkidee mit der Idee des
Universums, wobei jedoch nur der abstrakte Formcharakter des Werks zum
Vergleich herangezogen werden kann; die Parallelitat, die die Gegeniiber-
stellung von Makrokosmos und Mikrokosmos ergibt, bezieht sich also blo&
auf die beiden Formstrukturen, und der Kontrast von grof und klein ist
cher geeignet die qualitative Unvergleichbarkeit quantitativ zu verdecken,
zur Vergleichbarkeit zu homogeneisieren, als den wahren Unterschied her-
vorzuheben. Die Mikrokosmosidee der Naturphilosophie ist hingegen gerade
auf dem Gedanken der inneren Gleichartigkeit von Makro- und Mikrokos-
mos begriindet: sie ist eine Vernunftidee; ihre Aufgabe ist die innere We-
sensgleichheit beider Komplexe zur vertieften und verbreiterten Erkenntnis
beider zu gebrauchen. Die naturphilosophische Mikrokosmosidee hat die
Homogeneitit des Universums zur Voraussetzung, ist doch eine ihrer ent-
scheidenden Funktionen, die Trennung der sublunaren und superlunaren
Wirklichkeit zu beseitigen, dieselben Prinzipien des Aufbaus und der Dyna-
mik iiberall zu entdecken und zum Bewuftsein zu bringen. Daf dadurch der
Kosmoscharakter von einem der beiden aufgehoben werden muf, ist selbst-
verstandlich; es wird von der letzten Position der betreffenden Metaphysik
abhangen, welchem sie die Prioritat und damit das wahre Kosmos-sein zu-
spricht. Der andere »Kosmos« ist es nur im uneigentlichen Sinne, nur alle-
gorisch; er ist es nur insofern, als in ihm alle Prinzipien des anderen sich
Subjekt-Objekt-Beziebung 11
wiederholen oder abspiegeln, insofern er ein Abbild des wirklichen Kosmos
ist. Der Mikrokosmos-Charakter des Kunstwerks — auf dem philosophischen
Niveau der Vergleichbarkeit mit dem Universum gedacht, also bereits meta-
asthetisch — ist dagegen symbolisch und formell, nicht allegorisch und inhalt-
lich; es ist ein Mikrokosmos, weil es ebenfalls ein Kosmos ist, weil die For-
men, die es konstituieren, ihm ebenfalls eine Absolutheit, eine innere Voll-
endung und eine immanente Erfiillung aller setzbaren Moglichkeiten verlei-
hen. Es kann aber nur deshalb ein Mikrokosmos sein, weil es — aufer dieser
ganz abstrakt-formellen Gleichartigkeit — mit dem Universum nichts Ge-
meinsames hat. Nicht nur da die Autarkie seiner bauenden Formen ihm
jede Ubernahme irgendeines »gemeinsamen Inhaltes« — der um »gemein-
same sein zu kdnnen als bereits geformt iibernommen werden miifte — ver-
bietet, sondern die Formen selbst kénnen mit denen des Universums aufer
der abstrakten Idee der Absolutheit nichts Gemeinsames haben, ja sie miis-
sen, um etwas gleich Absolutes im véllig Heterogenen verwirklichen zu kén-
nen, von diesen radikal verschieden und in ihrer konkret-formellen Wesens-
art mit ihnen villig unvergleichbar sein.
Die positive Seite dieser Unvergleichbarkeit des Werks driickt sich in seinem
absoluten Aufsichgestelltsein aus. Dies bedeutet fiir den begrifflichen Aus-
druck seiner Wesensart grofe Schwierigkeiten, denn jede Bestimmung, aus
der ein Accent des Einfiigens in einen Zusammenhang wohl niemals ganz
auszumerzen sein wird, kann leicht eine Logisierung bedeuten. Selbst die
Paradoxie des Werks, seine Bezeichnung als das wirklich gewordene Un-
wahrscheinliche, ja Unmiégliche, als das Wunder schlechthin, hat einen sol-
chen Beigeschmack des Vergleichs: rein asthetisch gesprochen hat dieses
»Wunder« ein schlichtes und selbstverstandliches, unbewegt in sich ruhendes
Sein. Dazu kommt noch, daf dieses so extrem isolierte zentrale Objekt der
Asthetik von den zugeordneten Subjektsverhaltungen scheinbar doch weni-
ger abldsbar ist, als das entsprechende, weniger isolierte theoretische Sinn-
gebilde. Ein Satz an sich etwa ist unentstanden, d. h. in seinem normge-
mafen Gelten niemals von einem Subjektsakt »hervorgebracht«, wahrend
selbst dem »Werk an sich« ein Schdpfer normativ zugeordnet ist; geradeso
verharrt der Satz an sich in einer vélligen Gleichgiiltigkeit gegeniiber dem
Gedachtwerden, ja sogar gegeniiber dem Gedachtwerdenkénnen, wihrend
die Wirkungsméglichkeit mit der Idee des Werkes mitgesetzt ist. Dennoch
ist die Objektivitat des asthetischen Gegenstandes eine absolute, denn die
unzerreif{bare Bindung an die Erlebbarkeit, deren Komponente die Notwen-
digkeit dieser Subjektszuordnung ist, bedeutet fiir das Werk nur eine be-
112 Heidelberger Asthetik
stimmte Geltungsqualitat. Die Erlebnishaftigkeit ist nur der Stoff, aus dem
sich seine innerlichst selbstgeniigsame und auf sich selbst gestellte Welt auf-
baut, und da& sie von den bauenden Formen des Werks nicht aufgesogen,
nicht »umfaft«, nicht »vertilgt« werden, sondern in ihnen zum eigensten
Eigenleben aufbliihen soll, ist gerade die Vollendung dieser absoluten Im-
manenz und Objektivitat. Und auch das normativ mitgedachte »Hervorge-
brachtsein«, der zugeordnete Begriff des Schipfers, steigert nur diesen seinen
Objektscharakter (ganz abgesehen von dem in der Phanomenologie behan-
delten und noch spater zu analysierenden Sprung, der den Schépfer vom
Werk trennt): das Werk verdankt sich selbst seine Objektivitat. Ware das
»Hervorbringen« des Werks nur etwas Scheinbares, nur ein anthropomor-
pher Uberrest oder ein Herabgezerrtwerden in die Subjektivitat aus seinem
raum- und zeitlosen An-sich-sein — wie das »Produktive« der Erkenntnis
aufgefaft werden kann und oft aufgefa&t wurde —; ware das Schaffen eine
Art Wiedererinnerung, eine Art Besinnung auf dieses An-sich-sein, auf das
vor dem Schaffensprozef liegende, transcendente Da-Sein des Werkes, so
wire seine Immanenz wieder aufgehoben. Wenn also Schopenhauer die
erhabene Objektivitat der Kunst dadurch begriinden will, da& in ihr das
Subjekt als Subjekt ausgeschaltet werden muf, um die »reine Objektivitat
der Anschauung« zu erreichen, die »dadurch bedingt (ist), da& man nicht
mehr seiner selbst, sondern allein der angeschauten Gegenstande sich be-
wut ist, das eigene Bewuftsein also blof als der Trager der objektiven
Existenz jener Gegenstiinde iibrig geblieben iste *, so verleiht er zwar der
Anschauung selbst eine hohe — metaphysische — Objektivitat, hebt aber zu-
gleich die autonome Objektivitit des Gegenstandes auf. Die Objektivitae
begriindet sich dann in einem Aufer-sich, in seinem Zusammenhang mit der
Ideenwelt, und er selbst wird zum Mittel und Weg zur Erlangung dieses
Zusammenhanges. »In Folge... meiner ganzen Ansicht von der Kunst, ist
ihr Zweck die Erleichterung der Erkenntnis der Ideen der Welt« **, sagt
er zusammenfassend. Der Mikrokosmos-Charakter des Kunstwerks fordert
aber, daf es seine Objektivitat ausschlielich auf sich selbst griinde.
Wie ist dies méglich? Wenn das Werk hierdurch nicht zu einer metaphysi-
schen Entitat verabsolutiert werden soll — was nicht nur unserer Anschau-
11 (Die Welt als Wille und Vorstellung. Simtliche Werke. Hrsg. von E. Griesebach.
Leipzig. Reclam. 2. Abdruck. Bd. II. S. 434.]
12 [Ebda, S. 478-479.]
Subjekt-Objekt-Beziehung 113
43 [S.: Die Lehre vom Urteil. Gesammelte Schriften. Tubingen, Mohr. 1923. Bd. IL
S. 364]
Subjekt-Objekt-Beziehung iat
wirkliches, transcendentes Sollen zu werden, sich an jedes Subjekt richten
kénnen; das heift es setzt in jedem Subjekt eine allgemeine, formelle
Beschaffenheit der Subjektivitét voraus, die es gestattet, daf sich das
gleiche Sollen an jedes Subjekt wende, ohne es aus seiner Richtung auf die
nur ihm eigene, es von allen anderen qualitativ und unvergleichbar ab-
trennende Subjektivitat abzulenken, im Gegenteil um ihm gerade hier
die Erfiillung zu bringen. Diese paradoxe Art der Allgemeingiiltigkeit
der Norm (iiber deren Beschrinkungen und Voraussetzungen noch in
anderen Zusammenhingen zu sprechen sein wird) hat nur scheinbar eine
Khnlichkeit mit der Beziehung des kategorischen Imperativs zum ethi-
schen Subjekte. Dort ist die sogenannte »Irrationalitite der Beziehung,
die ja doch nur die Folge der Unableitbarkeit des Pflichtinhalts aus der
Form des Pflichtgebots ist, von der intelligibelen Zufalligkeit des kreatiir-
lichen Handlungssubstrats (auch in der Seele des Pflichtadressaten) im
Vergleich zu dem noumenalen Gesetz seiner Handlung bestimmt. Die
ethische Wesensgleichheit der durch das Erfiillen des Gebots zu Persén-
lichkeiten werdenden Subjekte, die freilich durchaus nicht die Identitét
ihres Wesens als Persénlichkeiten bedeutet, ist mit der Wertsetzung zu-
gleich vorausgesetzt: diese Wesensgleichheit ist gerade das, was im Aner-
kennen des Wertes gesollt wird. Im Gegensatz zu dieser normativen
Convergenz der Subjekte, die sich in der Idee vom »ethischen gemeinen
Wesen«, vom »Volke Gottes« klar und eindeutig ausspricht, wird im
Sollen der asthetischen Norm eine radikale Divergenz der Subjekte ge-
fordert. Die Frage nach dem »Gemeinsamen«, als strukturellem »Orte«
der »Allgemeingiiltigkeit« des Wertes, muf also hier eine véllig andere
Betonung erhalten. Die rein formelle Wesensart dieser »Gemeinsamkeit«
darf jedoch nicht zu einer Anniherung an die theoretische Sphire fiihren,
wie dies bei Kant der Fall ist, der ihre Bedingungen darum bei jedem
Subjekt als die gleichen anzunehmen fiir berechtigt fand, »weil sie sub-
jektive Bedingungen der Méglichkeit einer Erkenntnis iberhaupt sind,
und die Proportion dieser Erkenntnisvermégen, welche zum Geschmack
erfordert wird, auch zum gemeinen und gesunden Verstande erforderlich
ist, den man bei jedermann voraussetzen darf«14. Es handelt sich hier
bei ihm um ein entsprechendes In-Geltung-bleiben der Voraussetzungen
der theoretischen Allgemeingiiltigkeit, wie es uns bei den konstitutiven
15 (Ebda. § 8. S, 282.]
Subjekt-Objekt-Beziehung 123
formans herauszuldsen bestrebt ist und auSer Acht lassen mu&, da selbst
die dynamische forma formans nur ein Aspekt der kiinstlerischen Tatig-
keit und die wiederum nur ein Aspekt des Werks ist, da die technische
Rationalisierung somit zur Abstraktion aus einer Abstraktion wird und
da& darum jedes Absehen vom »Inhalt« eine noch gréfere Entfernung
vom wirklichen Wesen des Werks bedeutet; oder das Verhalten schlagt
in eine vollig irrationelle kiinstlerische Erlebensmystik um.
Wesentlich einfacher gestaltet sich, gerade wegen der objektiv gré®eren
Distanz vom Werk, das receptive Subjekt-Objekt-Verhiltnis. Da hier die
Form als forma formata, als Daseinsform der reinen Kontemplation dem
Receptiven gegeniibersteht, da es hier keinen zum Werk fiihrenden Pro-
ze8 gibt, sondern der Sprung gewissermafen Anfang und Ende des Ver-
haltens ist (und nur die mehr oder weniger negativ betonte Bereit-
schaft als Zuwendung voraussetzt), da das Durchdringen des Objekts von
den Erlebbarkeitsformen der reinen Subjektivitét im Werk bereits ge-
leistet ist, fordert das Werk vom Receptiven nur reine Hingabe, damit
die Bezichung seiner rein gewordenen Subjektivitit zum Werk als vollen-
detem Objekte sich verwirkliche. Die Kompliziertheit dieser Beziehung,
ihre Entfernung vom »schlichten Ineinander« des Werks, besteht im
wesentlichen darin, da® hier ein fremder Form-Inhalt-Komplex normge-
mi als eigener, als Erfiillung der reinen Subjektivitdt erlebt werden soll;
da& die hier notwendige Erscheinung der Werkform als forma formata,
als Daseinsform ihr inhaltliches Erlebtwerden, das Umschlagen des Form-
Inhalts des Werks in die Erlebnisqualitit der Inhalte der receptiven Sub-
jektivitat und damit die Zersetzung der Form-Inhalt-Identitit im Werk
und ihr Sich-zusammenfiigen zu einer weniger identischen Erlebniseinheit
in der receptiven Kontemplation normativ bedingt. Kurz gesagt: die Iden-
titat der Gegensitze im Werk wird im receptiven Erlebnis zu ihrer
blofen Harmonie, ihr im schpferischen Proze8 dynamisches Gleichge-
wicht erscheint hier als ein statisches. Und dieses Durchscheinen der
kiinstlerischen Tatigkeit durch das Werk kann auf seinen Mikrokosmos-
Charakter auch nicht ohne Riickwirkung bleiben: das Werk erscheint
nunmehr auch als die Tat der schépferischen Persénlichkeit, es ist nicht
mehr véllig ungeworden, sondern etwas Geschaffenes. All dies ist jedoch
blo& eine Verwickelung der Struktur, ein Mitklingen transcendenter
TOne in der reinen Immanenz des receptiven Erlebens, dessen Reichtum
und Zusammenhang hier freilich nicht einmal angedeutet werden kann.
Das Entscheidende bleibt: die dem Receptiven zugewandte Seite des
Subjelet-Objekt-Beziehung 129
Werks, die forma formata la&t in diesem eine absolute Immanenz des
reinen Erlebens (in bezug auf die Werkform, also als Erlebnis des Men-
schen »ganz«) entstehen und verwirklicht auch in ihm die Selbstvollen-
dung der reinen Subjektivitét, die in der Kontemplation eines ihr vollig
angemessenen, da fiir diese Angemessenheit angelegten, Objekts, aus allen
Bindungen und Beziehungen herausgehoben, sich zum Kosmos der Er-
lebbarkeit steigernd, selbstgeniigsam und selbstherrlich in sich ruht.
Der Aufbau der Asthetischen Sphire zeigt also zwei voneinander struk-
turell durchaus verschiedene Schichten: die mikrokosmosartigen Welten
der transcendenten Werke an sich einerseits und die ihnen zugeordneten,
von ihnen abgeleiteten und abhingigen, angemessenen Subjekt-Objekt-
Beziehungen andererseits. Die beiden Schichten decken sich nur in ihrem
isolierenden Aufbau, darin daf& jeder der einzelnen realisierten Akte
oder Gebilde nur in sehr uneigentlichem Sinne in der Sphire steht, viel
eher die ganze Sphire erfiillt oder gar mit ihr identisch ist, da& also die
Sphiare ihre »Elemente« nur in einer ihnen vdllig fremden Dimension,
der theoretischen, wirklich umfa&t. Jeder Akt und jedes Gebilde ist eine
fensterlose Monade, die von allen anderen gleichartigen Monaden norm-
gem4& und prinzipiell nichts wissen, die mit ihnen — auf ihrer eigenen,
der Asthetischen Dimension — in keinerlei Beziehung gebracht werden
kann. Fiir das Werkniveau ergibt sich diese Struktur in einer selbstver-
standlichen, keinerlei Erérterung bediirftigen Evidenz. Fiir die Subjekts-
verhaltungen kann es vielleicht scheinen, als ob das Zugeordnetsein an
dasselbe Werk zwischen den schépferischen und receptiven Verhaltungs-
paaren eine wenigstens enger zusammenhingende Gruppe stiften wiirde.
Jedoch auch diese Annahme erweist sich als Schein, wenn bedacht wird,
da’ infolge des reinen Erlebnischarakters der Subjektsverhaltungen die
Identitat des zugeordneten Objekts sehr problematisch wird. Daf das
vom Schaffenden produzierte und vom Receptiven genossene Werk nicht
»dasselbe« ist, erweist sich schon aus dem Unterschied der ihnen zuge-
kehrten Werkseiten, aus dem Unterschied von forma formans und forma
formata, und der sich daraus ergebenden, strukturellen wie inhaltlichen
Differenzen. Aber auch das wirkende Werk als Schema der erlebbaren
Erfiillung iiberhaupt ist nur ein Knotenpunkt heterogener Verhaltungen,
weshalb auch die Geltungsform des im Werk realisierten Wertes, nicht
aber das zum Erlebnis gewordene Werk selbst - als konkreter, inhalts-
erfiillter Gegenstand ~ Trager der Identitat ist; es ist also nur eine iden-
tische Geltungsform da, aber die Identitat selbst hat kein Erfiillungs-
130 Heidelberger Asthetik
1 [Die Enneaden. I. Buch 6, Kap. 2, Ubersetzt von H. Fr. Miiller. Berlin, Weidmann.
1878, Bd. I. S. 44.]
138 Heidelberger Asthetik
und darf — hier nicht stehenbleiben, denn es kommt auf das Erkennen, und
nicht auf die mehr oder weniger zufalligen Veranlassungen seines Eintretens
in das Bewuftsein, auf die Schénheit selbst und nicht auf die schénen Gegen-
stande, auf das Wirkende und nicht auf das Gewirkte an. »Was du daher
auch zur Form erhebend der Seele zeigst, sie sucht in diesem ein anderes,
das Gestaltendee, sagt Plotin®).
Aber die transcendierende Bewegung im Erlebnisakt ist doch ein secundiires
und abgeleitetes Moment: es ist unméglich, beim Objekt stehen zu bleiben,
weil kein Objekt des Stehenbleibens wiirdig ist, weil das der im Schdnheits-
erleben sich aussprechenden Sehnsucht angemessene Objekt nur die absolute
Idee selbst sein kann. Aus alledem folgt vor allem, da& die Platonische
Schénheitslehre in erster Reihe eine Objektivitatslehre des Schénen ist. Es
zeigt sich nicht nur historisch, ‘da® neben den vielerlei Schwankungen (die
mitunter auffallend relativistisch und sensualistisch ausfallen), denen das
Schinheitserlebnis in diesen Fassungen unterworfen ist, die Bestimmung des
vom Erlebnis unabhangigen An-sich der Schénheit stets mit einer groSarti-
gen Eindeutigkeit und Pricision auftritt, sondern es liegt im Wesen dieser
Systematisation, da& dem »objektiven« Prinzip der Schénheit vor den sub-
jektiven Akten, die sie zu erreichen suchen, ein unbedingter Primat zu-
kommt. Diese objektive Bestimmung der Schénheit zeigt sie als das an sich
Vollkommene, als die totale und konfliktlose (und darum nur intuitiv erfaf-
bare) Realisation der Idee, als das Urprinzip aller — sinnlichen wie geistigen
— Realisationen, in dem alles, dessen Zerfall und Zwiespalt unsere Wirk-
lichkeit ausmacht, unterschieden und doch einheitlich vereint enthalten ist.
In dem etymologischen Teil des Kratylos bestimmt Platon das Schéne als
die Namen Gebende (16 xahév 1d xadoiv)’, eine Definition, die iiber den
Neuplatonismus, iiber Dionysius Areopagita bis in die Scholastik und den
Florentiner Platonismus hinein wirksam bleibt. Die wirkliche Bedeutung
dieser Definition 1a&t sich, was freilich hier blo& angedeutet werden kann,
aus der Rolle verstehen, die in jeder transcendent-metaphysischen Philoso-
phie, und erst recht in jeder magischen oder halbmagischen Religiositat, der
Namen spielt. Magisch ist das Namengeben das eigentliche und wirkliche
Beherrschen der Dinge, das Wissen von ihrer ewigen Bestimmung, von ihrer
5 [Timaios 53. Werke, Stuttgart, Metzler. 1856, Vierte Gruppe, Bdchn’ 7. Ubersetzt von
F, Susemihl. S. 772-773.]
6 [Ebda, 33. Werke. Vierte Gruppe, Bdehn. 6. S. 691.]
Logisch-metaphysische Schinbeitsidee 14
schlechthin. Es leuchtet also und glanzt, als wire es selbst eine Idee« 7.
Es lieRe sich also — und Platon und die, die seinen systematisierenden Weg
folgten, haben mehr als Beitrage dazu geliefert — eine nach dem einheitli-
chen Gesichtspunkt der Schénheit geordnete Hierarchie alles Seienden und
Denkbaren aufstellen, worin die Schénheit allem, das zum Gegenstand
werden kann, mit seiner Stelle in der Hierarchie zugleich das ihm zukom-
mende Sein, die ihm spezifisch eigene Gegenstandlichkeit zuweisen wiirde. Es
wire also eine alles umfassende und konstitutive Lehre vom Schénen miég-
lich, die sich widerspruchslos begriinden lie&e — und jeden mdglichen Inhalt
und Gesichtspunkt der gesamten Philosophie umfassen wiirde, die die Phi-
losophie selbst ware. Anders ausgedriickt lat sich dieses erste Dilemma der
Platonischen Schénheitslehre so formulieren: die Schénheit hebt sich durch
ihre absolute Setzung selbst auf; sie hért auf etwas Selbstindiges und Eigen-
artiges in der Welt der Ideen zu sein, sie fallt mit der Idee des Wahren und
damit mit der des Seins (im metaphysischen Sinne) und mit der des Guten
zusammen. Die Form, die sie den Gegenstanden, die ihrer »teilhaftig« werden,
verleiht, ist mit den konstitutiven Formen der Gegenstandlichkeit iiberhaupt,
mit der Form der Wahrheit identisch. Aus dieser Absolutheit des Schénen
erwichst fiir die darauf 2u begriindende Asthetik das folgende, unauflésbare
Dilemma. Entweder wird an dieser Identitat festgehalten, wodurch eines
von beiden als fiir das System iiberflissig, als metaphysische Tautologie
erscheint (es wird von der Struktur des Systems abhingig sein, ob Wahrheit
oder Schinheit den Primat in ihm erringt) und das Als-Absolut-Setzen der
Schénheit mu& zur Aufhebung ihrer spezifischen Wesensart fiihren. Oder es
wird, was im philosophischen System ohne Selbstzersetzung kaum anders
sein kann, trotzdem an der Prioritét des Wahren, des Metaphysisch-Logi-
schen, des eigentlich Philosophischen festgehalten, dann mu aber der »ab-
soluten« Schénheit eine relative Bedeutung zufallen, sie bleibt — was mit
ihrer Absolutheit schwer vereinbar ist — doch etwas blof& Vorbereitendes;
es wird in der Hierarchie des Systems eine Stufe angenommen, wohin ihre
Kategorien nicht hinaufreichen, und zwar gerade das Niveau, das — als das
philosophisch letztlich konstitutive — fiir den Aufbau des Universums im
System ausschlaggebend ist. Damit aber sinkt die Schénheit zur unvoll-
kommenen Vorstufe einer ihr transcendenten Formung herab, ihre Vollkom-
menheit hat eine blo& propideutische Bedeutung, nur die des Hinweises auf
sind« 8, aber den wirklichen Vorrang von beiden hat die Schénheit (und
damit ihre transcendentale Erzeugerin: die Kunst). »Denn obgleich die Wis-
senschaft in ihrer héchsten Funktion mit der Kunst eine und dieselbe Auf-
gabe hat, so ist doch diese Aufgabe, wegen der Art sie zu lésen, fiir die
Wissenschaft eine unendliche, so da& man sagen kann, die Kunst sei das
Vorbild der Wissenschaft, und wo die Kunst sei, soll die Wissenschaft erst
hinkommen« *, Das Dilemma der metaphysischen Tautologie hat sich dadurch
zwar wesentlich verfeinert, konnte aber doch nicht gehoben werden. Denn
falls, wie unvermeidlich, beide Formungen als konstitutiv angenommen
werden, differenziert sich das Dilemma danach, ob die Unvollendbarkeit
der Wissenschaft ernst genommen wird oder nicht, was von dem metaphy-
sischen Gegeben- oder transcendentalphilosophischen Aufgegebensein der
Wahrheit abhangt. Im zweiten Fall ist die Wahrheit von der Schénheit
mediatisiert und die Kunst ist wirklich die »Wiederholung desselben (des
Systems — G. L.) in der héchsten Potenz« 1° so sehr, da& das Wahre und
das Gute als aufgehobene, zur Indifferenz gefiihrte, einseitige Momente
(Notwendigkeit und Freiheit) in ihr enthalten sind. Wird hingegen, was
fiir eine Metaphysik unvermeidlich ist, das System dennoch geschlossen, die
Wahrheit ergriffen und erreicht, indem die Wissenschaft ihre Gegenstainde
konstruiert und durch dieses Verfahren »am Ende mit der vollkommenen
und geschlossenen Totalitat itberrascht« ‘4 wird, so mu — ob eingestande-
nermafen oder stillschweigend, gleichviel — das erreichte System, dessen
Fuhrer und Organon die Kunst gewesen ist, als das einzig wahre und wahr-
haft konstitutive Kunstwerk, der Philosoph (als Philosoph der Kunst) als
der letzte, den Abschlu& bringende Kiinstler erscheinen. Wenn, was notwen-
dige Folge »der selben Aufgabec ist, »die Formen der Kunst... die Formen
der Dinge an sich« '? sind, so kann das Mitte] ihres Erfassens auch nur das-
selbe sein: die intellektuelle Anschauung.
Die Identitaét von Wahrheit und Schénheit bedeutet somit die wechselseitige
und intensive Durchdringung des Logischen vom Asthetischen und umge-
kehrt. Dadurch muf — je intensiver diese Einheit ist, desto starker — die
spezifische Gegenstindlichkeit, die jede Form den von ihr erfaSten Objekten
verleiht, getriibt werden und einer Gegenstandlichkeit, die auf einer zum
Prinzip gemachten petéPaoic eis &AAo yévoc beruht, Platz machen. Die Logisie-
rung der asthetischen Form verbietet ihr, ihre Gegenstande — so wie es ihre
Formungsweise gebieten wiirde — zu isolieren, sie zu selbstherrlichen Mikro-
kosmen zu verwandeln; jedoch indem sie in die theoretische Form eingeht,
zwingt sie der theoretischen Form eine sich innerlich und adaquat abrun-
dende Vollendung auf, macht deren utopisches Ziel, die Ideenwelt, zu einem
kosmischen Kunstwerk, verdinglicht ihr Gelten zum sinnlich-iibersinnlichen
Dasein. So wird die Idee vom Universum als Kunstwerk, ein notwendiger
Zentralbegriff jeder platonisierenden Philosophie, zum Vereinigungspunkt
des Asthetischen und des Theoretischen; hier verwirren sich und verschlingen
sich ihre unlésbar verkniipften Faden, und dieses Ineinander zwingt der
Begriffsbildung — rein systematisch, ganz abgesehen von der an und fiir sich
bestehenden metaphysischen Intention — eine metaphysische Richtung auf.
Denn die Ideenwelt, von ihrer Realisation im wirklich seienden Universum
ganz abgesehen, hat, als rein theoretisches Sinngebilde betrachtet, keine ihr
innerlichst innewohnende Tendenz zur kosmosartigen Selbstabrundung; der
Kosmos ist ein asthetischer Begriff: die hypostasierte Idee des Kunstwerks.
Asthetisch ist erstens die hier notwendig entstehende und fiir das Folgende
entscheidende Verdinglichung der Idee. Die Idee, soweit sie rein theoretisch
bleibt, ist auch bei Platon einerseits ein spharenbestimmender Grenzbegriff,
andererseits aber eine Form, die durch ihr Umfassen des ihr an sich fremden
Materials, oder durch ihr Erzeugen der Methode der Denkbarkeit des zum
Denkobjekt gewordenen Materials, die Erkenntnis itiberhaupt moglich macht
und verwirklicht. Es liegt also in ihrem Wesen, fern von jeder Substanziali-
tit oder Verdinglichung zu sein, da fiir das rein theoretische Verhalten das
Ding-sein — selbst im héchsten, im metaphysisch-ontologischen Sinn — nur
eine der vielen theoretischen Formungen sein kann, das im Vergleich zur
Form selbst immer etwas Abgeleitetes sein mu&, dessen Eigenschaften ihr
niemals zugesprochen werden kénnen. Gleichviel, ob in der Aristotelischen
Kritik der Ideenlehre ein Mifverstehen von Platons eigentlichen Absichten
oder etwas relativ Berechtigtes erblickt wird, ihr Ausgangspunkt liegt doch
in der Beobachtung dieses Umschlagens der Ideenwelt in eine Welt des ur-
bildlichen Seins, der urbildlichen Gegenstande begriindet, nachdem der Auf-
stieg dahin so tief und stark den inhaltsfreien reinen Formcharakter der
Ideen herausgearbeitet hat. Gerade dort, wo sie ihren ureigenen Erfiillungs-
ort gefunden haben, wo sie ganz reine Form geworden sind, werden sie
wieder mit konkreten Inhalten erfiillt, werden zu dinglichen Urbildern der
Dinge. Wie sehr sich auch Platon an vielen Stellen gegen diese Konsequenz
wehrt, wie sehr er das Nicht-Materielle des hier entstehenden, neuen ding-
schaffenden Inhalts betont, ganz aufzuheben ist sie doch nicht. Und, wo-
gegen er sich noch starker und ausdriicklicher wehrt, der asthetische Cha-
rakter dieser Dinghaftigkeit ist noch zweifelloser vorhanden: es ist gerade
das Spezifische der asthetischen Form, Form eines bestimmten Materials zu
sein, ein Material so zu umfassen, da dessen Materialitat in ihr zur Form
werde, daf& er als Material »vernichtet« werde. Und das ist gerade im
urbildlichen Material geschehen. Die innerste Entgegengesetztheit von theo-
retischer und Asthetischer Formung zeigt sich eben am deutlichsten in ihrer
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 145
reinen Erfiillung: die theoretische Form ist dann »rein«, wenn sie Form
iiberhaupt ist, der eine unendliche Aufgabe oder das »Material iiberhaupt«
gegeniibersteht, die asthetische, wenn sie zur reinen Erfiillung des Materials,
zur nunmehr unlésbaren Einheit von Form und Material geworden ist. Die
Aufnahme des dsthetischen Formungsprinzips in das theoretische lebt sich
also in der Gestaltung der Ideenwelt aus und racht sich fiir das Ver-
schlungenwerden der Asthetik von der Theorie durch diese Asthetisierung
des letzten, reinsten theoretischen Erfiillungsgebiets.
Hieraus erwachst, worauf jedoch nur im Vorbeigehen hingewiesen werden
kann, die sowohl fiir Asthetik wie Theorie gleich verhangnisvolle Nach-
ahmungslehre, die zugleich eine Verwissenschaftlichung der Asthetik und
eine Asthetisierung der Erkenntnis bedeutet. Asthetisch fiihrt sie zu einem
irdischen oder transcendenten Naturalismus: das Geformtsein ist fiir diese
Anschauung an den Gegenstanden schon vor ihrem Betroffenwerden von
der asthetischen Form da, deren Funktion also nur in einer Wiederholung
des Gegebenen bestehen kann. Daf diese Annahme eine Aufhebung der
sthetischen Form ist, wurde bereits oft nachgewiesen; daf sie auf theore-
tischen Voraussetzungen beruht, ist leicht einzusehen. Selbst wenn die
transcendenteste und subtilste Wendung der Nachahmungslehre genommen
wird, die vom Neuplatonismus der Renaissance und noch von Winckelmann
geteilte Anschauung, da& kein irdischer Gegenstand der ewigen Idee der
Schénheit ganz angemessen sein kann, da also die asthetische Tatigkeit
vor die Aufgabe gestellt ist, die in der Welt zerstreute Schénheit zu sam-
meln und zu suchen und das so Gefundene in einem Gegenstand, im Kunst-
werk zu verewigen, so enthiillt es sich leicht, daf& mit dieser Tatigkeit etwas
ganz oder halb Wissenschaftliches und nicht genuin Kiinstlerisches gemeint
ist. (Es kommt hier freilich auf die Theorie an; da es Kiinstler gegeben
hat, die — in theoretischer Selbsttduschung — diese Ansicht geteilt, aber nach
rein kiinstlerischen Prinzipien geschaffen haben, gehdrt nicht hierher.) Denn
die Tatigkeit des Kiinstlers besteht hier im Erkennen des bereits — ohne
sein Zutun und unabhiingig von seiner Anschauung — Vorhandenen, dessen
asthetische Wesensart derart transcendent gesichert ist, daf& selbst im »Zu-
sammenfiigen« des auf diese Weise Gesammelten nur eine an sich seiende
Gegenstindlichkeit anerkannt und in integrum restituiert wird; das Ver-
halten des Kiinstlers ist im Wesen seines Gerichtetseins von dem des Natur-
forschers oder des Historikers, die ja ebenfalls die empirisch »zerstreuten«
Bedeutsamkeicen ihrer Sphire sammeln und vereinigen, prinz
unterschieden: es kommt auf eine »Treue« einer »gegebenen Tatsachlichkeit«
146 Heidelberger Asthetik
gegeniiber, auf das Auffinden eines in den »Tatsachen« innewohnenden
Sinnes, auf ein 1 qpevtd qarvopeva und nicht auf eine Produktion an. Und
da& der moderne, sich selbst als wissenschaftlich bezeichnende Naturalis-
mus — sofern auch er nicht ein sich selbst verkennendes Kiinstlertum und
wirklich Naturalismus ist — eine solche hybride Kreuzung kiinstlerischer
und wissenschaftlicher Tendenzen sei, haben manche seiner Reprasentanten
wohl bis zur Karrikatur deutlich bewiesen.
Auch die theoretische Abbildlichkeitslehre kann erkenntnistheoretisch als
erledigt betrachtet werden; wenn aber, wie hier notwendig, gefragt werden
wiirde, welcher Art nun die Gegenstandlichkeit jener transcendenten Ob-
jekte ist, die von der Erkenntnis »abgebildet« werden muf, so wiirde es
sich bei ihrer genauen Analyse zeigen, daf sie sehr wesentliche dsthetische,
besser gesagt halbasthetische Bestandteile an sich hat. Dies liegt vor allem
in der ungetrennten und untrennbaren Ubereinstimmung mit sich selbst, die
die urbildliche, metatheoretische Gegenstandlichkeit haben mu, damit sie
fiir das sie »nachbildende« erkennende Verhalten den Mafstab der Richtig-
keit abgeben kénne; in dem adaquat und intuitiv erfa&baren, »organischen«
Zusammensein, Ineinandergeflochtensein aller Elemente und Merkmale, die
die »nachbildende« Erkenntnis nur getrennt erreichen und nur auf dem dis-
kursiven Niveau, als Begriff, Urteil und Schlu8 wieder zusammenfiigen
kann. Kurz gesagt, wie immer auch eine metatheoretische, urbildliche Ge-
genstandsbeschaffenheit formuliert sei, sie wird stets etwas Kunstwerkhaftes
an sich haben. So sehr, da& ihr selbst die Nuance der Isoliertheit, der »Insel-
haftigkeit« des Kunstwerks zugesprochen werden mu8: wenn auch freilich
nicht in dem radikalen Sinn, wie es hier fiir die asthetisch-normative Ge-
genstandlichkeit nachgewiesen wurde, so doch als eine Art der Prioritat des
selbstandigen Fiir-sich-seins des Gegenstandes vor dem Erkenntniszusammen-
hang, in dem er steht. Gehért es doch zu den entscheidenden strukturellen
Revolutionen der »kopernikanischen« Umwéalzung Kants, da8 in ihr mit
jeder Art von ontologischer, sphirenjenseitiger Objektsmiglichkeit gebrochen
und die Gegenstindlichkeit in die vollkommene Bestimmbarkeit, in das
In-der-Sphire-stehen, in das In-Zusammenhang-gesetzt-sein gelegt wurde.
Erst diese Auflésung der Substanzialitdt der theoretischen Gegenstinde in
Funktionalitat und — im Zusammenhang damit — die immer anwachsende
logische Suprematie des Urteils vor jeder ontologisierenden Begriffsprioritat
konnten die pseudodsthetischen Elemente in der theoretischen Sphire be-
seitigen: Residuen einer sinnlich-iibersinnlichen Gegenstandsform, die in
ihrer »Materialechtheit« gerade die Einzigartigkeit des betreffenden Ge-
Logisch-metaphysische Schinheitsidee 147
genstandes — selbst wenn dieser eine abstrakte Idee war — in seinem Fiir-
sich-sein gestaltet hat, anstatt ihn zum erkennbaren Substrat méglicher und
rationaler Erkenntniszusammenhange zu verwandeln und in diese als homo-
genes Glied einzufiigen.
Die asthetische Formnuance des urbildlichen Ma&stabes der Erkenntnis darf
freilich nicht so verstanden werden, als ob sie oder nur etwas Ahnliches in
der Intention des Systems lage; sie ist vielmehr ein gegen die eigentliche
Intention des Erkenntnistriebes hinzutretendes Moment, dessen Da-Sein
durchaus nicht aus dem blofen Zum-Gegenstand-werden der theoretischen
Formen selbst, auch nicht aus der ontologisch-intuitiven Methode stammt
(wie ja dies der Phinomenologie Husserls etwa durchaus fernliegt), sondern
daraus, daf& die asthetische Erzeugungsart, wenn auch als aufgehobenes
Moment, in den theoretischen Formungsproze8 aufgenommen wurde und
darum aus seiner héchsten und reinsten Erscheinungsform auch nicht elimi-
niert werden konnte. Die »materialechte« Dinghaftigkeit der einzelnen Ge-
genstinde, die fiir die autonome Asthetik ihre Erfiillung in der reinen Sub-
jektivitat findet, die dort deshalb freilich eine Erfiillung sub specie formae
und eine Dinghaftigkeit ad hoc, d. h. in bezug auf die Gestalrungsqualitat der
spezifischen Form, also durchaus unmetaphysisch ist, mute in dem einheit-
lichen, itiberwiegend theoretischen Verhalten den Einzeldingen gegeniiber
transcendiert und in einem geradlinigen Aufstieg zu ihren Ideen gefihre
werden. Diese dort beiseite geschobene »materialechte Dinghaftigkeit« kehrt
in der Ideenwelt wieder, und hier metaphysisch und die theoretische Struk-
tur kreuzend, denn hier muf sie in einem An-sich, ohne ihre transcendenta-
len Bedingungen, die auf der Beziehung auf reine Subjektivitat und Erleb-
nisqualitat beruhen, wirken.
Eine sehr ahnliche Komplikation und Verschlingung zeigt sich in dem Pro-
blem vom Ganzen der Erkenntnis, deren »System«-charakter freilich, als
eigenes Problem, erst bei Schelling auftaucht. Hier fille vor allem die
Asthetisierung der Beziehungen der Formen untereinander und ihrer Zusam-
menfiigung zum Ganzen des Systems auf. Denn es kann die Frage aufge-
worfen werden, ob der Gedanke des Systems als einer aus Parallelititen,
gewissermafen rhythmischen Wiederholungen, einander im Gleichgewicht hal-
tenden Correspondenzen etc. zusammengefiigten Harmonie und Totalitit,
also der Gedanke der »Architektonik« des Systems nicht ebenfalls aus sich
im adaquaten Gebiet nicht ausgelebten und hier erfiillenden Asthetischen
Motiven entsteht. Die Denkmotive, die einer Asthetisierung des System-
gedankens zustreben, sind einerseits die Geschlossenheit und das Allumfassen
148 Heidelberger Asthetik
gehen. Es ist mehr als eine historische Coinzidenz, da& nur relativ primi-
tive Stadien einzelner Wissensgebiete solche Asthetische Substanzierungen
zulassen, da& es z. B. eine asthetische, »heilige« Mathematik fiir die Ele-
mentararithmetik, nicht aber fiir die Differential- und Integralrechnung
geben konnte, weil den hier standig auftauchenden und theoretisch bew4l-
tigten neuen Dimensionen keine »asthetischee Tendenz auf »Gegenstindlich-
keite und »Formbezichung« mehr gewachsen sein kann. Denn die Wechsel-
wirkung von »Selbstandigkeit« der Teile und ihrer gegenseitigen Durch-
dringung ist fiir beide Formungsarten diametral verschieden: jedes theore-
tische Formungselement, das vselbstindige wirkt, fordert gerade durch diese
»Selbstandigkeit« eine nur auf sich selbst beruhende Geltung, es kann aber
keines geben, dessen Geltung nicht zugleich das Ganze, die »Sphare«, in
der es steht, und keine Sphire, die nicht die Geltung eines ihr iibergeordne-
ten Zusammenhanges voraussetzen wiirde, wahrend der Schein der Selb-
standigkeit der asthetischen Formungselemente nur ein Abglanz ihres voll-
endeten Eingefiigtseins in einen einzigartigen Sineszusammenhang ist, der
Schein ihrer auf sich selbst beruhenden Geltung ist nur die spezifische Gel-
tungsqualitit des Ganzen — das aber eine absolute und wirklich auf sich
beruhende Geltung beansprucht und keinem iibergreifenden Zusammenhang
mehr eingefiigt werden kann. Die Formelemente eines asthetischen Form-
gebildes durchdringen sich also wechselseitig und erreichen durch diese un-
lésbare Ineinanderverschlungenheit das absolute und vollendete Aufsich-
gestelltsein ihres Ganzen, wahrend die theoretischen Formen nur »auf ein-
ander bezogen«, von einander »abhangig«, von einander »abgeleitet« etc.
sind, so daf&§ die relative Selbstandigkeit ihres Geltens eine wirkliche ist:
die Abhangigkeit von einer, als Idee aufgegebenen Totalitat, deren — selb-
stindige — Glieder sie sind. Die bereits gefundenen Satze, da es keine
Asthetische, iibergreifende und umfassende Totalitat der asthetischen Wert-
realisationen geben kann und da jeder als geschlossen, harmonisch zusam-
mengefiigt und in seiner Harmonie erfafbar gedachte Kosmos von »Asthe-
tischer« Wesensart ist, besagen dasselbe: sie bestimmen das Geltungssubstrat
der konstitutiven asthetichen Formen und weisen die Verwirrung der Ge-
genstindlichkeit, die durch ihre »Anwendung« auf andere Materien ent-
steht, auf.
Aus alledem wird die bereits aufgefundene, bestechende Gleichartigkeit von
Asthetischer Kontemplation und intellektueller Anschauung immer verstind-
licher. Man kénnte sagen, wenn auch hierin sich mehr die struktiven Folgen
als die treibenden Motive aussprechen wiirden: die intellektuelle Anschauung
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 151
ist eine auf die Ideenwelt (oder auf das Universum) angewandte asthetische
Kontemplation. Schelling hat dieses Problem in voller Deutlichkeit erblickt,
indem er eine Garantie fiir die intellektuelle Anschauung, den Trager seines
ganzen Systems suchte, wodurch diese in allgemein anerkannter Objektivitat
erwiesen werden kénnte. Die Garantie soll das Kunstwerk liefern: »Denn
die dsthetische Anschauung eben ist die objektiv gewordene intellektuelle.
Das Kunstwerk nur reflektiert mir, was sonst durch nichts reflektiert wird,
jenes absolut Identische, was selbst im Ich schon sich getrennt hate *7, Das
Bedeutsamste an dieser Fassung ist die — wegen spater klarwerdender syste-
matischer Notwendigkeiten — nicht festhaltbare Parallelisierung der intel-
Jektuellen Anschauung mit dem Kunstwerk und nicht mit einer der ihm
zugeordneten Asthetischen Verhaltungsarten. Es spricht sich darin die Ein-
sicht aus, die freilich die methodische Problematik der intellektuellen An-
schauung nur erhéht, da& die geforderte, absolute Aufhebung der Gegen-
satze in die Indifferenz durch kein Subjektsverhalten, sondern blo& durch
eine Subjekt-Objekt-Identitat zu leisten ist, da& die intellektuelle Anschau-
ung deshalb, ohne diese Objektivation im Kunstwerk, nicht nur ohne Evi-
denz und problematisch bliebe, sondern auch im Einzelnen nicht funktio-
nieren kénne. »Aber nicht nur das erste Princip der Philosophie und die
erste Anschauung, von welcher sie ausgeht, sondern auch der ganze Me-
chanismus, den die Philosophie ableitet, und auf welchem sie selbst beruht,
wird erst durch die asthetische Produktion objektiv« 48, So erscheint, diesmal
von der Seite der metaphysischen Philosophie angesprochen, die frither her-
vorgehobene Ahnlichkeit zwischen intellektueller Anschauung und reiner
Subjektivitat in unserem Sinne, die freilich im Wesen nicht mehr als das
gleiche Niveau in Bezug auf die betreffenden Sphiren besagen kann. Das
bedeutet soviel, daf fiir diese konstitutiv-metaphysische Erkenntnis einerseits
ein Subjekt, das auf dem Niveau der »reinen Subjektivitit« steht, also mit
seinen Objekten villig identisch ist, und andererseit ein »Medium« der
Gestaltung, das die véllige, homogene Durchdrungenheit gestattet und zur
Gestaltung bringt, unbedingte struktive Voraussetzungen sind. Hierin liegt
das tief Asthetische des Platonismus: da fiir ihn das Wesen des erkennba-
ren Universums, das der Erkenntnis Wiirdige daran, das metaphysisch
Seiende also, diese dynamisch homogene Beschaffenheit, diese Durchdrungen-
17 [System des transzendentalen Idealismus. VI. § 3. Simtliche Werke, Abt. I. Bd. III.
S. 625.]
18 [Ebda, S. 625-626.)
152 Heidelberger Asthetik
heit von einer Qualitit, die — ohne ihren qualitativen Charakter zu verlie-
ren — alle Qualitaten in sich aufnehmen, zu ihrer (qualitativen) Wesenheit
bringen kann, aufweist. »Es fliet aber alles so zu sagen aus einer Quelle«,
sagt Plotin »die nicht etwa wie ein Hauch oder ein Warmestrom zu denken
ist, sondern so wie wenn eine Qualitat da ist, die alle Qualititen in sich
befa&t und bewahrt: sii®e Wohlgeriiche und zugleich die Qualititen des
Weines und aller Fliissigkeiten Krafte, die Farben und alles, was der Tast-
sinn erkennt. Dazu mag auch gehiren, was der Gehérsinn wahrnimmt, alle
Melodien und jeder Rhythmus«.** Es entsteht hier eine Welt, deren Wesen
die konkrete Einheit des sonst zwiespaltigen und in sich zerfallenen Mannig-
faltigen, der alle Stoffe stoffecht umfassende »Allteig« ist, eine Welt, die
alles, was in den Kunstwerken vom »Standpunkt« aus und in Bezug auf die
von ihm bedingte reine Subjektivitat gestaltet wird, »Standpunkt«-los,
setzungsfrei, in alles vereinigender Fiille verwirklicht. Plotin schildert diese
Wirklichkeit an den verschiedensten Stellen seines Werkes, und iiberall tritt
dieser Kunstwerkcharakter der intelligiblen Wirklichkeit klar zu Tage; am
pragnantesten wohl in der mit Recht beriihmten Stelle des Buches von der
intelligiblen Schénheit: »...und sie sehen alles, nicht als die werdenden
sondern als die seienden, und sehen sich in andern; denn alles ist klar und
durchsichtig, nichts dunkel und widerstrebend, sondern jeder ist jedem offen-
bar nach innen und durch alles hindurch, denn »Licht zu Licht: heift’s dort.
Es hat auch jeder jedes in sich selbst und wiederum sieht er in dem andern
alles, so da iiberall alles und alles alles und jedes alles und unermeflich
der Glanz;...Hier ist auch reine Bewegung, denn sie stért auf ihrem
Gange nicht eine andere von ihr verschiedene Bewegung, auch die Ruhe
wird nicht erschiittert, weil sie nicht getriibt wird durch Unbestandigkeit;
.. Ein jeder schreitet nicht wie auf fremdem Boden, sondern eines jeden
Statte ist er selbst was er ist, und da sein Lauf sich nach oben richtet, geht
sein Ausgangspunkt mit, und nicht ist er selbst ein anderes noch der Raum
ein anderes... Hier nun [in der Sinnenwelt] geht wohl ein anderer Teil
aus dem Teil hervor und jeder Teil bleibt allein fiir sich; dort aber geht
aus dem Ganzen immer jeder Teil hervor und doch ist immer zugleich der
Teil und das Ganze. ... unermiidlich, unerschdpft ist alles,... denn im An-
schauen vergréfert sich das Schauen...« 2. Dazu kommt noch, da diese
19 [Die Enneaden, VI. Buch 7., Kap. 12. Bd. II. $. 380.]
20 [Ebda. V. Buch 8., Kap. 4. Bd. II, S, 204-205.]
Logisch-metaphysische Schonheitsidee 153
Qualitét zugleich nicht nur vom Subjekt »erfaSbar« ist, denn das ware
auch in einem erkenntnismafig distanzierenden, die Qualitaten in »Begriffe
von Qualitaten« verwandelnden System denkbar, sondern mit dem Wesen
des Subjekts identisch ist, da& dieses also gewissermafen nur sich selbst, sein
eigenes wahres Wesen wirklich erreichen muf, um ihrer teilhaftig, mit ihr
identisch zu werden. Jedoch der Preis dieser Identitat des substanziell ge-
wordenen Subjekts mit dem an sich Seienden ist, wie bereits gezeigt wurde,
der Subjektscharakter des Subjekts. Die nochmalige Betonung dieser aus dem
Wesen der intellektuellen Anschauung stammenden Aporie ist hier darum
so wichtig, weil sie das Herabsinken der in ihr angestrebten Wirklichkeit
ins Asthetische besser erhellt. Die die intellektuelle Anschauung als genuine
und originelle metaphysische Bestrebung erfiillende Intention geht auf die
Aufhebung der Subjekt-Objekt-Dualitit aus, auf das Auffinden der Heimat
der Seele, wobei es fiir diese Intention, gerade in ihrer ganz eigentlichen
Form, entscheidend ist, da& das »Finden« hier ein »Haben« oder ein Eins-
werden und weder ein Gestalten noch ein Erkennen sein kann. Diese
»Heimate« ist der Seele nicht angemessen (wie das Kunstwerk der normativ
rein werdenden Subjektivitat), sondern ist sie selbst: das »Finden« ist das
Hinuntergraben bis auf den Urgrund, wo jede Vereinzelung, jedes Distinkt-
sein und damit die Méglichkeit unangemessener (oder angemessener) Bezie-
hungen notwendig aufhéren miissen, weil schon in dem Begriff der Bezie-
hung eine Verfalschung des hier zu Erringenden liegt. Jedoch dem abstrak-
ten An-sich des Absoluten gegeniiber muf selbst das zum Grenzbegriff ver-
fliichtigte Subjekt noch als menschlich bedingt erscheinen, und da die zu dem
Absoluten aufsteigende Bahn im Gegenteil ein immer substanzieller werden-
des Subjekt erfordert, mu entweder das wesenhaft gewordene Subjekt sich
— in einem unvermittelten Akt — selbst aufheben, oder es muf seiner auf
diesem Weg errungenen Substanzialitit eine geradeso substanzielle Objekts-
welt gegeniiberstellen, die an und fiir sich »objektslose« metaphysische In-
tention in die vollendete und kunstwerkhafte »Objektivitat« der intelli-
giblen Wirklichkeit verwandeln und das identische Subjekt-Objeke zur
blo&en Angemessenheit herabstimmen.
Es vereinigen sich also im Problem der intellektuellen Anschauung zwei un-
vereinbare Intentionsreihen: erstens das Erreichen-wollen einer vollkomme-
nen meta-anthropologischen Sphare, wo alle Formen und Inhalte der
»menschlichen« Bediirftigkeit wie Vereinzeltheit, Distanz, Dualitat, diskur-
sives Denken zuriickgelassen worden sind, die deshalb, wie bereits betont
wurde, ein von jedem Setzungsakt unabhangiges »Sein« hat; zweitens die
154 Heidelberger Asthetik
Forderung, die an das Subjekt gestellt ist, sich mit dieser Welt zu vereini-
gen, ihr nicht in der distanzvollen theoretischen Verhaltungsart als Erken-
nendes zum Erkannten gegeniiberzustehen, sondern gerade diese Distanz zu
tiberwinden. Diese Distanz ist, wie gezeigt wurde, im Kunstwerk (im Ge-
gensatz zu den Verhaltungsakten) tiberwunden, und das hier geforderte Sein
ist das Sein, das alles, was im Kunstwerk gestaltet ist, erhalt. Darum zeigt
sich in der Fassung Schellings vom Kunstwerk als Garantie der »Objektivi-
tat« der intellektuellen Anschauung nicht nur eine spekulative Tiefe, son-
dern auch eine tief angemessene Anschauung vom Wesen des Kunstwerks.
Nur gerade wegen der wirklich metaphysischen (und nicht asthetischen)
Grundstrémung seiner Philosophie, in Vereinigung mit der richtigen Er-
kenntnis vom Wesen des Kunstwerks, kann die »Objektivitat« des Kunst-
werks keineswegs die der intellektuellen Anschauung garantieren. Das Auf-
einanderbeziehen beider muff ein blofes Bild bleiben, da ihre Verwandt-
schaft nicht mehr als das gleiche Niveau der iiberwundenen Gegensatzlich-
keit ist, sonst aber in Struktur wie in Intentionsqualitat und -richtung eine
vollige Divergenz aufweist. Das Kunstwerk kann nur durch Verfalschung
ihrer eigentlichen Wesensart (Einzigartigkeit, Erlebbarkeit, Materialechtheit
etc.) zum Symbol der intellektuellen Anschauung werden und diese verliert
durch eine solche »Garantie« ebenfalls ihre eigenste Wesenheit: das wirkliche
»Haben« und »Erreichen« der wirklichen metaphysischen Essenz, die Be-
freiung von jedem Bedingenden-ad-hoc, dessen Ewigwerden das Wesen des
Kunstwerks ausmacht. Dazu kommt noch, da& um diese »Garantie« real in
Wirksamkeit treten zu lassen, der struktive Gegensatz von Werk und Schaf-
fen abgeschwacht werden muf; denn hier muf ja nicht nur das »Erkannte«
zum kunstwerkartigen Subjekt-Objekt werden, sondern es muff sich im Akt
der intellektuellen Anschauung, also doch im Subjekt, realisieren. Dadurch
heben sich aber beide gegenseitig auf: das ganze System — das sich ja dann
auf das standige Funktionieren dieses so gesicherten Prinzips griindet — wird
zum Kunstwerk verwandelt, das Metaphysische asthetisiert und die-Kunst
doch zur platonischen metaphysischen Tautologie erniedrigt. Die tiefe und
echte metaphysische Intention, hinter die erstarrende und erstarrte »objek-
tive« Gegenstandlichkeit des diskursiven Verstandes zu greifen, mu8 hier
gerade an der Vergegenstindlichung scheitern: das von der intellektuellen
Anschauung und fiir sie geforderte Niveau mu — wenn es unverfalscht fest-
gehalten wird — jede Gegenstindlichkeit aufheben; die Sehnsucht darnach
ist eine, im weitesten Sinne des Wortes praktische und nicht rein kontempla-
tive, eine Eros-Sehnsucht im platonischen Sinne, die Forderung einer »Medi-
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 155
21 [System des transzendentalen Idealismus. Samtliche Werke, Abt. I. Bd. III. S. 46r.]
156 Heidelberger Asthetik
22 [Schelling: Uber das Verhaltnis der bildenden Kiinste zur Natur. Simtliche Werke.
Abt, I. Bd. VII. S. 303.)
23 [Die Enneaden. III. Buch 8, Kap. 9, Bd. I. S. 266.]
24 [Ebda, V. Buch 8., Kap. 8-9. Bd. II. S. 209-210.)
Logisch-metaphysische Schonheitsidee 157
ten ein gesichertes Wissen, aber eines, das gar keine Aussagbarkeit iiber das
»Was« haben will. Man kann es »haben«, sprechen aber nur von seiner
Wirkung, nur davon, »was es nicht ist ®5.«
Der Sprung in die negative Theologie ist eine Rettung fiir Grund und Gip-
fel des Systems, wenn auch fiir seinen Aufbau hieraus ungeheure, hier nicht
analysierbare Schwierigkeiten entstehen, aber er kann die »asthetische«
Struktur der intelligiblen Wirklichkeit auch nicht aufheben, nur daf die
methodischen Folgen weniger krass hervortreten als bei Schelling, dessen
spekulative Tiefe und Kiihnheit in dieser Paradoxie selbst den Lésungsweg
gesucht hat. Und es bleiben fiir alle derart aufgebauten Systeme die Proble-
me bestehen, die aus dem Einander-nahe- oder Zur-Identitat-bringen von
asthetischer und intellektueller Anschauung folgen: die Notwendigkeit, der
Kunst eine metaanthropologische Sphire zuzuweisen, und die Intention im
Asthetischen, die Werkstruktur auf die Subjekt-Objekt-Beziehung anzuwen-
den, die Intention auf das Einswerden mit dem Schénen, das Erosproblem.
Die Aporie des Anthropologismus kann nur auf dem Boden der Theoreti-
sierung des Asthetischen entstehen. Denn fiir die reine Theorie ist notwen-
digerweise eine Dualitat zwischen den ewigen, aus dem Wesen des Theore-
tischen selbst stammenden »Formen« der Erkenntnis und zwischen ihrem
»sinnlichen«, also menschlichen, bedingten und zufalligen Substrat gegeben,
woraus sogar fiir Kant das »ganz Zufallige« der »méglichen Erfahrung« 2°
folgt. Das Bestreben der reinen Theorie muf also darauf hinausgehen, eine
Sphare des schlechthin Apodiktischen zu finden, die von jeder triibenden
Beriihrung mit dem Menschlich-Sinnlich-Zufalligen véllig frei ist. Ob dies
nun in der reinen Isolierung einer — um mit Spinoza zu reden — adaquaten
Erkenntnis von der inadaquaten ist; ob es die »kritische« Klarlegung der
blofen Substratrolle der Sinnlichkeit ist, wobei sie durch diese Grenzsetzung
gewissermafen neutralisiert, zum »Material tiberhaupt« verwandelt wird
und — innerhalb der konkreten Grenzsetzung — die metaanthropologische
Apodiktizitat der theoretischen Formen nicht mehr zu triiben vermag; ob es
die »Erzeugung« der »Sinnlichkeit« durch die theoretischen Formen ist, wel-
che freilich — was fast immer vergessen wird und allerdings nur fiir das
System als Ganzes, nicht aber fiir die reine Theorie von Bedeutung ist —
27 [Timaios, 33. Werke. Vierte Gruppe, Bdchn. 6. Obersetzt von F. Susemihl. S, 691.]
28 [Ebda, 34. S. 692.]
160 Heidelberger Asthetik
tionen, deren Kontemplation angestrebt wird, filhrt kein gangbarer Weg
zur hérbaren und zur hérenden Musik, zu der Musik, die als Kunst
gegeben ist. Da in einer naturwissenschaftlichen Psychologie bestimmten
»Erlebnissen« Zahlenverhaltnisse zugeordnet, oder daf in einer »Psycholo-
gie der Receptivitit« das Gefallen an bestimmten Proportionen, am »gol-
denen Schnitt« etwa, erfolgreich analysiert werden kénnen, bleibt hierbei
au&er Frage, hat aber mit diesem Problem nichts zu tun. Diese Propor-
tionen sind, wenn die Musik als Musik, als Klang und Hérbarkeit aufrecht-
erhalten werden soll, nichts als ein methodisches Hilfsmittel fiir die theo-
retische Erkenntnis der physikalisch-physiologischen Bedingungen ihres tat-
sachlichen — nicht asthetischen — Verwirklichtwerdens; die Musik als Musik
folgt niemals ihren Gesetzen, und die erhabene Harmonie der Planeten-
abstande, die himmlische Harmonie der Spharen ware — fiir die Musik —
eine diirftige Elementarlehre primitiver Tonverhiltnisse. Darum war es
stets eine doppelt sinnwidrige Anthropomorphisierung der groBen pytha-
goraeischen Lehre, wenn die Harmonie der Sphiren als »hérbar« gedeutet
wurde, und ihr letzter Erneuerer, Kepler, hat sie mit voller Energie von
jeder Hérbarkeit losgelést, er lat das Auge, oder besser gesagt, die dem
‘Auge analogen occulten Organe zu Organen ihrer Kontemplation werden,
und weigert sich, diesen Sprung zur Sinnlichkeit — der ein wahrer Salto
mortale ist, denn er gibt alles Errungene preis, ohne das Wieder-zu-Errei-
chende, Niedrigere zu erlangen — zu vollziehen.
Hier ist mit grofartiger Konsequenz der Sinn der menschenjenseitigen
Schénheit gefa&t; es wird aber dabei zugleich deutlich, da& damit das Auf-
gehen der Asthetik in Theorie vollendet ist, es ist eine mathematisch-meta-
physische Naturphilosophie entstanden, die in dem ontologischen Begriff der
Schinheit als Inbegriff von Ma8, Proportion, Harmonie etc. gipfelt; Schén-
heit ist die Eigenschaft der rein gewordenen, zu sich gekommenen »letzten
Dinge«, eine konstitutive Kategorie fiir den naturphilosophisch-metaphy-
sischen Aufbau des Universums. Fiir den »Betrachter«, das Subjekt der Kon-
templation ist die Schénheit nur ein objektivierender Ausdruck fiir die Er-
griffenheit des Geistes vor der erhabenen Grofartigkeit der Gesetze des Uni-
versums; und das »Erleben« dieser Schinheit ist in der Tat etwas durchwegs
Secundires, nicht im Wesen der Schinheit selbst Begriindetes, was sie also
als »Erlebbares« und auf »Erlebbarkeit« Angelegtes nicht in eine anthropolo-
gische Sphdre herabziehen kann: es ist das »Erlebnis« der einfachen Ein-
leuchtungskraft dieser Gesetze. (Daf hierbei dann doch asthetische Motive
mitspielen und die »Reinheit« triiben, ist aus den friiheren Analysen ver-
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 161
standlich. Da& etwa bei Kepler fiir die Annahme eines begrenzten Kosmos,
wie iiberhaupt fiir den Wertbegriff des négas in der platonischen Kosmo-
logie die Idee des Universums als »Kunstwerk« wenigstens mitentscheidend
war, kann hier nur angedeutet werden.)
Aber diese Folgerichtigkeit konnte sich selbstverstandlich duferst selten in den
philosophischen Systemen verwirklichen. Um die Sinnenwelt, mit ihren
»schénen Dingen« und derer Gestaltungen in den Kunstwerken zu retten,
mufte der Salto mortale ihrer Verkniipfung mit der himmlischen Harmonie
doch versucht werden. Das Einfachste, wenn auch freilich Banalste war, an
die Lehre von der Triibung ankniipfend das Sinnlich-Schéne (in Natur und
Kunst) als Sphare des Noch-Nicht, als Vorhalle des Theoretischen zu kon-
stituieren und das »Sinnlichee daran als das noch nicht zur BewuStheit ge-
langte Theoretische zu fassen, das der Mensch eben dieser Zugeordnetheit
wil-
len, aber ohne den wahren Grund zu kennen, als »schén« erlebt. Aber es
ist notwendig, da& die wahre Erfiillung nur im vélligen BewuStwerden,
also in der Abkehr vom »Sinnlichen« (und damit vom Asthetischen) miglich
sei. Diese Auffassung hat die ganze vorkantische Zeit beherrscht, fiir deren
Philosophie die Kunst und mit ihr das Asthetische als aufgegebenes Problem
immer weniger auszustreichen war. Fiir Spinoza gibt es noch kein Asthe-
tisches als Problem der Philosophie, Leibniz bestimmt es schon auf diese
Weise: »Die Musik entziickt uns, obgleich ihre Schénheit nur in der Ent-
sprechung von Zahlen besteht und in der unbewuften Zahlung, die die
Seele an den Schligen und Schwingungen der ténenden Kérper vornimmt,
die in gewissen Intervallen mit einander zusammenstimmen. Die Freude,
die das Auge an den Proportionen empfindet, ist von derselben Art, und
auch die der iibrigen Sinne wird auf etwas Abnliches hinauslaufen, obgleich
wir sie nicht so deutlich zu erklaren vermégen« **. Aber selbst fiir Kant sind
solche Anschauungen noch nicht véllig iberwunden und wenn er die »reinen
Geschmacksurteile« von den auf Reize bezogenen genau unterscheiden will,
so miissen die Farben, als blo&e Reize, aus dem eigentlich Asthetischen
ausscheiden; ihre Rettung fiir die Asthetik sei nur dann méglich, wenn sich
die Eulersche Theorie von den Atherschwingungen bewahrheitet, denn »so
wiirde Farbe und Ton nicht blo&e Empfindungen, sondern schon formale
Bestimmung der Einheit eines Mannigfaltigen derselben sein und alsdann
29 (Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. § 17. Philosophische Werke. Hrsg.
von E. Cassirer. Leipzig, Durr. 1906. Bd. II. S. 433-]
162 Heidelberger Asthetik
auch fiir sich zu Schinheiten gezahlt werden kénnen« %, Damit spitzt sich
das Dilemma noch scharfer zu: die Asthetik soll als autonome Wertsphire
oder als selbstindiges Gebiet der metaphysischen Philosophie begriindet
werden, diese Autonomie erfordert ihr Verankertsein in der ewigen, men-
schenjenseitigen Welt der Werte oder der urbildlichen Ideen, es ist also eine
Lebensfrage fiir die Asthetik, ihre Organe und Formen entweder von der
Sinnlichkeit villig frei zu machen oder in (besser: hinter) dieser die konsti-
tutive Verbindung aufzufinden, ohne jedoch (eine Exschwerung, die fiir den
reinen Platonismus nicht bestand) das Asthetische als Asthetiches aufzu-
heben. Die Unauflésbarkeit dieses Dilemmas stammt aus der theoretischen
Fragestellung, denn nur in ihr und durch sie entsteht der zu iiber-
windende Begriff der anthropologischen Sinnlichkeit und ist fiir sie, wie
gezeigt wurde, nicht zu vertilgen. Denn solange an dieser methodischen
Stelle fiir die Sinnlichkeit festgehalten wird, kann die Allgemeingiiltigkeit
des Asthetischen nur in den »unsinnlich« theoretischen Elementen seiner
Form begriindet sein, das Asthetische in seiner eigentlichen Gestalt mu8
also transcendiert werden; eine wirkliche Verbindung beider ist nicht her-
stellbar, und das Kriterium der wirklichen asthetischen Geltung und Gegen-
standlichkeit ist notwendigerweise auferasthetisch; man denke noch an den
kantischen Begriff des Ideals in der pulchritudo adhaerens. Der einzige
Winckelmann ist hier der Autonomie der Asthetik nahe gekommen, indem
er fiir ihre Geltungsart eine von der gewdhnlichen abweichende und selb-
standige Sinnlichkeit im Gestaltungsmaterial der Kunst auffand, dessen
Wesen als ein »aus der Materie durch Feuer gezogener Geist« *! erscheint.
Doch selbst bei ihm ist diese Bewegung auf Autonomie eine scheinbare:
auch dieses Material ist es nur im uneigentlichen Sinn, es ist mehr eine Art
von »intelligibler Materie« als das wirkliche, sichtbare, hérbare etc.
Material der Kunst. Denn dieses »quasi corpus« dient ja in erster Reihe zur
Unterscheidung des Helden von dem Vergotteten, jenem, der »noch nicht
an das Ziel seiner Arbeiten gelanget war, von dem mit Feuer gereinigten,
und zu dem Genu& der Seligkeit des Olympus erhabenen Kirper dessel-
ben« *, Die »absolute«, nicht mehr menschlich-sinnlich-zufallige Materialitat
30 [Kritik der Urteilskraft. § 14. Werke, Hrsg. von E. Cassicer. Berlin, Cassirer. 1914.
Bd. V. S. 294.)
31 [Geschichte der Kunst des Altertums. Buch IV., Kap. 2, § 22. Werke, Hrsg. von
H, Meyer und J. Schulze. Dresden, Walther. 1811, Bd. IV. S. 52-53.]
32 [Ebda, Buch. V., Kap, 1., § 28. Werke. Bd. IV. S. 95.)
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 163
ist also doch das blo&e Erkennungszeichen eines An-sich, der vorasthetisch
daseienden konstitutiven Kategorien der »schénen Dinges, ein metaphysi-
sches Inventar gewissermaffen der Kennzeichen der Gétter und der Men-
schen, wie ja das Kriterium der Schénheit, das Windcelmann sucht, dazu
dienen soll, die Schénheit in allen irdischen Erscheinungen unterscheiden
und ihre Beurteilung der Relativitat der Geschmacksurteile entrei&en zu
k6nnen. »Die Schénheit wird durch den Sinn empfunden, aber durch den
Verstand erkannt und begriffen, wodurch jener mehrentheils weniger emp-
findlicher auf alles, aber richtiger gemacht wird und werden soll« 58,
Diese aus der Art der Fragestellung selbst entstehende Unmiglichkeit ihrer
Beantwortung weist auf ein anderes Motiv hin, das von der Seite des
Asthetischen zur intellektuellen Anschauung und ihrem Objekt, der intelli-
giblen Wirklichkeit dringt, Wenn namlich fiir das Asthetische eine Objek-
tivitdt gefordert wird, die — wenn auch in absteigender Linie — doch eine
Briicke zur Sinnlichkeit, durch die die »schénen Dinge« erblickt werden,
schlagen soll, so ist es notwendig, da in der die Objektivitat begriindeten
Heimat aller Formen sich nicht nur die von der Beflecktheit reingewordenen
Formen (die, wie wir wissen, immer theoretisch sind) vorfinden, sondern
gleichsam auch die reingewordenen Vorbilder des Materials. Die intelligible
Wirklichkeit ist ein Gegenstindlichwerden der reinen Formen, aber dies ist
nur dadurch méglich, da& sie aus sich eine »intelligible Materie« entlassen
und sich mit ihr vereinigt haben. Der Anschauungscharakter der intellek-
tuellen Anschauung geht auch darum iiber das diskursive, rein theoretische
Erkennen hinaus, weil diese letzte Erfiillung der reinen Formen von ihr
miterfa&t wird. Intellektuelle und sthetische Anschauung kénnten also sich
von hier aus betrachtet gegenseitig erginzen und objektivieren: wahrend
aber die asthetische Anschauung doch nur eine empirische Gew4hr, eine
blo& exoterische Sichtbarmachung der intellektuellen sein kann, ware um-
gekehrt fiir die Berechtigung des Zusammensehens von Form und Materie
in der sthetischen Anschauung die Erkenntnis eines Zusammens von urbild-
licher Form und »intelligibler« Materie’ in der intellektuellen Anschauung
in Wahrheit die Garantie ihrer Objektivitat. Das Irdische und Sinnliche —
und deshalb das blo& Menschliche und Zufallige — der Materie ware also
aufgehoben, wenn man nachweisen kénnte, da ihre Materialitat nur ein
Abglanz jener ist, die die Formen der intelligiblen Wirklichkeit erfiillt, da8
33 [Ebda, Buch IV. Kap. 2., § 18. Werke. Bd. IV. S. 48]
164 Heidelberger Asthetik
sie demzufolge — weder als etwas blo& an den Menschen als Sinneswesen
Gebundenes, noch als von den Formen »zufallig« Umfaftes — von ihnen
abtrennbar und abzutrennen ist. Dadurch erhilt die friiher betonte »asthe-
tische« Wesensart der intelligiblen Wirklichkeit eine neue Beleuchtung: in
ihr ist das Ideenhafte der »sinnlichen« Wirklichkeit mitaufgenommen, und
das Wiedererkennen der Urheimat, das die Seele im Schénheitserlebnis so
sehr erschiittert, entreift sie nicht véllig ihrer irdisch-menschlichen Umwelt,
sondern zeigt diese vielmehr in ihrem eigentlichen, nur fiir den uneinge-
weihten Blick getriibten Glanze; zeigt sie wie sie in der Anschauung Gottes
da ist. So wird der Schaffensproze8 der Kiinstler, die Vision zu einer heili-
gen Entriidctheit, zu einer der vier Arten des Wahnsinns, von denen Platon
im Phaidros spricht, zu einem der Wege, die bei Plotin tiber den Schaffens-
prozef des Kiinstlers auf dem Weg des Eros zur Heimat fiihren. Und so
wie es fiir Gott keinen Unterschied der Tatigkeit und des Geschaffenen,
keinen Abstand zwischen Ding und Begriff gibt, so sind auch diese Diffe-
renzen in der Vision zur Einheit gebracht. »Eine jede Seele«, sagt Solger,
die dieser Gnade teilhaftig wird, »... hat in sich selbst ein der Gottheit
abgegrenztes und geweihtes Gebiet, und in dessen Mitte einen heiligen
Tempel, in welchem nicht blo ein Abbild der Gottheit verehrt wird, son-
dern sie selbst gegenwirtig und schaffend wohnt« #4, Und diese Gattlichkeit
durchstrahlt das ganze geschaffene Universum, diese Seele zieht »die ganze
tibrige Welt der Besonderheit und Wirklichkeit, so weit sie dieselbe nach
au&en umfa&t, mit nach sich« und tragt sie »mit frohem Triumph als ein
aus der Gottheit selbst hervorgegangenes Leben, zu dieser zuriick« *5,
Ist aber damit die »Sinnlichkeit« wirklich »gerettet« und der Schénheir,
ohne Vernichtung ihrer irdisch-menschlichen Erscheinungsform, eine wahr-
hafte Objektivitit zugewiesen? Ist nicht vielmehr durch diese Fassung der
Vision — Solger nennt sie Phantasie — nur neues Zwischenglied zwischen
zwei auf diesem Boden unverbindbare Formgruppen, zwischen das trans-
cendent Seiende und die irdische Nichtigkeit geschoben? Plotin, der als
erster diese von Platon folgerichtig abgelehnte Versdhnung suchte, konnte
sie auch nur fiir die Vision anerkennen: das Bild, das in der Seele des
Schaffenden lebt, hat dieses Niveau der reinen Bildhaftigkeit erreicht; sobald
es jedoch mit dem wirklichen Material in Beriihrung kommt, ist der Triibung
34 (Erwin. Vier Gespriche tiber das Schine und die Kunst, Berlin, 1815. Teil II. 8. 15.]
35 [Ebda, S. 16.]
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 165
durch die Sinnlichkeit doch nicht zu entgehen. »Es wohnte also in der Kunst
diese weit héhere Schénheit; doch ging nicht diese in den Marmorblock ein,
sondern indem jene bleibt, eine von ihr ausgehende geringere; und auch
diese blieb nicht rein in sich selbst und gehorchte dem Willen des Bildners
nur insoweit, als der Stein der Kunst nachgab. .. Soweit sie namlich in den
Stoff eingehend sich ausgedehnt hat, um soviel ist sie swacher als die in sich
selbsteinig verharrende« %*, Und auch Solgers »Phantasie« bleibt innerlich
beziehungslos zu der zu gestaltenden Wirklichkeit, wie sehr er sich auch be-
miiht, den Abgrund wischen Urbild und Nachbild, das »schéne Ding« mit
der Idee selbst gleichsetzend, zu iiberbriicken; da Phantasie und Sinnlich-
keit die beiden Brennpunkte einer Ellipse sind, »welche ein ganz wirkliches
und doch in sich selbst ewig zuriicdkkehrendes Dasein am vollkommensten
ausdriickt« 87, ist doch nur ein Bild, das ihre Beziehung zu einander, die
Objektivitit und Notwendigkeit des Sinnlichen umso weniger zu erklaren
vermag, als die Sinnlichkeit auch hier ins Dunkel der Irrationalitat gehiillt
bleibt.
Hier zeigt sich in endgiiltiger Klarheit, da8 der theoretische Ausgangspunkt
dieses metaphysischen Systemtypus nicht zu iiberwinden ist. Denn das ganze
Problem von der Zufalligkeit des Menschlich-Sinnlichen ist nichts anderes
als die notwendige methodologische Folge der theoretischen Fragestellung,
und die intelligible Materie kann zwar, wie bei Thomas von Aquino, zur
Grundlegung der Mathematik verhelfen, eben weil sie von rein theoretischer
Struktur ist, verharrt aber gerade deshalb dem Material des Schénen und
seinen Aufnahmeorganen gegeniiber in genau derselben abweisenden »ab-
strakten« Transcendenz, wie die theoretischen Formen selbst. Wenn die
intelligible Materie zum Verbindungsglied zwischen den ewig-urbildlichen
Formen und der Materie der »schénen Dinge« in Natur und Kunst, und
damit zur Garantie der Objektivitat ihrer Schénheit werden soll, muf sie
das utopische Endziel und die endgiiltige Erfiillung ihrer spezifischen,
menschlich-zufalligen, subjektiven Wesensart sein; d. h., gerade dieses Sub-
jektive, Zufallige, Willkiirliche an ihnen muf in ihr zur Idee werden. Die
von den grofen Neuplatonikern der romantischen Asthetik erhobene Forde-
rung des Zusammenfallens des Allgemeinen mit dem Besonderen kann diese
Funktion nicht erfiillen, weil dieses »Besondere« der bereits rein theoretische
auf nichts anderes wilzen, als auf das Vollkommene selbst in seiner Offen-
barung fiir das zeitliche Erkennen . . .« 4,
Wir konnten hier verfolgen, wie das immer konkretere und begriffenere
Aufsteigen und Eintreten der Kunst in die Asthetik zur Selbstauflésung
des platonischen Systemtypus der Lehre von der Schénheit fiihrt. Fiir Platon
selbst waren alle Probleme, die hier lagen, nicht unbekannt, aber gefahrlos
und unwesentlich, denn sie schienen alle blo& aus der sich verkennenden
oder sophistischen Anmafiung und Unwissenheit der Kunsttreibenden zu
stammen. Die immer wiederkehrende Verurteilung der Kunst als wesenlose
Nachahmung der Nachahmung kann uns jetzt nicht mehr als zeitliche Be-
fangenheit Platons, als etwas der Erklarung oder gar der Entschuldigung
Bediirftiges vorkommen, sondern zeigt sich als unabweisbare Folge seiner
ganzen Problemstellung. Und es zeigt sich auch, daf alle entscheidenden
Griinde, die von ihm fiir diese Substanzlosigkeit der Kunst angefiihrt
werden, weniger aus einem Verkennen ihres Wesens, als aus ihrer — wenn
auch bedingt — richtigen Erfassung und aus dem metaphysisch folgerichtigen
Bewerten des so Erfaften herriihren; da& also Verurteilung und Selbstauf-
Tésung der Kunst, die zu Beginn und Ende der platonischen Asthetik stehen,
die dialektischen Endpunkte und notwendigen Spitzen eines in sich coha-
renten Gedankenaufbaus sind und in innigster Beziehung zu einander stehen.
Der entscheidende Punkt an der Kunst, gegen den sich die platonische Pole-
mik richtet, ist der Begriff des Gestaltens, die AnmaSung »alle [Dinge]
zusammen zu machen und auszufiihren mit einer einzigen Kunst« “!, Die
logisch-metaphysische Grundstruktur des Systems kann nur eine Art von
Sein anerkennen, die von der Wirklichkeit bis zu den Urbildern nur quanti-
tative Abstufungen an Seinsnahe und Seinserfiilltheit, nicht aber qualitative
und deshalb radikale Andersheiten zula&t. Da das Wesen der Kunst der
Anspruch auf die Setzung einer solchen Seinsqualitat ist, ist gerade in der
Abweisung Platons deutlich erkannt, und die Erneuerer seines Systemtypus,
die die Kunst dennoch retten wollten, sind auch nicht iiber seine, in bezug
auf Substanzialitat homogene Seinsstruktur hinausgekommen; und weil sie
daran festhaltren muften, muften sie die Kunst mit der substanzvollen,
der géttlichen Tatigkeit identifizieren und sie dadurch der Selbstauflésung
42 [Staat, X. 598. Werke. Vierte Gruppe. Bdchn. 5. 1856. Obersetzt von W. Wiegand.
S. 529]
Logisch-metaphysische Schénheitsidee 169
schen und damit an das Unedle in ihm; ihre einschmeichelnde und beste-
chende Kraft bestarkt ihn in seinem trigen Verharren, schlafert seine Sehn-
sucht nach dem wiirdigen Gegenstand ein. Und nicht nur da die Kunst
sich an das Unwiirdige in dem Menschen wendet — und indem der Mensch
Unwiirdiges und Niedriges »nachahmte, der Schein in Seelenhaftes um-
schlagen und ihn selbst niedrig machen kann —, sondern auch das Héchste,
das der Kunst auszudriicken gegeben ist, ist etwas Sinnlich-Niedriges: der
Held der Tragédie; auch er muf§ das »Menschliche« in seiner Seele iiber das
den Urbildern Verwandte triumphieren lassen, damit sein Geschick den ge-
staltenden Formen der Kunst angemessen werde. »Nun hat doch nach einer
bereits ausgemachten offenbaren Wahrheit der fiir die Nachahmungspoesie
geschidkte Dichter erstlich zu einer solchen verstandig ruhigen Gemiitsart
keine urspriinglich angeborene Anlagen...; vielmehr hat er nur Anlagen
fiir die zu klaglicher und ungeduldiger Gebardung und zu vielfacher Ande-
rung aufgelegten Sinnesart, weil diese leicht nachzuahmen ist« ,
Diese Gedanken deuten die tiefste metadsthetische Grundstromung der pla-
tonischen Schénheitslehre an: die Kontemplation des »Schénen« ist nichts
Letztes und soll es auch nicht sein. Wenn die schénen Dinge dieser Wirklich-
keit zu Gegenstanden der Kontemplation werden, so geschieht dies, weil
sie der anderen, der cigentlichen Bestimmung, der Vereinigung mit der rein-
gewordenen Seele nicht wiirdig sind und weil die Seele der wahren Heim-
kehr nicht wiirdig ist; weil ihre Schénheit ihnen doch nur anhaftet und die
Sehnsucht der Seele noch nicht rein und heftig genug ist und bei ihnen
kontemplativ stehen bleibt. »Aber denen, die nicht das Ganze sehen«, sagt
Plotin, »erscheint nur die Oberflache als etwas schines, die aber, welche
ganz und gar gleichsam berauscht und von Nektar trunken sind, denn die
Schonheit durchdringt ja die ganze Seele, gehen nicht als blo&e Zuschauer
davon« “4, La&t der Beschauer das schénste Bild, obwohl es schén ist, hinter
sich, »dann ist alles zugleich eins mit jenem Gott, der in aller Stille herbei-
gekommen, und er ist mit ihm eins soweit er kann und will« 45, Die Schén-
heit ist nicht mehr als ein Anla& zur Entziindung dieser Sehnsucht der Seele,
und je echter die Sehnsucht geworden ist, desto weniger bedarf sie dieses
Anlasses und findet auch ohne ihn ihren Weg. Darum sind die hohen Arten
der Schénheit, die auf die rein gewordene Seele mehr wirken als die blo&
irdischen von dsthetisch nicht mehr erfaSbarer Wesensart: »Schénheiten«
der Institutionen und der Erkenntnisse, bei denen der Begriff der Schénheit
evidenterweise nichts anderes bedeutet, als das klargewordene Durchdrun-
gensein aller Inhalte von den iibermenschlichen, iibersinnlichen Kraften, von
dem, was in der Seele rein werden soll, von den Kraften der wahren Ver-
nunft. Darum heift es im Gastmahl: Eros »nimmt uns ... alles Fremde und
gibt uns alles Eigene wieder« 4; darum heif’t es aber zugleich, da& Eros
der Sohn des Poros und der Penia ist, ein Abbild der menschlichen Zwischen-
stellung zwischen Géttlichem und Tierisch-Sinnlichem, darum ist sein Ruf
ein Ruf alles Irdische zu iiberfliegen und der wahren Bestimmung der Seele
zuzueilen.
Die intellektuelle Anschauung der romantischen Neuplatoniker kehrt nur
die Vorzeichen um: wahrend fiir Platon und Plotin das Asthetische in dieser
logischen Religiositat aufging, saugt ihr Schinheitsbegriff, der ebendeshalb
geradeso theoretisch bleiben muf, alles Religiése in sich auf und wird zur
Religion. Am Wesen der Schénheit und an ihrer Funktion im System kann
sich aber hierdurch nichts indern: die Schénheitsidee hebt sich, wie gezeigt
wurde, geradeso durch die immanent-strukturellen Widerspriiche der Pro-
blemstellung selbst auf, nur da& diese Selbstauflésung, weil sie sich imma-
nent in der Schénheit selbst, die alles Religidse in sich vereinigt hat, voll-
zieht, einen tragischen Accent erhialt, der Platon und selbst den spatantiken
Platonikern véllig fremd bleiben mufte.
46 [Gastmahl, 197. Verdeutscht von R. Kassner. Jena, Diederichs, IV. Aufl. 1913. S. 41]
17
1 [Phdnomenologie des Geistes. Werke. 11. Aufl. Berlin, Duncker und Humblot. 1841.
Bd. 11. S. 19. - Ausgabe Hoffmeister. Hamburg, Meiner. 1952, S. 24.]
172 Heidelberger Asthetik
nomenologie«. Es ist hier freilich nicht der Ort, die Idee des Systems und den
Begriff des Wirklichen einer genauren Analyse zu unterwerfen, betont mu
nur das sowieso Bekannte werden, da unter System eine konkrete und er-
fiillte Totalitét und nicht ein Inbegriff abstrakter, der Erfiillung bediirftiger
Formen als Bedingungen der Moglichkeit von Erfiillungen iiberhaupt, und
unter Wirklichkeit weder alles blo& Daseiende, noch das abstrakte An-sich
transcendenter Urbilder, sondern »die unmittelbar gewordene Einheit des
Wesens und der Existenz«* verstanden werden soll.
Eine solche Uberwindung der abstrakten Transcendenz der Form muf schon
an und fiir sich den Formbegriff dem Asthetischen nahebringen: die Form
muf bis zu einem ziemlich hohen Grade »materialecht«, zur Form des be-
stimmten Inhaltes werden, um die geforderte Konkretheit zu erlangen; bleibt
die Spannung zwischen umfassender Form und umfaftem Inhalt in wirk-
licher Schiirfe bestehen, so verharrt ihre Beziehung im Zustand des bloSen
Sollens, einer fiir Hegel notwendigerweise abstrakten, blo& Schranken und
nicht wesenhafte Bestimmtheiten (blo& Dasein und nicht Wirklichkeit) set-
zenden Beziehung. Die Fremdheit von Form und Inhalt muf also das Erste
sein, was hier iiberwunden wird; wenn auch fiir die Reflexion ihre Dualitat
nicht ganz aufgehoben werden kann, wenn auch, um die Weiterbewegung der
Begriffe und ihre Selbstvollendung im System zu ermiglichen, jede partiku-
lare Einheit von Form und Inhalt eine unvollendete sein muf, iiber die fort-
geschritten werden soll, so ist die dennoch bleibende Fremdheit aufs starkste
relativiert. Und das entscheidende Motiv in dieser Relativierung ist, da
hierbei der Inhalt einen bestimmten Primat vor der ihm zukommenden Form
besitzt. Der Inhalt ist »das in Form und Materie Identische, so daf diese nur
gleichgiiltige du@erliche Bestimmungen wiren. Sie sind das Gesetztsein iiber-
haupt, das aber in dem Inhalte in seine Einheit oder seinen Grund zuriick-
gegangen ist«8; nachdem frither »die Tatigkeit der Form auf die Materie,
und das Bestimmtwerden dieser durch jene« als »nur das Aufheben des
Scheins ihrer Gleichgiiltigkeit und Unterschiedenheit«‘ definiert wurde. Dar-
um ist philosophisch, im Gegensatz zu den transcendenten Wahrheitskriterien
des gewohnlichen BewuBtseins, Wahrheit die »Ubereinstimmung eines Inhalts
2 [Encyclopadie der philosophischen Wissenschaften. § 142. Werke. Bd. v1. 1843, S. 281.]
3 [Wissenschaft der Logik. Werke. Bd. rv. 1841, S. 86, - $, Ausgabe Lasson, Hamburg,
Meiner. 1969. Zweiter Teil. S. 75.]
4 (Ebda. S. 81. - Ausg. Lasson, S. 72.]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 173
mit sich selbst«, wodurch das Schlechte und das Unwahre »in dem Wider-
spruch, der zwischen der Bestimmung oder dem Begriff und der Existenz eines
Gegenstandes statt findet« § bestimmt wird; Vorstellungen iiber solche Ge-
genstiinde kénnen »richtige (d. h. formell richtig) sein, bleiben aber dennoch
»unwahre. Dieser Primat des Inhalts vor der Form oder, mit anderen Wor-
ten, der der erfiillten Form vor der abstrakten, auf dessen Bedeutung fiir
diese ganze Problemstellung noch oft zuriickzukehren sein wird, gibt bereits
den Elementen des Systemaufbaus etwas Kunstwerkhaftes. Dies steigert sich
noch in der — hier ebenfalls nur andeutbaren — Lehre vom konkreten Be-
griff. Wenn in diesen »alle Bestimmtheit, aber wie sie in ihrer Wahrheit ist«
erblidct wird, wenn seine Momente »nicht abgesondert werden« kénnen und
»indem im Begriff ihre Identitat gesetzt ist, kann jedes seiner Momente un-
mittelbar nur aus und mit den andern gefaft werden«,® so erscheint es noch
deutlicher, da& der Ort des Eintretens asthetischer Strukturelemente in den
Aufbau des Systems hier der Proze& des Denkens selbst und nicht sein uto-
pisch-transcendentes Ziel ist. Die theoretische Form vergewaltigt hier nicht
auf den Stufen der Immanzenz die asthetische, um sie in ihrer letzten Erfiil-
lung wider Willen doch in sich einzuverleiben, sondern die erste verschlingt
die letzte von Anbeginn: die theoretische Form iiberwindet die abstrakte For-
malitét des Theoretischen und seine schlechthinige und briickenlose Transcen-
denz, indem sie ihm auf dem Niveau der Immanenz — und dieses als das
gegenwartige Absolute festhaltend — eine vollendete und vollendet in sich
ruhende Gegenstandlichkeit verleiht. Sie ist, wie dies fiir das asthetische Form-
prinzip wiederholt gezeigt wurde, nicht nur Form eines bestimmten Inhalts
und nur in dieser immanent sich vollendenden Bestimmung sich selbst ange-
messen und deshalb wahr, sondern hebt in dieser Identitat mit dem Inhalt
auch ihre Eigenbestimmtheit als etwas Relatives, der unangemessenen Be-
trachtung (hier der Reflexion) Zugehdriges auf. So wie die asthetische Form,
indem sie ihren »Inhalt« formt, ganz in ihm aufgeht und als Geltungsqualitat
die Kontemplation der geformten Einheit beider, die des konkret-vollende-
ten Gehalts, und nicht die der Form selbst fordert, so verschwindet die blo&
formale Bestimmtheit des Inhalts im konkreten Begriff vor der wahren Un-
endlichkeit, die aus der Vereinigung von Form und Inhalt und in ihr entsteht:
Der Geist erblickt sich selbst im konkreten Begriff, und da sein Wesen Kon-
6a [Wissenschaft der Logik. Werke. Bd. rv. S. 68 - Ausg. Lasson. Zweiter Teil. S. 60.]
7 [Ebda. S. 65. - Ausg. Lasson, S. 58.]
Entwidelungsphilosophische Schinheitsidee 175
sich widersprechenden Momente ist keine Privation, sondern »positive Nega-
tivitat«, denn sie ist das inhalthich-organisch Aufeinander-Angewiesen-sein,
das wechselseitige Sich-Steigern, -Befruchten und im Kampfe zur klargewor-
denen Selbstheit Bringen der in ihrer Isoliertheit trib und abstrakt bleiben-
den Bestrebungen. In dieser immanenten Erfiilltheit, mit der Hegel iiber das
Abstrakte der Schellingschen Identitat und Indifferenz als Endziele der Kon-
struktion hinauskam, liegt das asthetische Element seiner Begriffsbildung, im
Gegensatz zu Schelling, dessen Widerspruchslehre rein theoretisch bleibt, wenn
auch das System als ganzes im Asthetischen miindet. Denn die konkrete und
erfiillte coincidentia oppositorum, als Wirklichkeit und nicht als unendliche
Aufgabe des Denkens, ist, wie seinerzeit in der Phanomenologie gezeigt
wurde, die transcendentale Grundlage der asthetischen Setzung. Die asthe-
tische Gegenstandlichkeit des Kunstwerks entsteht, indem einander fremde,
auf einem vor-asthetischen Niveau in gegenseitiger zufalliger Beriihrung und
darum Abschwachung verharrende Gegenstandlichkeitsbestimmungen in das
Verhaltnis der Dissonanz zueinander gebracht werden; d.h. wenn ihre
Fremdheit zur Gegensatzlichkeit und zum Sich-AusschlieBen, zum konkreten
und bestimmten Widerspruch gesteigert wird, der im Werk nicht verschwin-
den, nicht zur Indifferenz, sondern zum voll-anschaulich festgehaltenen Zu-
sammen des nunmehr unlésbar verschlungenen Sinnes und seines Widersin-
nes gebracht werden soll. Daf dem Hegelschen Aufheben der Geltung des
Satzes vom Widerspruch ein diesem mindestens bestechend ahnlicher strukti-
ver Tatbestand zugrunde liegt, kann wohl nach dem bisher Gesagten evident
erscheinen und das Widerstreben jener Denker, die am rein Theoretischen der
Begriffsbildung festhalten, verstandlich machen, wenn es freilich bei weitem
nicht ausreicht, um weder die systematischen Motive, die zu dieser Aufstel-
lung gefiihrt haben, noch den Aufbau selbst, den sie tragen soll, und die Be-
deutung, die sie in ihm erhalt, zu erklaren.
Wir begegnen blof in der hier angedeuteten struktiven Vermischung theore-
tischer und Asthetischer Formbestandteile auf einem neuen Niveau und in
neuem Zusammenhang den Aporien, die fiir den abstrakten Idealismus im
Problem der intellektuellen Anschauung lagen: des unabweislichen Umschla-
gens der Theorie in asthetische Struktur, wenn sie ihren Gegenstinden eine
konkrete, mit ihren Formen organisch verwachsene, gewissermafen »anschau-
liche« Gegenstindlichkeit verleihen will. Freilich hat Hegel jede »Unmittel-
barkeit« und damit jede Art von intellektueller Anschauung stets schroff ab-
gelehnt, es fragt sich jedoch, ob diese Ablehnung in Wahrheit ein Dariiberhin-
ausgehen bedeutet. Dies ist bereits von vielen und mit vielerlei Argumenten
176 Heidelberger Asthetik
bestritten worden, fiir uns kommen hierbei die folgenden Motive in Betracht.
Die Aufhebung der abstrakten Transcendenz kann auch bei Hegel nur durch
das Erreichen des identischen Subjekt-Objekts geleistet werden. Wenn die
Moglichkeit dieser Identitdt auch nur im Prozef selbst erlangt werden kann
(auf der Stufe des Geistes in der »Phanomenologie«, auf der Stufe der Wech-
selwirkung — bei dem Ubergang von der objektiven Logik zur subjektiven — in
der Logik selbst); wenn diese Méglichkeit auch erst durch das vollendete Zu-
sich-kommen des absoluten Geistes, also durch das ganze System zur wahren
Wirklichkeit wird; wenn diese Identitat des Geistes mit sich selbst, seine an-
gemessene Selbstspiegelung mehr ein Sich-Begegnen und Einander-als-Glei-
ches-Erkennen von Subjekt und Objekt, mehr eine immanente Steigerung des
Objekts zur Subjektivitit, als ein Sich-Hinaufschwingen des Subjekts in
eine an sich transcendente und doch mit ihm identisch sein-sollende Objekts-
welt ist, so ist damit am Wesen der Aporien, die aus dem identischen Sub-
jekt-Objekt entstehen miissen, wenig geandert. Der Sprung vom konstruier-
ten theoretischen Subjekt, das sich einem von ihm transcendental hervorge-
brachten, aber gerade deshalb ihm stets blo& gegeniiberstehenden, mit ihm
niemals identischen Objekt gegeniiber theoretisch-kontemplativ verhdlt, zu
dem substantiellen Subjekt der intellektuellen Anschauung kann durch keine
Vermittlung seinen Sprung-Charakter verlieren, Die Vermittlung kénnte
héchstens bis 2u dem Sprung, zu den eben aufgezeigten Punkten fihren —
oder, und dies ist der Fall Hegels, er ist zu Beginn des systematischen Gan-
ges als bereits vollbracht vorausgesetzt. Das Auseinander von Subjekt und
Objekt auf den fritheren Stufen ist dann ein blofer und deshalb leicht ent-
hiillbarer Schein: es ist das Sich-suchen des identischen Subjekt-Objekts, das
blo&e Sich-noch-nicht-gefunden-haben. Dieses Absolute ist dann allerdings
Resultat, kann es aber nur dann sein, wenn es als Resultat im Proze& selbst
implicite auf jeder Stufe enthalten war. Darum staut sich das Hegelsche Pro-
blem der intellektuellen Anschauung im Problem des konkreten Begriffes. Das
entscheidende Symptom ihres Mitwirkens im Hervorbringen des konkreten
Begriffes haben wir bereits erblickt: seine Mitbestimmtheit von dsthetischen
Formelementen; es kommt nur darauf an, die systematische Notwendigkeit
dieser Mischung naher zu beleuchten. Diese Notwendigkeit liegt selbstver-
standlicherweise in seiner Konkretheit, in seiner innigen Identitat mit sich
selbst, im Vergleich zu welcher alles »was man gemeinhin unter Konkretem
versteht, eine duferlich zusammengehaltene Mannigfaltigkeit«® ist. Aber der
konkrete Begriff ist auf seiner héchsten Aufgipfelung, als Idee, notwendiger-
weise das identische Subjekt-Objekt und weil er dies ist, ist er keine »inhalts-
lose Form unseres subjektiven Denkens«, sondern »unendliche, schépferische
Form, welche die Fiille alles Inhalts in sich beschlie&t und zugleich aus sich
entla&t«.® Die Spuren der Abstraktheit, die auch diesem Begriffe anhaften,
bestehen nicht im Vergleich zur empirischen Anschaulichkeit, sondern bezeich-
nen das Noch-nicht-Erreicht-haben des Ideenniveaus; die Unvollstandigkeit
dieser abstrakten Wahrheit »liegt nicht darin, da& sie jener vermeintlichen
Realitdt, die im Gefiihl und Anschauung gegeben sei, entbehre; sondern daf
der Begriff noch nicht seine eigene, aus ihm selbst erzeugte Realitit sich ge-
geben hat.«!° Sobald der Geist sich in Wahrheit erfa&t hat, ist jedes dem
Geist angemessene Verhalten kein Verhalten mehr zu einer — eventuell
selbstgesetzten — Sache, »sondern die Sacve selbst sein«,*! und der Unter-
schied vom identischen Subjekt-Objekt des abstrakten Idealismus bleibt nur,
da das Objekt dieser intellektuellen Anschauung nicht passiv das entgegen-
strebende Subjekt erwartet, sondern auf seinem Wege zu sich selbst das Sub-
jekt als Durchgangspunkt des Begegnens mit sich selbst benutzt. »So ist die
Religion Wissen des géttlichen Geistes von sich durch Vermittlung des end-
lichen Geistes.«*® Aus alledem ist die mit dem abstrakten Idealismus ge-
meinsame systematische Notwendigkeit der intellektuellen Anschauung er-
sichtlich: der Zwang der unwahren oder scheinhaften empirischen Wirklich-
keit eine andere, wesenhafte, sich selbst innerlich angemessene und deshalb
inhaltlich erfiillte Wirklichkeit gegeniiberstellen und nicht blo8 ein Geltungs-
reich abstrakter, der inhaltlichen Erfillung bediirftiger Formen, deren »In-
halt« dann nur aus der Empirie stammen kann. Darum ist die Ablehnung der
Kantischen Dualitat von Form und Inhalt auch hier eine systematische Not-
wendigkeit und darum muf die von Kant — allerdings als unerfiillbar —
konstruierte anschauende Vernunft hier als wirksame Wirklichkeit, als sich
erreichter Geist erscheinen. Denn das Dilemma des diskursiven und intuitiven
Denkens entscheidet sich gerade in dem Problem, ob der Erkenntnisinhalt
von der Erkenntnisform blo& »umfa&t«, also in die Sphare der Ratio erho-
13 [Wissenschaft der Logik. Werke. Bd. v. S. 11. ~ Ausg. Lasson, Zweiter Teil. S. 218.]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 179
15 [Wissenschaft der Logik. Werke. Berlin, 1841, Bd. rrr, S. 135. — Ausg. Lasson. Hamburg
1971, Exster Teil. S. 120.]
16 [Ebda, S. 130-2.a.0., S.116.]
17 [Ebda, S. 133 - 2.2.0, S.119,]
18 [Ebda, S. 134 - 2.2.0., . 120.]
182 Heidelberger Asthetik
abstrakt-unvollstandigen, theoretischen Gegenstandes in das Ganze, wo er
erst seine Erfiillung und Bestimmbarkeit erhalten kann. Hieraus entsteht
eine doppelte Bewegung: kénnte an der nun vollzogenen Wendung zur rein
theoretischen Setzung festgehalten werden, ware das Ziel der Logik nicht das
wieder konkret-inhaltlich erfiillte Unendliche, so liefe die Bewegung entwe-
der einer platonischen oder einer kantischen, einer abstrakt-transcendenten
oder formell-geltenden Ideenwelt zu. Da dies von vornherein ausgeschlossen
ist, kann Hegel nur entweder ein abstraktes Weitergehen von einem End-
lichen zum Anderen ins Unendliche, oder das Umschlagen des Endlichen ins
Unendliche zugeben. Der erste Proze& bliebe rein theoretisch, ware aber als
die schlechte Unendlichkeit des »perennierenden Sollens« fiir das System be-
deutungslos, der zweite ist nur durch die Riickkehr zur intellektuellen An-
schauung zu leisten. Aber selbst wenn diese Niveauverschiebung zugegeben
werden kénnte, ware der methodische Doppelsinn des Sollens doch nicht be-
seitigt: dem System kommt es ja nicht auf den Ubergang vom Etwas zum Un-
endlichen iiberhaupt, sondern auf die Selbstbewegung des Geistes von einem
seiner konkret-inhaltlichen Momente zum anderen an. Allerdings scheint der
Unendlichkeitsbegriff Hegels gerade zur Hebung dieser Schwierigkeit ge-
schaffen zu sein. Es wird ja durch ihn jede abstrakte Transcendenz, jedes
starr-jenseitige Ideenreich als schlechte Unendlichkeit nachgewiesen, und die
Aufhebung des Endlichen ins Unendliche darf nichts an dessen konkreter
Beschaffenheit verandern; »es entsteht dasselbe, von dem ausgegangen wor-
den war, d. i. das Endliche ist wiederhergestellt; dasselbe ist also mit sich selbst
zusammengegangen, hat nur sich in seinem Jenseits wiedergefunden.«' Da-
durch erhebt sich auf diesem héheren Niveau der wahren Unendlichkeit das-
selbe Problem, und hier wird die Notwendigkeit des Eintretens der Geschichte
als Richterin in das System unabweislich. Damit das System nicht auf jeder
Stufe der erreichten, gegenw4rtigen, wahren und daseienden Unendlichkeit
stehen bleibe, mu diese wieder an eine Schranke stofen, an eine innere Un-
angemessenheit mit sich selbst erinnert werden, mu8, kurz gesagt, wieder
zum Endlichen werden — um zur hdheren Unendlichkeit weitergefiihrt wer-
den zu kénnen. Dieses Aktuell-werden des Endlichen im Unendlichen und
umgekehrt leistet die Geschichte fiir das System als »die Gestaltung des Geistes
in Form des Geschehens, der unmittelbaren natiirlichen Wirklichkeit« 29; in
ihr stellt der sich entfaltende und in der Entfaltung weiterschreitende Geist
2.
Diese vieldimensionale Relativierung von Immanenz und Transcendenz, von
der hier unserer Fragestellung gema& nur auf einige Aspekte hingewiesen
werden konnte, hat ihre Wurzeln und ihre Notwendigkeit in einem anderen
Zentralproblem des Hegelschen und jedes konkret-spekulativen Systems: im
Problem des Organischen. Es kénnte problemgeschichtlich eine mehr als reiz-
volle Aufgabe sein, den Nachweis zu fiihren, daf dem Drang, iiber die ab-
strakte Transcendenz hinauszugehen, stets wenigstens als wesentlich mitbe-
stimmendes Motiv das Begreifenwollen des Organischen zu Grunde lag. Ja es
ware nur eine Einseitigkeit der Betrachtung und keine Verfalschung der
Sachlage, wenn als das radikal Trennende beider Richtungen das als Organon
dienende Urphanomen der Erkenntnis, das fiir den abstrakten Idealismus
die Mathematik, fiir den konkreten die Organik ist, erschiene. (Auf Ober-
gangstypen, wie z. B. Schelling, kann hier leider nicht eingegangen werden.)
Fiir uns ist an diesem Kreuzweg der Probleme das Wichtigste die neue Rolle,
die das Problem des Anthropologismus im Universum der Erkenntnismittel
und -Méglichkeiten und mit ihm das der Kunst in der Asthetik erhalt. Dies
ist der Punkt, wo die »Kritik der Urteilskraft« und zugleich Goethes Art der
Naturbetrachtung schicksalhaft-entscheidend in die Entwidslung der spekula-
tiven Philosophie eingreifen. Es kann nicht unsere Aufgabe sein zu unter-
suchen, inwiefern die drei Probleme der »Kritik der Urteilskraft«, die Asthe-
184 Heidelberger Asthetik
tik, die methodische Grundlegung einer Erkenntnistheorie der Organik und
die — hier allerdings stets nur regulativ gebrauchte — Teleologie, von Kant
aus absichtlich sich in ein einziges zentrieren und den Wirkungen Goethes be-
starkend entgegenkommen, da die Tatsache ihrer Vereinigung in der spekula-
tiven Philosophie, mit dem deutlichen Zuriidkgehen auf diese Quellen offen-
sichtlich vor uns steht. Die abstrakte Transcendenz des platonischen System-
typus kann nur dann iberwunden werden, wenn die stindig aufsteigende,
substantieller werdende Formenhierarchie an einer noch irdisch-menschlichen
Stufe Halt macht, in sich einkehrt und in dieser Einkehr und in der Imma-
nenz, die durch sie erreicht wird, eine gesteigerte Substanzialitat findet; mit
anderen Worten: wenn ein Phanomenon auffindbar ist, auf das die Katego-
rie der ZweckmaSigkeit und zwar so, daf es als Endzweck gesetzt wird, an-
gewendet werden kann, wenn es derart organisiert ist, da& in ihm »alles
Zweck und wechselseitig auch Mittel ist«.24 Hier liegt das fiir die spekula-
tive Philosophie Epochemachende der Kritik der teleologischen Urteilskraft;
das Aufzeigen der Notwendigkeit einer iiber das Kausal-Mechanische hin-
ausgehenden Begriffsbildung fiir die Begreifbarkeit des Organischen bliebe in
ihrer Isoliertheit nur fiir die Grundlegung eines Teiles der Naturwissenschaf-
ten bedeutsam, daff sie aber in der Analyse eines méglichen und widerspruchs-
los denkbaren Endzwecks im Begriffe des Menschen als Noumenon, des Men-
schen »unter moralischen Gesetzen«?* stehend — wodurch der Begriff der
Kultur miteinbegriffen wird -, gipfelt, erméglicht die hier notwendige Wen-
dung zu der der Wirklichkeit innewohnenden Idealitit und damit zu der
Verwandlung des Absoluten in Geist, der im Menschen heimfindet und zu
Worte kommt und iiberbriickt hierdurch den im Platonismus notwendigen
Abgrund zwischen dem Menschen und dem Absoluten, die Quelle aller Anti-
nomien des Anthropologismus. Freilich bleibt die Verbindung der beiden Pro-
bleme in der »Kritik der Urteilskraft« selbst eine ziemlich lose und metho-
disch stets trennbare, so dafZ — fiir den Kantschen Standpunkt - die Grund-
legung der Wissenschaft vom Organismus, um sich als Wissenschaft zu kon-
stituieren, dieser Verkniipfung keineswegs unbedingt bedarf. Umso bedeut-
samer ist die vorhandene Tatsichlichkeit ihrer Verkniipfung als Grundlage
einer spekulativen Méglichkeit ihres metaphysischen Zusammenhanges ge-
worden.
a1 (Kant: Kritik der Urteilskraft. § 66. Werke. Hrsg. von E. Cassirer. Berlin, 1914. Bd. 5.
S. 454]
22 [Ebda, § 87. S. 529.]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 185
Dieser Zusammenhang ist fiir Goethe entscheidend gewesen. Es ist sicher kein
Zufall, da& bei seinem wechselvollen Angezogen- und Abgestofensein von
der Kantschen Philosophie gerade die »Kritik der Urteilskraft« einen ganz
eindeutig férdernden Einflu&, als Bestatigung lang gehegter Uberzeugungen
gehabt hat, und zwar gerade die fiir diese Verkniipfung wichtigsten Ab-
schnitte, die die Méglichkeit eines intuitiven Verstandes behandeln. In dem
kleinen Aufsatz iiber »Anschauende Urteilskraft« werden die wesentlichsten
Satze zitiert, allerdings mit einem Kommentar, der deutlich zeigt, wie wenig
Goethe gesonnen war, die Einschrankung ihrer Giiltigkeit auf das blo&e Re-
gulative wirklich mitzumachen. Mit dem ihm eigenen Drang auf das Resultat
und mit seiner Unbekiimmertheit um erkenntnistheoretisches Bedenken, setzt
er dem Einschranken auf das Diskursive und Regulative, worin er etwas
»schalkhaft Ironisches« erblickt, sein Gelingen, »auf jenes Urbildliche, Typi-
sche« auszugehen und das Kantsche »Abenteuer der Vernunft«* zu be-
stehen, entgegen. Mit allen Einschrinkungen, die jeder derart abkiirzenden
Darstellung, wie diese ist, geboten sind, kann also gesagt werden: in dem
Goetheschen »Urphanomen« und in der Méglichkeit seines Erfassens und
seiner Explikation ist das blo Regulative der teleologischen Methode (und
zugleich jede ihr anhaftende abstrakte Transcendenz) iiberwunden. Sie ist
iiberwunden, weil die Schranke, an der bei Kant der »menschliche«, blo
diskursive Verstand immer scheitern mu&, das Problem der reflektierenden
Urteilskraft, das Gewinnen des nicht gegebenen Allgemeinen aus dem Beson-
deren, das Problem der Spezifikation als erledigt erscheint. »Was ist das All-
gemeine?« fragt Goethe und seine Antwort lautet: »Der einzelne Fall«.%
Freilich ist dieser »einzelne Fall« nicht der der gewdhnlichen Empirie. Als
»Ideal-real-symbolisch-identische bestimmt Goethe das Urphinomen;
»Ideal, als das letzte Erkennbare; real, als erkannt; symbolisch, weil es alle
Fille begreift; identisch, mit allen Fillen.«®5 Eine solche Stellungnahme
zu den Phanomenen setzt eine von dem von Kant als »menschlich« be-
stimmten Verstand so radikal verschiedene Organisation der Erkenntnisfak-
toren und ihrer Beziehungen zu den Erkenntnisobjekten voraus, da darin
der Unterschied von Intuitivem und Diskursivem nur ein Symptom, nicht
aber die Sache selbst ist. »Wer die Welt verniinftig ansieht«, sagt Hegel,
nden sieht sie auch verniinftig an«,® ein Ausspruch, der nur dann weder
eine Tautologie noch eine Sinnlosigkeit ist, wenn die »Vernunft« in beiden
Satzen dieselbe ist, wenn das sich zum Standpunkt der Vernunft Erheben so
viel bedeutet, daf& in dem betrachtenden Subjekt das Wesen der Welt, die
Vernunft der Welt laut wird, wenn sie im »verniinftigen« Betrachten sich
selbst betrachtet. Die scheinbare Annaherung Goethes an Kant ist vielmehr
eine vollendete Umkehrung des »kopernikanischen« Standpunktes: in bei-
den Fallen kann der Geist nur sich selbst begreifen, aber fiir die kritische
Philosophie heift dies, das selbst Geschaffene (das vom BewuBtsein iiberhaupt
transcendental Produzierte) zu begreifen, wahrend es fiir Goehte ein Kos-
misch-werden des Subjekts, sein Sich-zum-Weltgeist-Erheben und ihn brii-
derlich-verwandt Begriif&en bedeutet. Wenn also Goethe in der Verwendung
eines Plotinschen Ausspruchs (» War’ nicht das Auge sonnenhaft, / Wie kénn-
ten wir das Licht erblicken«?’) ebenfalls einem Transcendentalismus nahe
zu kommen scheint, so ist auch diese Annaherung eine blof scheinbare: denn
keine vom Subjekt ins Objekt »hineingelegtex Gesetzmafigkeit wird im Ob-
jekt gefunden, sondern es enthiillt sich die Wesensverwandtschaft von Sub-
jekt und Objekt, ihre substantielle Gleichartigkeit, indem das Subjekt durch
innig-hingebungsvolles Anschauen des Objekts sich selbst in wirklicher We-
senhaftigkeit erblickt. Darum kann hier das Auge als »ruhendes Licht«2*
bestimmt werden, derum handelt die ganze Farbenlehre von »den Taten und
Leiden des Lichts«,®° was fiir Goethe sicherlich kein blo&es Bild gewesen
ist; darum — um statt einer Haufung von Beispielen an einem anderen Punkt
den gleichen Grundtrieb aufzuzeigen — lehnt Goethe das moralische Gebot
der Selbsterkenntnis immer schroff ab und fordert an seiner Stelle ein Han-
deln in der AuSenwelt oder eine Kontemplation der Natur. Denn das wahre
Selbst ist nur auf diesem Umweg zu finden, es ist eine sich allmahlich-orga-
nisch entfaltende, kosmische Wesenheit, die in ihrem Auswirken erlebt, aber
nicht erkannt werden kann (hdchstens im Spiegel der wesensgleichen Welt),
die durch »Bildung« zur bewuSten Bliite zu bringen, aber nicht durch Ent-
schliisse zu modifizieren ist. Mit der Aufhebung der Wesensfremdheit zwi-
schen phanomenaler, nur in »Gesetzen« erkennbarer Natur und noumenal-
26 [Vorlesungen uber die Philosophie der Geschichte. Werke. Berlin, 1840. Bd. rx. S. r5.~
Ausgabe Hoffmeister. Hamburg, Meiner. 1968, S. 31.]
27 [Entwurf einer Farbenlehre. Jubilaums-Ausgabe. Bd. 40. S. 71.]
28 [Ebda]
ag (S.: Vorwort zur Farbenlehre. A.2.0. S. 61.]
Entwidelungsphilosophische Schénbeitsidee 187
geltendem Selbst ist die Scheidung von theoretischer und praktischer Philoso-
phie fiir diesen Standpunkt hinfallig geworden: das Niveau der »Kritik der
Urteilskraft«, mit ihren zur Einheit gebrachten Problemen, ist deshalb fiir
Goethe keine Vermittlung zwischen ihnen, wie fiir Kant, sondern die ur-
spriingliche, ungetrennte und untrennbare Einheit selbst. Das Erlebnis der
Erhabenheit des Sternenhimmels ist fiir Kant die Ehrfurcht vor der Gesetz-
mafigkeit, die in ihm waltet, die — wenn auch nicht das »Was« ihrer Sub-
stanz — uns zu erkennen gegeben ist. Der Wilhelm Meister der »Wander-
jahre« hat auch das Erlebnis der Erhabenheit vor »demselben« Objekt, das
Wesentliche seines Erlebnisses ist aber das Auffinden eines dem erhabenen
Makrokosmos analogen Mikrokosmos in sich selbst. »... darfst du dich,«
fragt er, »in der Mitte dieser ewig lebendigen Ordnung auch nur denken,
sobald sich nicht gleichfalls in dir ein herrlich Bewegtes um einen reinen
Mittelpunkt kreisend hervortut?«8° Und als utopisch-reale kosmische Voll-
endung dessen, was im Meister nur menschlich-moralisch' und darum verwor-
ren hervortritt, erscheint die héchste Verwirklichung dieser Lebensform, Ma-
karie, in der das Sonnensystem in Wahrheit lebendig geworden ist, die das
Sonnensystem ist und es unmittelbar lebt, die in ihrem Leben die Verzweif-
lung des jungen Faust-Goethe, seine tiefste, tragischste Verzweiflung: »du
gleichst dem Geist, den du begreifst, Nicht mir« erfiillend auflést.
Es handelt sich um uniiberbriidcbare Entgegengesetztheiten der Weltanschau-
ungen. Als Kepler mit seinem System auftrat, protestierte der englische My-
stiker Robert Fludd mit sehr ahnlichen Argumenten gegen das mathemati-
sierende Weltbegreifen wie spater Goethe gegen Newton: »Mathematicorum
vulgarium est, circa umbras quantitativas versari, chymici et Hermetici ve-
ram corporum naturalium medullam complectuntur.«*! Es ist hier nicht der
Ort, auf die wissenschaftstheoretischen Folgen dieses Gegensatzes selbst an-
deutend einzugehen, es kommt nur darauf an, das Prinzipielle der Goethe-
schen Stellungnahme zu verstehen (nicht zu kritisieren) und ihre Konsequenz
fiir die Asthetik darzutun. Auch fiir Goethe ist die mathematische Methode
»schattenhaft«, ja mehr sogar: sie vergewaltigt die Natur, und »die Natur
verstummt auf der Folter.«** Das Organische, als unauflésbare, nicht auf
30 [Wilhelm Meisters Wanderjahre. Buch 1, Kap, 10. Jubilaums-Ausgabe. Bd, 19. S. 137.]
31 (Zit. nach E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der
neueren Zeit. Berlin, Cassirer. 1906. S. 561.)
32 [Maximen und Reflexionen, Jubiliums-Ausgabe. S. 58.]
188 Heidelberger Asthetik
abstrakte Begriffe bringbare und niemals in abstrakt-allgemeine Gesetze auf-
gehende Selbstvollendung, das jedoch gerade in dieser Selbstvollendung un-
abléslich mit dem All verbunden ist und nur als sein verkleinertes Spiegel-
bild begriffen werden kann, wird hier zum Wertbegriff, zum Organon der
Gesamterkenntnis, zum inneren Vorbild jeder erkennenden Tatigkeit. Denn
die »Folter«, das »Kiinstliche« der Newtonschen Methode etwa, wogegen
sich Goethe aufgelehnt hat, liegt einerseits in den nicht aus dem Wesen des
Gegenstandes, de reingewordenen Urphanomens selbst stammenden, ab-
strakt-iibergreifenden Gesetzen und Zusammenhingen, in die es eingefiigt
und zu denen es ~ durch ebenfalls »kiinstliche« Experimente — in angeblich
erklarende Beziehungen gebracht werden soll, und andererseits in der not-
wendigen Ausschaltung des Menschen und seiner sinnlichen Beschaffenheit
aus den subjektiven Bedingungen der Erkenntnis. Inwiefern doch eine Wis-
senschaft vom Organischen begriindet werden konnte und zwar erkenntnis-
theoretisch gerade durch das Weitergehen auf den von der »Kritik der Ur-
teilskraft« eréffneten Wegen, und besonders inwiefern nur mit diesen »kiinst-
lichen« Formen eine reine Naturwissenschaft zustande gebracht werden kann,
gehért nicht hierher. Hier ist nur die Tatsache von Belang, da Goethe und
die Naturphilosophie des deutschen Idealismus — der sich nicht nur Goethes
Sache gegen die Verteidiger Newtons annahm, sondern auch in vielen ent-
scheidenden Punkten seine letzte Stellungnahme zu den Dingen und die dar-
aus folgende Methode teilte — in bewuftem Gegensatz zu jeder abstrahie-
renden Ausschaltung der Sinnlichkeit gerade den sinnlich-wirklichen Men-
schen zum Organon der Erkennbarkeit der Natur gemacht haben. Der Ge-
gensatz beruht selbstredend blo& darauf, wo das letzte konstitutive Prinzip
gesucht und gefunden werden soll. Fiir die abstraktest gesetzmaSige Natur-
wissenschaft bleibt ein Minimum an menschlicher »Sinnlichkeit« kaum villig
ausschaltbar, wenn auch ihre Tendenz darauf ausgehen mu&, derartig ein-
heitliche, iibergreifende Prinzipien zu finden, die z. B. Gebietsabtrennungen,
die auf »sinnlichen« Differenzen beruhen, iiberflissig zu machen fahig sind
(also gerade die isoliert behandelte Optik). Andererseits gehen auch Goethe
und die, die ihm folgen, auf »Gesetze« ein, diese Gesetze sollen aber gerade
die vom Menschen aus abgegrenzten Spharen in unangetasteter Einheitlich-
keit begreiflich machen, sie sollen die »intelligibele Zufalligkeit« des Men-
schen und seiner »Sinnlichkeit« aufheben, indem sie ihn in dieser Beschaffen-
heit notwendig machen, indem sie hier das Organ und den transcendentalen
Ort der wesenhaften Erkenntnis der wesenhaften Gegenstinde aufzeigen.
Hier ist also der zum Erkenntnisorgan gewordene intuitive Verstand nichts
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 189
33 (Das Buch Paragranum, Hrsg. von Fr. Strunz. Leipzig, 1903. S. 25-26.]
190 Heidelberger Asthetik
basses ..., einer aufgestellten, approbierten Theorie, wie es in der Musik der
Fall ist« zu liefern. Diese innige Verbundenheit des Bewuftwerdens der kos-
misch-konstitutiven Naturgesetzlichkeiten mit dem Menschen als bewuftem
Sinnenwesen ist die systematische Stelle der Schénheit fiir den konkreten Idea-
lismus. »Das Schéne ist«, sagt Goethe, »eine Manifestation geheimer Natur-
gesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig waren verborgen geblieben.«*
Diese Bestimmung setzt einen neuen Asthetischen Gegenstand, die konkrete
Naturschénheit und stellt die Asthetik dadurch vor ein neues Problem. Der
Gegensatz von Kepler und Fludd, als ewiger Gegensatz betrachtet, erhilt
einen neuen Aspekt: ihr Widerstreit ist der Kampf von zwei metaphysischen
Schénheitsideen, von zwei unvereinbaren Konzeptionen einer Asthetik der
Natur. Denn fiir beide Anschauungen offenbart sich in der Gesetzlichkeit, die
in der Natur waltet, die Idee ihrer vollendeten und vollendet in sich ruhen-
den Organisation, die in der Kontemplation des sie Erkennend-Betrachten-
den zum Schénheitserlebnis werden mu. Wahrend aber fir die erste An-
schauung der Ort der Schénheit die von jeder Konkretion losgeléste reine
Gesetzlichkeit ist, die Schonheit also zu der der Proportionen und Relationen
wird, zur Schénheit der einheitlich erfaften Ganzheit der Natur, der exten-
siven und absoluten Totalitit des Makrokosmos, erscheint das Schone fiir die
andere Betrachtungsweise in den konkreten Erscheinungen in ihrer Konkret-
heit als mikrokosmisches Spiegelbild der Schénheit des Ganzen, das aber nur
in seiner konkreten Vollendung, als wahrer Kosmos im Kleinen, dieser Voll-
endung fahig werden kann. Fiir die erste Stellungnahme kann deshalb nur die
abstrakt-theoretische Erkenntnis zu der wahren Kontemplation der unver-
falschten Schdnheit fiihren, denn ihr letzter konstitutiver Wertbegriff ist das
Mathematische, fiir die zweite hingegen ist in jedem Ding, wenn es nur wahr-
haft erfaBt wird, was nur in der von der Sinnlichkeit getragenen Anschau-
ung méglich ist, das Prinzip der Schdnheit, als Prinzip des zum Wert gewor-
denen Lebens, gegenwartig. Und diese zweite Schénheit kann sowohl un-
mittelbar zum BewuBtsein gebracht werden, wie auch durch die Vermittlung
der Kunst. Und die Kunst, als bewuftes Weiterfiihren und Zur-Klarheit-
bringen dessen, was in der Natur, so wie sie uns unmittelbar gegeben ist,
nicht ausnahmslos eindeutig zu Tage tritt, erscheint in diesem Zusammenhang
als unerlaBliche und unverwindliche Methode dieser Erkenntnis des Wesens
der Natur, der Kontemplation ihrer Wesenheit und Gesetzlichkeit. »Der
cn
Die Asthetik muf aber, bevor die Pforte dieser Verséhnung von Natur und
Kunst im Begriff der Schénheit iiberschritten wird, die Frage aufwerfen: wie
ist diese Vereinheitlichung méglich? Und fordert sie nicht notwendigerweise,
um folgerichtig zu Ende gedacht werden zu kénnen, die Aufhebung der as-
thetischen Wesensart der Kunst? Um das Folgende zusammenfassend vor-
wegzunehmen, kann hier gleich gesagt werden: die dynamische Vereinigung
von theoretischer und dsthetischer Formstruktur, die friher im konkreten
Begriff Hegels und in dem auf ihm fuBenden Begriff des Geistes und seiner
Entwicklung aufgezeigt wurde, ist die unerlafliche Voraussetzung dieses ver-
einheitlichenden Erfassens der Schénheit als Grundprinzips von Natur und
der menschlichen Natur produktiv handeln will und handelt, wenn sie kann«.*
Durch eine solche Bestimmung erscheinen Naturschénheit und Kunstschén-
heit als genau getrennte, aber in einem unauffindbaren Zentrum dennoch
zusammengebundene Objektivationen desselben Geistes, der sich einmal in
den Phanomenen der Natur, das anderemal in den Gestaltungsformen der
Kunst auswirkt, dessen allerletztes Wesen jedoch, gerade wegen dieser unaus-
sagbaren Einheitlichkeit, etwas Metaisthetisches sein mu8. Die Vereinigung
von Theorie und Asthetik in der Gegenstandsstruktur beider beruht darauf,
da keine von beiden in Wahrheit etwas Letztes, ein an und fiir sich Gelten-
des sein kann, sondern ein notwendiges und je nach Notwendigkeit gehand-
habtes Mittel, das Subjekt zur kosmischen Schau der Urphanomene zu stei-
gern. »... so ruht der Stile, sagt Goethe, »auf den tiefsten Grundfesten der
Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sicht-
baren und greiflichen Gestalten zu erkennen.«‘* Damit treten die beiden
Forderungen der einheitlichen Denkbarkeit von Natur- und Kunstschénheit,
deren struktive Voraussetzungen wir in der Vermischung theoretischer und
sthetischer Formungsfaktoren in der Begriffsbildung und Methodik bereits
erkannt haben, klarer zu Tage: erstens die Notwendigkeit, in den objektiven
Aufbaukategorien der Natur die Formen der Asthetik als konstitutive Kate-
gorien nachzuweisen; zweitens die Notwendigkeit, die Formen der Kunst in
dem metaisthetischen, letzten Wesen des Universums zu verankern. Die un-
auflésbaren Antinomien jedoch, die aus beiden, auf diesem Boden unaus-
weichlichen Postulaten entstehen, offenbaren sich in voller Deutlichkeit erst
dort, wo mit dem systematischen Vereinheitlichen der Asthetik, als der Lehre
vom Schénen in Natur und Kunst, ernst gemacht wird. Fiir Goethe selbst
erwachst aus dieser »wahrhaft heldenmafigen Idee«, “ wie es Schiller nannte,
etwas Héheres und Gréferes: eine tiefe und erschiitternde, weil aus echtester
Notwendigkeit entsteigende Tragik; die Tragik der Unmiglichkeit, weder
auf Kunst noch auf Vereinigung mit dem All, auf das mystische Welterleben
in der Makarienform zu verzichten, die Faust-Tragik: das Unvereinbare
immer wieder zu vereinigen suchen zu miissen, die Faust-Tragik der inneren
Reinlichkeit, die jede lau-unklare Mischung von Heterogenen, jede banale
Verséhnung verbietet und auseinandergehende Wege dem nach der Einheit-
aufweisen muf, zeigt sich schon darin, daf& das Setzen der Naturschénheit zu-
gleich ein Mitsetzen ihrer Zufalligkeit ist. Das Schdne in der Natur, selbst
wenn es als das Sichauswirken kosmischer Krifte gefa&t wird, vermag sich
niemals mit eindeutiger Notwendigkeit zu objektivieren, und weder die Be-
dingungen seines Hervortretens noch die es kreuzenden Hemmungen sind
einer Begreifbarkeit fahig. Diese von Goethe, wie wir sahen, vorsichtig for-
mulierte, auch bereits von Kant angedeutete Problematik (er spricht in der
»Kritik der teleologischen Urteilskraft« von der Naturschénheit »als eine
Gunst, die die Natur fiir uns gehabt hat«, im betonten Gegensatz zu dem
Standpunkt der Asthetik, wo »wir... die schéne Natur mit Gunst« ‘7 an-
sehen) stellen Vischer und Weisse in den Mittelpunkt ihrer Spekulation iiber
Naturschénheit. Vischer stellt das Problem mit voller Klarheit und Folge-
richtigkeit: wenn in der Schénheit der Natur etwas — sowohl fiir die Natur,
wie fiir die Schénheit — Konstitutives aufzufinden wire, so »miifte in der
Asthetik ein das Schone schaffender Wille sein vor diesem Willen, d.h. ein
Kiinstler miifte da sein, ehe wir das Naturschéne haben, das dem Kiinstler
vorliegt«,#® und er erblickt zugleich in voller Scharfe, da& damit die
Kunst mediatisiert werden muf und nur eine neue Wendung zur platonischen
Verwerfung der Kunst zu erreichen ist. Die Schénheit haftet also der Natur
»zufallig« an; von den Kriften, die die Natur aufbauen und gestalten, kann
sie hervorgetrieben, kann aber sogleich wieder aufgehoben oder vernichtet
werden, und als Aufgabe des Kiinstlers erscheint es, diese »Gunst des Zu-
falls« gestaltend festzuhalten, wie als Aufgabe des Philosophen der Kunst,
ihre Méglichkeiten, Bedingungen und die Systematik ihrer konkreten Erfiil-
lungen im Reiche der Natur spekulativ klarzulegen. Damit ist der Asthetik
der Natur eine offensichtlich unlésbare Aufgabe gesetzt: sie hat eine Systema-
tik aufzustellen, deren Prinzip die zufallige Coinzidenz unbekannter Katego-
rienreihen ist. Denn die eine, die der Natur, mu wenn auch nicht als villig
unbekannt, so doch wenigstens als von problematischer Erkennbarkeit ge-
dacht werden, da sonst das In-Erscheinung-treten der Schénheit in der Natur
nicht zufallig, sondern notwendig sein miifte, und Asthetik und spekulative
Naturphilosophie zusammenfallen wiirden. (Einen Versuch dieser vélligen
Vereinheitlichung hat Oersted unternommen, wurde jedoch blo& durch die
Unklarheit seiner Begriffsbildung vor dem Einsehen-miissen der notwendi-
beiziehend u. s. w. Diese Physiognomik der Natur kann also weder eine Er-
fillung der Natur, noch eine Vorform der Kunst sein.
Weisse hat den anderen Weg, den folgerichtigen eingeschlagen. Er kehrt des-
halb, ebenfalls konsequenterweise, das Problem des Zufalls um. Die Schén-
heit ist »als eine unbegrenzte Méglichkeit innerhalb der Natur gesetzt«, die
»durch das In- und Gegeneinanderwirken der Naturkrafte und das Zusam-
mentreffen der Naturgegenstande unablassig in Wirklichkeit umgesetzt, aber,
eben so unablissig auch wieder aufgehoben wird.«*! So weit wire freilich
die Obereinstimmung des Ausgangspunktes und der Problemstellung in einer
grofen Nahe zu der Vischers. Weisse aber erblickt gerade in dieser Méglich-
keit, in diesem Dennoch-zur-Wirklichkeit-werden des Schénen in der Natur
etwas Hoheres, als die Gestaltungen der Kunst zu sein vermégen. Denn in der
Naturschénheit, wenn sie hervortritt, ist der Zufall wirklich bezwungen und
aufgehoben, wahrend die Kunst ihn »als ein ihr feindseliges von sich entfernt
halten mufte, um die Reinheit ihrer Gebilde nicht zu triiben und ihren Ein-
druck zu stéren.« * Die Geschlossenheit und die Selbstvollendung der Kunst
erscheinen also als Zeichen ihrer Negativitat: sie ist die erste, konkrete Ob-
jektivierung der Idee der Schénheit, nachdem in der Selbstentwicklung des
Begriffs (im Weg vom abstrakten Begriff der Schénheit zum Ideal) »gleich-
sam der Boden des Geistes geebnet ist, der ihre wirklichen Gestalten aufneh-
men soll.«® In der Kunst verwirklicht sich das Schéne in voller, ungetriib-
ter Reinheit, denn ihre Sphare ist nicht mehr das Ringen des Begriffes um
seine eigene Klarheit und noch nicht die echt-konstitutive, das All durch des
Geistes wahrhaftige Kraft durchdringende Idee, die sich angemessen nur in
dem Ubersichhinausgehen der Schénheit werden kann: in der Liebe, auf dem
Wege zu Gott. Die Naturschénheit erhilt so eine eigenartige Stellung im Sy-
stem: einerseits ist sie der Natur selbst gegeniiber durchaus zufallig und be-
wahrt deshalb ihre villige Unabhangigkeit ihr gegeniiber und entgeht dem
Schicksal, in der Naturphilosophie aufzugehen, andererseits ist sie von dem
kategoriellen Aufbau der Kunst in den Kunstformen gleichfalls unabhangig,
denn sie ist, ihrer Idee nach, eine bereits der letzten Einheit nahende Vereini-
gung des géttlichen Lichtes, das in den Gestaltungsformen der Kunst, wie das
s1 [System der Asthetik als Wissenschaft von der Idee der Schénheit, Leipzig, Hartmann.
1830, Zweiter Theil. S. 423.)
52 [Ebda, S. 425.]
53 [Ebda, S. 5.]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 199
54 [Ebda, S. 426.]
200 Heidelberger Asthetik
tik ihre Erfiillung in dem aus der Naturschénheit - als dem Genius in objek-
tiver Gestalt — zu sich heimkehrenden Geist, auf der Stufe der Liebe findet,
so ist hierdurch das platonische Verwerfen der Kunst wiederhergestellt, und
selbst ihre Rolle als dialektische Etappe erscheint als etwas Gekiinsteltes, als
eine Kapitulation vor der empirischen Realitat der Kunst, als ein Kompro-
mi. Denn zu der — echt platonischen — intellektuellen Anschauung der Liebe,
in der »sich die concrete Einzelheit des gegenstandlichen Schénen, zugleich mit
der substantiellen Schénheit, ... zur organischen Einheit dergestalt [abrun-
det], da® das Anschauen selbst wieder Gegenstand fiir das Angeschaute
wird«, 5 ist der Weg iiber die Naturschénheit evidenterweise notwendig, die
Kunst jedoch, wenn auch als unterste Vermittlung, nicht nur iiberfliissig, son-
dern der inneren Struktur des Systems geradezu widersprechend. Die schein-
bare und oft kritisierte Inkonsequenz Weisses, da er das Genie nach der
Kunst behandelt, ist nur ein Symptom der Unldsbarkeit seiner Aufgabe: der
Kunst im platonischen System eine Stelle zuzuweisen. Die systematische Be-
deutung des Genies und seiner »kiinstlerischen« Tatigkeit liegt ja hier nicht
im Schaffen des Werks, sondern in dem fiir die Menschen Erarbeiten der
Naturschénheit, das Werk ist dabei nur Mittel, dessen Wert nur an dieser
seiner weiterfiihrenden Potenz zu messen ist, das als Werk, als in sich Ruhen-
des, als Eigenwert hier etwas véllig Undenkbares ist. Die wirkliche Inkonse-
quenz Weisses liegt also darin, da er den menschlichen Anteil an dem Be-
wuftmachen der Naturschénheit doch an die Kunst ankniipft und ihn mit der
kiinstlerischen Tatigkeit identifiziert, wo doch das, was mit ihm wirklich ge-
meint werden kann, mit dieser innerlich nichts zu tun hat; wenn sich auch
zwischen ihnen in der Empirie Coinzidenzen aufweisen lassen, so kénnen
diese das Nichtzusammengehéren ihres Wesens doch nicht aufheben. Denn
die kiinstlerische Tatigkeit ist, auch fiir Weisse, von dem Gerichtetsein auf
das Werk nicht freizumachen; sie kann sich nur im an sich fremden Stoff
uBern, ist innerlichst an ihn gebunden, so »da in ihr das geistige Erfinden
der Schénheit von dem technischen Ausfiihren oder dem Behandeln des me-
chanischen Stoffes gar nicht so scharf getrennt ist.« ** Die Leistung des Genies
muf sich also in diesem Kampf und in dem hier errungenen Siege auern,
dessen Resultat nur das in sich geschlossene Werk sein kann, das jedoch -
nach Weisses bereits angefiihrten Worten — den Zufall nicht bewiltigt, son-
55 [Ebda, S. 479.]
56 [Ebda, S. 7]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 201
dern von sich fernhalt und deshalb unter das Nivau der Naturschénheit her-
absinkt. Die wirkliche Intention auf »Lebendigkeit«, das standige Bereitsein
und Sich-offen-halten fiir das Héhere, zu dem Aufstieg, kann sich, phycholo-
gisch, auch im Schaffensprozef vorfinden, gehért aber nicht zu dessen We-
sensbestimmtheit; die Richtung dieser Intention liegt vielmehr in einem Sub-
stantiellwerden des Subjekts durch die ergriffene Anschauung des geheimnis-
vollen und doch innig verwandten Geistes, der sich in der Schdnheit der Na-
tur offenbart, in einem theoretisch-mystischen Verhalten der Natur gegen-
tiber, das dem Goethes in dieser Beziehung sehr nahekommt. Die einzige In-
konsequenz, die diesem spekulativ tiefen und folgerichtigen System der Schon-
heit vorgeworfen werden kann, ist also blo& — daf es eine Asthetik ist; in
ihm zeigt sich am krassesten, da die zu Ende gedachten Begriffe von Schén-
heit und Kunst sich gegenseitig aufheben miissen.
Die friiher aufgewiesenen Schwankungen in Vischers Bestimmung der Natur-
schonheit stammen zum grofen Teil aus dem Bemiihen, diesen Konsequenzen
zu entgehen und der Naturschénheit eine Stelle im System zu sichern, ohne
die Kunst mediatisieren zu miissen. Die Hauptschwierigkeit, die wir bis jetzt
nur in ihren Folgen beobachten konnten, liegt in dem Begriff des Zufalls als
konstitutiver Kategorie der Naturschénheit. Diese Schwierigkeit ist unauf-
hebbar, denn fiir diesen Systemtypus muf es derselbe Geist sein, der sich in der
Schénheit sowohl von Natur wie von Kunst verwirklicht; wenn also der
Kunst als Erscheinungsform des Geistes eine wirkliche Bedeutung im System
zukommen soll, so muf die Objektivation der Schénheitsidee in der Natur
eine unvollkommene sein, die ihre wahre Erfiillung erst in der Kunst findet.
Andererseits darf auch diese Erfiillung nicht die hdchste Stufe des sich errei-
chenden Geistes sein, denn sonst ist die Schellingsche Identifizierung von Phi-
Josophie und Kunst mit ihren bereits behandelten Antinomien unvermeidlich.
Der Zufall, der bereits in dem Hegelschen Begriff von der »Prosa der
Welt« 57 eine groSe Rolle spielt, liegt in der Unangemessenheit von Idee
und Erscheinung, die die Schénheit im Konkret-Sinnlichen zur Verséhnung
bringen soll; »das Schéne ist also die Idee in der Form begrenzter Erschei-
nung«,®® sagt Vischer. Die Unangemessenheit, die als zu lésendes Problem
57 [S.: Vorlesungen iiber die Asthetik, Werke. Bd. x. Abt. 1. S. 189. - Aufbau-Ausgabe.
S. 178]
58 [Asthetik oder Wissenschaft des Schénen. § 14, Reutlingen - Leipzig, Mack. 1846, Erster
Theil. S. 54.]
202 Heidelberger Asthetik
aufgegeben ist, ist die der Idee und der Erscheinung oder, was hier das
Gleiche besagt, die der Gattung und des Individuums. Das Individuum und
die Gattung sind in Beziehung aufeinander zufillig, d.h. sie sind zwar un-
zertrennlich aneinander gekniipft - das Individuum kann nur als der Gat-
tung zugehirig erscheinen, und die Gattung kann sich nur in den Individuen
verwirklichen — ihr Zusammenhang haftet aber beiden blo& auferlich an;
weder ist das Individuum aus der Gattung deduzierbar, noch ist die Gattung
im Individuum in restlos-addquater Sinnfalligkeit gegenwértig. Hier soll
die Idee der Schénheit die Verséhnung bringen. Sie kann und soll die Zu-
falligkeit dieser Bezichung nicht aufheben, dies ist der Wahrheit vorbehal-
ten; ihre Aufgabe ist, den blo& stérenden Zufall, der aus den einander in
Raum und Zeit begegnenden, verschiedenen und heterogenen Gattungen trii-
bend entsteht, von der Gestalt fernzuhalten und Individuum und Gattung
in eine dynamisch-sinnfallige Einheit zu bringen, in der die widerstreitenden
Momente einander zur Klarheit und ihrer Einheit zur Erfiilltheit verhelfen.
So soll in der Schénheit ein dem Sinne der Welt innewohnendes, in ihr jedoch
blof& »zufallig« zur Erscheinung werdendes Ideal realisiert werden: »Das
Schéne kann nunmehr bestimmt werden als eine Vorausnahme des vollkom-
menen Lebens oder des héchsten Guts durch einen Schein.«* Dieser Schein,
das rein Formale der Schénheit, das dadurch entsteht, daf das zur Gestalt,
zum Bild gewordene Individuum aus allen triibenden Zusammenhingen her-
ausgehoben wird und die Momente der Verséhnung von Gattungsmafigkeit
und Individualitat auf die sichtbare Oberflache heraustreten, fihrt zur Pro-
blemstellung der »Kritik der Urteilskraft« zuriick: wir haben hier die syste-
matische Synthese aller Strémungen, die in ihr getrennt waren, vor uns; diese
Schénheit hat die anschauende Urteilskraft in einem Zusammen des Astheti-
schen und des Teleologischen zur Grundlage. Damit ist freilich auch ihr nicht
asthetischer Charakter bestimmt. Kant, der diese Problematik wohl empfun-
den haben mag, will die Reinheit und die Autonomie des Asthetischen durch
strenge Wahrung seiner blo& subjektiven Wesensart retten, muf jedoch, wie
gezeigt wurde, sobald er zur Gegenstindlichkeit iibergeht, zum Theoretischen
transcendieren. Fir den konkreten, nicht mehr blof& formellen Idealismus
Vischers kann diese Lésung nicht ausreichen, er ist gezwungen, von diesen
Voraussetzungen aus eine asthetische Gegenstandlichkeit zu deduzieren. Durch
dieses Konkret- und Gehaltvoll-werden hebt sich jedoch sein Schénheitsbe-
griff selbst auf. Vor allem muf, wie iiberall, wo in einem philosophischen
System der Wahrheit und der Schinheit gleichgerichtete Aufgaben in einem
homogenen Stoff gestellt sind, die Wahrheit die Schénheit mediatisieren, sie
wird zu einer unvollkommenen Vorstufe der Wahrheit. » Wenn die Schénheit
den Gegensatz des Allgemeinen und Einzelnen scheinbar auf Einem Punkte
lést, so 1ést ihn die Wahrheit tiberhaupt und im Ganzen. Die Wahrheit setzt
nicht das Allgemeine und Notwendige und la&t das Einzelne und Zufallige
liegen, sie begreift jenes in diesem, fiir den aufgelésten Schein der unmittel-
baren Einheit gibt sie die scheinlose vermittelte Einheit, ...«®° Aber hiervon
vorlaufig ganz abgesehen, liegt dem Begriff des »reinen Scheins« — in der zu
seiner Erfillung unvermeidlichen Verkniipftheit mit der Idee als Gattung —
eine ahnliche unauflésbare Antinomie zu Grunde, wie der Naturschénheit
Weisses. Denn in dem »reinen Schein« als Einheit von Gattung und Indivi-
duum verschlingen sich zwei heterogene Problemreihen: entweder ist die so
erreichte Einheit das wirkliche Innewohnen der Gattung im Individuum, dann
haben wir einen Fall der Gegenstandsbildung des intellectus archetypus vor
uns, ein Urphanomen im Sinne Goethes, wobei jedoch der Sichtbarkeit im
»reinen Schein« nur die Rolle eines Mittels zukommen kann, oder ist das im-
manente Geschlossensein der zur Oberfliche getretenen, ungehemmt sich aus-
lebenden Momente das Entscheidende, also der Asthetische Sinn des »reinen
Scheins«, dann kann das hierdurch Erreichte mit der Idee der Gattung nichts
zu tun haben, dann muf die in sich ruhende Vollendung des Gegenstandes
aus den formenden Kategorien der Oberflache, aus autonom Asthetischen Ka-
tegorien ihre Geltung ableiten. Die Vereinigung beider Prinzipien in diesem
Akt, wie bei Vischer, wiirde zur Voraussetzung fiihren, da8 die intuitive Sub-
sumtion des Einzelnen unter die Idee der Gattung, die Lésung des Kantschen
Spezifikationsproblems, den Formen der Kiinste notwendig und in a priori
deduzierbarer Weise zugeordnet ist; d.h. jeder Méglichkeit einer solchen
Subsumtion miifte eine bestimmte Kunstform entsprechen und jeder diirfte
nur eine entsprechen. Das System der Kiinste wiirde, als letzte Folge dieser
Annahme, das System der mdglichen Spezifikationen der Naturerscheinungen
sein; die asthetische und die reflektierende teleologische Urteilskraft Kants
mii&ten sich also in einer intuitiv bestimmenden Urteilskraft vereinigen, und
die Asthetik ware wieder in Naturphilosophie aufgelést.
Vischer versucht diese Antiomie dadurch aufzuheben, daf er der Naturschon-
heit einen Erfiillungsort als Vorform des Kiinstlerischen zuweist: »das Na-
sei: es ist die transcendentale Bedingung der Méglichkeit des Werks — und
damit des dsthetischen Subjekts des Schaffenden selbst.) Abgesehen von den
Fragen, worin diese Produktivitat bei dieser Angewiesenheit besteht und wie
sie ohne gegenstandlichkeitschaffende Wesensart denkbar ist, entsteht die
Schwierigkeit, da alles Richtunggebende in das Objekt, in den Stoff gelegt
wird. Der Stoff wird so zum Leiter und Correctiv des Schaffensprozesses,
denn, sagt Vischer, »man wird, wenn man nicht so verfahrt, immer das Sub-
jekt behalten, das nun herumsucht, mit Absichtlichkeit irgend eine Idee in
irgend ein Objekt legt, und es ist kein Grund da, warum es nicht die Idee der
Freiheit in die Form eines Thiers, die Idee des Staats in den Korper eines
Steins u.s.w. lege.«* Aber wir wissen, da dieses Correctiv selbst der
Correctur bedarf: das Naturschéne ist noch getriibt, zerstreut und verwor-
ren, und es ist an ihm noch die Arbeit der Ballung und der Konzentration von
néten. Diese Arbeit vollzieht sich natiirlicherweise in die Richtung seiner im-
manenten Intendiertheit, in die Richtung auf die im Einzelnen sinnfallig ge-
wordene Gattung; es ist eine Leistung, »welche die im naturschdnen Gegen-
stand schon gegebene, aber unvollkommene Zusammenziehung an ihm fort-
setzt und so vollendet, daf in seiner ganzen Form, was individuelle Bindung
der Idee ist, durch ein verhiilltes Zuzahlen aus den umschwebenden Gat-
tungsbildern erganzt wird, was diese Bindung strt, durch ein verhiilltes Ab-
zahlen ausgeschieden unter diese zerflie&t, und so dieselbe in voller Reinheit
hervortritt.« (Dieses Zusammenfallen von Idee und Gattung in der zur
Gestalt gewordenen Schénheit ist fiir den ganzen konkreten Idealismus un-
vermeidlich; nicht nur aus den verschiedenen Asthetiken dieser Richtung lie-
en sich zahllose Beispiele dafiir aufzahlen, sondern auch die Kunstbetrach-
tung Goethes ist sehr wesentlich davon bestimmt; ich verweise blof auf den so
tiefempfundenen Aufsatz »Myrens Kuh«. Vischer zieht also auch hier blo&
alle methodischen Konsequenzen einer Problemstellung, die aber als solche
gar nicht von ihm selbst stammt.) Um diese Arbeit vollbringen zu kénnen,
mu8 das schdpferische Subjekt den gattungsmiaig-ideenhaften Gestaltungen
der Natur zuordnbar sein: die Phantasie differenziert sich in »landschaft-
liche, thierische, menschliche und zwar entweder allgemein mensdbliche oder
geschichtliche Phantasie. Auch diese Arten verzweigen sich zu einer reichen
Reihe von Unterarten, die den engeren Kreisen dieser Reiche zugetheilt sind.«®5
So erscheint die Naturschénheit als das wahre schépferische Prinzip der Kunst,
indem sie das, was sie an sich, in ihrer unmittelbaren Erscheinungsform zur
Vollendung zu bringen unvermigend war, auf dem Umweg durch das Sub-
jekt, in dessen Phantasie ihre Tendenzen zur Produktivitat reifen, realisiert.
Thre Rolle ist aber auch hierdurch nicht erschépft: das zusammenballende
Weiterfiihren des Naturschénen in der Phantasie erscheint als deren »Schulde:
die Objektivitat des Naturschinen ist aufgehoben, es mu nun aber iiber die
blo&e Subjektivitét der Phantasie auch hinweggeschritten werden, um die
endlich erfiillee Objektivitat der Kunst zu erringen. Hier kehrt die Phantasie,
gleichsam um diese ihre Schuld abzubiif&en, zur Naturschonheit wieder zu-
riids und vermag ohne diese Riidkkehr ihren Weg zur Objektivitat, zum
Kunstwerk nicht zuriickzulegen. Erst damit hat das Naturschine seine Be-
stimmung erfiillt: »es besteht neben der Phantasie ebensosehr als ihr Cor-
rectiv, als sie sein Correctiv ist.«® Nur durch dieses ihr Zusammenwirken
kénnen beide die stérenden Zufalligkeiten, die ihnen anhaften, ausmerzen
und das Ideenhafte zur Wirklichkeit »in einem idealen Scheinbilde« §? auf-
bliihen lassen.
Die Ausfiihrlichkeit dieser Analyse kann sich blo& dadurch rechtfertigen,
daf hier der Punkt des Versagens der konkreten Schénheitsidee, als Erschei-
nungsform des einheitlichen Geistes, zur Begriindung der Asthetik mit Han-
den greifbar wird. Es zeigt sich in diesem ganzen scharfsinnigen und kunst-
reich erdachten dialektischen Gang die Unmdglichkeit zur autochthonen
Kunstform zu gelangen, denn alle Momente, die dem Naturschénen als wei-
tertreibende zugesellt werden, haben mit ihm Gehalt und Struktur — die im
Einzelnen intuitiv und adaquat erfafte Gattungsidee — gemeinsam. Die
Asthetik des konkreten Idealismus vermag also die spezifisch asthetische Ge-
genstandlichkeit nicht abzuleiten und zu begriinden, sie bleibt, was ihr ihre
Gegner stets vorgeworfen haben, blo&e »Gehaltsasthetik«. Mit dieser Fest-
stellung soll jedoch den hauptsiichlichsten Vertretern dieser Richtung, der
Herbart-Zimmermannschen »Formisthetik« nicht recht gegeben werden; denn
indem diese das Asthetische in einer von jedem »Inhalt« abgelésten »Forme
erblicken, theoretisieren auch sie die Asthetik nur in abstrakter Weise und
gelangen zu einem Platonismus ohne Metaphysik oder mit abgeblaSter und
unintensiver, aber nichtsdestoweniger abstrakter Transcendenz und sind des-
68 [Lehrbuch zur Einleitung jn die Philosophie. § 110. Hamburg ~ Leipzig. Voss. 1883.
S. 164.)
208 Heidelberger Asthetik
teile zueinander beruht auf diesem Zugeordnetsein zu den technischen For-
mungsméglichkeiten der spezifischen Form, ja in streng asthetischem Sinne
zu den Wirkungsqualitaten, auf die der konkrete und einzelne Schaffenspro-
zeB, in dem der Stoff zum Stoff wird, ausgeht. Es ist also ein uneigentlicher
und irrefiihrender Ausdruck, davon zu sprechen, daf verschiedene Kiinstler
»denselben« Stoff bearbeitet haben; denn das asthetisch Stoffartige eines an-
tiken Mythos etwa, der zum Stoff der griechischen und modernen Tragiker
geworden ist, liegt nicht in der blofen Begebenheit, in der Ereignis-, Cha-
rakter- und Beziehungsfiille, die er an und fiir sich enthalten mag, sondern in
der Auswahl und dem Arrangement dieser Bestandteile in Hinblick auf das
zu schaffende Drama, so da&, um ein moglichst drastisches Beispiel zu geben,
das Rachen von Agamemnons Tod auch stoffartig vollig verschieden ist, je
nachdem ob Elektra oder Orestes als Held der Tragédie gedacht wird. Ge-
gen diese Deutung des Stoffbegriffes scheint die gerade in technischen Erérte-
rungen von Kiinstlern oft auftauchende Ansicht, von dem Geeignet-, bezie-
hungsweise Ungeeignetsein bestimmter Stoffe fiir bestimmte Formen zu spre-
chen. Bei einem grofen Teil dieser Erérterungen zeigt es sich indessen, da
das zur Diskussion Stehende garnicht der Stoff im asthetischen Sinne ist; z. B.
bei den auf dieses Problem beziiglichen Darlegungen Goethes iiber Stoffe der
Malerei, wo — da er das eigentlich kiinstlerische Formungsprinzip der Male-
rei, die reine und unmittelbare Sichtbarkeit in der Farbenlehre schon natur-
philosophisch vorweggenommen hat — rein literarische Themata behandelt
werden, die, in der Form wie sie Goethe darbietet, mit dem Stoff zu Bildern
nichts zu tun haben, bei denen es evident ist, da wenn verschiedene Kiinstler
»dieselben« bearbeiten wiirden, ihre Stoffe im Asthetischen Sinne nichts mit-
einander gemeinsam hatten. Einleuchtender scheint diese Wendung des Stoff-
problems fiir die Dichtung zu sein, in der Weise wie es etwa gelegentlich von
Goethe und Schiller, von Corneille und Alfieri, von Hebbel und Paul Ernst
behandelt wurde. Jedoch bei genauerem Hinsehen erweist es sich auch hier,
daf das Stoffproblem nicht nur blo& von einer bestimmten Form aus, son-
dern innerhalb dieser auch blo& von einem bestimmten Kunstwollen aus auf-
zuwerfen war; da& alle Gesichtspunkte der Beurteilung des Geeignet- oder
Nichtgecignetseins, z.B. gréfere oder geringere Konzentrierbarkeit, Fille
oder Mangel an Fiille etc., nur von einer bestimmten Formvision aus ver-
stehbar sind, und es sich kein allgemeines — gewissermafen im Stoff als be-
reits geformt gedachtem Gegenstand begriindetes — Prinzip einer solchen Be-
urteilung auffinden la&t. So hat z.B. Paul Ernst mit grofer Feinheit und
vielem Scharfsinn den Nibelungenstoff und seine Bearbeitung durch Hebbel
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee 209
tens, ist immer ein Ordnen von Erlebniselementen in Bezug auf die Wir-
kungsqualitaten einer bestimmten Kunstform; da& in vielen Fallen der For-
mungsproze& hier stehenbleibt, da& »kiinstlerisch« veranlagte Menschen
(ohne selbst Kiinstler zu sein) Erlebnisse haben, die eine dieser Struktur ahn-
liche Form aufweisen, ist fiir die Asthetik, fiir die es auf den transcendenta-
len Ort der Begreifbarkeit der einzelnen Formungsniveaus ankommt, nicht
von Belang.
4
An diesem Problem, das nur auf den ersten Blick als Detailfrage erscheint,
dessen Lésung, wie wir sahen, iiber die Méglichkeit einer selbstandigen asthe-
tischen Setzung und damit tiber das Schicksal der Asthetik als autonomen
Wertgebiets entscheidet, zeigt sich ganz klar, da die unauflésbaren Wider-
spriiche, die hier hervortreten, nicht aus verfehlten Ansatzen einzelner Den-
ker stammen, sondern mit dem innersten Wesen dieses Systemtypus innigst
verbunden sind. Ganz allgemein kann die Frage so formuliert werden: die
transcendentale Fragestellung fordert, da jeder Wert, der als Wert zu gel-
ten den Anspruch erhebt, als etwas schlechthin Letztes und Unableitbares ge-
gesetzt werde, Das System der Werte liegt in einer von der Begriindung der
einzelnen Werte véllig verschiedenen Dimension und behandelt die apriori-
schen und formellen Beziehungen der Werte zu einander, deren Unabhangig-
keit von einander es nicht beriihrt, die es im Gegenteil in dieser ihrer klaren
Unberiihrtheit als einander erginzend (oder einander feindlich u. s. w.) be-
greift. Kant hat diese Abgeschlossenheit der Wertspharen gegeneinander nicht
nur zum Ausgangspunkt ihrer konkreten Begriindung gemacht, sondern hat
jeden Versuch, die »Vermégen«, wie er das Letzte, worauf sie beruhen, oft
— wenn auch nicht gerade gliicklich — bezeichnete, aufeinander zuriickzu-
fiihren oder auf eines zu reduzieren, ausdriicklich abgewiesen. »Wir kén-
nene, sagt er in der erst neuerdings veréffentlichten »Ersten Einleitung in die
Kritik der Urteilskraft«, »alle Vermégen des menschlichen Gemiits ohne Aus-
nahme auf die drei zuriidcfiihren: das Erkenntnisvermdgen, das Gefibl der
Lust und Unlust, und das Begehrungsvermgen. Zwar haben Philosophen,
die wegen der Griindlichkeit ihrer Denkungsart iibrigens alles Lob verdie-
nen, diese Verschiedenheiten nur fir scheinbar zu erkldren und alle Vermé-
gen aufs blo&e Erkenntnisvermégen zu bringen gesucht. Allein es laft sich
sehr leicht dartun, ... da dieser, sonst im echten philosophischen Geiste un-
ternommene Versuch, Ejnheit in diese Mannigfaltigkeit der Vermégen hin-
212 Heidelberger Asthetik
einzubringen, vergeblich sei.«** Schon der junge Fichte hat gegen diese Ver-
absolutisierung der Grundlagen der Wertgebiete, in ihrer weit weniger apo-
diktischen Fassung, als sie die »Einleitung zur Kritik der Urteilskraft« ent-
halt, Einspruch erhoben und wollte — bereits 1790/1 — zu einer wirklich ein-
heitlichen Darlegung der letzten Prinzipien des BewuStseins, die diesen Plu-
ralismus aufhebt, fortschreiten. Und Hegel spottet in seiner historischen Dar-
stellung der kantischen Philosophie iiber den »Seelensack«, in dem herumge-
sucht wird, »was darin noch fiir Vermégen sich befinden; und so wird zu-
falliger Weise oben auch die Vernunft angetroffen. Es ware ebenso gut, wenn
sich auch keine finde ...«7° Auch schon im frithen Aufsatz iiber »Glauben
und Wissen« wendet er sich scharf gegen die Kantsche Unterscheidung von
Vernunftideen und asthetischen Ideen (eine Unterscheidung, mit deren grund-
legender Bedeutung fiir die transcendentalphilosophische Begriindung der As-
thetik wir uns noch eingehend zu beschaftigen haben werden): »als ob nicht
die asthetische Idee in der Vernunftidee ihre Exposition, die Vernunftidee in
der Schénheit dasjenige, was Kant Demonstration nennt, namlich Darstellung
des Begriffs in der Anschauung, hatte.«7! Wie sehr dies zum Programm der
ganzen nachkantischen idealistischen Philosophie, zu ihrem gemeinsamen
Grundprinzip trotz aller Verschiedenheiten in der Ausfiihrung geworden ist,
ist zu bekannt, als da& mehr als ein Hinweis darauf von néten ware. Wich-
tiger fiir unser Problem ist die Bestimmung der oft iibersehenen Folge dieser
Sachlage, namlich da& die von den grofen Nachfolgern Kants vollzogene
Vereinheitlichung der letzten Grundlage jeder Setzung eine Setzung im streng
transcendentalen Sinn unméglich macht. Der Gegensatz beruht im Wesent-
lichen darauf, da& die in der kritischen Philosophie als aus einander unableit-
bar angenommenen »Vermégen« nur Marksteine dafiir sind, da& in den
verschiedenen Spharen yon einander qualitativ verschiedene und deshalb
untereinander nicht vermittelbare Gegenstandssetzungen vollzogen wurden,
da also die transcendentale Gegenstandlichkeit einer Sphire die reine Funk-
tion der in ihr konstitutiven Formen ist. Dagegen hat die Vereinheitlichung
des philosophisch-relevanten Bewufitseins zur notwendigen Folge, da das
von ihr Erzeugte, das, worin der alles setzende, einheitliche Geist sich selbst
erkennt, also der Geist selbst etwas im Wesen Einheitliches sei und jeder Dif-
ferenz nur die Bedeutung einer Stufe oder eines Momentes in dem Proze des
72 [Goethes Gespriche. Gesprich mit Riemer, 1807. August 2. Hrsg. von F. F. von Bieder-
mann, Leipzig, Biedermann, 1909. Bd. I. S. 506.]
73 [Wissenschaft der Logik, Werke. Bd. rv. S. 78. ~ S.: Ausgabe Lasson. Zweiter Teil.
S. 69.)
214 Heidelberger Asthetik
lich?« das Problem der Ent-wicklung des Geistes aus seinen Momenten, der
Aufbau der konkret-wesensvollen Welt als hierarchisch gegliederte Erschei-
nungsform des Geistes, die apriorische und zeitlose »Geschichte« seines Zu-
sichkommens. »Non critice sed historice est philosophandum«™ lautet eine
der Jenaer Disputationsthesen Friedrich Schlegels, in dessen Jugendentwiir-
fen zur Philosophie eine dem konkreten Idealismus sehr nahe verwandte Ge-
sinnung sich ausspricht.
Statt des Nachweises eines spezifischen und quantitativ eigenartigen katego-
rialen Aufbaus als transcendentaler Folge der Autonomie des Wertgebietes
muf hier aufgezeigt werden, da& das betreffende Moment sowohl seiner
konkret-qualitativen Eigenart wie seiner Bedeutung fiir das System nach
gerade dort das vorhergegangene Moment iiberwindend auftreten und ge-
rade dort vom nachfolgenden Moment wieder aufgehoben werden muf, wo
ihm dies von der dialektischen Entfaltung des Geistes anbefohlen wird. Die
kantische transcendentale Reflexion iiber die Bedingungen der Méglichkeit
einer bestimmten Gegenstandlichkeit wird also ersetzt durch das Zusammen-
fallen der konkreten Erfiillung der betreffenden Erscheinungsform des Geistes
mit ihrer notwendigen Rolle als Entstehendes und Vergehendes in dessen dia-
lektischer Selbstentfaltung. Daf dabei, sowohl in der »Phanomenologie« wie
im System selbst, historische und apriorische Kategorien der dialektisch-hier-
archischen Ordnung ineinander verschlungen sind, haben wir jetzt nicht zu
untersuchen, umso weniger als auf wenigstens eines der systematischen Mo-
tive ihrer Vermischung bereits hingewiesen wurde. Fir uns kommt es darauf
an, zu priifen, ob diese Reihe homogener, aus einander entwickelter, zu ein-
ander im vergleichbaren Verhiltnis der mehr oder weniger relativen Ver-
wirklichungen des Geistes stehender Stufen eine eindeutige Fassung des As-
thetischen zulaft oder nicht. Das erste und gerade im Sinne des Hegelschen
Systems entscheidendste Problem ist die Stelle, die der Schénheit und mit ihr
der Kunst im Gang der Selbstverwirklichung des Geistes zugewiesen wird; ge-
nauer: das Aufzeigen des Momentes, dessen dialektisch auftretender innerer
Widerspruch zu seiner Aufhebung und damit in seiner Weiterbewegung not-
wendig zur Idee der Schénheit fiihrt. Hier zeigen nun die verschiedenen Be-
arbeitungen des Systems die verschiedensten Lésungen. In der »Asthetik«
selbst wird die Schénheit zuerst in der Natur, aber als abstrakte, unvoll-
kommene, nicht in der Sache beruhende, sondern nur »fiir uns« daseiende ge-
74 [S.: Caroline, Briefe aus der Frihromantik. Hrsg. von E. Schmidt. Leipzig, 1913.
Bd. 11. S. 585.]
Entwicklungsphilosophische Schénheitsidee ais
setzt und aus ihrer inneren Unangemessenheit entsteigt die wirkliche Gestalt
der Idee, die der Kunst. Abgesehen von den Antinomien, die fiir jede Ab-
leitung der Kunst aus der Naturschénheit eben nachgewiesen worden sind,
wiirde hier, wenn dies die wirkliche Meinung Hegels wire, die systematische
Schwierigkeit entstehen, da& die Kunst — in irgendeiner Weise - an die
Naturphilosophie angekniipft werden miifte; eine Schwierigkeit, der Vischer,
der sie deutlich erblickt hat, so zu entgehen sucht, da& er als Naturschénheit
ein bestimmtes Stadium der asthetischen Idee bezeichnet, das deshalb nicht
nur die Schénheit der Natur im eigentlichen Sinne, sondern auch die des ge-
sellschaftlich-geschichtlichen Lebens umfaft. Fiir Hegel selbst ware dieser
‘Weg nicht recht gangbar gewesen, da er eine allzu groSe Selbstindigkeit der
asthetischen Idee voraussetzt, wie ja auch Vischer in seiner Polemik gegen
Hegels Begriff der Naturschénheit ihm geradezu die Verwechslung der Idee
der Schénheit mit der Idee tiberhaupt vorwirft. Der Vorwurf ist insofern
ungerecht, als das ganze Hegelsche System auf die innere und wesenhafte
Einheit der Idee aufgebaut ist, so da& es konsequenterweise nur eine Ver-
wirklichung der Idee als Schénheit, nicht aber eine eigene und selbstandige
Idee der Schénheit zulassen kann. Es zeigt sich aber hier die Quelle jener
Schwankung in Hegels Asthetik, auf die schon hingewiesen wurde, da& nam-
lich die prinzipielle Grundlegung der Asthetik, als Philosophie der Kunst,
also mit Ausschlu8 des Naturschénen aus dem Bereich der Asthetik entwor-
fen wurde, in der tatsaichlichen Durchfiihrung jedoch die Naturschénheit doch
nicht entbehrt werden konnte. Die Unmiglichkeit, die von der systemati-
schen Entwicklung geforderte totale Ausscheidung der Naturschénheit aus
der Asthetik zu vollziehen, liegt in der tiefen Verwandtschaft des Schénheits-
begriffes mit dem Begriff des Organischen. Schon bei Schelling gipfeln im rea-
len All die Potenzen der Materie und des Lichtes in der Indifterenz des Orga-
nismus, ganz parallel zu dem idealen All, wo die Kunst eine entsprechende
Indifferenz des Wissens und des Handelns bedeutet. Dieselbe Parallelitit
muf auch bei Hegel, fiir den das Organische noch prignanter zum Wertbe-
griff geworden ist, freilich in dynamisch-geschichtlicher Wendung erscheinen,
so da8 nicht blo& die Gesamtidee der Kunst mit der des Organismus paralle-
lisiert wird, sondern auch der Weg vom Leblosen zum Organismus und diber
den Organismus hinaus zum nicht mehr blof organischen Geist sich sowohl in
der Kunstphilosophie selbst, wie in ihrem Praeludium, in der Lehre von der
Naturschénheit wiederholt. Denn Kunst im kanonischen Sinn ist fiir Hegel
nur die klassische Kunst, »Die classische Kunstform namlich hat das Héchste
erreicht, was die Versinnlichung der Kunst zu leisten vermag, und wenn an
216 Heidelberger Asthetik
ihr etwas mangelhaft ist, so ist es nur die Kunst selber, und die Beschranktheit
der Kunstsphire.«?5 Das Klassische ist aber fiir Hegel dem Gehalte nach
das wirklich und echt Menschliche, die Idee der Menschlichkeit, der Form
nach das reine und vollendete Innewohnen der Idee in ihrer sinnlichen Er-
scheinung; was davor liegt, ist ein Noch-nicht-Durchdrungensein der Erschei-
nung von der Idee, was darauf folgt, ein Zerfallen der Erscheinung, weil die
Idee sich substantielleren, ihr wesentlicher angemessenen Offenbarungsfor-
men zuwendet. Es ist leicht ersichtlich, da& die Hegelsche Darstellung der
Naturschénheit einen diesem Schema sehr ahnlichen Gang einnimmt, nur da
auf dieser Stufe das Hinausgehen iiber die relative Selbstvollendung des Or-
ganischen seine abstrakte Mangelhaftigkeit und damit die der ganzen Natur-
schénheit aufdeckt und den Ubergang zur Kunst notwendig erscheinen 1a8t.
Dieser Ubergang ist jedoch blo& dann zwingend und diberzeugend, wenn in
der Natur, bis zum Organismus und dariiber hinaus, wirklich die Schénheits-
idee um ihre Verwirklichung in der Prosa der Welt rang, wenn also Schén-
heit und Naturphilosophie in den Zusammenhang miteinander gebracht wer-
den, dessen Antinomien bei Weisse und Vischer erdrtert wurden. Ist dies nicht
der Fall, so ist der von Hegel in der Einleitung gewahlte Standpunkt der
folgerichtigere: die Asthetik mit der Philosophie der Kunst gleichzusetzen;
dann darf aber der Schénheitsbegriff nicht einmal abstrakt und reflexiv
auf die Natur angewendet werden, geschweige denn daf die Idee der Schén-
heit aus der Mangelhaftigkeit der — nichtseienden — Naturschonheit ent-
steigen kénne.
In der »Enzyklopadie« nimmt Hegel einen anderen Ausgangspunkt zur me-
thodischen Fixierung der Kunst: sie ist die erste Stufe des absoluten Geistes,
der absolute Geist auf der Stufe der Unmittelbarkeit, der Anschauung, die in
Vorstellung und dann in Begriff, in Religion und dann in Philosophie aufzu-
gehen berufen ist. Wie ist aber dieser Ubergang vom vollendetsten Grad des
objektiven Geistes, von der konkreten Sittlichkeit zur Kunst dialektisch be-
greiflich zu machen? Auf diesem Punkt lat uns die eigene Darstellung He-
gels ganz im Stich. Hier erscheint die Kunst, wie Hegel es in Bezug auf das
Absolute in der »Phanomenologie« Schelling vorwarf, wie aus der Pistole
geschossen. Die Selbstauflésung und das Ubersichhinausweisen des objektiven
Geistes zeigt hier kein einziges Symptom, das als dialektischer Ubergang zur
Kunst dienen kénnte. Und selbst wenn man als hermeneutische Erginzung
76 (Wissenschaft der Logik. Werke. Bd. rv. S. 183. - Ausgabe Lasson. Zweiter Teil,
S. x60-161.]
77 (Ebda, S. 180. — A.a.0. S, 158.]
78 [Vorlesungen iiber die Asthetik. Werke. Bd. x. Abt. 1. S. 220, — Aufbau-Ausgabe.
S. 199.]
218 Heidelberger Asthetik
und in dieser wesentlichen Beziehung stimmen auch Religion und Philosophie
tiberein, denn indem »sich die Vorstellung in die Form des Denkens auflést«,
so ist es »jene Bestimmung der Form . .., welche die philosophische Erkennt-
nis der Wahrheit hinzufiigt . . .; vielmehr ist die Religion eben der wahrhafte
Inhalt nur in Form der Vorstellung und die Philosophie soll nicht erst die
substantielle Wahrheit geben, noch hat die Menschheit erst auf die Philoso-
phie zu warten gehabt, um das Bewuftsein der Wahrheit zu empfangen.«
Damit ist fiir das System nur die Aufgabe gestellt, die Bestimmungsform des
Absoluten aufzuzeigen, die es in der Gestalt der Schénheit erscheinen laft.
Wir wissen, da diese Form die Unmittelbarkeit der Anschauung ist oder —
vom Standpunkt des Gegenstandes aus betrachtet — das vollstindige und
restlose Innewohnen der Idee in der Erscheinung. Wir wissen aber auch, da
diese Bestimmung nicht auf das Ganze der in der »Asthetik« behandelten
Objektivationsformen des absoluten Geistes zutrifft, sondern nur auf die
mittlere der dort dargestellten Epochen der Geschichtsphilosophie der Kunst:
auf die Klassik; in der symbolischen Kunst hat die Idee die Erscheinung noch
nicht durchdrungen, in der romantischen Kunst ist sie bereits iiber diese Ver-
wirklichungsform hinweggeschritten, so da& die immer mehr zu leeren Hiilse
werdende Gestalt zu zerfallen droht, um in der letzten, vierten Epoche, die
die Hegelsche »Asthetik« allerdings blo andeutet, die aber eine tiefe, syste-
matische Notwendigkeit fiir sie besitzt, ganz verworfen zu werden. »Die
Kunst in ihren Anfangen la&t noch Mysteridses, ein geheimnisvolles Ahnen
und eine Sehnsucht iibrig, weil ihre Gebilde noch ihren vollen Gehalt nicht
vollendet fiir die bildliche Anschauung herausgestellt haben. Ist aber der voll-
kommene Inhalt vollkommen in Kunstgestalten hervorgetreten, so wendet
sich der weiterblickende Geist von dieser Objectivitat in sein Inneres zuriids
und sté&t sie von sich fort. Solch eine Zeit ist die unsrige.«®° Da der Motor
der Weiterbewegung das immer Substantiellerwerden des Geistes, das Sich-
finden des wahrhaften Subjekts im wahrhaften Objekt, die Aufhebung jeder
abstrakten Transcendenz ist, wird es verstandlich, daf& die Kunst ihre dia-
lektische Stelle zwischen den beiden grofen Typen der Religion, der noch
transcendenten und der bereits ins Subjekt eingesenkten, erhialt, als das Sta-
dium, wo das Absolute bereits Subjekt geworden ist, jedoch gewissermafen
nur Subjekt an sich, nur herausgestellte und in dieser isolierenden Herausstel-
79 (Vorlesungen iiber die Philosophie der Religion, Werke. Bd. xr. Berlin, 1840. S. 150.]
80 [Vorlesungen iiber die Asthetik. Werke. Bd. x. Abr. 1. S. 132, — S.: Aufbau-Ausgabe.
S. 139]
Entwicklungsphilosophische Schonheitsidee 219
88 [Phinomenologie des Geistes. Werke. Bd. 11. S. 16. - Ausgabe Hoffmeister. 1952. S. 21.]
Entwicelungsphilosophische Schinbeitsidee 223
durch eine andere dialektisch zu iiberwinden, da der Akt der transcenden-
talen Setzung ein Setzen als Absolutes und Unaufhebbares bedeutet, so evi-
dent ist der Ubergang von der Stufe der Schénheit zu der der vorstellungs-
miafigen Gestaltung des absoluten Geistes. Die Inkonsequenz Hegels liegt
also darin, da& er Formgebilde, die nur in »kritischer« Fassung einen eindeu-
tigen Sinn enthalten kénnen, obwohl er ihre Setzung und damit ihren Sinn
aufhebt, obwohl sein Formbegriff ihre Geltung ausschlieft, doch in sein Sy-
stem einfiigen will. Das Substrat der dialektischen Entwicklung kann aus
diesem Grunde fiir solche Teildisziplinen wie die Asthetik keine eindeutig
bestimmte Einheitlichkeit haben: einerseits ist es zwar einheitlich als das
jeder Objektivation dieser Stufe zu Grunde Liegende, als der einheitliche ab-
solute Geist, und andererseits kénnte es auch einheitlich sein als die Summe
der empirisch-geschichtlichen Erscheinungen, die die Einzelwissenschaften un-
ter dem Namen »Kunst« zusammenzufassen pflegen (obwohl diese Forderung
im vorliegenden System nicht erfiillt ist); die erste Bestimmung ist aber zu
weit, um eine stringente Entwicklung leiten zu kénnen, und die zweite kann
als empirische zur philosophischen Einheitlichkeit nichts beitragen. (Inwiefern
der Begriff des Geistes eine Umdeutung im modernen Sinne, also etwa als
Inbegriff der Kultur, als »Geist« bei Dilthey, auch fiir seine Hegelsche Fas-
sung zulaft und somit seine Anwendung auf eine blo8 geschichtlich-bedeut-
same, aber nicht transcendental-einheitliche Totalitat méglich macht, kann
hier nicht untersucht werden. Auf das Prinzipielle dieses Problems wird bei
Behandlung der Geschichtlichkeit des Kunstwerks noch ausfiihrlich einzuge-
hen sein.) So muf die »Asthetik« als briichig und widerspruchsvoll erscheinen,
weil sie keinen philosophisch einheitlichen und genauen Begriff der Kunst
aufweisen kann; sofern sie hingegen als Aspekt der Totalitat des Geistes ge-
fa&t wird, ist weniger das Einbeziehen »fremder«, nicht »Asthetischer« In-
halte etwas Willkiirliches, als vielmehr der Gesichtspunkt der Kunst iiber-
haupt, der auf die Klassik zwar adiquat anwendbar ist, aber auch sie nicht
in ihrer wahren Totalitat umfa&t, fiir das Vorher und das Nachher jedoch
schief und unangemessen ist. Die wahre Einheit der Idee kann nur in wahren
Totalititen erfa&t werden, und das Auseinanderlegen ihrer Entfaltung nach
Prinzipien, deren Wesen und Beziehung auf einander nicht aus dieser Einheit
und der Methode ihres Erfassens stammt, kann nur als triibendes Kompromif
erscheinen.
Dies alles bezieht sich jedoch blo& auf die Ausfiihrung, die das System, be-
sonders in den detaillierenden Vorlesungen, erfahren hat. Die spekulative
Eindeutigkeit der Schénheit und ihre dialektische Ableitung bleiben dadurch
24 Heidelberger Asthetik
unangetastet, als eine bestimmte und notwendige Stufe in der Selbstent-
faltung des Geistes, als die Stufe seiner vollendeten Immanenz, als »die dem
Geist angemessene Identifikation des Geistigen und Natiirlichen, welche nicht
nur bei der Neutralisation der beiden entgegengesetzten Seiten stehen bleibt,
sondern das Geistige zu der hdheren Totalitat heraufhebt, in seinem Anderen
sich selber zu erhalten, das Natiirliche ideell zu setzen, und sich im Natiir-
lichen und am Natiirlichen auszudriidken« ® Und als geradeso spekulativ
folgerichtig erscheint es, da dieses Moment des Geistes — als Moment der
Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit, der geisterfiillten Organik — durch ein
hdherstehendes aufgehoben wird: es liegt im Wesen dieser Bestimmungsform,
die Jugendform des Geistes zu sein, eine friihe Vollendung und ein bald ver-
blassender Glanz, iiber den hinaus Echteres und Substantielleres zu suchen
und zu finden geben muf. »Zum Schénen wird erfordert ein Gesetz, das in
die Erscheinung tritt«, sagt Goethe. »In den Bliiten tritt das vegetabilische
Gesetz in seine héchste Erscheinung, und die Rose ware nur wieder der Gipfel
dieser Erscheinung . .. Die Frucht kann nie schén sein: denn da tritt das vege-
tabilische Gesetz in sich (ins blo&e Gesetz) zuriick.«*° Und man kann die Ach-
tung vor der grofartigen spekulativen Tiefe und Konsequenz der so erfaften
Schénheitsidee nicht besser aussprechen, als indem man sie an ihrem wahren
systematischen Ort zu begreifen versucht und ihre zufallige und darum Ver-
wirrungen stiftende Beziehung auf die Kunst als Kunst, als transcendental
eigenartige und unabhangige Gegenstandlichkeit von ihr ablést und sie von
diesem unniitzen Ballast befreit.
89 [Hegel: Vorlesungen iiber die Asthetik. Werke. Bd, x., Abt. 11, S. 9, - S. Aufbau-
Ausgabe, S. 422.]
90 [Maximen und Reflexionen iiber Kunst. Aus dem Nachla8. Simtliche Werke. Jubilaums-
Ausgabe. Bd. 35. S. 325.]
225
Appendix I*)
Die folgenden Darlegungen sind einem System der Asthetik entnommen
und tragen deshalb wohl an manchen Stellen den Stempel der Erginzungs-
bediirftigkeit an sich; manches Problem konnte hier nur angedeutet, man-
ches nicht einmal angedeutet werden, weil der systematische Zusammenhang
einen anderen Ort fiir seine Lusung bestimmt — doch wird ja dieser Mangel
jeder Behandlung jedes Einzelproblems mehr oder weniger anhaften. Zum
Verstandnis dieses Abschnittes ist nur eine Bemerkung nétig: er setzt eine
»Phinomenologie des schipferischen und receptiven Verhaltens« voraus und
einige Begriffe, die auch hier vorkommen (wie homogene Reduktion, Tech-
nik, Vision usw.), erhalten dort einen konkreten und erfiillten Sinn, im
Gegensatz zu ihrer blo& abstrakt-funktionellen Bestimmung in diesem Ab-
schnitt, In bezug auf den Begriff der Phinomenologie sei hier es nur soviel
bemerkt, da& er mehr im Sinne Hegels als in dem Husserls verstanden sein
will: als der Weg, den der »natiirliche«, erlebende Mensch zuriicklegen mug,
bis er zum 4sthetischen Subjekt (zum Schaffenden und Receptiven) verwan-
delt wird; da& dabei mannigfache Beriihrungen mit Husserl und viele Ab-
weichungen von Hegel mitgedacht sind, ist selbstverstindlich, aber fiir das
Verstndnis des Vorliegenden ohne Bedeutung.
Der innere Aufbau jeder Wertsphare hebt sich sowohl von den anderen
Wertsphiren, wie von der »natiirlichen« Wirklichkeit am auffallendsten
wohl durch die Art ab, die die Subjekt-Objekt-Beziehung in ihr Ein-
nimmt. Wenn sich auch diese ganze Schicht spater als eine abgeleitete und
secundire erweisen wird, so zeigt sie doch den einzigen Weg, der zur wirk-
lichen Erkenntnis des Entscheidenden, des transcendenten Wertes selbst
fihrt. Und ganz besonders ist hier der einzige Weg, der es méglich macht,
die spezifische Eigenart einer Wertsphare im Unterschied zu den anderen
herauszuarbeiten und der Gefahr einer allzuraschen Harmonisierung der
* Das dritte Kapitel der »Asthetik« war der einzige Teil der Heidelberger Manuskripte,
der zu Lukdcs Lebzeiten — im ersten Heft des achten Bandes von »Logos« [1917-1918] - im
Druck erschien. Fiir diese Publikation — so ergibt der Vergleich mit dem Originell-Manuskript
— hat Lukdcs das Kapitel mit einer langeren einleitenden Fu¬e versehen, den ersten Absatz
anzlich umgeschrieben und auch den weiteren Text etwas modifiziert und gekiirzt, Im Haupt-
text haben wir die handschriftlichen Formulierungen wiederhergestellt. Der Vollstandigkeit
halber bringen wir hier die einleitende FuSnote des Logos-Artikels und die Version seines
ersten Absatzes - G. M.
226 Heidelberger Asthetik
Wertgebiete, ihrer allzu geflissentlichen Abstimmung aneinander, die die
eigentiimlichen Strukturen der einzelnen Spharen verfalschen mu8, zu ent-
gehen. Der systematische Charakter der Sphiren hat aber auch zur Folge,
da& mit der Entscheidung einer Frage die Losungsrichtung aller Probleme
gegeben ist, so daf sich auch die Moglichkeit bietet, durch diese scheinbar spe-
zialistische Fragestellung das Grundproblem der Asthetik durchscheinen zu
lassen.
227
Appendix II*)
2. Die intelligible Zufalligkeit und der Anthropologismus der Kunst
Die monadenhaft zerkliiftete Welt der Asthetik, der Pluralismus, in dem
sich ihr Aufbau vollendet, ist fiir sie notwendige Folge ihrer Setzung, Be-
dingung der Méglichkeit der Verwirklichung ihres leitenden Wertes. Die
philosophische Erkenntnis kann aber trotz der sphirenimmanten Notwen-
digkeit des Pluralismus bei dieser seiner Faktizitat doch nicht stehen bleiben,
sie fordert neben dieser Exposition noch eine — gewisserma&en »aufer-
halb« der Sphire ansetzende — transcendentale Deduktion der Rechtmafig-
keit dieser Setzung. Nicht an ein System der Werte ist hierbei gedacht, um
durch den Nachweis der Stelle, die der asthetische Wert darin einnimmt,
zu der Rechtfertigung seiner Setzungsart und auf diesem Umweg zu der
Rechtfertigung der bisher als Faktizitat erscheinenden strukturellen Folgen
zu gelangen. Es wurde bereits gesagt und kann nicht ausdriicklich genug
wiederholt werden: eine autonome Wertsphare kann nur durch einen prin-
zipiell unableitbaren Wert begriindet werden, das System der Werte ist also
ein System von autonomen und unableitbaren, einer Rechtfertigung nicht
mehr bediirftigen Werten; vom System aus kann niemals etwas im Bezug
auf die einzelnen Werte ausgemacht werden, denn die systematische Frage-
stellung liegt in einer Dimension, wo diese Fragen nicht mehr aufwerfbar
und beantwortbar sind. Das »Auferhalb-der-Sphire« ist deshalb nur so zu
verstehen, da wir versuchen werden ihre Urgegebenheit auf einem anderen
Weg zu erreichen, indem wir diese von dem dunklen Hintergrund sich ab-
heben lassen, von dem sich auch die anderen Wertspharen abheben, und in
* Im handschrifelichen Manuskript des Verfassers trigt das dritte Kapitel der Heidelberger
Asthetik den Titel »Die Idee des Werkes an sich«. Das dritte Kapitel dieser Ausgabe »Die
Subjekt-Objekt-Beziehung in der Asthetik« ist im Manuskript als der erste Punkt dieses um-
fassenderen Kapitels bezeichnet. [Auf der ersten Seite des Lukécs’s gehérenden Sonderdrucks
des Logos-Astikels - welcher den gleichen Titel trigt und mit dem handschriftlichen Text
wesentlich identisch ist (siehe Appendix 1.] - findet sich die eigenhindige Anmerkung: »Asthe-
tik. 3. Cap."] Im Originalmanuskript folge diesem ersten Unterabschnitt ein 2weiter mit dem
Titel: »Die intelligible Zufalligkeit und der Anthropologismus der Kunst.« Dessen zitka
eine handschriftliche Seite umfassender Text bricht aber — in der Mitte der Seite und eines
Satzes — ab. Das offensichtlich von Lukdcs selbst aufgegebene Bruchstiick bringen wir im
nachfolgenden. G. M.
228 Heidelberger Asthetik
diesem und in der Beziehung der Sphare zu ihm den Rechtfertigungsgrund
fiir das So-sein der Sphare, fiir das Resultat der vorhergegangenen Analytik
zu finden versuchen. Wir kehren also wieder zu dem Niveau der Erlebnis-
wirklichkeit zuriick, nur mit dem Unterschied, da® unsere bisher erreichte
Erkenntnis von der Struktur der Sphare sowie von ihren Differenzen von
anderen Spharen durch diese Riidcwendung nicht aufgehoben wird, sondern
als »Faktizitét« das Problem unserer Untersuchung ausmacht, daf also nur
ihre Giiltigkeit bis zur Entscheidung iiber deren Rechtsgrund gewissermafen
»in Klammern gesetzt« werden mu&, ohne darum das Inhaltliche oder
Struktive daran anzutasten.
Die Grundtatsache, die hier den Ausgangspunkt bildet, ist die Unméglich-
keit einer zugleich einheitlichen, allesumfassenden und konstitutiven Syste-
matisation der Totalitét der Welt und darum die Unmidglichkeit einer
Stellungnahme zu ihr, die derart beschaffen ist, da sie alle anderen mdg-
lichen Stellungnahmen gewissermafen in sich vereinigt oder wenigstens aus
sich — restlos und sprunglos — ableitbar macht. Kurz gesagt: die Unmég-
lichkeit der Aufhebung der intelligiblen Zufalligkeit. Dieses Problem muS
doch freilich, um nur andeutungsweise der Lésung nahe gebracht zu sein,
als allgemeine Theorie der Systematisation iiberhaupt gestellt werden und
miiffte die Kritik aller Systemtypen enthalten, die den Anspruch erheben,
die intelligible Zufalligkeit iiberwunden zu haben. Dieser Zusammenhang
gestattet selbstredend eine derartige Fragestellung nicht und bedarf ihrer
auch nicht, insofern es nur iiberhaupt zur Einsicht gebracht werden kann,
da& wenigstens eine derartige, im Wesen der Setzung und der gesetzten
Universa begriindete Zufalligkeit unaufhebbar gegeben ist. Die Zufallig-
keit ist dann in dem Sinn des unableitbaren Gegebenseins zu verstehen, als
ein Dasein, das als solches anzuerkennen, aber dem homogen und einheitlich
zusammenhangenden Kategoriensystem nicht einzufiigen ist. Anders ausge-
driickt, da& es voneinander unabhangige Setzungsarten gibt, wodurch ein-
ander heterogene Gegenstandlichkeiten begriindet werden. Von den histo-
risch bekannten Systemtypen ist das Hegelsche der einzige, der diese Frage
a limine abzuweisen berechtigt ist. Der konkrete Begriff und die dialektische
Methode erheben den Anspruch, nicht nur jede Objektivation und ihre Ob-
jektivitit — von der »natiirlichen Wirklichkeit« bis zur Selbsterkenntnis des
absoluten Geistes — einheitlich zu begreifen, sondern das Dasein und das
Sosein von jeder in und mit derselben Methode hervorzubringen. Fiir jedes
andere System...
[Das Manuskript bricht hier ab — Hrsg.]
229
Bevor ich auf das eigentliche Thema eingehe, muf ich nur ganz kurz ein paar
Bemerkungen machen, damit Ihre Erwartungen nicht etwa in falsche Rich-
tungen gehen sollen, und damit die Art, in der ich diesen Vortrag halten
werde, gekennzeichnet wird. Vor allem mu ich betonen, daf die folgenden
Bemerkungen aus dem Systeme herausgenommen sind und deshalb nicht eine
Abgerundetheit und vollkommene In-sich-Abgeschlossenheit aufweisen kén-
nen. Das Problem des Systems interessiert nur in dieser einen Beziehung, daf
also die meisten Kategorien, die hier beniitzt werden, aus einem viel gréferen
und umfassenderen Zusammenhang herausgenommen sind, so daf sie hier
nicht in ihrer vollstandigen Klarheit und ihrem vollstandigen Begriindetsein
in der Systematik herausgebracht werden. Dabei mu noch bemerkt werden,
da8 die Kategorien, in die hier versucht wird, die Malerei einzuteilen, weder
hierarchische noch wertende Kategorien sind.
Hier soll nur von einem Problem der neuen Einteilung der Malerei die Rede
sein. Nur beildufig will ich bemerken, da alles, was hier iiber den Kiinstler
oder den GenieBenden gesagt wird, nicht psychologisch gemeint ist. Die An-
schauungen, die hier vertreten sind, gehen vom Werke aus, und der Schaf-
fende und der GenieSende kommen nur vor, insofern sie in einer seinsollenden
Beziehung zum Werke stehen. Ebenso, wenn von historischen Dingen die
Rede ist, ist hier ein rein geschichtsphilosophischer Standpunkt vertreten, und
ebenfalls kommen also kunstgeschichtliche Gesichtspunkte und Einteilungen
iiberhaupt nicht in Betracht.
Das Problem, das hier behandelt werden soll, ist ganz kurz dieses: ob die
Malerei an und fiir sich ein nicht mehr weiter analysierbarer Komplex in der
Asthetik ist, also eine Form, fiir die nur eine einheitliche Formenlogik gilt,
oder ob es innerhalb der Malerei verschiedene Kategorien, verschiedene Grup-
pen solcher Formen gibt, die eine eigene Struktur besitzen. Die alte Asthetik
hat die Malerei zumeist nach Gegenstanden eingeteilt, wodurch selbstver-
stindlich etwas vollstandig Inaddquates ausgesprochen wurde. Denn wir
wissen, da es vom rein malerischen Standpunkte aus gleichgiiltig ist, welche
Gegenstiinde zu Gruppen gemalt werden. Zum groSen Teil aus Opposition
gegen diese Asthetik ist die moderne, »kiinstlerische« Theorie, deren Haupt-
vertreter Fiedler und Hildebrand sind, entstanden, die die Malerei und sogar
232 Vorlesung
die bildende Kunst als einen einheitlichen Komplex gefaft hat, der von der
kiinstlerischen Tatigkeit, namentlich von der Reduzierung der Welt auf die
reine Sichtbarkeit und durch das fortsetzende kiinstlerische Verfahren geleitet
wird.
Es ist also die Frage, ob diese Fiedler-Hildebrand’sche Auffassung eine defi-
nitive ist, ob es innerhalb dieses [einheitlichen Komplexes] keine einzigen
Unterabteilungen oder Formen gibt. Es handelt sich hier um die Frage, ob es
eine Gegenstandstheorie der Malerei gibt, ob aus der Idee der Malerei heraus
ein gewisses Reich von apriorischen Gegenstinden und diesen Gegenstinden
entsprechenden apriorischen Gesinnungen zu entwickeln sind, die dann die
verschiedenen malerischen Formen bilden wiirden. Daf die Malerei Gegen-
stinde darzustellen hat, das ist eigentlich vorauszusetzen. Von den beiden
Kiinsten, die als Flachen, als schéne Flachen wirken, sind Teppich und Malerei
im Wesen dadurch getrennt, da& der Teppich gar nichts darstellen will. Wenn
irgendwelche Zeichen im Teppich vorkommen, die eine Realitat enthalten,
dann haben sie eine rein allegorische, dekorative Bedeutung. Ob sie in einer
religidsen Periode Allegorien fiir irgendetwas sind, das geht uns, wenn wir
die Kunst als Kunst betrachten, gar nichts an.
Es wire also die Fiedler’sche Theorie der reinen Sichtbarkeit, die aus allen
Erscheinungen der bildenden Kunst eine Einheit macht, naher zu untersuchen.
Fiedlers Standpunkt ist, da& wir in einer vollkommen verworrenen Welt
leben, wo Sichtbares, Gedachtes und Empfundenes durcheinander gehen, und
wir durch dieses Durcheinander in einem standigen Zustande der Gequiltheit
leben. Es gehért eine Anstrengung dazu, diese Welt auf eine reine Sichtbarkeit
zu reduzieren. Durch diese Reduzierung entstehen aber nur unzusammen-
hangende, fremde Bruchstiicce. Wenn wir alles, was nicht rein sichtbar ist, aus
der Welt entfernen, entsteht irgendeine voriibergehende Vorstellung. Fiedler
halt die kiinstlerische Tatigkeit fiir eine Fortsetzung dieser [Reduzierung zur]
Sichtbarkeit und glaubt, da sie so intensiv werden kann, daf sie zum Werke
fihrt. Da ist vor allem zu bemerken, da Fiedler diesen Ubergang von dem
Sehen zur Tatigkeit einfach als Faktum hinnimmt und andererseits, daf die
Tatigkeit bei ihm nicht zu dem fiihren kann, was fiir uns eigentlich Kunst
ist, namlich zu dem Kunstwerke, zu dem Kunstwerk als irgendeiner Welt, die
einem ganz tiefen, iiber das Individuelle und Empirische hinausgehenden
Bediirfnis des Menschen entspricht. Diese Bahn ist fiir Fiedler unerreichbar.
Die kiinstlerische Tatigkeit versucht er zu erreichen. Es ist aber blo& eine
standige [Approximation], die hier geleistet wird. Dazu kommt noch eines,
da diese Theorie eine rein asthetische ist. Fiedler verlangt, da& wir den
Formproblem der Malerei 233
Proze&, den der Kiinstler vollzieht, nachmachen sollen, damit wir ihn ver-
stehen. Dadurch ist natiirlich alles Werk, von dem wir sprechen wollen, iiber-
sprungen.
Wir miissen also vom Werke ausgehen. Das Werk bedeutet, daf es eine Welt
gibt, da& es eine vollkommen harmonische, in sich abgeschlossene, begliickende
Totalitat gibt. Es ist eine Art von utopischer Welt, die in allem unserer sehn-
suchtsvollen, verlangenden Wirklichkeit entspricht, und zwar das Werk ist
[etwas Konkret-Individuelles]. Da muS man Fiedler mit seiner Theorie,
daf es keine Kunst, sondern nur Kiinste gibt, Recht geben. Jede Kunst ent-
spricht einem Bediirfnis, einem tiefen Leiden der Menschheit — und dieses
Leiden der Menschheit entspricht dem Objektiven, der empirisch sich selbst
und uns unangemessenen Welt -, dem eine Welt gegeniiberzustellen sei, die
gerade diesen Anspriichen gegeniiber sich selbst angemessen ist.
Hier wiirde es sich nun darum handeln, da8 wir eine ding- und raum-
schaffende, farbige Welt bekommen, die in sich selbst angemessen ist, d. h.
da ein Raum dargestellt wird, der fiir diese Dinge da ist, da& diese Dinge
zueinander in Beziehungen stehen, als ob sie nur fiir diese Beziehungen da
waren. Sie kénnen sehen, da wenn Sie an jedes mégliche Erlebnis der sicht-
baren Welt gegeniiber denken, immer diese Unangemessenheit empfinden,
da das Ding ein Dasein hat, das von der utopischen Verwirklichung der
teleologischen Idee [der Welt] unabhingig ist. Hier tritt die kiinstlerische
Tatigkeit in die Asthetik entscheidend ein. Diese objektive Angelegenheit
kann nur wirksam werden, wenn sie eine subjektive Seite hat, namlich da
die Dinge so dargestellt sind, als ob sie nur fiir unsere subjektiven Bediirf-
nisse geschaffen waren. Wahrend die aufere Welt in ihrer Sichtbarkeit ganz
unabhingig davon ist, wie unsere Bediirfnisse gestaltet sind, gestaltet die
Kunst gerade [eine unseren Bediirfnissen und unserer Sehnsucht entsprechen-
de Welt].
Zu der Anschauung Fiedlers ist zu bemerken, da& das Werk eben ein Werk,
eine vollendete Totalitat ist. Fiedler scheidet die Elemente [der Wirklichkeit]
in die Teile, die rein sichtbar werden kénnen, und die Teile, die nicht sichtbar
werden kénnen, die unkiinstlerisch sind. Die Gegenstandslehre der Kunst hat
also zur Aufgabe, davon zu sprechen, wie Dinge, wie Gegenstinde in einer
Kunst durch die Stilisierung entstehen kénnen. Das ist so zu verstehen, daf
zwischen den beiden [Welten des] rein Sichtbaren und des Nicht-Sichtbaren
eine Welt des Einbeziehbaren, also eine an und fiir sich nicht rein sichtbare,
aber durch die kiinstlerische Stilisierung sichtbar zu machende Welt existiert.
Dies ist sehr leicht einzusehen. Es ist leider keine Zeit, das ausfiihrlicher aus-
234 Vorlesung
einander zu setzen. Hier ist z. B. die stoffliche Struktur der Dinge. An und
fiir sich besitzt ein Ding, wenn es auf reine Sichtbarkeit reduziert wird, eben
nur seine Konturen, seine Farben, seine Couleur. Es ist aber durchaus nicht
selbstverstindlich, da& diese Farbe irgendeine stoffliche Beschaffenheit der
Dinge ausdriickt. Damit, da8 wir der Farben gegeniiber die Forderung stellen,
die stoffliche Beschaffenheit auszudriicken, sind wir iiber den Begriff des rein
Sichtbaren schon hinausgegangen. Ich kann hier leider nicht die ganze Steige-
rung der Gegenstandslehre geben. Einerseits z. B. ist die Struktur der Dinge
durchaus nicht mit dieser Sichtbarkeit selbstverstindlich gegeben. Das Ge-
wachsensein eines Baumes, die innere Struktur eines Berges oder Menschen
ist nicht mit seiner Sichtbarkeit gegeben. Wir fordern aber, daf eine Totalitat
erwirbt werde, fordern, da diese Eigenschaften der Dinge in der Malerei
erscheinen. Dazu kommt, daf in der Malerei auch der Mensch erscheint, und
der Mensch kann fiir uns nicht zum diesen fliichtigen Schema werden, was er
infolge seiner Sichtbarkeit ware. Es muf, wie friiher der Farbe gegeniiber, die
Fiktion auftreten, es entsteht hier die weite, gro&e Forderung, da das rein
auBere Aussehen des Menschen sein Inneres wiederspiegeln muf, da& von
einer gewissen Bewegung eine gewisse innere Intensitat ausstromen muf. Ich
will betonen, da& hier nicht von einem Dualismus von Gegenstand und
Malerei die Rede ist, sondern gerade davon, wie weit das Malerische imstande
ist, alle Gegenstande durchzudringen, und so eine Welt zu schaffen, in der das
Innere mit dem Auferen vollstandig iibereinstimmt. Da die Malerei nur iiber
das Aufere verftigt, dennoch aber eine all unserem Leiden an der Wirklich-
keit entsprechende Welt schaffen will, mu sie von der Fiktion ausgehen, da8
das Innere das Aufere sei und zum Ausdruck fahig ist. Wenn man diese
Gegenstandslehre (ausarbeitete], die in dem Wesen also Stoff, Struktur, Aus-
druck und Bezichung — die Beziehungen der Dinge und der Bewegungen
zueinander, Beziehungen der Dinge zum Raum und Stimmungsbeziehungen
[sein kénnen] — zusammenfassen wiirde, wiirden wir eine Gegenstandslehre
der Kunst bekommen, von der wir in diesem Falle ausgehen kénnen.
Die Frage ist nun, vor der wir jetzt stehen, ob wir durch diese Gegenstands-
lehre, durch die Forderung, daf die Kunst eine Welt ausdriicke, ob wir da-
durch zur Méglichkeit einer Differenzierung der Kunst kommen. Denn es
ware immer noch die Position denkbar, daf dies alles schén und richtig sei,
aber dies waren blo8 die Prinzipien des rein Malerischen und wir blieben bei
der Einheit, bei der Fiedler stehen geblieben ist. Wir sahen, da& bei der rein
malerischen Gesinnung man gar nicht zum Werke kommen kann, da von
der kiinstlerischen Tatigkeit zum Werke eine Art Sprung [fiihrt, ohne den]
Formproblem der Malerei 235
die kiinstlerische Tatigkeit unendlich ware, daf es ein Sprung gesetzt werden
muf, da& das Werk erreichbar sei. Auferdem sehen wir bei dieser Gegen-
standslehre, da die Kunst durchaus gar nicht zu begreifen ist, ohne einen
vollstindig neuen Begriff einzufihren, den ich nach der Terminologie der
neueren [Asthetik] Kunstwollen nenne, Dies bedeutet eine Gesinnung des
Kiinstlers, in der das Werk abgezogen wird, eine Gesinnung, die diese Welt
und gerade diese Welt hervorbringt. Wenn also hier diese Gesinnung analy-
siert wird, und es versucht wird, innerhalb dieser Gesinnung verschiedene
Abstufungen, denen objektiv-malerisch verschiedene Kunstformen der
Malerei entsprechen, zu finden, dann mu noch etwas betont werden, namlich
daf diese Gesinnungen einander vollstandig koordiniert sind. Es handelt sich
nicht darum, irgendwie eine zu sich kommende Idee der Malerei in verschie-
denen Stadien darzustellen, sondern diese Gesinnungsgruppen sind jede fir
sich genommen, und es handelt sich darum, solche Gruppen innerhalb der
Malerei zu finden.
‘Wenn wir uns auf den Standpunkt stellen, den man jeder Malerei gegeniiber
einnehmen muf, da irgendwie ein Zustand der reinen Sichtbarkeit bereits
erreicht ist und der Kiinstler vor der zu gestaltenden Welt steht, kénnen wir
drei verschiedene Verhaltungsarten finden. Diese Verhaltungsarten waren
kurz die folgenden: Die erste ware gegeben als die Freude an dieser neu
entdeckten Welt, als der Auszug in diese, das Finden der neuen Welt, das
Finden eines vollstandig neuen Komplexes, eines bunten, weiten und reichen
Lebens und ein Stehenbleiben bei dieser Buntheit, bei diesem Komplex, bei
diesem fast unendlichen Reichtum des Lebens, wo die Dinge miteinander
eigentlich durch die blo&e Subjektivitat des Erlebens verkniipft sind, wo
nichts anderes als diese gesucht wird. Andererseits wird dieses Erlebnis den
Dingen gegeniiber so vertieft, da gerade ihre [scharfste Negation] aufgesucht
wird. Es ware die Gesinnung, die am nachsten zu den rein Malerischen steht,
wo von dem Einbeziehbaren nur ein Minimum genommen wird, das Ein-
fachste, das Stoffliche, das rein auf die Oberflache tretende Charakteristikum,
Dadurch bleibt natiirlich die urspriingliche Dualitit in der Stellungnahme
zur Welt bestehen. Das Subjekt steht ganz auferhalb der Welt, die es dar-
stellt, und die Dinge bleiben in einer Objektivitat stehen. Demgegeniiber steht
eine vollkommen heterogene Stellungnahme, das Eingehen des Menschen in
sich selbst, des Menschen, der sich selbst gefunden hat, der in sich geblidst hat,
und nun in allen duSeren Dingen etwas Wesenloses erblickt oder Zeichen
seines Inneren, entweder als ob die Dinge nicht existierten, oder Arabesken
seien, oder — was die aller tiefste Sehnsucht in dieser Stellungnahme zum
236 Vorlesung
Leben ist — Spiegel seien, in dem das sich selbst erreichte Ich sich selbst wieder
erblidct. Die dritte Stellungnahme wire eine [iiber die zweite] hinausgehende,
in dem Sinne, da& der Mensch nicht zufrieden ist, sich selbst gefunden zu
haben, sondern eine sich selbst angemessene neue Welt sucht. Wahrend wir
bei der zuerst bezeichneten Stufe der Objektivitat eine unserem gewohnlichen
empirischen Ich angemessene dufere Welt suchten und fanden, wird in dieser
dritten Stufe das sich selbst erreichte Ich in die Stellung kommen, sich eine
angemessene Welt zu finden. Diese Welt kann nur eine Welt der vollkom-
menen Erléstheit sein, d. h. da& die Dinge nicht mehr in ihrer gewohnlichen
Dinghaftigkeit bleiben und nur von der Subjektivitit des Lebens umsponnen
werden, sondern sie als Dinge die absolut méglichst héchste Vollendung
erreichen, und als solche sich widerspruchslos und ohne Dissonanz in die neue
Welt, in die angemessene, in die Welt des Werkes fiigen.
Diese drei méglichen Stellungnahmen habe ich aus praktischen Griinden
Gemiit, Seele und Geist genannt. Gemiit wiirde den Auszug, Seele die Ein-
kehr und Geist die Heimkehr bedeuten. Gemiit wiirde [dem Leben], Seele
der Tiefe und Geist der Hoheit entsprechen. In dem Gemiit herrscht [Neu-
sier], [in der Seele] Vertiefung, [in dem Geist] Ergriffenheit. In dem Gemiit
ist eine bejahende und verneinende, sowohl ablehnende wie akzeptierende
Stellungnahme méglich. Die Seele ist die Sphare der Innigkeit und Mit-sich-
Vertrautheit, wahrend der Geist die Sphire der Kilte ist. [Dieser letzte] Be-
griff befremdet vielleicht im ersten Augenblick, da er ungewohnt ist und wir
durch falschen historischen Respekt zur Kunst in ein zu schnell vertrautes Ver-
haltnis zu ihr gekommen sind. Jeder Mensch, der sich mit den gré8eren und
bedeutenden Werken befa&t hat, wird aber ganz gewif darin eine abschrek-
kende Kailte, eine ablésende Grofe und Hoheit, eine Art von Welt empfin-
den, in die wir absolut nicht hineinkommen kénnen. Ich will Sie nur, um
ein Beispiel anzufishren, daran erinnern, wie sehr der junge Schiller, der
dieser Begriffsbildung nach in der Atmosphire der Sele lebte, von den
groBen Tragédien Shakespeares als etwas Kaltem und Unmenschlichem abge-
stoBen wurde. Objektiv ausgesprochen wiirden also diese drei Stadien vedeu-
ten: die Wahrheit iiber die Dinge als Atmosphare des Gemiits, die Dinge als
Spiegel als Atmosphire der Seele und die Dinge in Wahrheit als Atmosphare
des Geistes.
Damit waren die drei Gesinnungen charakterisiert, die meiner Erachtung
nach die Einteilung der Malerei méglich machen. Der Sphire des Gemiits
entspricht das Stilleben. Ich muf Sie nun einen Augenblick um Geduld bitten,
weil ich hier historisch-stofflich festgestellte Kategorien als apriorische Kate-
Formproblem der Malerei 237
gorien setze, und den Grund dieser Namengebung erst am Schlusse erklaren
kann. Ich bitte Sie also, weder eine Stofflichkeit vorauszusetzen, noch an
scheinbaren Paradoxien sich zu stofen. Das Stilleben entspricht eigentlich der
phinomenologischen Gesinnung des rein Malerischen, wie es Fiedler ausge-
sprochen hat, wie man es unziahlige Male bei rein naiven Malern empfinden
kann. Das empfinden Sie alle beim Stilleben, wenn [ein Augenblick in der
Malerei] stehen geblieben ist; daraus entsteht eine merkwiirdige Ruhe inner-
halb dieser Bewegtheit. Das Ding ist als malerisches Objekt aufgefat, als
welches es stillstehen muf. Das Stillstehen ist fiir das Ding durchaus nicht
konservativ. Das Modell des Malers muf eben still stehen. Darum ist in
dieser Sphire, weil sie diese grofe Nahe zur blo8 kiinstlerischen Gesinnung
hat, das Minimum dessen, was ich Einbezogenheit nenne, eben zumeist das
Allerauffallendste: etwa das Stoffliche. Denken Sie an die hollandische Still-
leben- und Genremalerei, wo Sie sehen werden, da8 das liebevolle Eingehen
auf das Stoffliche der einzelnen Dinge ein wesentliches Charakteristikum
dieser Art von Malerei ist. Das Stoffliche ist tatsachlich das Teil des Ein-
beziehbaren, was dem rein technischen Verfahren des Malers am nichsten
steht. Es ist dieser Teil, was in der Farbenmischung und der Pinselfithrung
liegt. Dieses Stoffliche fithrt zu einer nicht ins Auferste getriebenen Stufe des
Ausdrucks, namlich zu dem, was man im allgemeinen das Charakteristische
nennt. Unter Charakteristischem kénnen wir verstehen, da irgendwelche
Ziige eines Menschen oder Dinges eben irgendetwas ausdriicken, was in einer
merkwiirdigen Zusammenstellung frappiert und uns irgendeine, zumeist
ziemlich unklare Stimmung von etwas Psychologischem aufzwingt. Aber
dieses Charakteristische ist eigentlich wieder nur von der Oberfliche der
Dinge genommen, und ich will nicht auf seine eigenste Struktur und Beschaf-
fenheit eingehen. So ist auch der Raum, der gestaltet wird, eben ein Mittel
zum Arrangement der Dinge der tiefsten Dissonanz. Das Problem von Ding
und Raum wird noch nicht aufgeworfen, sondern iiberbriickt, unsere Leiden
werden vergessen gemacht. Alles das, was ich hier Oberfliche nennen wiirde,
soll durchaus nicht in einem das Werk verneinenden Sinne gemeint sein. Hier
ist die reine Freude da. Durch die Sichtbarkeit tritt alles an die Oberflache,
und diese ist so vehement und so verschwendend geworden, da aus ihr diese
Welt, diese Welt der ruhigen, einfachen, charakteristischen Schénheit ent-
steht. Diese Kunst, die am reinsten malerisch zu sein scheint, hat aber, wie
man es vielmals beobachten kann, doch das starkste stoffliche Interesse. Wenn
etwa ein hollandischer Stilleben- oder Genremaler eine Familienscene gemalt
hat, hat er sie aus einer vollkommen malerischen Gesinnung gemalt, sie war
238 Vorlesung
Entwurf 1.
L
Aus System. Nicht wertend oder hierarchisch (also keine Metaphysik), aber
weder historisch noch psychologisch.
Das Problem. Die alten Einteilungen. Scheidung von Teppich und Malerei.
»Gegenstand« der Malerei: Gegenstandstheorie aus dem Begriff der
Malerei.
Die »kiinstlerische« Theorie Fiedlers. Kein »Werk«. Das »Verstandnis«.
Was wire eine solche Kunst fiir uns? Was ist Sichtbarkeit?
Die »Einbeziehung«: Stoff, Struktur (Schwere), Ausdruds (Gesicht, Bewe-
gung), Beziehung (Ding-, Raum-, Bewegungsbeziehung; Stimmung). Ad
hoc Character (Vergleich mit Plastik). — Totalitat und Ding.
Die Angemessenheit des Werks. Subjektiv und objektiv (Inneres und Aufe-
res). Es sollen Welten entstehen. Das Kunstwollen (nachkonstruktiv) —
Tatigkeit (phanomenologisch).
Ob es System des Kunstwollens gibt? Eine (gegenseitig bedingte) Reihe von
Gesinnungen und ihnen entsprechenden Werkwelten. Das »Malerische«
ist vorausgesetzt. — {Wenn die hier entstehende Hierarchie dariiber
wirklich hinausgehen wollte, ware sie keine Malerei; wenn sie sie! aber
nicht transcendieren wiirde — was wire sie uns?}* — »Einbeziehunge: auf-
gefangenes Transcendieren. — Gegen Atelier-Esoterik und falsche Analo-
gie zur Wissenschaft bei Fiedler. — Gesinnung: Stadien, nicht Etappen
(Kierkegaard), jede in sich vollendet.
n
Gemiit: Der Auszug. Neugier und Lebensgier. Freude (oder Leiden) an der
Buntheit etc. des Lebens, Das Leben. {Emotionale Gleichgiiltigkeit: die
schamfremde Welt. Kann natura Form sein?} Die urspriingliche Duali-
tat bleibe, weil das Ich nicht vorkommt und die Dinge unberiihrt bleiben.
Seele: Einkehr in sich und Sichfinden. Die Dinge werden zu Zeichen und
Spiegel — sonst versinken sie. Tiefe. Mystik.
Geist: Die diesem Ich angemessene Welt. Die Erléstheit: alles kommt zu sich
und findet seine Heimat. Gréfe und Hoheit. Konstitutive Beziehungen.
Die Sichtbarkeit wird mythisch.
mL.
{Geschichtsphilosophie}. Abstand (Erledigung von Platonismus und Na-
turalismus). Abstand zur utopischen Welt. Gewachsene Vollkommenheit
und Vollkommenheit als Mafstab. Vollkommenheit in der Darstellung
(Spuren von Sehnsucht und Streben) und axcb im Objekt.
Abstandslos:
a. Primitiv (kommt malerisch nicht vor)
b. Klassisch (Giotto). Bewegungskomposition. Kopf. Flache und Inbegriff.
Abstandsvoll:
a. Barock. Nahe Beziehung zum Klassischen. »Je gelockerter die Ebene,
desto strenger die Symmetrie«. »Auferste Bewegung der Teile, auferste
Ruhe des Ganzen.« 8 — Steigerung der klassischen Bewegung, Gestalt,
Komposition. Das Expressive. (Rubens als Landschafter naher zur
Klassik).
b. Klassizistisch. Abgestumpft. Abnahme der Bewegungsintensitit. Nahe-
rung zur Fliche. Der (fiir die Gestalten) reflexive Rythm.
c. Quattrocento. Leugnen der (historisch) klassischen Technik: von Technik
zum Geist. Fremde Vollendung (Filipino, Hodler). Van Gogh. - Das
Expressive als Lyrik. Képfe.
d. Romantik: Goldener Zeitalter. Beziehung auf Seele (Claude Lorrain,
Ruysdael). Intendieren auf Portrait als apriorische Kategorie: Charac-
teristik, Tiefe, Wiirde (Gebirde), Monumentalitit (Cézanne).
Ubergang zur Landschaft: Breughel, Cézanne (Stilleben von Cézanne).
» » Komposition: Cézannes Dreieckkomposition. Gleichnis von
absoluter Geometrie und Physik: Delacroix.
» zum Stilleben— rein historisch, weil rein malerisch. Anderungen
der Optik oder der Emotionalitat (Vermeer und
Toulouse-Lautrec) unendlich entwicklungsmég-
lich und variabel.
3 Zitate von A. Riegl: Die Entstchung der Barockkunst im Rom. Wien, Schroll, 1908.
S. 35-36. (Hrsg.)
4 Erklarung dieser Namengebung: der empirische Gegenstand (Portrait) ist der einzig aprio-
rischer Gegenstand fiir »Seelee. Andere Lésungen méglich, aber paradox und nicht harmo-
nisch — wenn auch (als Werke) vollkommen. (Anmerkung von Lukes)
247
Entwurf u.
Portrait:
Gemiit: Die Objektivitat des Malers (Fr. Hals) Charakter
Seele: Die Subjektivitat des Kiinstlers Tiefe
(Rembrandt)
Geist: Objektivitat der Haltung (Barock, Wiirde
Klassizistische)
Das Sein des Menschen (ins Natur- Monumentalitat
philosophische umschlagend. Cézanne
malt auch den Menschen natur-
philosophisch).
NACHWORT
von Gyérgy Markus
Nachwort 255
»Ich begann als Literaturkritiker und Essayist, der in den Asthetiken Kants,
spater Hegels theoretische Stiitze suchte. Im Winter 1911-12 entstand in Flo-
renz der erste Plan einer selbstandigen systematischen Ashetik, an deren
Ausarbeitung ich mich in den Jahren 1912-1914 in Heidelberg machte. Ich
denke noch immer an das wohlwollend-kritische Interesse, das Ernst Bloch,
Emil Lask und vor allem Max Weber meinem Versuch gegeniiber zeigten. Er
ist vollstandig gescheitert ... AuSerlich gesehen unterbrach der Kriegsaus-
bruch diese Arbeit«, schrieb Georg Lukdcs 1962, im Vorwort seines wichtig-
sten asthetischen Spatwerks Die Eigenart des Asthetischen (Werke Bd. 11,
Neuwied 1963, S. 31) iiber den ersten Anlauf bevor er sich dem Marxismus
zuwandte. Im wesentlichen dieselbe Information findet man in seinen spate-
ren kurzen Schriften, die die eigene geistige Entwicklung veranschaulichen;
doch wird die Haltung gegeniiber den friiheren Versuchen weniger strickt
zuriicdkweisend. Zumindest in Hinblidc auf die eigene Entwicklung streicht
er die Wichtigkeit des Grundproblems dieser Versuche, der in »Kantscher
Form« gestellten, aber ihrer Orientierung nach dem Kantschen Subjektivismus
entgegengesetzten, der Wirklichkeit naher treibenden Frage: »Es gibt Kunst-
werke, wie sind sie méglich?« heraus. Ebenso nachdriicklich betont er die
Bedeutung einer Trennung von Asthetik und Ethik, die er in dieser Zeit
ausgearbeitet hat. (S. Utam Marxhoz (Mein Weg zu Marx) Bd. 1. Vorwort.
Magveté, Budapest 1971, S. 13; Magyar irodalom, magyar kultura (Unga-
rische Literatur, ungarische Kultur), Vorwort. Gondolat, Budapest 1970,
S. 13.)
Seinen dem engeren Kreis angehérenden Schiilern war bekannt, da einzelne
Teile dieses friihen Asthetik-Manuskripts (der »Heidelberger Asthetik«, wie
Lukdcs sie.zu nennen pflegte) existierten, genauer, daf sie in den 6oer Jahren
von Arnold Hauser (London) zu Lukécs zuriickgelangt waren. Dieser iiber-
gab Hauser 1919 einige fertiggestellte Kapitel des Werkes mit der Bitte, sie
aufzubewahren. LukAcs erklirte mehrmals, er habe die wiedergefundenen
Manuskripte nicht einmal durchgelesen; diese Tatsache mag nur den verwun-
dern, der sein negatives Verhalten gegeniiber der eigenen pramarxistischen
Arbeitsphase ebensowenig kannte wie die ihn kennzeichnende allgemeine
Denkerattitiide, fiir die das eigene »geistige Schicksal« stets an Probleme
gebunden war, die vom eben in Arbeit befindlichen Werk gestellt wurden,
wahrend er den einmal bereits zu Papier Gebrachten gegeniiber vollstindige
Gleichgiiltigkeit an den Tag legte.
Im Sommer 1970 aber, als der Plan eines Sammelbandes seiner Friihwerke
in ungarischer Sprache in konkreter Form aufkam, iibergab Lukdcs diese
256 Markus
Typoskripte einigen seiner Schiiler, namentlich Ferenc Fehér, Agnes Heller,
Mihaly Vajda und dem Verfasser dieses Nachworts mit der Bitte, zu beur-
teilen, ob es sich lohne, den Stoff oder Teile davon in die Publikation aufzu-
nehmen. Das Typoskript enthielt drei, offensichtlich nicht miteinander ver-
bundene Kapitel; diese sind, in der Terminologie der vorliegenden Ausgabe,
das dritte Kapitel der Philosophie der Kunst (im folgenden: PhK), sowie das
erste und das fiinfte Kapitel der Asthetik (im folgenden: Ast). Die Befragten
gelangten einhellig zu der Meinung, die unverdffentlichten Werkfragmente
miiSten in vollem Umfang publiziert werden; Lukdcs zeigte sich einverstan-
den. Da er aber zu dieser Zeit bereits schhwerkrank war, konnten die Detail-
fragen hinsichtlich Aufbau, Entstehungsgeschichte usw. der Heidelberger
Manuskripte mit ihm im wesentlichen nicht mehr geklart werden, bei einigen
Gesprichen kamen aber einige erginzende Momente auf. Teils erhirtete
Lukdcs die Annahme (als »sehr wahrscheinlich«), daf die in Nr. 1917-18/1
von »Logos« veréffentlichte Studie Die Subjekt-Objekt-Beziehung in der
Asthetik (im vorliegenden Band: Ast. Kap. 3) ebenfalls Teil desselben Ma-
nuskriptes darstelle. Andererseits erinnerte er sich daran, der Kriegsausbruch
habe seine Arbeit an einer Asthetik nur zeitweilig unterbrochen und er habe
sie nach Beendung der Theorie des Romans wieder aufgenommen. (Erst spi-
ter wurde klar, da& Lukdcs diese Tatsache auch schriftlich mitteilte: in einem
Brief aus dem Jahr 1969 an Istvan Mész4ros, der diesen unlangst veréffent-
lichte.)
Als Georg Luk4cs 1971 starb, war die redaktionelle Arbeit an den Manu-
skripten gerade erst angefangen worden. Bei der Ordnung seines Nachlasses
kamen aber weitere Schriften zum Vorschein, die die bisher bekannten Manu-
skriptteile nicht nur bereicherten, sondern sie auch in ein anderes Licht riick-
ten. Unter den Papieren seiner bereits frither verstorbenen Frau fand sich
namlich ein auch dem Umfang nach beachtenswertes Manuskriptbiindel mit
teils vor 1919, teils 1933-1944 verfaSten Schriften. Darunter die handschrift-
liche Fassung von drei Kapiteln der (mit dem Logos-Artikel insgesamt) vier
bislang bekannten Kapitel, ferner weitere drei Kapitel in Manu- wie Typo-
skriptform: das erste und zweite PhK-Kapitel und das vierte Ast-Kapitel.
Man darf fast mit Gewifheit behaupten, Lukdcs selbst habe vom Vorhanden-
sein dieser Papiere nichts gewuSt; wenigstens konnte er sich an diese in den
6oer Jahren nicht mehr erinnern.
Bei weiteren zwei Gelegenheiten kam noch Material zum Vorschein, das mit
den Heidelberger Manuskripten in Bezichung steht; ihre Bedeutung ist aller-
dings wesentlich geringer. Zum einen stellte sich heraus, da& Luk4cs nicht
Nachwort 257
Sobald, unmittelbar nach Lukdcs’ Tod, die bis dahin unbekannten Kapitel
der Heidelberger Manuskripte zum Vorschein kamen, fand sich die Redak-
tion vor einem neuen Problem. In seinen Schriften und Worten erwahnte
Lukécs stets eine gro&e, umfassende Asthetik in Manuskriptform, an der er
wahrend seines Aufenthalts in Heidelberg gearbeitet habe. Die geborgenen
Materialien jedoch kénnen nicht als Teile eines sensu stricto einzigen Werkes
angesprochen werden. Der Form und dem Inhalt nach enthielt dieses Material
namlich zwei »erste Kapitel« (Kunst als »Ausdruck«... bzw. Asthetische
Setzung), welche zwar bei derselben Fragestellung ansetzen, in der inhalt-
lichen Darlegung jedoch weitgehend divergieren. Dariiber hinaus vertreten
sie — wovon noch die Rede sein soll —hinsichtlich gewisser, philosophisch zwei-
fellos wesentlicher Fragen grundsitzlich verschiedene, unvereinbare Stand-
punkte. Die logische und geschichtliche Rekonstruktion der Manuskripte, das
Erhellen der eigentlichen Struktur und der Entstehungsumstinde wurden
somit zu einer besonders wichtigen und nachdriicklich zu férdernden Auf-
gabe, und zwar um so mehr, da die Kapitelnummern von Lukacs auf den
verschiedenen Manuskripten auf den ersten Blick weder klar noch konsistent
erscheinen. In der vorliegenden Ausgabe sind die Manuskripte selbstver-
stindlich bereits in der rekonstruierten Folge enthalten; dieses Nachwort
Nachwort 259
Die Frage beschrankte sich nunmehr darauf, wie sich die iibrigen erhalten
gebliebenen, in zwei gréfere Gruppen zerfallenden vier Kapitel zu den
beiden Manuskript-Anfangen verhalten.
Im Verlauf weiterer Untersuchungen wurde klar, da& das Geschichtlichkeit-
Kapitel — aufgrund inhaltlicher wie formaler Merkmale — zum vor Kriegs-
ausbruch entstandenen Manuskript gehért und wahrscheinlich Ende 1913 bis
erste Hilfte 1914 aufgesetzt worden war. Die drei anderen Kapitel (Subjekt-
Objekt-Beziehung und die beiden Teile der Transcendentalen Dialektik), im
Manuskript als Einheit aufzufassen, schlieSen hingegen an das Manuskript
an, das 1916 in Angriff genommen wurde; niedergeschrieben wurden sie
wahrscheinlich zwischen Ende 1916 und Anfang 1918. (Ebenfalls aufgrund
der Korrespondenz la&t sich der Zeitpunkt, da Lukd4cs mit der Niederschrift
dieses spateren Manuskripts begann, eindeutig auf den Herbst 1916 ansetzen,
als Lukdcs, nach einjahrigem Wehrdienst in Budapest, nach Heidelberg zu-
riidkgekehrt war.) Die auf den Manuskripten sichtbaren Titelangaben beriick-
sichtigend erschien es zweckmiafiig, das erste, vor Kriegsausbruch entstandene
Manuskript Philosophie der Kunst, das spatere hingegen Asthetik zu nennen,
obwohl die Authentizitit der Benennungen keineswegs garantiert werden
kann: der Titel Philosophie der Kunst erscheint nur auf einem Typoskript-
Exemplar eines Kapitels, und nicht in Luk4cs Handschrift. Eine begriffliche
Bedeutung ist diesen Benennungen keineswegs zuzuschreiben: Lukdcs bezeich-
net das Werk, an dem er arbeitete, auch in Briefen vor 1915 haufig als
Asthetik, bedient sich jedoch auch nach 1916 der Formel Philosophie der
Kunst.
Diese Rekonstruktion von Aufbau und Chronologie ist, unseres Erachtens,
auch durch Argumente hinsichtlich der Form ausreichend begriindet. Dies-
beziiglich sei vor allem die Terminologie genannt. Samtliche PhK-Kapitel
sind durchwegs und konsequent in einer — wenn erlaubt — »Verhaltung«-
»Verhalten«-Terminologie formuliert: Luk4cs schreibt von logischem, ethi-
schem, religidsem, asthetischem usw. Verhalten, von Verhaltungsarten u. 4.
Zweifellos erscheint dieser Terminus haufig auch in der Asthetik, jedoch be-
reits in einem engeren Sinn. Damit wird hier namlich — mehr oder weniger
konsequent — das Verhiltnis, die Einstellung des Subjekts zu irgendwelcher
fertig gegebenen Sphiire bezeichnet, ebenda erscheint jedoch auch der Begriff
und Terminus der »Setzunge der Sphire, was in PhK. kein einziges Mal
zu finden ist. In diesem Sinn spricht Luk4cs von theoretischer, ethischer, asthe-
tischer, metaphysischer Setzung, von Setzungsarten, von Setzungsnotwendig-
keit usw. Ferner: Wahrend Lukdcs in PhK. den Bereich der Erkenntnis als
Nachwort 261
das Gesamtwerk in seine letzte Form hiatte bringen kénnen), so ist dies im
Zuge der Arbeit am Manuskript (d. h. bis Anfang 1918) nicht geschehen.
Vor allem sei bemerkt, da Luk4cs nicht erst zu einem bedeutend spiteren
Zeitpunkt, sondern bereits 1916-1917, also noch wahrend er an der Ast.
arbeitete, das vorliegende PhK.-Material und das entstehende Ast.-Material
im wesentlichen als ein Manuskript betrachtete, das fiir den Druck irgendwie
(offensichtlich durch Weglassen von Kapiteln oder Teilen von PhK., die er
als iiberholt betrachtete) geordnet werden mufte. So klagte er im November
oder Dezember 1916 in einem Brief an Paul Ernst iiber »diese immer an-
wachsenden Massen von Manuskripten und Notizen«, obwohl er die Ast.
kaum ein oder zwei Monate zuvor in Angriff genommen hatte und von dieser
wahrscheinlich nur ein Kapitel fertiggeschrieben sein konnte (andere Briefe
legen die Vermutung nahe, das Kapitel Subjekt-Objekt-Beziehung sei erst im
Marz 1917 beendet worden). Schon Ende 1916 schreibt er von seinem Vor-
haben, einen Teil des Materials »beiseite schaffen« zu wollen und dieses in
einem separaten Band, als ersten Teil des Gesamtwerkes, herauszugeben.
Andererseits sei bemerkt, da& die an verschiedenen Stellen von Ast. auffind-
baren, duferst zahlreichen (vor- und riicklaufigen) Hinweise auf das Phino-
menologie-Kapitel mit Ausnahme des einen, oben angefiihrten Falls samtlich
mit entsprechenden Textstellen von PhK. 2 identifizierbar sind, ja, sie um-
fassen und erschdpfen samtliche wesentlichen gedanklichen Momente davon.
Das Phénomenologie-Kapitel, das sich aus diesen Hinweisen abzeichnet, ist,
dem Themenkreis und dem wesentlichen Inhalt nach, zweifellos mit dem ent-
sprechenden PhK.-Kapitel identisch. Unter solchen Umstinden muf, meines
Erachtens, die Vermutung, Lukdcs habe ein ganz neues Kapitel geschrieben,
als unbegriindet wegfallen.
Die Umarbeitung ist aus zwei Erwagungen unwahrscheinlich. Minder
wesentlich ist der Umstand, da& man — in Kenntnis von Lukacs’ Manuskrip-
ten — erklaren darf, er habe Verbesserungen und Umarbeitungen in der Regel
auch dann am handgeschriebenen Text vorgenommen, wenn das maschinen-
geschriebene Exemplar schon zur Verfiigung stand (im handschriftlichen Kon-
zept ist jeder beschriebenen Seite eine leere zugeordnet, fiir die Verbesserun-
gen und Einschaltungen). So war es beispielhalber im Fall von Ast. 3. Dieser
Text wurde, vor Veréffentlichung in »Logos«, geringfiigig umgearbeitet. Im
Manuskript finden sich von zwei verschiedenen Zeitpunkten stammende
Autorenkorrekturen und Hinweise fiir das zweimalige Tippen. Am Manu-
skript von PhK. 2 findet man hingegen keine Spur einer spateren Umarbei-
tung.
Nachwort 267
Andererseits erscheint seit Anfang 1917 in den Briefen von Luk4cs immer
wieder, mit wachsender Ungeduld ausgedriidkt, das Vorhaben, den »ersten
Band« zu beenden; da gleichzeitig auch in den Vordergrund riickt, sich an der
Heidelberger Universitat zu habilitieren, wird dies tatsachlich immer drin-
gender. Fast jeder Brief enthalt ein neues »letztes« Datum, da die Arbeit
beendet werden soll. Dennoch konnte die — nunmehr als Habilitationsschrift
gedachte — Asthetik nicht nach dem urspriinglichen Plan vollendet werden.
Der dritte, Kant gewidmete Teil von Transcendentale Dialektik, auf den in
Ast. mehrfach vorausgewiesen wird, wurde nicht fertiggestellt; im Mai 1918
reichte Luk4cs das Manuskript unvollendet, ohne diesen Teil ein. Angesichts
dieser Umstinde erscheint es auBerst fragwiirdig, ob er sich dagegen Zeit fiir
das Umarbeiten des von dem friiheren Manuskript stammenden Phanomeno-
logie-Kapitels genommen hitte — fiir eine Aufgabe, die ihm, allen Anzeichen
nach, duBerst lastig erschien.
Freilich stellt sich auch unabhingig vom Problem des zweiten Ast.-Kapitels
die Frage, wieweit das in die vorliegende Publikation aufgenommene Mate-
rial als vollstindig angesehen werden darf, ob weitere Kapitel der Heidel-
berger Manuskripte nicht noch irgendwo verborgen sein kénnten. Hinsichtlich
des Manuskripts aus den Jahren 1916-1918 muf diese Frage eindeutig nega-
tiv beantwortet werden. Die eingereichte Habilitationsschrift kam zwar
nicht zum Vorschein, doch befinden sich im Archiv der Universitit Heidel-
berg die Dokumente in bezug auf Lukdcs’ Habilitationsgesuch (Univ.-Archiv
Heidelberg m, 5 a, 186, fol. 223-253). Darunter findet sich Rickerts Gutach-
ten mit einem kurzen Aufri& des Inhalts des eingereichten Werkes. Darin
heift es: »Methodologische Erérterungen nehmen daher in den ersten Ab-
schnitten einen breiten Raum ‘ein. Sie sollen besonders die Notwendigkeit
einer dsthetischen »Phanomenologie« darthun, die der eigentlichen Wertlehre
der asthetischen Sinngebilde voranzugehen hat. Eine umfangreiche »Skizze:
dieser Phinomenologie des schépferischen und receptiven Verhaltens fiillt
das zweite Kapitel. Darauf kann im dritten die Darstellung der zentralen
&sthetischen Begriffe beginnen, und sie setzt mit einer Erérterung der Sub-
jekt-Objekt-Beziehung ein. Dann geht jedoch die Untersuchung nicht wie
bisher rein systematisch weiter, sondern bricht zu einer Auseinandersetzung
mit der Metaphysik des Schénen ab, die in den vorgelegten Kapiteln noch
nicht ihren Abschluf findet. Wie das Ganze des Systems sich aufbaut, ist noch
nicht zu ersehen.« Wie aus diesem Gutachten klar wird, dedkt sich die Habili-
tationsschrift mit dem Text, der uns heute zur Verfiigung steht. Da aber
Lukécs nach 1918 die Arbeit an dem Manuskript nicht wieder aufnahm,
268 Markus
verschiedenen Typen der Rezeptivitit beschiftigen sollen. All das ist freilich
nur Erinnerung, die gar nicht genau sein kann, denn der Plan wurde wahrend
des Schreibens mehr als einmal abgedndert.«
Hinsichtlich dieser spaten Rekonstruktion des Autors ist unbedingt zu be-
merken, da Lukdcs, als er das schrieb, seines Wissens nur iiber vier Kapitel
der Heidelberger Manuskripte verfiigte, und auch diese nicht wieder durch-
gelesen hatte. Jedenfalls mutet diese Planskizze problematisch an, und zwar
mehrfach. Das Phanomenologie-Kapitel wird nicht einmal erwihnt, obschon
dieses den zweiten Teil von PhK. wie Ast. bildete; das Geschichtlichkeit-Ka-
pitel ist den Ast. zugehdrenden Textteilen zugeordnet, obwohl wir wissen,
daf Lukacs, als er diese als Habilitationsschrift eingereicht hatte, ihnen dieses
PhK.-Kapitel nicht mitgab; tiberhaupt nicht untergebracht im Konzept sind
die zwei Kapitel der Transcendentalen Dialektik, obgleich das Hegel gewid-
mete zweite von diesen zum fraglichen Zeitpunkt bereits im Besitz von
Lukdcs war. Was am Konzept tatsichlich interessant anmutet, ist vor allem
die Bemerkung iiber die nie zu Papier gebrachten Kapitel des hier als »zwei-
ter Teil« erwahnten gréferen Komplexes, der zweifellos der Problematik
des »Kunstwerks an sich« gewidmet gewesen ware. Es ist nicht ausgeschlossen,
da das im Brief erwahnte vorgesehene Kapitel iiber »Individualitat und
Uberpersénlichkeit des Kunstwerks« dem Thema nach wenigstens teilweise
mit dem kurzen Kapitel-Fragment identisch ware, das mit dem Titel Die
intelligibile Zufalligheit und der Anthropologismus der Kunst in diesen Band
als Appendix 1 zu Ast. aufgenommen worden ist.
Vertrauenswiirdigere Anhaltspunkte als diese sehr spate Erinnerung schei-
nen, zumindest was die geplante allgemeine Struktur des Werkes anbelangt,
die im Manuskript selbst auffindbaren verstreuten Hinweise zu bieten. Diese
zeigen — und zwar sowohl in PhK. wie in Ast. vollstandig iibereinstimmend.
(und somit beweisend, da die Idee hinsichtlich der grundlegenden Struktur
wahrend der ganzen Arbeit nicht verdindert worden war) — folgendes allge-
meines Struktur-Geriist: Auf das erste Kapitel, das als allgemeine philoso-
phische und methodologische Einfiihrung gedacht ist (das » Ausdruck«- bzw.
das »Setzunge-Kapitel) sollte sich das Werk zu drei Teilen gliedern: Phiino-
menologie — Werklehre — nachkonstruktive Psychologie (letztere erscheint in
Ast. 1 zwar als »transcendentale Psychologies, des spiiteren kehrt jedoch der
Terminus »Nachkonstruktion« wieder). Diese Dreigliederung ist dem Wesen
nach nichts anderes, als die theoretische Wiederspiegelung und Transposition
vder dreiteilig gegliederten Urstruktur der asthetischen Welt« (PhK. S. 52):
»der Weg zur dsthetischen Setzung, die Setzung, wie sie an sich ist, und die
270 Markus
schichten im Werk hatten bilden sollen. Keines der beiden Manuskripte er-
laubt, den Aufbau des »Werk an sich«-Teiles genau so rekonstruieren; die
ausfiihrlichste Information enthilt der zitierte Brief Luk4cs’ vom Dezember
1969.
Diese Rekonstruktion des hauptsdchlichen Geriists der Arbeit bietet jedoch
noch immer nicht ausreichenden Aufschlu& hinsichtlich des logisch genauen
Ortes einiger Teile des uns verbliebenen Manuskriptes. Es ist unklar, oder
wenigstens nicht ganz offensichtlich, wie sich zwei Teile in diesen Struktur-
plan eingliedern lassen: das dritte PbK.-Kapitel (»Geschichtlichkeit«) sowie
die (die »Transcendentale Dialektike bildenden) zwei letzten Kapitel von
Ast.
Was das Geschichtlicbkeit-Kapitel anbelangt: Es wurde, wie erwahnt, un-
mittelbar nach den zwei vorangehenden PhK.-Kapiteln geschrieben. Daraus
folgt aber nicht unbedingt, da es auch logisch auf diese folgt. Es ware denk-
bar, da8 Lukdcs aus irgendwelchem Grund dieses Kapitel, das der logischen
Struktur nach spater am Platz ware, vorausgreifend zu Papier brachte. Da
er, aus ungeklarten Griinden, die ersten vier Seiten des handschriftlichen
Konzepts noch vor Maschinenabschrift verwarf, beginnen die Ausfihrungen
tatsachlich in medias res; im Gegensatz zum zweiten Kapitel wird hier der
logische Ort der erdrterten Problematik nicht erwahnt. Wir kénnen uns daher
nur auf inhaltliche Erwagungen verlassen, Die Problematik des Kapitels ge-
hdrt zweifellos schon zur Analyse des Werks an sich — Lukdcs betont sehr
entschieden, da® das Neue, die Ewigkeit, die Geschichtlichkeit usw. Katego-
rien des an sich begriffenen Werkes darstellen. Gleichzeitig ist die Problema-
tik sehr eigenartiger Natur. Sie hebt das grundlegende Charakteristikum des
Kunstwerks — seine absolute Immanenz und In-sich-Geschlossenheit — not-
wendigerweise auf. Tatsichlich beschaftigt sich dieser Teil abermals mit den
Bedingungen der Méglichkeit des Kunstwerks — jedoch, im Gegensatz zu
dem Phdnomenologie-Kapitel — nicht mit den subjektiven, sondern mit den
objektiven Bedingungen; genauer, diese objektiven Bedingungen werden hier
»in bezug auf den objektiven Werksinn« ins Auge gefa’e (PhK. S. 173 und
176). Gerade darum kommt in diesem Kapitel Begriffen, die zur Analyse des
schdpferischen bzw. des rezeptiven Prozesses (zur Phanomenologie bzw. zur
nachkonstruktiven Psychologie) gehéren, eine so wichtige Rolle zu (s. PhK.
S. 175, 177 usw.). Der »Oberleitungs«-Charakter dieses Teils ist kaum zu
bezweifeln: er leitet entweder von der Phinomenologie zur Werklehre oder
von dieser zur Nachkonstruktion. Fiir diese zweite Méglichkeit auszusagen
scheint die grundlegende Rolle der typologischen Methode in diesem Kapitel;
272 Markus
das erscheint jedoch nicht ausreichend genug, um die Méglichkeit einer »Ein-
fihrung« in die Werklehre auszuschliefen, namlich den Fall, da& die Ge-
schichtlichkeit auch logisch das dritte Kapitel darstellt.
Anders verhiilt es sich in Ast. 4-5: die Transcendentale Dialektik fiigt sich
in ihrer Gesamtheit nicht in das hier aufgerissene Grundschema des Werks
ein. Richtig hatte Rickert bemerkt, da& die bis dahin systematischen Aus-
fiihrungen hier abgebrochen werden und an ihrer Stelle eine historisch-kri-
tische Analyse tritt; ein Platz fiir diese ist aber in der Aufbau-Skizze nicht
angegeben.
Die neuestens zutage gekommenen Luk4cs-Materialien zeigen jedoch, daS
der Gedanke einer derartigen kritischen Analyse der Geschichte der Asthetik
bereits vor seiner Arbeit an der Philosophie der Kunst aufgekommen war; es
ist sogar méglich, da& dieser Gedanke das erste konkrete Konzept der
geplanten grofen asthetischen Arbeit gewesen ist. Jedenfalls finden sich unter
den neu geborgenen Papieren zwei Aufrisse mit dem Wesen nach gleichem
Inhalt, die, aufgrund duBerer Merkmale, auf Ende 1911 - Anfang 1912 an-
zusetzen sind. Da sie in zweifelloser geschichtlicher und logischer Beziehung
mit den Heidelberger Manuskripten stehen, diirfte es zweckmafig sein, den
detaillierter ausgearbeiteten hier zu verdffentlichen. Dieser lautet:
»Das Formproblem in der Asthetik
(Historisch-kritische Prolegomena zu einer Philosophie der Formen)
1, Die Verfliichtigung der Form im Rationalismus.
1. Die Stellung der Kunstphilosophie in dem System des Rationalismus.
2. Form und metaphysische Wirklichkeit.
3- [Plotin]* Der Griechische Rationalismus und das Problem der Nach-
ahmung.
4. Die Kunst als Objektivation der Idee.
1, [Schelling] Kunst und Mythologie.
s. Die Kunst als Objektivation der Idee. 11. [Hegel]
Das Problem des Weltprozesses.
ut, Die Zersetzung der Form durch den Empirismus
1. Die Entstehung der neuen Psychologie
2. [Lessing und Herder] Die Psychologie der Schaffenden und GenieBen-
den.
3. Die moderne Psychologie und das Problem der Kunst.
des Verfassers zu hadern scheint, das vor allem der Lebensnotwendigkeit der
Kunst, deren Funktion in der Totalitat des Lebens galt.
Mit diesen Erwagungen sind wir aber weit von der Rekonstruktion der
Manuskripte abgekommen. Sie betreffen offensichtlich Probleme der Inter-
pretation, die zu erdrtern weit iiber den Rahmen eines Nachwortes hinaus
liegen.
+ ee
Was nun die unmittelbare redaktionelle Arbeit - iiber die Rekonstruktion
des Aufbaus und der Entstehungsgeschichte des Textes hinaus — anbelangt:
Das erstrangige Ziel bestand verstandlicherweise darin, eine genauen, wort-
getreuen Text zu verdffentlichen. Das nur oberflichlich korrigierte Typoskript
wurde Satz fiir Satz mit den handschriftlichen Texten — sofern vorhanden
—kollationiert und denen entsprechend korrigiert.
Stellenweise ergab sich die Notwendigkeit geringfigiger Abinderungen:
offensichtlich hatte Lukacs die letzte Autorenkontrolle an den Texten nicht
vorgenommen, weshalb in der Regel offensichtliche, die Verstandlichkeit des
Textes dennoch mehr oder weniger beeintrachtigende Irrtiimer (etwa in der
Satzabstimmung etc.) zu finden waren. Wir waren bemiiht, diese iiberall zu
korrigieren.
SchlieBlich ergab sich in sehr wenigen (kaum einigen Dutzend) Satzen des
Gesamtmanuskripts die Notwendigkeit, aus Griinden der Verstandlichkeit
etwas tiefer greifende Abanderungen vorzunehmen. So war es beispielsweise
an Hand des Kontextes klar, da& das Verneinungswort ausgeblieben war, so
da die Aussage des Satzes das Gegenteil des Beabsichtigten wurde; infolge
mehrfacher Korrektionen und Einfiigung von Satzteilen wurden Satze
agrammatisch oder vollends uniibersichtlich usw. In solchen Fallen — jedoch
nur wenn dies entschieden unumgianglich war —- wurde der Satz den sinn-
gemafen Forderungen entsprechend umformuliert. Da es hier nicht um eine
textkritische Ausgabe geht und die genannten redaktionellen Eingriffe zah-
lenmafig geringfiigig sind, erschien es uns nicht notwendig, diese separat
anzugeben.
In Bezug auf Rekonstruktion und Redaktion des Textes seien noch zwei
Momente erwhnt. Stellenweise (vor allem im PhK. 2) schrieb Lukdcs im
Manuskript lange, bis zu 20-30 Seiten umfassende Textteile ohne jegliche
Gliederung (Absatze) nieder. Da dies, die Gesamtheit des Manuskripts vor
Augen haltend, keineswegs als Stileigenart anzusprechen war, die Lesbarkeit
des Textes jedoch schwerwiegend beeintrachtigte, gliederten wir den Text
der sinngemafen Aufteilung entsprechend zu Absatzen.
Nachwort 277
Und schlieBlich die Frage der Ortographie. Wie bereits erwahnt, bediente
sich Lukdcs sehr hiufig der lateinischen Ortographie, wenn es um Worter
lateinischen Ursprungs ging, jedoch von Anbeginn recht unkonsequent. Es
gibt Manuskriptseiten, wo ein und dasselbe Wort mit zweierlei Schreibweisen
(z.B. »Complex« und »Komplex«), ja sogar in dreierlei Formen zu finden ist.
Bei der Ubertragung in Maschinenschrift, zu verschiedenen Zeitpunkten und
offensichtlich von verschiedenen Personen durchgefiihrt, wurde die Orthogra-
phie meist je nach dem Geschmack der Abschreiber umgestaltet. Da die Wie-
derherstellung der urspriinglichen Schreibweise von Lukdcs eine sehr groSe,
und in Hinblick auf die vorliegende Ausgabe auch iiberfliissige Arbeit erfor-
dert hatte, wurde lediglich die Ausgestaltung einer konsistenten Schreibart
angestrebt, die die urspriingliche Luk4cs’sche Eigenart nur andeutet.
Bestandteil der redaktionellen Arbeit war ferner die Kollationierung und
Kontrolle der Zitate. Mit der Ausnahme eines einzigen Kapitels gab Lukdcs
die Quellen seiner Zitate nirgend an (wenngleich im Manuskript stellenweise
die entsprechende Seitenzahl mit Bleistift iiber das Zitat geschrieben er-
scheint). Offensichtlich zitierteer auch viel aus dem Gedachtnis: ein Teil der
Anfihrungen war mehr oder weniger ungenau. Es gelang, die Quellen mit
wenigen Ausnahmen festzustellén (ebenso auch, welcher Ausgaben sich Luk4cs
bediente). Die entsprechenden Stellen wurden dementsprechend korrigiert,
die Hinweise in den FuBnoten angegeben. FuSnoten der Redaktion erschei-
nen in eckigen Klammern.
Ein anderes und komplizierteres Problem als die sich bei den Grundtexten
der Manuskripte ergebenden stellte die Redaktion des Vortrags Das Form-
problem der Malerei dar. Sein 34 Seiten umfassende Typoskript kam.unmit-
telbar nach Lukdcs’ Tod zum Vorschein, in dem Biindel friiher Manuskripte,
das auch die handgeschriebenen (und teil weise maschinengeschriebenen) Manu-
skripte von PhK. und Ast. enthielt. Schon das fliichtige Durchlesen dieser
Seiten lie8 klar erkennen, da& man offensichtlich das nachtraglich niederge-
schriebene und wesentlich nicht korrigierte Stenogramm eines Vortrags vor
sich hat. Gedanklich kniipft der Text zwar eng an die Problematik und die
Ideen der Heidelberger Manuskripte, doch bildet er in keinerlei Hinsicht
deren Bestandteil. Er muf als separate Einheit aufgefa&t werden. Unter den
Lukécs-Texten, die 1973 aufgefunden wurden, befanden sich jedoch Aufrisse
und Notizen zu diesem Vortrag auf insgesamt sieben groSen Manuskript-
seiten. Der gréfere Teil davon, der Eigenwert besitzt, wurde in diesen Band
ebenfalls aufgenommen. Ein Teil der Notizen, die nicht hier zu lesen sind,
enthielt Literaturhinweise und Quellenangaben. Mit ihrer Hilfe konnte der
278 Markus
Vortrag mit relativer Genauigkeit datiert werden. An zwei Stellen beruft sich
Lukdcs namlich auf Wolfflins Artikel Uber den Begriff des Malerischen, der
im rv. Band von Logos erschienen war; der Vortrag konnte mithin nicht vor
Ende 1913 fertiggestellt werden. Zum anderen aber — wie erwahnt — kamen
die Notizen vor Beendigung des dritten PhK.-Kapitels, d. h. vor dem Som-
mer 1914 zustande.
Am Typoskript unternahm zwar jemand (nicht Lukdcs) geringfiigige Korrek-
turen (vor allem im Hinblids auf die absurderweise mifverstandenen und
schlecht abgeschriebenen Fremdnamen), doch war der Text noch immer —
weit iiber die sprachliche Laxheit eines freien Vortrags hinausgehend — iiber-
fille mit offensichtlichen Mifverstandnissen; beim ersten Durchlesen erschie-
nen mehrere Sitze vollends sinnlos zu sein. Die Person, die die Rede mit-
stenographierte, konnte mit ihm offenbar hiufig nicht schritthalten: Satze
bleiben im Fragment, auch grammatikalisch unbeendet. An anderen Stellen
wurden Ausdriicke einfach schlecht verstanden; so liest man etwa anstelle
von (sinngemaf&) Neugier »neu hier«, yon Kultur »Skulptur« von ziemlich
»sinnlich«, was freilich auch den Sinn der betroffenen Satze vollstandig ver-
zerrte. Das urspriingliche Anliegen konnte daher erst mit Hilfe der nach-
traglich aufgefundenen, sehr ausfiihrlichen Notizen — hoffentlich dem ur-
spriinglichen Sinn entsprechend — wiederhergestellt werden. Hypothetische
Erganzungen fragmentarischer Satze bzw. in mifverstandene Passagen ein-
gefiigte Ausdriicke oder Verbesserungen stehen in eckigen Klammern. Doch
gab es iiber diese hinausgehend noch so viel zu Korrigierendes an dem Text,
da es unmdglich war, alles separat anzuzeigen, ohne die Lesbarkeit schwer-
wiegend zu beeintrachtigen.
Die Freunde, — sie wurden eingangs genannt — deren Meinung Lukdcs ur-
spriinglich hinsichtlich der Veréffentlichung der Heidelberger Manuskripte
héren wollte, waren mir bei der Redaktion weitgehendst behilflich. Separat
danken michte ich jedoch Agnes Heller, die das gesamte Manuskript mit mir
durchsah und deren Meinung ich selbst bei den geringfiigigsten technischen
Details beriicksichtigte. Ohne ihre Hilfe ware die Arbeit fiir mich schlechter-
dings unmdglich gewesen,
‘Namensverzeichnis