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海德堡美学手稿

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NUNC COCNOSCO EX PARTE

THOMAS J. BATA LIBRARY


TRENT UNIVERSITY
Digitized by the Internet Archive
in 2019 with funding from
Kahle/Austin Foundation

https://archive.org/details/heidelbergerphil1912luka
GEORG LUKÄCS WERKE
GEORG LUKÄCS WERKE

Frühe Schriften zur Ästhetik

BAND 16
GEORG LUKÄCS

Heidelberger
Philosophie der Kunst
(1912-1914)

Aus dem Nachlaß herausgegeben von


György Markus und Frank Benseler

LUCHTERHAND
Eckige Klammern umschließen Zusätze der Herausgeber.

© 1974 by Hermann Luchterhand Verlag Darmstadt und Neuwied.


Ausstattung von Christian Honig. Gesetzt aus der Borgis Garamond.
Gesamtherstellung: Druck- und Verlags-Gesellschaft mbH., Darmstadt.
Printed in Germany, März 1974.
isbn 3-472-76036-2
Inhalt

Philosophie der Kunst (1912-1914)

I. Die Kunst als »Ausdruck« und die Mitteilungsformen der Er¬


lebniswirklichkeit ^

II. Phänomenologische Skizze des schöpferischen und receptiven


Verhaltens 43

m. Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit des Kunstwerks 151

Anhang 233

Namensverzeichnis 24 7

238201
DIE KUNST ALS »AUSDRUCK«
UND DIE MITTEILUNGSFORMEN
DER ERLEBNISWIRKLICHKEIT"')

*) [siehe Anhang i]
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 9

Die Ästhetik, welche ohne illegitime Voraussetzungen begründet werden


soll, hat mit dieser Frage anzufangen: »es gibt Kunstwerke — wie sind sie
möglich«? Mit dieser Fragestellung ist aber die Möglichkeit ihrer Beantwor¬
tung noch nicht gegeben. Die Art, wie das Faktum der Kunst für uns da ist,
ist selbst bei der Anerkennung dieser ihrer Faktizität und der Notwendigkeit
der daraus entspringenden Fragestellungen noch durchaus ungeklärt. Alles
folgende hängt nun davon ab, inwiefern es uns gelingen wird, das Dasein des
Kunstwerks als erstes — und einziges — Faktum für die Ästhetik klarzuma¬
chen und damit dem Weg der weiteren Fragen die richtige Richtung zuzu¬
weisen. Wenn wir nun darauf reflektieren, was es eigentlich bedeutet, daß
es Kunstwerke gibt, so müssen wir sagen: es gibt gewisse Gebilde, die von
Menschen geschaffen wurden, die - trotzdem sie den Stempel der hervor¬
bringenden Persönlichkeit an sich tragen — unabhängig von ihr und rein
durch sich, durch die eigene Kraft ihres immanenten Form-Material-
Komplexes unmittelbare Wirkungen auszuüben fähig sind; Wirkungen, die
ihrem erlebnishaften Wesen nach von denen der gewöhnlichen Erlebnis¬
wirklichkeit nicht scharf zu unterscheiden sind, in denen sich aber - selbst in
diesem Stadium unserer Erkenntnisse über sie — Elemente eines normativen
Verhaltens, einer Beziehung auf einen Wert zeigen. Gegen diese Bestim¬
mung des Kunstwerks, wobei das immanente In-sich-Vollendetsein seines
Aufbaus und die unmittelbare und dennoch normative Art seiner Wirkung
das Wesentliche sind, läßt sich wohl kaum etwas einwenden, sondern nur
dagegen, daß in diesem Werk das Faktum der Ästhetik erblickt und von ihm
aus - mit der Kantischen Fragestellung - der Aufbau der Ästhetik versucht
wird. Wir müssen hier zwei andere, wichtige Möglichkeiten ins Auge fassen.
Erstens ist es denkbar, daß man in dem Kunstwerk nicht den ästhetischen
Wert oder nicht einmal seine höchste oder allein wesentliche Realisation
anerkennen will, sondern diesen in dem - bewußt oder unbewußt metaphy¬
sischen - Begriff der Schönheit erblickt und nun ihre Objektivationen in
Kunst und Natur näher untersucht, womit dem Kunstwerk nur die Bedeu¬
tung einer Realisation des ästhetischen Wertes zukommt - und es ist sehr
fraglich, ob sie die höhere von beiden ist. Zweitens kann man von den
Verhaltungsarten der Menschen zu dem »Schönen« (oder eventuell: zu der
Kunst) ausgehen und in ihnen das Normative aufzufinden suchen und als
Kunstwerk nun die Totalität jener Werke anerkennen, welchen gegenüber
dieses normative Verhalten gesetzmäßig eintritt. Es kann hier keineswegs
unsere Absicht sein, gegen diese beiden, in sich mannigfaltig verzweigten
Anschauungen zu polemisieren und durch ihre Kritik das Recht auf unsere
IO Philosophie der Kunst

Fragestellung zu erweisen: sowohl Polemik wie Rechtfertigung sollen die


folgenden Ausführungen, als immanentes Ganze, enthalten, und nur gele¬
gentlich, bei Klarlegung einzelner Fragen, wollen wir auf entgegengesetzte
andere Anschauungen näher eingehen. Hier seien nur die folgenden einlei¬
tenden Bemerkungen gestattet.
Daß der Begriff des »Schönen« metaphysischen Ursprungs ist, kann nicht
bezweifelt werden. In einer metaphysischen Systematik des gesamten Seins
ist es also durchaus gestattet, diesen Begriff rein nach seinem hierarchischen
Zusammenhang mit den über oder unter ihn geordneten Begriffen zu
behandeln und aus ihm seine spezifischen Objektivationen (Natur- und
Kunstschönheit) zu deduzieren. Es fragt sich nur, ob diese Systematik nicht
zur Aufhebung der Kunst führt, d. h. zu dem Resultat, daß das immanent
in sich abgeschlossene, aus Menschenarbeit entstandene Werk als etwas
Vorläufiges oder sogar Verwerfliches erscheinen muß. Uber das metaphysi¬
sche Recht dieser Anschauung kann nur in anderen Zusammenhängen
entschieden werden; hier ist nur der Standpunkt zu betonen, daß damit die
Tatsache der Existenz solcher Werke nicht erklärt, sondern nur beurteilt
(beziehungsweise verurteilt) wird, daß es uns jetzt vorerst darauf ankommt
zu wissen, wie die Kunstwerke möglich sind, daß wir deshalb — aus methodi¬
schen Gründen — jede Anschauung, die ihren erkannten Tatsachencharakter
nicht zu erklären vermag, von uns weisen müssen, um — wie früher schon
betont wurde — auf das metaphysische Problem der Kunst nur nach dem
Begreifen ihrer Möglichkeit und ihres Wesens einzugehen. Wenn aber die
systematisch-metaphysische Deduktion des Schönen (und aus ihm der
Kunst) nicht als das den ästhetischen Untersuchungen methodisch Vorange¬
hende acceptiert wird, so muß gefragt werden: wie kommt die Ästhetik, die
den Schönheitswert in ihren Mittelpunkt stellt, überhaupt zu dessen klaren
Begriff? Von dem normativen Verhalten auf die Norm selbst zu schließen,
ist ein offenbarer Zirkel, denn mit welchem Recht wählt man gewisse
Verhaltungsarten zu einem - unbekannten und unbestimmten — Wert als
den Normen entsprechende aus, vernachlässigt andere, wenn der Wert
selbst, der diese Auswahl möglich macht, noch nicht gefunden ist? Und fügen
wir hinzu: auf diesem Wege auch nicht auffindbar ist. Jede neuere Ästhetik,
der es weniger auf die letzte metaphysische Stellungnahme zum Faktum der
Kunst, als auf das Begreifen ihrer Gesamtheit ankommt, sieht immer
größere Schwierigkeiten in der — historisch verschärften — Vieldeutigkeit des
Schönheitsbegriffes. Erstens ist das Schöne nur ein Moment in dem aner¬
kannten ästhetischen Verhalten und es sind ihm viele anders — das Erhabene,
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 11

das Komische etc. — beigeordnet; zweitens soll sich das Geltungsreich dieses
(in sich vieldeutigen) ästhetischen Zentralwerts nicht nur auf das Verhalten
der Kunst, sondern auch auf das der Natur gegenüber beziehen. Um hier zu
einer Klarheit zu kommen, sind zwei Wege möglich: entweder wird der
metaphysische Begriff des Schönen als leitender Wegweiser in der Auswahl
- unbewußt — vorausgesetzt, oder es werden die Verhaltungsarten, die sich
den — historisch anerkannten — Kunstwerken gegenüber zeigen, untersucht
und die ihnen ähnlichen der Natur gegenüber auch in die Ästhetik miteinbe-
zogen. Im ersten Fall ist man, in verschleierter Form, zu der deduktiv-meta¬
physischen Ästhetik zurückgekehrt, nur wegen der unklareren Art der
Voraussetzungen in wesentlich unklarerer Weise; im anderen Fall ist unsere
Anfangsfrage, bloß ebenfalls weniger eindeutig, gestellt. Daß es überhaupt
eine Naturschönheit gibt, kann nur bewiesen werden, wenn entweder der
Natur gegenüber, notwendig und gesetzmäßig, sich ein receptives Verhalten
zeigt, das mit dem zu den Werken der Kunst — notwendig — identisch ist
(wobei also dieses Verhalten als erkannt vorausgesetzt wird), oder wenn die
objektive innere Struktur von Naturschönheit und Kunstschönheit ihrem
Wesen nach dieselbe ist (was zu beweisen nur in einer metaphysischen
Naturphilosophie möglich wäre, die aber ebenfalls - zum reinen Vergleich
- dem Kunstwerk gegenüber unsere Fragestellung nicht umgehen könnte).
Wir sehen: die Frage, ob das Kunstwerk oder das Schöne in den Mittelpunkt
der ästhetischen Methodik gestellt ist, bringt augenblicklich das für das
Schicksal der ganzen Ästhetik entscheidende Problem der Naturschönheit in
den Vordergrund. Rein methodisch kann das Problem so ausgesprochen
werden: entspricht der reinen Immanenz des ästhetischen Erlebnisses (des¬
sen Charakter seit Kant als klar erkannt vorausgesetzt werden darf)
notwendig irgendein ihm angemessenes Objekt? Wenn diese Frage bejaht
wird, so sind zwei Möglichkeiten da: Erstens muß die Naturschönheit als
wesentliches Element aus der Ästhetik ausscheiden, denn in diesem Falle ist
die Immanenz (die Kantische »Interesselosigkeit«) nur das subjektive Ver¬
halten, das der gewollten und erreichten Immanenz des Werks notwendig
entspricht und aus ihr folgt, und ein ähnliches Verhalten der »Natur« gegen¬
über beruht nur darauf, daß in ihr ein »glücklicher Zufall« Konstellationen
zustande bringt, die ein ähnliches Verhalten möglich, ihrer Zufälligkeit
wegen aber niemals notwendig machen können; es gibt also höchstens dem
ästhetisch-normativen Verhalten verwandte Erlebnisse der Natur gegen¬
über, aber keine Ästhetik der Natur als Gegenstück zu der der Kunst. Zwei¬
tens wird die Naturschönheit dadurch gerettet, daß sie eine Folge von auf sie
12 Philosophie der Kunst

intendierenden, objektiven Kräften ist, daß sie das Ziel der Natur, die
Offenbarung ihres Wesens ist, daß - mit einem Wort — es eine Ästhetik der
Natur gibt, deren Kategorien, weil sie die objektive Struktur der Natur tref¬
fen, naturphilosophisch und, weil sie die normativ-ästhetische Struktur
erzeugen, ästhetisch konstitutiv sind, daß also Ästhetik und Naturphiloso¬
phie zusammenfallen oder wenigstens ein für beide sehr bedeutsames Gebiet
gemeinsam besitzen. Wenn aber die oben gestellte Frage verneint wird, so
ist das Zusammentreffen von objektiver Immanenz des Kunstwerks und
subjektiver Immanenz des ästhetischen Verhaltens zufällig geworden;
sowohl Natur wie Kunst können diese Immanenz des Erlebnisses hervorru-
fen, es ist aber weder für die Natur noch für die Kunst notwendig, daß sie
es entstehen lassen. Die Kunst hat dadurch jeden für sich bestehenden Wert
verloren: was sie leisten kann, ist nicht ihre notwendige Folge, und nicht sie
allein ist es, die diese Wirkung hervorzurufen vermag. Das Wesentliche ist
die subjektive Immanenz des Erlebnisses, das als solches in sich vollendet ist
und von dem Objekt nuf erweckt, aber nicht erzeugt wird; für das Subjekt
liegt also der entscheidende Accent auf dem Verhalten selbst und sofern es
doch nicht rein in sich abgeschlossen bleibt, so ist es eine Vorbereitung für
ein anderes subjektives Verhalten: für das Ethische. Wenn aber trotz
alledem das Objekt auch hier zu einer Bedeutung gelangt, so wird es viel¬
mehr die Natur sein, als die Kunst. »Da es aber die Vernunft auch interes¬
siert . . . daß die Natur wenigstens eine Spur zeige oder einen Wink gebe, sie
enthalte in sich irgendeinen Grund, eine gesetzmäßige Übereinstimmung
ihrer Produkte zu unserm von allem Interesse unabhängigen Wohlgefal¬
len . . . anzunehmen: . . . kann das Gemüt über die Schönheit der Natur
nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich interessiert zu finden«,1 sagt
Kant. Ob und wie dadurch auch die Immanenz des Erlebnisses aufgehoben
wird, inwiefern dieses nicht doch ein ihm angemessenes Objekt (das Kunst¬
werk) fordert, um immanent verbleiben zu können, kann erst später unter¬
sucht werden. Zu betonen ist jedoch schon hier, daß aus einer solchen
Problemstellung aus die Faktizität der Kunst nie aufgehoben werden kann:
daß es Kunstwerke (und einen Schaffensprozeß) gibt, bleibt eine Tatsache,
der die Fol gen dieser Voraussetzungen nie eine Notwendigkeit zu geben
vermögen. Ich verweise bloß auf den ungewollten methodischen Sprung, der

[i Kritik der Urteilskraft, § 42 Werke, Bd. 5. Hrsg, von E. Cassirer Berlin, Cassirer
I9I4- S. 375-]
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit U

— trotz aller Feinheit der Einzelbemerkungen — die Abschnitte Liber das


Genie von den grundlegenden der »Kritik der Urteilskraft« trennt.
Aus alledem tritt die Rechtfertigung unseres Problems doch schon einiger¬
maßen hervor: wenn auch noch nicht erwiesen ist, daß die Ästhetik nur auf
diese Weise widerspruchslos aufgebaut werden kann (diesen Beweis soll die
Gesamtheit unserer Ausführungen leisten), so scheint es doch, daß das
Wesen der Kunst nur auf solche Weise zu erfassen ist; und zu beweisen ist
nur noch, daß damit die ganze Ästhetik erschöpft ist. Wenn wir aber unsere
ganze Aufmerksamkeit auf die Kunst konzentrieren, so bleibt noch eine
methodische Gefahr übrig, die zu beseitigen ist, bevor wir das Faktum der
Kunst als Gegebenheit in Klarheit besitzen, so daß wir von dortaus an ihr
Begreifen fortschreiten können; diese Gefahr ist die Kunst als Ausdruck des
künstlerischen Wollens und ihre Wirkung als das angemessene Ende eines
adäquaten Mitteilungsprozesses zu begreifen. In der Tatsache der Kunst
liegt nämlich miteinbegriffen, daß sie vom menschlichen, das Werk
suchenden Willen hervorgebracht wird und daß sie die Unmittelbarkeit des
Afficiertseins mit der Erlebniswirklichkeit gemein hat. Wenn diese beiden,
mit dem Dasein des Werks simultan gesetzten Typen, der Schaffende und
der Receptive, und der Prozeß, der sich vom Schaffen über das Werk bis zum
Genießen vollzieht, nicht genau untersucht werden, so kann das Faktum der
Kunst nie in wirklicher, zur Weiterführung erforderlicher Klarheit zu Tage
treten. Wenn also einerseits nicht darauf reflektiert wird, wie tief unwahr¬
scheinlich es ist, daß die immanente Vollendung des Werks ihre Existenz
einem menschlichen (also brüchigen und unvollkommenen) Schaffensakt
verdankt, und wenn andererseits die Merkwürdigkeit des receptiven Verhal¬
tens, daß es als Erlebnis, ohne Aufhebung seiner Unmittelbarkeit, ewig
geltenden Normen entsprechen soll, nicht bewußt wird, wenn mithin aus
diesem Gegebenheitskomplex sein innerlich paradoxer Charakter nicht her¬
vortritt, so ist die große methodische Gefahr entstanden, die Kunst der
Erlebniswirklichkeit allzusehr anzunähern und so ihr eigentliches Wesen zu
verkennen. Es entsteht die Gefahr, daß dieser Prozeß als eine einfache,
wenn auch möglichst intensive, Fortsetzung und Vollendung des Mittei¬
lungsprozesses in der Erlebniswirklichkeit und das Werk als ein bloßes
Mittel des Ausdrucks erscheint, was wieder die primäre Tatsache seines
Daseins, seine immanente In-sich-Abgeschlossenheit aufhebt. Denn in dieser
Paradoxie, in dieser gleichzeitigen Nähe und Ferne zur Erlebniswirklichkeit
liegt das Wesen der Kunst: indem wir ihr Dasein anerkennen, müssen wir
gleichzeitig die Unwahrscheinlichkeit dieses Daseins klar erblicken und sie
14 Philosophie der Kunst

weder in eine, Verwechslungen bringende und ihre wirkliche, konstitutive


Eigenart verdeckende Nähe zu anderen Wertsphären bringen, noch dürfen
wir eine ebenfalls verwirrende, allzu große Verwandtschaft zwischen Kunst
und Erlebniswirklichkeit bestehen lassen, wodurch beide in ihrem eigensten
Wesen getrübt werden. Da unsere Aufgabe jetzt darin besteht, das Faktum
der Kunst möglichst ungetrübt zu erhalten, müssen wir sie, so wie sie in ihrer
selbstverständlich scheinenden Unwahrscheinlichkeit sich unmittelbar aus
der gewöhnlichen Erlebniswirklichkeit erhebt, zu erblicken versuchen und —
soweit dies überhaupt möglich ist - nichts als dieses ihr Dasein und das
Dasein der Erlebniswirklichkeit vorauszusetzen, um die Verwandtschaft und
die Ferne beider zueinander offenbar werden zu lassen.
Wir werden aber in die Erlebniswirklichkeit als in etwas Unaufhebbares und
nur als Selbstverständlichkeit Erlebbares hineingeboren. Darum wird für das
einfache Nachdenken, das nur die in dieser Wirklichkeit, die sich in einer
historisch gegebenen Fülle vor uns ausbreitet, deutlich sich aufweisenden
Linien zu Ende läuft, die Wirklichkeit aber nicht in ihrem wirklichen Wesen
zu begreifen sucht, alles durch die geschichtlich gegebene Vergangenheit der
Menschheit Produzierte in einer Atmosphäre der natürlichen Notwendig¬
keit und fernab von jeder Fragwürdigkeit stehen. Für ein solches Nach¬
denken und noch mehr für das ihm entsprechende, unmittelbare Erleben
hebt das Dasein von Etwas jede wirkliche oder denkbare Problematik auf.
So werden hier die Werke der Kunst als eine uns angeborene, freundliche
und fraglose Selbstverständlichkeit erscheinen: für alle unsere Stimmungen
scheinen überall entsprechende Stimulancen hoher oder niederer Ordnung
in einer angenehmen und leicht erreichbaren harmonia praestabilita bereit
zu stehen. Und von den Werken, an deren nicht ganz erreichter Vollendung
unser kritischer Scharfsinn sich wohltuend erprobt, bis zu den schlechthin
vollendeten, an die sich unsere hingegebene Ergriffenheit lautlos
anschmiegt, von unseren Möbeln bis zu den Kathedralen, von Zeitungsno¬
vellen bis zur Divina Comoedia zieht sich der ununterbrochene und nicht
durchbrechbare Strom der geschichtlich erlebten Continuität. Der Wert der
niederen Stufen wird durch den unbezweifelbaren der hohen in dieser
Continuität garantiert und der stete Zusammenhang von diesen mit jenen
gibt uns selbst mit den höchsten und kältest-einsamen Werken eine nicht
aufhebbare Gemeinschaft. Von der mystischen Verkündigung Hamanns,
daß Poesie die Muttersprache der Menschheit sei, bis tief hinunter zu dem
albernsten Liedersingen der Ausflügler durchzieht unsere ganze Erlebnis¬
wirklichkeit der unerschütterliche Glaube von der die Menschen miteinan-
Mitteilungsjormen der Erlebniswirklichkeit U

der verbindenden, ihre Freuden und Leiden aussprechenden, erleichternden


und erlösenden Macht der Kunst. Und die Werke der Kunst verlieren in
diesem großen Zusammenhänge jede Isoliertheit: in ungebrochener und
unverfälschter Geradlinigkeit strömt das, was die Künstler aussprechen wol¬
len über ihre Werke, als adäquate Media der Vermittlung, zu uns, und
erreicht uns, und die Welt, die uns umgibt, verliert durch sie ihre oft drük-
kende Verworrenheit und quälende Stummheit, sie wird einfach, klar, laut
und selbstverständlich. Das große Bedürfnis der Menschen nach Mitteilung,
das nur eine abgeschwächte Form ihrer tieferen Sehnsucht nach Gemein¬
schaft und Einheit miteinander ist, findet hier eine im Leben bleibende
Erfüllung und eine das Leben bejahende Bestätigung. Und diese Verbrüde¬
rung des Menschen mit allen anderen Menschen, diese Antwort, die ihm auf
seine nicht aussprechbaren Fragen seine Welt, alle Menschen und die ganze
Natur geben, durchbricht sein Beschränktsein in Raum und Zeit; er wird
befreit aus der soziologischen, nationalen und zeitgeschichtlichen Isoliert¬
heit, aus seiner Gebanntheit in die Welt, in die er eingeboren, die ihm als
unmittelbares Erlebnis gegeben ist. So erlangt diese humane Selbstverständ¬
lichkeit der Kunst einen hohen, aber zugleich weit über sie hinausgehenden
Sinn: die Möglichkeit der allgemeinen und restlosen Mitteilbarkeit von
allem Menschlichen wird in ihr offenbar und durch ihre Existenz gesichert,
dadurch aber wird sie selbst nur ein Vehikel unter vielen anderen dieser
Mitteilung. Sie ist nur das Organ, durch das die zur wahren Mitteilung
prädestinierte menschliche Seele, die 4es Genies, sprechen kann; das Wich¬
tige und das Entscheidende ist aber das Faktum, daß so gesprochen werden
kann und der Inhalt, der so ausgesprochen wird. Das Kunstwerk ist noch da,
verschwindet aber in diesem Strom, der von Seele zu Seele rauscht; immer
stärker werden die Conturen seines abgeschlossenen Für-sich-seins wegge¬
schwemmt, bis schließlich nichts mehr übrig bleibt als eine Art von vermit¬
telndem, aber zugleich trübendem Medium in dieser Verbindung. Hier ist
das entscheidende Moment dieser Gestaltung: die Bewegung, in der das
Kunstwerk ein Vehikel der Mitteilung ist, muß über das Werk selbst hinaus¬
führen, ihre über das Angenehme und Erfreuliche des bloß Erlebnishaften
hinausgehende Bedeutung hebt die einzig wirkliche Garantie ihres Beste¬
hens: die Werke der Kunst, auf.
Das ist die große Gefahr in der Bestimmung der Kunst aus einer solchen
erlebten Tatsächlichkeit: indem die Kunst zum Organon des Wunsches zur
Einheit wird, hört sie auf sie selbst zu sein, wird in einen Zusammenhang
eingefügt, der auf ihr steht und sie doch aufhebt. Der großartige, aber leicht-
16 Philosophie der Kunst

fertige Flug des Geistes von dieser seiner Sehnsucht zu ihrer Erfüllung über¬
schlägt den alles entscheidenden Prozeß des Reinmachens und der Selbster¬
kenntnis von Sehnsucht und verliert dadurch die Klarheit über eine
mögliche Erfüllung. Wenn daher für Schelling die Kunst deshalb das
Höchste ist, »weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger
und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in
der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln,
ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß«,1 so muß die ganze, ebenfalls
auf Erfüllung drängende Philosophie und Religion in dieses ihr vorgezeich¬
nete Ziel einströmen. Was früher getrennt war, muß sich einen und das
utopische Ziel des Denkens, vor dem die glanzvolle Vollendung der Kunst
als Führer und Wegweiser stand, wird doch in der Philosophie selbst reali¬
siert. Da hat sich aber — gegen den Willen des Denkers, aus der immanenten
Logik dieser Problemstellung heraus — die Kunst selbst aufgehoben: alle ihre
Erfüllungen sind nur kleine Inseln in einem Meere der Vereinzeltheit und
des Ringens nach Einheit; wenn der Ruf zur Sammlung, der für das Denken
aus ihnen erschallt, erhört wird, so hat der große Strom des endgültigen
Zusammengehörens von Allem auch ihre schwachen und vorläufigen
Dämme weggerissen und ihre Existenz — ihr einsames Für-sich-Bestehen —
vernichtet. Daß aber eine solche Vereinigung überhaupt möglich ist, davon
ist ihre — unaufhebbare — so geartete Existenz das einzige Zeichen und der
allein mögliche Beweis.
Darum müssen wir diese Wirklichkeit verlassen und sie aus der Ferne und
mit fremden Blicken betrachten, damit wir die Sehnsucht nach Vereinigung
und ihre Erfüllungen — von denen als die vornehmste und einzig irdisch-reale
sich vorerst nur noch die Kunst zeigt — als nackte Tatsachen sehen und ihre
wirkliche Struktur und ihr wahres Verhältnis zueinander begreifen können.
Das erste, das sich bei dieser Änderung des Augenpunkts als naiv geglaubte,
jedoch durch nichts bewiesene, noch beweisbare Voraussetzung zeigt, ist die
Restlosigkeit und Adäquatheit in der zwischen-menschlichen Mitteilung.
Diese Voraussetzung erweist sich, sobald sie über ein mehr als rein erlebnis-
haftes oder bloß praktisches Verhalten zu den Objekten hinausgehen soll, als
naiver und unhaltbarer Dogmatismus, ist aber zugleich, als Strukturelement
der reinen Erlebniswirklichkeit, deren entscheidende, konstitutive Gebiets-

[i System des transzendentalen Idealismus vi § 3. Sämmtliche Werke. Hrsg. von


K. F. A. Schelling. Stuttgart, Cotta. 1858. Abt. 1 Bd. in S. 628.]
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 17

kategorie. Denn die »Wirklichkeit« dieser Welt besteht eben darin, daß
nichts in ihr Vorkommen kann, was nicht augenblicklich den für das Objekt
zwar subjektiv-reflexiven, für das Subjekt dieser Wirklichkeit aber allein
konstitutiven Charakter des »Erlebten« und »Erlebbaren« aufnimmt. Der
tiefe Unterschied, der diese Sphäre von allen anderen (sowohl des wie immer
gearteten Erkennens, wie des ethischen oder religiösen Verhaltens etc.)
trennt, ist, daß sich in ihr keine Maxime der normativen Stellungnahme zu
den Objekten aufweisen läßt, daß sich also zwischen den verschiedenen
»Erlebnissen« verschiedenster Menschen - von den Prinzipien dieser Sphäre
aus - keine Wert- oder Wahrheitsdifferenz zeigt, daß diese vielmehr rein
subjektiv bleiben und nie eindeutig auf ein irgendwie garantiert gemein¬
sames Objekt treffen. Die Unterschiede, die zwischen ihnen vorhanden sind,
sind die der Qualität und der Intensität, sie sind also untereinander unver¬
gleichbar, und jeder Versuch, die verschiedenen Erlebnisse verschiedener
Menschen zu ordnen und miteinander zu vergleichen, ist nur durch ein
Verlassen des rein Erlebnishaften möglich.
Die Unbegrenztheit und Gegensatzlosigkeit dieser Sphäre, die so stark ist,
daß selbst das »Kein-Erlebnis« auch nur in erlebnishafter Form erscheinen
kann, bestimmt das Schwankende und Problematische der in ihr möglichen
Mitteilbarkeit. Denn das Wesen des Erlebnisses kann nicht anders als durch
seine qualitative Einzigartigkeit definiert werden, der gegenüber jedes Aus¬
drucksmittel blaß, abstrakt, verfälschend und gerade alles Wesentliche weg¬
lassend sein muß. Diese Diskrepanz zwischen Stoff und Form des Ausdrucks
entsteht aus dem hier notwendigen Mangel an normativem Verhalten: jede
Maxime, durch deren Annahme man in irgendeine Sphäre der Homoge-
neität gelangt, setzt eine gewisse — für sie — konstitutive Zusammengehörig¬
keit und organische Verbindung des in ihr vorkommenden Stoffes mit den
diesen organisierenden Formen voraus. Indem man durch Unterwerfung
unter die Botmäßigkeit der Maxime sich in die betreffende Sphäre hineinbe¬
geben hat, ist in ihr und für sie eine absolute Eindeutigkeit und Mangel an
Mißverständnis sichergestellt. Die frühgriechische Skepsis, die - wie z. B. im
dritten Satze des Gorgias — die eindeutige Mitteilbarkeit der Erkenntnis
geleugnet und damit die von ihr ebenfalls bezweifelte Möglichkeit einer
Erkenntnis bis zur absoluten Wertlosigkeit herabgesetzt hat, meint und trifft
letzten Endes nur die Erlebniswirklichkeit und nicht das Wissen. Nur weil
es der Struktur des griechischen Geistes fern stand, Erleben und Erkennen
streng zu scheiden und sowohl Subjekt wie Objekt und Mittel des Erkennens
der Sphäre des Erlebens zu entrücken, mußte diese genaue Beschreibung der
18 Philosophie der Kunst

Struktur der Erlebniswirklichkeit zu der Skepsis der Erkennbarkeit gegen¬


über führen. Denn die Verschiedenheit des Zeichens vom Bezeichneten —
z. B. des Wortes »Farbe« von der Vorstellung »Farbe« — bezieht sich nur auf
die Erlebniswirklichkeit: die »Farbe«, die in der logischen Sphäre mitgeteilt
wird, hat nichts mehr mit den Erlebnissen der Sinne zu tun, noch weniger
mit den Unterschieden, die sich in ihrer Qualität bei den verschiedenen Indi¬
viduen aufweisen. Durch den Willen zur Wahrheit, die Unterwerfung des
Subjekts unter die Maxime der Logik, ist eine Sphäre entstanden, in der der
Begriff der »Farbe«, als Material der logischen Formen, alle Qualitätsunter¬
schiede seiner Erlebbarkeit verloren hat; und verloren haben muß, da mit
dem Wollen der Logik das logische Subjekt simultan gesetzt ist und dieses
hat nichts mehr mit den qualitativen Verschiedenheiten, die aus den empiri¬
schen Subjekten entstammen, zu tun. Wenn hingegen ein Individuum einem
anderen Individuum sein Erlebnis von einer bestimmten Farbe mitteilen
will, so tritt die von Gorgias erkannte Diskrepanz zwischen Zeichen und
Bezeichnetem zu Tage: dann ist das Zeichen etwas Abstraktes, Abgezoge¬
nes, das gerade dem, worauf es ankommt, was den Erlebnischarakter des
Erlebten ausmacht, seiner besonderen Qualität nie beizukommen vermag.
Es kann hier also keine Garantie oder Kontrolle geben, daß der sein Erlebnis
ausdrückende Mensch tatsächlich sein Erlebnis ausgedrückt hat und ob seine
Mitteilung verstanden wurde; denn wenn er etwa — um den primitivsten Fall
zu nehmen — das andere Individuum auf das erlebniserregende Objekt selbst
hinweist, so ist in nachweisbarer Weise doch nur so viel geschehen, daß zwei
Individuen vor einem und demselben Objekte etwas erlebt haben und daß
sie ihre Erlebnisse eventuell mit denselben Worten bezeichnen. Die Worte
sind aber für den Ausdruck jeder Erlebnisqualität gleich inadäquat und es
wird immer unbeweisbar bleiben, ob die beiden selbst in diesem Fall dasselbe
oder selbst etwas nur annähernd einander Ähnliches erlebt haben. Eine
Eindeutigkeit kann nur erreicht werden, wenn auf die Mitteilung dieser
Qualität bewußt verzichtet und das ihr gegenüber abstrakte, begriffliche
Vehikel der Mitteilung als solches gewollt wird; wenn eine eindeutige und
homogene, von Maximen bestimmte Sphäre entsteht. Jede dieser Maximen¬
gruppen (man denke etwa an die Axiome und Postulate der Geometrie) hat
aber, vom Standpunkt der Erlebbarkeit betrachtet, etwas Willkürliches,
manchmal sogar conventionell Scheinendes, gerade das, worauf es dem
Erlebnis ankommt, Vernachlässigendes und Vergewaltigendes. Eine Reak¬
tion, die das genaue Gegenstück zu dem Bestreben der Logik ist, ihre
Voraussetzungen, Elemente und Zusammenhänge von jedem Kriterium der
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit l9

Erlebbarkeit und jedem Vergleich mit ihr sorgsam frei zu halten. Es handelt
sich in beiden Fällen um notwendige Selbstregulierungen der Sphären, um
ihre unwillkürliche Tendenz, alles, was in ihnen vorkommt, den eigenen
Strukturen entsprechend zu verarbeiten und alles Widerstrebende als (für
sie) nichtseiend zu behandeln. Dadurch wäre der notwendige Gegensatz
zwischen der qualitativen Unvergleichbarkeit des reinen Erlebnisses und
jedem irgendwie denkbaren Ausdruck, der, wenn er Ausdruck sein soll,
schon Gemeinsames zwischen den beiden Subjekten der gegenseitigen Mit¬
teilung voraussetzt, begründet und als wesentliches Charakteristikon dieser
Sphäre erkannt. Dieser Gegensatz selbst wird freilich innerhalb dieser
Sphäre stets verdunkelt und nur ganz selten zu Tage treten.
Die Gründe dieser Unklarheit sind aber sehr verschiedenartig. Einerseits
knüpft sich eine sehr große Masse der Erlebnisse dieser Wirklichkeit an das
gewöhnliche praktische Handeln, wofür die abgestandenste und abstrakte¬
ste Begriffsbildung ausreicht. Indem hier weit mehr das in Handlung umge¬
setzte Erlebnis, als es selbst wichtig ist, kann und wird gar nicht untersucht
werden, ob eine in ihren Consequenzen der Absicht des einen erlebenden
Subjekts entsprechende Handlung des anderen Subjekts wirklich das Verste¬
hen des subjektiv Wesentlichen in der Absicht zum Motiv hat. Hier reicht
die Übereinstimmung von Absicht und Resultat vollkommen aus und nur im
Falle des Versagens kann das Problem des Nicht-verstanden-werdens auf¬
tauchen; muß es aber nicht, da so viele andere, praktisch näherliegende
Motive (Böswilligkeit, Unfähigkeit etc.) zur Verfügung stehen und zudem
das Subjekt an dem praktischen Gelingen seiner Absicht zu sehr interessiert
ist, um auf — jenseits des Praktischen liegende — Gründe des Scheiterns zu
reflektieren. Andererseits kommen in der Erlebniswirklichkeit in bunter
Vermischung und grenzenloser Abschwächung allerlei Elemente bereits
homogen verarbeiteter Wirklichkeiten vor, und einzelne normative Verhal¬
ten (das ästhetische, das religiöse etc.) fordern auch eine gewisse Art der
Erlebbarkeit, die scheinbar in einer übergangslosen Verlängerungslinie der
Erlebniswelt liegt. Dazu kommt, daß jeder voreilige und ohne Erschwe¬
rungen zum Ziele eilende Intellektualismus nur in dem begrifflich Ausdrück-
baren Wesenhaftes erblickt und die Sphäre der reinen Qualität allzu rasch
und unerledigt hinter sich läßt und als bloße quantite negligeable behandeln
zu können glaubt. Deshalb wird die Untersuchung dieser Wirklichkeit fast
immer der Psychologie überlassen, die als Naturwissenschaft gar keine
Organe für das Eigentliche dieser Welt haben kann, und für ihre Zwecke
auch nicht zu haben braucht; die unser Problem von der Struktur dieser
20 Philosophie der Kunst

Sphäre gar nicht zu fassen vermag, da für sie die adäquate Aussagbarkeit des
Erlebnisses eine notwendige und fruchtbare methodologische Voraussetzung
ist. Der entscheidende Grund liegt aber doch im Wesen der Erlebniswirk¬
lichkeit selbst: sie ist der dem Menschen »natürliche« Zustand, aus dem er,
um in eine der homogenen Sphären, z. B. in die des normativ-ethischen
Verhaltens, zu gelangen, sich gewaltsam herausreißen muß, in den er aber
ständig, mit einer Art von Fallgesetz des Kreatürlichen, wiederzukehren
bestrebt ist; dessen Gegensatz zu allen anderen Sphären er deshalb, um sich
die Übergänge zu erleichtern, unwillkürlich immer zu verwischen sucht.
Darum wird das In-sich-eingesperrt-sein des bloß erlebenden Menschen nur
ganz selten bewußt. Die glanzvollsten, bezauberndsten und raffiniertesten
Hilfsmittel werden ausgespielt, um die Inadäquatheit von Ausdrucksinhalt
und Ausdrucksmittel zu verdecken. Da sind vor allem die Gebärden und
Betonungsnuancen des Verkehrs der Menschen untereinander, Gespräche
z. B., vorhanden, mit ihren allseitigen, bis ins grenzenlos Kleine und Feine
heruntersteigenden Möglichkeiten der Differenzierung und mit ihrer gro¬
ßen Schmiegsamkeit und Bereitwilligkeit, gerade auf das Wesentliche und
Einzigartige des anderen Individuums einzugehen. Aber alle Reizbarkeit
Eindrücken gegenüber beweist doch nichts dafür, daß das, was hinter diesen
Eindrücken steht, das Erlebnis, das sie hervorgebracht hat und das sie
ausdrticken sollen, wirklich verstanden wurde; wie stark und fein auch die
Komplizierung des Zeichensystems werden kann, durch Verfeinerung wird
sie seine Grundparadoxie nie überwinden.
Daran schließen sich die theoretisch begründeten Gegenüberstellungen des
abstrakten, in sich bleibenden Begriffs und der das Wesen der sonst unaus¬
sprechbaren Qualität restlos treffenden Intuition an. Wobei jedoch stets
übersehen wird, daß mit der Betonung ihrer alleinigen konstitutiven Gewalt
gerade ihre Mitteilbarkeit zerstört wird: je mehr der Begriff, als Abstrak¬
tum, als dem »Wesen« Fremdes herabgesetzt wird, desto aussichtsloser
scheint es, mit den ihm verwandten Mitteln der Sprache das »Wesentliche«,
den eigentlichen Inhalt auch nur annähernd anzudeuten. Daß aber die auf
diese Weise zur Stummheit verurteilte Intuition bei allen Menschen die
gleiche ist, d. h. daß sie dieselbe metaphysische Essenz der Außenwelt als
Objekt, und Individuen, die in ihrer aufnehmenden Qualität wesensgleich
sind, als Subjekte hat, deren Identität nur durch das trübende Medium der
abstrakten Ausdrucksmittel verdeckt wird, kann gerade hier nur behauptet,
aber nie bewiesen werden. So wird aus naivem Selbsterhaltungstrieb nichts
unversucht gelassen, um diesen Abgrund zu überdecken. Und die praktische
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 21

Wirklichkeit mit ihren Apparaten, die die Reinheit des Erlebnishaften bloß
abschwächen, aber nicht aufheben, kommt dieser Bestrebung entgegen:
innerhalb ihrer matten Intensität scheint alles tadellos zu funktionieren und
nur ganz selten, in den trauervollen Zeiten der großen Verlassenheit, wird
dem Menschen der Erlebniswirklichkeit dieser Zwiespalt bewußt, wenn auch
wieder nur subjektiv, nur »erlebt«, nicht begriffen. ». . . alle diese Dinge /
Sind anders, und die Worte, die wir brauchen, / Sind wieder anders1«, sagt
eine Heldin von Hofmannsthal.
Inwiefern diese Lage der Dinge das ethische oder religiöse Verhalten beein¬
flussen kann, ist hier nicht unsere Aufgabe zu untersuchen; wichtig in diesem
Zusammenhang ist nur die eine Frage: ob Zeichen, in des Wortes weitestem
und umfassendstem Sinne, Erlebnisqualität überhaupt auszudrücken im
Stande sind. Wenn diese Frage ganz klar gestellt wird, d. h. wenn man unter
Ausdruck die vollständige Eindeutigkeit des Ausdrucksmittels, seine abso¬
lute Angemessenheit an Stoff und Inhalt und die ebenso unbezweifelbare
Kontrollierbarkeit, daß das Mitzuteilende tatsächlich mitgeteilt wurde, ver¬
steht, so muß mit der so gestellten Frage ihre Möglichkeit zugleich verneint
werden. Dann muß gesagt werden, daß wir über gar kein Mittel der
Kontrolle verfügen, noch uns überhaupt eins denken können, womit festge¬
stellt werden könnte, ob zwischen zwei erlebten Qualitäten, der ausge¬
drückten und der aufgenommenen, irgendein Verhältnis von Gleichheit
oder gar Identität besteht oder nicht besteht. Das Paradoxon der Ausdrucks¬
mittel, wovon diese Unmöglichkeit herstammt, ist folgendes: entweder
besitzen diese Mittel eine Tendenz zur Eindeutigkeit und Kontrollfähigkeit,
so sind sie abstrakt, Begriffe, und sind dem rein qualitativen Inhalt unange¬
messen; oder sie sind ihm adäquat, als qualitativ gefärbte, rein auf Ausdruck
der Qualität angelegte Zeichen und Andeutungen, so gibt es keine Möglich¬
keit festzustellen, ob sie — eindeutig, unverwechselbar und ohne Verfäl¬
schung — wirklich das mitteilen, was mit ihnen beabsichtigt wurde. Das
Zusammenstimmen-Scheinen der motorischen Reaktionen, der Einklang
von Stimmungen bei verschiedenen Menschen in einzelnen Lebenslagen
können hier nicht als Argument gelten, weil ihnen jede Nachweisbarkeit und
Nachprüfbarkeit fehlen muß; jede Anschauung aber, die in den einzelnen
qualitativen Erlebnissubjekten dieselbe qualitative, also letzten Endes erleb¬
nishafte und erlebbare Substanz als Erklärung der adäquaten Mitteilbarkeit

[ 1 H. von Hofmannsthal: Die Hochzeit von Sobeide. Erste Verwandlung.]


22 Philosophie der Kunst

erblickt, setzt eine Metaphysik voraus, die in dieser Sphäre und für sie nie
beweisbar sein kann, da die Paradoxie von Inhalt und Form für sie geradeso
wie für die nichtmetaphysische Untersuchung besteht und durch das
einfache Setzen einer einheitlichen Substanz hinter der Welt der Begriffe
durchaus nicht aufgehoben werden kann. Auch können religiöse oder zum
Religiösen zustrebende Erlebnisse hier nicht als Beweis dienen: das religiöse
Verhalten der Seele ist eine homogene Sphäre mit normativ-allgemeingülti¬
gen Maximen, so gut wie die ethische, logische oder ästhetische; sie muß
deshalb ebenso wie diese eine eindeutige Mitteilbarkeit sui generis ihrer
eigentlichen Inhalte besitzen, aber was Inhalt und was Form dieser Mittei¬
lung ist, kann nur durch die Analyse ihrer spezifischen Struktur entschieden
werden, und es ist keineswegs gestattet, eine eventuell dort auffindbare und
nachweisbare Art der Mitteilung in der reinen Erlebniswirklichkeit auch als
realisiert vorzustellen.
Was wir also hier als Tatbestand dieses Strukturzusammenhanges vorfinden
und zu begreifen haben, ist: der unauihebbare Wunsch nach Mitteilung, der
allgemeine Glaube, daß man wirklich das Gewollte mitgeteilt, beziehungs¬
weise in sich aufgenommen hat, das hie und da aufdämmernde Entsetzen,
daß alle Mittel des Ausdrucks unangemessen sind und die heftige Sehnsucht,
die dadurch entstandene Kluft zu überbrücken — oder zu vergessen. Demge¬
genüber steht die eben festgestellte Paradoxie aller Ausdrucksmittel im
Verhältnis zur reinen Qualität und die Tatsache, daß die Summe alles
Mitgeteilten sich dennoch zu einer als Selbstverständlichkeit erlebten Conti-
nuität und Cohärenz zusammenballt. Dieses Faktum der Mitteilung zwängt
uns einen neuen Begriff der Form als Ausdrucksmittel des Erlebnisses auf.
Da die selbstverständliche Adäquatheit und immanente Homogeneität der
Ausdruckstormen sich als trügerisch erwiesen haben, müssen wir erst durch
ihre getrennte Zergliederung als Ausdruck und als Eindruck die Vorbedin¬
gungen dieses Begriffes genügend aufklären, um dann seine wahre Struktur
erkennen zu können. Von dem Moment des Aufnehmens, des Verstehens der
Zeichen aus betrachtet, erweist sich die Ausdrucksform nun als etwas auf
Suggestibilität Angelegtes. Jede Mitteilung kann in uns ein gewisses Erlebnis
von rein qualitativer, subjektiv-unvergleichbarer Art hervorrufen, welches
wir, da es in uns durch die von außen auf uns zukommende Ausdrucksform
und ihren Urheber erweckt wurde, in seinen Ausgangspunkt, den Mittei¬
lenden hineinprojicieren und es, als sein Erlebnis, nacherleben. Je intensiver
dieses Nacherleben ist, desto spontaner wird sich der Prozeß des Hineinpro-
jicierens vollziehen und mit der einzigen Ausnahme gewisser, rein praktisch-
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 23

emotionaler Gegenwirkungen, die prinzipiell nicht in Betracht kommen


können, ist diese Intensität für das Subjekt das Kriterium des Verstandenha¬
bens von der Seite des Aufnehmens. Eine ähnliche, auf Suggestion und
Intensität hinstrebende Richtung zeigt auch die Form als Äußerung des
Erlebnisses; nur ist hier der Drang nach Wirkung auf den anderen von noch
reinerem emotionalem Charakter. Der Grad der Vollkommenheit in der
Mitteilung entsteht einerseits aus dem sie begleitenden Gefühl, daß man sich
wirklich ausgedrückt hat, welches Gefühl durch ein Erlebnis von Intensitäts¬
gleichung des ursprünglichen Erlebnisses mit dem emotionalen der Aus¬
drucksbewegungen bestimmt ist, andererseits erprobt und kontrolliert es sich
durch die Intensität im rückwirkenden Charakter des geäußerten Eindrucks
beim Aufnehmer. Wir sehen also, daß das wesentliche Erlebnis von Sich-
mitteilen-können und Verstanden-werden von der Spontaneität und Inten¬
sität unmittelbarer Wirkungen und Gegenwirkungen abhängt, welche ihrer¬
seits Funktionen der Suggestionskraft in den Formen des Ausdrucks sind.
Aus dem unmittelbaren und nie durchbrechbaren Charakter der Erlebnis¬
sphäre folgt nun die für sie notwendige Illusion, daß starker, reicher und
spontaner Eindruck Zeichen und Gewähr für wirkliche Mitteilung ist.
Eine andere, noch pragmatischere und für das unmittelbare Erleben noch
kräftigere Gewähr bietet die Continuität der reinen Erlebniswelt. Indem
alles (selbst das Ausbleiben des Erlebnisses) irgendwie doch ein Erlebnis ist,
entsteht eine undurchbrechbare Stetigkeit und Dichtigkeit, die durch ihr
Bestehen-können, dadurch, daß sie funktioniert, Garantien für das Un¬
problematische ihrer Grundstruktur zu bieten scheint. Aber dieses Funktio¬
nieren ist - wie jeder pragmatische Beweis - kein wirklicher Beweis, d. h.
es kann durch ihn nur aufgezeigt werden, daß es in der reinen Erlebnis¬
wirklichkeit Strukturbedingungen der Erlebnisformen gibt, die die prakti¬
sche und erlebnishafte Stetigkeit dieser Sphäre bestimmen; daß diese aber
die Mitteilbarkeit des wahren Erlebnisinhaltes und seiner entscheidenden
Qualität als Grundlage besitzen oder zur Folge haben, kann so nie bewiesen
werden. Das tiefe und feine orientalische Märchen von Togrul Bey und
seinen Kindern (aus dem Buch von den vierzig Vezieren) kann das hier
Gemeinte drastisch illustrieren. Hier handelt es sich darum, daß ein christli¬
cher Prälat an dem Hofe eines orientalischen Herrschers durch Gebärden
Fragen stellt, die schließlich nur ein Derwisch — ebenfalls durch Zeichen —
zu beantworten vermag; und sie scheiden in dem Glauben, sich gegenseitig
verstanden zu haben, wo doch jeder von ihnen einen ganz anderen Inhalt
seinen Zeichen gegeben hat. Da aber die Zeichen pünktlich den gegensei-
Philosophie der Kunst
24

tigen Erwartungen entsprachen, sah jeder in den (inhaltlich ganz anders


gemeinten) Zeichen des Anderen die Antwort auf seine Frage usw. Diese
Continuität, die durch die Erfüllung jedes fremden Zeichens durch eigene
Erlebnisqualität und durch ihre Projektion als Realgrund in den Träger des
Zeichens entsteht, erhält sich durch die Flüssigkeit ihrer Inhalte und durch
die Flüchtigkeit ihrer Formen: solange diese Continuität nicht brutal abge¬
brochen wird, kann alles, was den Erwartungen des Subjekts widerspricht,
doch aufgesaugt werden, weil infolge der neuen Erlebnisse sowohl die
Erwartungen für die kommenden Erlebnisse, wie die Erinnerungen der
Erwartungen Vergangenem gegenüber sich in mehr oder weniger gleiten¬
dem Übergang verschieben und den veränderten Umständen anpassen. So
ist die Continuität der Erlebniswirklichkeit gerade wegen des ständigen
Flusses ihrer bestimmten und bestimmbaren Inhalte, deren Flüssigkeit mit
ihrer Gebundenheit an die subjektive Qualität des unmittelbaren Erlebnisses
zusammenhängt, möglich geworden; und das empirische, erlebende Subjekt
geht, solange es möglich ist, nicht darüber hinaus. Diese unentschiedene
Unmittelbarkeit ist ja sein natürliches Lebenselement als empirisches Sub¬
jekt und diese Continuität scheint für seine Existenz auszureichen: alle
Eindrücke einer weiten und bunten äußeren Welt können unmittelbar
aufgenommen werden und die Unfähigkeit des Subjekts, etwas außerhalb
seiner eigenen Erlebnisqualität zu erleben, wird von ihm nicht als Einge-
sperrtsein in die eigene Individualität, nicht als Kerker erlebt. Und es zeigt
sich: je feiner und differenzierter diese eigene Qualität der Erlebnisse ist,
desto weniger wirkt sie als Kerker für das Individuum, desto weniger
empfindet es das Bedürfnis über die Unmittelbarkeit der — im letzten
Grunde — solipsistischen reinen Erlebnissphäre hinauszugehen, um eine —
mittelbare — Sphäre der Gemeinsamkeit zu erreichen.
Aber die äußere Wirklichkeit, die sich den Erlebnissen darbietet, zerreißt
immer wieder diese Continuität und selbst der stärkste Wille zum
Verbleiben in ihr wird durch den äußeren Weltlauf gekreuzt: die Conti¬
nuität kann so vehement und brutal zerrissen werden, daß der gleitende
Übergang von Erwartung zu Erinnerung und vice versa nicht mehr aufrecht
zu erhalten ist, daß dem erlebenden Individuum die reflexive, keinen
Gegenstand treffende, immer nur seine Subjektivität ausdrückende Wesens¬
art seiner Erlebnisse bewußt wird, daß ihm so seine zusammenhängende
Welt entschwindet und es einer leer und sinnlos gewordenen Wirklichkeit
gegenübersteht. Die stärkste und sichtbarste Durchbrechung der Erlebnis-
continuität ist der Tod: er ist der Hauptgrund dafür, daß es keinen
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 25

Menschen geben kann, der nie die Continuität der Erlebniswirklichkeit


verläßt, um sich in eine Welt der verbundenen, gleichgemachten Subjekte,
in eine Welt der Gemeinsamkeit und der homogenen Formen zu retten.
Darum konnte Schopenhauer sagen: «Der Tod ist der eigentliche inspiri-
rende Genius oder der Musaget der Philosophie, . . . Schwerlich sogar
würde, auch ohne den Tod, philosophirt werden1.« Uns aber ist es hier nicht
so sehr um die Wirkung des Wissens von dem eigenen Tode auf das erle¬
bende Subjekt zu tun, als um den Tod der anderen, mit allen qualitativen
Verfälschungen in das Leben des einen Subjekts hineinspielenden Individu¬
en. In den Einleitungsseiten meines Essays über Beer-Hofmann (in dem
Band »Die Seele und die Formen«) habe ich versucht, die Phänomenologie
dieses Abreißens der .Erlebnisstetigkeit zu skizzieren: in dem Tode des
anderen Menschen offenbart sich plötzlich seine Fremdheit zu uns, »denn
jede Illusion der Menschenkenntnis wird nur durch die neuen Wunder und
erwarteten Überraschungen des steten Zusammenseins gespeist . . . Zusam¬
mengehörigkeit wird nur durch Kontinuität lebendig erhalten, und wenn
diese reißt, verschwindet selbst die Vergangenheit; denn alles, was man von
einem andern wissen kann, ist nur Erwartung, nur Möglichkeit, nur Wunsch
oder Angst, nur ein Traum, der irgend eine Realität erst durch ein späteres
Geschehen bekommen kann . . . Und jeder Riß . . . zerreißt nicht nur die
Zukunft für alle Ewigkeit, er vernichtet auch die ganze Vergangenheit2.«
Darum ist aber dieser Tod nichts Einzigartiges und Isoliertes: nur an Inten¬
sität und Endgültigkeit übertrifft er »die tausend Gräben und Schlünde
irgend eines Zwiegespräches«3.
Denn die Continuität der Welt in der Erlebniswirklichkeit ist nur für das
erlebende Subjekt notwendig und wird nur durch die Weite und Schmieg¬
samkeit in dessen qualitativem Apriori den Erlebnismöglichkeiten gegen¬
über garantiert; und dafür, daß die Welt der wirklich gewordenen Erlebnisse
dieser Subjektivität nur irgendwie angemessen wäre, gibt es keine Gewähr,
ja sehr gewichtige Gründe für die Annahme des Gegenteils. So wird jedes
Individuum immer wieder zum Verlassen der Erlebmswirkhchkeit gedrängt;
wenn ihre Continuität reißt, erscheint sie wie ein Traum und die Welten der
Gemeinsamkeiten wie Welten der wahren Wirklichkeit. Dieses Erwachen ist

[1 Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke. Hrsg, von E. Griesebach.
Leipzig, Reclam. 2. Abdruck. Bd. n. S. 542.
2 Die Seele und die Formen. Essays. Berlin, Fleischei. 1911. S. 232—3.
3 Ebenda, S. 234.]
z6 Philosophie der Kunst

aber ein Aufgeben der Unmittelbarkeit (logisches Denken, ethisches Han¬


deln nach Maximen etc.), und die Unmittelbarkeit wird stets als die eigent¬
liche Heimat des Subjekts von ihm empfunden werden.
Die Kunst scheint nun dazu prädestiniert zu sein, um diese Lücke auszufül¬
len: alle Flüchtigkeit und Flüssigkeit der bloßen Erlebnissphäre hat sie
hinter sich gelassen und sich zu einer weit über Menschen und Zeiten hinaus¬
gehenden Objektivität erhoben, und in ihren unmittelbaren Wirkungen
treffen sich und vereinen sich die allein gebliebenen Subjekte. Die Kunst
scheint die Sphäre zu sein, in der die Unmittelbarkeit der Wirkung nicht auf
Kosten ihrer Eindeutigkeit erreicht wird und damit scheint jede Angst und
Sorge um das Eingesperrtsein des Individuums in sein Subjekt gehoben: es
scheint nur ein Mangel an Ausdrucksfähigkeit zu sein, ein empirisches, über¬
windbares Hindernis, was die Subjekte so voneinander scheidet; der voll¬
kommene Mensch, das künstlerische Genie sprengt diese Mauern und kann
sich völlig und restlos mitteilen. »Und wenn der Mensch in seiner Qual
verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.« Daß dieser Wunsch
der Kunst gegenüber entstehen mußte, ist begreiflich, doch diese Einsicht ist
noch kein Argument für das Begründetsein dieser Hoffnung. Denn worin
unterscheidet sich die Kunst — wenn wir sie als unmittelbaren Ausdrucksakt
des Mitteilungsprozesses fassen - gerade im wesentlichen Punkt, in der
Eindeutigkeit und Kontrollierbarkeit dessen, daß wirklich der mitzuteilende
Inhalt mitgeteilt wurde, von den anderen Mitteilungsformen der Erlebnis-
Wirklichkeit? Auch ihre Zeichen sind nur Zeichen und tragen denselben
verwirrenden Fluch des Zeichen-seins an sich, und das Erlebnis ihrer
Wirkung ist — vom Standpunkt der Erlebniswirklichkeit aus betrachtet — nur
an Intensität den anderen Erlebnissen überlegen; sonst trägt die Kunst
keinerlei Gewähr dafür in sich, das »Wesen« des Erlebnisses, das hinter ihr
steht, das sie »ausdrückt« wirklich und unverfälscht mitgeteilt zu haben. Im
Gegenteil, je unmittelbarer und tiefer ihre Wirkung ist, desto sicherer ist es,
daß die Kunst als Ausdruck und Erlebnis sich von den anderen Erlebnissen
gerade in bezug auf Sicherheit der inhaltlichen Eindeutigkeit nicht unter¬
scheiden kann: das Wesenszeichen der ganz tiefen künstlerischen Wirkung
ist eben, daß in ihr das erlebende Subjekt gerade sich selbst am allertiefsten
empfindet, daß es das, was in der Kunst geoffenbart wird, gerade als das
Offenbarwerden seines allerpersönhchsten Wesens erlebt, wenn sich diese
Persönlichkeit auch zu einer ganzen Welt zu weiten scheint. Ein Beweis, ja
selbst der Weg zum Aufsuchen eines solchen, daß dieses tiefe Erlebnis mit
dem Erlebnis, das das Werk hervorgebracht hat, seiner Qualität oder selbst,
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 27

seinem Inhalt nach identisch wäre, ist nicht zu erbringen. Was im Gefühl
dafür spricht, daß eine so tiefe und echte Empfindung unmöglich gegen¬
standslos, ja betrügerisch sein könne, bringt die Wirkung der Kunst erst recht
in die Nähe des Mitteilungsprozesses der Erlebniswirklichkeit, wo die Illu¬
sion lebendig war, daß die Suggestionskraft der Mitteilungsformen die
Garantie für ihre Fähigkeit zur wirklichen Mitteilung biete. Indem diese
Illusion, wegen des Verharrens in der Erlebnissphäre, nicht als Illusion
erkannt und in der Suggestionskraft ein wirkliches Vehikel der Mitteilung
erblickt wurde, konnten die Wirkungen der Kunst fast übergangslos als
gerade Fortsetzungen der natürlichen Beeindruckbarkeit aufgefaßt werden.
So mußten Anschauungen entstehen, wie die von Hemsterhuys, daß das
Schöne dasjenige sei, welches uns die größte Menge von Ideen in der kürze¬
sten Zeit gewährt. So mußte aber auch durch eine solche Anschauung, in der
die Kunst als adäquater Ausdruck einer gemeinsamen und mitteilbaren
Substanz gefaßt wurde, das eigentliche Kunstwerk — als bloßes Vehikel
dieses Mitteilungsprozesses — immer mehr übersprungen und die Kunst zum
Mitteilungsprozeß zwischen Schaffendem und Genießendem herabgesetzt
werden.
Erst wenn diese Illusion als Illusion, zugleich aber als allgemeines und unent¬
behrliches Element der Mitteilung von Erlebnissen erkannt wird, erlangen
wir die Möglichkeit, den Begriff dieser Form zu fassen. Wenn sich die
adäquate inhaltliche Mitteilung als unbeweisbar gezeigt hat, so wird man für
das dadurch nicht aufhebbare Faktum und das Funktionieren des wie immer
gearteten Ausdrucks eine andere Garantie suchen müssen. Dann wird man
die Mitteilungsform genauer ins Auge fassen und in ihr ein Schema erblik-
ken, welches zwar nur ein abstraktes und darum inadäquates Zeichen, aber
doch ein Zeichen für das Erlebnis ist, und deshalb über eine gewisse Kraft
zum Erwecken neuer Erlebnisse und zur Suggestion der Erlebnisintensität
verfügt. Das Wesen dieses Schemas ist durch seinen möglichst qualitativen
und unmittelbaren Charakter bestimmt, dadurch daß darin alles Allgemei¬
ne, Abstrakte, Begriffliche nur ein notwendiges Übel ist, daß es sowohl zu
seiner Eindrucks-, wie zu seiner Ausdrucksfunktion desto tauglicher ist, je
konkreter es sich gestaltet. Sowohl die relativ hohe subjektive Sicherheit, mit
der geringe und zweifellos völlig unbeabsichtigte Einzelheiten der Äußerun¬
gen am deutlichsten eine Persönlichkeit zu bezeichnen und zu verraten
scheinen (die ganze Methode Lermoliefs in der Bestimmung der Maler zwei¬
felhafter Bilder beruht auf dieser Voraussetzung), wie die menschliche Nähe
und Stärke des Glaubens am Zusammengehören und Sich-Verstehen, die aus
28 Philosophie der Kunst

eben diesen und nicht den rationalen und rationalisierbaren Elementen der
Mitteilungsform entspringen, weisen eindeutig darauf hin. Während
abstrakte, gewollte und kontrollierbare Mitteilungsformen nur zu rein prak¬
tischen Zwecken, also zu den niedersten und abgeschwächtesten Funktionen
der Erlebnissphäre ausreichen. Damit wäre der deutlich zum Qualitativen
hinstrebende, es aber dennoch nie erreichende Charakter dieser Form
erkannt; dieser Charakter hat aber das inhaltliche Mißverständnis jeder
Äußerung zur notwendigen Folge.
Die paradoxe Struktur dieses Schemas besteht darin, daß es zur Illusion der
inhaltlichen Mitteilung vollständig ausreicht und diese dabei ebenso voll¬
ständig unmöglich macht. Diesen Charakter verdankt es dem Umstand, daß
das qualitative Apriori der erlebenden und ihr Erlebnis ausdrückenden
Persönlichkeit im Schema als Qualität und Intensität, als etwas ganz
Konkretes wirkt und so zur Übertragung von Intensität und Erweckung von
Erlebnisqualität fähig ist. Wobei jedoch Qualität und Intensität dem ange¬
hören, dem das Erlebnis mitgeteilt wird, und hierdurch zu seiner Qualität
und Intensität werden und von denen des Sich-Mitteilenden prinzipiell
verschieden sind. Denn dem reinen Erlebnis gegenüber ist jeder Ausdruck
inadäquat: ein Schema; dieses Schema erhält aber bei jedem erlebenden
Individuum eine Qualität sui generis, ja ist dem Wesen nach nichts anderes
als die Projektion der Subjektivität des Erlebenden auf die »Träger« seines
Erlebnisses, es ist die unmittelbare »Weltanschauung« des Individuums, die
Färbung, das Cachet, das die ganze von ihm erlebte Welt von ihm erhält.
Daß es sich hier um ein Apriori des Erlebnisses handelt, beweist die umfor¬
mende Kraft dieses Schemas den Erlebnissen gegenüber: jeder Mensch erlebt
unmittelbar nur die eigenen Möglichkeiten des Handelns, Empfindens etc.
bei anderen Menschen, und ein Motiv, das seiner Psyche — der Qualität und
der Möglichkeit nach — ganz fremd ist, wird er nur bei sehr hoher Intellek-
tualität und geringer Erlebnisintensität sich überhaupt vergegenwärtigen
können. Freilich sind Breite und Intensitätsskala dieses Schemas bei den
verschiedenen Persönlichkeiten total voneinander verschieden, aber jedes
Schema umfaßt die ganze, für das betreffende Subjekt erlebbare Welt; es
kann für das Subjekt nichts existent werden, was nicht durch das Schema
umgearbeitet wäre. Darum bedeutet aber (für das erlebende Subjekt) die
Breite seines Schemas die Weite der Welt und seine Intensitätsskala die
Grenze menschlicher Erlebnismöglichkeiten. Wenn also ein Mensch von
dem tiefsten oder stärksten Gefühl z. B. spricht, so meint er die größte Inten¬
sität des Gefühls, die für ihn erlebbar ist, und Tiefe, Stärke etc. bedeuten die
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit
29

durch sein Schema vorgezeichneten, entsprechenden Erlebnisqualitäten.


Und wenn das Subjekt durch einige, seinem gewöhnlichen Wesen sehr
fremde Erlebnisse getroffen wird, so hört das Funktionieren seines Schemas
doch nicht auf: die »Träger« dieser Erlebnisse werden, solange das Schema
des Subjekts ausreicht, durch ferner liegende und verborgenere Möglichkei¬
ten seiner Erlebnisquahtät ausgestattet und so noch immer innerhalb der
apriorisch bestimmten Qualität des erlebenden Subjekts unmittelbar nacher¬
lebt. Menschen, denen gegenüber selbst diese unmittelbare Auslegung nicht
möglich ist, wird das Subjekt der Erlebniswirklichkeit als »pathologisch«,
krankhaft, wahnsinnig etc. erleben. (Daß diese Bedeutung des Pathologi¬
schen als Synonim für das Nicht-Nacherlebbare sich nur auf das unmittelbar
erlebende Subjekt bezieht und nichts mit der medizinisch-psychologischen
Bedeutung dieses Begriffs zu tun hat, muß wohl kaum eigens betont
werden.)

Der Drang des Subjekts nach Mitteilung ist von demselben Motive bestimmt,
nur zeigt er sich notwendig in anderer Weise: das sich äußernde Subjekt
wird sich unwillkürlich bestreben durch Mittel, die mit seinem qualitativen
Erlebnisapriori enger Zusammenhängen, als die aus der Sphäre der Gemein¬
samkeit stammenden Worte, mit Gebärden, Stimmitteln, Betonungsnuancen
etc. gerade dem ihm Wesentlichen, dem Qualitativ-Einzigartigen seines
Erlebnisses Ausdruck zu verleihen. Dadurch ist aber die Unaufhebbarkeit
des Mißverständnisses notwendig gemacht. Denn erstens kann man durch
diese qualitativen Ausdrucksmittel nur die Qualität des Erlebnisses ausdriik-
ken oder suggerieren, um seinen Inhalt anzudeuten, sind die - im Vergleich
dazu-immer abstrakten und inadäquaten Worte doch unentbehrlich. Zwei¬
tens vermischen sich diese qualitativen und qualitätsfremden Ausdrucksele¬
mente im Ausdruck selbst zu einer unentwirrbaren neuen Einheit, in der die
Beziehung des abstrakten Zeichens zur nach Ausdruck ringenden Qualität
für den Aufnehmenden notwendig eine andere sein muß, als bei dem Sich-
Mitteilenden; es wird z. B. zur Bezeichnung eines Erlebnisses eigens ein
Wort gewählt, weil es für den Sprechenden von Erinnerungen, die sich auf
seine Erlebnisse beziehen, erfüllt ist, für den Hörenden ist aber dieses Wort
entweder ganz erlebnisleer oder seine eigenen Erlebnisse assoziieren sich
daran, wodurch es einen ganz anderen als den beabsichtigten Accent erhält;
und weil die Einheit von Wort und Betonung auch für ihn unabwendbar ist,
wird die Auslegung mit seinen eigenen Erlebnissen in Beziehung gebracht.
Drittens kann die Wirkung der qualitativen Ausdrucksmittel nie eine andere
sein, als ein Eindruck, ein Erlebnis (das ist ja auch die Absicht des Sprechen-
Philosophie der Kunst

den); aber dem Erlebnis des Zuhörenden gegenüber gilt auch alles, was über
das Erlebnis des Sprechenden bestimmt wurde: es kann nur die eigene
Qualität des Erlebnisses erlebt werden. Daß die Intensität des Erlebnisses,
wenn auch mit der subjektiven Projektion der eigenen Erlebnisqualität,
übermittelt werden kann, scheint freilich ein Zeichen dafür zu sein, daß die
Isolierung der erlebenden Subjekte doch nicht so vollständig ist, wie sie sich
in unserer Analyse gezeigt hat. Und wenn wir es hier nur wieder betonen
müssen, daß das Intensitätserlebnis auch nur ein Erlebnis der eigenen Inten¬
sität ist, so scheint sich hier doch eine gewisse Art der Gemeinsamkeit festzu¬
stellen, die darauf hinweist, daß die Bedingungen des Erlebens überhaupt
oder wenigstens ein Teil von ihnen allgemein und allen Subjekten
gemeinsam sind. Es darf aber nicht vergessen werden, daß die Übertragbar¬
keit der Intensität auch nur eine Suggestion, keine Mitteilung ist, daß sie nur
in beschränktem Maße von der wirklichen Erlebnisintensität abhängt und
viel mehr von der motorisch-emotionalen, erlebniserweckenden Kraft der -
beinahe in sich selbständig gewordenen — Ausdrucksmittel; daß diese — bis
zu einem gewissen Grad — die Fähigkeit haben, eine, im Erlebnis schwach
vorhandene, Intensität stark zu suggerieren und daß sie, wenn sie keine
motorisch-emotionale Macht besitzen, die wirklichen Erlebnisintensitäten,
selbst bei verfälschter Qualität, keineswegs anzudeuten vermögen. Dazu
kommt noch die Undurchdringlichkeit der Ausdrucksmittel: wenn eine
Intensität wirkt, so ist es so gut wie unmöglich zu entscheiden, ob sie aus dem
Erlebnis stammt oder von den Ausdrucksmitteln hervorgebracht wird; für
den Erlebenden sind das mitgeteilte Erlebnis und seine Mitteilung unzer¬
trennbar miteinander verflochten. Diese Möglichkeit der Übermittlung
kann also nur auf eine ganz abstrakte Gattungsgemeinsamkeit hindeuten,
die für den Aufbau einzelner Werksphären sehr wichtig ist (z. B. die Gesetz¬
lichkeit der motorisch-emotionalen Suggestion von Intensität für die Ästhe¬
tik), aber keine wirkliche Gemeinschaft der Subjekte innerhalb der reinen
Erlebniswirklichkeit statuieren kann. Dieser fast völlig freischwebende Cha¬
rakter der Ausdrucksmittel ist allerdings durch die Continuität der Erlebnis¬
wirklichkeit und ihr subjektives Äquivalent und Organ, das Gedächtnis,
wesentlich gemildert und corrigiert: wenn die Eindrücke, die ein Subjekt
dieser Sphäre von einem andern erhält, zu einem intuitiv erfaßten Gesamt¬
bild zu convergieren scheinen (das eventuell sowohl intellektuell formuliert,
wie emotional ausgedrückt werden kann, z. B. durch das sichere Vorgefühl,
wie die betreffende Persönlichkeit in einer bestimmten Lage handeln,
empfinden etc. würde), so könnte man darin auch etwas wie eine Aufhebung
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit
3i

dieser Isoliertheit erblicken. Jedoch unsere frühere Analyse dieser Continui-


tät konnte uns davon überzeuge^, daß auch hier vergebens eine Garantie für
die Übermittlungsfähigkeit des eigenst Persönlichen, des unmittelbar Erleb¬
ten möglich ist. Wir haben gesehen wie labil, schwankend und gleitend diese,
dem Gefühl nach so sichere Convergenz in Wahrheit beschaffen ist. Und wir
müssen hinzufügen, daß selbst durch ihre höchste erreichte Vollendung nur
soviel bewiesen werden kann, daß das qualitative Erlebnisapriori die Fähig¬
keit hat, ganze Menschen und verwickelte Totalitäten zu umfassen, sie mit
der eigenen Qualität und Intensität zu durchdringen und so das eigene
Subjekt mit zusammenhängenden Spiegelungen fremder Subjekte zu bevöl¬
kern. Dies alles kann aber nur die eigene Qualität haben und wird von
keiner das Erlebnisapriori durchbrechenden, das fremde Wesen treffenden
Intuition, sondern von dem Apriori selbst geleistet: der Kerker der eigenen
Individualität hat sich zu einer Welt geweitet — ein Kerker ist sie dennoch
geblieben. (Damit kann freilich gegen die Möglichkeit einer religiösen Intui¬
tion nichts gesagt werden: die bezieht sich auf die Objekte der religiösen
Sphäre und trifft - um bei unserem Fall zu bleiben - die »Seele« des Indivi¬
duums; daß aber diese »Seele« mit dem unmittelbar gegebenen Subjekt der
Erlebniswirklichkeit identisch wäre, dafür ist, hier wenigstens, kein Beweis
zu führen. Selbst wenn es eine Religion gäbe, die den Begriff der Seele mit
dem des erlebenden Subjekts vollständig identifizierte, so würde dies auch
nur für die Eindeutigkeit der unmittelbaren Mitteilung innerhalb und sub
specie der religiösen Formen ein Beweis sein und mit dem Mitteilungsprozeß
der Erlebniswirklichkeit nur das Objekt, nicht aber die Struktur gemeinsam
haben.) Die Paradoxie in der Mitteilung der Erlebnisse zeigt sich also darin,
daß jedes Ausdrucksmittel sich verselbständigt und eine eigene Gesetzlich¬
keit erhält: indem die einzige Möglichkeit, das wirklich Unmittelbare am
Erlebnis mitzuteilen, die Suggestionskraft der Mitteilungsformen ist,
bekommen diese ein eigenes Leben. Sie erhalten die Fähigkeit, Erlebnisse zu
erwecken, eröffnen aber dadurch nicht den Kerker der Individualität für
den Sich-Mitteilenden, denn seine Erlebnisintensität schafft nur in sich selb¬
ständige Formen, durchbricht jedoch seine Schranken nicht; und sie können
für den Aufnehmenden nur seine eigene Welt bereichern, doch niemals -
durch Einströmenlassen von fremder Qualität - ihr Abgeschlossensein auf-
heben.
Dies ist das tiefe Elend und die unaufhebbare Vereinsamung des Menschen
der Erlebniswirklichkeit; jede Annäherung an etwas »Allgemeines« im Aus¬
druck macht diesen von vornherein unmöglich und das wirklich Eigene
32
Philosophie der Kunst

gewinnt durch das Faktum des Ausdrucks eine vom Äußernden, seinem
Wollen und Wesen unabhängige und losgelöste Form, die eine eigene
Dialektik, eigene unabhängige Wirkungsfaktoren und dazu eine undurch-
dringbare Immanenz besitzt. Denn die grausame und tückische List dieser
Form besteht eben darin, daß sie den Drang nach Äußerung auf die größte
Intensität im rein Qualitativen zutreibt, der Äußerung die hinreißende und
bezaubernde Macht der unmittelbaren Wirkung verleiht, Wirkung, Wirken¬
des und Gewirktes aber - eben durch das Vehikel der Wirkung, die Unver¬
gleichbarkeit des Qualitativen - nie zur Vereinigung und wirklichen Erfül¬
lung gedeihen, sie vielmehr in einem nie völlig lichtwerdenden Fielldunkel
des Beinahe verschmachten läßt. Der Solipsismus ist also - wie aus den
vorhergehenden Analysen schon klar geworden ist - der begriffliche
Ausdruck für die innere Struktur der Erlebniswirklichkeit, und jede Logik,
die aus dieser entwächst oder in sie zurückzukehren beabsichtigt, ist
gezwungen, die logische Möglichkeit des Solipsismus als etwas Unwiderleg¬
bares, wenn auch ebenso Unfruchtbares unerledigt hinter sich zu lassen. Der
Solipsismus ist, nach Schopenhauers Worten, »eine kleine Gränzfestung, die
zwar auf immer unbezwinglich ist, deren Besatzung aber durchaus auch nie
aus ihr herauskann, daher man ihr Vorbeigehen und ohne Gefahr sie im
Rücken liegen lassen darf«1. Diese schwankende Stellungnahme ist nur
durch die - aus eigener Kraft und Substantialität gesicherte - Macht des
Begriffes, der sich definitiv von der Erlebniswelt abgelöst hat, aufhebbar. Ob
diese selbständige Bedeutung des Begriffs, als Form der Logik und Vehikel
ihrer nachweisbaren und allgemeinen Bestimmtheit, einen methodologi¬
schen oder metaphysischen Accent hat, ist hier einerlei; wichtig ist, daß
weder die logische Allgemeingültigkeit irgendwie diese Heterogeneität der
Subjekte zu überwinden bestrebt sei, noch daß man in dem erreichten meta-
subjektiven logischen Medium der Gemeinsamkeit und Eindeutigkeit ein
verbindendes Medium für die Getrenntheit der Subjekte in der Erlebnis¬
wirklichkeit erblicke. Denn einerseits werden dadurch beide Sphären mit¬
einander vermischt und der Logik für sie unauflösbare (weil ihrem Wesen
nach nicht ihr aufgegebene) Probleme aufgebürdet, andererseits wird dann
die wahre Struktur der Erlebniswirklichkeit verdunkelt und die homogenen
Werksphären, die in Beziehung zur Erlebbarkeit stehen (Ästhetik z. B.), von

[i Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke. Hrsg, von E. Griesebach.
Bd. i. S. 157.]
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 33

vornherein durch einen falschen Begriff des Erlebnisses mit unfruchtbaren


und Verwirrung stiftenden Voraussetzungen beladen. Jedoch weder für
irgendeine Normwissenschaft, noch für den einzelnen, nach Klarheit ringen¬
den Menschen (also weder phänomenologisch, noch psychologisch) ist diese
scharfe und genaue Scheidung von Erlebniswirklichkeit und Normensphäre
ohne weiteres gegeben, und der Zustand der Erlebniswirklichkeit, mit der
Verlockung ihrer Unmittelbarkeit und der Gefahr ihrer Vereinsamung,
bleibt für jede Systematik ein ewiges Problem. Ob die Entfernung aus ihr
sich als eine — religiös-metaphysische — Flucht in die Logik und die Ethik
vollzieht, oder ob, nachdem die von ihr total unabhängige Logik und Ethik
sichergestellt sind, eine Wiederannäherung, als Grundlegung für Ästhetik
oder Religionsphilosophie, vollzogen wird, ist schon eine Detailfrage, die
uns hier nicht zu beschäftigen hat. Wenn wir dennoch einige Typen der
Lösungen andeuten, so wollen wir damit nur das Verhältnis von Ästhetik
und Erlebniswirklichkeit zu größerer Klarheit bringen.
Dem griechischen Rationalismus war hier das Gefühl des Entfliehens so
deutlich und so stark, daß für ihn das Aufsteigen einer wirklichen, nicht
mehr dem Mißverständnis ausgesetzten Mitteilbarkeit mit dem metaphysi¬
schen Accent des Teilhabens an dem Guten begleitet wurde, weil es für den
in die Isoliertheit der unmittelbar und sinnlich gegebenen Welt eingespon-
nenen Menschen unmöglich schien, sich ohne höhere Hilfe daraus zu erret¬
ten. So entstand im Begriff dessen, woran die Seele teilhaben kann, eine
neue, homogene, darum adäquat mitteilbare Substanz; und die Annäherung
an sie, das Wachsen der Mitteilbarkeit, ist zu einer ethisch-metaphysischen
Hierarchie geworden, in der, je mehr die schillernde, schwankende und
trügerische Masse des Erlebten, des Nicht-Seienden zurückwich, destomehr
die durch sie bewirkte Isoliertheit und Getrenntheit von den Menschen
abfällt und eine wirkliche Gemeinschaft zwischen ihnen erblüht. »Deshalb
haben auch die reinen und vorzüglich guten Menschen eine viel nähere
Verwandtschaft untereinander«1, sagt Platon. Kant, der den qualitativ
unvergleichbaren und darum zur Mitteilung nicht fähigen Charakter der
»passiven« Sinnlichkeit klar erkannt hat und auf die »Aktivität« und »Spon¬
taneität« des logischen und ethischen Verhaltens seine Logik und Ethik
aufgebaut hat, sucht in dem Begriff des Geschmacks als sensus communis ein

[i Sechste Enneade. Buch 7. Kap. 27. Übersetzt von M. Fr. Müller. Berlin, Weidmann.
1880. Bd. 2. S. 395.]
34 Philosophie der Kunst

Medium der Vermittlung zwischen den Welten der Normen und der Erleb¬
nisse als Grundlegung seiner Ästhetik. Der Prozeß des rapiden Verlassens
von allem, was mit Sinnlichkeit behaftet ist, die sehnsuchterfüllte Heimkehr
der befleckten und durch Unreinheit einsam gewordenen Seele zur Einheit
des Begriffs, scheint seiner klarsichtigen Gründlichkeit leichtfertig und zu
viel überschlagend. Er untersucht, ob es nicht erlebnisartige Verhalten gibt,
die man »jedermann ansinnen« kann und muß, die deshalb voraussetzen und
durch ihr Dasein beweisen können: »bei allen Menschen seien die subjek¬
tiven Bedingungen dieses Vermögens, was das Verhältnis der darin in Tätig¬
keit gesetzten Erkenntniskräfte zu einer Erkenntnis überhaupt betrifft,
einerlei«1. Durch diese Problemstellung, deren Notwendigkeit aus Kants
System wir später begreifen werden, wird aber unser Problem, wenn auch
nicht so kraß wie bei Platon, doch wieder überholt und nicht gelöst. Denn
was Kant aus dieser Zweideutigkeit rettet, ist kein Verhalten des erlebenden,
sondern das des über gewisse Erlebnisgruppen urteilenden Menschen: ein
logisches Verhalten. Wenn er also auch den »Geschmack« als »was unser
Gefühl an einer gegebenen Vorstellung ohne Vermittelung eines Begriffs
allgemein mitteilbar macht«2, definiert, so ist in diesem »ohne Begriff« doch
eben nur die Vorläufigkeit, das allmähliche Sich-zur-Klarheit-ringen dieser
Stufe gekennzeichnet, kein Positivum. Und ihre Sicherheit, Eindeutigkeit
und mithin ihre Mitteilbarkeit ist durch ihr unbewußtes, aber starkes
Hinstreben und Hindeuten zur wirklichen Reinheit: zur Logik und Ethik,
durch ihren Urteilscharakter und ihr Postulat der Allgemeingiiltigkeit
gewährleistet; dadurch, daß ihre Voraussetzungen »subjektive Bedingungen
der Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt sind«3, die bei allen Menschen
die »nämlichen« sein müssen. Der Zirkel, der hier begangen wurde, läßt sich
vielleicht so am kürzesten bezeichnen: die allgemeine Mitteilbarkeit dieses
Verhaltens, auf die sein Ansinnen jedermann gegenüber hinweisen soll, wird
durch die Urteilsform des Ausdrucks und deren notwendig allgemeine und
eindeutige (aber ebenso notwendig logische) Voraussetzungen bewiesen;
und infolge der Identifikation des »Verhaltens« selbst mit dem Urteil
darüber, kann die allgemeine Mitteilbarkeit dem Verhalten selbst zugespro¬
chen werden. Dem gegenüber aber haben wir zu fragen: kann die Allge-

[i Kritik der Urteilskraft § 38. Werke. Hrsg, von E. Cassirer. Bd. 5. S. 364.
2 Ebda. § 40. S. 369.
3 Ebda. § 39. S. 366.]
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 35

meingültigkeit des sogenannten ästhetischen Urteils eine andere Basis als die
logische besitzen, wenn deren Art auch wegen des ästhetischen Urteilsmate¬
rials eine eigene Nuance aufweist? Wenn diese Frage — was uns notwendig
erscheint — verneint werden muß, so zeigt sich: erstens, daß das sich im
Geschmacksurteil ausdrückende Verhalten schon an einem Wert orientiert
ist, also die Erlebnissphäre verlassen hat und eine durch dieses Verlassen
gewonnene Sicherheit in diese wieder zurückversetzt und damit die
Geltungssphäre seines begründenden Wortes über Gebühr verallgemeinert;
zweitens, daß jedes Identifizieren von Geschmackserlebnis und Geschmacks¬
urteil, ja selbst ihre allzustarke Annäherung aneinander, unstatthaft ist; drit¬
tens, daß das »jedermann Ansinnen« nur durch eine, ihm an sich nicht
zukommende, ethisch-logische Interpretation beweisfähiger erscheint, als
die von uns früher analysierte, nichts tragende und auf nichts treffende
Sehnsucht nach Aufhebung der Isoliertheit und die Illusion ihres Aufgeho¬
benseins. Das Mißverständnis der Ausdrucksform wird also auch bei Kant
nur durch das — nicht ganz bewußte — Verlassen der Erlebniswelt, durch eine
Intellektualisierung ihrer Struktur erreicht. Unsere Frage, die in dieser
Terminologie etwa so lauten würde: ob die allgemeine Mitteilbarkeit des
Geschmacksurteils irgendwelche Garantie für eine — wie immer aufgefaßte
— Gleichartigkeit der ihm zu Grunde liegenden Erlebnisse, also für die
Hebung des uns notwendig und konstitutiv scheinenden Mißverständnisses
zu bieten vermag, kann hier noch nicht einmal aufgeworfen werden; und die
von Kant aufgefundenen Möglichkeiten der Mitteilung können für unser
Problem gar nicht in Betracht kommen.
Freilich liegen in diesen Ausführungen Kants die wichtigsten Ansätze zu
einer fruchtbaren Strukturanalyse der Erlebniswirklichkeit. In einer solchen
dürfte der von uns immer stark pointierte negative Accent in der Mitteilbar-
keit weniger in der Negativität verharren wie in diesen Untersuchungen: es
müßte klargelegt werden, welche die positiven, zusammenhaltenden Struk¬
turbedingungen dieser Sphäre sind (z. B. die Beziehung des qualitativen
Erlebnisapriori zur empirischen Persönlichkeit; ihre Continuität und die
Möglichkeit ihrer Veränderung in Zusammenhang mit Gedächtnis etc. Und
in erster Reihe: ob sich in dieser, die Persönlichkeit konstituierenden Aprio-
rität nicht gewisse, wenn auch abstrakte, Gemeinsamkeiten zeigen, die die
Continuität der Erlebniswirklichkeit erklären können usw.). Es müßte also
nicht nur unser Problem, wie die Mitteilung nicht beschaffen ist, sondern
auch die Frage, wie sie in Wahrheit beschaffen ist, gelöst werden. Für uns
kam es aber auf etwas anderes an: nicht an sich haben wir die Möglichkeit
36 Philosophie der Kunst

des Ausdrucks und des Verstehens in der Erlebniswirklichkeit analysiert,


sondern um ihre Beziehung zur Grundlegung der Ästhetik festzustellen. Ist
doch die Stelle der Ästhetik im System der Philosophie, und damit die meta¬
physische Rolle der Kunst im Universum sehr stark durch dieses Verhältnis
bestimmt: die Wirkung der Kunst scheint in ihrer Unmittelbarkeit dem
aufnehmenden Erlebnis nahe verwandt zu sein und es sind sehr einleuch¬
tende Theorien des Schaffens konstruierbar, die in diesem nur eine reiner
und intensiver gewordene Form der Mitteilung überhaupt erblicken lassen.
Dann aber ist eine Wertsphäre erreicht, die aus der Erlebniswelt über¬
gangslos herauswächst und — im gestalteten Werk — nicht nur eine Stütze der
objektiven und allgemeinen Gültigkeit hat, sondern wegen der Adäquatheit
des Mitteilungsprozesses im Werk, im selbständig gewordenen Vehikel der
zur Vollendung gebrachten Mitteilung, ein über alle Subjektivität hinausge¬
hendes Organ für das -unmittelbare Erfassen des Weltsinns besitzt. Es muß
nur an die Ästhetik von Schelling, Hegel und Schopenhauer erinnert
werden, daß diese metaphysische Überspannung der Kunst sichtbar werde;
und letzten Endes liegt auch der Stellungnahme Platons und Plotins zur
Kunst eine ähnliche Anschauung zu Grunde (worüber jedoch ausführlich an
anderen Stellen zu sprechen sein wird). Hier kommt es nur darauf an, daß
dadurch die Endgültigkeit und Selbständigkeit der künstlerischen Gestal¬
tung und damit die Autonomie der Ästhetik aufgehoben ist. Wenn die
Ästhetik eine Wissenschaft fiir sich sein soll, und nicht eine propädeutische
Vorbereitung zur Metaphysik oder Religionsphilosophie, so muß sie von der
Voraussetzung ausgehen, beziehungsweise solche Voraussetzungen suchen,
die für ihren letzten Wert, das Kunstwerk, eine eigene, in sich abgeschlos¬
sene Bedeutung möglich machen. Sie muß, solange es ihr möglich ist, an der
Immanenz ihres Gebietes festhalten, und erst wenn es bewiesen wäre, daß
keine anderen Voraussetzungen zu finden sind, als solche, die die Kunst nur
als Moment in einem dialektischen Prozeß und nicht als etwas in sich Ferti¬
ges, die Ästhetik also nicht als immanente, sondern bloß als transcendie-
rende Disciplin bestehen lassen, die Möglichkeit ihrer Immanenz aufgeben.
Umso mehr als diese Immanenz im Wesen ihres letzten Wertes, dem Kunst¬
werk, stärker vielleicht als in jedem anderen centralen Wert anderer norma¬
tiven Sphären beschlossen liegt; weil mit der Aufhebung der Immanenz des
Werks sein Dasein als Werk aufgehoben ist. Damit scheint die methodische
Bedeutung unserer Untersuchung über den Mitteilungsprozeß in der Erleb¬
niswirklichkeit klar geworden zu sein: wenn in diesem Prozeß eine adäquate
inhaltliche Mitteilung möglich ist, so ist es denkbar, ja notwendig, daß sich
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 37

eine allmählich steigernde Hierarchie von dem unmittelbaren Erlebnisaus¬


druck zur unmittelbaren Gotteserkenntnis aufbaut, in der die Kunst, besten¬
falls, ein Durchgangsstadium ist; wenn es aber bewiesen ist, daß dieser
Prozeß zu keiner Mitteilung und Gemeinschaft tauglich ist, so sind die
Organe, mit denen das »wahre Wesen« ergriffen wird, von diesem radikal
verschieden und der Kunst wird die paradoxe systematische Stelle zugewie¬
sen, eine normative und allgemeine Unmittelbarkeit zu haben, einen objek¬
tiven überindividuellen Wert zu besitzen, der einerseits mit den subjektiven
Prozessen seiner Realisation notwendig verbunden ist, andererseits aber von
ihnen nie in seinem Wesen getroffen wird. Diese paradoxe und einzigartige
Stelle des Kunstwerks, als des ewig gewordenen Mißverständnisses, macht
erst die Selbständigkeit und Immanenz der Ästhetik möglich. Durch die
Ewigkeit, Allgemeinheit und Objektivität ihres Zentralwerts, ist sie scharf
von der Erlebniswirklichkeit geschieden; durch die Spontaneität und Erleb-
nishaftigkeit der normativen Wirkung des Werks, durch die Tendenz, nicht
über die trübe und isolierende Unmittelbarkeit der Erlebniswelt hinauszuge-
hen, ihr Mißverständnis nicht zu überwinden, ist jede mögliche Annäherung
an andere Wertsphären von vornherein ausgeschlossen. Die Kunst als »Aus¬
druck« erfordert eine in sich unselbständige, transcendierende Ästhetik, das
mißverstandene und dennoch wirkende Werk eine immanente. (Ob und
inwiefern diese methodische Stellung der Ästhetik für eine Metaphysik der
Kunst von Bedeutung ist, kann und soll hier nicht untersucht werden).
Jede Ästhetik, die von Künstlern oder am unmittelbaren Dasein der Kunst
interessierten Forschern geschaffen wurde, suchte die Lösung des Problems
in dieser Richtung. Gleichviel ob mit Semper in den Bedingungen des Mate¬
rials, mit Riegl im »absoluten Kunstwollen«, mit Fiedler-Hildebrand in der
produktiven Homogeneisierungskraft der »künstlerischen Tätigkeit« das
Wesen der Kunst erblickt wurde: immer lag diesen Bestrebungen die instink¬
tive Sicherheit zu Grunde, daß die Autonomie der Ästhetik nur durch die
resolute und scharfe Abtrennung des Kunstwerks von jedem wie immer
beschaffenen »Ausdruck« möglich ist; daß, um das Dasein des Werks
begreifen zu können, ihm eine ganz eigene, selbständige Gesetzlichkeit
zugesprochen werden muß. Aber bewußt hatten sie nur die unkünstlerische
Inhaltlichkeit im Aufnahmeprozeß beseitigen wollen, das Vorurteil als ob
die inhaltliche Erfüllung der Ergriffenheit des Receptiven ein Verstehen der
Absichten des Künstlers wäre, und glaubten, auf andere Art, doch an eine
restlose Mitteilbarkeit, nämlich an die des künstlerischen Wollens, oder
eventuell an die der Eigengesetzlichkeit des Materials. So wurde für sie (in
3« Philosophie der Kunst

erster Reihe für Fiedler) der Schaffensprozeß das absolut Normative: das
Werk ist die Realisation des rein gewordenen künstlerischen Wollens und
das der Erlebniswirklichkeit nahe, receptive Verhalten ist in seiner Inhalt-
lichkeit nur darum falsch und verwirrend, weil es nicht auf die wirklichen
Absichten des Künstlers eingeht. Damit ist aber einerseits das Wesen der
Receptivität verkannt; die Sehnsucht, die die Menschen zur Kunst führt, das
Wiederfinden-Wollen einer im Leben vergebens gesuchten in sich vollende¬
ten Welt wäre ein Irrtum, eine Vorläufigkeit, aus der mit den pädagogischen
Mitteln der Ästhetik das »richtige« Verhalten, das Kennertum, das Eingehen
auf die Absichten des Künstlers zu entwickeln wäre, wodurch aber die Kunst
zu einer Art von Atelier-Esoterik herabsinken würde. Andererseits ist aber
dadurch, daß der Schaffensprozeß das schlechthin Ausschlaggebende gewor¬
den ist, der einzig mögliche Ausgangspunkt der Ästhetik, ihre einzige »Tat¬
sache« aufgehoben: für Fiedler ist der Prozeß das Ewige, das Werk nur eine
Station, eine Objektivation, etwas Fragmentarisches; »die Aufgabe der
Kunst«, sagt er, ». . . bleibt immer dieselbe, im ganzen ungelöste und unlös¬
bare, und muß immer dieselbe bleiben, solange es Menschen gibt«1. So ist die
alte Eindeutigkeit nur mit entgegengesetztem Vorzeichen wiederhergestellt:
es gibt etwas, das mitgeteilt werden kann, und die Kunst ist nur das Vehikel
dieses »Ausdrucks«, nur daß der Inhalt problematischer geworden ist,
weniger allgemein, weniger allen Menschen gemeinsam. Die »Tatsache« der
Kunst bleibt eine wenig geklärte Gegebenheit; denn das Dasein des Werks
der Kunst erfordert zwar den künstlerischen Prozeß als Vorbedingung, kann
aber unmöglich in diesem allein seinen Sinn erhalten und durch diesen
seinen bloßen Tatsachencharakter verlieren. Wenn die künstlerische Tätig¬
keit das Einzige und das Letzte ist, was uns zur Erklärung dieser »Tatsache«
gegeben ist, so bleibt sie ebenso etwas schlechthin Gegebenes und Fiinzuneh-
mendes, wie sie früher war: die Bedeutung aber, die diese »Tatsache«
besitzt, und die in ihrer ganzen Schwere begriffen werden muß, liegt in dem
tiefen Bedürfnis nach Kunst in den nicht künstlerischen Menschen, in dem
hieraus unerklärlichen Dasein der Kunst, in dem systematischen und meta¬
physischen Sinn des Faktums der Kunst — und in der Tätigkeit, die zu ihr
führen muß. Indem dieses Motiv zum einzigen wird, entsteht die große Enge
und Ästhetikhaftigkeit solcher Theorien: letzten Endes müssen sie darauf

[i Uber den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit. Schriften über Kunst. Hrsg, von
H. Konnerth. München, Piper. Bd. i. 1913. S. 328.]
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 39

hinauslaufen, daß es merkwürdige, von allen anderen Menschen verschieden


organisierte Menschen gibt, die Künstler, aus deren psychologischen Ver¬
ständnis ihr Hervorgebrachtes, die Kunst zu verstehen ist. Wenn aber nur
durch ihr Verstehen die Kunst wirklich wirkt — wie ist das Faktum ihrer
historischen Wirksamkeit zu erklären? Wie ist es zu verstehen, daß ein und
derselbe kulturhistorische Geist alle Äußerungen einer Periode umfaßt, daß
Menschen, ohne auf das künstlerische Wollen einzugehen und es zu verste¬
hen, sich in den Werken ausgesprochen fühlen etc.? Riegl und seine Schule
fassen das Kunstwollen auch weiter, verwischen aber auch dadurch den von
Fiedler richtig erkannten Unterschied des spezifisch künstlerischen Wollens
und der »Weltanschauung«, und kommen, auf anderen Wegen, den älteren
Theorien der adäquaten Mitteilung und des Ausdrucks nahe. In beiden
Anschauungen ist aber das Mißverständnis, die notwendig inadäquate Mit¬
teilung, enthalten; zu der klaren Ablehnung der Kunst als »Ausdruck«
konnten sie aber doch nicht kommen: Riegl, weil er in einer geschichtsphi¬
losophisch-künstlerischen Gesamtauffassung nur das sich in den Werken (für
den Philosophen) ausdrückende Gesamtwollen untersucht hat und auf den
Aufbau und Unterbau dieses Systems nicht einging; Fiedler, weil er das —
richtig erkannte — künstlerische Schaffensprinzip zum einzigen Inhalt der
Ästhetik hypostasierte und in dem inadäquaten Erlebnis des Receptiven nur
eine pädagogisch zu überwindende Tatsache, nicht aber ein Strukturelement
der Ästhetik erblickt hat. In beiden Fällen hat aber das einzige Faktum,
worauf eine Ästhetik aufzubauen ist, seine Sicherheit verloren, es ist Mittel
einer (an sich problematischen) Mitteilung geworden, hat sich in einen
Prozeß aufgelöst. So ist aus keiner dieser bedeutenden Tendenzen eine
Ästhetik geworden: bei Riegl entstanden wichtige Ansätze zu einer
Geschichtsphilosophie der Kunst, bei Fiedler zu einer Phänomenologie des
Künstlers, die aber beide, weil sie nicht bewußt als solche gewollt wurden,
manches Unklare und Widerspruchsvolle an sich tragen. Dies tritt am klar¬
sten bei Fiedler zu tage, der die alte »Ausdrucks«-Ästhetik einfach umkehrt
und statt das inhaltlich mißverstandene receptive Erlebnis in den Künstler
zu projicieren und so einen adäquaten Strom der Mitteilung entstehen zu
lassen, das technisch-künstlerische Wollen des Schaffenden zum — ebenso
adäquat realisierbaren — Sollen des Receptiven macht. Daß dieses Sollen den
Normen jeder möglichen Ästhetik widerspricht, haben wir bereits erkannt,
daß es aber auch das Werk nicht zu erklären vermag, daß also nicht nur
zwischen Receptiven und Werk, sondern auch zwischen Schaffenden und
Werk eine paradoxe, inadäquate Beziehung besteht, zeigt sich in der — für
4° Philosophie der Kunst

Fiedler notwendigen — methodischen Consequenz; m dem Verzicht auf das


Werk als erreichtes Sein, in der Betonung seiner Unerreichbarkeit. Damit
hat Fiedler Schaffensprozeß und Werk getrennt, nur mußte er, in Folge
seiner Methode, das Werk als unrealisierbar fassen, statt die Paradoxie zu
pointieren, daß es zwar vom Schaffensprozeß aus unerreichbar, aber
tatsächlich realisiert ist. Es zeigt sich also, daß die Heterogenie der
Ausdrucksbewegungen von der Seite der Produktivität geradeso wenig auf¬
zuheben ist, wie von der Seite der Receptivität, daß der Werkgedanke die
Heterogeneität der auf das Werk zielenden Intentionen zur notwendigen
Voraussetzung hat: das Mißverständnis.
Erst wenn dieses Mißverständnis als die allein mögliche unmittelbare Mittei¬
lungsform erkannt ist, wird es möglich, das Dasein des Werks in ungetrübter
Weise zu verstehen: dann ist es nur mehr ein aufzulösendes Problem und
nichts Unbegreifliches mehr, wie aus dem doppelten Mißverständnis (dem
des »Ausdrucks« und dem des »Verstehens«) eine Welt entsteht, die von
keinem der beiden adäquat erreicht wird, die aber zu beiden in notwendi¬
gen, normativen Beziehungen steht. Denn während der Mensch der Erleb¬
niswirklichkeit die wahre Beschaffenheit seines Ausdrucksschemas nie wirk¬
lich erblickt, höchstens darunter leidet und es durch unklare Sehnsucht
seines freischwebenden Charakters zu entkleiden sucht, jedes andere Ver¬
halten des Menschen aber der adäquaten und eindeutigen Mitteilbarkeit
wegen die qualitative Einzigartigkeit der Ausdrucksschemata aufhebt und
sie durch andere, begriffliche Mittel ersetzt, gerinnt in der Kunst gerade
dieses Wesensmoment des Schemas zur alleinigen Substanz. Die von Willen
und Wirkung unabhängige, eigene Dialektik dieses Schemas und seiner
Ausdrucksmittel, die die tiefste Trübung in der auf inhaltliche Adäquatheit
gerichteten Mitteilung verursacht haben, wird hier ganz rein und erlangt
eine abgeschlossene und in sich ruhende Homogeneität. Das wirre Beinahe
sowohl von Nähe wie von Getrenntsein infolge des Schemas wird hier zur
scharf geschiedenen Doppeltheit des sich einsam über das Leben erhebenden
Kunstwerks und des sehnsuchtsvoll vertrauten Verhaltens der Menschen
dazu. Es ist Leo Poppers große Tat gewesen, daß er diese Grundtatsache der
Kunst klar erkannt hat, wenn ihm auch sein kurzes, von Krankheit erfülltes
Leben keine Möglichkeit bot, diesen Gedanken in seiner tief-künstlerischen
und fein-essayistischen Weise auszuführen, wenn es auch seiner, dem Wesen
nach mehr auf das Künstlerische als auf das Systematisch-Philosophische
gerichteten Persönlichkeit fern lag, aus dieser Erkenntnis eine Ästhetik zu
machen. Aber sein hellseherischer Blick hat dieses Eigenleben des Werks
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit
4i

klar erkannt und ebenso klar die notwendige Verbindung der beiden inadä¬
quaten Verhalten, des Schöpfers und des Receptiven, zu dem Werk. In dieser
Anschauung können alle Einseitigkeiten überwunden werden: für Leo Pop¬
per war die Theorie der Technik und des Materials die wahre Vorstufe zur
Metaphysik der Kunst; denn für seine Anschauung waren technisches
Wollen und Gesetz des Materials metasubjektive Träger des Willens zum
Werk, der über die wollenden und sich hingebenden Subjekte hinweg sich zu
realisieren gezwungen ist und sich in dem Werk substanziert, um ein von den
Menschen ersehntes, von ihnen erschaffenes, aber für ihren Willen und ihr
Erlebnis doch nie erreichbares irdisches Paradies zu errichten.
Durch die Erkenntnis dieser einzigartigen und paradoxen Beschaffenheit
des Werks ist der in sich klar gewordene Begriff seines Daseins erreicht. Zu
diesem Begriff seines Gegebenseins mußten wir Vordringen, um von hier aus
sein wirkliches Wesen in Wahrheit und ohne Vermischungen mit anderen
Bearbeitungen des Lebens erblicken und begreifen zu können.
II.

PHÄNOMENOLOGISCHE SKIZZE
DES SCHÖPFERISCHEN UND
RECEPTIVEN VERHALTENS
Schöpferisches und receptives Verhalten 45

Das uns als Resultat dieser Analyse »gegebene« Werk ist aber noch leer und
inhaltslos; ja das Einzige, was wir jetzt schon ganz bestimmt über sein Wesen
wissen können, ist etwas rein Negatives: die Gewißheit, daß weder das
Erlebnis des Schaffenden, dessen »Ausdruck« das Werk nach gewissen
Anschauungen sein soll, noch das des Genießenden, dem es »mitgeteilt« und
von dem es »verstanden« wurde, irgendetwas Adäquates darüber aussagen
können. Dieses Nichtwissen ist aber, weil wir seine Gründe, Beschaffenheit
und Notwendigkeit erkannt haben, kein bloßer Mangel am Wissen mehr,
sondern eine Art von docta ignorantia: wenn für uns auch keine unmittel¬
bare Erkenntnis vom Wesen des Werks möglich ist, so sind die Richtungsli¬
nien zur mittelbaren desto klarer und eindeutiger vorgezeichnet. Denn die
Incompetenz des schöpferischen und genießerischen Erlebnisses ist schon
jetzt nicht mehr bloß eine abstrakte Negativität, sondern jedes von beiden
kann als ein ganz bestimmtes und eigenartiges Gerichtetsein auf das Werk
bestimmt werden, und das Werk selbst erscheint auch nur für das unmittel¬
bare Erleben nicht in seiner wirklichen Gestalt; einer begrifflichen
Erkenntnis seiner Struktur ist es jedoch durchaus nicht unzugänglich. Es
kommt nur darauf an, die Konkretionsstufe des uns so gegebenen Werks,
sowie die Schwimmrichtung im Treiben zum Werk bei Schaffenden und
Receptiven zu erkennen und die so gewonnenen phänomenologischen
Typen rein zu machen und zu Ende zu führen; damit wir das Werk in einer
höheren Schicht seines Da-Seins erhalten, nunmehr inhaltlich erfüllt und zur
vollständigen Klarheit der Struktur bloß noch einer Analyse bedürftig. Von
dem so erlangten Werk aus betrachtet, erscheinen dann die beiden Rich¬
tungen des phänomenologischen Hinstrebens als einfache Nachkonstruktio¬
nen des ästhetischen Verhaltens, die dem empirisch-psychologischen Prozeß
des Schaffens und des Genießens gegenüber die normative Geltung von
Maximen, von Befehlen zur Realisierung besitzen. So entsteht die für die
Reinheit im Aufbau der Ästhetik sehr folgenreiche Unterscheidung von
Phänomenologie und Nachkonstruktion, deren Unterschied wir vorläufig
nur als den Unterschied der Erkenntnis des ästhetisch relevanten Verhaltens
vor dem erkannten Werk und des ästhetischen Verhaltens nach dem
erkannten Werk bezeichnen können: die Wichtigkeit der Betonung dieser
Verschiedenheit in der methodischen Stellung wird sich im weiteren Verlauf
unserer Untersuchungen erweisen.
Damit ist für das bis jetzt erreichte Stadium unserer Erkenntnisse die phäno¬
menologische Untersuchung ins Zentrum der Fragestellung gerückt. Bei der
Vieldeutigkeit dieser Methode und ihrer Ungewohntheit in spezifisch Ästhe-
46
Philosophie der Kunst

tischen wird es notwendig sein, sie genauer zu bestimmen. Vor allem haben
wir zu betonen, daß jede phänomenologische Forschung in welcher Sphäre
immer des homogenen Verhaltens das Dasein, das irgendwie Bestimmt- und
Gesichertsein des zentralen Wertes, auf den die Phänomenologie orientiert
und gerichtet ist, voraussetzt. Es ist eine Selbsttäuschung, zu glauben, daß in
der einfach gegebenen seelischen Wirklichkeit, die Stoff und Gegenstand der
empirischen Psychologie ist, durch ein »Nachschauen« im »immanenten
Fluß der Phänomene« Formen oder selbst Hindeutungen auf Formen,
subjektive Beziehungen zum Überindividuellen, abgeschwächte Vorahnun¬
gen und Erlebnisse des Objektiven vorfindbar sein könnten. Daß wir diese
überhaupt erblicken, sie im ungelösten und heterogenen Ablauf der seeli¬
schen Wirklichkeit als Zeichen eines über diese Wirklichkeit gespannten und
in ihr zu realisierenden Wertideals erkennen und begreifen können, müssen
wir dieses Ideal bereits als gegebenes irgendwie besitzen. Indem es nun - in
des Wortes eigenster Bedeutung - vorangesetzt wird, scheidet alles, ihm
heterogenes aus der in Betracht kommenden Wirklichkeit aus; die unklaren,
durch den richtungslosen Strom des Erlebens stets getrennten und abge¬
schwächten Hinweise auf das Ziel können offenbar werden, und ihre Andeu¬
tungen, Fingerzeige und Vorwegnahmen der Realisation als Richtungen, die
zum Wert führen, erkannt werden. Jedoch auch die Bedeutung des so reinge¬
machten, phänomenologischen Ausschnittes darf nicht überschätzt werden:
was wir hier vorfinden, sind Bruchstücke, Fragmente — vielleicht noch
weniger als dies. Konrad Fiedler, dessen Intuition wir die erste und bis jetzt
einzige Phänomenologie des künstlerischen Schaffens verdanken, beschreibt
folgendermaßen dieses Stadium der homogen gemachten »sichtbaren«
Wirklichkeit: »Es ist ein ungeheurer Irrtum, zu meinen, daß wir von der
sichtbaren Gestalt der Dinge eine nur einigermaßen reiche, zusammenhän¬
gende und entwickelte Vorstellungswelt besäßen; was wir als sichtbar in
unserem sehenden Bewußtsein wahrnehmen, sind unz'usammenhängende
Bruchstücke, flüchtige, vorübergehende Erscheinungen, und wir stehen hilf¬
los da, wenn das Bedürfnis in uns mächtig wird, uns ein zu Sehendes sichtbar
zu vergegenwärtigen.«1 So müssen wir uns darüber klar werden, daß das
phänomenologische Treiben, mit dem das Werk erreicht wird, weder
voraussetzungslos-intuitiv gefunden, noch in einem fertig erkennbaren

[ i K. Fiedler: Uber den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit. Schriften über Kunst.
Hrsg, von H. Konnerth. München, Piper. Bd. i. 1913. S. 258.]
Schöpferisches und receptives Verhalten
47

Zustand gegeben ist, daß es vielmehr erst aus den unzusammenhängend


vorliegenden Fragmenten nachkonstruktiv ergänzt und aufgebaut werden
kann.

Bewußt methodische Forschungen zur Phänomenologie wurden bis jetzt nur


noch in der Logik vorgenommen. Was wir in der Ästhetik besitzen, sind teils
- von Theorien beschwerte und darum für unsere Zwecke selten brauchbare
— psychologische Analysen des receptiven Prozesses, teils Selbstbeobachtun¬
gen, Arbeitsnotizen und polemische Anmerkungen der Künstler über das
Schaffen, welchen gegenüber ebenfalls die größte Vorsicht im Gebrauch
ratsam ist. Selbst die ausgezeichneten Untersuchungen Fiedlers (und nach
ihm Hildebrands) sind aus dem methodischen Vorurteil entstanden, man
könne durch das zuendegehende Begreifen des Schaffensprozesses das
Wesen der Kunst ergründen, weshalb auch diese Darstellungen von
Verwechselungen phänomenologischer Verhaltungsmomente und Katego¬
rien des Werks getrübt sind. Dabei ist, wie aus dem bisher gesagten folgt und
leicht zu verstehen ist, die Bedeutung der Phänomenologie für den Aufbau
der Ästhetik ungleich wichtiger, wie für den der Logik, und sie selbst zeigt
hier eine viel größere innere Verwickeltheit wie dort. Der Grund beider,
miteinander innig verbundener Unterschiede liegt in den verschiedenen
Begriffen der »Form« in Logik und Ästhetik, des in jedem Gebiet anders
gearteten Verhältnisses der Form zum eigenen Gegensatzpaar (Inhalt, Stoff,
Materie) einerseits und zur möglichen Realisierung im erlebenden Subjekte
andererseits. Die Form im Logischen steht fest und ist gesichert, ohne
irgendein Zutun phänomenologischer Hilfskonstruktionen. Zweifellos kön¬
nen diese viel dazu beitragen, daß das Wesen der Logik, speziell aber die
Welt ihrer Details, klarer erkennbar werde; an und für sich ist aber eine
Logik ohne phänomenologischen Unterbau durchaus denkbar, höchstens
arbeitstechnisch nicht erreichbar. Denn sowohl der wesentliche und konsti¬
tutive Wert dieser Sphäre, wie das Subjekt, in dem er realisiert wird, stehen
zu dem — wie immer rein gewordenen — Subjekt der Wirklichkeit in keinem
notwendigen Zusammenhänge. Daß das Sein des Wertes im logischen
Subjekt für das empirische Subjekt ein absolutes Sollen ist, ist nur für dieses
und sein Verhältnis zum Wert, nicht aber für den Wert selbst konstitutiv.
Die innere Struktur des Ausdrucks im empirischen Subjekt nämlich ist für
Wesen und Ausdruck des Logischen nur ein trübendes und verfälschendes
Medium; diese ganze Sphäre muß in ihrer ganzen Totalität beiseite
geschoben werden, damit der Eingang zur Logik frei werde, und es kann
keinen Prozeß der Reinigung oder der immanenten Weiterentwickelung von
48 Philosophie der Kunst

irgendetwas hier Wesentlichem geben, wodurch es in die Logik hinüberge¬


rettet werden könnte. Die Logik setzt eine innere Gleichartigkeit aller
Subjekte voraus, ja sie kann — als Grenzbegriff — überhaupt nur ein und
dasselbe Subjekt, das reine logische (erkenntnistheoretische) Subjekt aner¬
kennen, und in allen Denkakten, die den Anspruch erheben, als logische in
Betracht zu kommen, wird nur dieses eine Subjekt realisiert. Dadurch wird
das die Menschen verbindende und trennende Schema der Mitteilung und
das von ihm verursachte Mißverständnis aufgehoben und beseitigt. Daraus
folgt weiter, daß im logischen Prozeß die Aussage und ihre Aufnahme
einander prinzipiell gleich sind und daß jede Inadäquatheit, jede Verschie¬
denheit in der inhaltlichen Erfüllung der Formen nur als ein mangelhaftes
Erreichen des logischen Ideals aufgefaßt werden darf. Das ästhetische
Verhalten hebt aber die Wesensverschiedenheit der Subjekte nicht auf,
besitzt sie und die Sehnsucht nach einer nicht erreichbaren Identität
derselben vielmehr als notwendige Voraussetzung; der das ästhetische Werk
konstituierende Begriff der Form entsteht eben aus dem Schema der Mittei¬
lung, nicht aber durch eine Aufhebung desselben.
Die daraus entspringenden wichtigsten Unterschiede logischer und ästheti¬
scher Phänomenologie sind kurz folgende: die Ästhetik kennt nicht nur ein
normatives Verhalten zu ihrem letzten Wert (das Werk) wie die Logik,
sondern zwei — das schöpferische und das receptive, die wenn auch parallel
laufend und einander beigeordnet, so doch ihrem Wesen nach völlig vonein¬
ander verschieden sind. Aus der näheren Beziehung zur Form der Erlebnis¬
wirklichkeit folgt aber für die Phänomenologie der Ästhetik auch ein
engerer Zusammenhang von Wertreahsation und Erlebnis. Während der
letzte Wert der Logik nur als ein Sollen für das empirische Subjekt dasteht
und seine erreichte Realisation für dieses Subjekt nur ein Grenzbegriff ist,
dessen Zugänglichkeit für irgendein Erlebnis höchst zweifelhaft und für die
Logik gewiß nicht unbedingt erforderlich erscheint, liegt im Wesen des
höchsten ästhetischen Wertes das Postulat seiner Erlebbarkeit begründet.
Daß dieses Erlebnis notwendig inadäquat ist und das Werk nur in einem sehr
uneigentlichen Sinne »trifft«, ist eine Frage des Verhältnisses von Phänome¬
nologie und Werksphäre, und hat in der Phänomenologie selbst nur die
Folge, daß der Begriff des Erlebens sehr kompliziert wird, kann aber diesen
Unterschied nicht verwischen. Diese Scheidung kann vielleicht am deutlich¬
sten sichtbar werden, wenn die beiden Phänomenologien in ihrer Beziehung
zur Psychologie verglichen werden. Da zeigt es sich, daß die Phänomeno¬
logie der Logik im Zustand der absoluten Trennung von jeder, wie immer
Schöpferisches und receptives Verhalten 49

gearteten Psychologie verharren muß, daß ihren Etappen und Elementen


durchaus nicht immer psychologische zugeordnet werden können, und daß
ihr Ablauf mit dem psychologischen prinzipiell nichts Gemeinsames haben
kann. Der Befehl, der im Sollen der logischen Norm ausgesprochen ist, kann
sich auf keine psychologische Wirklichkeit beziehen. Wenn aber auch in der
Ästhetik Phänomenologie und Psychologie geradeso streng wie in der Logik
getrennt werden, und der Psychologie jede Competenz der Aussage über das
Ästhetische abgesprochen wird, so richtet sich das Sollen hier doch auf das
Erleben selbst. Die ästhetische Norm scheidet ein Gebiet, das auch psycholo¬
gisch bearbeitet werden kann, aus der Psychologie aus, konstituiert und
homogeneisiert es zwar nach ihren eigenen Begriffen und schafft daraus
etwas - im Vergleich zur Psychologie - völlig Neues und von der Psycho¬
logie aus nie Erreichbares, hat aber mit ihr doch den unverarbeiteten Gegen¬
stand gemein. Diese Gemeinschaft ist aber doch eine höchst peripherische
und prekäre: denn es findet sich zwar alles unmittelbar Gegebene der ästhe¬
tischen Phänomenologie in dem Gegenstand der Psychologie vor, ist abei
dort bis zur Unkenntlichkeit und Unbrauchbarkeit mit heterogenen Ele¬
menten vermischt und durch sie verdeckt, und seine durch psychologische
Bearbeitung errungene Reinheit macht es vollends für die Ästhetik ganz
wertlos. Soviel ist aber doch gewiß, daß die Phänomenologie der Ästhetik,
im Gegensatz zur völlig apsychologischen Logik, doch eine Psychologie,
eine Lehre von den Formen der Erlebnisse genannt werden muß. Freilich ist
sie keine psychologia empirica, sondern eine psychologia rationalis norma-
tiva et methodologica, keine wertfreie Naturwissenschaft, sondern eine, auf
den letzten Wert ihres Gebietes bezogene, nachkonstruktive Vollendung der
gegebenen Erlebniswirklichkeit. (Diese Parallele bezieht sich auf die Einheit
von Phänomenologie und Nachkonstruktion: die Phänomenologie selbst ist
prinzipiell unvollendet und kann ihre Vollendung nur nach dem erkannten
Werk, in der Nachkonstruktion erhalten.) Die uralte und für das gewöhn¬
liche Denken stets naheliegende Verwechslung von Sollen und Sem der
Norm, von Maximen der Phänomenologie und Kategorien der Werksphäre
ist deshalb für die Ästhetik noch gefährlicher und irreführender als für die
Logik. Denn die Unmöglichkeit, fertige Formen der erreichten Logik im
Prozeß des Denkens bewußt realisieren zu können, mußte leicht offenbar
werden und konnte die Struktur der Logik selbst nicht dauernd verdecken,
wenn auch ihre Begründung hierdurch auf falsche Bahnen geführt wurde.
Dagegen mußte das Wesen der ganzen Ästhetik jahrhundertelang falsch
aufgefaßt werden, weil man in den konstitutiven Kategorien der Werke
5° Philosophie der Kunst

Verhaltungsmaßregel für die Künstler gesehen hat. So konnte man nicht nur
keinen Unterschied zwischen schöpferischer und genießerischer Haltung
wahrnehmen, sondern der Prozeß des Schaffens mußte in sinnloser und
inadäquater Strenge rationalisiert werden. Doch dieses vorschnelle Rationa¬
lisieren des seinem Wesen nach nicht Rationalisierbaren führte nicht nur
zum Vei kennen des eigentlich Schöpferischen im Schaffensprozeß, sondern
das Werk selbst, der »Ort« des ästhetischen Logos, wurde dadurch irratio¬
nell. Es mußte solchen oberflächlichen und reflexiven Mischbegriffen unzu¬
gänglich bleiben und darum als absolutes Rätsel, als innerlich Unbegreifba¬
res, als Mysterium schlechthin erscheinen.

Solche Verwechselungen mußten für die Entwickelung der ästhetischen


Erkenntnis schon darum sehr gefährlich werden, weil gerade in dem
Verhältnis der beiden phänomenologischen Reihen zum Werk die dunkelste
Frage der Ästhetik steckt: das Mißverständnis. Durch das Wollen der Wahr¬
heit veiläßt jedes logische Verhalten die Sphäre der Erlebniswirklichkeit;
die Gesinnung zur Logik setzt diese Trennung von ihr schon als vollzogen
voraus. Diesem unvermittelten Zerschneiden aller verbindenden Fäden zum
Leben, diesem Verbrennen aller Brücken hinter sich verdankt die Struktur
dei Logik ihre Geradlinigkeit, Einfachheit und Klarheit: der Sprung, der die
einzige mögliche Bewegung vom Leben ins Absolute ist, liegt, als ihre Wirk¬
samkeit beginnt, schon hinter ihr und nur ein mühsamer Weg trennt sie noch
vom Ziele. Die Grenze von Erlebniswelt und Ästhetik ist aber fließend und
kann erst im Moment der Rückkehr der zurückbiegenden Bewegung vom
eil eichten Endpunkt zum Ausgang fest und sicher gezogen werden. Da in
der Ästhetik das trennende und trübende Schema der Mitteilung nicht
verworfen, sondern zur eigenen immanenten Homogeneität geführt wird,
scheint der Übergang im Verhalten des Subjekts vom Schema des Ausdrucks
bis zum Werk der Kunst ein allmählicher und gleitender zu sein. Dieses
Verhalten selbst aber, weil es notwendigerweise immer etwas Erlebnishaftes
an sich haben muß, kann me ganz bis zum Absoluten gelangen, und das
Absolute dieser Sphäre, das Werk, ist gerade aus dem Zur-Substanz-Werden
des Trennenden entstanden. So ist hier, innerhalb der bereits ästhetisch
homogen gemachten Welt, ein unüberbrückbarer Abgrund da, der mit
harter Unerbittlichkeit die bis ins Letzte reingewordenen Subjekte von dem
Objekt ihres Strebens scheidet. Während also jeder Abstand zwischen
Subjekt und letztem Wert in der Logik nur soviel bedeuten kann, daß das
Ziel noch nicht erreicht wurde, ist hier der Sprung im Wesen des Ästheti¬
schen selbst begründet und muß innerhalb der Ästhetik selbst vollzogen
Schöpferisches und receptives Verhalten

werden. Weder von dem das Werk suchenden Willen seines Schöpfers, noch
von dem ganz zum Werk hingeneigten, zur Bereitschaft gewordenen
Verhalten der Receptiven führen Wege zum Werk: immer steht ein Abgrund
zwischen ihnen und kann nur durch die rätselvolle, wenn auch notwendige
und begreifbare Gnade des Sprunges überwunden werden.
Der - im Vergleich zur Ästhetik - wenig verwickelte Aufbau der Logik zeigt
sich am deutlichsten im Verhältnis der Form zum Material als ihrem
notwendig coordinierten Gegensatzpaare. Wie immer auch dieses Verhältnis
definiert wird, ob mit Cohen und seiner Schule als eine Art von Erzeugen
jedes Inhalts aus eigener Kraft der Formen, oder mit Windelband-Lask als
ein Umschließen eines durch Formen undurchdringbaren Materials, für die
Logik wird dieser Gegensatz stets nur als ein relativer erscheinen. Sowohl
den Begriffspyramiden der platonischen Systeme wie etwa Eduard von
Hartmanns Auffassung, daß ein »relativer Inhalt . . . selbst auch nur ein
Formenkomplex, aber ein noch nicht als solcher durchschauter und in seine
reinen Formenbestandteile analysierter«1 ist, hegt die Voraussetzung zu
Grunde, daß die Welt der Logik, im Übergang von zu Inhalte werdenden
Formen und zu Formen durchgearbeiteten Inhalte, sich von dem rem
formellen gv bis zur nur materiellen uptuTT) üX-r) ausdehnt, welche beide aber
für die reine Logik, die nicht Metaphysik sein will, nur Grenzbegriffe sind
und praktisch-methodisch gar nicht in Betracht kommen. Diese Einfachheit
der Struktur, die die Logik der homogenen Relativität des Form-Material-
Gegensatzes verdankt, fehlt vollständig in der ästhetischen Sphäre. Ihre
Struktur ist durch Stellung und Art des zum Werk erwachsenen Schemas,
eines von Inhalten erfüllten und wieder Inhalte erweckenden Formgebildes,
das die beiden phänomenologischen Subjekte in die normative Verbindung
miteinander setzt, bestimmt. Aus dem Begriff des Mißverständnisses folgt
nun, daß die in den phänomenologischen Subjekten entstehenden Bearbei¬
tungen ihrer Inhalte durch ihre Formen sowohl von einander, wie von dem
gemeinsamen centralen Formgebilde prinzipiell verschieden beschaffen
sind. Dazu kommt, daß die vom »Ausdruck« zum Aufnehmen sich hinzie¬
hende Bewegung des Mitteilens zwar alle diese Stadien durchlaufen und die
durch sie determinierten Formen aufnehmen muß, daß aber ein vereinfa¬
chendes Weitergehen zu einem letzten Ziele in dieser Sphäre von vorn¬
herein ausgeschlossen ist. Weshalb auch bei jeder versuchten oder erreichten

[i Kategorienlehre. Ausgewählte Werke. Bd. x. Leipzig, Haacke. 1896. S. 246.]


S2 Philosophie der Kunst

Realisation des ästhetischen Wertes der methodisch vorgeschriebene Gang


aus der einen Phänomenologie über das Werk in die andere, nicht aber — wie
in der Logik - von der phänomenologischen Vorarbeit auf einen einzigen,
letzten Wert gerichtet ist. Diese so bestimmte Richtung und die heterogene
Beschaffenheit ihrer notwendigen Stationen verursachen, daß jedes hier Vor¬
gefundene Form-Material-Verhältnis ein in sich fertiges und absolutes ist.
Wenn sich auch hier eine gewisse Relativität des Form-Inhalt-Verhältnisses
zeigt, so reicht sie nur bis zu den einzelnen, sich als Endgültiges verabsolutie¬
renden Stadien der Mitteilung hinauf; es wird eine höchst wichtige Frage für
unsere späteren Untersuchungen werden, inwiefern sich den einzelnen For¬
mungsprinzipien andere, schon fertige Formen als Material darbieten und
indem sie sich von ihnen gestalten lassen, auf sie wieder eine Wirkung
ausüben. Die dreiteilig gegliederte Urstruktur der ästhetischen Welt, zu
deren möglichst einfachen und primitiven Aufbau wir jetzt gelangen woll¬
ten, kann aber dadurch nicht geändert werden. So finden wir hier keine, sich
einheitlich aufbauende Homogeneität, sondern drei, voneinander verschie¬
dene, nicht auf einen Generalnenner reduzierbare Gestaltungen dieses
Gegensatzes vor.

Damit haben wir den Punkt, wo die phänomenologische Analyse beginnen


kann, erreicht, denn jetzt ist es möglich geworden, die von uns geforderte
Konkretionsstufe des als gegeben vorausgesetzten Werks zu bestimmen. Wir
können natürlich nicht scharf genug betonen, daß alle eigentlich künstleri¬
schen Prinzipien des Werks in seinem jetzt erreichten Begriff bloß implicite
enthalten, nicht aber exphcite erkannt oder begriffen sind, daß es also für
uns jetzt noch mehr aufgegeben als gegeben ist. Das wesentliche Moment in
dieser Deutlichkeit des Werks, worin es sich jetzt schon vom bloßen Schema
der Mitteilung unterscheidet, ist die gewollte, mit seinem Begriff simultan
gesetzte Dauer und geforderte Allgemeinheit seiner Wirkung. Bei jeder
mehr unwillkürlichen oder aufgezwungenen Objektivation der Mitteilung,
bei einem Briefe etwa, ist die Möglichkeit der Objektivation, einer Wirkung,
die über das bloß Persönliche hmausgeht, nur rein zufällig und nicht im
Wesen der Äußerung selbst begründet. Trotz dieser scharfen Scheidung von
notwendiger und zufälliger Objektivation zeigen diese Halbfabrikat-artigen
Äußerungen des gewöhnlichen Lebens am leichtesten den Weg, der vom
Schema zum Werk führt. Dazu nämlich, daß ein Brief - um bei diesem
Beispiel zu bleiben - die Sphäre der bloßen persönlichen Mitteilung verlas¬
sen, daß er auch dort, wohin er nicht gerichtet ist, wo die stützenden Voraus¬
setzungen seiner Verständlichkeit (vollständige Kenntnis der äußeren
Schöpferisches und receptives Verhalten 53

Umstände einerseits und der schreibenden Persönlichkeit mit ihrem Tonfall,


Accentuierung etc. andererseits) fehlen, noch wirken könne, ist das Sich-
innerlich-Abschließen und -Vollenden des Briefes erforderlich. Der gewöhn¬
liche Brief enthält nur ein andeutendes Schema der mitzuteilenden Inhalte,
so daß zu seinem Verständnis die Erfüllung des Schemas mit — durch den
Brief erweckten, aber unabhängig von ihm erworbenen - Erlebnissen und
Wertungen über die Persönlichkeit des Schreibenden erforderlich ist. Und
das Mißverständnis liegt nur darin begründet, daß diese von dem Gewollten
des Ausdrucks prinzipiell verschieden sind. Damit aber ein Brief die
Wirkungsmöglichkeit jenseits dieser, bloß von einem bestimmten Indivi¬
duum zum andern bestimmten Individuum reichenden Welt erlange, muß
aus den andeutenden Beziehungen, die das Schema bilden, ein Ireischweben-
des, in sich abgeschlossenes System werden, das immer und überall den
Eindruck eines persönlichen Erlebniskomplexes erwecken kann. Das
Zusammenschließen der Ausdruckselemente verdeckt die sich ausdruckende
Persönlichkeit desto mehr, je vollkommener dies gelungen ist, setzt aber,
ebenfalls parallel mit dieser Vollkommenheit, immer weniger von dieser
Äußerungsform unabhängig erworbene Erlebnisse über den sich im Briefe
Mitteilenden voraus. Weil diese absolute Abgetrenntheit von Erlebnis und
Persönlichkeit des Urhebers für den Brief nicht erreichbar ist, darum ist er
nur Zwischenstufe zwischen Schema und Werk; jedoch gerade wegen des
ihm Fehlenden, das für ihn selbst freilich kein Mangel ist, kann er ganz deut¬
lich auf die Trennung von diesen beiden Formen — bei aller übergleichenden
Ähnlichkeit gewisser Voraussetzungen - hinweisen, zugleich aber die eigent¬
liche Wesensart des Werkes zu erhellen helfen. Das Werk erscheint uns also
jetzt als ein System von Erlebnisse inadäquat vermittelnden Schemata, das
so vollendet in sich abgeschlossen ist, daß seine Wirkung, die als allgemein
und notwendig gedacht ist, von nichts anderem als den immanenten Bezie¬

hungen seiner Elemente zu einander getragen wird.


Das mehr oder weniger klare Hindeuten auf das Werk in einzelnen Mittei¬
lungsformen des Lebens kann uns aber auch noch andere Momente seiner
Struktur enthüllen. Wir erblicken nämlich in jedem solchen Prozeß der
Objektivation von Mitteilungsformen gewisse Arten der Versuche, das
Schema des Ausdrucks nicht mehr in seiner unmittelbar gegebenen, unwill¬
kürlich funktionierenden Gestalt verharren zu lassen, sondern es zu
größerer Deutlichkeit zu bringen, zu stilisieren. In diesem Stilisieren sind
uns einerseits sein Ziel und Motiv, andererseits seine Mittel und Resultate
von Bedeutung. Wenn wir auf Ziel und Motiv - bei denen es für unsere
54 Philosophie der Kunst

Betrachtung völlig gleichgültig ist, ob sie psychologisch bewußt werden oder


nicht — reflektieren, so stoßen wir auf das Problem, welche Form der Gegen¬
satz des Individuellen und Uberindividuellen in dieser Sphäre annimmt.
Auch für diese Frage findet die Phänomenologie der Logik eine einfachere
und eindeutigere Antwort als die der Ästhetik: für sie ist die Erhebung über
das Individuelle zugleich sein Verlassen, das Uberpersönliche ist mit dem
Unpersönlichen identisch. Die ganze Stellungnahme der logischen For¬
schung zur Sprache als Ausdruck, mit der Tendenz sich so energisch wie
möglich von ihren Trübungen rein zu halten - ich nehme als Beispiel die
metagrammatische Urteilstheorie von Lask —, die Versuche eine Logik aus
reinen (den algebraischen nachgebildeten) Zeichen aufzubauen, wie sie sich
in dem logischen Kalkül von Leibmz oder in der Logistik von Couturat
besonders deutlich zeigen, sind für unsere Zwecke hierfür hinreichende
Belege. Die Stilisierung hingegen, die sich im Werk der Kunst und in jeder,
wenn auch abgeschwächter, so doch sich in seiner Richtung bewegenden
Objektivation der Mitteilungsform im Leben zeigt, besteht in einer para¬
doxen Übersteigerung und ebenso paradoxen Vertilgung des bloß Individu¬
ellen; denn es muß jetzt schon wahrscheinlich nicht mehr ausdrücklich
betont werden, daß die Erlebniswirklichkeit auch andere, auf das Praktische
hinzielende Objektivationen mit abstraktiven Ausdrucksmitteln und sozio¬
logischer Allgemeingültigkeit hat, die aber für uns, die jetzt nur mehr das in
die Richtung des Werks Hinstrebende aus dem Leben ausscheiden, nicht in
Betracht kommen. Der für uns bedeutsame Stihsierungsprozeß der Mittei-
lungslormen hat zum Motiv eine Unzufriedenheit mit den einfachen
Ausdrucksmöglichkeiten, die dem wirklich Persönlichen im Erlebnis inadä¬
quat erscheinen, und zum Ziel das Finden einer Form für die Aussage des
Ei lebmsses, in der gerade dieses Allerpersönlichste deutlich und eindeutig
offenbar wird. Diesem Zielsetzen liegt das dunkle, allen »Tatsachen« der
Erlebniswirklichkeit widersprechende, aber doch me vertilgbare Gefühl zu
Grunde, daß das ganz in sich reingewordene Persönliche des Menschen,
wenn es alles Beengende des gewöhnlichen Lebens abgelegt und jede seiner
viiien und abgebrochenen Limen bis zu ihrem eigensten Endpunkt gezogen
hat, in irgendwelche allgemeine und gemeinsame Welt mündet; daß also das
Schema, die Ursache des Mißverständnisses, nicht nur ein die Menschen
trennendes, sondern sie auch verbindendes Prinzip ist, daß es gerade das
tiefste und eigenste Individuelle in sich einbezieht, und als seine Form auf
eine diese Gemeinschaft umfassende Wirklichkeit trifft. Dieser Sehnsucht
des Menschen der Erlebmswirkhchkeit stehen die Werke der Kunst als eine
Schöpferisches und. receptives Verhalten 55

Welt der Erfüllung gegenüber. Hier scheint dieses Gefühl seine vollständige
Gerechtfertigung zu erhalten: denn während die durch das gewöhnliche
Leben gehemmte Individualität sich nicht einmal vom Menschen zum
Menschen adäquat auszudrücken vermag und so unausgesprochen und
unbekannt verschwinden muß, wird in den Werken des Genies, des persön¬
lichsten aller Menschen, das Erlebnis zum ewigen Leben erweckt, und über
den Wechsel von Zeiten und Menschen hinaus ist es in immer verstandenen
Zeichen deutlich geworden. Was allen anderen menschlichen Lebensäuße¬
rungen versagt oder nur in höchst spärlicher und fragwürdiger Weise
gegeben ist, wird hier erfüllt: das Schema der Mitteilung hat im Werk alles
Brüchige - sowohl das leer Abstrakte, wie das bloß Persönliche - abgelegt,
und die absolute Einheit des Individuellen und Uberindividuellen scheint
durch ihre Vereinigung im Werk, durch eine coincidentia oppositorum
erreicht. Was selbst den tiefsten persönlichen Lebensäußerungen noch fehlt,
worin ihre Ergänzungsbedürftigkeit durch von wo anders hergeholten Ele¬
menten entspringt, ist im Werk geleistet: rein aus sich heraus wirkt das
gestaltete Erlebnis und braucht dazu kein Wissen und kein vorangegangenes

Erlebnis.
Es fragt sich aber jetzt: was wirkt in diesem gestalteten Erlebnis, auf welcher
Stufe des Begreifens wir jetzt das Kunstwerk besitzen, und was ist das
Persönliche, das sich darin ausdrückt? Während die fragmentarischen und —
bei aller unmittelbaren Wucht ihrer einzelnen Momente - immer ergän¬
zungsbedürftigen Persönlichkeitsäußerungen, die sich nicht zum Werk
objektiviert haben, die Möglichkeit zu einer Convergenz, zu einem Zusam¬
menschließen durch ergänzende Betrachtung in der Persönlichkeit des Sich-
Mitteilenden besitzen, auf deren approximativer Möglichkeit die Möglich¬
keit der Geschichtswissenschaft beruht, ist diese Eindeutigkeit mit dem
Begriff des Werks, des In-sich-geschlossen-seins, aufgehoben. Man verfolge
die Wirkungsgeschichte irgend eines großen Kunstwerkes und man wird eine
sich nie wiederholende Fülle der voneinander völlig verschiedenen Inhalte
finden, in denen sich sein »Verstehen« objektiviert. Und dies ist kein empi¬
risch-historischer Zufall. Die Geschichtswissenschaft muß von der Anschau
ung ausgehen, daß alles Divergieren, das sich in der »Auffassung« einer
Persönlichkeit zeigt, eine Folge ihres mangelhaften Begreifens ist, und daß
hier durch fortschreitende wissenschaftliche Arbeit eine immer größere
Annäherung an das »Wahre« möglich ist. Das »Verstandenwerden« der
Kunstwerke kann aber nicht das Resultat eines gedanklichen, wissenschaftli¬
chen und darum - im Vergleich zum Erlebnis — immer abstraktiven Verfah-
*6 Philosophie der Kunst

rens sein, es muß das unmittelbare Erlebnis des Verstehens, das Aufleuchten
einer fremden Welt als einer uns nur noch unbekannten eigenen in unserer
eigenen Welt sein. (Eine solche Gestaltung des Stoffes der Geschichtswissen¬
schaft ist ebenfalls möglich; aus ihr entsteht — wie ich in der Einleitung
meines Buches »Die Seele und die Formen« zu zeigen versucht habe — die
Form des Essays als Kunstwerk.) Dieses unmittelbare Sich-finden im Werk,
dieses im tiefst Persönlichen von ihm Getroffen-werden, auf dessen zeitloser
Wiederholbarkeit seine ewige Wirkung beruht, schließt jede Möglichkeit
einer Gemeinschaft zwischen Erlebnis des Schöpfers und des Receptiven aus.
Das Mißverständnis, das in der Erlebniswirklichkeit nur eine verite de fait
war, wird hier zur verite eternelle. Die notwendige Ergänzung jedes unmit¬
telbaren Erlebnisses mit davon unabhängigen und zu großem Teil unleben¬
digem Wissen ist zwar eine Abschwächung der Tiefe der Wirkung, zugleich
aber eine Correctur ihrer absoluten inhaltlichen Willkür. Die Paradoxie der
Ausdrucksform, die das Mißverständnis verursacht, hat zur Folge, daß wenn
sie alles Abschwächende, der Ergänzung Bedürftige abgelegt hat, jede
Gewähr für selbst eine approximative inhaltliche Convergenz zwischen ver¬
ursachendem und verursachten Erlebnis verloren gehen muß. Gerade das
Allerpersönlichste, der reingewordene qualitative Charakter des Schemas
kann nichts Eindeutiges in seiner Inhaltlichkeit haben, so daß was in der
Erlebniswirklichkeit noch als eine, der Correctur bedürftige und relativ
corrigierbare, trübende Gewalt erschien, im Werk, worin dieses Qualitative
das Gewollte und Realisierte ist, sich als konstitutive und positive Notwen¬
digkeit zeigten. Das vollendete, seinen Normen wirklich entsprechende
Werk der Kunst erscheint uns hier als ein Formgebilde, das seinen Formen
die Macht verdankt, in den Menschen aller Zeiten das ihnen eigenst Persön¬
liche zu erwecken und als dessen Erfüllung zu erscheinen; worauf die
Möglichkeit dieser Wirkung beruht, werden wir erst später begreifen
können.
Der die »Persönlichkeit« des Schöpfers verdeckende Charakter des Werks
zeigt sich aber vielleicht noch klarer, wenn wir einen Blick darauf werfen,
wer als Schöpfer hinter dem vollendeten Werk steht, also nicht, wie man es
gewöhnlich tut, vom Schöpfer zum Werk, sondern vom Werk auf den
Schöpfer zurückgehen, und nicht, wie das ebenfalls zumeist der Fall ist, die
Unmittelbarkeit des ästhetischen Verhaltens durch Beimischung von aller¬
hand historischem Wissen trüben. Dann müssen wir sagen: es ist eine
Denknotwendigkeit, etwas, was als Einheitliches wirkt, als Einheit aufzufas¬
sen, und wenn es als Menschenwerk wirkt, es als von einem einheitlichen
Schöpferisches und receptives Verhalten 57

Willen Geformtes zu sehen. Für diese Betrachtung werden also sowohl ein
Torso, bei welchem brutale Zufälle das wirkliche Wollen seines Schöpfers
unkenntlich gemacht haben, wie eine Kathedrale, die die Arbeit vieler sich
ablösender, von verschiedenen Willensrichtungen und Erlebnissen erfüllter
Generationen ist, sich als von einem Schöpfer geschaffene Werke zeigen,
jedoch der »Schöpfer« eines solchen Werkes kann mit den empirischen
Persönlichkeiten, die es zustande gebracht haben, so gut wie nichts Gemein¬
sames haben. So verschmelzen Perugino und Signorelli als Schöpfer der
Florentiner Kreuzabnahme, Beaumont und Fletcher als Dramatiker, die
Brüder Goncourt als Romanciers in einer neuen Persönlichkeit, die ästhe¬

tisch die einzig relevante ist.


Wenn wir nun diesen Begriff des Werks nicht — wie bis jetzt — als etwas
Werdendes, sondern als Gewordenes analysieren, und das Resultat und seine
Mittel betrachten, so muß uns seine Abgeschlossenheit in sich, das Frei¬
schwebende im Aufbau seines Systems am auffallendsten sein. Von unserem
bis jetzt erreichten Standpunkt, wo wir das eigentlich Künstlerische des
Werks noch nicht begriffen haben und es nur als eine merkwürdige, sich von
allen anderen möglichen Arten der Mitteilung scharf abtrennende Aus¬
drucksform besitzen, kommen wir durch Analyse dieses Fürsichseins des
Werks zu dem vorläufig leeren Begriff der konstitutiven Homogeneität. Das
Verwirrende und Undurchdrmgbare der Erlebniswirkhchkeit entsteht dar¬
aus, daß ihre Elemente einander ganz heterogen sind, daß sie aber in der
persönlichen Erlebnisform des sie Aufnehmenden eine für sie reflexive
Homogeneisierung erhalten. Diese Homogeneität, die die bloß erlebnishafte
und, im Hegelschen Sinn, abstrakte Einheit des Apperzipierten ist, muß in
jedem Versuch, das Aufgenommene wirklich zu verstehen, gekündigt wer¬
den, damit durch Reinigung der jetzt zerfallenden heterogenen Elemente
konstitutiv homogene Gruppen oder Systeme aus ihnen entstehen können.
Diese Arbeit kann in der Erlebniswirkhchkeit selbst nicht geschehen, daß sie
möglich werde, muß, z. B. in der Vhssenschaft, diese ganze Sphäre mit lhici
ganzen Unmittelbarkeit verlassen werden. Diese homogene Erlebniseinheit,
als etwas Letztes, Nicht-aufzuhebendes, absolut Konstitutives ist aber das
vorgeschriebene Ziel des VArks und das Faktum ihrer Erreichbarkeit und
Realisation das eigentliche Fundament der Möglichkeit des Werkes selbst.
Das Entscheidende für die Struktur dieses homogenen Gebildes ist einer¬
seits, daß die es konstituierenden Beziehungen ein völlig in sich abgeschlos¬
senes und immanent vollendetes System bilden, und andererseits daß die
beabsichtigte Wirkung die reine Spontaneität des Erlebnisses ist. Diese
58 Philosophie der Kunst

beiden Bedingungen bestimmen das Verhältnis der konstitutiven Homoge-


neität des Werks sowohl zu der reflexiven der Erlebniswirklichkeit, wie zu
den anderen konstitutiven Organisationen der Lebenselemente. Wegen die¬
ser Grundlagen seines Daseins muß der Charakter der konstitutiven Homö-
geneität im Werk stärker und tiefergehend sein als in allen anderen Gebil¬
den: während eine wissenschaftliche Organisation eine sich bis ins Unend¬
liche verbreiternde und sich aus neuem Schaffen neu ergänzende sein kann,
so daß für sie ein in ihren Formen nicht aufgelöster Inhalt nur ein Problem,
aber nichts Problematisches ist; während für die ethischen Formen des Seins
das sich den Normen nicht Fügende weder aufgehoben werden muß, noch
die Geltung der Normen gefährdet, sondern als ihr notwendig gesetzter
Gegenpol (als Böses, Kreatürliches oder Adiaphoron) in der Systematik
seine Stelle findet, steht und fällt die Existenz des Werks mit der absoluten
Durchdringung aller Elemente, die darin nur Vorkommen können, von den
Formen, die es konstituieren. Indem das Werk nur durch den immanent in
sich geschlossenen Zusammenhang seiner konstituierenden Beziehungsprin¬
zipien ein Dasein erhält, können diese nichts, wenn auch vorläulig, unerle¬
digt lassen oder es als Feindliches von sich abstoßen. Der Prozeß des Homo-
geneisierens ist zwar seiner Natur nach ein ausscheidender, diese Auswahl ist
aber apriorisch und absolut: was von dem im Werk entstehenden homo¬
genen Strom nicht aufgelöst werden kann, verliert dafür jede Existenz; es
wird nicht geleugnet, oder als wertfeindlich abgestoßen, kann aber im
Zusammenhang dieser Homogeneität gar nicht als existent gedacht werden
(z. B. Hörbarkeit — für rein sichtbar homogene Formen). Was aber nur die
Möglichkeit eines Einbezogen-Werdens besitzt, würde, wenn nicht ganz
erledigt, nicht an seinen ihm selbstverständlich gebührenden Ort gestellt,
über das Werk hinausweisen und sein Dasein als Werk vernichten.
So zeigt sich hier eine prästabiherte Harmonie von Form und Stoff in bezug
auf das Werk als seine unerläßliche Existenzbedingung: der Stoff muß als
die einzig mögliche Wirkungssphäre der Form und die Form als das reine
Offenb arwerden des eigensten, nur vor ihrem Erscheinen verschlossenen
Wesen des Stoffes erscheinen. Denn nur so, wenn im Dasein des Werks jede
nur denkbare Divergenz von Form und Inhalt aufgehoben ist, wenn es — je
nach dem Standpunkt — sowohl nur als Form wie nur als Inhalt betrachtet
werden kann, besitzt es die Fähigkeit zu der ganz reinen, in seinem Begriff
postulierten Wirkung, in der die Spontaneität des Erlebnisses nur gesteigert
und vertieft, aber nicht seiner Spontaneität und Erlebnisartigkeit entkleidet
wird. Das Schwanken und die Verwirrung in der Erlebniswirklichkeit
Schöpferisches und receptives Verhalten 59

entstehen aus dem bloß reflexiven Charakter der aufnehmenden Homoge-


neität; indem diese keinen Gegenstand trifft, ist der Aufnehmende gezwun¬
gen, entweder über das Erlebnis hinauszugehen und die Spontaneität aufzu¬
geben, oder er wird durch den reflexiven Charakter des Aufnahmeprozesses
von dem, was er in sich aufnehmen will, entfernt. Bei der Wirkung des
Werks liegt die Homogeneität im Gegenstand des Aufnahmeprozesses, im
Werk, es ist keine Möglichkeit da, darüber hinauszugehen, und kein Ziel ist
gegeben, das durch ein Verlassen des reinen Erlebnisses erreicht werden
könnte. Das füreinander Geschaffensein von Form und Inhalt im Werk wird
nun als erreichte Einheit zum Mittel einer anderen harmonia prästabilita:
der konstitutiven Aufbauelemente des Werks mit den notwendigen Formen
des Aufnehmens bei dem, der es erlebt. Denn das receptive Verhalten wird
nur dann nicht über sich hinausstreben, wenn die gestaltete Homogeneität
des Werks in derart notwendiger Beziehung zu ihrer Erlebbarkeit steht, daß
gerade die reinste Unmittelbarkeit des Erlebnisses als ein Offenbarwerden
der Essenz des Werks erscheint, wenn das spezifisch reflexive Element der
Erlebniswirklichkeit zum Träger der konstitutiven Beziehung zwischen
Werk und Aufnehmer wird. Diese Beziehung gibt dem Erlebnis eine — durch
das Werk vorgearbeitete und bestimmte — Richtung, die seine Unmittelbar¬
keit nicht aufhebt, sondern steigert, weil wegen der Homogeneität des
Werks nichts, was das Erlebnis stören könnte, dazwischen treten kann,
ändert aber nichts am Erlebnisse selbst; es bleibt, was es war, wird nur inner¬
halb der eigenen Wesensart vertieft, intensiv und zugleich konstitutiv,
indem es durch einen ihm angemessenen Gegenstand hervorgerufen und auf
ihn bezogen wird. So kann die früher erkannte harmonia prästabilita durch
den Begriff der absoluten Einheit von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, von
Unmittelbarkeit und Wesen ergänzt werden, und das — zwar noch immer
nicht als Kunstwerk begriffene — Werk erscheint nun doch in einer wesent¬
lich konkreteren Form: zu dem Faktum seines immanenten Fürsichseins und
zu dem Postulat seiner zeitlosen und allgemeinen Wirkung fügt sich deren
Möglichkeit, die konstitutive und unmittelbar erlebbare Homogeneität aller
im Werk vorkommenden oder denkbaren Elemente, hinzu.
Durch diese Konkretion des Werks wird die Phänomenologie der Ästhetik
möglich; denn damit ist der Gesichtspunkt erreicht, von welchem aus das in
der Erlebniswirklichkeit abgeschwächt und unklar vorhandene Treiben und
Gerichtetsein auf das Werk erkannt und zur Klarheit gebracht werden kann.
Als erstes zeigt sich, daß die Wechselwirkung von Sich-Ausdrücken und In-
sich-Aufnehmen aufgehoben ist: in der reinen, in keiner Richtung transcen-
6o Philosophie der Kunst

edierenden Erlebniswirklichkeit sind bei jedem Akt der Mitteilung alle Betei¬
ligte Gebende und Nehmende zugleich, und das Schema, als bloß flüchtige
und gleich wieder vernichtete Form je eines Mitteilungsaktes, kann und soll
hier keine Eindeutigkeit geben. Dadurch aber, daß im Werk das Schema zur
selbständigen, gewollten und wirkenden Substanz wird, teilen sich die bisher
vermischten Mitteilungsprozesse in zwei, deutlich voneinander geschiedene
Typen: in die Aktivität des Ausdrucks und in die Passivität des Erlebens.
Jedes noch so vorläufige und im Wesentlichen über die Erlebniswirklichkeit
kaum hinausgehende Fixieren oder Organisieren der Mitteilungsformen
weist schon auf diese doppelseitige Typologie hin; so wird schon z. B. in dem
früher erwähnten Fall des Briefes, wo die Wechselwirkung noch gar nicht
aufgehoben, sondern bloß zeitlich hinausgeschoben ist, in den deutlich
getrennten Akten des Schreibens, respective des Lesens eine Hindeutung auf
diese phänomenologische Gestaltung sichtbar; noch klarer erscheint sie im
Verhalten der Beteiligten bei den sogenannten rhetorischen Mitteilungspro¬
zessen, die — vielleicht aus diesem Grunde — so lange als ästhetische
Formungen behandelt worden sind, obwohl weder die Form des Ausdrucks
die geforderte, in sich vollendete Abgeschlossenheit, noch ihre Wirkung die
vorgeschriebene, reine Unmittelbarkeit und Erlebnisartigkeit besitzt. Die
große Schwierigkeit der phänomenologischen Analyse und der Grund der
Dürftigkeit ihrer Resultate besteht nun darin, daß das wirklich ästhetische
Verhalten durch keine Annäherung bei immer wachsender Deutlichkeit der
Hinweise erreicht werden kann; daß vielmehr zwischen dem nächsten
Beinahe und dem Erreichen eine unüberbrückbare Kluft ist, trotz oder
wegen der starken und vorherbestimmten Annäherung des ästhetischen Ver¬
haltens an die Erlebniswirklichkeit. Diese Undeutlichkeit zeigt sich im
passiven Verhalten noch stärker als im aktiven, obwohl in diesem primitiven
Stadium des Daseins vom Werk seine Verbindung mit der Receptivität
stärker zu Tage tritt wie die zum hervorbringenden Prozeß. Die klare Schei¬
dung zwischen Wirkung in der Erlebniswirklichkeit und in der Ästhetik läßt
sich vielleicht so am besten formulieren: jede bloß erlebnisartige Wirkung
verdankt ihr Dasein dem Zwang, den sie auszuüben vermag; d. h. sie kommt
von außen, ist von anderen Kausalitäten bewegt wie der ihr entgegenkom¬
mende Aufnahmeprozeß und wirkt durch die Wucht, mit der sie ihn zu über¬
wältigen fähig ist; sie ist ihrem Wesen nach immer eine Überrumpelung, aus
keinem notwendigen oder normativen Zusammenhang ableitbar, nur in
ihrem Dasein unentrinnbar, ist also bei intelligibler Zufälligkeit empirisch
notwendig. Dagegen setzt die ästhetische Wirkung, wie dies schon J. Cohn
Schöpferisches und receptives Verhalten 61

betont hat, eine gewisse Bereitschaft voraus: sie ist intelligibel notwendig, da
ihre Möglichkeit auf einer vorgearbeiteten Übereinstimmung von Subjekt
und Gegenstand beruht, muß aber gerade deshalb empirisch zufällig sein;
denn die Realisation dieser Übereinstimmung ist nur im Werk selbst bereits
vollzogen und vollendet, dem Wirkungsprozesse steht sie nur als Möglich¬
keit gegenüber, im empirischen Subjekt muß deshalb etwas vorgehen, es
muß sich zum ästhetisch receptiven Subjekt verwandeln, damit diese
Möglichkeit zur erfüllten Wirklichkeit werde.
Das Problem der phänomenologischen Analyse des Receptiven ist also
folgendes: die vorfindbaren Hindeutungen zu dieser Verwandlung des Sub¬
jekts aufzuzeigen; und ihre Schwierigkeit besteht darin, weder der psycholo-
gistischen Unentschiedenheit anheimzufallen, noch das ästhetische Verhal¬
ten durch Vorwegnahme hier noch nicht gewonnener Normen und ihrer
Anwendung auf noch nicht eindeutig ästhetisch gewordene Subjekte über
sich selbst hinauszutreiben, zu logisieren oder zu ethisieren. Die scharfe
Abtrennung vom Psychologismus scheint uns bereits hinlänglich vollzogen
zu sein, so daß hier die Ethisierung der Ästhetik als die größte methodische
Gefahr erscheint. Kant, der als erster das wirklich Ausschlaggebende des
receptiv-ästhetischen Verhaltens erkannt hat, gab ihm zugleich eine starke
ethische Betonung. Die »Interesselosigkeit«, die bei ihm den Zustand der
Passivität, der Bereitschaft der vorgeschriebenen Wirkung gegenüber
bezeichnet, hat eine ethische und nicht rein ästhetische Richtung; sie ist nicht
so sehr eine Bereitschaft auf die Wirkung des Werks, wie vielmehr eine
Abwehr von den Interessen der sinnlichen Welt, eine Vorbereitung zum
ethischen Aufstieg. Die wahre Bedeutung dieser Kantischen Fragestellung
kann nur später durchschaut werden, hier ist sie für uns nur ein Beispiel für
die Wichtigkeit der genauen Trennung der Phänomenologie von der Nach¬
konstruktion, der psychologia rationalis als andeutende Vorstufe zum Werk
von derselben als abgeleitete methodische Folge aus dem Werk und nach
dem Werk. Das entscheidende Moment hier ist, daß die Maxime der Bereit¬
schaft nur nach dem erreichten Werk aufgestellt werden darf, wenn die
Phänomenologie schon vollendet dasteht und in sich und in Beziehung zum
Werk klar geworden ist; denn erst auf dieser Stufe ist die ästhetische Welt
so fertig geworden, daß das Ethische der Maxime, der Befehl, nur im rein
Formellen ethisch wirkt und nicht durch inhaltlich Ethisches die Reinheit
der ästhetischen Sphäre trübt oder sie zum Vorhof ihres eigenen Gebietes,
der Ethik, erniedrigt. Auf der von uns bis jetzt erreichten Stufe kann also die
Passivität des Receptiven noch nicht den ethischen Accent der Bereitschaft
62 Philosophie der Kunst

haben, denn das »Wozu« dieser Bereitschaft, das Werk, ist noch nicht in
ganz konkret erkannter Wesenheit deutlich geworden; freilich ist dieses
Verhalten auch kein psychologisches mehr, denn sein Charakter ist schon
durch das bisher erkannte Wesen des Werks und der notwendigen Bezie¬
hung des Aufnehmens zum Werk bestimmt. Die Bereitschaft des Receptiven
also, die in seiner nachkonstruktiven Psychologie als die Maxime seines
vorgeschriebenen Verhaltens erscheinen wird, ist hier nur die Bereitschaft
des Subjekts, das an den ihm notwendig bereiteten Enttäuschungen durch
die empirische Wirklichkeit leidet und bereit ist sich allem hinzugeben, was
es von diesen befreien könnte. Passivität, Unmittelbarkeit und In-sich-fer-
tig-Sein sind jetzt schon notwendige Adjektive dieses Verhaltens, und seine
Richtung ist durch die früher festgestellte harmonia prästabilita zwischen
objektiver Werkform und subjektiver Erlebnisform in der Wirkung ebenfalls
eindeutig bezeichnet.
Als das wichtigste Moment der Receptivität erscheint uns die deutliche
Bestimmtheit der Passivität. Die homogene Organisiertheit des Werks hat
einen centralen Standpunkt zur Voraussetzung und eine stetig eingehaltene
Richtung zur Folge, die Passivität des aufnehmenden Verhaltens muß also
eine dieser entgegenkommende Bestimmtheit haben. Anders ausgedrückt:
da das Werk, wie wir gesehen haben, aus einer bestimmten Möglichkeit der
Organisation heraus seine Welt erschafft, und jeder andere Gesichtspunkt in
seiner Existenzsphäre gar nicht denkbar oder vorstellbar sein kann, wird
seine Wirkung nicht den ganzen Menschen der Erlebniswirkhchkeit treffen,
sondern nur die Organe von ihm, die dieser Organisationsform angemessen
sind. Die »Bereitschaft«, die so entsteht, unterscheidet sich trotz aller
Verwandtschaft doch von der ethischen Unterwerfung unter Maximen einer
Sphäre: erstens ist sie nach spontanen Möglichkeiten des Erlebens bestimmt,
nicht aber nach diesen fremden und sie überwältigenden Geboten. Zweitens
entsteht diese Bereitschaft nicht durch Unterdrückung oder Ausscheidung
des Heterogenen, sondern durch den positiven Accent, durch die Sammlung
und Zusammenfassung des Menschen, im Gerichtetsein auf diese eine
bestimmte Möglichkeit. Diese natürliche Geneigtheit zum In-den-Hmter-
grund-drängen aller receptiven Organe mit Ausnahme von einem findet sich
auch in der Erlebniswirklichkeit vor, und es ist einfach — wie Fiedler gezeigt
hat — das Zeichen der mangelhaften, durchschnittlichen Intensität des Erleb¬
nisses, wenn der Mensch in der Breite seiner gesamten Möglichkeiten zur
Aufnahme von Eindrücken fähig ist. Die einfache Intensität also, von was
immer auf ihn Zuströmenden, reicht aus, um den diesem angemessenen
Schöpferisches und receptives Verhalten 63

Organen eine selbstverständliche Herrschaft über alle anderen zu sichern.


Freilich zeigt sich in der bloßen Erlebniswirklichkeit zugleich die intelligible
Zufälligkeit der hier möglichen Wirkung: die Bewegung, deren Intensität
diese Erlebnisart hervorgebracht hat, kann keine eingeborene Tendenz und
Möglichkeit in sich haben, die durch sie entfachte Intensität zu steigern;
denn dazu wäre ein Treffen der reinen und zur Homogeneität eines Organs
tendierenden, subjektiven Erlebnisformen und eine Anpassung an die —
ihnen innewohnenden — Möglichkeiten einer Steigerung nötig, die der empi¬
rische Erlebniserreger prinzipiell nicht haben kann. Darum versagen - von
dem Gesichtspunkt der reinen Erlebbarkeit und deren immanenten Intensi¬
tät und Steigerung aus betrachtet — die Menschen gerade ihren »großen«
Erlebnissen gegenüber und gerade diese bringen ihnen die tiefsten Enttäu¬
schungen. Die Enttäuschungen an sich selbst, weil ihre Erlebnisfähigkeit
nicht auszureichen scheint, um den ihnen vom Leben gebotenen Erlebnis¬
reichtum zu fassen, und an dem Leben, dessen Größtes und Tiefstes auch
klein und brüchig ist, grundlos abbricht und im Sande verläuft. Durch logi¬
sches, ethisches etc. Verhalten kann diese Brüchigkeit, die Unangemessen¬
heit von notwendiger Erlebnisform und möglichem Erlebnisinhalt nur auf¬
gehoben, aber nicht gehoben werden: denn das gegenseitige aneinander
Angepaßtsein von Subjekt und Objekt, das in jeder homogenen Sphäre
erreicht wird, hat, wie oft gezeigt wurde, gerade den Verzicht auf Unmittel¬
barkeit und Erlebbarkeit zur Voraussetzung und steht der Erlebniswirklich¬
keit teils als Gebot, als Sollen, teils als ein — für sie unerreichbares — paradies¬
artiges Sein der Erfüllung gegenüber. Darin ist der wirkliche Unterschied
zwischen normativer Homogeneität in den Welten der Normen und unwill¬
kürlicher Tendenz zur Homogeneität durch Erlebnisintensität begründet:
jedes normative Verhalten gibt den »ganzen« Mensch auf, wendet sich an
die ihm angemessene Capacität desselben und fordert, daß diese nun den
Menschen »ganz« erfülle; die unwillkürliche Hinneigung des Menschen hin¬
gegen zu der Seite seiner Möglichkeiten, die vom starken Erlebnis betroffen
wird, enthält den »ganzen« Menschen: nichts wird hier aufgegeben oder
verworfen, nur das Zersprengte gesammelt und das Verwirrte zur Ballung
gebracht. Darum kann Bergson, dessen Begriff der Intuition eine große
Verwandtschaft mit dieser phänomenologischen Hindeutung zum recepti-
ven Verhalten hat, sagen: »Es ist unbestreitbar, daß jeder psychologische
Zustand bloß dadurch, daß er einer Person angehört, die Gesamtheit einer
Persönlichkeit widerspiegelt. Es gibt keine Empfindung, so einfach sie auch
sei, die nicht virtuell die Vergangenheit und die Gegenwart des Wesens, das
64
Philosophie der Kunst

sie empfindet, einschlösse . . .«L Diese potentielle Einheit der Persönlichkeit


im psychischen Zustand kann aber zur aktuellen Zusammenfassung des
ganzen Menschen während und sub specie des wirklich intensiven Erleb¬
nisses werden. Nur haben diese Tendenzen zum Homogenwerden des
Menschen durch das Erlebnis verschiedene Richtungen, die - als Hindeu¬
tungen - den verschiedenen Strukturen der Sphären, zu denen sie intendie¬
ren, entsprechen. So führt die Vereinheitlichung des Menschen durch den —
aktiven — Affekt zu einem Zusammenziehen der gesamten Persönlichkeit in
der Leidenschaft, zu einem Ausscheiden oder Fallenlassen von allem, was
nicht in ihre Linie gehört, zu einer Unterordnung des Menschen »ganz«
unter ihre Herrschaft; mit einem Wort, zu seinem Intensiver- aber Enger¬
werden als er es in der durchschnittlichen Erlebmswirkhchkeit war; und es
wäre hier nun die Frage, ob dieses Verhalten nicht in der Phänomenologie
der höchsten, überprivaten und überstaatlichen Ethik zu analysieren wäre.
Andererseits hat die durch sehr intensives Aufnehmen der Wirklichkeit,
durch Passivität und Hingebung an das Erlebnis erreichte aktuelle Einheit
des Menschen seine Erweiterung über das gewöhnlich Gegebene zur Folge:
die Schwelle seiner durchschnittlichen Aufnahmefähigkeit sinkt und durch
das homogen gewordene Interesse klingen schwache Andeutungen, die sonst
wegen der Ungesammeltheit des durchschnittlichen Verhaltens unbemerkt
vorüberzogen, stark und anhaltend nach; Beziehungen, die dort wegen der
Heterogeneität und Zerstreuung verdeckt waren, werden offenbar etc. Dar¬
aus erklärt sich aber, daß die Enttäuschung hier, wo der Erlebende viel
stärker seinem Objekte ausgeliefert ist als dort, entsprechend häufiger und
tiefer sein muß: die Leidenschaft kann — im Grenzfall ihrer Intensität
betrachtet — eine ihr relativ angemessenere Welt erschaffen, d. h. es ist denk¬
bar, daß sie in sich zu Ende läuft oder das Individuum in die Selbstvernich¬
tung treibt, bevor ihm klar werden konnte, daß der in ihm erreichten Einheit
nichts in der Außenwelt entspricht; das rein aufnehmende Verhalten kann
aber die Unangemessenheit des Objektes an seine eigenen Möglichkeiten
unmöglich dauernd verdecken. So zeigt sich hier als Ziel des Treibens: eine
der Erlebnisinnerlichkeit adäquate äußere Welt zu linden.
Eine ausgeführte phänomenologische Untersuchung — wozu sich in diesem
Zusammenhang keine Möglichkeit bietet — müßte hier eine genaue Analyse
der sogenannten Wachträume und Phantasien vornehmen, in der sich zeigen

[ r Einführung in die Metaphysik. Jena, Diederichs. 1909. S. 15.]


Schöpferisches und receptives Verhalten 65

würde, daß diese zwar zum großer Teil das dem Subjekt vom Leben prak¬
tisch-inhaltlich Versagte zu ersetzen suchen, zum anderen Teil aber gerade
die formelle Nichtübereinstimmung der beiden Wirklichkeiten aufzuheben
unternehmen. Man würde z. B. finden, daß sie sich auf eben die Punkte, die
für das bereits erwähnte Versagen des Erlebens ausschlaggebend sind, richten,
so etwa auf das Tempo-Verhältnis zwischen dem wirklichen Geschehen des
Lebens und den immanenten Anforderungen der möglichst großen Erlebnis¬
intensität, auf das Reinmachen der äußeren Kausalitätskette der Ereignisse
von allem, was ihrem Erlebniswert nicht entspricht, auf die Ordnung in der
Aufeinanderfolge dieser Ereignisse zu einem intensiven Abwechseln der vor¬
bereiteten Lösungen von Gespanntsein und plötzlichen, gnadenvollen Über¬
raschungen etc. Doch dieses Phantasieren in der Erlebniswirklichkeit darf
der künstlerischen Phantasie nicht zu nahe gebracht werden: es hat nur als
hindeutender Akt seinen Wert, denn es bezeichnet die Sehnsucht, als deren
Erfüllung ein unbestimmtes und aus ihr unbestimmbares Etwas, das Werk
der Kunst, gesucht wird, in sich enthält es aber noch keinerlei Elemente, die
dessen Wesen irgendwie erklären könnten. Denn das entscheidende Kenn¬
zeichen einer wahrhaften Erfüllung dieser Sehnsucht besteht darin, daß das,
was den inneren Erlebnismöglichkeiten entspricht, eine Wirklichkeit, also
etwas dem Subjekt unabhängig Gegenüberstehendes, ihm Äußerliches und
Fremdes sei. Nur durch ein Bezogensein und Treffen auf eine »Wirklich¬
keit« kann das unfruchtbare Insichbleiben des bloß Subjektiven aufgehoben
werden. Das hemmungslose Weiterlaufen, die schlechte Unendlichkeit, die
es seiner Natur nach besitzt, verursacht, daß es das Brüchige des Lebens nur
in eine schattenhafte Cohärenz, nicht aber in das erträumte Leben zu
verwandeln vermag und so die Enttäuschung eher hinausschiebt und
vermeidet als eine Welt ohne Enttäuschung realisiert oder findet. Die
Unfruchtbarkeit zeigt sich noch deutlicher in der unklaren Art der Vermi¬
schung von Aktivität und Passivität in einem solchen Verhalten; indem die
Phantasiewelt rein durch das sie erlebende Subjekt hervorgebracht wird, ist
die Passivität, das Zuschauen, das In-sich-einströmen-lassen, das gesuchte
und ersehnte reine Erleben zur unhaltbaren Illusion geworden; und die
Aktivität selbst ist eine ins Leere hineinarbeitende Willkür, die ihren Stoff
nur in der Negativität der äußeren Welt und in den abstrakten Wünschen
findet, die also, wie jedes perpetuum mobile, langsam, sich selbst abschwä¬
chend und die eigenen Energien verzehrend absterben muß. Die Passivität
des receptiven Verhaltens, die von diesen phänomenologischen Akten viel¬
leicht unabhängig schien, enthüllt sich nun als unerläßliche Vorbedingung
66 Philosophie der Kunst

der Angemessenheit von Subjekt und Objekt im Erlebnis: Passivität ist dann
nur die auf das Subjekt bezogene Definition der Notwendigkeit, daß das die
Erfüllung bringende Objekt in der Tat eine Wirklichkeit ist. Aber diese
Passivität ist keine Passivität schlechthin, sondern eine in bezug auf das
Werk; nicht aufgegeben wird durch sie die Persönlichkeit des Erlebenden,
sondern — als Persönlichkeit und als Erlebnis — gereinigt und gesteigert.
Darum steht sie in starkem Gegensatz zur Passivität des mystischen Verhal¬
tens, wo in Folge der absoluten und richtungslosen Passivität der Seele ihre
Vereinigung mit ihrem gesuchten Objekt, mit ihrem Gott, vollzogen wird.
Hier dagegen kann und soll es zu keiner Aufhebung der Subjekt-Objekt-
Dualität, zu keinem Einswerden kommen, sondern bloß zu einem Erleben
einer fremden Welt, als ob sie die eigene wäre, als ob jede fremde Welt ihrem
Begriffe und Wesen nach der eigenen verwandt wäre. Aber die Distanz
zwischen Subjekt und Objekt kann nicht verschwinden, denn das Entschei¬
dende der hier gesuchten Erfüllung liegt eben darin, daß das - fremde und
distanzierte — Objekt in der Intensität einer absoluten Subjektsnähe erlebt
werde. Darum kann die Erfüllung nichts anderes sein als das Zusammen¬
fallen von Höhepunkt und Ende, ein Vordringen bis zu dem alles enthül¬
lenden Sinn, bis zu der nicht mehr überbietbaren Steigerung der Intensität,
womit aber zugleich und simultan der Schluß der äußeren Kausalitätskette
erreicht wird. Diese Erfüllung als Einheit des Innern und Äußern im Zuen¬
delaufen der beiden Reihen kann in der Erlebniswelt nirgends vorgefunden
werden; aber jede Sehnsucht nach einer Erfüllung, die die Erlebniswirklich-
keit nicht aufhebt, weist — mehr oder weniger deutlich — auf diesen Begriff
ihrer Realisation: auf das Werk der Kunst hin.
So hat sich der dürftige und fragmentarische Charakter des hier Auffind¬
baren gezeigt. Nur ein äußerst unklares Treiben und wenige spärliche
Hindeutungen zum Werk lassen sich aufweisen und selbst in den sich hierzu
annähernden Verhaltungen zeichnet sich keine eindeutige Richtung ab. Klar
geworden ist nur dieses: wir haben als phänomenologische Tatsache die
Sehnsucht des Menschen nach einem adäquaten Objekt seines Erlebnisses,
und als ihre mögliche Erfüllung das Werk der Kunst gefunden. Wie sich
diese Erfüllung konkret zu realisieren vermag, ist aus dem bis jetzt
erreichten Begriff des Werkes noch nicht ersichtlich. Durch diese Sehnsucht
und ihr Postulat an das Werk, daß es eine den Erlebnisformen des Subjekts
angemessene, aber ihnen unabhängig gegenüberstehende und als Unabhän¬
giges erlebte Wirklichkeit sein muß, um diese Wirkung hervorbringen zu
können, erweitert sich doch unsere Erkenntnis vom Werk. Dazu kommt, daß
Schöpferisches und receptives Verhalten 67

die Möglichkeit dieser Wirkung vom erlebenden Subjekt aus sich doch etwas
klarer enthüllt hat: wir haben im Subjekt der Erlebniswelt die Fähigkeit
erblickt, durch Hingebung an die Intensität eines Eindrucks so homogen zu
werden, daß die auf diese Weise erreichte Homogeneität das ganze erle¬
bende Subjekt bewegt, in sich faßt und bedeutet, daß sie also für das Subjekt
konstitutiv werden und in Folge dessen innerhalb der Erlebbarkeit die refle¬
xive Homogeneität dieser Sphäre überwinden könnte, wenn sie rein aus dem
Subjekt heraus zu verwirklichen wäre und nicht eines erregenden Objektes,
das aber die Erlebniswirklichkeit nicht aufzubieten vermag, bedürfte. Die
Spärlichkeit dieser Resultate, auf deren fragmentarischen Charakter wir an
einem wichtigen Punkt der Phänomenologie des Schöpfers noch hinweisen
werden, erklärt sich aus der entgegengesetzten Richtung von phänomenolo¬
gischen Treiben und nachkonstruktiven Verhalten des Receptiven. Während
beim Schaffenden sowohl die Maxime in der Nachkonstruktion ein Sollen
zum Werk ausspricht, wie das phänomenologische Verhalten sich als ein -
wenn auch weniger klares — Wollen zum Werk zeigt, soll hier die phänome¬
nologische Bewegung zu dem noch nicht erreichten Werk hinführen, wo
doch der normative Gang in der Nachkonstruktion vom Werk zum Recep¬
tiven führt, und sich, von ihm bloß Passivität und Hingebung fordernd, nur
in ihm, aber nicht von ihm aus vollendet. So kann der - als in der Struktur
der Ästhetik notwendig erkannte - Sprung zwischen Subjekt und Werk bei
dem Schöpfer in der Verlängerungslinie des phänomenologischen Verhal¬
tens liegen, während er sich in der Phänomenologie des Receptiven über¬
haupt nicht positiv aufweisen läßt und nur in der Nachkonstruktion metho¬
disch bestimmbar wird. Negativ ist freilich der Sprung auch hier gegeben, ja
das Faktum, daß nur über ihn der Weg vom Werk zum Receptiven führt, ist
der Grund der Undeutlichkeit aller Hinweise auf das Werk und auf das
normative Verhalten zum Werk auf dieser Stufe. Denn es liegt im Wesen des
reinen Erlebnisses begründet, daß in ihm nichts darüber hin Transcendie-
rendes vorzufinden ist, und wir mußten uns hier eben daraufhin bemühen,
gerade diesen Charakter des Erlebnisses, in dem sich das normative, ästhe-
tisch-receptive Verhalten zu zeigen beginnt, auf die möglichste Reinheit zu
bringen. Der Sprung liegt also jenseits des receptiven Verhaltens, bestimmt
es zwar - durch das notwendige Mißverständnis des Werks - vollständig
seiner Struktur und seinem Inhalte nach, kann aber eben deshalb darin nicht
aufgezeigt werden. Das schöpferische Verhalten muß, wegen der Tat und
dem Wollen, die in ihm liegen, über das rein Erlebnishafte hinausgehen, es
kann von Tendenzen zur Überwindung des Mißverständnisses erfüllt sein
68 Philosophie der Kunst

und so schon in sich selbst positive Anzeichen zum Sprung tragen; die
normative Receptivität dagegen ist das konstitutiv gewordene Mißverständ¬
nis, ein Subjekt-Objekt- Verhältnis, in dem diese inhaltliche Inadäquatheit
das Formell-Gewollte und den Normen Entsprechende ist. Hier wäre also
jedes Klarwerden über den vorangegangenen Sprung, über das sich vollzie¬
hende Mißverständnis eine Trübung der Reinheit in der Phänomenologie,
ein Aufstand gegen die Normen in der Nachkonstruktion.
Die primitive Erkenntnis, die wir über die Gliederung des ästhetischen
Gebietes erlangt haben, hebt die Wechselwirkung zwischen den Sich-Mittei-
lenden auf und schafft die correlaten homogenen Typen, des passiven
Receptiven und des aktiven Schöpfers. Dadurch daß es sich bei dem Schaf¬
fenden um eine Tätigkeit, also um etwas irgendwie Bewußtes und Gewolltes
handelt, ist sein Verhalten schärfer von der gewöhnlichen Erlebniswirklich¬
keit abgehoben als das des Receptiven; das Treiben, das sich hier zum
normativ vorgeschriebenen Prozeß ringt, ist deshalb deutlicher und diffe¬
renzierter als dort. Aber derselbe Grund, aus dem zunächst eine Erleichte¬
rung des Verfahrens und ein größerer Reichtum seiner Resultate zu
entspringen scheint, verursacht zugleich eine Erschwerung in der Sicherheit
der gewonnenen Ergebnisse. Denn die Beziehung auf das Werk ist hier
ungleich stärker und bestimmender, als sie dort war, so daß vielmehr davon
abhängen wird, wie scharf man, ohne Vorwegnahme von Unbewiesenem,
das Wesen dieses Werks ins Auge zu fassen vermag. Beim Receptiven
entstand ein — freilich leeres und abstraktes - Bild des Werks als gegebene
Erfüllung der dort lebendigen und treibenden Sehnsucht, und es mußte noch
nicht näher bestimmt werden, damit es als einzig mögliche Realisation des
Postulierten erscheine. Hier dagegen, wo es sich um Akte handelt, die über
die Erlebniswirklichkeit hinausgehen, die das Werk nicht als ihre, ihnen
dunkel vorschwebende Erfüllung besitzen, sondern es durch Handlungen
realisieren müssen, denen das Werk mithin nicht gegeben, sondern aufge¬
geben ist, kann die geringste Abweichung in der Fassung des Werks zu den
größten Abirrungen führen, indem Verhaltungen, die zu ganz anderen
Erfüllungen tendieren, als darauf gerichtet aufgefaßt werden. So entsteht
hier eine doppelte Gefahr der Bewußtheit: Einerseits scheint das, was wir
von dem Werk klar erblicken können, nicht auszureichen, und wir müssen
uns bemühen, es auf eine Stufe der helleren Bewußtheit zu bringen; anderer¬
seits müssen wir uns aber hüten, diese Steigerung des Bewußtwerdens in das
auf das Werk hinstrebende phänomenologische Treiben selbst hineinzutra¬
gen und es durch eine solche Intellektualisierung zu verfälschen. Der Sprung
Schöpferisches und receptives Verhalten 69

zwischen Schöpfer und Werk hat zur notwendigen Folge, daß im Bewußt¬
sein des Hervorbringenden das Hervorgebrachte nie ganz klar gegenwärtig
sein kann, daß sein Erkennen und Wollen sich zwar auf das Werk richten
und so richten, daß sie ihm zur Existenz verhelfen können, daß sie aber
notwendigerweise etwas anderes zu vollbringen meinen, als was durch sie
tatsächlich vollbracht wird. So wird jeder Schöpfer zu einem Saul, der
auszog, die Eselinnen seines Vaters zu suchen, und der ein Königreich fand.
Aber die Gnade im Mißverhältnis zwischen Weg und Ziel ist hier genau und
notwendig vorgezeichnet, und der Sprung, der sie trennt, ist geradeso
erkennbar und bestimmbar, wie die Allmählichkeit seiner Vorbereitung. Das
Problem dieser Phänomenologie kann deshalb so ausgesprochen werden: die
Tendenzen im Verhalten des Schöpfers zu finden, die auf den ihn mit dem
Werk verbindenden Sprung intendieren, deren immanente Notwendigkeit
es ist, zu ihm zu führen. Anders ausgedrückt: es kommt darauf an, im Schaf¬
fensprozeß selbst und in allen Lebensmomenten, die auf ihn hinweisen, die
Art von Verkennen und Falschsehen des Zieles deutlich zu machen, die diese
tiefe Fruchtbarkeit des Nichtsehens und Nichtwissens, die diese Fähigkeit
zum Sieg im Scheitern des Gewollten besitzt.
Doch damit sind wir, um die Richtung unserer Untersuchung genau
bestimmen zu können, bereits etwas weiter gegangen, als der gegenwärtige
Stand unserer Erkenntnisse es, streng genommen, gestattet hätte. Was uns
jetzt gegeben ist, ist der früher bestimmte Begriff des Werks als ein System
von Erlebnissen inadäquat vermittelnden Schemata, das so vollendet in sich
abgeschlossen ist, daß seine Wirkung von nichts anderem als den imma¬
nenten Beziehungen seiner Elemente abhängt. Dieser Definition kann der
jetzt schon allerdings deutlicher gewordene Begriff dieser Wirkung, die dort
nur als notwendig und allgemein gedacht bestimmt wurde, hinzugefügt
werden. Dadurch haben wir endlich den Punkt erreicht, wo sich unser
Gebiet als ästhetisches scharf von allen anderen abhebt: wenn in diesem
Werk und seiner Wirkung auch noch nicht alles deutlich umgrenzt ist, und
vor allem noch nicht alles von ihnen ausgeschieden ist, was eventuell damit
verwechselt werden kann (dies ist nur in dem vollendeten System der Künste
möglich), so sind wir doch wenigstens bis zu dem allgemeinen Begriff des
Künstlerischen vorgedrungen: das aktive Verhalten, das sich uns in der
ersten phänomenologischen Skizze gezeigt hat, kann nichts anderes als der
Schaffensprozeß des Künstlers sein. Das Werk, das hier geschaffen wird,
unterscheidet sich dadurch von allen anderen menschlichen Mitteilungsfor¬
men, daß in ihm das Vehikel des Ausdrucks zum Ziel, zur selbständigen
7° Philosophie der Kunst

Substanz geworden ist, weshalb auch der Wille zum Werk als notwendiges
Kennzeichen das Wollen dieser Substantialität und Immanenz des Werks an
sich tragen muß, ja allein durch diese Richtung des Willens definiert werden
kann. Es liegt aber im Wesen des Werks und des Verhältnisses des Menschen
zu ihm, daß dieser Wille nirgends eindeutig vorlindbar sein kann. Nicht die
starken Abweichungen der Theorien über den Schaffensprozeß voneinander
sind hier gemeint, sondern eine allen diesen Divergenzen zu Grunde
hegende Strukturtatsache des ästhetischen Gebietes, durch die ein großer
Teil der verschiedenartigsten Auffassungen als relativ zutreffende ihr Recht
behält und ihr Auseinandergehen nicht mehr als ein vorläufiges und zu über¬
windendes Stadium der Wissenschaft, sondern als ein notwendig zu Tage
tretendes Symptom des Wesens der Kunst erscheint. Es ist hier von einer
Dualität die Rede, die aus alledem, was bis jetzt über Mitteilungsform und
Werk gesagt wurde, ziemlich klar vorliegt: der Wille zum Werk kann
nämlich erstens vom Erlebnis des Schaffenden ausgehen und sich auf das
Werk als die Möglichkeit zur intensiv wie extensiv stärksten Wirkung rich¬
ten, er kann aber zweitens von vornherein durch das Eigenleben des Werks
bestimmt sein, dieses vom Schöpfer und seinem Erlebnis getrennte Dasein
des Werks wollen und suchen und nur im Resultat, im Erlebnis des Recepti-
ven, zu etwas Persönlichem Werden. (Es muß hoffentlich nicht eigens
betont werden, daß es sich hier um eine phänomenologische Typik, nicht
aber um eine Bestimmung der psychologischen Typen im Schaffensprozeß
handelt.) In dem ersten Fall ist das gesteckte Ziel eine adäquate Form für das
- an sich unabhängig von Kunst daseiende - Erlebnis zu finden, und das
Werk und seine Ausdrucksmittel sind eben nur Mittel und Wege, die dazu
führen; es kommt auf ein großes und tiefes Sich-Aussprechen und
-Ausdrücken des schöpferischen Menschen an. Im zweiten Fall liegt der
Wertaccent auf dem Finden der wirkenden Mittel, der Elemente des Werks,
die ihm seine in sich abgeschlossene Existenz verleihen: auf Technik. Vom
Standpunkt des Werks aus betrachtet, sind beide Arten des Verhaltens
inadäquat. Im ersten Fall entsteht der Konflikt zwischen dem sich in seiner
— wie wir wissen — nicht nutteilbaren Eigenart zum Ausdruck ringenden
Erlebnis und der eigenen, davon prinzipiell unabhängigen Dialektik der
Ausdrucksformen. Im zweiten Fall wird im Wollen des Schöpfers das
wesentliche Element der gewollten Wirkung übersehen: die Inhalte, Erleb¬
nisse erweckende Kraft der Formen, die diese Kraft nicht dem abstrakt,
sondern dem erfüllt Formellen in sich verdanken, die also, um intensiv
wirken zu können, entweder eine vorangegangene Intensität voraussetzen
Schöpferisches und receptives Verhalten 71

und fordern, oder in ihrem - immanent - emotionalen Wesen sich zu einer


solchen Intensität gesteigert haben müssen; die die Intensität nicht rein aus
sich heraus (aus dem abstrakt Formellen) hervorbringen, deren Wesensart
vielmehr darin besteht, Intensitäten - allerdings inhaltlich inadäquat und
graduell verfälscht - zu vermitteln. So ist in dieser Dualität der Sprung vom
Schöpfer auf das Werk in zwei verschiedenen Richtungen angezeigt: erstens
als der Sprung von Erlebnis auf Technik und zweitens als der von Technik
auf Erlebnis.
Sehr wichtig ist es nun hier, daß in beiden Fällen der Receptive in der
Phänomenologie des Schaffenden vorkommt und eine entscheidende Rolle
in ihr zu spielen hat, während in der Phänomenologie des Receptiven der
Schaffende nur aus der Denknotwendigkeit heraus entstand, etwas, das als
Einheitliches und Geschaffenes erlebt wurde, als das Werk eines einheitli¬
chen Willens aufzufassen. Trotzdem aber hier der Receptive als eine weit
deutlichere und konkretere Gestalt erscheint, haben die Strukturen der
beiden Phänomenologien doch dies eine gemein, daß der Receptive, insofern
er in der Phänomenologie des Schaffenden vorkommt, nicht völlig mit dem
Receptiven in der eigenen Sphäre identisch ist, noch umgekehrt. Die zwei
Fassungen der Gestalt des Receptiven, die hier entstehen, könnten so formu¬
liert werden: wenn der Schöpferwille auf den Ausdruck des Erlebnisses
ausgeht, so schwebt ihm eine ihm prinzipiell verwandte, zur Aufnahme des
Mitzuteilenden bereite Seele als ihm gegenüberstehende Receptivität vor;
wenn dieser Wille auf die Beherrschung der Ausdrucksmittel gerichtet ist, so
ist dagegen die Wirkung das aufgegebene Problem und die Auffassungs¬
formen der abstrakten Receptivität die Voraussetzung, die die Richtung und
die Möglichkeiten der Wirkung bezüglich Intensität und Steigerung
bestimmt. Beide Typen der Receptivität sind entscheidende Teile der Ausge¬
staltung dieser phänomenologischen Schicht. Der erste Typus repräsentiert
die tiefe und notwendige Illusion des Schaffenden, den unerschütterlichen
Glauben, daß sein Schaffen eine letzte Enthüllung seiner wirklichen Wesen¬
heit ist, und daß seine Mittel gerade dazu vorherbestimmt sind (ein Wunsch,
der selbst hinter dem bewußt stets auf Verdeckung des Individuellen hinar¬
beitenden künstlerischen Wollen mächtig ist). Der Aufnehmende, der ihm so
vorschwebt, ist die unerläßliche Voraussetzung seiner Existenz, durch ihn
erhält sein Dasein einen Sinn. Aber hier ist nur eine Voraussetzung zu
gewinnen, die Richtung der Aktivität selbst kann hierdurch nicht bestimmt
werden, so daß der Sinn — wenn ihm nicht die Gnade einer wegweisenden
Gegenständlichkeit zuteil wurde — leer und reflexiv wird und auf das
71
Philosophie der Kunst

Subjekt des Schaffenden zurückfällt. Die hinreißende Unbekümmertheit,


mit der dieser Typus des Schaffenden sich über alle Hindernisse des
Ausdrucks als nicht existente hinwegsetzt, daß er Gestaltung mit Aussprache
und Wirkung mit Verstehen verwechselt, trägt in sich noch keinerlei
Garantie für das Gelingen. Denn die Illusion, sich ausgesprochen zu haben
und verstanden zu werden, kann nur entstehen, wenn es dem Schaffenden
— wie im Traum und ohne zu wissen, wie es geschah — gelungen ist, zwischen
sich und dem Hörenden ein blühendes Reich von in sich abgeschlossener
Vollkommenheit zu errichten. Diese tiefe und glückliche Unbewußtheit
kann deshalb nur dann auch eine sieghafte sein, wenn im spontanen, rein
persönlichen Erlebnis die Gestaltungsformen des Werks vorgelagert und
vorgearbeitet bereit stehen, wenn also das Lautwerden des Erlebnisses
unwillkürlich zur Offenbarung dieser Formen wird, wenn die Aussprache
nur im Bewußtsein des Sprechenden eine Verkündigung von sich und seinen
Schicksalen, an sich aber ein ewiges Symbol allgemeiner und ewiger Schick¬
sale ist. Dieser Schaffende braucht dann kein Richtung bestimmendes Regu¬
lativ in den Formen der Aufnahmefähigkeit beim Receptiven zu besitzen; in
seinen Erlebnisformen sind ja die Formen des Werks und der Wirkung
bestimmt. Ohne diese Gnade, diese harmonia praestabilita der Erlebnisfor¬
men des Schaffenden mit den konstitutiven Formen des Werks kann dieser
Typus nie zum wahrhaft Schaffenden werden, und seine Mitteilungsform nie
das Inadäquate, Brüchige und Flüchtige der Erlebniswirklichkeit überwin¬
den. Wenn er auch meint, etwas geschaffen zu haben, so hat er doch nur eine
mechanische, abstrakte und die Unmittelbarkeit abschwächende Erstarrung
der gewöhnlichen menschlichen Mitteilungen hervorgebracht; sein Geschaf¬
fenes ist kein Werk, sondern ein schwaches, weil abstraktes, Hinzeigen auf
das Erlebnis und den Erlebniserreger, etwas, was das unklarste Stammeln
oder die einfachste, das Objekt zeigende Geste im unmittelbaren Verkehr
der Menschen miteinander besser zu leisten imstande wäre. Der Sprung von
Erleb nis auf Technik ist nicht vollbracht und dieser Schaffende enthüllt sich
als der Dilettant, als der Jakobiner des Erlebnisses, dessen Fanatismus zum
unmittelbaren Ausdruck ihn, wie Goethe sagte, »Phantasie und Technik
miteinander verwechseln läßt«, der in komisch-heroischer Blindheit sich
gegen die Inadäquatheit der Ausdrucksformen auflehnt, aus der gerade sein
ersehntes Ziel, das ewig und überall heimische Werk erwächst.
Die andere Form der hier gegebenen Receptivität scheint wie zur Vermei¬
dung dieser Gefahr da zu sein: die Beziehung, die der zweite Typus des
Schaffenden zur Receptivität hat, ist ihrem Wesen nach gerade Richtung
Schöpferisches und receptives Verhalten 73

bestimmend; der Receptive ist in diesem Fall etwas wie ein Instrument, in
dem gewisse, genau bestimmte Möglichkeiten zu lautwerdenden Tönen stek-
ken, und die Aufgabe des Schöpfers ist, sie aus ihm hervorzulocken.
Während also im früheren Fall Werk und Receptiver zum Mittel des
einzigen Zieles, der Aussprache der schöpferischen Persönlichkeit wurden,
ist hier das Erlebnis des Receptiven, das vorgeschriebene Aktuell-werden
seines potentiell gegebenen Erlebnisses das Ziel, und der Wille des Schaf¬
fenden ist auf diese Seite des Werks, als auf die einzig wesentliche, gerichtet.
Dadurch ist die Unbestimmtheit und Richtungslosigkeit des anderen Typus
erledigt; in diesem Receptiven sind alle Möglichkeiten der Wirkung vorge¬
zeichnet und es scheint nur darauf anzukommen, daß der Schaffende die zur
Erkenntnis dieser Wirkungen ausreichende Bewußtheit und die völlige
Beherrschung der sie hervorrufenden Mittel erlange, damit er am Ziel
ankomme. Das Ankommen kann durch diese Herrschaft über die Technik
gesichert werden, es fragt sich nur, ob dieses Ankommen am Ziel auch ein
Erreichen des Zieles ist, ob ein exaktes Realisieren der zusammenstim¬
menden Formen zwischen Werk und receptiven Erlebnissen zur wirklichen
Aktualisierung dieser Erlebnisse ausreicht. Hier muß nun gesagt werden,
daß, obwohl der Receptive in der Phänomenologie des Schaffenden nicht
mit dem in der eigenen Sphäre identisch ist, so muß der phänomenologische
Schöpfer dennoch auf das wirkliche Bedürfnis des eigentlichen Receptiven
treffen, um die gesuchte und durch das Verhältnis des Schaffenden zum
Receptiven vorgeschriebene Wirkung tatsächlich hervorrufen zu können.
Wir haben aber gesehen, daß das Wesen der vom Receptiven aus ersehnten
Wirkung daraus besteht, daß die wirkenden Formen nicht als Formen
bewußt werden, daß das beglückende Wunder des künstlerischen Erlebnisses
gerade daraus entsteht, daß - infolge des absoluten aneinander Ange¬
paßtsein von Werkformen und Erlebnisformen - das Werk als eine Wirk¬
lichkeit, als ein Inhalte ausströmendes und von Inhalten erfülltes Etwas
wirkt, dessen Formcharakter nur durch Reflexion, nur durch Verlassen des
unmittelbaren Erlebnisses festgestellt werden kann. Das ausschließliche
Gerichtetsein des Schaffenden auf die formellen Elemente der zu erzie¬
lenden Wirkung birgt also die große Gefahr in sich, daß das so entstandene
Werk im Receptiven als Form erlebt wird, daß der Receptive, statt sich einer
ihm gnadenvoll zuneigenden utopischen Wirklichkeit hingeben zu können,
auf Formen reflektierend, deren immanente Angemessenheit beurteilend,
aus seiner Unmittelbarkeit und Ergriffenheit herausgerissen wird. Die Ver¬
meidung dieser Gefahr liegt - geradeso wie beim umgekehrten, vorher erör-
74 Philosophie der Kunst

terten Fall - nicht im Wesen dieses Wollens und seines Zieles; auch hier muß
die Lösung durch eine hier unbewußt gebliebene Voraussetzung gesichert
werden. Diese Voraussetzung ist das Erlebnis des Schaffenden, und seine
fruchtbare Selbsttäuschung besteht darin, daß er auf Wirkungen auszuge¬
hen, technische Probleme zu lösen und sich ganz zu vergessen meint, die
Technik aber, die er sucht und findet, zum symbolischen Ornament der
unbewußt gebliebenen oder bewußt verborgenen menschlichen Intensität
wird, die das Werk mit ihrer Schwere, Fülle und Unmittelbarkeit erfüllt und
es zur Wirklichkeit aufblühen läßt. Wo diese harmoma praestabilita von
Technik und Erlebnis nicht da ist, wird das Erlebnis bloß übersprungen,
nicht aber der Sprung von Technik auf Erlebnis realisiert, und der auf
Technik gerichtete Schaffende, dem diese Gnade nicht zu Teil ward,
erscheint als bloßer Virtuose, als Jakobiner der Technik.
Wir sahen: beide Verhaltungsartcn, die durch die Struktur des Werks und
sein Verhältnis zum Streben des Schaffenden und zur möglichen Wirkung
bestimmt sind, convergieren auf ein Postulat als notwendige Bedingung ihres
Gelingens: auf eine coincidentia der künstlerisch-technischen Formen mit
den unmittelbaren Erlebnisformen des Schaffenden. Nicht von einer Aufhe¬
bung des Mißverständnisses ist hier die Rede, geradesowenig wie in der
früher analysierten, entsprechenden Angemessenheit von Werkformen und
Erlebnisformen der Receptivität, sondern im Gegenteil davon, daß es in den
Formen des Werks seinen zufälligen und deshalb negativen, hemmenden
und trübenden Charakter verliere, notwendig, konstitutiv und infolgedessen
fruchtbar und blühend werde. Die hier postulierte harmonia praestabilita
bezieht sich also nicht darauf, daß die technischen Formen inhaltlich
adäquate Mitteilungsformen seien, daß sie das »Was« des Erlebnisses unver¬
fälscht auszudrücken vermögen, sondern auf eine Verewigung der Erlebnis-
mtensität, auf eine Substantnerung des »Das« und des »Wie« im Erlebnis. So
wie bei dem entsprechenden Fall in der receptiven Phänomenologie keine
Wirklichkeit erreicht oder getroffen, sondern ein Formkomplex als Wirk¬
lichkeit ei lebt und sein Realitätscharakter nur von der Immanenz des Erleb¬
nisses geti agen wurde, so soll hier durch diese Angemessenheit der
Ausdrucksform an das Erlebnis nicht die Richtigkeit, sondern die Wirksam¬
keit des Ausdrucks garantiert werden. Das große Scheitern jeder menschli¬
chen Sehnsucht sich mitzuteilen, soll also hier nicht verhüllt oder gar über¬
wunden werden: gerade in dem vollkommen geglückten Ausdruck wird
diese Tragik in ihrer ganzen Schärfe offenbar; nur hat diese Tragik nichts
Trauerndes und Sentimentales an sich, sie ist die Feststellung der tiefen
Schöpferisches und receptives Verhalten 75

Tatsache, daß die in sich unvollkommenen Ausdruckstormen das Erlebnis


nicht tragen können, die vollkommenen aber es zur ewigen Unkennbarkeit
in sich verschmelzen und verschwinden lassen. Aus diesem Scheitern blüht
die Kunst auf, und diese Niederlage des Gewollten hat nichts mit dem
Schiffbruch der Dilettanten und der Virtuosen zu tun. Diese konnten ihr Ziel
nicht erreichen, weil sie nicht das ganze Ziel wollten und deshalb auf ein
Verkürzen und Erleichtern des Weges, der dazu führt ausgingen. Darum
entsteht aus der Notwendigkeit ihres Mißlingens ein eindeutiges Postulat,
das wir als erfüllt denken müssen, wenn wir die Existenz der Werke der
Kunst anerkennen und ihr Dasein begreifen wollen; das Postulat der
Existenz des Genies.
Wegen der im Wesentlichen psychologischen Anlage, die jede Ästhetik, in
deren Mittelpunkt nicht das Werk steht, hat (wie sie es auch vermeiden will),
wird immer wieder der Versuch unternommen, das Genie irgendwie psycho¬
logisch begreiflich zu machen. Diese Versuche müssen notwendig scheitern,
denn in der wie immer gereinigten Erlebniswirklichkeit, mit der die Psycho¬
logie zu tun hat, kann man nie und nimmer Elemente finden, durch deren
Combination oder Steigerung das Genie erreichbar wäre. Sie müssen
notwendigerweise zu falschen Problemstellungen kommen: einmal wird die
Genialität in einer Übersteigerung der Erlebnisfähigkeit gesucht, ein ander¬
mal in der Phantasie, dann in der glücklichen Mischung von Bewußtheit und
Unbewußtheit, von Vision und Tatkraft usw. Durch alle diese Einstellungen
wird aber etwas nie Erreichbares zum Ausgangspunkt genommen und
daraus ohne Möglichkeit einer bestimmten Orientierung ein Kriterium
gesucht, das nur in dem Werk gefunden werden könnte - wenn das Werk für
solche Methoden erreichbar wäre. Es werden die Selbstbeobachtungen und
Konfessionen der Künstler analysiert, und es wird versucht, in ihnen eine
Typik zu finden. Dies ist aber von vornherein ausgeschlossen, denn jede
Beichte eines Genies über sich, sein Werk, seine Stellung zu ihm kann nichts
anderes sein, als seine Aussprache darüber, wie sich sein psychologisch erle¬
bendes Subjekt zu der - auch für ihn gegebenen und von ihm als unauf¬
hebbar hingenommenen - ästhetisch-phänomenologischen Tatsache, zu dem
apriorisch vom Werk aus bestimmten Verhältnis des normativen Schaffen¬
den zum Werk verhält. Die Konfession des Schöpfers kann also nichts über
das Verhältnis des Schaffenden zum Werk aussagen, sie bezieht sich viel¬
mehr auf das Verhältnis des psychologischen Subjekts zum phänomenologi¬
schen; weil aber dieses Verhältnis im Schaffenden selbst nie bewußt werden
kann, sprechen seine Worte immer von seiner Beziehung zum Werk, sind
76 Philosophie der Kunst

also als aufklärende Tatsachen für das Verhältnis des phänomenologischen


Schöpfers zum Werk nur mit der äußersten Vorsicht zu gebrauchen, und aus
ihnen allein kann das Wesen des Genies - das nur als Schöpfers des Werks
definiert werden kann — nie erkannt werden. Solche Untersuchungen
können freilich, wenn dies einmal festgestellt ist, zu an sich sehr interes¬
santen psychologischen Problemen und eventuell zu einer psychologischen
Typik der Künstler führen: welche Künstler etwa das ihnen zum Norma¬
tiven Fehlende, welche das ihnen hierin selbstverständlich Gegebene beto¬
nen etc., aber das Verhältnis des Schaffenden zum Werk ist hier schon —
unbewußt - vorausgesetzt, kann also hier nicht in Klarheit begriffen werden.
Wir suchen gar kein psychologisches Verstehen des Genies: wir haben das
Werk als Tatsache hingenommen und sind nun bei dem Genie als notwen¬
diger Voraussetzung der Möglichkeit seiner Existenz angelangt; wir fragen
also gar nicht danach, wie das Genie in Wirklichkeit beschaffen sein mag,
sondern wie es in Wahrheit beschaffen sein muß, damit das Werk, dessen
Dasein wir nicht bezweifeln dürfen, entstehen könne. Es scheint freilich, als
ob damit die Unbegreiflichkeit des Genies nur auf das Werk geschoben
wäre, und dies ist in einem gewissen Sinne richtig: das Werk erscheint uns
in der Tat als etwas Rätselhaftes, Unableitbares, etwas, das wir aus den
Voraussetzungen unseres Denkens und unserer Erlebnisse heraus nie gewin¬
nen könnten, wenn es nicht da wäre. Es ist aber da, und deshalb ist es für uns,
solange wir nicht das Ende des methodischen Weges erreicht haben, als eine
Aufgabe gegeben, und nur wenn es auch dann noch als Unbegriffenes, als
»Tatsache« dasteht, haben wir darin eine Tatsache metaphysischer Art zu
sehen. Hier handelt es sich aber vorläufig nur um das Verstehen des Genies
als methodischen Postulates, das die Wirklichkeit des Werks erklärt. Und
wenn wir das Genie nicht mehr als isolierte, psychologische Erscheinung
betrachten, sondern in bezug auf das Werk, so können wir sein Wesen kurz
so aussprechen: Genie ist der Schaffende, dessen Erlebnisse als notwendige
Erlebnisformen die technischen Formen des Werks enthalten, für den also
die Beziehungen, die das Werk konstituieren, Beziehungen seiner unmittel¬
baren Erlebnisse sind; der Mensch, der sub specie formae erlebt, für den also
die Technik des Werks d le natürliche Mitteilungsform ist. Dadurch sind alle
romantischen Scheinprobleme vom gescheiterten Genie, vom Raffael ohne
Hände, alle Gegenüberstellungen vom bloß technisch fähigen Talent und
dem darüber hinausgehenden Genie a limine abgewiesen: das Genie ist vom
erreichten Werk aus und nur durch das erreichte Werk, als dessen Schöpfer,
definiert. Ob in der psychologischen Persönlichkeit des Genies das subjek-
Schöpferisches und receptives Verhalten 71

tive Erlebnis oder die zu realisierende Werkform bewußter und stärker


erlebt und welches von beiden darum von ihm — psychologisch — als vorange¬
hendes empfunden, und welchem der Wertaccent der größeren Bedeutsam¬
keit gegeben wird, kann hier für uns gleichgültig sein. Ob Goethe den
Werther als Konfession schreibt und sein Erlebnis sich unwillkürlich nach
den Forderungen der lyrisch-epischen Form modificiert, oder ob Hebbel
jede kleine Anekdote schon in dialektisch-tragischer Form erlebt und jede
geschichtliche Episode schon unwillkürlich auf die Tragödie hin stilisiert in
sich aufnehmen kann; ob Goya seine Stiche aus ethisch-sozialer Empörung
heraus schafft oder ob Michelangelo in jedem Block eine Statue sieht, die
»per la forza di levare« daraus nur befreit werden müsse — kann und soll hier
nicht wichtig sein. Entscheidend ist nur die Tatsache: die coincidentia von
Erlebnisform und technischer Form in dem Hervorbringenden des Werks.
Damit sollen jedoch die tiefen Künstlertragödien durchaus nicht geleugnet
und die Tatsache des Genies als freundliches Prytaneum der Auserwählten
gefaßt werden. Vor allem ist diese coincidentia nur als Postulat etwas
Unproblematisches, für den lebenden und erlebenden Menschen aber ein
Sollen und nicht ohne weiteres ein Geschenk und eine Gabe. Sie liegt im
Menschen als Möglichkeit vor, und indem er sie in seinen Werken realisiert,
wird er zum Genie; wie er es zu Stande bringt, darüber kann die Ästhetik
nichts sagen, soll es aber auch nicht. Immer wird hier eine Unerschöpflich-
keit und eine Irrationalität sein, aber die Tragödien, die aus den hier errun¬
genen Siegen entstehen, aus dem, was für sie menschlich geopfert wird, kann
die Ästhetik nicht begreifen. Durch das Werk ist das Genie Genie geworden,
und das Werk ist, seinem Begriffe nach, unproblematisch; in Beziehung auf
das Werk ist das Genie wirklich »Günstling der Natur«1. Und die Tragö¬
dien, die aus dem Scheitern, dem Nichterreichen des Zieles entstehen,
können in der Ästhetik nicht behandelt werden, es fehlt ihr jeder Begriff, um
ihnen beizukommen. Diese Künstlertragödien verdecken aber nur die Tra¬
gödie des Künstlers; wenn die Ästhetik sie also abweist, macht sie das
Problem nicht zur Idylle, macht vielmehr den Weg zum Begreifen ganz
anderer Konflikte und Kämpfe frei. Diese Probleme sind durch das phäno¬
menologisch festgestellte Verhältnis des Schöpfers zum Werk bestimmt. Das
Wesen des Werks bedingt nun, daß es absolut und in unerreichbarer Höhe
über seinem Schöpfer, der es doch geschaffen hat, stehen muß. Diese Stel-

[ i Kant: Kritik der Urteilskraft. § 47. Werke. Hrsg, von E. Cassirer. Bd. v. S. 384.]
7« Philosophie der Kunst

lung des produktiven Subjekts unter dem Wert, den es zu realisieren hat,
scheint im Vergleich zu anderen Wertgebieten nichts neues zu bedeuten,
denn es ist für Logik oder Ethik ebenfalls eine Selbstverständlichkeit, daß
das Subjekt sich in ihnen ewigen, es übersteigenden Normen unterwirft und
ihnen nahe zu kommen sucht. Aber diese Bewegung hat in der Ethik die aus
der Struktur dieses Verhältnisses natürlich folgende Richtung: der über dem
Subjekt stehende Wert kann nie vollständig erreicht werden; die entschei¬
dende Betonung der Innerlichkeit, der Gesinnung, des Willensmoments in
der Ethik drückt ganz klar aus, daß zwischen der objektiven Struktur des
Gebietes und der subjektiven Norm des Verhaltens kein Widerspruch
besteht: der Mensch hat die Pflicht, das über ihm Stehende realisieren zu
wollen, mit diesem Wollen ist aber die Pflicht erfüllt und die Ethik hat ihr
letztes Wort gesagt; die tatsächliche Realisation ist für sie gleichgültig, ja
wird von vornherein als unmöglich gedacht und aus ihrem Gebiet entfernt.
Eine ähnliche Angemessenheit von Wert und Wertrealisierung zeigt auch
die Logik: der jenseits von aller Individualität und hoch über allem Mensch¬
lichen thronende Wahrheitswert ist von dem Subjekt aus me erreichbar. Jede
Logik, die eine, wenn auch überpersönliche und objektive, doch menschliche
Spontaneität des Denkens voraussetzt, wird in einer Art von infinitesimater
Annäherung an den Wahrheitswert als Methode gipfeln. Der letzte Wert
kann dann prinzipiell nie erreicht werden, es kann sich nur um einen - der
Ethik analogen — unendlichen Prozeß der Annäherung handeln. Wo aber
das Erreichen des Zieles als Ziel der Logik gesetzt wird, erreicht es das
Subjekt nicht mehr als menschliches Subjekt und der Weg dazu führt nicht
mehr über Wege und durch Mittel menschlicher Denkspontaneität: dann ist
eine Welt ewiger Urbilder als Welt der Werte da, und das Denken ist eine,
im wesentlichen ethische Bemühung des Subjekts, sich zur reinen Passivität,
zur Bereitschaft der Aufnahme des An-sich-seienden zu entwickeln. In der
großen Lehre von der Wiedererinnerung wird alles Menschlich-Spontane
abgelegt und die von allem Kreatürlich-Subjektiven reingewordene Seele
kann die über ihr stehende Welt erblicken. Aber — und dies ist das Entschei¬
dende — sie erblickt sie bloß und realisiert sie nicht; diese Welt ist da, und
ihre Wahrheit und Wirklichkeit kann in keiner Weise durch diesen Prozeß
der Realisation berührt werden. Die Logik des spontanen Denkens bleibt
also in ihrem Prozeß menschlich, geschichtlich und kennt Begriffe wie
»Neu« und Entwicklung, wenn all dies auch bloß von relativem Wert ist,
und sich bloß in der Sphäre der Annäherung abspielt und das wirklich
Wesentliche — unberührt und unerreichbar — unabhängig von alledem
Schöpferisches und receptives Verhalten
79

dasteht; die Logik der Wiedererinnerung dagegen hat das Ewige und
Unveränderliche als alleinigen Inhalt, und durch den Prozeß, der zum
Erblicken der Urbilder führt, geschieht nur mit dem Subjekt etwas, nicht
aber in bezug aut den Wert. Das Verhältnis von Wert und Wertrealisation
in der Ästhetik ist der diametrale Gegensatz zu diesen Verhältnissen: der
ästhetische Wert, das Kunstwerk, entsteht erst in, durch und mit dem Prozeß
seiner Realisation; die ewigen Gesetze, deren Erfülltwerden das Werk zum
Werk macht, haben keine von ihrer Erfüllung trennbare Möglichkeit der
Existenz, ihre Ewigkeit selbst ist etwas Abstraktes, Abgezogenes, etwas nur
durch Denken, nur durch Verlassen der Unmittelbarkeit, des eigenst Ästhe¬
tischen, Erreichbares, sie entstehen aber immer neugeboren und wie zum
erstenmal bei jeder ihrer einzelnen Erfüllungen. Darum hat das Sollen, das
diese ewigen Normen aussprechen, einen ganz anderen Accent, wie das der
Logik oder der Ethik: erstens ist es nicht als Unerreichbares, sondern als
notwendig zu Erfüllendes gesetzt; es ist keine Annäherung denkbar, denn
der nicht absolut erfüllte Wert ist identisch mit der Wertlosigkeit selbst,
weshalb auch alles in dem Subjekt bleibendes (Gesinnung etc.) nur durch die
Vollendung in der vollbrachten Tat bedeutsam wird, an und für sich ganz
gleichgültig ist. Zweitens entsteht der Wert selbst durch die hervorbringende
Aktion des Subjekts, so daß es nicht einem von ihm unabhängig existenten
Wert gegenübersteht und ihn bloß erblickt, sondern selbst den, ihn über¬
strahlenden und von seinen subjektiven Bedingungen heraus unableitbaren
und unerklärbaren Wert erschafft. Drittens ist aber das einzigartige, das mit
der hervorbringenden Persönlichkeit engst verbundene Moment am Werk
für es selbst entscheidend und konstitutiv: nur indem es »neu« und von allen
anderen Realisationen völlig verschieden ist, wird es zum ästhetischen Wert,
während diese Seite für den ethischen Wert ein Adiaphoron, für den logi¬
schen etwas zu Verneinendes ist. Der Wert ist also in einer ganz anderen
Weise als irgendwo sonst an das Subjekt des Menschen gebunden, trotzdem
aber kann und soll das Verhältnis der Uberordnung nicht aufgehoben
werden. Das Schaffen des Künstlers ist der einzige Fall im gesamten Sein, wo
ein, wenn auch reingewordenes, so doch subjektiv-persönlich gebliebenes
menschliches Subjekt über sich selbst hinausschafft. Aber nicht etwa durch
den nach oben gerichteten Prozeß, wie in der Ethik, sich höher hinaufbringt
als es für sich selbst gegeben war, sondern ein, dem Seinen prinzipiell über¬
geordnetes, höherstehendes und unproblematisches Sem, das des Werks,
erschafft - sich selbst aber in der gegebenen Problematik zurückläßt und der
Erlösung, die es dem eigenen Werke gibt, selbst nicht teilhaftig wird. Wir
8o Philosophie der Kunst

können deshalb die Paradoxie der ästhetischen Wertrealisation so ausspre¬


chen: sie ist sowohl als Weg wie als Ziel unzertrennlich an die Persönlichkeit
gebunden, das aber, was von ihr ins Werk kommt, trennt sich von dem
hervorbringenden Subjekt definitiv ab, hat mit ihm nichts mehr zu schaffen
und steht als in sich erfülltes Sein fremd und unerreichbar vor ihm da. So
wird das Subjekt selbst, von der einzigen Wertsphäre, in der es konstitutiv
ist, nicht getroffen: gerade indem die Persönlichkeit für das Werk konsti¬
tutiv wird, ist diese Tat für sie selbst reflexiv. Ob diesem ästhetischen
Verhalten eine ethische Betonung gegeben werden kann, ist für die Ästhetik
gleichgültig: die ethische Formung könnte nur das Formelle (also hier
Abstrakte und Nicht-Entscheidende) der schöpferischen Tat treffen, sie
könnte nur als menschliche Handlung überhaupt ethisch wertvoll oder
verwerflich sein, wodurch aber dieses Problem nicht einmal erreicht,
geschweige denn gelöst werden kann. Denn hier ist die überpersönliche, aus
dem Wesen der Kunst folgende Tragik des Künstlers ausgesprochen, der
ewig menschliche Tatbestand, den gerade die menschlich höchststehenden
Künstler stets erlebt haben: daß sie selbst unerlöst bleiben, daß alle Vollen¬
dung, die sie ihren Werken geben, all das zutiefst Erlebte, das aus ihnen in
das Werk einströmt, für sie vergeblich ist, daß sie stummer, unausgespro¬
chener bleiben als die in sich eingesperrten Menschen des gewöhnlichen
Lebens, daß ihre Werke zwar das höchste, rein menschlich Erreichbare
werden, sie selbst aber die unseligsten und am wenigsten erlösten Menschen
von allen sind. Brownings Andrea del Sarto sagt: »My works are nearer
heaven, but I sit here.«

Für uns freilich ist nur der Tatbestand des notwendigen Verhältnisses
zwischen Werk und ästhetisch relevantem, schöpferischem Subjekt, nicht
aber seine emotionale Nachwirkung im erlebenden Menschen wichtig, und
diese Tragik zeigt sich uns als die konkreter gewordene Form des früher
schon durch die Struktur der Phänomenologie gegebenen Sprunges zwischen
Schöpfer und Werk. Hier scheint sich aber ein gewisser Gegensatz zwischen
den bisher Ausgeführten zu zeigen: wir haben nämlich das Genie als
Möglichkeit der Existenz des Werks durch die hafmoma praestabilita
zwischen seinen Erlebnisformen und den technischen Formen definiert, um
dann später in seiner Beziehung zum Werk eine tiefe und unlösbare Tragik
zu finden. Dieser Widerspruch hebt sich selbst auf, wenn wir auf die
verschiedenen Richtungen achten, deren Folge diese beiden entgegengesetz¬
ten Betonungen desselben Tatbestandes sind: die harmoma praestabilita
bezeichnet nämlich die Bedeutung des Genies für das Werk, sie spricht das
Schöpferisches und receptives Verhalten

Postulat aus, wie das Genie beschaffen sein muß, um das Werk hervorzu¬
bringen, während die Tragik in der Beziehung des Werks auf das Genie
selbst liegt. Wenn wir nun wieder in die uns vorgeschriebene Richtung
einlenken und von dem, auf diesem Umweg heller beleuchteten Genie aus
wieder den Weg zum Werk suchen, so bedeutet in diesem veränderten
Aspekt die eben aufgezeigte Tragik diese Frage: wie ist es möglich, daß aus
menschlichen Bedingungen, ohne deren Aufhebung, die nicht mehr mensch¬
liche Welt der Werke entsteht; und ihre Beantwortung ist durch eine Klarle¬
gung des Verhältnisses zwischen den bis jetzt gefundenen drei Begriffen von
harmonia praestabilita möglich: wie die harmoma praestabilita von Erleb-
msiorm und technischer Form bei dem Schöpfer das Füreinanderbestimmt-
sein von Stoff und Form im Werk hervorbringt, woraus dann die Angemes¬
senheit der Wirkungsformen des Werks an die Erlebnisformen des Recep-
tiven entstammt. Es handelt sich hier um Fragen des Abstands: erstens um
die Frage des objektiven Abstands der Wirklichkeit von dem konkreten
Ideal ih rer immanenten Möglichkeit, von der ihr innewohnenden, nur stets
gehinderten utopischen Wirklichkeit, und zweitens um die Frage des subjek¬
tiven Abstands des Menschen sowohl von einer empirischen, wie von einer
utopischen, ihm gegenüberstehenden Welt. Für die ästhetische Phänomeno¬
logie kommt es nun darauf an, festzustellen, welche Arten von Abstand als
zu überwindende ihr gegeben und welche als in der Ästhetik zu realisierende
ihr aufgegeben sind; welche Arten des objektiven und subjektiven Abstands
einander ausschließen und welche einander bedingen. Die Analyse der
Erlebniswirklichkeit zeigte uns, daß das Zurückbleiben alles objektiv Dasei¬
enden hinter dem, was es seinem Begriffe nach sein könnte, und also sollte,
in engster Verbindung mit der Fdeimatlosigkeit des Subjekts in der es umge¬
benden Welt, mit seiner Sehnsucht, den trennenden Abstand zwischen sich
und den Objekten zu überbrücken, steht. Dazu sind wir in der phänomeno¬
logischen Skizze des receptiven Verhaltens zu dem Ergebnis angelangt, daß
einerseits das als Erfüllung dieser Sehnsucht postulierte Werk in sich eine
utopische Wirklichkeit realisiert haben muß, andererseits daß in dem das
Werk erlebenden Subjekt nur eine äußerste Nähe des Objekts an das Subjekt
infolge ihrer Angemessenheit zu einander, nicht aber eine Aufhebung des
Subjekt-Objekt-Verhältnisses erreicht werden soll; wir sind also im Werk zu
der Feststellung der objektiven Abstandslosigkeit, im receptiven Prozeß zu
dem Postulat eines normativen Abstands gekommen, der aber nicht mehr ein
das Subjekt von dem Objekt trennender Abgrund, sondern eine den Wirk¬
lichkeitscharakter des Objekts konstituierende Distanz ist.
82 Philosophie der Kunst

In diesem Zusammenhang lautet unsere Frage für die Phänomenologie des


Schöpfers so: wie kann der für den Schaffenden doppelt gegebene Abstand
(erstens sein Abstand als erlebendes Subjekt von den Objekten der gege¬
benen Wirklichkeit und zweitens sein Abstand als schaffendes Subjekt von
dem Werk) zu einer normativen Distanz verwandelt werden, welche die
objektive Abstandslosigkeit des Werks als notwendig aus ihr entstanden
begreiflich macht. Und als notwendige Ergänzung dieser Frage entsteht der
Versuch, den noch immer abstrakten und leeren Begriff von der objektiven
Abstandslosigkeit des Werks, so weit wie hier möglich, auf eine erfülltere
Konkretionsstufe zu bringen. Die Verwandlung des Abstands in Distanz ist
hier die Tat des Schöpfers, kann also nur aus dem Ziel und den Möglich¬
keiten dieser Tat verstanden werden. Dieses Ziel, das Werk, ist, wie wir
wissen, ein in sich abgeschlossenes System von Beziehungen, das dem recep-
tiven Subjekt als erlebte Wirklichkeit gegenübersteht, das mit der gewöhnli¬
chen Wirklichkeit nur als ihre utopische Erfüllung, nicht aber als ihre abstra¬
hierende Aufhebung kontrastiert. Es handelt sich deshalb für den Hervor¬
bringer dieses Systems darum, die in den immer fragmentarischen Erlebnis¬
ausschnitten verborgenen und verhinderten utopischen Möglichkeiten in
erlebbare Wirklichkeiten zu verwandeln. Diese Immanenz der Utopie hat
für sie selbst drei wichtige Folgen: erstens, daß jede solche utopische Wirk¬
lichkeit von einem »Standpunkt« aus und von miteinander homogenen, auf
ein Zentrum gerichteten Beziehungen organisiert sei; zweitens, daß dieser
»Standpunkt« der Organisation und seine Ausdrucksmittel reinmachende
Prinzipien der Erlebbarkeit seien; drittens, daß das so entstehende System
als Wirklichkeit, nicht als System erlebt werde, daß also nur die Inadäquat¬
heit und die hinter sich selbst zurückbleibende Art der gewöhnlichen Wirk¬
lichkeit, nicht aber ihr Wirklichkeitscharakter aufgehoben werde. Die erste
Consequenz jedes »Standpunkts« in und zu der Erlebniswirklichkeit ist, daß
ihre Elemente nun nicht mehr anarchisch nebeneinander gereiht sind oder
aufeinander folgen, sondern teils in Übereinstimmung, teils in Widerspruch
zu dem »Standpunkt« und infolgedessen auch zueinander stehen, teils in
überhaupt keine Beziehung mit ihm und mit dem auf ihn Bezogenen zu
bringen sind. Durch dieses einfache Setzen des »Standpunktes« entstehen
zwei wichtige Veränderungen in der Struktur der Erlebniswirklichkeit:
einerseits verliert sie ihre empirische, stetige und unübersehbare Fülle, denn
mit der Existenz des »Standpunkts« ist das auf ihn nicht Beziehbare unbe¬
greifbar und für ihn nichtseiend geworden, andererseits entsteht das
Faktum, daß einzelne Elemente miteinander und mit dem »Standpunkt«
Schöpferisches und receptives Verhalten
83

übereinstimmen, andere aber nicht, was in der gewöhnlichen Erlebniswirk¬


lichkeit gar nicht wahrgenommen werden konnte, dem dort nur das unklare,
weil subjektiv-reflexive Gefühl entsprochen hat, daß etwas in dieser Sphäre
sich innerlich unangemessen ist. Damit ist aber nur die reflexive Abgeschlos¬
senheit der Erlebniswelt überwunden und nichts Positives, kein Aufbau einer
neuen Wirklichkeit geleistet. Diese Wendung zum Positiven hat der Schaf¬
fende zu vollziehen, und die Distanz, in die er seinen Abstand zu verwan¬
deln hat, ist durch die Aufgabe bestimmt, diesen Tatsachen ihren negativen
und privativen Tatsachencharakter zu nehmen und aus ihnen konstitutive
Wertbeziehungen und Aufbauelemente des Werks zu machen. Denn durch
das bloße Faktum dieser Veränderungen ist das Unzulängliche der Erlebnis¬
wirklichkeit nur gesteigert worden: ihre Continuität hat aufgehört und die
einander widersprechenden Tendenzen haben sich nur verschärft, das
Distanzsetzen des Schöpfers kann gegen diese Bewegung nichts ausrichten,
soll sie hingegen zu Ende führen und sie so zu der neuen Positivität bringen.
Es handelt sich also einerseits um ein neues, aber konstitutiv gewordenes
Zusammenschließen der zerrissenen Continuität und andererseits darum, in
dem Faktum, daß die so entstandenen Elemente und Tendenzen mitein¬
ander in Widerspruch stehen, einen - ebenfalls konstitutiven — Sinn zu
finden. Die Elemente dieser phänomenologischen Zwischenstufe haben
untereinander eine gewisse, an Wesenhaftigkeit die gewöhnliche Erlebnis¬
welt übertreffende Homogeneität, können sich aber, da sie bloß zerrissene
Elemente dieser Welt sind, aus eigener Kraft nicht zusammenballen, nicht zu
einer neuen Wirklichkeit werden. Daß dies geschehe, muß dieser Prozeß des
Ignorierens von allem, was mit dem »Standpunkt« nicht homogen ist,
wodurch die das hier Vorhandene zur gewöhnlichen Erlebniswirklichkeit
verbindenden Elemente ausgeschieden wurden, in eine Wertbetonung über¬
gehen. Der »Standpunkt« gewinnt dann eine konkretere Bedeutung und
übermittelt diese den durch ihn ausgewählten Erlebniselementen: er wird
zur »Weltanschauung« und die durch ihn ausgewählten Elemente werden
symbolisch; d. h. sie werden außerdem, was sie an und für sich gewesen sind,
auch Träger von Bedeutungen. Es entsteht die Fiktion, daß sie alles, was auf
den »Standpunkt«, dessen als System geschlossene Totalität sich zum
erreichten Werk rundet, beziehbar ist, aber in den Elementen — als wie
immer gereinigten Teilen der Erlebniswirkhchkeit — selbst noch nicht
enthalten war, bedeuten, symbolisieren, oder besser gesagt: im Receptiven
als Erlebnis erwecken können. Diese »Weltanschauung« ist vorerst nur rein
formell zu verstehen; sie bedeutet nur den Glauben, daß der homogeneisie-
84 Philosophie der Kunst

rende »Standpunkt« zum Träger einer in sich geschlossenen Welt werden


kann, daß, wenn z. B. in dem Entstehungsprozeß des Bildes die reine Sicht¬
barkeit erstrebt wird und alles Intellektuelle, Stimmungsvolle etc., sowie
alles auf andere Sinne Bezogene (Tastvorstellungen etc.) ausgeschieden ist,
dann — wie wir es bereits von Fiedler gehört haben — eine dürftige und
brüchige, aber rein »sichtbare« Welt erstanden ist, deren Elemente (Formen,
Farben, Valeurs etc.) alles, vom »Standpunkt« der Sichtbarkeit Mögliche
bedeuten können. Während also in der bloßen Erlebniswirklichkeit die
Farbe etwa nur als Farbe vorkommt, und die Schwere und die Materialität
der Dinge durch ihre tatsächliche Materialität (wirkliche und mögliche Tast¬
vorstellungen) vermittelt wird, gewinnt hier die Farbe die neue Betonung
eines spontan erlebbaren Symbols von Schwere und Materialität. Die
äußeren Formen der Dinge aber, indem sie einerseits auf das bloß Äußer¬
liche reduciert werden, andererseits ihre fließende Flüchtigkeit verlieren
und in einem Moment erstarren, werden in der Darstellung von der Fiktion
getragen, daß alles Innerliche (Geistige, Intellektuelle, Stimmungshafte
etc.), das sie in der Erlebniswirklichkeit bloß unter anderen Ausdrucksmit¬
teln auch zu vermitteln helfen, ausschließlich durch sie und ganz adäquat
ausgedrückt werden kann. Die »Weltanschauung« also, die in dem »Stand¬
punkt« der reinen Sichtbarkeit steckt, würde der Darstellung eines
Menschen gegenüber bedeuten, daß jeder Mensch in Wahrheit so ist, wie er
sich als Formenkomplex der reinen Erscheinungselemente zeigt. Das konsti¬
tutive Ignorieren, wie wir diesen Prozeß bezeichnen können, hat deshalb
folgende Etappen: erstens die Auswahl der homogenen Elemente (hier
Sichtbarkeit); zweitens die definitive Ausscheidung von allem, was seinem
Begriff nach auf den »Standpunkt« überhaupt nicht beziehbar ist (hier etwa
alles, was durch das Gehör vermittelt wird); drittens das Postulat, alles, was
in einer möglichen Beziehung zum »Standpunkt« steht, aber in der durch
ihn zum Leben erweckten homogenen Welt nicht vorhanden ist, durch diese
zu symbolisieren; viertens das Postulat, daß die homogenen Elemente in
solche Symbole verwandelt werden. Nur durch die Erfüllung dieser Postu-
late, die auf dieser Stufe freilich noch Postulate bleiben, ist die Überwindung
der Brüchigkeit in der bloß zur Homogeneität gereinigten Erlebniswelt
möglich, denn nur so gewinnt die Auswahl der homogenen Elemente und die
Ausscheidung der heterogenen einen Sinn, und alles Homogene, symbolisch
Gewordene kann sich zu einer Welt zusammenschließen, die eine vollen¬
dete, utopische Wirklichkeit hat, weil alles in ihr Mögliche realisiert wird
und das Nicht-vorkommende — solange man sich in sie begibt — gar nicht
vorstellbar ist.
Schöpferisches und receptives Verhalten
85

Durch dieses Symbolischwerden der gereinigten Erlebniselemente wird die


geforderte prästabilierte Harmonie von Stoff und Form im Werk möglich.
Denn die Fremdheit der Form dem Stoff gegenüber, auf der letzten Endes
der Abstand der empirischen Wirklichkeit von ihrer eigenen utopischen
Möglichkeit beruht, ist im wesentlichen identisch mit dem Mangel an symbo¬
lischer Beziehung zwischen beiden, mit dem - besten Falls - allegorischen
Charakter ihres Verhältnisses zueinander. Jeder nichtkünstlerische »Stand¬
punkt« der erlebten Wirklichkeit gegenüber hat diese Tendenz zur Allegorie
im Gegensatz zum Symbol, d. h. die »Bedeutung«, zu der die Elemente und
ihre Beziehungen infolge des »Standpunkts« gelangen, ist von der — ihnen
eigenen - Materialität unabhängig und deshalb - von hier aus gesehen -
willkürlich und zufällig; die Allegorie ist nichts mehr als ein Zeichen für
Etwas, dessen Wesen zwar notwendig aus dem »Standpunkt« folgt oder mit
ihm verknüpft ist, dessen Verbindung aber mit dem Zeichen selbst ebenfalls
nur aus dem »Standpunkt« ableitbar ist. Wegen dieses rein methodologi¬
schen Charakters ihrer Zeichen haben die meisten Formungen der Wirklich¬
keit die Tendenz ihre Erlebbarkeit zu kündigen, eine den eigenen Zeichen
wirklich entsprechende Welt zu konstruieren und falls sie auf Erlebbarkeit
ausgehen, diesen Prozeß (das Objekt sowohl wie die Organe) so umzugestal¬
ten, daß die allegorische Inadäquatheit von Materie und Form getilgt werde
(z. B. im Experiment der Physik). Die Erlebniswirklichkeit selbst aber mit
ihren entweder praktisch-abstrakten oder bloß subjektiv-suggestibilen Zei¬
chen bleibt immer in diesem Zustand des Allegorischen stecken, in dem alles
in seiner Materialität unbetastet verharrt und die Bedeutungszeichen höch¬
stens unter sich ein System zu bilden, aber weder alles in sich einzufassen,
noch in sich zur eigenen Substantialität zu gelangen, fähig sind. Für das
innere Leben sucht zwar die Ethik, für das innere wie das äußere die Reli¬
gion Formungen zu finden, in denen das formgebende Prinzip nichts außer
sich lasse, alles durchdränge und am Ende des Weges als stimmegewordenes
Wesen des von ihm geläuterten Stoffes erscheine. Aber als Erlebnis ist jede
dieser Formungen doch nur als Sollen gegeben, als zu verwirklichendes Ziel,
und das Nichtwillkürliche der Formungen wird eben durch das deutliche
Bewußtsein des Abstandes zwischen Sollen und Sein gesichert. In diesem
Bewußtsein können allegorische Formungen — als klare und gewollte Objek-
tivationen des Abstands — erlaubte und ohne innere Dissonanz erlebbare
Formen sein, Ceremonien etwa, deren hohe, wirklich echte konstitutive
Bedeutung in dieser Wirklichkeit prinzipiell nicht erlebbar ist, die aber —
gerade infolge der Unangemessenheit ihrer Formen an die in dieser Welt
86
Philosophie der Kunst

möglichen Stoffe — die utopische Wirklichkeit der Welt, auf die sie sich
beziehen, offenbar werden lassen. Ohne diese Correctur, durch die freilich
die reine Erlebniswirklichkeit gekündigt ist, entsteht das unangemessene
allegorische Verhältnis, daß Erlebniselemente von Formen umschlossen sind,
für die sie zugleich zuviel und zu wenig sind, daß man Zeichen erleben muß,
deren Sinn sich nicht klar und eindeutig aus dem für das Erleben Gegebenen
erhebt, sondern nur durch Reflexion damit verbunden werden kann. Einen
ähnlichen, nur schwerer corrigierbaren allegorischen Charakter zeigt die
Welt der Ethik, insofern sie als Erlebnis gefaßt wird. (Ob diese Frage für die
Ethik selbst von Bedeutung ist, kann und soll hier nicht untersucht werden.)
Diese setzt zwar eine ihrem Subjekt, dem ethisch-reingewordenen Willen,
fremd und heterogen gegenüberstehende Außenwelt und seelische Wirklich¬
keit voraus, und wird mit vollem Recht alles, was nicht als dem ethischen
Tun klar widerstrebend oder es dumpf hemmend gedacht werden kann, als
nicht seiend betrachten. Für das Erleben aber wird all dies doch da sein, und
da es - für das Erleben - mit dem ethisch Wertvollen und Wertfeindlichen
unzerlegbar vermischt ist, erscheinen die ethischen Formungen in der Erleb¬
niswirklichkeit als dieser unangemessen, äußerlich, mit einem Wort als alle¬
gorisch. Es ist z. B. so gut wie unmöglich, das tiefe ethische Bestreben, daß
ein schweres Geschehnis des Lebens rein als Schicksal erlebt werde, zu reali¬
sieren. Nicht an die widerstrebenden, kreatürlichen Tendenzen sei hier
gedacht, stellen wir uns diese als überwunden vor, aber daran, daß die totale
Umformung des wesentlichen Lebens, die sich hier vollzieht, seinem Begriffe
nach nur einen ganz kleinen Teil der Seele treffen kann, daß alles andere
sein früheres Leben weiterführt, aber doch ewig in das neue hineinspielt, daß
die Umwelt des Menschen von seiner Wandlung nie getroffen werden kann,
und daß sein neugewordenes Ich keinen Moment von alledem isolierbar ist.
Diesen Tatsachen gegenüber ist die reine ethische Stilisierung des Lebens
nicht aufrecht zu erhalten, sie kann den Stoff, der auf sie zuströmt, weder
vernichten noch durchdringen, und wenn sie dieser Gesamtheit gegenüber
als Form aulzutreten sich anmaßt, wird sie eine dem Material unangemes¬
sene Form, eine Allegorie. (Ich verweise hier auf meinen Essay über Kierke¬
gaard in »Die Seele und die Formen«.)
Diese innere Unangemessenheit jeder Wirklichkeit wird durch die symboli¬
sche Bedeutung des Stoffes in der Kunst überwunden. Denn der wirkliche
und entscheidende Unterschied zwischen Allegorie und Symbol ist, daß die
Allegorie eine ihr transcendente Wirklichkeit bedeutet oder auf eine
hinweist, das Symbol aber selbst eine Wirklichkeit ist und seine Bedeutung
Schöpferisches und receptives Verhalten
87

seinen Erscheinungsformen und den in ihnen enthaltenen Inhalten imma¬


nent bleibt. Etwas als Symbol zu behandeln, bedeutet also soviel: in irgend¬
einem, zu diesem Zwecke homogen gemachten Material alle implicite
enthaltenen Bedeutungsmöghchkeiten auf die den Homogenisierungspro¬
zeß hervorbringenden Organe des Erlebens zu beziehen und sie - in bezug
auf diese — ganz auf die Oberfläche der reinen Erlebbarkeit zu bringen, ganz
explicit zu machen. Der Wirklichkeitscharakter des so entstehenden Sym¬
bols beruht erstens darauf, daß die Bedeutungsformen von den erlebten
Inhalten zwar unzertrennlich sind, aber sie doch nicht hervorgerufen haben,
daß also Materie und Form weder auseinander abzuleiten, noch voneinander
deutlich zu scheiden sind, wodurch die Immanenz dieses Komplexes den
Schein der Unendlichkeit und Unerschöpfhchkeit erhält. Zweitens ist das
symbolisch gewordene homogene Gebilde von dem auffassenden Subjekt
unabhängig und kann in keiner Weise als von ihm hervorgebracht, ja selbst
nicht als durch seine aufnehmende Tätigkeit im Wesentlichen modifiziert
gedacht werden, und doch besteht für dieses Subjekt nicht der geringste
Zwang, über diese, außer ihm liegende Welt hinauszugehen, um dadurch —
wie in der Sphäre des reinen Erlebnisses — die eigentliche Realität zu errei¬
chen suchen, diese kann vielmehr nur durch die Hingabe an die Immanenz
des gegebenen Werks für das Subjekt offenbar werden. Für die symbolische
Wirklichkeit des künstlerischen Gebildes ist also das Bezeichnende, daß
sowohl Form wie Materie die Tendenz ineinander aufzugehen haben; die
Formung geht darauf aus, in der symbolischen Materialbehandlung unterzu¬
gehen und diese ■als etwas gewächsartig aus sich selbst Entstandenes und nur
auf sich selbst Beruhendes zu pointieren, das Material hingegen erhält durch
die symbolische Behandlung die Funktion, ihrem einfachen Begriffe und
gewöhnlichen Erlebnischarakter fremd scheinende Bedeutungen aus sich
hervortreten zu lassen. Sowohl Form wie Material gehen also über sich selbst
hinaus, transcendieren sich aber doch nicht, sondern kehren durch ihr
scheinbares Aufgehen ineinander — das eine unzertrennliche Vermischung,
aber keine absolute Vereinigung ist und so eine abgeschlossene, intensive
Unendlichkeit möglicher Beziehungen entstehen läßt — bereichert und zur
Fülle gereift in sich selbst zurück. Die Immanenz der symbolischen Gestal¬
tungen ist deshalb nur in dem negativen Sinne wirklich immanent, daß ihr
Wirklichkeitscharakter nur auf ihren eigenen Prinzipien der Gestaltung
beruht und auf nichts außer ihnen liegendes beziehbar ist, nur in dem Sinn,
daß die wesentlichen konstitutiven Grundlagen dieser Wirklichkeit, die
sowohl ihre Form wie ihr Material transcendieren, doch nicht über sie
Philosophie der Kunst

hinausweisen, daß alle Tendenzen des Transcendierens wieder aufgefangen,


immanent gemacht worden sind. In diesen Symbolen entsteht also eine
Wirklichkeit, die alle Kennzeichen einer solchen - Unabhängigkeit vom
aufnehmenden Subjekt, In-sich-Geschlossenheit, Totalität, Unendlichkeit
bei strengster Zusammengehörigkeit - besitzt; die Formen, die diese Gebilde
konstituieren, können also mit Recht transcendentale Formen, Formen der
Wirklichkeit genannt werden. Indem nun hier eine Wirklichkeit entsteht,
die nichts außer ihr Stehendes, weder als Sollen, noch als Problem, noch als
Adiaphoron kennt, wird jede Fremdheit zwischen konstitutiver Form und
gegebenem Material getilgt und alles von homogenen und aus einem
Zentrum ausgehenden Beziehungen verbunden. Die so erreichte harmonia
praestabilita zwischen Form und Stoff gewinnt hiermit eine konkretere
Bedeutung, als sie früher als bloßes Postulat der Möglichkeit des Werks
besessen hat. Wir haben nämlich gesehen, daß der Prozeß des konstitutiven
Ignorierens von jedem »Standpunkt« aus gewisse Stoffe und Formen der
Erlebniswirklichkeit von vornherein, als nicht existente, ausscheidet, eine
andere Gruppe von ihnen als symbolische Bedeutungen in der durch ihn
homogen gemachten neuen Welt Wiedererstehen läßt. Es ist nun selbstver¬
ständlich — wenn es auch in diesem Stadium noch nicht ausgeführt werden
kann —, daß einerseits Qualität und Art sowohl des definitiv Ausgeschie¬
denen wie des symbolisch Wiederkehrenden vom »Standpunkt« aus notwen¬
dig bestimmt ist, und andererseits, daß es der spontanen Erlebniswirklich¬
keit gegenüber nicht beliebige »Standpunkte« geben kann, sondern daß ihre
Zahl und die Beschaffenheit eines jeden aus dem Verhältnis der subjektiven
Erlebnisformen zu der ihnen gegebenen Erlebniswirklichkeit heraus
bestimmbar ist. Die harmonia praestabilita von Stoff und Form im Werk ist
also kein metaphysisches Prinzip, sie bedeutet nur die Vorstellbarkeit einer,
gewissen Erlebnisformen angepaßten und angemessenen Wirklichkeit. Dar¬
aus folgt vor allem, daß es der gesamten Erlebniswirklichkeit gegenüber
unmöglich nur einen solchen, die symbolisch-utopische neue Wirklichkeit
hervorbringenden »Standpunkt« geben kann, daß vielmehr mit dem eben
bestimmten Begriff des »Standpunkts« der Pluralitätscharakter seiner Reali¬
sationsmöglichkeiten simultan gesetzt ist. Diese notwendige Mehrzahl der
»Standpunkte« bestimmt das Verhältnis von künstlerisch-symbolischer und
empirisch-erlebter Wirklichkeit: wenn es nur einen solchen »Standpunkt«
geben würde, so wäre die künstlerische Wirklichkeit nichts anderes als die
Erfüllung des in der gewöhnlichen Wirklichkeit verhinderten und verküm¬
merten Wesens der Welt, dann wäre das künstlerische Prinzip nur eine
Schöpferisches und receptives Verhalten 89

Wiedererinnerung, ein Sichbesinnen auf die verschüttete Wahrheit und das


so entstandene Werk hätte die metaphysische Bedeutung einer Enthüllung
dieses Wesens. Durch die Vielheit der »Standpunkte« erscheint dieses gerad¬
linige Herauswachsen des Werks aus der Wirklichkeit als unmöglich; jeder
»Standpunkt« verdankt seine wirklichkeitsschaffende Kraft gerade seiner
Fähigkeit des Ignorierens mancher an sich bedeutsamen Seite der Wirklich¬
keit und der infolgedessen entstehenden Symbolik seiner Welt, die sich zu
einer neuen Wirklichkeit rundet und die mit der gegebenen (oder ihrem
Urbild) prinzipiell nichts Gemeinsames haben kann. Die harmonia praesta-
biiita von Stoff und Form existiert also nur in bezug auf den organisierenden
»Standpunkt« und deshalb mit stetiger Beziehung auf die Erlebnisformen
des Receptiven, in dessen Bereitschaft, wie wir sahen, auch eine solche
Verengerung der Welt, ihre Reduktion auf das durch gewisse Organe
homogen Annehmbare und die Verdichtung des so Entstandenen zu einer
neuen Totalität vorgearbeitet ist. Dadurch enthält das Werk etwas voll¬
ständig Freischwebendes und von jeder außer ihm gegebenen Wirklichkeit
völlig Losgelöstes und Unabhängiges, das jedoch nicht in rein subjektiver
Willkür ausarten kann, weil die Möglichkeiten der prästabilierten Harmo¬
nien sowohl im Werk wie zwischen Werk und Receptiven keineswegs unbe¬
schränkt und gesetzlos sind. Wie unabhängig auch das Werk von der Erleb¬
niswirklichkeit ist, welche, dort undenkbare Bedeutungen es auch seiner
Materie zu verleihen vermag, so besteht seine ursprüngliche Materie doch
aus den von dem »Standpunkt« aus gereinigten und homogen gemachten
Erlebniselementen. Vor allem hat nun diese Materie nicht unbegrenzte
Möglichkeit des Symbolischwerdens, sondern nur einige und ganz konkret
bestimmte, so daß die Symbolik der Materie in der einfach homogenen
Erlebnismaterie, wenn auch bloß negativ und der Möglichkeit nach, so doch
vorherbestimmt ist. Nur in diesem Sinn, daß nämlich gewisse Materien die
Möglichkeit zu gewissen symbolischen Bearbeitungen, aber nur zu diesen, in
sich tragen, dürfen wir von einer objektiven harmonia praestabilita der
Materie und der Form sprechen; daß gewisse Elemente der Erlebniswirklich¬
keit, die in dieser selbst freilich nie rein Vorkommen, zu ganz bestimmten
Formungen vorherbestimmt zu sein scheinen, daß also - der Sehnsucht des
erlebenden Menschen entsprechend - die Möglichkeit gewisser utopischer
Erfüllungen schon in den Elementen der Erlebniswirklichkeit enthalten ist.
Der Glaube an die Möglichkeit einer solchen objektiven Utopie, d. h. daß es
eine, der Wirklichkeit selbst innewohnende Tendenz, ihren objektiven
Abstand zu überwinden und zum Werk zu werden, gibt, die in dem Werk
9° Philosophie der Kunst

der Kunst realisiert wird, steht hinter der Bereitschaft des Receptiven dem
Werk gegenüber, und die Notwendigkeit, eine Erfüllung dieser Bereitschaft
und Sehnsucht zu sein, verknüpft diese harmonia praestabilita mit der, die
zwischen dem formgewordenen Werk und den Formen dieser Bereitschaft
existiert. Dadurch erhält die objektive Angemessenheit der Werkform an
die Materie eine, noch konkretere und gesetzlichere Bestimmtheit und
entfernt sich zugleich noch mehr von der Erlebmswirklichkeit: je mehr das
Werk sich den Postulaten der Wirkung, dem Schein einer zur Wirklichkeit
erweckten Utopie nähert, desto verborgenere Beziehungen muß es mit desto
größerer Energie und vollständiger an die Oberfläche bringen, Tendenzen,
die nur die Sehnsucht des Receptiven von der Wirklichkeit erhofft, gerade
weil in ihr keine Spur von ihnen vorhanden ist. Damit wären die Bedin¬
gungen dieser harmonia praestabilita festgestellt: erstens ist ein solcher
»Standpunkt« gefordert, dessen homogeneisierende und das Heterogene
ignorierende Tat die Kraft zur Symbolik besitzt, ein »Standpunkt«, der eine
im Material gegebene Möglichkeit zum Symbol trifft, von dem aus also eine
transcendentale Form möglich ist; zweitens wird gefordert, daß das so
entstehende Gebilde als Erfüllung des Leidens am objektiven Abstand der
Erlebniswirklichkeit und der Sehnsucht nach einer ihr entwachsenden und
sie fortsetzenden Utopie, durch Anpassung an die Formen der Erlebbarkeit
erscheine.
Mit alledem ist aber nur die Einsicht, was nötig ist, damit das so erkannte
Werk möglich sei, erreicht; die Frage, wie es möglich ist, kann erst jetzt
aufgeworfen werden. Die Frage, wie der »Standpunkt« beschaffen sein muß,
damit das ein homogenes Medium schaffende, konstitutive Ignorieren die
Symbolik der Materie und durch sie die transcendentale, Wirklichkeit erzeu¬
gende Form zur Folge habe. Um diese Frage beantworten zu können,
müssen wir auf ein früheres Stadium zurückgreifen und an das Faktum erin¬
nern, daß mit dem Setzen des »Standpunkts« die Elemente des so entstande¬
nen, homogenen, aber diskreten Komplexes miteinander und mit dem
»Standpunkt« teils in Übereinstimmung, teils in Widerspruch stehen. Dieser
Widerspruch soll keineswegs inhaltlich auf gefaßt werden; hier, wo es sich
um ein homogenes Gebilde handelt, wäre der inhaltliche Widerspruch nur
der äußerste Pol in der selbstverständlichen Verschiedenheit der Elemente
voneinander innerhalb der Homogeneität, würde er eventuell die Rolle des
Kontrastes als schärfsten Fall in der sich steigernden Reihe der Nuancen
spielen, zu einer entscheidenden Bedeutung könnte er aber nie gelangen.
Übereinstimmung und Widerspruch müssen hier in bezug auf die Gestal-
Schöpferisches und, receptives Verhalten
91

tungsform gemeint sein; Übereinstimmung bedeutet dann die natürliche


Hinneigung der homogen gewordenen und von der Homogeneität geform¬
ten Materialelemente zur vom »Standpunkt« aus intendierten Form, und
Widerspruch ihre sich dagegen sträubende Tendenz. Dieses Widerstreben
gegen die Formung darf aber auch nicht mit einer Heterogenie ihr gegen¬
über verwechselt werden; das prinzipiell Heterogene ist durch den »Stand¬
punkt« und durch das konstitutive Ignorieren auf dieser Stufe schon nicht
existent geworden, es handelt sich vielmehr darum, ob die Einbeziehung des
auf den »Standpunkt« Beziehbaren eine natürliche oder eine paradoxe
Relation ist, ob die Welt, die der »Standpunkt« erschafft, für alle ihre
Elemente die gleiche, aus ihnen gleichsam herausgewachsene Notwendig¬
keit besitzt, oder ob es sich in dem Aufbau des Werks um ein System aus
verschiedenartigen Versöhnungen und Vereinigungen an sich einander
gegensätzlicher Elemente und Prinzipien handelt. Aus dem Faktum der
künstlerischen Formung folgt, daß sie — jetzt noch abgesehen von möglichen
Übereinstimmungen oder Widersprüchen zwischen Teilen und Ganzheiten
— ihrem Wesen nach durchaus paradox sein muß. Wir wissen: die Materie
jeder Kunstform besteht aus in sich homogen und rein gemachten Elementen
der Erlebbarkeit; diese werden, indem sie in den Aufbau des Werks einge¬
fügt werden, aus ihren natürlichen Zusammenhängen herausgerissen, in
neue, von den früheren total verschiedene eingefügt, müssen aber in dieser
radikalen Umwandlung ihren reinen Erlebnischarakter nicht verlieren, viel¬
mehr muß gerade dieser zu noch größerer Intensität gesteigert werden. Die
entscheidenden Verwandlungen, denen die Erlebniselemente hier unterlie¬
gen, sind folgende: erstens werden sie den ihnen eigenen, extensiv unendli¬
chen Fluß des Lebens entrissen und zu Teilen eines begrenzten Komplexes,
einer in sich innerlich abgeschlossenen Totalität gemacht; zweitens hört
ihre, beinahe unbeschränkte und ihren Erlebnischarakter fast immer trans-
cendierende Beziehbarkeit, die sie in der gewöhnlichen Erlebniswirklichkeit
besitzen, auf, und sie werden eindeutig, endgültig und immanent-bleibend
auf den »Standpunkt« bezogen; drittens wird ihre natürliche Stetigkeit, die
Stetigkeit des gewöhnlichen Nebeneinanders und Nacheinanders, der prak¬
tischen, associativen etc. Zusammenfügbarkeit, mit einem Wort die reflexive
Stetigkeit des in sich Heterogenen aufgehoben und eine neue, homogene
Stetigkeit gefordert, in der der Trennung zwischen der Stelle des Elements
und seiner Bedeutung ein Ende gemacht und das Zusammenfallen von Stelle
und Bedeutung erreicht wird; viertens werden, um diesen neuen Zusammen¬
hang möglich zu machen, neue verbindende Beziehungen zwischen den
92 Philosophie der Kunst

Elementen nötig. Wenn nun bei dieser völligen Umwandlung der Erlebnis¬
elemente ihr Erlebnischarakter nicht nur nicht angetastet werden darf,
sondern sogar gesteigert werden muß, so zeigt sich, daß die künstlerische
Stilisation schon an und für sich eine paradoxe, dem natürlichen Wesen ihres
gegebenen Materials widersprechende Art der Relationssetzung ist, deren
Paradoxie durch die Forderung, daß im vollendeten Werk eine prästabi-
lierte Harmonie zwischen dem Material und seinen Formungspnnzipien
herrsche, daß also alle paradoxen und dem Material widerstrebenden
Formungen als das Offenbarwerden seines eigensten Wesens erscheinen, nur
gesteigert wird. Diese Paradoxie hat zur Folge, daß in jedem künstlerischen
Formungsprozeß das Resultat den Strukturcharakter einer coincidentia
oppositorum haben muß. Wenn wir nun jetzt diese Prozesse näher untersu¬
chen, so finden wir, daß von diesem ersten, primitiven, ganz allgemeinen
und abstrakten Paradoxon des »Standpunkt«-setzens bis zu dem erreichten
Werk sich noch drei Gruppen der aufzulösenden Paradoxa zeigen, in denen
wir die drei wesentlichen phänomenologischen Stadien des zu schaffenden
Werks erkennen. (Daß es sich bei dieser Stufenfolge nicht um ein psycholo¬
gisches Nacheinander im Schaffensprozeß handelt, muß wohl kaum eigens
betont werden.)
Die erste Gruppe der Paradoxien kann als die Frage nach der konstitutiven
Cohärenz der Fläche, oder nach der statischen Homogeneität des Werks
bezeichnet werden. (Ich verweise hier, um das Verständnis zu folgenden
Ausführungen zu erleichtern, auf den Teppich als Paradigma dieser Ge¬
staltungsart; ihre Beziehung zu den anderen phänomenologischen For¬
mungsstadien kann nur am Ende dieser Analyse klargemacht werden;
immerhin sei jetzt schon darauf hingewiesen, daß mit dem hier skizzierten
Stilisierungsprozeß z. B. in der Malerei die reine Flächengestaltung, in der
Poesie die rein formale Wortkunst (Rhythmik, Reimtechnik etc.) gemeint
ist. Welche Bedeutung aber dieses Formungsprinzip in den einzelnen Kunst¬
arten hat und wie es sich in jedem einzelnen Fall zu den anderen Formungs¬
prinzipien verhält, kann selbstredend nur in dem vollendeten System der
Künste erledigt werden.) Die Paradoxie entspringt einerseits aus dem bereits
erwähnten Faktum, daß die homogen gewordenen Elemente des zu schaf¬
fenden Werks, bloß aus sich und aus der bloßen Beziehung zum abstrakten
»Standpunkt« heraus, keine sie verbindenden Relationen, mithin keine
Cohärenz untereinander ausbilden können, und andererseits aus der Cohä¬
renz als Postulat des reinen Erlebnischarakters, das der Receptive an das
Werk stellt. Die Paradoxie, die hieraus entsteht, ist eine doppelte. Erstens
Schöpferisches und receptives Verhalten
93

muß die Unmittelbarkeit des Gesamteindrucks, den der Receptive von der
herzustellenden, die homogen gemachten Elemente verbindenden Fläche
erhält, bewahrt bleiben, trotzdem daß der rein technische Charakter sowohl
der Auswahl der Elemente wie ihrer Verbindung in diesem Stadium noch
nicht verborgen werden kann. Zweitens ist durch den bloßen Prozeß des
Homogeneisierens, wie wir gesehen haben, nur die alte Erlebniswelt gekün¬
digt worden, aber noch keine neue entstanden, so daß die hier vorhandenen
homogenen Elemente sich in einem unklaren Zwischenstadium zwischen
ihrer alten, verlorenen, einfachen und ihrer neuen, noch nicht erreichten,
symbolischen Dinghaftigkeit und Realität befinden, die Relationen aber, die
jetzt zwischen ihnen gestiftet werden, sind beiden Realitätssphären gleich
fremd, können sie daher nur in einer, dem alten Realitätsbegriff gegenüber
willkürlichen, dem neuen gegenüber aber reflexiven Weise die Elemente
verknüpfen und deshalb weder ein Nachkhngen der verlassenen Dinghaftig¬
keit ganz verhindern, noch die neue zum Leben erwecken. Die zur Auflö¬
sung der ersten Paradoxie geforderte coincidentia oppositorum ist: eine
Cohärenz und Stetigkeit der homogen gemachten Elemente, die einerseits
nichts anderes ist als ihre Verknüpfung in einer rein technischen, also - vom
Standpunkt der zu gestaltenden Materialität aus gesehen - abstrakt-formel¬
len Art, die aber andererseits für den Receptiven das - ebenfalls abstrakte
— Schema einer erlebbaren Erfüllung überhaupt bietet.
Der Sinn des letzten Begriffs, der der Grundforderung alles Ästhetischen,
dem konkreten Charakter seiner Gebilde widerzusprechen und in dem
Zusammenfallen von Abstraktheit und Erlebbarkeit auch einen immanenten
Widerspruch in sich zu bergen scheint, kann erst durch die Lösung der zwei¬
ten, mit der ersten eng verbundenen Paradoxie klar werden. Hier ist die
Frage nämlich so gestellt: wie können Relationen, die die Elemente mitein¬
ander verknüpfen, ihrer Dinghaftigkeit gegenüber aber völlig neutral blei¬
ben, eine Cohärenz zwischen ihnen zustande bringen? Die wesentliche Para¬
doxie, zugleich aber der Weg zu ihrer Auflösung liegt in diesem neutralen
Charakter der Relationen; sie können weder eine empirische, noch eine
symbolische Dinghaftigkeit treffen und zwischen dingartigen Elementen
Verbindungen und Ordnung schaffen, sie beziehen sich also auf die
abstrakte Verknüpfbarkeit überhaupt, die zwischen diesen Elementen von
abgeblaßter und unklarer Dinghaftigkeit zu finden ist. Bei dieser Fragestel¬
lung enthüllt sich die positive Seite der notwendig paradoxen Art in allen
künstlerischen Gestaltungsprozessen, wodurch der die Struktur konstitu¬
ierende Begriff der coincidentia oppositorum einen noch konkreteren Sinn
Philosophie der Kunst
94

erhält: für diese Stilisierung ist nämlich alles Gegebene unaufhebbar; es


kann nur zur äußersten Consequenz des in ihm implicite enthaltenen
gebracht, aber nicht in etwas ihm Wesensfremdes verwandelt werden,
dagegen ist jedoch jede Privation, die aus dieser Unaufhebbarkeit entsteht,
zugleich eine Bereicherung; jede Begrenzung schlägt in Fruchtbarkeit, in
Positivität um. Die abgeblaßte und unklare Dinghaftigkeit also, die hier
durch abstrakte Relationen verbunden werden soll, ist als solche zwar etwas
Endgültiges, aber gerade wegen der Neutralität der Relationen diesem
ihrem Charakter gegenüber, schlägt dieser in etwas Positives, in einen Wert
um. Indem nämlich die Relationen sich nur auf die Dinghaftigkeit über¬
haupt in den zu verbindenden Elementen beziehen, verlieren Abgeblaßtheit
und Unklarheit der Elemente, welche Eigenschaften ja nur in bezug auf eine
postulierte konkrete Dinghaftigkeit diese negative Wertbetonung haben,
ihren privativen Charakter. Die Dinghaftigkeit überhaupt bedeutet dann
die reine Erscheinungsform der Elemente, in der ihr Sein sowohl der Mate¬
rialität wie der inhaltlichen Bestimmtheit nach auf das Minimum der bloßen
Erkennbarkeit und Unterscheidbarkeit reduciert ist, wobei jedoch ihre sinn¬
lichen Erscheinungskennzeichen, die auf die technisch auswählenden, bezie¬
hungsweise genießerisch aufnehmenden Organe bezogen worden sind,
unangetastet bleiben und sogar - da der Homogeneisierungsprozeß sich
gerade auf diese Seite gerichtet hat — an Intensität gesteigert werden. Die
abstrakten Relationen, die hier die Verbindungen der Elemente hersteilen,
gehen darauf aus, ein in sich geschlossenes System aus reinen Beziehungen
zu schaffen, eine Welt aufzubauen, deren Substanz sich aus einer gleicharti¬
gen, möglichst inhaltsschwachen Cohärenz von Zeichen bildet, von Zeichen,
die weder etwas in sich, noch außer sich bedeuten sollen, sondern deren
Geltung und Realität ausschließlich von ihrem reinen Zeichencharakter, von
der Unbeschränktheit und Unendlichkeit der zwischen ihnen möglichen und
von der Harmonie und Abgeschlossenheit der zwischen ihnen wirklich
gewordenen Beziehungen getragen werden. Die Abstraktheit der Relatio¬
nen hat aber damit ihren abstrakten Charakter verloren, denn dieser spricht
auch nur das Verhältnis von Zeichen und Relationen zu einer bestimmten,
durch sie jedoch in ihrer Qualität inadäquat ausgedrückten Wirklichkeit
aus; wenn durch die Stilisierung die Möglichkeit einer solchen, den Zeichen
transcendenten Wirklichkeit getilgt ist, d. h. wenn diese Zeichenwelt auf
welche Wirklichkeit immer bezogen werden kann, aber diese Beziehung
stets und stets mit derselben absoluten Notwendigkeit nur subjektiv-reflexiv
ist, so werden die Zeichen und ihre Verbindungen zu einer Welt sui generis,
Schöpferisches und receptives Verhalten
95

in der in einheitlicher, auf ein Zentrum gerichteter Bewegung nichts als


Erfüllungen Vorkommen können. Diese Erfüllungen sind erwartet, denn sie
entstehen aus den Beziehungsmöglichkeiten der homogen gemachten Ele¬
mente, auf die der Receptive seine Aufnehmungsorgane gerichtet hat, sie
werden aber jede Sehnsucht bei weitem an Intensität übertreffen, weil
wegen der Vertilgung jedes Inhalts und jeder Dinghaftigkeit Möglichkeiten
zu Beziehungen entstehen, die in jeder, durch Bestimmtheiten gebundener
Wirklichkeit nicht nur nicht realisierbar, sondern sogar undenkbar und
unvorstellbar sind. Durch diese Umwandlung — in der sich der »Standpunkt«
noch stärker als Weltanschauung zeigt - entsteht eine Welt, die wegen ihres
absolut harmonischen, reinen Erfüllungscharakters, ihres Mangels an
Bestimmtheit des konkreten Inhalts und infolgedessen ihrer Beziehbarkeit
auf was immer (wenn diese Beziehung auch nur subjektiv-reflexiv ist), ein
Abbild jeder denkbaren oder ersehnbaren utopischen Wirklichkeit sein
kann, das Schema der erlebbaren Erfüllung überhaupt. Der schematische,
abstrakte Charakter dieses Gebildes zeigt sich in dem Erlebnis des Recep-
tiven darin, daß die für das unmittelbare Erlebnis notwendige inhaltliche
Erfüllung der durch das Werk geleisteten und dargebotenen Schemata ganz
unbeherrscht und schrankenlos ist und nicht einmal in dem einmaligen
Aufnahmeprozeß des jeweiligen receptiven Subjekts in sich einheitlich zu
sein braucht; denn die Harmonie der Schemata, die die inhaltlichen Erfül¬
lungen führen und leiten, ist gerade wegen ihrer Inhaltlosigkeit derart aprio¬
risch gesichert und absolut, daß alles in sie aufgenommen werden kann und
alles in ihnen zur Erfüllung wird. Freilich besitzt dieses Gebilde, aus eben
demselben Grunde, keine Wirklichkeit, d. h. es bleibt auch im Erlebnis des
Receptiven ein Abstand bestehen, der von der für ihn als normativ
erkannten Distanz verschieden ist: sein Erlebnis wird nämlich doch von der
Bewußtheit begleitet, nur das Abbild einer möglichen Erfüllung vor sich zu
haben und es mit seinen eigenen Inhalten zu erfüllen, und kann deshalb, was
einer gestalteten Wirklichkeit gegenüber nicht denkbar wäre, in den reinen
Genuß der Schemata der erfüllenden Formen als solche Umschlägen, kann
also als bloße Möglichkeit der Erfüllung bewußt werden. (Daß dieser
Abstand einerseits doch nur eine Variation der früher bestimmten Distanz
ist und andererseits eine gewisse Annäherung des receptiven Verhaltens an
das schöpferische zur Folge hat, daß es sich in beiden Fällen um etwas
normativ Vorgeschriebenes handelt, kann sich erst aus späteren Zusammen¬
hängen erhellen und nur in der nachkonstruktiven Psychologie des Recep¬
tiven seine Erledigung finden.) Damit klärt sich der scheinbare Widerspruch
96 Philosophie der Kunst

in der ersten Paradoxie dieses Stadiums und ihrer Auflösung auf: die
ausschließlich und sichtbar technische Art der Verknüpfung der homogen
gemachten Elemente untereinander widerspricht der postulierten Unmittel¬
barkeit des receptiven Erlebnisses nicht, da in dem Erlebnis selbst der
geschaffene, gemachte und nicht gleichsam von selbst daseiende Charakter
dieser Form notwendig enthalten ist. Die Schrankenlosigkeit der inhaltli¬
chen Erfüllung dieser Formen darf aber nur rein inhaltlich gedacht und die
formelle Bestimmtheit, innerhalb deren Grenzen sie sich abspielt, muß
soweit wie möglich gespannt werden. Dies folgt daraus, daß jeder ästhetisch
konstitutive »Standpunkt«, indem er eine in sich geschlossene Welt zu
schaffen vermag, eine Weltanschauung ist, und das von ihm aus Geschaffene
mit dieser Weltanschauung seiner Form durchdringt. Dadurch entsteht
innerhalb jeder Formung die eigentümliche und ästhetisch allein ausschlag¬
gebende Zwischenschicht zwischen reiner Inhaltlichkeit und leerer Formali¬
tät, deren Wesensart man vielleicht am besten durch den Ausdruck Inhalt
der spezifischen Form bezeichnen kann, deren entscheidendes Kennzeichen
in dem qualitativen Accent besteht, den die Formung jeder aus ihr entstan¬
denen oder auf sie bezogenen Inhaltlichkeit gibt, durch den die Rückbezie¬
hung des receptiven Erlebnisses auf das Werk und seine notwendige
Verknüpfung mit dem Werk gesichert wird. Dieser qualitative Accent, den
die abgeblaßte und unklare Dinghaftigkeit der Elemente durch die Wertbe¬
tonung der sie miteinander verbindenden abstrakten Relationen erhält, ist
die Aufhebung jeder — körperlichen wie geistigen — Schwere in ihnen, ist die
vollendete und beglückende Leichtigkeit als Substanz dieser Welt. Die aus
der Erlebniswirklichkeit stammende Verschiedenheit der vorkommenden
Elemente in bezug auf Schwere und Leichtigkeit ist durch die wertbetonte
Verblassung der Dinghaftigkeit in den abstrakten Relationen dieses Systems
verschwunden, sie sind gerade in dieser Beziehung einander völlig äquiva¬
lent geworden; ein erinnerungsmäßiges Nachklingen der alten Differenzen
kann zwar, wie wir sahen, nicht verhindert werden, muß es aber gar nicht,
da es gegen die Unmittelbarkeit der gleichmachenden Kraft im System
sowieso nicht aufkommen und durch seinen vergeblichen Kampf dagegen
den hier errungenen Wert der Leichtigkeit nur noch verstärken kann. Diese
Leichtigkeit hat notwendigerweise — in bezug auf die Kategorie der Ding¬
haftigkeit — etwas immaterielles an sich, da es sich nicht darum handelt, das
noch immer dinghatte und materielle, spezifische Gewicht des leichtesten
Elementes auf die anderen zu übertragen, sondern darum, daß sämtlichen
Elementen, ohne Rücksicht auf ihre spezifische Materialität und eigentliche
Schöpferisches und receptives Verhalten
97

Schwere, diese ihnen wesensfremde Leichtigkeit aufgezwungen wird. Und


die Materialität, die sie erhalten, verstärkt noch diese substantielle Leichtig¬
keit: sie ist — dies folgt aus der sichtbar technischen Art der Verknüpfungen
— die allen gleich fremde und ferne, in bezug auf spezifische Dinghaftigkeit
gar nicht als Material erlebbare Materialität der gesuchten Form.
Die Einheit also, die hier erreicht werden soll, ist die Convergenz und Cohä-
renz der sinnlichen Wirkungsmöglichkeiten in den zu Zeichen verwandelten
Elementen mit der ebenfalls unmittelbar und sinnlich wirkenden Kraft, die
in der Materialität der Form steckt. Die Leichtigkeit aber, die durch das
Bündnis dieser beiden Materialitäten entsteht, die gegeneinander so fremd
sind, daß sie als Materien gar nicht miteinander in Beziehung gebracht
werden können und so aus ihrer Wechselwirkung eine immaterielle Substanz
entstehen lassen, aber eben deshalb ihre unmittelbaren Sinnlichkeiten in
voller Kraft bewahren, bekommt ihre wirkliche Weihe und Vollendung doch
nur von den das Ganze organisierenden abstrakten und dennoch unmit¬
telbar erlebbaren Relationen. Da dieser Komplex das Schema der erleb¬
baren Erfüllung überhaupt ist, können die Relationen, die es zur Ordnung
organisieren, nur die Träger einer Ordnung überhaupt sein: die Prinzipien
einer sichtbar gewordenen Mathematik als der sinnverleihenden Zusam¬
menfassung jeder ganz allgemeinen, abstrakten Ordnung. Das Mathemati¬
sche an den Relationen ist also die einfache Folge ihrer eigenen Abstraktheit
und der Immaterialität, respective der materiellen Undifferenziertheit der
Elemente, die sie verbinden; es ist das Deutlichwerden des rein formellen
Charakters, den dieses Gebilde haben muß. Die Ordnung überhaupt hat das
Gleichgewicht zur Maxime, die Verschiedenheiten scheinen nur darum da
zu sein, um durch ihre Aufhebung die hergestellte Ordnung ihres Gleichge¬
wichts offenbar werden zu lassen; es gliedern sich alle Elemente - von denen
notwendig vorausgesetzt wird, daß sie miteinander restlos vergleichbar sind
und daß die Möglichkeit einander in Balance zu halten nur von dem
Ausgleich ihrer Quantität abhängt — zu Gruppen, in denen das relative
Gleichgewicht der Elemente eine Überleitung zur absoluten Ordnung im
Gleichgewicht der Gruppen ist. So kommt der Zusammenhang und die
Cohärenz der gestalteten Fläche zustande, die deshalb aus nichts anderem
bestehen kann, als aus einer Systematik der Parallelitäten, Corresponden¬
zen, Wiederholungen und Symmetrien, aus mathematisch geordneten
Abwechslungen von verschiedenen, in sich ebenfalls mathematisch aufge¬
bauten Gruppen und Elementen. Die Gesetzlichkeit, die sich in diesem
Aufbau aus auf vergleichbaren Quantitäten reducierten Elementen und
98 Philosophie der Kunst

Gruppen zeigt, ist der Rhythmus, der Träger der zweidimensionalen Stilisie¬
rung, das konstitutive Prinzip der Flächengestaltung. Da die Dmghaftigkeit
in dieser Welt aufgehoben ist, hat jedes Zeichen nur den Kompositionswert
seiner sinnlich zum Ausdruck kommenden Erscheinung, bietet sich also mit
einer gewissen Selbstverständlichkeit der mathematischen Rationalisierung
dar: es ist einerseits in sich eine Einheit und repräsentiert andererseits, im
Verhältnis zu anderen Zeichen, entweder einen Teil der durch sie repräsen¬
tierten Einheit oder das Äquivalent einer Gruppe von Einheiten. Es herrscht
also eine gewisse Relativität darin, welches Element als Einheit gefaßt
werden soll, um im Vergleich zu ihm die anderen als gleich, größer oder
kleiner zu bestimmen und so zu den organisierenden Gruppen und von
diesen zum Ganzen fortzuschreiten. Diese Relativität ist in bezug auf das
Fortschreiten grenzenlos; d. h. es ist nicht vorstellbar, wie aus den Prinzipien
dieser Gestaltung heraus die Größe des Ganzen zu bestimmen wäre; zu
jedem »Ganzen« könnten noch andere, ihm nach den Prinzipien der
Symmetrie angegliederte »Ganze« als Teile einer neuen Ganzheit beigeord¬
net werden und es wäre, wenn nur diese Prinzipien konstitutiv sein würden,
ein Ende nie zu erreichen. So ist — für die mathematischen Prinzipien der
Gestaltung — das Verhältnis des Ganzen zu den Teilen, das Format der
gesamten Komposition immer irrationell und aus ihnen nie ableitbar; dieses
Format ist für sie »gegeben« und die Aufgabe der Gestaltung besteht darin,
dieser Gegebenheit den Schein der Notwendigkeit, der Apriorität zu verlei¬
hen, sie so zu gestalten, daß diese Irrationalität der Aufgabe aufgehoben
werden. (Immer ist der Teppich die deutlichste Objektivation dieser
Verhältnisse. So besitzt der Teppich die stärkste Möglichkeit zum Fragment¬
werden, in dem Sinne, daß Stücke aus ihm ganz als abgeschlossene, fertige
und vollendete Ganzheiten wirken können, die nicht einmal den pikanten
oder melancholischen Reiz der Torsi, der in ihrer Ergänzungsbedürftigkeit
hegt, haben, sondern schlechthin vollendet sind; und umgekehrt, wäre es
ideell denkbar, daß mehrere Teppiche zu einem neuen Ganzen zusammen¬
gewoben werden, an dem die ehemalige Selbständigkeit der Teile nicht
mehr erkennbar wäre. Auch an das Verhältnis der Strophen zum Gedicht
wäre hier zu erinnern, deren Zahl aus ganz anderen Prinzipien als den
Proportionalitäten ihres ^.ufbaus bestimmt ist.) Noch deutlicher und wichti¬
ger aber ist das Aufhören der Relativität von Einheit und Gruppe aus
Einheiten in der Richtung nach unten. Flier wird dem mathematischen Rela¬
tivismus, dem es nur auf Proportionalität ankommt und dem das, was sich
in diese Verhältnisse einfügt, gleichgültig ist, der also an sich eine grenzen-
Schöpferisches und receptives Verhalten
99

lose Teilbarkeit fordern würde, durch die Dinghaftigkeit überhaupt, die die
zu Zeichen gewordenen Elemente konstituiert, die Grenze gesetzt. Jedes
»Zeichen« ist nicht mehr zerlegbar; d. h. es kann in die verschiedensten
Gruppierungen und Beziehungen eingehen, kann selbst eventuell noch nach
gewissen Proportionalitäten gegliedert sein, ist aber doch etwas Unzerlegba¬
res, etwas als solches, in sich und für sich Bedeutungsvolles, mit eigener
Qualität (der sinnlichen Wirkungsmöglichkeit seiner Erkennbarkeit und der
Materialität seiner Form) Erfülltes, etwas Letztes, eine Monade. Für die
mathematische Organisation liegt auch hier etwas Irrationelles, eine Gege¬
benheit vor und auch hier kann es nur ihre Aufgabe sein, der Aposteriorität
des Gegebenen den Schein der Apriorität zu verleihen. Dieser Monadencha¬
rakter der Elemente zeigt sich am klarsten in der Wortkunst. Wenn ein Wort
auch nach den verschiedenen rhythmischen, klanglichen etc. Werten seiner
Silben in verschiedene Relationen eingeordnet ist, so ist es doch etwas
notwendig Letztes und Unaufhebbares. Geradeso steht es mit einem mate¬
riell geschlossenen Element (Mensch, Tier etc.) in dem Bilde, ja selbst mit
den ganz zur Abstraktheit stilisierten, ihre Bestimmtheit nur leise andeu¬
tenden Zeichen im Teppich. Diese Schranke der auf abstrakten Relativismus
intendierenden Relationen schlägt aber ganz deutlich und stark in Positi-
vität um: die Leichtigkeit, in der wir schon früher die Substanz und den
Wert dieser Formung erkannt haben, bekommt erst durch dieses Verhältnis
der abstrakten Relationen zu den für sie irrationellen und unauflösbar
konkreten Zeichen die letzte, entscheidende Bedeutung. Wenn es dem Rela¬
tionssystem auch gelungen ist, alles Gegebene in Notwendigkeit zu verwan¬
deln, sind dessen Qualitäten doch intakt geblieben, und die unbedingte
Verkniipfbarkeit von Allem mit Allem und ihre Realisation in der Schran¬
kenlosigkeit des herrschenden Gesetzmäßigkeitssystems, wird, ohne die
eigene große Rationalität zu verlieren, tief und geheimnisvoll: unaussprech¬
bare Gesetze scheinen hier zu walten, über Dinge, die von den Gesetzen
nicht begriffen werden, die ihnen fremd bleiben und sich dennoch willig und
wie im Tanze ihren Geboten fügen. Und die Beziehungen der zu Zeichen
gewordenen Dinge zueinander erhalten die gleiche, klare und helle, und
doch unaussprechbare Gesetzmäßigkeit: wenn auf ein Wort im Reim ein
ihm völlig bedeutungsfremdes als notwendige, als einzig mögliche Antwort
erklingt, wenn in der Flächenkomposition des Bildes die Bewegungen der
Menschen mit den Bäumen, den Bergen und den Wolken rätselvolle, aber
selbstverständliche Ornamente bilden, so ist es gleich notwendig und gleich
geheimnisvoll, wie Dinge in solchen Systemen ihre Antwort erhalten können
100 Philosophie der Kunst

und wie diese Systeme sich aus den Dingen aufzubauen vermögen. Das ist
die Tiefe und die Schönheit des Teppichs, die Leo Popperts Essay über
Volkskunst1 vollendet formuliert, deren Stimmung Stefan Georges Strophe
so wundervoll trifft:
Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren
Sich fremd zum bund umrahmt von seidner franze
Und blaue sicheln weiße Sterne zieren
Und queren sie in dem erstarrten tanze.
Die Leichtigkeit ist hier zur Tat geworden: zu dem freien Spiel der Gesetz¬
mäßigkeiten mit den Dingen, zu der freigewordenen, zum Spiel und zum
Tanz gewordenen Gebundenheit der Dinge in ihren Beziehungen zueinan¬
der. Mit diesem Begriff des Ornaments, der Synthese von Ordnung und
Spiel und der ornamental gestalteten Oberfläche der Dinge, in die jede
Irrationalität aufgenommen werden kann und alles von strengen Gesetzen
umschlossen wird, wo aber die Starrheit der Gesetze sich löst, ohne an
Notwendigkeit einzubüßen und das Unauflösbare hell und leicht wird, ohne
sich in platter Begreifbarkeit zu verlieren, ist das Ziel dieser Formung
erreicht und alle ihre Paradoxien sind aufgelöst: das Abbild jeder utopischen
Wirklichkeit ist entstanden.
Dieses Formungsprinzip ist das am tiefsten und am eigentlichsten Künstleri¬
sche: es ist ganz Form, »reine« Form im wörtlichen Sinne und es erschafft ein
Werk, in dem alle Wünsche zur reinen Erfüllung konvergieren können, ein
Werk, das das wahrhafte irdische Paradies ist, in dem alle Gegensätze
zusammenfallen und, um eine paradiesische Welt aufzubauen, sich zusam¬
mentun. Diese Welt besitzt aber keine Wirklichkeit, sie ist abstrakt, ein
Abbild, eine Allegorie, ein Wiederschein ferner Erfüllungen, auf die sich die
Realisierungen nur subjektiv-reflexiv beziehen können; sie wird von der zur
Substanz gewordenen Inhaltslosigkeit ihrer Elemente getragen, und sie wäre
in dem Augenblick gesprengt, ihre leuchtende Oberfläche wäre verwirrt,
wenn die zur inhaltslosen Leichtigkeit verzauberten Dinge sich wieder ihrer
selbst und ihrer Dinghaftigkeit besännen. Und dies muß geschehen. Die
Möglichkeit des Teppichs ist ein ganz vereinzelter Glücksfall, wo die
Möglichkeiten dieser Formung zur endgültigen Gestaltung werden können;
sonst widerstreben überall Gestaltungsziel und Gestaltungsmaterial gleich
stark dieser paradiesischen, aber abstrakten Vollendung. Nur der Tanz, das

[ i Volkskunst und Formbeseelung. »Die Fackel«, xm. (1911), Nr. 324/25. S. 37—39.]
Schöpferisches und receptives Verhalten IOI

Märchen und gewisse Arten der Musik können mit dem Teppich verglichen
werden, sind aber auch schon Zwischenstufen zu anderen Formungsprinzi¬
pien. Und kein Bild kann bloße reine und schöne Fläche bleiben, sondern
muß zum Inbegriff von gestalteten Dingen in ihrer Materialität werden, und
jede Wortkunst widerstrebt der Tendenz, jeden Sinn in Reim, Rhythmus und
Klang auflösen zu lassen. So wird dieses paradiso terrestre zum verlorenen
und wiedergesuchten Paradies der Kunst: jede gestaltende, Wirklichkeit
erschaffende Kunst sucht diese ihre ornamentale Heimat, die sie der Wirk¬
lichkeit willen verlassen hat, nach der erreichten Wirklichkeit und in ihr und
für sie wieder zu gewinnen. So wird diese Form zu dem großen Correctiv
jeder Formung: »all art constantly aspires towards the condition of music«1,
hat Walter Pater gesagt und dieser Satz ist viel mehr als geistreich und fein,
wenn unter Musik diese zum Spiel gewordene, freie und befreiende Gebun¬
denheit verstanden wird. In dieser Correktivrolle wird sie aber über ihre
empirische Möglichkeit hinausgesteigert: die gestaltete Wirklichkeit soll in
sie, aber als solche, zurückkehren; es soll eine »reine« Form wieder erreicht
werden, aber eine, die jede Abstraktheit abgelegt hat, der gegenüber deshalb
auch jeder Abstand wieder verloren gegangen und wieder in Distanz
verwandelt worden ist. Diese Probleme: das Problem der Wirklichkeitsge¬
staltung und das Problem der Rückkehr der Wirklichkeit zur reinen Form
bilden die beiden folgenden Gruppen der aufzulösenden Paradoxien im
künstlerischen Gestaltungsprozeß.
Die Analyse der »reinen« Form hat eine neue und tiefere Paradoxie der
künstlerischen Gestaltung enthüllt: die Paradoxie ihres Wesens als utopische
Wirklichkeit; es hat sich gezeigt, daß das einfachste und vollständigste
Leisten der Utopie ihren Wirklichkeitscharakter aufhebt und das erreichte
Ziel noch problematischer werden läßt, als vorher die Möglichkeit seines
Erreichens schien. Darum muß der Versuch, die utopische Wirklichkeit der
Kunst zu realisieren, auch von der anderen Seite, von der Seite der Wirklich¬
keit in Angriff genommen werden; es muß unternommen werden, ob es nicht
möglich ist, eine Wirklichkeit zu erschaffen, die in sich selbst die Fähigkeit
findet und entwickelt, zur utopischen Wirklichkeit emporzuwachsen. Aber
das Problematische dieser Tendenz ist von Anfang an offenkundiger als es
bei der reinen Form war. Denn wenn diese wegen ihrer Überspannung des
eigentlichst Künstlerischen problematisch wurde, so steckt hier schon in den

[i The Renaissance. Studies in Art and Poetry. London, Macmillan. 1913. p. 140.]
102 Philosophie der Kunst

Prinzipien des Ausgangs die Tendenz, über das Künstlerische hinauszugehen


und die reine Immanenz und das absolute Fürsichsein des zu schaffenden
Werks zu sprengen. Die Gefahr, die hier entsteht, ist, kurz gesagt, der Natu¬
ralismus. Dieser vieldeutige Begriff birgt freilich eine große Schwierigkeit
für die Klarheit der Darstellung in sich; was Naturalismus ist, oder besser
gesagt, welche Typen des Naturalismus es gibt, kann nur dann wirklich
deutlich gemacht werden, wenn die Frage: »was ist Natur?« sowohl für das
Werk wie für Schaffenden und Receptiven beantwortet ist, und wenn es bei
dem Schaffenden klargemacht wurde, auf was sich die schon erkannte natu¬
ralistische Tendenz richtet. Hier müssen wir uns mit ein paar Andeutungen
begnügen.
Das Ziel jedes Naturalismus ist, den Eindruck einer wahren Wirklichkeit
hervorzurufen (resp. zu empfangen). Es setzt also notwendigerweise gewisse
allgemeingültige Kriterien voraus, die den Wirklichkeitscharakter und den
jeweilig erreichten Wirklichkeitsgrad eines künstlerischen Gebildes bestim¬
men können. Diese Kriterien können subjektiver oder objektiver Natur sein,
d. h. sie sind entweder Kriterien des Eindrucks, des Erlebnisses von Wirk¬
lichkeit, als subjektive Erlebnisform sui generis, oder sie sind in erster Reihe
Kriterien, die den objektiven Wirklichkeitscharakter eines Komplexes kon¬
stituieren, bei denen die Erlebbarkeit dieser Qualität zwar ebenfalls notwen¬
dig, aber secundär und nur eine Folgeerscheinung ist; sie sind also entweder
Kriterien des Erlebnisses oder der Erkenntnis der Wirklichkeit. Gleichviel
ob nun diese Kriterien sich auf eine empirische oder transcendente Wirklich¬
keit beziehen, ist durch sie die Gefahr entstanden, daß es eine Wirklichkeit
vor oder über der Kunst gibt, aus der die Kriterien der Beurteilung, inwie¬
fern ein Kunstwerk zur Wirklichkeit geworden ist, ableitbar sind, nach
denen die Gestaltung des Werkes sich zu richten hat, in denen das Vorbild
für sie vorgezeichnet ist, mit einem Wort: als Wertmaßstab für die erreichte
Wirklichkeit des Werks ist eine ihr transcendente Wirklichkeit gegeben.
Doch mit der Aufhebung oder selbst mit der bloßen Trübung der Immanenz
ist zugleich das Dasein des Werkes als Kunstwerk aufgehoben: vor allem
bedingt sein Wesen als utopische Wirklichkeit, daß über diese hinaus nichts
weder zu suchen noch zu finden gäbe, daß das Werk als Zentrum, wo alle
Tendenzen der Erfüllung zusammenlaufen, nicht nur etwas Letztes, sondern
auch etwas Unvergleichbares sei, daß das »Ubertreffen« der empirischen
Wirklichkeit von der utopischen nicht ein quantitatives Mehr, sondern ein
qualitatives Anderssein bedeute. Dazu kommt, daß wir als Bedingung der
utopischen Wirklichkeit des Werks die harmonia praestabihta seines Stoffes
Schöpferisches und receptives Verhalten I03

mit seiner Form erkannt haben, und wir wissen ebenfalls, daß es einerseits
nur spezifische Formen gibt, andererseits daß das einfache Setzen des die
Foim konstituierenden »Standpunkts« eine Materie erschafft, die keine
Analogie in der empirischen Wirklichkeit haben kann. Durch jeden Natu¬
ralismus entsteht aber die Gefahr, daß diese Unvergleichbarkeit von Werk
und gewöhnlicher Wirklichkeit aufgehoben wird, daß das Werk - in dem für
die Kunst günstigsten Fall — diese nur übertrifft, womit die Struktur der
receptiven Erlebnisse, das Herausgehobenwerden aus der Brüchigkeit des
Lebens in eine innerlich abstandslose Welt, das Ubertreffen der Sehnsucht
des Receptiven in der Erfüllung durch das Werk sowohl falsch quantifiziert,
wie zum Prinzip der Kunst überhaupt und der Phänomenologie des Schaf¬
fenden hypostasiert wird.

Und dennoch muß es einen Naturalismus des Schaffenden geben, denn ohne
diesen, ohne einen Willen zur Schaffung der Wirklichkeit kann das Werk
nicht aus dem Stadium der bloß abstrakten Erfüllung, die die »reine« Form
leistet, bis zur konkreten, gestalteten Wirklichkeit gebracht werden. Es
entsteht also durch den Naturalismus eine Sphäre der Differenz im künstle¬
rischen Prozeß, ein Prinzip des künstlerischen Wollens, das mit so einseitiger
Stärke das Wirklichkeitselement des Werks zum Objekt hat, daß es in seiner
Absicht scheitern muß, damit ein wirkliches Erreichen seines letztlich
vorschwebenden Zieles möglich werde. Hier zeigt sich am schärfsten der
Unterschied dieser phänomenologischen Stufe von der früheren: während
im Wollen der »reinen« Form das eigentlich Künstlerische auf die äußerste
Spitze getrieben war, und deshalb die Realisation dieses Wollens in der
Sphäre der Kunst möglich war, aber gerade das Erreichen die Einseitigkeit
im Wollen enthüllte und aus dem Sieg doch ein Scheitern wurde, muß hier
der der Absicht nach auf Außerkünstlerisches hinneigende Wille zum Natu¬
ralismus schon phänomenologisch scheitern, seine Paradoxien müssen sich
als an sich unauflösbare und nicht nur in ihren Consequenzen problemati¬
sche erweisen, damit aus dieser Niederlage des Wollens ein Sieg werde: die
Enthüllung der Notwendigkeit im Willen zur Wirklichkeit und die Über¬
windung der Gefahr, die in seiner, das Künstlerische transcendierenden
Absicht steckt. Durch diese Grundstruktur dieser Stufe ist es notwendig, daß
hier sowohl der Unterschied zwischen schöpferischer und receptiver Phäno¬
menologie, wie der Abgrund, der zwischen Schöpfer und Werk liegt — der
Sprung — deutlicher sichtbar werden, als auf der Stufe der »reinen« Form.
Das Problem des Naturalismus, der jetzt als Einheit von Gefahr und
Möglichkeit zu ihrer Überwindung im Scheitern gefaßt werden soll, kann als
104 Philosophie der Kunst

das Problem von der transcendentalen, Gegenstände erschaffenden Cohä-


renz der Elemente im künstlerischen Gebilde formuliert werden und die
Paradoxien, die wir in diesem Problemkomplex vorfinden, beziehen sich auf
die phänomenologische Gliederung des so bestimmten schöpferischen Natu¬
ralismus und sind kurz folgende: erstens die Paradoxie der Dinghaftigkeit
der dargestellten Objekte, wo einerseits die Immanenz der künstlerischen
Gebilde erfordert, daß sie ihre Substantialität ausschließlich der vom
»Standpunkt« aus bedingten Form verdanken, wo aber andererseits aus
ihrer Dinghaftigkeit, aus ihrer selbständigen Substantialität das notwendige
Verschwinden der Form folgt, ihre totale Unabhängigkeit von jeder hervor¬
bringenden Form. Zweitens die Paradoxie der Materialität der einzelnen
Objekte, wo das Darstellungsziel, das die vollendet spezialisierte und indivi¬
dualisierte Einzigartigkeit in der Materialität jedes dargestellten Objekts zu
erreichen sucht, mit den Darstellungsmitteln, die dem Schaffenden als
einzige Möglichkeit des Werks als Kunstwerk ein homogeneisiertes und
darum nur sehr begrenzt differenzierbares Material darbieten, in Konflikt
gerät. Drittens die Paradoxie der Relation, der Verbindung der Objekte
miteinander, des Werks als Ganzes: das Problem, wie die letzte, alles
entscheidende, konstitutive Wirklichkeit des Werks, die Wirklichkeit des
Ganzen als konkrete Erfüllung der Dinghaftigkeit einzelner, streng indivi¬
dualisierter und konkretisierter Einzelobjekte erreicht werden kann, ob aus
den Objekten selbst — ohne eine ihnen wesensfremde Abstraktion, die dem
Begriff des Naturalismus widerstreitet — Möglichkeiten ihrer organischen
Verknüpfung miteinander und zum Ganzen zu gewinnen sind. (Es mag viel¬
leicht etwas auffallen, ist aber nichtsdestoweniger eine methodische Not¬
wendigkeit, alles bei der »reinen« Form Erreichte hier als nicht seiend zu
betrachten. Es handelt sich hier eben um verschiedene, von einander
getrennte, diskrete phänomenologische Stufen des Schaffensprozesses, um
mögliche Intendierungen zum Erreichen des Werks, nicht aber um den
selbstverständlich einheitlichen und stetigen psychologischen Prozeß des
Schaffens. Daß die einzelnen Stufen doch organisch Zusammenhängen und
nur wegen ihrer rein-methodologischen Herausarbeitung so scharf getrennt
werden, zeigt sich nicht nur am Ende der Betrachtung in ihrer Convergenz
zu dem einheitlichen Werk, sondern auch in ihrer gegenseitigen Begrenzung
und daraus folgenden Ergänzung auf den einzelnen Stufen.)
Im Problem der Dinghaftigkeit stoßen schöpferische und receptive Verhal¬
tungsarten scharf aneinander. Das Postulat der Dinghaftigkeit der Elemente
des Werks ist nichts anderes als der objektive Ausdruck der Möglichkeit der
Schöpferisches und receptives Verhalten
I05

Erfüllung für die utopische Wirklichkeitssehnsucht des Receptiven; er ver¬


langt, daß das ihm dargebotene Werk als unabhängig sowohl von seinen
eigenen auffassenden Funktionen, wie von irgendwelchen appercipierbaren
formalen Prinzipien erscheine, daß es somit nicht nur in sich, sondern aus
sich selbst heraus vollendet sei. Für den Schöpfer dagegen ist eine von seinen
Formen unabhängige Existenz der Werkelemente undenkbar: Die Substanz
der »Dinge«, die für den Receptiven die Wirklichkeit des Werks ausmachen,
ist für ihn nichts mehr als ein Knotenpunkt im System der gestaltenden Rela¬
tionen. Wenn wir also die Dinghaftigkeit der einzelnen Objekte, deren
Einheit das Werk ausmacht, von diesen beiden Standpunkten betrachten, so
so zeigt sich die folgende unauflösbare Entgegensetzung: für den Receptiven
hat jedes — dem Inhalt und der Bedeutung nach selbständige — Element des
Werks eine Substantialität, die mehr und anderes zu sein scheint, als die
bloße Summe des von ihr unmittelbar Wahrnehmbaren oder auf sie
irgendwie Beziehbaren, mehr und anderes also als die Totalität ihrer Acci-
denzen. Für den Schaffenden hingegen können nur diese Accidenzen real
sein: sie allein sind ihm als Aufbauelemente seiner Wirklichkeit gegeben, nur
in ihnen hat er Mittel, Dinge zu schaffen, und die Substanz des Werks ist für
ihn nichts anderes als eine org-anisch und kompositioneil gegliederte Totali¬
tät, die sich ausschließlich aus diesen Accidenzen aufbaut. Dieser Gegensatz
ist in der Literatur am leichtesten deutlich zu machen. Wenn auf den Recep¬
tiven eine Gestalt z. B. komisch wirkt, so ist es notwendig, daß er das Dasein
eines Menschen erlebe, der innerhalb einer Reihe von anderen Eigen¬
schaften auch die Eigenschaft des Komischen besitzt; wie stark und
notwendig diese Eigenschaft auch mit seinem Wesen verknüpft sei, wie stark
man auch empfinden müsse, daß sein Wesen gerade in dieser Eigenschaft
und nur durch sie offenbar werde, so kann dieses »Wesen« der Gestalt, ihre
Existenz keineswegs damit als erschöpft erscheinen; die Spontaneität und
die Tiefe der Wirkung erfordern vielmehr, daß dieses »Wesen« als etwas An-
sich-seiendes, etwas als Tatsache schlechthin Hinzunehmendes wirke, daß
die Empfindung entstehe: das Wesentliche sei zwar in dieser notwendigen
Verknüpfung von Eigenschaft und Substanz ausgedrückt, die Substanz selbst
aber sei mehr, anderes, und durch all dies nur andeutbar und erlebbar, aber
weder aussprechbar noch erschöpfbar. Für den Schaffenden aber ist das
Komische sowohl Apriori wie Substanz der Gestaltung: die Wirklichkeit, die
Existenz seiner Gestalten hängt von ihrer immanenten Möglichkeit ab, mit
der sie sich diesem Apriori fügen und in sich Keime zur Realisation und
Offenbarung dieser Substanz enthalten. Diese Entgegensetzung, in der nur
io 6 Philosophie der Kunst

noch von dem Gegensatz des Schaffenden und des Receptiven im allge¬
meinen die Rede war und das spezifisch naturalistische Kunstwollen noch
nicht berücksichtigt wurde, scheint von ihrer Schärfe zu verlieren, wenn
auch dieses einbezogen wird; in Wahrheit aber tritt damit erst die hier
gesuchte Paradoxie zu Tage. Denn im Naturalismus ist eine Tendenz enthal¬
ten, die mit den Postulaten des Receptiven eine gewisse Verwandtschaft
zeigt: der Naturalismus hat stets die Fiktion zur Voraussetzung, daß es eine
an sich seiende und doch erlebbare Wirklichkeit gibt, deren möglichst
getreue Reproduktion seine Aufgabe ist, daß also der »Standpunkt« und die
von ihm aus erlangten Ausdrucksmittel mit ihren eigenen Wirkungsmöglich¬
keiten die Reinheit der Wiedergabe dieser Wirklichkeit trüben würden, daß
sie ein notwendiges Übel sind, deren Folgen der Künstler auf ein Minimum
zu reducieren sich bestreben muß. Es entsteht hierin eine Stellungnahme des
Künstlers zu der für ihn gegebenen Wirklichkeit, die tatsächlich viel
Verwandtschaft mit dem Wirklichkeitserlebnis des Receptiven dem vollen¬
deten Werk gegenüber hat. Diese entscheidende Ähnlichkeit aber, das
gleiche Substanz-Accidenz-Verhältnis in bezug auf die Dinge, löst hier die
Paradoxie in der Stellung des Schaffenden zur Wirklichkeit und zum Werk
aus. Denn diesem Begriff der Substantialität ist mit allem, was dem Schaf¬
fenden als Organe des Eindrucks und des Ausdrucks zur Verfügung stehen,
nicht beizukommen; wenn für diese Stellungnahme die spezifischen Aus¬
drucksmittel der einzelnen Künste nur Trübungen sind, deren Wirkung, die
das wahre Wesen der Dinge verschleiert, der Naturalist zu überwinden
trachtet, so kann er diese Substanz selbst doch nie erreichen. Wie immer
auch jeder »Standpunkt« und alle seine Folgen ausgeschaltet werden, immer
wird die Dinghaftigkeit, die Substanz der Dinge unerreicht bleiben, immer
wird der Naturalist nur Eigenschaften, nur Accidenzen, nur »Standpunkte«
vorfinden und in einem me vollendbaren, unendlichen Prozeß der Substan¬
tialität der Dinge der Wirklichkeit vergeblich nachstreben. Was für den
Receptiven die emotionale Krönung und Zusammenfassung der aus den
Eigenschaften der gestalteten Dinge ausströmenden Erlebnisse war, wird
hier zu einem unlösbaren Problem. Denn die »Dinge« im Werk müssen doch
fertig dastehen und dürfen und können keine Vorläufigkeiten, keine Andeu¬
tungen oder Grenzbegriffe eines unendlichen Prozesses der Annäherung
sein. Für den Naturalisten kann es sich aber um nichts anderes handeln, und
der Abschluß, das Sich-Abrunden der Gestaltung zum Werk ist für ihn ein
schweres Compromiß, das Aufgeben eines vergeblichen Kampfes. Daß das
Werk dennoch vollendet sein kann, daß aus der Summe der Accidenzen sich
Schöpferisches und receptives Verhalten io 7

— für den Receptiven — eine darüber hinausgehende Substanz bildet, ist von
hier aus nicht zu begreifen; es ist ein Wunder, eine Gnade: der Sprung, der
aber von hier aus nicht nur nicht als notwendig, sondern nicht einmal als
möglich scheint.
Wenn wir nun aber den phänomenologischen Prozeß im Naturalismus
selbst, der vor dem Sprung liegt, betrachten, so ist das Wichtigste, was
geschehen wird, daß die Aufnahmeorgane den Dingen gegenüber sich
immer schärfen, immer stärker und hingebender auf das aufhorchen, was die
Einzigartigkeit eines Dinges ausmacht, und der Schaffensprozeß nun diese
Einzigartigkeit den widerstrebenden Mitteln aufzuzwingen bestrebt ist.
Dadurch hat sich aber das Problem notwendig verschoben: die Substantia-
lität der einzelnen Dinge wurde gesucht, doch der Prozeß des Suchens hat
sich unwillkürlich auf ihre Einzigartigkeit gerichtet, als auf ein Moment, in
dem die Möglichkeit zu liegen scheint, den unendlichen Annäherungsprozeß
an die Wirklichkeit — wenn auch compromißartig — so doch in gewissem
Sinne aus sich selbst heraus zu vollenden; man könnte so sagen: die Einzig¬
artigkeit der Dinge ist - für den Schaffenden - der Grenzwert ihrer Substan-
tialität. Hier scheint es, als ob eine Versöhnung der beiden Prinzipien
möglich wäre: denn die Einzigartigkeit der einzelnen Dinge kann einerseits
nur als ein besonders betonter Ausdruck dafür gelten, daß es in der Gestal¬
tung für den Schaffenden gewisse Knotenpunkte der Relationen gibt, die
sich durch ihre größere Dichtigkeit und ihre, den anderen Teilen gegenüber
bestehende relative Andersartigkeit zu substanz-ähnlichen Gebilden zusam¬
menballen, und andererseits kann und muß der Naturalist, der jeden, den
Dingen gegenüber abstrakten »Standpunkt« a limene von sich weist, in der
Einzigartigkeit der Dinge das Vehikel ihrer eigentlichen und letzten
Substantialität sehen. Damit scheint das Problem der transcendentalen
Cohärenz der Lösung wesentlich näher gekommen zu sein, denn die gleich
notwendige wie paradoxe Umkehrung in Substanz-Accidenz-Verhältnis hat
hier viel von ihrer Schärfe verloren; es scheint denkbar, daß diese Umkeh¬
rung, so wie sie hier formuliert ist, nur die Verschiedenheit des receptiven
und schöpferischen Verhaltens ausdrückt, daß zwischen ihnen also kein
unüberbrückbarer Gegensatz ist. Die Tatsächlichkeit dieser Annäherung
hätte aber zur Voraussetzung, daß die Prozesse, in denen die Accidenzen
beim Schaffenden und Receptiven sich zur Substanz zusammenballen, im
wesentlichen gleichartig sind und nur durch die Verschiedenheit des schöp¬
ferischen vom genießerischen Verhalten modifiziert werden. Zu dieser Vor¬
aussetzung sind wir aber nicht berechtigt, denn der Aufbau der Accidenzen
108 Philosophie der Kunst

beim Receptiven hat die vollständige Einheit von Gestaltungsprinzipien und


Eigenschaften der Dinge als Voraussetzung; dieser Aufbau ist nur möglich,
wenn alle Gestaltungsprinzipien des Werks als Eigenschaften der gestalteten
Dinge erscheinen und ihren ursprünglichen produktiven Charakter ganz
abgelegt haben — eine Voraussetzung, die der Gesamtstruktur des Natu¬
ralismus auch hier widerspricht. Denn es ist durchaus nicht selbstverständ¬
lich, daß die beiden oben formulierten Begriffe der Dichtigkeit als Überlei¬
tung zur Dinghaftigkeit, ihres Begriffs als »Knotenpunkt der Relationen«
und ihr Begriff als Einzigartigkeit eines — vom Schaffenden irgendwie
erlebten und nachzubilden versuchten — Dinges, zusammenfallen. Die große
Annäherung des schöpferischen Verhaltens an das receptive im Naturalis¬
mus, die, wie wir wissen, mit der Eliminierung des »Standpunkts« zusam¬
menhängt, hat am entscheidenden Punkt die Folge, daß der Receptive der
schöpferischen Phänomenologie — das notwendige Correctiv des Schaffen¬
den — verblaßt, und das weniger gehemmte, durch das Vorgeschriebene der
Wirkung nicht mehr bestimmte schöpferische Verhalten aus dem Kreis
seiner Möglichkeiten heraustritt und an dem Falsch-Gewollten scheitert. Es
handelt sich hier darum, ob die vom Schöpfer gesuchte Einzigartigkeit der
Dinge mit der vom wirkenden Werk aus geforderten Dinghaftigkeit iden¬
tisch sei. Dies kann aber nur verneint werden, denn das unendliche Streben
des Naturalismus, die Wirklichkeit der Dinge in ihrer Einzigartigkeit zu
erreichen, besitzt in sich nicht notwendigerweise die Richtungsdeterminan¬
ten, die ihn auf die Dinghaftigkeit der spezifischen Formen führen würden,
ja im Wesen seiner Tendenz sind viele Elemente enthalten, die darüber
hinausführen. Dies liegt schon in dem naturalistischen Begriff der Einzigar¬
tigkeit. Schon aus dem bis jetzt deutlich gewordenen Begriff der Form folgt
nämlich, daß in jeder Form nur eine gewisse Art der Differenzierung
möglich ist und auch die nur bis zu einem gewissen Grade; Art und Grad
dieser Differenzierung, aus der die Dinghaftigkeit der Einzelobjekte entste¬
hen soll, wird durch die schon analysierte symbolische Materialbehandlung
hervorgerufen und durch die Wirkungsmöglichkeit auf den Receptiven —
wegen seines Eingestelltseins auf eine homogene Wirkungsreihe — näher
determiniert. Indem dem Naturalismus diese Hemmung fehlt, muß er in
dem großen Wollen, die Einzigartigkeit der Dinge zu erreichen, über das in
den einzelnen Formen Gegebene hinausgehen und Komplexe entstehen las¬
sen, deren Elemente entweder in keinem homogenen Strom zusammenlau¬
fen können, oder sich gegenseitig aufheben. Ich verweise auf das moderne
naturalistische Drama, wo aus dem Bestreben, die Menschen möglichst indi-
Schöpferisches und receptives Verhalten 109

vidualisiert zu gestalten, ganze Strecken des Dialogs entstanden sind, die


zwar sehr charakteristisch sind und so für eine Menschengestaltung an sich
sehr wertvoll sein könnten, für den normativen Zuschauer des Dramas aber
einfach nicht wahrnehmbar sind, so daß diese an sich äußerst differenziert
gestalteten Menschen ganz blaß und schematisch wirken. Damit ist das
Scheitern des Naturalismus schon innerhalb der Phänomenologie klargelegt:
nicht nur ein bestimmtes, theoretisch formuliertes Werk kann von ihm aus
nie erreicht werden, sondern gerade das von ihm Gewollte — dessen an sich
paradoxes Wesen hier noch gar nicht untersucht werden soll — überschlägt
sich und hebt sich selbst auf. Es zeigt sich aber zugleich die große Bedeutung
dieser phänomenologischen Etappe: der Weg zur Realisation der Symbolik
der Materie. Nur durch den Naturalismus kann die abstrakte Negativität
der »reinen« Form den Dingen gegenüber überwunden, nur durch den
vergeblichen Kampf des Naturalismus gegen jeden, die Wirklichkeit been¬
genden »Standpunkt« kann jede verborgene Einbeziehbarkeit auf den
»Standpunkt« auch wirklich auf ihn bezogen werden. Der bloße Natu¬
ralismus führt über den »Standpunkt« hinaus und hebt sich und das Werk
auf, aber nur durch den überwundenen Naturalismus weitet sich der »Stand¬
punkt« zum Träger und Fundament einer als Wirklichkeit gestalteten Tota¬
lität aus; daß dies nur durch die Niederlage des Naturalismus möglich ist,
daß in ihm selbst die Prinzipien des Grenzensetzens, des Abschließens und
Abrundens nicht aufzufinden sind, kann seine Unentbehrlichkeit als Sta¬
dium nicht mindern. In der bloßen »reinen« Form liegt, wie wir sahen, keine
Möglichkeit, die Dinge aus der abstrakten und abgeblaßten Dinghaftigkeit
überhaupt herauszuheben und aus ihnen — als konkreten und realisierten
Dingen — die konkrete und erfüllte utopische Wirklichkeit des Werks
entstehen zu lassen. Der Wert und die Funktion der Dinge bestand bloß
darin, daß sie als unauflösbares Etwas der an sich leeren Gesetzmäßigkeit
der abstrakten Relationen einen Inhalt gaben; als Dinge waren sie aber,
selbst in ihrer abgeblaßten Form, etwas bloß Gegebenes, das, weil es nicht
aufzuheben ist, durch ihm fremde Gesetzmäßigkeiten eingefangen und mit
dem Schein einer ihm gleichfalls fremden Notwendigkeit umgeben werden
sollte. Erst mit dem Naturalismus ist die Notwendigkeit der Dinge als solche
in die Phänomenologie des Schöpfers eingetreten. Wenn sich diese Tendenz
auch vorerst als Kampf gegen die Ausdrucksmittel zeigt und deshalb schei¬
tern muß, so liegt in diesem Scheitern die Bedeutung des Naturalismus:
durch seine Forderungen an die Ausdrucksmittel werden diese aus ihrem
abstrakten Relationscharakter herausgerissen und zu Trägern von konkre-
I IO Philosophie der Kunst

ten Dingheiten gemacht. Das Beziehen auf den »Standpunkt« von alledem,
was auf ihn nur beziehbar ist, aber nicht selbstverständlich auf ihn bezogen
werden muß (z. B. Tastvorstellungen in der Malerei, das »Unaussprechbare«
in der Wortkunst), ist nur durch diesen Kampf gegen den »Standpunkt«
überhaupt zu erreichen. Denn wenn er auch die Möglichkeit all dies auszu¬
drücken implicite in sich birgt, so steckt in dem Wirklichwerden dieser tief
verborgenen und stummen Möglichkeiten etwas so Paradoxes, daß es aus der
natürlichen Tendenz des »Standpunkts« nie hervortreten würde. Der Wert
des Naturalismus besteht darin, daß er alles, was mit der Dinghaftigkeit der
Objekte nur zusammenhängt, ohne irgendwelche Rücksichtnahme auf den
»Standpunkt« auszudrücken bestrebt ist. Sein Scheitern ist die Folge der
immanenten Selbstcorrectur der Kunstform, der Macht des »Standpunkts«,
der nur das auf ihn Beziehbare in Erscheinung treten läßt; er trifft also eine
Auswahl in dem ihm Dargebotenen und realisiert für sich seine eigenen
immanenten Möglichkeiten, die nur in bezug auf ihn, aber nie bloß aus
seiner Kraft wirklich werden könnten. Die richtungslose und unendliche
Bemühung des Naturalismus erreicht also nicht das, was er sucht, wohl aber
was aus den Ausdrucksmitteln für die Gestaltung der Dinge als primäre und
apriorische Notwendigkeiten zu erreichen ist, etwas, was ohne diesen
Aufstand des einen Formungsprinzips gegen alle andere nie zur Wirklichkeit
geworden wäre. So enthüllt sich hier ganz deutlich der paradoxe, doppelt-
fiktionsartige Charakter des »Standpunkts«; einerseits muß das aus dem
»Standpunkt« folgende Relationssystem so betrachtet werden, als ob es das
einzig mögliche und wirksame Realitätsprinzip wäre, gleichzeitig muß aber
andererseits der »Standpunkt« selbst so aufgefaßt werden, als ob er nichts
anderes wäre als die Stimme, in der das Wesen der Dinge als Dinge laut
wird. Erst aus dem Zusammenfallen beider Fiktionen kann die Realität des
Werkes entstehen. Die »reine« Form kann nur die erste in sich verwirkli¬
chen, substanziert sie zur einzigen, darum erblüht aus ihr nur die abstrakte
Utopie, die aber die klare Vollendung dieser Abstraktheit in sich tragen
kann. Der Naturalismus überspannt die zweite, hebt ihren Fiktionscharakter
auf und kann darum zu keiner Vollendung kommen. Es hegt aber im Wesen
der zweiten Fiktion, darin, daß sie über das eigentlichste, aber zu eng Künst¬
lerische hinauszugehen scheint, daß sie nicht von vornherein als Fiktion
erkannt werden kann, daß nur aus dem Scheitern ihrer Überspannung ihr
wahres, erfülltes und fruchtbringendes Wesen entspringen kann.
Von hier aus gesehen, erweist sich die Paradoxie der Materialität in ihrer
Wesensart und ihren Folgen als eng verknüpft mit der Dinghaftigkeit, ja es
Schöpferisches und receptives Verhalten 111

scheint, als ob das Bestreben, jedes Ding einzigartig zu erschaffen, mit dem
Willen, jedem Ding seine eigene Materialität zu geben, identisch wäre.
Jedoch diese Paradoxie bezieht sich einerseits auf ein engeres, andererseits
auf ein weiteres Feld, als die vorhergehende: sie scheint etwas viel Engeres
zu sein, sogar nur einen Teil von jener zu treffen, denn die Materialität eines
Dinges ist nur ein Komponent im Komplex der Dinghaftigkeit; sie bezieht
sich aber auf viel mehr, denn indem die spezifische Materialität des
einzelnen Dinges mit der Materialität, die vom »Standpunkt« aus gegeben
ist, die die sämtlichen Dinge, die im Werk Vorkommen, erhalten müssen, in
Widerstreit gerät, ist die Beziehung der einzelnen, relativ selbständigen
Elemente des Werks zueinander zum Problem geworden; welches Problem
dann weiter zur dritten Paradoxie dieses Stadiums führen wird. Die Bezie¬
hung der einzelnen selbständigen Elemente des Werks zueinander ist freilich
auch hier noch schwach und negativ. Das naturalistische Kunstwollen geht
immer auf die Einzigartigkeit jedes Dinges aus und würde, wenn ihm keine
heterogene Hemmung widerstrebte, seine Ausdrucksmittel jedem Ding
gegenüber neu erfinden, um der Einzigartigkeit eines jeden Dinges völlig
gerecht zu werden, oder, da dies unmöglich ist, wenigstens die gegebenen
Ausdrucksmittel der Materialität bis ins Unendliche differenzieren, um die
Annäherung so weit wie irgend möglich zu treiben. Auch hier ist also das
auffallendste Kennzeichen des Naturalismus sein Kampf gegen die künstle¬
rischen Ausdrucksmittel, der Versuch ihnen etwas Unmögliches abzuringen.
Diese Unmöglichkeit ist eine Doppelte: erstens hat, wie wir bereits wissen,
die Materie einer jeden Kunstform eine einheitliche Materialität sui generis,
die an und für sich von jeder spezifischen Materialität der einzelnen Dinge
unabhängig und verschieden ist, und die doch das einzige Ausdrucksmittel
ist, das dem Naturalisten, der die Einzigartigkeit jeder spezifischen Materia¬
lität sucht, zur Verfügung steht. Zweitens ist aber diese, der Differenzierung
und Spezifikation widerstrebende Einheitlichkeit in der Materie der Aus-
drucksmittel nicht bloß durch ihr Wesen allein begründet, sondern auch von
der sie handhabenden Persönlichkeit des Schaffenden selbst. Diese wird,
trotz allen Bemühungen eines bewußten Naturalismus, allen Spezifikatio¬
nen der Materie gerecht zu werden, immer ein qualitatives Apriori in der
Aufnahmefähigkeit und noch stärker in der Ausdrucksfähigkeit besitzen,
eine Schranke, über die hinauszukommen nie möglich ist. Durch die beiden
Hemmungen in der Differenzierung der Materialität entsteht der Zusam¬
menhang der Elemente miteinander: denn die Materialität der künstleri¬
schen Technik, die durch diese beiden zustande kommt, ist notwendiger-
I I 2 Philosophie der Kunst

weise für alle Teile des Werks dieselbe; sie stiftet hiermit eine, wenn auch
vorerst unbeabsichtigte, negative und abstrakte, so doch unauflösliche Ver¬
bindung zwischen ihnen. Beide Begriffe, die hier simultan auftreten — das
Werk als Ganzes und der Schaffende als Persönlichkeit — bezeichnen in
diesem Stadium des naturalistischen Kunstwollens Schranken und Hemmun¬
gen des hier Beabsichtigten, tauchen aber zugleich zum ersten Male in der
Phänomenologie als Probleme auf.
Mit diesem Problem ist der Begriff des Werks als konkreter Totalität zum
ersten Male aufgeworfen. Solange nur von »reiner« Form die Rede ist,
beherrscht die Materialität der Form, der Ausdrucksmittel das ganze Werk
und das qualitativ Unvergleichliche in der Persönlichkeit des Schaffenden
geht konfliktlos in ihr auf und unter: diese Materialität ist nämlich einerseits
als einzige Substanz der Form unüberwindlich, es gibt nichts außer ihr, was
ausgedrückt werden könnte, andererseits aber ist sie, weil sie sich den
einzelnen Dingen gegenüber abstrakt verhält, schmiegsam und fügt sich
unmerklich den leisen Nuancierungen, die hier das qualitative Apriori jeder
schaffenden Persönlichkeit ihr aufzuzwingen gedrängt ist. (Jede Volkskunst,
speziell Teppich, Handarbeit etc., ist hier das einleuchtendste Beispiel.) Für
die erste Stufe des Naturalismus, wo nur noch von der Dinghaftigkeit der
isoliert gedachten einzelnen Dingen die Rede war, kommt dieser Zusam¬
menhang auch noch weniger in Betracht. Freilich liegt dem Problem der
Bestimmung der Dinghaftigkeit durch den formschaffenden »Standpunkt«
schon die Idee des Werks als konkrete Totalität zu Grunde, und in der Annä¬
herung des Schaffenden an das Verhalten des Receptiven zeigen sich Spuren
der Persönlichkeitsfrage, aber die Lösungen selbst, d. h. die Zeichen der
Unlösbarkeit dieser Probleme, bedürfen noch nicht unbedingt dieser Frage¬
stellung, um begriffen zu werden. Allerdings liegt das Hinneigen des Schaf¬
fenden zum receptiven Typus sehr stark in dieser Linie: dieses Verhalten
geht nämlich darauf aus, die aktive, apriorische Voreingenommenheit des
Menschen zu der ihm gegenüberstehenden Wirklichkeit möglichst herabzu¬
mindern, der notwendigen Verengerung seines Wesens, seiner Beschränkung
auf die ihm eigene Qualität, die mit der intensiven Konzentrierung auf die
Tat des Schaffens Hand in Hand geht, möglichst entgegenzuarbeiten, und
aus dem Schaffenden so einen reinen Spiegel für die eigenste Wesensart
jedes einzelnen Dinges zu machen. Die Unüberwindlichkeit dieser Schranke
aber, das Eingesperrtsein des Menschen in sein qualitatives Erlebnisapriori
wird dort noch weniger sichtbar. Denn bei isoliert gedachten Objekten
scheint sich eine größere Schmiegsamkeit des Subjekts ihnen gegenüber zu
Schöpferisches und receptives Verhalten i n

zeigen, als sie einer Totalität von Objekten gegenüber möglich ist, wenn
auch diese Möglichkeit zur Annäherung an die Einzigartigkeit der Objekte
durch die Unmöglichkeit, sie zur wirksamen Einheit zusammenzufügen,
wieder aufgehoben ist, und die Idee des Werks und mit ihr die Persönlichkeit
des Schaffenden als Schranke des Naturalismus, allerdings in abstrakter und
negativer Form, auftaucht. Hier aber ist dieser Zusammenhang von vorn¬
herein gegeben, wenn er auch selbst für diesen Naturalismus nur als notwen¬
diges Übel erscheint, als ein gleichartiges Eingestelltsein allen Dingen
gegenüber und als ein schematisierendes Verfahren in ihrer Wiedergabe.
Diese Einheitlichkeit in der hemmenden Wirkung von persönlicher Eigenart
und technischer Bedingtheit entsteht daraus, daß beide an und für sich
zusammenfassende Prinzipien sind, die freigelassen, eine Welt nach ihrer
eigenen Apriorität schaffen und alle Dinge darin zur Einheitlichkeit verge¬
waltigen würden, wogegen eben der Naturalismus seinen Kampf führt. Für
den Naturalismus liegt also in der Erscheinungsform der Technik, als
persönliche Fähigkeit und Möglichkeit der Handhabung des künstlerischen
Materials, nur eine Steigerung ihrer zu überwindenden abstrakten Schema-
tik. Diese Abstraktheit ist aber schon etwas ganz anderes als die der »reinen«
Form war: sie ist das Versagen des Allgemeinen der Besonderheit gegenüber
bei jedem Versuch einer Annäherung, nicht mehr das selbstverständliche
Insich-ruhen einer von der gewöhnlichen Wirklichkeit abgewandten Allge¬
meinheit. Hier ist die Abstraktheit stark und schmerzlich fühlbar, eben weil
sie weniger abstrakt ist, weil ihrer solchen Wesensart soviel wie möglich
abgerungen wurde. Die Persönlichkeit des Schöpfers ihrerseits steigert diese
Konkretisierung des Zusammenhangs dadurch, daß durch sie die vergewalti¬
gende Schematik noch stärker fühlbar wird: nicht gegen die Grenzen der
Möglichkeit für eine Differenzierung, die in der Technik überhaupt liegen,
richtet sich hier der Kampf, sondern gegen die, welche die persönlich
bestimmte Eigenart und Fähigkeit der ganz konkreten eigenen Technik
aufzwingt. So bedeutet die naturalistische Tendenz in der Malerei etwa nicht
nur den Versuch zur Überwindung der Einheitlichkeit der Farbenmateriali¬
tät zu Gunsten der Materialität der Dinge, sondern auch den Kampf für eine
Schwere, Dichtigkeit etc. sui generis in jedem einzelnen Ding im Gegensatz
zu dem immer gleichen Rhythmus, den die Pinselstriche, die sie gestalten
sollen, ihnen verleihen. Daß dieser Kampf gegen die Vereinigung der stärk¬
sten subjektiven und objektiven Gebundenheiten des Künstlers zur Nieder¬
lage führen muß, ist selbstverständlich, bedeutsamer und interessanter ist,
was durch diese Niederlage gewonnen wird. Die Erweiterung der Erlebnis-
114 Philosophie der Kunst

apriorität qualitativen Nuancen gegenüber haben wir schon früher konsta¬


tieren können, wichtiger ist das Konkretisieren der bisher nur postulativ und
abstrakt daseienden symbolischen Materialität. Der Widerstreit von tech¬
nisch-allgemeiner und dinghaft-spezifischer Materie ist nämlich komplizier¬
ter als er im ersten Augenblick erscheint. Die Materie der einzelnen Dinge
steht der technischen Materie bald näher, bald ferner, einzelnes scheint
einfach und restlos in diese einzugehen, während die Unsetzbarkeit von
anderen einen viel zweifelhafteren Eindruck macht, und es läge sehr nahe zu
glauben, daß der große Kampf sich bei den letzteren abspielen oder jeden¬
falls dort schwerer und aussichtsloser sein wird. Indessen ist es gerade umge¬
kehrt: dort, wo die natürliche Erscheinungsmaterie eines Werkelements der
Materie der Technik sehr nahe steht (z. B. Dialog in der Dichtung), spitzt
sich die Paradoxie der beiden Materien viel stärker zu, als wo sie unendlich
fern voneinander zu stehen scheinen. Damit ist aber die Schroffheit wesent¬
lich gemildert, die sich in der gegenseitig abstrakten Beziehung der beiden
Materialitäten zueinander zeigte und wenn die Komplizierung ihres Ver¬
hältnisses zueinander die Paradoxie darin nicht aufhebt, sondern nur
verwickelter macht, so wird sie doch erst in Folge dieser Verwickeltheit
wahrhaft fruchtbar. Die innere Paradoxie des Naturalismus zeigt sich hier
vor allem darin, daß das Beinahe, das bloß Approximative in seinem Errei¬
chen der spezifischen Materialität auch in ihm selbst und nicht bloß in der
widerstrebenden Technik begründet ist, darin, daß er die notwendige
Fiktion, die zur Voraussetzung seiner Gestaltung dient, nicht als Fiktion
gebraucht, d. h. daß er in dem spezifisch Charakteristischen, das er sucht, ein
An-sich erblickt. Wenn z. B. die Materie des Dialogs als Material, das in dem
sprechenden Menschen gegeben ist, naturalistisch »nachgeahmt« werden
soll, so zeigt sich, daß der Naturalismus als Naturalismus versagen muß, weil
um von der Sprache des Menschen zu dem Menschen zu gelangen, der auch
jetzt noch ganz isoliert nur auf das Spezifische hin betrachtet wird, die
Fiktion aufgestellt werden muß, daß die Sprache das Wesen des Menschen
enthüllt und ausdrückt, also auch hier ein »Standpunkt«, ein Apriori unauf¬
hebbar gegeben ist. Und bis zu einer gewissen Grenze kann zwar der darzu¬
stellende Mensch durch immer stärkere Vergewaltigung des »Standpunkts«
charakteristischer gestaltet werden, nach Überschreiten dieser Grenze hört
aber auch das Charakteristische auf, die Nuancen können nicht mehr
centriert werden und die Substanz, die durch die Fiäufung, Spezifikation
und Dichtigkeit der Accidenzen gesucht wird, hebt sich selbst auf. (Inwiefern
eine wirklich »charakteristische« Gestalt schon Wert im Werk repräsentiert,
Schöpferisches und receptives Verhalten 115

gehört nicht hierher.) Dazu kommt, daß jede spezifische Materialität eines
Dinges auch für das naturalistische Wollen nicht bloß isoliert und affirmativ
vorkommt, sondern im Zusammenhang und negativ: als Andersheit der
Materialität eines Dinges im Gegensatz zu der der anderen. Der Relationa¬
lismus jeder Kunst und die Abhängigkeit ihres Relationssystems vom
»Standpunkt«, gegen die der Naturalismus im Aufstand ist, werden hier
noch stärker sichtbar: je näher einzelne Dinge zueinander stehen (z. B.
Menschen desselben Milieus), desto weniger reicht der breite Reichtum der
»standpunktlosen« Annäherung an das »Leben« dazu aus, um das ihnen
spezifisch Eigene auszudrücken, um sie voneinander abzuheben; es muß
eine immer energischere Auswahl unter den Erscheinungszeichen getroffen
werden und die, welche ein Ding im Gegensatz zu den anderen hat, müssen
als besonders wichtige, als charakteristische herausgehoben werden. Es ent¬
steht also die notwendige Fiktion, als ob das, was die dargestellten Dinge
von den ihnen im Werk benachbarten am stärksten unterscheidet, für ihr
Wesen am bezeichnendsten sei. Dieser Verbindung der Dinge untereinan¬
der, zu der der Naturalismus immanent gedrängt wird, steht von der Seite
der technischen Materialität folgendes gegenüber: Erstens kann es keine
Form ohne irgendwelche, wenn auch noch so schwache und abgeblaßte,
inhaltliche Erfüllung geben; wenn also die Materialität der Technik im
Verhältnis zum Spezifikationsbedürfnis des Naturalismus auch eine abstrak¬
te, rein formelle Form zu sein scheint, so ist sie doch, für sich selbst betrach¬
tet, mit Inhalten erfüllt. Jede Farbe, jeder Pinselstrich oder Meißelhieb, jedes
Wort ist zwar bloß Form für die zu gestaltende Materialität der Dinge, kann
aber auch isoliert von dieser Ausdrucksfunktion innerviert werden und hat
dann einen auf Dinge kaum lokalisierbaren, aber nichtsdestoweniger klar
und eindeutig bestimmten Inhalt: einen Stimmungswert. Zweitens ist aber
dieser Stimmungswert nicht für alle Elemente dieser Materialität derselbe.
Auch die Einheitlichkeit der technischen Materialität ist nur ein Beziehungs¬
begriff, der ihr Verhältnis zu den einzelnen Dingen ausdrückt; für sich selbst
wirkend hat jedes Element dieser Materie einen eigenen Stimmungswert und
die einzelnen Elemente können unter sich ein System von Kontrasten,
Nuancen, Verstärkungen und Abschwächungen etc. in bezug auf Stimmung
bilden. So zeigt sich einerseits im atomisierenden Naturalismus ein Zwang
zur Verbindung der Elemente und andererseits in der die Spezifikation
hindernden, »abstrakten« Einheit eine starke Tendenz zur Differenzierung;
nur daß die beiden Richtungen bloß ihrer formellen Eigenart nach zu
convergieren scheinen, in concreto ist aber ihre Convergenz nur eine
116 Philosophie der Kunst

Möglichkeit unter vielen, zu deren Sieg über die anderen weder in diesem
Naturalismus selbst, noch in der von ihm bekämpften Technik eine Notwen¬
digkeit vorliegt. Und in der Persönlichkeit des Schaffenden, dessen Erlebnis-
apriori den Zusammenschluß der Differenzierungen verstärkt und dessen
Ausdrucksbreite den Grad der möglichen Nuancierung in der Technik
bestimmt, liegt auch nur die Möglichkeit und nicht die Notwendigkeit ihres
Zusammenfallens. Die Möglichkeit ist aber durch den Naturalismus und sein
Scheitern gegeben und mit ihr die bereits konkret gewordene Möglichkeit der
Symbolik der Materie: die Coincidenz von Charakteristik und Stimmung,
von Eindrucksnuance der Dinge und Ausdrucksnuance des Materials. Das
Wirklichwerden dieser Möglichkeit kann vom Naturalismus aus nicht er¬
reicht werden, denn für ihn ist die Idee des Ganzen, trotz aller Annäherung,
nur als abstrakte Schranke, nicht als konkrete Bestimmung erreichbar.
Freilich gibt es auch für das naturalistische Kunstwollen eine konkrete Tota¬
lität des Werks. Diese Totalität ist von zwei Intendierungen des Natu¬
ralismus bestimmt, die — um das Werk möglich zu machen — zusammenfallen
müßten, die aber trotz einer gewissen Neigung zur Convergenz sich
dennoch aus den naturalistischen Voraussetzungen heraus nicht vereinigen
können. Die erste Tendenz ist, daß die Beziehungen der Elemente des Werks
zueinander, als Dingbeziehungen, als Folgen ihrer Spezifikation und Ver¬
schiedenheit, als Zusammenhänge voneinander unabhängiger Realitäten
auch für den Naturalismus unmittelbar als Gestaltungsziel aufgegeben sind.
Die zweite, daß das Werk, als konkreter Inbegriff aller seiner konstitu¬
ierenden Elemente zu einer, über ihre Summierung hinausgehenden und von
ihnen unabhängigen Bedeutung gelangt. Der erste Komplex geht auf das
Problem der naturalistischen Ausdrückbarkeit der realen Relationen (im
Gegensatz zu den ornamental-kompositionellen) aus. Die Beziehung der
Dinge zueinander ist, wie immer auch die Ausdruckstendenz auf ihre isolie¬
rende Einzigartigkeit hinstrebt, geradeso ursprünglich und unaufhebbar
gegeben, wie die Dinge selbst; mit dem Menschen etwa, der zu malen ist, ist
der Boden, auf dem er steht, und das Faktum des Stehens, mit der Darstel¬
lung irgendeines Menschen in einer dichterischen Form sein Verhältnis zu
den anderen Menschen oder menschlichen Verhältnissen, Institutionen etc.
simultan als Darstellungsziel aufgegeben. Die Paradoxie aber, die hier für
den Naturalisten entsteht, ist, daß die Dinge und ihre Relationen zwar
dieselbe Realität als Gegebenheiten haben und dieselbe Realität der Gestal¬
tung erhalten müssen, jedoch voneinander total verschiedene sinnliche
Erscheinungswerte, mithin Darstellungsmöglichkeiten besitzen. Wenn wir
Schöpferisches und receptives Verhalten II7

auch bei der Analyse der spezifischen Dinghaftigkeit und Materialität


finden mußten, daß die Elemente der Darstellbarkeit gewisse Verbindungen
zwischen den Dingen implicite in sich enthalten, daß gewisse Abstraktionen
unvermeidlich sind, und daß man die Fiktionen in den Voraussetzungen
jeder Ausdrückbarkeit nur überschlagen, aber nicht vermeiden kann, so
zeigten sich die Dinge selbst im Vergleich zu ihren Relationen doch als
Konkreta und die Accidenzen, aus denen sich ihre Substanz zusammenstellt,
als sinnliche, unmittelbar wirkende Erscheinungswerte. Die Unmittelbarkeit
hingegen, in der die Relationen als Gegebenheiten vor dem Naturalisten
stehen, ist von abstrakter Art. So ist alles, was den Menschen zu einer einzig¬
artigen Erscheinung macht, sichtbar, oder wenigstens ohne weiteres in Sicht¬
barkeit umsetzbar, während die Wirklichkeit seines Zusammenhanges mit
dem Boden, auf dem er steht, und das Wesentliche dieses Zusammenhanges,
die Solidität des Stehens, ein Wissen, eine praktische, aposteriorische Erfah¬
rung, nicht ein unmittelbar Wahrgenommenes ist; weshalb auch Hans von
Marees mit vollem Recht dies als eines der schwersten Probleme, die die
Malerei zu lösen hat, bezeichnen konnte; auch innerhalb eines dinglich
isolierbaren Objekts zeigt sich diese Heterogeneität im Erscheinungswert
von Ding und Relation, z. B. im »Sitzen« des Kopfes auf der Schulter usw.
Diese, in der Erlebniswirklichkeit gegebene, abstrakte Dingbeziehung kann
für die naturalistische Darstellung keineswegs in Betracht kommen, ebenso¬
wenig wie die — für sie — ebenfalls abstrakten ornamentalen Relationen, die
die »reine« Form schaffen kann. Denn für die naturalistischen Ausdrucks¬
mittel sind überhaupt nur Dinge in sinnliche Substantialitäten umsetzbar
und die Relationen zwischen ihnen, die für sie gegeben und aufgegeben sind,
sind nur dann zu gestalten, wenn sie, ohne ihren Beziehungscharakter zu
verlieren, in Eigenschaften der Dinge verwandelt werden können. Dieses
Postulat jedoch, zu dem der Naturalismus notwendig gedrängt wird, ist von
seinen Voraussetzungen aus unerfüllbar: wenn es auch richtig ist, daß jede
Dingbeziehung in unmittelbar wirkende Eigenschaften der von ihr ver¬
knüpften Dinge umgesetzt werden muß, damit sie wahrhaft gestaltet werde,
so hat dieser Eigenschaftscharakter einen so gefaßten Dingbegriff zur
Voraussetzung, der für den Naturalismus unerreichbar ist. Zur Realisierung
dieses Postulats ist ein Dingbegriff gefordert, wo die Dinghaftigkeit, die
Substanz jedes Dinges eine Funktion seiner Beziehungen zu den anderen
Dingen und zu der aus ihnen gebildeten Ganzheit ist; nur die Beziehungen,
die so zur Idee des Dinges gehören, daß es ohne sie nicht nur nicht wirklich
werden, sondern nicht einmal gedacht werden kann, können als Eigen-
118 Philosophie der Kunst

schäften des Dinges wirken und den gleichen, sinnlichen und unmittelbar
wirkenden Erscheinungswert haben, wie die anderen Eigenschaften des für
sich gedachten Dinges. Es ist also unmöglich zwischen dem Menschen des
Bildes und dem Boden, auf dem er steht, oder zwischen dem Menschen der
Tragödie und der abstrakten Staatsidee oder einem historischen Gesamt¬
komplex eine Verbindung zu stiften, die die gleiche Kraft und Vollendetheit
in der Gestaltung haben könnte, wie die physiognomischen oder psychologi¬
schen »Eigenschaften« der betreffenden Menschen, wenn der Mensch, der
hier in Betracht kommt, nicht apriorisch und seinem innersten Wesen nach
der stehende Mensch, beziehungsweise der schicksalbezeichnete Held des
großen historischen Momentes ist. Diese Beziehung kann aber niemals
einseitig sein, sie kann nur dann verwirklicht werden, wenn sie so absolut das
Apriori der Dinge ausmacht, daß alle nur in ihr und durch sie existieren,
wenn also in der unmittelbar daseienden Idee des stehenden Menschen nicht
nur der Mensch bloß in bezug auf den Boden, auf dem er steht, existiert,
sondern auch die Existenz des Bodens bloß auf seiner »Eigenschaft« als
Vehikel des Stehens beruht. Nur eine solche unbeschränkte, existenz-set-
zende Allmacht des »Standpunkts« kann die konkrete Totalität der Dinge
als Werk, als erfüllte utopische Wirklichkeit aus sich entlassen: dann ist die
Fremdheit der Dinge voneinander aufgehoben und mit ihr ihr Abstand von
der eigenen Utopie; aber indem sie miteinander verwandt werden und diese
ihre Verwandtschaft als ihr innerstes und eigenstes Wesen aus ihnen
erstrahlt, kommen sie noch stärker und tiefer zu sich selbst, bereichern sich
in sich selbst mit der Fülle dieser Zusammenhänge, ihre eigenes Sein hebt
sich nicht mehr als abstrakte Andersheit von den anderen ab, sondern reiht
sich ihnen als geschwisterliche Unterscheidung, als Basis und Träger der
Vereinigung, in Friede und Intensität, in Ruhe und Spannung an. Der
»Standpunkt« ist dann das geheime Centrum, auf das alles hinaufläuft, aus
dem alles entsteigt, erscheint aber nirgends, ist nur die — sokratische —
Hebamme der sich selbst gebärenden Dinge; die »Persönlichkeit« des Schaf¬
fenden ist nur der Kopf des Zeus und die Technik der Werkform der
Hammer des Hephaistos, mit deren Hilfe die immer fertige, nie entstandene
Pallas Athene in voller Rüstung in die Welt enteilt.
Diese reahtätsschaffende Macht des »Standpunkts« kann der Naturalismus
nie erreichen, für ihn können weder die Persönlichkeit noch die Technik
diese begnadete Hilfe leisten: Ihm muß immer diese Anschauung von
Ganzen, Teilen und ihren Beziehungen fehlen, weil er in dem »Standpunkt«
nicht diese schöpferische Fiktion erblickt, sondern eine Welt ohne jeden
Schöpferisches und receptives Verhalten I19

»Standpunkt« sucht und in diesem Suchen ihm Persönlichkeit und techni¬


sche Determiniertheit nur als Hindernisse und Hemmungen erscheinen.
Und in einer solchen »standpunktslosen« Welt verharren die Dinge in ihrer
abstrakten Andersheit einander gegenüber und auch ihre Beziehungen blei¬
ben abstrakt: für die Kunst ist jedes absolute An-sich unfruchtbar, eben weil
ihr immer konkretes »In-bezug-auf« als absolutes An-sich zu erscheinen hat.
Gerade auf diesem wesentlichsten Punkt seines Strebens ist das Scheitern des
naturalistischen Kunstwollens vollständig: nur postulativ kann es auf diese
Erfüllung als Notwendigkeit, nicht aber als auf Möglichkeit hinweisen;
diesem Naturalismus, der letzten Endes immer auf einzelne, auf absolute
Dinghaftigkeit ausgehen muß, ist kein Begriff eines Ganzen, als tragende
und nähernde Einheit der Teile, keine Harmonie im Auf-einander-ruhen,
Sich-anziehen und -Abstoßen der Dinge und keine Fülle der Ganzheit gege¬
ben. Aber selbst die Spannung, die aus der positiven, wertbetonten und
beziehungsvollen Verschiedenheit der Elemente als bereichernde Vorstufe
der letzten Ruhe des Werks entsteht, kann der Naturalismus nicht hervorru-
fen; diese Spannung ist nur in der Homogeneität von konkreter Dingheit
und abstrakter Beziehung möglich und diese Homogeneität kann hier nicht
gefunden werden. In dem Streben nach Dmgbeziehung geht zwar der Natu¬
ralismus über das bloß abstrakte Nebeneinanderstehen der einander frem¬
den, voneinander isolierten Elemente hinaus und sucht eine Ganzheit, in der
die Einzigartigkeit und Verschiedenheit Träger der Verbrüderung sein sol¬
len, aber er kann nur eine Steigerung der Verschiedenheit und eine gewisse
Konkretisierung und Wertbetonung in der Aufhebung des Gleichgewichts
erreichen und damit die »reine« Form noch stärker überwinden helfen. Zu
der wirklichen Spannung kann er doch nicht kommen, denn die Dinge sind
hier größer und stärker, schwerer und bedeutsamer als ihre Beziehungen,
sprengen sie, treten aus ihnen heraus, haben eine sie weit übertreffende
Breite und Fülle des Daseins. Diese Breite wird aber arm und kahl, diese
Fülle zur Anhäufung von Wesenlosigkeiten, weil die gesprengten Rahmen
sie nicht zur wahren Intensität zusammendrängen können; die Helden der
Naturalisten sind alle mehr als ihr Schicksal, kein Geschehnis kann sie in
ihrer Ganzheit treffen, aber dieser Reichtum wird zur Armut und Verküm¬
merung, weil das Geschehnis so nie zum Schicksal und mit ihm der Mensch
zum Helden erwachsen kann, weil das Geschehnis zur Episode erniedrigt
werden muß und damit ist der, der es als Episode erlebt, gerichtet.
Es gibt aber auch einen naturalistischen Begriff der Ganzheit, als einer über
die Summierung der Teile hinausgehenden Totalität, und es fragt sich nun,
I 20
Philosophie der Kunst

ob dieser Begriff nicht das hier Fehlende zu ersetzen und die Realisation des
Werks zu ermöglichen vermag, ob das, was als Aufstieg vom Element zum
Ganzen mißglücken mußte, nicht als Heruntersteigen von der Totalität zu
ihren Teilen gelingen kann. Diese Ganzheit ist in erster Reihe als die Größe
des Ganzen gegeben, die aus der Summierung aller Elemente und ihren
realen Beziehungen entsteht, aber einen über diesen seinen Charakter
hinausgehenden Wert und eine aus ihnen nicht ableitbare, im Gegenteil sie
bestimmende Qualität besitzt. Das Problem der Größe des Werks entspricht
dem Problem des Formats bei der »reinen« Form, nur daß es sich dort um
die Auflösung des für die Proportionalitäten irrationellen Formats in reine
Relationen gehandelt hat, während hier das Problem darin besteht, wie
zwischen der unmittelbar, in der Vision des Naturalisten gegebenen Größe
des Ganzen und der Größe seiner gleichfalls und auf ebensolche Art gege¬
benen Teilen für beide konstitutive Beziehungen zu finden sind. Diese
Größe ist vor allem die räumliche, beziehungsweise zeitliche Zusammenfas¬
sung der Elemente des Werks, ist also etwas schlechthin gegebenes, hinzu¬
nehmendes, empirisches; zu einer, über diesen empirischen Gegebenheits¬
charakter hinausgehenden Bedeutung kann sie nur dann gelangen, wenn die
Art, mit der sie alle ihre Elemente in sich faßt, für diese von konstitutiver
Notwendigkeit ist und wenn sie — ob als Grund oder Folge dieser Notwen¬
digkeit mag hier gleichwertig sein — dadurch als eine in sich abgeschlossene
Einheit von eigener Wirkungsqualität erscheint. Ein solcher zusammenfas¬
sender Rahmen ist für jedes Kunstwerk eine notwendige Voraussetzung der
Gestaltung überhaupt: er ist das Prinzip der Abgrenzung des Werks von der
übrigen Wirklichkeit, das Setzen der Grenzen des Werks und damit das
Setzen seiner Existenz als Werk. Das hier unbedingt erforderliche, apriori¬
sche und konstitutive Grenzsetzen zwischen Werk und Wirklichkeit, die
absolute Unvergleichbarkeit zwischen ihnen infolge dieser Abhebung, kann
und will der Naturalismus nicht vollziehen. Für den Naturalismus, der eine
an sich gegebene Wirklichkeit voraussetzt und zu erreichen sucht, ist die
Abhebung des Werks von der empirischen Wirklichkeit etwas relatives und
gleitendes; das Werk soll die absolute Wirklichkeit erreichen, oder wenig¬
stens ihr möglichst getreues Abbild sein, womit jedoch prinzipiell noch nicht
abgemacht ist, ob das Werk in allen Punkten ihr näher kommt als die empiri¬
sche Wirklichkeit oder gar hinter ihr zurückbleibt; auf alle Fälle handelt es
sich immer um ein Mehr oder ein Weniger, niemals aber um ein Anderes und
Unvergleichbares. Damit ist aber der empirische Charakter der »Größe«
nicht nur nicht überwunden und notwendig gemacht, sondern als notwendig
Schöpferisches und receptives Verhalten I 2 I

empirisch, ja eventuell als zufällig und conventionell stabilisiert: die


»wahre« Wirklichkeit hat in sich keine Prinzipien der Grenzsetzung, die
Grenze ist für eine Anschauung, die diese als letzten Wert anerkennt, etwas
Zufälliges, bloß Subjektives, eine mit der menschlichen Persönlichkeit gege¬
bene, notwendige Trübung in der Wiedergabe der »wahren« Wirklichkeit.
Diese Zufälligkeit in der Größe des Werks wird von jeder naturalistischen
Kunsttheorie anerkannt; Ausdrücke wie »un coin de la nature«, »Aus¬
schnitt« etc. weisen deutlich genug darauf hin. Mit der Zufälligkeit der
Größe ist aber der reflexive Charakter in der Beziehung zwischen Zusam¬
menfassung und Zusammengelaßtem bestimmt: denn wenn die Zusammen¬
fassung nicht gleichzeitig ein produktives Apriori aller ihrer Inhalte ist, so
ist sie nur ein Behälter, in den manches hineingetan werden kann, wie viel
aber, das kann nur sehr approximativ — dem Maximum nach — von ihm
bedingt sein, und das Was der Elemente, die er umfaßt, und das Wie ihrer
Stellung zueinander kann von ihm nie abgeleitet werden. Freilich hebt sich
diese Ganzheit des Werks wenn auch nur relativ, so doch irgendwie von der
Wirklichkeit ab und es entsteht dadurch ihre eigene Wirkungsqualität, die
dann auch die Elemente des Werks beeinflußt, jedoch diese Einheit kann
auch nicht anders als relativ sein, und die Beeinflussung ist deshalb für die
Dinge nur von reflexiver Bedeutung und von abstrakter Art. Aus den
Voraussetzungen und der Richtung des Naturalismus folgt, daß die Auswahl
des »Ausschnitts« nur von einem »Gesichtspunkt« aus bedingt, also rein
subjektiv ist; d. h. der naturalistische Schöpfer geht von einem gewissen
Gesamteindruck eines Komplexes aus und versucht die objektiven Träger
dieses Eindrucks, dieser Stimmung zu gestalten, er wählt die Elemente aus
der Wirklichkeit aus, die ihm dazu am geeignetesten scheinen, oder - inso¬
fern er den Eindruck als etwas Ganzes nimmt und schon als Ganzes objekti¬
viert — die Elemente, die — in der »wahren« Wirklichkeit — die Träger des
objektivierten Eindrucks sind. Er schafft also ein »Milieu« für seine Darstel¬
lungselemente, das einen eigenen Stimmungscharakter hat, und mit diesem
— als dem allen Dargestellten gemeinsamen Prinzip — alle Elemente des
Werks umfaßt. Diese Umfassung ist aber nur eine Umfassung im engsten
Sinne des Wortes, keine Durchdringung und keine Neuschöpfung der
Dinge; sie ist nur ein subjektiver Aspekt, ein »Gesichtspunkt« für die getrof¬
fene Auswahl aus der Wirklichkeit, kein »Standpunkt«, der eine Wirklich¬
keit erschafft; die Dinge, die unter diesem »Gesichtspunkt« gesehen werden,
die die Stimmung ihres Milieus, des Ausschnitts aus der gesamten Wirklich¬
keit, in die sie hineingestellt werden, erhalten, haben ein Dasein, eine Ding-
122 Philosophie der Kunst

haftigkeit, die dieser sie zusammenfassenden und verbindenden Stimmung


vorangeht und von ihr unabhängig ist. Die Einheit also, die der naturalisti¬
sche Totalitätsbegriff dem Werke verleiht, ist nicht der konstitutive Aufbau
des Werks aus einem System von gestalteten Dingbeziehungen, sondern bloß
die Stimmungseinheit von Dingen und ihren Beziehungen, die von dieser
Einheit weder geschaffen noch geordnet werden, deren Ordnung oder
Chaos von der Durchführung der Stimmungseinheit unabhängig ist, die von
ihr nur umgeben werden und von diesem einen »Gesichtspunkt« aus eine
gewisse Einheitlichkeit haben. Jedes naturalistische Kunstwerk kann dies
verdeutlichen: das noch so vollendet und einheitlich gestaltete Milieu kann
den Menschen und der Handlung eines Dramas oder Romans keine wirk¬
liche Einheit geben, wie auch etwa mit der Konstatierung, daß die Stimmung
eines Bildes — wobei man den Begriff der Stimmung bis zu der Darstellung
aller atmosphärischen Effekte ausdehnen kann — ganz gelungen ist, noch
nichts über seine Komposition ausgesagt ist.
Damit ist das Scheitern des Naturalismus an allen seinen möglichen Bestre¬
bungslinien nachgewiesen; was er auf diesem Punkt zur Erweiterung des
»Standpunkts« der bloßen »reinen« Form leistet, ist so offensichtlich, daß es
nicht ausführlich analysiert werden muß: die Stimmung der Dinge, eines
Komplexes von Dingen als Gegensatz und Ergänzung zu der Stimmung der
Materialität der Form, von der früher die Rede gewesen ist. Wichtiger ist es,
auf den letzten Grund dieses Scheiterns noch einmal zu reflektieren: es ist
mehrmals betont worden, daß erst im Naturalismus die Persönlichkeit des
Schaffenden als Problem der Phänomenologie auftaucht, gleichzeitig aber,
daß diese Persönlichkeit stets als etwas zu Überwindendes für den Natu¬
ralismus m Frage kommt, und daß sein vergeblicher Versuch dieser Über¬
windung einer der bedeutsamsten Gründe seines Scheiterns ist. Der Persön¬
lichkeitsbegriff des Naturalismus entsteht aus dem unversöhnlichen Dualis¬
mus einer an sich seienden, »wahren« Wirklichkeit und einem ihr gegen¬
überstehenden Subjekt, das diese nachbildend zu erreichen sucht. Und weil
diese, Ziel und Aufgabe bestimmende Wirklichkeit etwas rein Objektives,
schlechthin Hinzunehmendes ist, etwas an dem das Subjekt keinen Anteil
gehabt hat, muß die Persönlichkeit des Schaffenden ein Hindernis in dem
Kampf sein, der auf den Besitz dieser Wirklichkeit ausgeht. Aber aus eben
demselben Grunde ist alles, was dem Subjekt geboten wird, alles was es sich
erringen kann, nur ein Teil: Fragmente der gesuchten objektiven Welt und
dazu Fragmente, die sich nie zum Ganzen runden können. Jedoch selbst
diese Fragmente sind nicht wirkliche Bruchstücke der gesuchten Objektivi-
Schöpferisches und receptives Verhalten I2 ,
tät: sie sind nur subjektive Aspekte derselben. Selbst durch den verzweifelte¬
sten Kampf des Subjekts, sich alles bloß Subjektiven, sei es Anschauung oder
Ausdrucksmittel, zu entledigen, können diese Aspekte ihren rein subjekti¬
ven, dem Objekte fremden und es nicht treffenden Charakter nicht verlie¬
ren. Das Subjekt kann sich durch die heroische Intensität dieses Kampfes zu
einer ungeahnten Breite und Feinheit entfalten und sonst Unerreichbares
damit erwerben, aus diesem Kreis aber wird es nie heraustreten, und die
Wirklichkeitsaspekte, die es findet, bleiben immer nur seine Aspekte von
einer fremden, unerreichten Wirklichkeit: reflexiv für das gesuchte Objekt,
dessen wirklicher Zusammenhang geradeso unerreichbar ist, wie seine volle
Totalität, reflexiv für das nachgeschaffene Gebilde, das zu sehr vom Subjekt
abgefärbt ist, um die Zusammenhänge seines Ursprungs aus sich hervor¬
treten zu lassen, zu sehr Bruchstück und Ausschnitt, um eigene Gesetzlich¬
keiten zu besitzen und dessen hervorbringendes Subjekt sich zu sehr
verleugnet hat, um seine — subjektiven — Normen ihm aufzuzwingen. Die
entscheidende Problematik des Naturalismus zeigt sich jetzt als die über¬
starke, unüberwindliche Subjektivität des Schaffenden, und damit wird der
Naturalismus erst wirklich die Sphäre der Differenz. Phänomenologisch
gesprochen: im Naturalisten hat die Erlebnisform das entscheidende Über¬
gewicht über die aut das Werk intendierende technische Form bekommen,
darum sind für ihn sowohl die Mittel der Technik, wie die eigenen subjek¬
tiven Organe bloß Hemmungen, darum richtet sich sein Wollen gegen sich
selbst, kann aber in dieser — abstrakten — Tendenz gegen Technik und
Persönlichkeit keine Positivität, keine Richtung auf das Werk erlangen. Der
phänomenologische Typus des Dilettanten taucht hier in vertiefter Form
wieder auf: dieser hatte in seiner Charaktereologie gar keinen Zusammen¬
hang von Erlebnisform und Hinweis auf das Werk und konnte nicht über ein
unklares Stammeln der Erlebnisse hinwegkommen; hier ist nur von einem
starken Uberwiegen der Erlebnisform die Rede, die den verzweifelten und
vergeblichen, wenn auch in der Niederlage fruchtbaren Kampf mit sich
selbst erzeugt hat. Umgekehrt können wir von hier aus in dem phänomeno¬
logischen Hervorbringer der »reinen« Form den vertieften und veredelten
Vertreter des Virtuosen wiedererkennen: bei dem Virtuosen mußte die auf
sich selbst gestellte Technik eine leer klappernde Geschicklichkeit zustande
bringen; in der »reinen« Form dagegen, wo die technische Form so sehr die
Erlebnisform überwiegt, daß diese sich kampflos jener anschmiegt und in ihr
aufgeht, wird zwar ein in sich vollendetes Werk entstehen, aber ein
abstraktes und ohne Wirklichkeit.
124
Philosophie der Kunst

Damit simd wir von neuem, jedoch in wesentlich konkreterer und inhaltlich
erfüllterer Weise auf den phänomenologischen Typus des Genies gestoßen:
der früher vielleicht dogmatisch scheinende Begriff von der harmonfa
praestabilita der Erlebnisform mit der künstlerisch-technischen Form ist
transcendental-logisch geworden: die Wirklichkeit des Werks kann nur
erreicht werden, wenn die subjektiven Bedingungen ihres Entstehens (die
Erlebnisformen) mit den objektiv-struktiven Prinzipien ihrer Existenz (den
technischen Formen) identisch sind. Das objektive Moment an jeder Wirk¬
lichkeit liegt in ihrer - relativen - Gleichgültigkeit subjektiven Stellungnah¬
men, Wünschen und Wertungen gegenüber, die sich im Erlebnis des Betrach¬
ters als eine Unabhängigkeit von seinen aufnehmenden Funktionen, von den
Formen überhaupt spiegelt; »die Kategorie des >Seins<« sagt Windelband,
». . . bedeutet nie etwas Anderes als diese Unabhängigkeit des Bewußtseins¬
inhaltes von der Bewußtseinsfunction«1. Die Bedingung der künstlerischen
Wirklichkeit ist deshalb, daß in ihr das Sinnvolle und das Widersinnige, das
Wertbetonte und das Wertverneinende eine gleich starke Existenz besitzen,
wobei jedoch dieser wertfremden Struktur der Wirklichkeit alles Quälende,
die gleichgültige Feindschaft dem Flohen und Bedeutsamen gegenüber,
genommen werden muß. Die Kunst muß also in ihrem wirklichkeitschaf¬
fenden Prozeß eine ähnliche Umwandlung an der gegebenen gewöhnlichen
Wirklichkeit vollziehen, wie sie von dem Erkenntnisprozeß, der zur Theo-
dicee führt, vollbracht wird. Aber die Aufhebung des Widersinnes in der
Theodicee ist durch eine Verknüpfung mit transcendenten Gerechtfertigun¬
gen seiner Existenz erreicht worden und wird so Gegenstand des Erkennens
oder des Glaubens, während hier das Widersinnige einen immanenten Sinn
zu bekommen hat, um Gegenstand des unmittelbaren Erlebens werden zu
können. Wenn aber das Widersinnige im unmittelbaren Erlebnis, ohne
transcendente Legitimation, bejaht werden soll, so muß es in seiner unmit¬
telbar gegebenen Erscheinung zum Träger, zur unbedingten Voraussetzung,
zur absoluten conditio sine qua non des Wertes werden; nur wenn das inten¬
sivste Erlebnis des Wertes ohne dieses Gegenspiel unmöglich scheint, hat der
Widersinn seinen wertfeindlichen Charakter verloren: er ist zur Dissonanz
in einem Tonsystem geworden. Mit diesem, etwas vorwegnehmenden Ver¬
gleich aber ist das oben besagte auf das richtige Maß beschränkt: nicht das

[i Vom System der Kategorien. »Philosophische Abhandlungen — Ch. Sigwart zu


seinem 70. Geburtstage gewidmet.« Tübingen, Mohr. 1900. S. 47—48.]
Schöpferisches und receptives Verhalten I25

Widersinnige an sich wird dem Sinn oder dem geschlossenen System der
möglichen Werte kontrastiert, sondern ein ganz bestimmter Widersinn (oder
eventuell ein Komplex von Widersinnigkeiten) in eine solche Beziehung
gebracht, in der er zur Voraussetzung eines ebenfalls konkret bestimmten
Wertes wird. Dadurch ist aber nicht nur die Wertfeindlichkeit des Wider¬
sinnes aufgehoben und in ein unauflösliches Bündnis mit dem Wert verwan¬
delt, sondern auch der Wertgegensatz von Sinn und Widersinn muß einer
Gleichordnung der beiden weichen, die so stark und umfassend ist und beide
so sehr durchdringt, daß das ehemals Bejahte ohne diese Beziehung als blaß,
arm und dürftig erscheinen würde und das früher Verneinte, Gefürchtete
oder Bedrückende von der reinen Glorie einer inneren Notwendigkeit und
Vollendung erstrahlt. Bloß dadurch kann das künstlerische Gebilde seine
Wirklichkeit erhalten: ein Sein, das unabhängig von jeder Wertung ist, das
die Notwendigkeit seines Da-seins und So-seins nur der eigenen imma¬
nenten Struktur verdankt. Die wertfremde Wesensart der gegebenen Erleb-
mswirklichkeit, die nur der wertsuchenden und in diesem Suchen
getäuschten Emotionalität des erlebenden Subjekts als wertfeindlich vor¬
kommt, kehrt hier geläutert, gewollt und bejaht zurück. Nur daß dort diese
Fremdheit negativ war und in einer vollständigen Heterogeneität jeder
Wertbezogenheit gegenüber bestand, und so weder das Wertvolle, noch das
dagegen Aufständische zur höchsten Intensität ihrer Möglichkeiten kommen
konnten, während es sich hier um etwas Positives, um das homogene Getra¬
gensein beider von einem und demselben Strom handelt, wo in der vorgear¬
beiteten Intention apriorisch beschlossen liegt, sie beide zu ihrer denkbar
höchsten Blüte gedeihen zu lassen. Die Wirklichkeit, die hier erreicht wird,
hängt geradeso stark von der Tiefe des zugrundeliegenden Gegensatzes, von
der Kraft der Spannung zwischen Sinn und Widersinn, wie von der Macht
der ausgleichenden, beide gleich tragenden und nährenden Intensität ihres
einfachen Seins ab. Die gleiche Wichtigkeit aber, die Spannung und
Ausgleich haben, bezieht sich nicht bloß auf das Ganze des Werks, sondern
auf alle seine Teile; das Werk ist auch in der Beziehung eine Rückkehr zur
ursprünglichen Wirklichkeit, daß [es] in ihm keine von dem Seienden abge¬
trennten und voneinander deutlich geschiedenen, in sich homogenen Reihen
von Werten und Unwerten gibt, sondern daß Sinn und Sein und Widersinn
sich in jedem einzelnen Element gleich stark vereinigen, bekämpfen und in
Balance halten. Dieser Verschiebung und Verschmelzung der Wertungsrei¬
hen verdankt das Werk seine Unerschöpflichkeit: die Elemente erhalten ein
Fiirsichsein, einen inneren Reichtum und dabei etwas Unerschaffenes, von

(
I 26 Philosophie der Kunst

keinem Gesichtspunkt aus Erschöpfbares, das ihrem Gegebenheitscharakter


in der Erlebniswirklichkeit entspricht, aber diesen an Intensität der Erleb-
barkeit weit übertreffen muß, weil das Werk ja in Bezug auf diese und
homogen gestaltet wurde; und die Beziehungen der Elemente zueinander
erhalten eine ähnliche, von nirgends zugängliche und me einseitig faßbare
Mischung von Klarheit des Sinnes und einfacher Existenz, wieder an die
Unerschöpflichkeit der Erlebniswelt erinnernd, diese aber wieder unver¬
gleichlich übertreffend. Denn das Sich-verlieren des Betrachters, dessen
objektivierter Ausdruck die Unerschöpflichkeit ist, ist hier planvoll gewollt
und der Weg zum Erleben einer sinnerfüllten Welt; gerade das, womit die
Erlebniswelt zur Desorientierung und dadurch zur Verlorenheit und Enttäu¬
schung führt, das Aufgeben-müssen der transcendenten Wertmaßstäbe oder
ihr Versagen der Fülle des einfach Seienden gegenüber, wird hier zum
Vehikel des Sinnes.
Freilich setzt diese Standpunktlosigkeit der Werkwelt den »Standpunkt« als
ihr schöpferisches Apriori voraus: diese Umwandlung der Wirklichkeit und
die Schaffung einer neuen sind nur dadurch möglich, daß — wie betont wurde —
ein bestimmter Widersinn, ein quälender Aspekt der Erlebmswirklichkeit
in eine solche Sinnbeziehung gebracht wird; diese Welt hat ihre Wirklichkeit
ausschließlich sub specie dieses »Standpunkts«, der hiermit zum Urheber der
wirklichkeitschaffenden, der transcendentalen Form wird. Jetzt ist der Welt¬
anschauungscharakter des »Standpunkts« erst wirklich klar geworden, denn
mit ihm ist eine ganz konkrete Weltordnung gesetzt, in der überexistentielle
Prinzipien sowohl als Träger und Führer der Dinge und ihrer Beziehungen,
wie als immanent seiende Essenzen dieser Wirklichkeit sich gleich bewäh¬
ren. Wie formell auch und ohne jeden spezifischen Inhalt diese Seite des
»Standpunkts« gefaßt werden soll, so muß er sich doch jedesmal an ganz
konkreten, einzigartigen Dingen zeigen, sich an ihnen erfüllen, mit ihrem
Inhalte identisch und — allerdings nur in diesem Sinne — selbst inhaltlich
werden. So ist der »Standpunkt«, der die Tragödie schafft, der Sinn des
Todes, des Untergangs, der brutalen Unterbrechung des Lebens. Die
Tragödie ist nur dann möglich, wenn eine Welt geschaffen wird, in der der
Tod, so wie er ist, ohne Beziehung auf eine transcendente Wirklichkeit, als
wirkliches Ende also und nicht als Eingangspforte zum wahren Sein, zu der
einzig denkbaren, jubelnd bejahten Krönung des Lebens wird; wenn alle
Werte, die aus dem Leben emporsteigen, auf den Tod als ihre einzig wirk¬
liche und wesenhafte Erfüllung hinweisen und andere — in dieser Wirklich¬
keit — gar nicht vorstellbar sind; wenn eine Welt entsteht, in der die Psycho-
Schöpferisches und receptives Verhalten I27

logie der Menschen, die Struktur ihrer Beziehungen zueinander, die Gesetze
der Umwelt, die sie umgibt, von ihrer Soziologie bis zu ihrer Metaphysik,
eindeutig auf den Tod als intendiertes Ziel ausgehen; wenn — für die Werte
dieser Welt — das Ausbleiben des Todes wie eine Herabsetzung, wie eine
Entwürdigung, wie etwas Entsetzliches und Unerträgliches erscheinen wür¬
de. (Darüber Näheres in meiner »Metaphysik der Tragödie« in »Die Seele
und die Formen«.) In diesem Sinne repräsentiert der Untergang, der Tod
den Begriff der Dissonanz für die Tragödie; die Dissonanz als bejahten
Widersinn, als Verbündeten und Helfer eines Sinnes, tieferen als der, dem er
im »Leben« gegenüberstand; die Dissonanz, wie sie Brownings Abt Vogler
empfindet:
Why eise was the pause prolonged but that
singing might issue thence?
Why rushed the discords in but that
harmony should be prized?
Die Dissonanz ist aber dadurch mehr geworden als Hintergrund und
Erstärker der Harmonie. Nicht zeitlich geht sie ihr voraus, um durch ihre
dunklen Schatten das Erstrahlen einer zusammenklingenden Ordnung zu
verstärken, keine Antithesis ist sie in einer dialektischen Bewegung zur
Synthese, sie ist vielmehr das Prinzip, worauf die wirklichkeitschaffende
Apriorität, die allem dem Begriffe nach vorangeht, beruht. Der Tod als
apriorische Dissonanz für die Tragödie macht die Gestaltung möglich und
notwendig, in der der bejahte Widersinn seines gewöhnlichen Seins
entkleidet wird und als struktives Apriori sowohl Held wie Schicksal, sowohl
Charaktere wie Handlungen, sowohl seelische Stimmungen wie dekorative
Kontraste der Scene mit der gleichen Spannung durchdringt, einander
homogen und gleich wirklich macht. So entstehen die bildenden Künste aus
der Verlorenheit des Betrachters und mit ihm der Dinge in einem Raum, der
sie ihrem innersten Wesen fremd und darum feindlich, undurchsichtig und
im Tiefsten unklar umgibt, aus der Ratlosigkeit und Zerrissenheit dieses
Betrachters in einer Welt, in der jedes Ding dem andern völlig heterogen ist,
in der es nur praktisch-abstrakte, reflexive Ausgleiche zwischen dem
Wunsch nach Einheit und Ordnung und der Welt, mit der man sich ausein¬
ander zu setzen hat, zu geben scheint. Die begriffliche Apriorität der form-
schaffenden Dissonanz — im Gegensatz zum zeitlichen Vorangehen — ist hier
noch klarer: in dem realisierten Werk der Malerei, ja schon in dem sicherge¬
wordenen Wollen des Künstlers ist die Dissonanz als Widersinn aufgehoben
und ihre Bejahung, ihre Verwandlung zum notwendigen Träger des letzten
128
Philosophie der Kunst

Sinnes vollzogen; wenn man zu malen anfängt, so wollen sich die Dinge
bereits im Raume verlieren und finden in dem — für sie bereiteten und
bereiten — Raum ihre Heimat, und die Vielstoffigkeit der Dinge ist nur ein
Reicherwerden ihrer Einheit. Der Weltanschauungscharakter des »Stand¬
punkts« besteht eben darin, daß in ihm die Welt, in bezug auf den spezifi¬
schen Widersinn, der von der spezifischen Form des »Standpunkts« bejaht
wird, so betrachtet werden kann, als ob ihr Sinn nichts anderes als diese
Bejahung wäre, als ob auch die gewöhnliche Wirklichkeit auf diesen Sinn
intendieren würde und ihn nur nie vollendet erreichen könnte, als ob die
Form, die hier entsteht, nur die Entschleierung des Weltsinnes wäre.
Freilich handelt es sich auch hier um eine Fiktion, um eine Voraussetzung,
die an sich willkürlich und falsch ist, aus deren Anwendung aber etwas in
sich Richtiges und Vollendetes, wenn auch vom Wollen, das sich im Inhalt
der Fiktion ausspricht, total Verschiedenes entsteht. Es ist das produktiv
gewordene Mißverständnis: der Künstler, der von seinem »Standpunkt« aus
einen spezifischen Widersinn als offenbar gewordenen Träger des Weltsin-
nes betrachtet, mißversteht nicht nur den wahren Sinn der Wirklichkeit (ob
dieser als erreichbar oder unerreichbar gedacht ist, ist für diese Betrachtung
gleich), sondern entfernt sich noch stärker von ihm, indem er seine subjektiv¬
willkürliche Stellungnahme dazu, diese Hypostasierung seines Erlebnisses,
mit einem, der objektiven Gesamtwirklichkeit gegenüber ebenfalls willkür¬
lichen Gesichtspunkt, dem der Technik verknüpft. Seine Fiktion ist eine
doppelte: nicht nur diesem seinem subjektiven Erlebnissinn soll die Wirk¬
lichkeit zustreben, sondern Mittel und Wege der Offenbarung dieses Sinnes
sollen Mittel und Wege der Technik des Künstlers sein. Dadurch ist das
Mißverständnis unaufhebbar und — für das Gebilde, das hier entsteht —
konstitutiv geworden; dadurch aber hat — wieder in Bezug auf das zu schaf¬
fende Werk - die Subjektivität des Künstlers aufgehört bloß subjektiv, ein
Hindernis der Objektivierung zu sein: wenn einerseits das Erlebnis des
Schaffenden — die Umwandlung des Widersinnes in Dissonanz — zum Sinn
und Wesen der Welt, andererseits die Technik zum einzig möglichen
Vehikel ihrer Offenbarung hypostasiert wird und beide, als auf ein Ziel
intendierende Aprioritäten, zusammenfallen, kann aus dieser Einheit das
konstitutive Apriori einer neuen objektiven Welt entstehen. Diese Welt hat
mit der des gewöhnlichen Erlebnisses nur ihre unmittelbare Erlebbarkeit
gemein, und wenn sie als Abbildung oder Erfüllung oder Wesen dieser Welt
gefaßt wird, wird sie doppelt mißverstanden. Dieses doppelte Mißverständ¬
nis ist aber nur dann eine Trübung des »Wahren«, wenn das dadurch
Schöpferisches und receptives Verhalten 129

Entstandene nicht als Letztes betrachtet wird, wenn man darüber hinaus und
mit seiner Hilfe zu dem »Wesen« Vordringen will, wie man es dem einfachen
Mißverständnis der Erlebniswirklichkeit gegenüber notgedrungen tut. Ist
jedoch das Produkt dieser Mißverständnisse das Ziel, so ist ihre Einheit
etwas Notwendiges und als solches die tragende Gebietskategorie dieser
neuen Objektivität; und die neuen Mißverständnisse, die aus dem Erlebnis
des Produkts entstehen (über die an anderer Stelle zu sprechen sein wird),
sind etwas Vorgeschriebenes und den Normen dieses Gebiets Entsprechen¬

des.
Damit ist der phänomenologische Sinn der Vision des Künstlers bestimmbar
geworden: die Vision ist das unmittelbare Erlebnis dieser neuen - von der
doppelten Fiktion bestimmten - Welt als unantastbare Realität, als »wahre«
Wirklichkeit, als Entschleierung des verdeckten wirklichen Sinnes. Das
Weltbild also, das wir soeben mit Hilfe des Dissonanzbegriffes analytisch zu
zerlegen und zu begreifen suchten, entsteht in der Vision als etwas ganz
Ursprüngliches, das aber, obwohl es aus dem Innerlichsten des Künstlers
Entsprungenes ist, doch als aus ihm herausgetretene, von ihm selbständig
gewordene Realität über ihn gestellt ist. Der »Standpunkt« ist erst in der
Vision zur Weltanschauung geworden; denn in der Vision erblickt der
Künstler die Welt, die sich selbst innerlich angemessen ist, die sein Produkt
ist und doch erst durch seine technische Arbeit eigentlich wirklich werden
kann, die zugleich der tiefste Ausdruck seiner Subjektivität und etwas von
ihm völlig Unabhängiges ist. Das zusammenhaltende und organisierende
Prinzip dieser Welt ist ihr Erlebtsein in bezug auf die Bejahung des Wider¬
sinnes, ihr implicites Erfülltsein von den Ausdrucksformen und ihr naturge¬
mäßes Intendieren auf sie. Weil diese technischen Formen (nach unserei
Definition des Genies) Aprioritäten des Erlebnisses selbst waren, heben sie
dessen Unmittelbarkeit und Subjektivität nicht auf; weil sie jedoch ihrem
Wesen nach überpersönliche Ausdrucksformen sind, geben sie diesem
Gebilde den Charakter der Objektivität, und weil sie in dem Weltbild des
Künstlers auch als subjektive Vision implicite enthalten waren, bringt der
Prozeß der technischen Realisierung keine der Vision wesenfremden und
wirklich heterogenen Elemente: nicht eine transcendente Wirklichkeit soll
irgendwie erreicht, nicht ein unaufhebbarer Dualismus von Subjekt und
Objekt irgendwie überbrückt werden, es soll das in der Vision implicite
Enthaltene explicit werden, nur die latent vorhandenen Ausdrucksformen
auf die wirksame Oberfläche gebracht werden. Das wesentliche Kennzei¬
chen des Genies ist also nicht Wucht und Ursprünglichkeit der Vision, nicht
i3° Philosophie der Kunst

menschliche Größe oder besonders tiefe Einsicht in sie, sondern das Bündnis
solcher Eigenschaften der Vision mit den technischen Formen, das Erleben
in bezug auf Ausdrückbarkeit in einer bestimmten Form, die Verwandlung
der Weltanschauung des »Standpunkts« zur unmittelbar-subjektiven Welt¬
anschauung des Künstlers. Die Intensität also, die der Betrachter, von der
Intensität des Werks betroffen, dem Künstler als Subjekt des Erlebnisses
zuschreibt, kommt nicht diesem, sondern der in ihm vorhandenen Verbin¬
dung der beiden Formen zu.
Dieser Begriff der Vision bestimmt gleichzeitig den vom Naturalismus aus
vergebens gesuchten Begriff der Größe des Kunstwerks als konkreter Tota¬
lität alles Gestalteten: wenn die Dingbeziehungen konstitutiv geworden sind,
so ist ihre Totalität damit notwendig geworden; denn sie sind dann nicht
mehr Relationen, die ihnen wesensfremde Elemente verbinden und ihr System
[ist] keine Summe abstrakter Proportionalitäten, das beliebig relativiert
werden kann, sondern sie haben eine den verbundenen Dingen homogene
Einzigartigkeit und Notwendigkeit, und intendieren gleichartig und homo¬
gen mit den Dingen auf das Ziel dieser Gestaltung, auf den bejahten Wider¬
sinn hin, und entsteigen ebenfalls homogen mit den Dingen aus der sie alle
zur Einheit zusammenfassenden Vision. Diese Einheit des Ausgangspunktes
und des Zieles bestimmt die Größe des Werks: die Größe ist der apriorische
Rahmen, innerhalb dessen sich alles abspielt, und weil sich in ihm alles der
utopischen Vollendung zudrängt, so muß er selbst von derselben Notwen¬
digkeit getragen sein wie das, was er umfaßt. Wenn auf der Bühne des Werks
jeder Spieler sowohl den andern Spielern wie dem von ihnen geleisteten
Spiel mit apriorischer Notwendigkeit angepaßt ist, so folgt aus der Vollend-
barkeit dieser prästabilierten Harmonie, daß auch die Bühne Spielern und
Spielen geradeso angepaßt sein muß. Das Raumproblem der Malerei als
Dissonanzproblem der transcendentalen Form bedeutet nichts anderes: die
»Größe« des Raumes zu finden, die die apriorische Heimat aller darge¬
stellten Dinge ist. Die Vision des Malers hat nur dann die zum Werk
führende, zusammensehende Einheit, wenn sie Raum und Dinge derart
einander angemessen erlebt hat, daß es nicht unterscheidbar ist, ob der
Raum nur dazu da ist, um die Dinge zu ihrer eigentlichen Wesenheit zu
verhelfen, oder ob das System von Dingen und Dingbeziehungen nur als
Unterbau zu seiner Krönung von dem einzigartigen, durch dieses System
geschaffenen Raum dienen soll. Die Gesinnung der Vision des Genies ist die
Gesinnung, die Novalis vom Philosophen fordert: der Trieb zur Heimat;
und das Heimweh, von dem die Dinge in seiner Vision ergriffen zu sein
Schöpferisches und receptives Verhalten 131

scheinen, kann nur dann gestillt werden, wenn die ihnen prästabiliert zuge¬
teilte Heimat, die Heimat, die zu ihrer Erlösung bestimmt ist, die mit ihnen
simultan und auf ihre Erlösung hin geschaffene Größe des Werks ist. So ist
in der Vision die Größe des Werks als konkreter Inbegriff seiner konstitu¬
tiven Beziehungen gesetzt, und damit ist der Weg von der Vision zum Werk,
die Stilisierung, die von hier aus vollzogen wird, keine Abstraktion mehr. Sie
verändert ja nichts mehr an den Dingen, will sie keineswegs vergewaltigen,
sie zieht bloß ihre, von den vorausgesetzten Fiktionen aus sichtbar und sinn¬
voll gemachten, aber in der gegebenen Wirklichkeit nur leise angedeuteten,
von Heterogeneitäten gekreuzten Linien weiter, bis zu ihrem immanenten
utopischen Ziel. Sie hebt die Wirklichkeit nicht auf, sie macht sie vielmehr
»wirklicher« als sie aus eigener Kraft werden konnte. Aus der Gegenwart,
dem bloßen Kreuzungspunkt des Ungewordenen und des Verwesenden,
wird hier die Stunde des Erwachens, die große Stunde, wo alle Dinge sich
selbst erreicht haben und nicht mehr weiter wollen, weil es für sie kein
Weiter geben kann: weil sie am Ziel sind. Und darum kann hier die
Verschiedenheit der Dinge ohne Abstraktion und ohne Gleichmacherei auf¬
hören: ihre Verbrüderung, ihr Bündnis für das eine und dasselbe Ziel: die
Realisation des letzten Sinnes, das Prinzip ihrer transcendenten Einheit in
der Theodicee ist hier zum Apriori ihrer einfachen, immanenten Existenz
geworden; ihr Zusammenhang ist ihr Sein, und dieses Sein ist unmittelbar
der Sinn ihrer Beziehungen. Aus dieser Apriorität des »Standpunkts« ist die
konkrete Einheit des Stoffes in jeder Kunst begreiflich, der »Allteig«, wie sie
Leo Popper bezeichnet und für die Malerei (in seinem Breughel-Essay) so
beschrieben hat: »Die Blume hatte etwas vom Wasser, das Wasser von der
Straße, das Erz vom Himmel, und nichts war, das nicht wie von allem
gewesen wäre. So entstand der Urstoff dieser Malerei . . . dem unfreiwillig
die mystische Rolle zufiel, zu einen, was Gott getrennt hatte, der aber ... in
tiefstem Ernst dieser Aufgabe gerecht werden und als ein >Allteig< alle Stoffe
ausdrücken durfte1.« Als Prinzip der Gestaltung der einzelnen Dinge
bedeutet dies die gemeinsame Schwere der Dinge, die Schwere des Werks,
des Materials der Form, das simultan zum Ausdruck der Verschiedenheit wie
der Einheit der Dinge wird.
Hier tritt die Beziehung der jetzt errungenen transcendentalen Form zu der
»reinen« Form klar zu Tage und mit ihr die Notwendigkeit des Natu-

[ i Peter Brueghel der Ältere. »Kunst und Künstler.« Jahrgang V111./1910, S. 600.]
132 Philosophie der Kunst

ralismus als phänomenologischer Vermittlung und Verbindung zwischen


beiden. Bei der »reinen« Form wurde alles auf eine Fläche gebracht und in
seiner Dinghaftigkeit abgeblaßt, damit die statische Homogeneität der
abstrakten Erfüllung und mit ihr ihr Vehikel, die Leichtigkeit, die tanzartjge
Vereinigung aller Dinge entstehe; bei der transcendentalen Form dagegen
sind Sinn und Einheit aus derselben Spannung erwachsen, die allen Dingen
eine Erfüllung ihrer eigenen Dinghaftigkeit verleiht, die große Einheit kann
also nichts anderes sein als die der Massigkeit und der Schwere, der dynami¬
schen Homogeneität des Werks, der konkreten Erfüllung, der utopischen
Wirklichkeit. Die »reine« Form ist aber damit nicht aufgehoben, vielmehr
erfüllt wiedergekehrt: die dynamische Homogeneität ist kein Sprengen der
statischen und diese Schwere kein Gegensatz zu dieser Leichtigkeit; denn
indem diese Massigkeit aus dem Ausgleich von spezifischer Schwere der
Dinge und allgemeinem Gewicht des Materials entsteht, sind alle Tendenzen
zum Ornament auch in ihr lebendig und streben einer mit Dinghaftigkeit
erfüllten »reinen« Form, einem Ornament der Dinge und Dingbeziehungen
zu. Was dort abstrakt erreicht war, soll hier konkret errungen werden, aus
der Allegorie soll ein Symbol werden: die »reine« Form wird immer das Ziel
jeder Kunst und das ewige Correctiv jeder Gestaltung bleiben. Diese Correc-
tivrolle der »reinen« Form ist nichts Einheitliches und Abgetrenntes,
sondern bezieht sich auf alle relativ selbständigen Gestaltungsmomente des
Werks. So repräsentiert der dramatische Vers mit seinen eigenen Klang-,
Rhythmus- und Stimmungsbeziehungen die »reine« Form im Verhältnis zu
der Menschen- und Schicksalsgestaltung der Tragödie, die ebenderselbe Vers
als Träger von Bedeutungen ausdrückt; der Tragödie als Ganzem, als voll¬
endeter Totalität gegenüber hingegen ist das Prinzip der scenischen
Darstellbarkeit, die gesamte Bühne als Einheit die »reine« Form, durch die
und in der die von der transcendentalen Form der Tragödie geschaffene
Wirklichkeit ihre sinnlich-ornamentale Weihe erhält; innerhalb dieser
Bühne jedoch ist wieder dieselbe Scheidung zu beobachten, indem jede
schauspielerische Gestaltung sowohl Menschengestaltung (Wirklichkeit,
transcendentale Form), wie reine, beziehungslos dekorative und klangliche
Schönheit, Tanz und Gesang als Grenzbegriffe (Ornament, »reine« Form)
ist. Und die Tendenz jeder Kunst ist, die intensivste Wirklichkeitsgestaltung
auf das sinnfälligste, am reinsten dekorative Ornament zu bringen, auf ein
Ornament, das — so soll es scheinen — schon als Ornament und unabhängig
von jeder Bedeutungsbelastung in sich vollendet ist, wenn es auch seinen
Reichtum diesen Bedeutungen verdankt und wenn es gleichzeitig als aus
Schöpferisches und receptives Verhalten i33

ihnen emporgestiegen, als die letzte Vollendung ihres Seins erscheinen muß.
Für den Künstler aber ist diese Vereinigung höchstens ein Ideal: in der höch¬
sten Form, die sich in seinem phänomenologischen Subjekt vorlindet, in der
transcendentalen Form, ist diese Einheit der beiden Formen nur der Möglich¬
keit nach gegeben, und diese Möglichkeit kann nur im erreichten Werk
wirklich werden — und zwischen Schöpfer und Werk liegt der Sprung.
Daß gerade hier, bei dem Übergang von transcendentaler Schöpfungsform
zum Werk und bei der Vereinigung der transcendentalen Form mit der
wiedergekehrten »reinen« Form die methodischen Stellen für die zwei Arten
des Sprunges sind, erklärt sich aus mancherlei Gründen. Vor allem ist das
Postulat des Unbeabsichtigtseins dem Werk gegenüber da; dieses muß sich
natürlich auf das ganze Werk als unauflösliche Einheit seiner sämtlichen,
nur begrifflich scheidbaren Schichten beziehen, aber das Wollen der trans¬
cendentalen Gestaltung ist - in seiner phänomenologischen Erscheinung -
ein Wollen zur Erlösung der Dinge, ihres Erweckens zur wahren Wirklich¬
keit, während es sich bei dem Wollen dieser »reinen« Form um das Wollen
einer Wirkungsqualität der erlösten Dinge handeln würde, um eine Probe
ihres Ganz-zur-Form-geworden-seins, um eine Eigenschaft des vollendeten
Werks also, in dem sein Schöpfer als Wollender und auf das Werk Hinstre¬
bender schon erloschen sein muß. Freilich darf die erreichte Wirklichkeitsge-
staltung, das Resultat der transcendentalen Form auch nicht als Gewolltes
im Werk selbst erscheinen, so daß auch hier ein Sprung da ist, eine Hetero¬
genie des erreichten Zieles vom Weg, der dazu führt, und von dem, der ihn
ging — ein Ober-sich-schaffen. Diese beiden Arten des Sprungs sind aber
völlig voneinander verschieden: es ist der Unterschied von Schicksal und
Gnade. Jede Schicksalsbeziehung geht über die Persönlichkeit des sie erle¬
benden und hervorrufenden Subjekts hinaus, das erfüllte Schicksal ist immer
ein Sprung, immer etwas von der bloßen Persönlichkeit aus Unerreichbares,
der Möglichkeit nach ist es aber vollkommen in ihr enthalten, nur der
gnadenvolle Funke fehlt, der die ruhende und verschlossene Möglichkeit
durch die Explosion des Sprunges wirklich werden läßt; d. h. der Sprung ist
hier zwischen der klaren und deutlich bestimmten Möglichkeit und ihrer
Realisation, zwischen Intention und Erfüllung. Daß hier überhaupt ein
Sprung nötig ist, da er inhaltlich fast nur soviel Neues bringt, womit jede
Realisation ihre Möglichkeit einfach durch das Faktum des Realisierens
bereichert, folgt aus dem allgemeinen Verhältnis von Intention und Erfül¬
lung, wenn keine von beiden die Tendenz zum Ubergleiten in die andere
hat. Das Prinzip der dynamischen Homogeneität des Werks ist nun nicht
'34 Philosophie der Kunst

bloß eine Verwandlung zum Schicksal der Beziehungen, die die Elemente
des Werks miteinander verbinden, sondern das Wollen dieser Homogeneität
ist auch die Schicksalsbeziehung des Schöpfers zum Werk: das Problem
seiner Distanz zum Werk. Die dynamische Homogeneität bedeutet, daß
alles Äußere allem Inneren absolut angemessen ist, daß die Umgebung nur
deshalb mit dem Ding in Beziehung kommt, damit sein eigenstes, innerstes
Wesen sich erfülle, daß alle Elemente wechselseitig so zueinander stehen und
hierdurch, gerade weil sie sich und nur sich ganz erreichen, etwas weit über
sie Hinausgehendes zum Dasein erwecken; die von Anfang an geforderte
prästabilierte Harmonie zwischen Materie und Form ist erfüllt. Die Welt,
die so entsteht, ist ihrer Möglichkeit nach dem Wollen des Schaffenden
eingeboren, wenn er Genie ist, wenn seine Erlebnisformen in das unzer¬
trennliche Bündnis mit den technischen Formen der spezifischen Kunstart
des Werks getreten sind. Dann ist das Allerpersönlichste seines Subjekts, das
qualitative Schema seiner Erlebnisse, zum Träger dieser höchsten und einzig
lebenspendenden Objektivität des Werks geworden: die Atmosphäre, die
hier entsteht, der »Allteig«, aus dem alle Dinge zur miteinander verbün¬
deten Spezifikation herausgetreten und durch den sie zur füllegebenden
Einheit verbunden sind, ist nichts anderes als die objektive Wirklichkeit, die
diesem Schema der Erlebnisqualitäten entspricht. Aber gerade weil dieses
letzte Prinzip der Objektivität in der allersubjektivesten Beschaffenheit des
auf das Werk intendierenden Subjekts beruht, kann es in dem Subjekt selbst
nicht bewußt und also nicht Gegenstand seines Kunstwollens sein, sondern
tritt erst im Werk zu Tage, als ungewollte Vollendung des begnadet Gewoll¬
ten, als Resultat des Sprungs. Wenn etwa Shakespeare die stolze und starke,
aber darum nichts durchschauende und allem ausgelieferte Vornehmheit
Othellos gestalten will (das Wollen ist auch hier phänomenologisch und
nicht psychologisch gemeint), so geht sein Wollen darauf aus, ihm solche
Partner zu geben und die in eine solche Handlung einzufügen, die gerade
dies am leuchtendsten auszustrahlen verhelfen können. Darum wird er ihm,
dem Vornehm-Blinden, einen niedrig-klugen Intriganten, den Jago als Kon¬
trastgestalt und Henkersknecht des Schicksals gegenüberstellen, darum wird
er Jagos raffinierte Listen ersinnen, denen Othello wehrlos zum Opfer fallen
muß. All dies, mit der vehement emporsteigenden Entwicklung und Vertie¬
fung Othellos, mit der hauchartigen und doch so herb stolzen Vornehmheit
Desdemonas, mit allen prunkenden Worten der dramatischen Pathetik und
dem leuchtenden Vorwärtsstürmen der Scenen', liegt im Wollen des Künst¬
lers mit einbegriffen. Jago ist aber nur ein Vehikel: es ist notwendig, daß
Schöpferisches und receptives Verhalten 13 5

Othello ihm erliegt, es ist aber zufällig, daß sie Zusammenkommen; nicht an
die empirische Zufälligkeit ihres Zusammentreffens in der Welt dieses
Dramas denke ich hier — um die bekümmerte sich Shakespeare mit Recht
sehr wenig -, sondern an die Möglichkeit ihres Zusammentreffens über¬
haupt, an die Möglichkeit, daß sie beide dieselbe Luft, die Atmosphäre des
Werks, einer utopischen Wirklichkeit, atmen. Für das Wollen Shakespeares
ist das Zusammentreffen von Othello und Jago nur ein »Faktum«, etwas mit
der gewöhnlichen Wirklichkeit Wesensgemeines: es gibt eben solche Men¬
schen wie Othello und solche wie Jago, und wenn sie sich begegnen, so folgen
aus dieser Tatsache notwendig alle Geschehnisse der Tragödie. Dadurch ist
aber nur ein Intrigenstück mit tragischem Ausgang und mit allen dramati¬
schen und lyrischen Schönheiten der Tragödie, nicht aber die Tragödie
selbst, die Welt der absoluten, immanenten, überempirischen Notwendigkeit
zu leisten; Shakespeares Wollen ist also hier gescheitert: der listenreiche,
kluge Jago und der dieser Welt fremde Othello begegnen sich bloß zufällig
(tatsachenartig), ihre Begegnung und der Gegensatz ihrer Charaktere ist für
das zum Wollen gewordene Erlebnis des Dichters eine letzte Tatsache; und
damit hätte Othellos Tragödie ihre wirkliche, konstitutive Notwendigkeit
eingebüßt. Aber Shakespeares Wollen ist nicht nur hier, im Technisch-
Formellen gescheitert, sondern auch in der Objektivierung seines Erlebnis¬
ses. Der kalte, klare und kluge Jago - ist er wirklich solcher Mensch gewor¬
den? Und seine raffiniert angelegte Intrige - ist sie wirklich so geschickt und
berechnet? Jedoch eben dieser von vielen bemerkte Widerspruch zwischen
dem Wollen des Künstlers und dem Werk stellt die vermißte Notwendigkeit
der Tragödie her: Othellos Vornehmheit, das blinde und wilde Drauflos¬
stürmen seines Wesens ist nicht etwas von Shakespeare mit berechnender
Artistik in das Zentrum eines Dramas Gestelltes: es ist die Projektion seines
intensivsten Erlebnisses; sein Schema des Erlebnisses kann nur diese toll¬
kühne und unbedachte Vehemenz wirklich in sich aufnehmen, darum erhält
alles intensiv Gesehene und Gestaltete von ihm diese qualitative Note: Jago
ist ein Bruder Othellos, ein niedriger, gemeiner, verkommener Bruder, ein
Bastard seiner Ahnen vielleicht, aber er ist aus demselben Blute. Und die
Intrige, die er ersinnt, ist von derselben Primitivität und reinen Durchsich¬
tigkeit, wie ein Plan wäre, den Othello entworfen hätte. Und sie reicht doch
aus: Othello kann auch diese List nicht durchschauen und muß auch dieser
einfachen und kurzsichtigen Intrige zum Opfer fallen. Damit ist aber die
Welt des Dramas erst geschlossen und notwendig geworden: weil dann die
Intrige eben der Anschlag überhaupt ist, an dem der nicht für diese Welt
136 Philosophie der Kunst

bestimmte Charakter von Othellos Vornehmheit offenbar wird, und je


plumper und einfältiger sie ist, desto klarer leuchtet diese Notwendigkeit
aus ihr heraus. Und auch die Begegnung mit Jago hat jede Zufälligkeit verlo¬
ren: weil Jago doch ein Mensch von innerster Wesensverwandtschaft mit
ihm ist, entsteht in dem Rhythmus ihres Zusammentreffens und was daraus
folgt eine tiefe und erschütternde aneinander Angepaßtheit, sie handeln
ineinander und nicht aneinander vorbei, die Welt, die sie einschließt, ist in
sich und mit ihnen dynamisch homogen: in dieser Welt mußten sie einander
begegnen. Denn Umfang und Größe dieser Welt sind durch diese Bezie¬
hungen der dramatis personae bestimmt. Indem Othello sich in Desdemona
und Jago vollendet, indem sein Menschentum nur durch sie den in seinem
Innersten vorgezeichneten Gipfel erlangen kann, ist seine Begegnung mit
ihnen von demselben Gesetz bestimmt, das ihn geschaffen hat, sein Zusam¬
mentreffen mit ihnen ist zur tiefsten Eigenschaft seines Wesens geworden;
der Moment ihrer Begegnung hat damit jede Zufälligkeit verloren, er ist
zum tragenden Pfeiler ihrer gemeinsamen, für ihre Existenz einzig mögli¬
chen Welt geworden. Es ließen sich natürlich für dieses Verhältnis von
Wollen und Werk noch unzählige Beispiele anführen (ich verweise nur auf
Leo Poppers feine Analyse von Breughels Stil, den er aus dem Scheitern
seines Naturalismus ableitet); hier kommt es aber nur auf das Prinzipielle
an.
Wir haben bei der Analyse des Naturalismus beobachten können, daß die
entscheidende, alles abschließende Vollendung des Werks von dem phäno¬
menologischen Prozeß des Schaffens aus als unerreichbar erscheinen muß;
die Substantialität, die das erreichte Werk besitzt und im Erlebnis des
Receptiven erweckt, kann im Wollen des Schaffenden nicht vorliegen, denn
die künstlerische Arbeit am Werk kann nichts anderes sein als eine immer
größere Annäherung an das Sein des geplanten Werks, und es liegt im Wesen
der Annäherung, daß sie eine unendliche ist, der nur mit einem gewissen
Verzicht, einer Resignation ein Ende gesetzt werden kann. Nur daß am
Werk selbst nichts von dieser — für das Werk — subjektiv-willkürlichen Art
des Abschließens vom Weg, der zu ihm führt, sichtbar werden darf: vom
Werk aus sieht der Schaffensprozeß so aus, als ob sein Stillstehen, sein
Aufgeben der weiteren Annäherung etwas apriori Notwendiges wäre, als ob
im Schaffensprozeß selbst die Bestimmung der Grenze, wo das Werk
erreicht wird, vorgezeichnet wäre. Daß diese Bestimmung im Schaffenspro¬
zeß nicht vorliegt, daß das Werk aber dennoch erreicht wird, das ist das
Wesen dieses Sprunges. Das Scheitern des naturalistischen Kunstwollens
Schöpferisches und receptives Verhalten 137

mußte - in bezug auf das Werk, nicht auf die Erweiterung des phänomenolo¬
gischen Subjekts und seiner Formen — ein definitives Scheitern sein: wollte
ja der Naturalismus in seinem Prozesse der Annäherung eine transcendente,
»wahre« Wirklichkeit erreichen, wo ihm sowohl die Begrenzung der Persön¬
lichkeit, wie die Grenzen der Technik Hindernisse waren, die keine gnaden¬
volle Hilfe leisten konnten. Hier handelt es sich um die Realisation
der Vision des Künstlers, die aus der Vereinigung von technischen und
erlebnisbestimmenden Formen entstanden ist, aus dem Erleben in Bezug
auf die Ausdrucksformen, aus dem Erfülltwerden der technischen Formen
von dem Qualitätsreichtum der unmittelbaren Erlebnisse: der Schaffende
will hier also eine Welt realisieren, deren Aufbau auf den objektivierten
Formen seiner eigenen Innerlichkeit beruht, deren erreichte Existenz des¬
halb nur in der Tatsache des objektiven Fiirsichseins, in dem Abgetrenntsein
vom Subjekt des Schaffenden über die Vision hinauszugehen scheint. Aller¬
dings ist dieses Hinausgehen der Erfüllung über die Intention bedeutsamer,
als es in dieser abstrakten Formulierung zu sein scheint, und hat für die
phänomenologische Bestimmung des Genies wichtige Consequenzen. Es
zeigt sich nämlich, daß die prästabilierte Harmonie von technischer Form
und Erlebnisform in dem Subjekt des Schaffenden nur als treibende und
richtunggebende Kraft, nur als die Möglichkeiten des Schaffens bestim¬
mende Tendenz, nicht aber als ein Sem irgendwelcher Art vorhanden ist;
daß ihre Einheit nur im realisierten Werk wirklich da ist, während im
phänomenologischen Prozeß des Schaffens sich immer eine Bifurkation des
Subjekts zeigt, ein Uberw'iegen des einen oder des anderen Prinzips, oder
pünktlicher: in der Vision die Herrschaft der Erlebnisform, im Prozeß der
Annäherung an die Vision die der Technik; und ihre prästabilierte
Harmonie offenbart sich nur darin, daß das andere Prinzip latent immer
vorhanden ist und das herrschende auf ihre Einheit hin corrigiert und auf sie
zulenkt. Wegen dieser - relativen - Fremdheit des Schaffensprozesses von
der Vision, von der er ausgeht und auf die er hinstrebt, folgt, daß m
diesem Prozeß selbst kein bestimmendes Prinzip für sein Ende, kein Zeichen
für die Vollendung der Annäherung auffindbar sein kann; ja daß dieser
Prozeß seinem innersten Wesen nach ein unendlicher und unvollendbaier
sein muß: die Vision ist technisch nie zu erreichen, ist mit Technik me restlos
auszudrücken - das Beschließen der Arbeit, ihr Ende ist für den Künstler
immer eine Resignation. Aber gerade weil diese Fremdheit eine relative ist,
weil sie nur in der Bewußtheit des phänomenologischen Subjekts besteht,
nur in der Unmöglichkeit für das Subjekt beide Prinzipien der Gestaltung
i38 Philosophie der Kunst

simultan, mit der gleichen Intensität und als ihrem Wesen nach identisch
festzuhalten, weil das jeweilig in den Hintergrund gedrängte Prinzip latent
doch vorhanden ist und das Wollen unbewußt corrigiert und leitet, ist diese
Resignation nur für den Künstler, der seine Vision verwirklichen will, -ein
Verzicht: er muß auf die erweckte Vision verzichten — und realisiert dabei
das Werk.
Damit ist der »Ort« und die Art des Sprunges, der die transcendentale
Schöpfungsform mit dem geformten Werk verbindet, phänomenologisch
bestimmt: es ist erkannt worden, inwiefern und warum das Werk über alles,
was sein Schöpfer gewollt hat oder wollen konnte, weit hinausgeht, wie es
sich gerade dort gnadenvoll vollendet und zu ungeahnter Fülle rundet, wo
der Künstler zu resignieren gezwungen ist; es hat sich aber zugleich gezeigt,
daß damit nichts qualitativ Neues hinzugekommen ist, nur das Mögliche ist
wirklich, das implicit und latent Enthaltene explicit und offenbar geworden,
das Unbewußte ist ins helle Licht der Bewußtheit getreten, und das Bewußt¬
gewollte hat eine Correctur und Krönung durch die unbewußte Unterströ¬
mung und Begleitung des Willens erfahren. Im Schaffenden weist sich also
eine planvolle und zielstrebige Vereinigung des Bewußten und des Unbe¬
wußten auf: die Formung der Wirklichkeit durch die Erlebnisform hat eine
Tendenz zum Unbewußten, zum passiv scheinenden Hinnehmen einer
Gegebenheit, und ihre Gestaltung durch die Technik die Tendenz zur
Bewußtheit, zur klaren Arbeit für ein sicher erkanntes Ziel. Die Vision ist
also Produkt der Herrschaft des Unbewußten, und es liegt auch eine Art von
Sprung, ein Sich-Begeben des Schöpfers auf ein heterogen scheinendes
Gebiet, wenn er sie durch die bewußte Leistung der Technik zum objektiven
Dasein erwecken will, während die technische Arbeit am zu schaffenden
Werk in die Sphäre der Bewußtheit gehört. Die beiden Typen der Carricatur
des Schöpfers, der Dilettant und der Virtuose, scheinen damit wiederzu¬
kehren und sich in diesem Schöpfer zu vereinigen. In Wahrheit ist aber ihr
Scheitern nicht bloß die Folge ihrer Einseitigkeit, die durch eine Synthese
gehoben werden könnte, etwa durch Entwicklung der Technik bei dem
Dilettanten, sondern folgt daraus, daß die unbewußte Erlebnishaftigkeit des
Dilettanten eben nur reines Erlebnis ist (das Erlebnis an und für sich kann
mächtig, tief und reich sein) und keine eingeborene Beziehung auf die Werk¬
form und hiermit zu der technischen Form besitzt, und daß die Geschicklich¬
keit des Virtuosen (die eventuell auch außergewöhnlich sein kann) eine bloß
formale ist und nicht von einem Weltbild der transcendental-subjektiven
Vision ausgeht, um sie im objektiven Werk zu verwirklichen und so eine
Schöpferisches und receptives Verhalten i39

Realität zu erschaffen: sie bleibt im formell-absichtsvollen stecken. Im Genie


dagegen sind Bewußtheit und Unbewußtheit nur jeweilig herrschende Prin¬
zipien: immer sind beide vorhanden, d. h. immer ist die Einheit von Erleb¬
nisform und technischer Form die apriorische Bedingung des Schaffenspro¬
zesses, und Bewußtheit und Unbewußtheit sind nur Bezeichnungen dafür,
welches von beiden Prinzipien — den Normen des Schaffensprozesses
entsprechend — im phänomenologischen Subjekt das Übergewicht hat. Die
objektive Seite dieser prästabilierten Harmonie von Bewußtheit und Unbe¬
wußtheit (technischer Form und Erlebnisform) offenbart sich im geschaffe¬
nen, planvoll gewollten und dennoch naturhaft und gewächsartig entstande¬
nen, wirkenden Charakter des Werks. Die subjektive Seite wird in der
Einheit und in dem Aufeinanderhinweisen von Bewußtheit und Unbewußt¬
heit sichtbar, das sich phänomenologisch folgendermaßen gliedert: der
Schaffende hat die hellste und klarste Bewußtheit in bezug auf die Wege und
Mittel seiner Arbeit, seine Technik kann und soll sich zur sichersten
Erkenntnis des Zieles, zur absoluten Meisterschaft in der Beherrschung der
erkannten Mittel entwickeln; diese Bewußtheit bezieht sich aber nur auf die
Technik, nur auf das Wie des Erreichens, das Was des Erreichten und des zu¬
tiefst Gewollten wird nie dem Künstler selbst klar werden, und soll es auch
nicht: diese Klarheit ist dem Werke selbst Vorbehalten. Das Wesen dieses
Sprunges läßt sich also, für die Phänomenologie des Schaffenden, auch so
ausdrücken: die Probleme des Künstlers sind nicht die des Werks, dei
Künstler vermag das Werk zu schaffen, aussprechen wird er nur die Mittel
seiner Arbeit können, nie das Werk selbst.: das Werk ist anderes und mehi
als das, was in dem Bewußtsein des Schaffenden gelebt hat. (Inwiefern diese
Anschauung sich mit der Schellings berührt und inwiefern sie über die seine
hinausgeht, wird den einsichtsvollen Lesern wohl auch ohne polemische
Auseinandersetzung verständlich sein.)
Ganz anders ist es mit dem Sprung zwischen der transcendentalen und der
wiedergekehrten »reinen« Form bestellt. Hier handelt es sich um das Errei¬
chen einer Beschaffenheit des Werks, deren Bedingungen der Bewußtseins-
Struktur des phänomenologischen Subjekts transcendent sind, welches Ei rei¬
chen also in diesem Subjekt selbst als Möglichkeit nicht enthalten sein kann,
selbst wenn die Gnade dieses Erreichens in gewissem Sinne auch schon im
Subjekt des Schaffenden vorgearbeitet sein muß. Das schicksalvolle Begna¬
detsein des Schöpfers, von dem soeben die Rede war, unterscheidet sich von
dieser Gnade dem Wesen nach darin, daß dort der Sprung nur die Wieder¬
herstellung des Gleichgewichts zwischen den beiden Trägern der prästabi-
140 Philosophie der Kunst

üerten Harmonie war, die — wegen der notwendigen Einseitigkeit jedes auf
ein Ziel gerichteten Subjekts — immer in einen Zustand der Uber- und
Unterordnung gekommen sind, welche Zustände nur als Momente des
Weges zum Werk gerechtfertigt waren und im Werk, durch den Sprung,
aufgehoben werden mußten. Hier dagegen ist von der metasubjektiven
Wirksamkeit der harmonia praestabilita die Rede, von dem tatsächlich und
nicht im Bewußtsein des Subjekts zu dem Werk führenden Weg, von der
wahrhaften Einheit der beiden Prinzipien der Gestaltung, die aus eigener
Kraft über das Subjekt hinweg und es nur als inadäquates Vehikel benut¬
zend, dem Werk zustreben. Das Werk ist seinem Begriffe nach eine vollkom¬
mene Einheit des Subjektiven und des Objektiven, besser gesagt: die Aufhe¬
bung dieses Gegensatzes. Im Subjekt des Schaffenden kann sich diese Einheit
aber nur als Relativierung der Gegensätzlichkeit der Elemente spiegeln,
indem einerseits die Vision als das tiefst Persönliche des Schöpfers erscheint,
an deren Realisierung er mit den objektivierenden Mitteln der Technik
herantritt, andererseits aber diese selbe Vision als etwas von ihm Losgelöstes,
schlechthin Hinzunehmendes» als ein mit eigenen Gesetzlichkeiten behafte¬
tes, objektives Gebilde vor ihm steht, dem er auf seinen subjektiven-persön-
lichen (technischen) Wegen nahe zu kommen bestrebt ist. Letzten Endes
kommt es dennoch auf die Überwindung der Subjektivität an: das in der
transcendentalen Form wirksame Kunstwollen geht auf die Objektivität des
Werks aus; es soll eine objektive, auf sich beruhende,-utopische Wirklichkeit
geschaffen werden, was phänomenologisch soviel bedeutet, daß sowohl
Vision wie Technik ihren subjektiven Charakter verlieren sollen. Die
Technik soll ganz unsichtbar werden, sich ganz in dem - wie von selbst
entstandenen — Werk verlieren und die Vision, als mit dem vollendeten
Werk identische, mit dem Werk und in ihm alle Bedeutung verlieren, sie soll
für den Schaffenden nur ein Wegweiser zur Objektivität in der notwendig
subjektiven technischen Arbeit sein, die Garantie, daß die Technik im
erreichten Werk als Technik verschwinden wird. Mit alledem ist aber die
letzte, paradoxe Vollendung des Werks nicht zu leisten: wohl entsteht aus
diesem Wollen und durch den es beendenden Sprung die utopische Wirklich¬
keit des Werks, wenn aber nur das entstehen würde, was in diesem Wollen
enthalten ist, so wäre es von der letzten Vollendung des Utopischen doch
sehr entfernt: es wäre zu sehr »Wirklichkeit«; wegen der verschwundenen
Technik wäre es ganz schöpferlos geworden, ein eigenartiges Gewächs ohne
Urheber, das aber —gerade wegen dieser Überspannung des objektiven Prin¬
zips — wieder allzusehr seinen subjektiven Charakter verraten würde; sein
Schöpferisches und receptives Verhalten 141

subjektiver Ursprung wäre nicht restlos in seine Notwendigkeit, seine Form


einbezogen, es bliebe etwas Empirisches, Tatsachenhaftes, Unerlöstes an
ihm haften. Doch das Genie ist mehr als es je über sich selbst zu erfahren,
ja selbst zu ahnen vermag: nur subjektiv kann es nicht die harmonia praesta-
bilita seiner beiden schöpferischen Fähigkeiten in ihrer vorgeschriebenen
und vollkommenen Balance in sich realisieren, objektiv sind sie in vollen¬
deter Eintracht in ihm wirksam und verleihen dem von ihm Geschaffenen
eine letzte Vollendung, die in seinem Wollen nicht enthalten sein konnte.
Das ist die Gnade des Genies, der wahre Sinn seines Uber-sich-schaffens, der
normativen künstlerischen Tätigkeit. Die »reine« Form ist, wie wir bereits
erfahren haben, das Sichtbarwerden der Technik, ihre Wirkung als Technik;
was aber bei der bloßen »reinen« Form eine abstrakte Beziehung von
Elementen mit abgeblaßter Dinghaftigkeit war, eine Herrschaft des Mate¬
rials der Form über den »Allteig«, aus dem die Wirklichkeit des Werks
entsteigt, wird hier die letzte, krönende Weihe der Dinge und der Dingbe¬
ziehungen und der Welt, die aus ihnen und durch sie zustande kommt;
während dort die Technik nicht verborgen werden konnte, soll sie hier
offenbar werden: was gewächsartig und wie von selbst entstanden schien,
bekommt jetzt den Charakter des Erschaffenen, bekommt ihn aber ohne
seine Pflanzenhaftigkeit zu verlieren, es wird zum »Kunst«-werk, ohne aber
etwas von seiner Wirklichkeit einzubüßen; die Dingbeziehungen bleiben
unangetastet, werden aber dennoch zu Ornamenten und der »Allteig« wird,
ebenfalls ohne seine edle Schwere zu verlieren, tanzartig leicht und beflü¬
gelt. Alles, was die bloße »reine« Form, die eigentlichst künstlerische Form
als abstraktes Abbild jeder utopischen Wirklichkeit, das aber selbst keine
Wirklichkeit ist, besaß, verleiht sie dem Gebilde, das aus der transcendenta-
len Form entstanden ist; womit [sich] also die sonst vergeblich gesuchte coin-
cidentia von Substantialität und Relationalismus verwirklicht haben kann.
(Diese Wirkungsqualität des Werks als Erschaffenes muß das receptive
Verhalten dazu wesentlich modifizieren. Die Frage aber, die hier entsteht,
die in der Phänomenologie des Receptiven nicht einmal aufgeworfen
werden konnte: wie nämlich die bewußt, zur abschließenden Oberfläche
gewordene Technik erlebt werden kann, ob sie nicht den Wirklichkeitscha¬
rakter des Werks für den Receptiven aufhebt, oder inwiefern dieser modifi¬
ziert bestehen bleibt, kann hier auch nur formuliert werden. Beantworten
können wir diese Frage erst, wenn die Beziehungen dieser Formenschichten
im Werk selbst untersucht worden sind, also m der nachkonstruktiven
Psychologie des Receptiven.) So wird die schwerste und bitterste Tragödie
142 Philosophie der Kunst

doch zum Spiel, der am tiefsten trostlose Roman zum Märchen und der
wildeste Aufschrei des Dichters zum Lied, zur Musik; so wird das wirklich
vollendete Bild, so sehr es Natur und Wirklichkeit ist, wieder zum Teppich
und die körperhafteste Statue hat nur — nach Winckelmanns Worten — ein
quasi Corpus und ihre Masse ist zugleich der schwer und edel gewordene
Körper, wie das leicht und edel, als reine Oberfläche, erglänzende Material.
Die Beziehung der abstrakten, aus dem Geiste der Technik entstandenen
Relationen zu ihrer Totalität, dem Format des Werks, das in der bloßen »rei¬
nen« Form nur mit dem Schein der Apriorität umgeben und seines Gegeben¬
heitscharakters in Wahrheit nicht völlig entkleidet werden konnte, wird hier
notwendig: das Format ist mit der — von der transcendentalen Form aus
geschaffenen — Größe identisch. Während es sich aber dort um den realen
Inbegriff der Dingbeziehungen gehandelt hat, um den den Geschehnissen
innerlich angemessenen Schauplatz, verwandelt sich dieser, wieder ohne
etwas von seiner Realität einzubüßen, in die dem Spiele angemessene
Bühne: das Technische an dieser Angemessenheit wird sichtbar und orna¬
mental; aus der unbewußten Weisheit des erlebten Schicksals, der Ffeimkehr
aller Dinge zu dem Ort, dem sie prästabiliert angehören, wird die bewußt
waltende Gnade eines sicheren, innerlich nunmehr ungefährdeten und jede
Gefahr vergessenden Tanzes.
Die Romantiker, vor allem Novalis und Friedrich Schlegel, waren die ersten,
die dieses Janusantlitz des Kunstwerks erblickt und erkannt haben, nur
wollten sie diese Einheit des Werks in die Seele des Künstlers selbst hinein¬
tragen, verwandelten diese Erfüllung, die der Künstler nicht wollen kann,
noch wollen darf, die als Gnade, als Consequenz seiner begnadeten Natur
sich auf ihn herabsenkt, in eine treibende Kraft des Schaffensprozesses. So
entstand der verwirrende Begriff der romantischen Ironie und — fast als
Belege für diese tiefgehende Verwechslung der Gebiete — die romantischen
Kunstwerke, in denen die bewußt gewollte »reine« Form die Wirklichkeit
der gestalteten Welt nicht verklärend vollendet, sondern zur krausen und
wirren Substanzlosigkeit herabgedrückt hat. Denn in dem Subjekt läßt sich
dieses Gleichgewicht nie verwirklichen: das Genie, der normative Künstler,
geht den vorgeschriebenen Weg der Schwankungen im Gleichgewicht und
ermöglicht dadurch das Herabsinken der gnadenvollen Vollendung, der
offenbar gewordenen harmonia praestabihta. Der romantische Künstler, der
dieses letzte Ziel als phänomenologisches Subjekt in sich realisieren wollte,
konnte auch nur dem einen Prinzip das Übergewicht geben, aber einem, das
nicht die Möglichkeit zu dieser Gnade in sich barg. Was phänomenologisch
Schöpferisches und receptives Verhalten M3

der romantischen Ironie entspricht, ist die subjektive Betonung der techni¬
schen Arbeit am Werk, wovon früher die Rede war, das Objektiv- und
Fremdgewordensein der Vision, der der Künstler mit einem freien Überblick
und Darüberstehen entgegentritt. Das ist aber nur der eine Aspekt der
Technik und der Vision und der andere bedeutet für den Künstler die Treue
gegen Motiv und Material, gegen die ganze, ihm in der Vision gegebene und
von ihm hmgenommene Welt. So entsteht für das Subjekt ein Schweben
zwischen den beiden — gleich normativen und gleich notwendigen — Verhal¬
tungsarten, zwischen Beherrschen der Arbeit und Beherrschtsein von ihr,
nicht aber die Werksynthese, die die Romantiker gefordert haben. Der
Sprung also, der die transcendentale Form mit der wiedergekehrten »rei¬
nen« Form verbindet, kommt in der Phänomenologie des Schaffenden,
sofern sie diesen als Subjekt, wenn auch nicht mit der psychologischen
Persönlichkeit des Künstlers identisches, faßt, überhaupt nicht vor; dieser
Sprung liegt jenseits des Weges, den der Schaffende von der Vision bis zum
Beenden der Arbeit zurücklegt, auch jenseits des Sprungs, der dieses
Beenden mit der erreichten transcendentalen Form verbindet. Dieser Begriff
macht aber den Sprung für das phänomenologische Subjekt doch nicht völlig
transcendent: die vollkommene harmonia praestabilita vermag das Subjekt
nur als Subjekt nicht in sich und im vollendeten Gleichgewicht zu halten,
doch jedes Moment, jede Schwankung und Wendung zum Gegenteil wird
durch sie zum normativen Ziel geleitet, durch sie wird die Vision uner¬
schöpflich und doch realisierbar, durch sie verliert sich die technische Arbeit
nicht zwischen Uberbewußtheit und Planlosigkeit. Ja hier ist der einzige
Punkt, wo die Ursache dieses Sprunges in die Phänomenologie selbst hinein¬
spielt und auf den Punkt in ihr ein erklärendes Licht wirft, den wir bis jetzt
als ungelöste Tatsache nur feststellen konnten, dessen Sinn [wir aber] auf
sich beruhen lassen mußten. Wir haben früher festgestellt, daß die Vision für
die Technik nie erreichbar sein kann, daß also das Abschließen der Arbeit
des Künstlers immer eine Resignation sein muß, und wenn wir auch hinzufü¬
gen konnten, daß gerade durch diesen Verzicht auf die Vision das Werk er¬
reicht wird, daß hier der »Ort« des früher behandelten Sprunges ist, so war
es uns dort noch unmöglich, diesen »Ort«, den Moment des Verzichtens, der
diese begnadete Macht hat, in seiner phänomenologischen Notwendigkeit zu
erkennen und zu bestimmen. Dazu bietet uns erst die metasubjektive Wirk¬
samkeit der vollendeten harmonia praestabilita, der Grund dieses zweiten
Sprunges, die Handhabe: die Annäherung an das Werk, beziehungsweise an
die Vision als Wirklichkeit durch die Leistung der Technik kann nie etwas
144 Philosophie der Kunst

anderes als ein unendlicher Prozeß und das von ihm Erreichte nie anders als
ein Grenzwert sein; anders gesagt: da die Wirklichkeit des Werks für das
Subjekt des Schöpfers durch den Wirklichkeitscharakter der Vision garan¬
tiert und kontrolliert wird und die Technik zwar ein notwendiges, aber
relativ heterogenes Mittel zu diesem Ziel zu sein scheint, ist auf diesem
Wege die Vision nie zu erreichen und die im Werk zu erreichende und
erreichbare Wirklichkeit kann immer als größer gedacht werden als die
tatsächlich erreichte. Wenn aber die letzte Vollendung des Werks nicht in
seiner Wirklichkeit allein besteht, sondern in dem Zum-Ornament-werden
der Wirklichkeit, so kann es nur einen Punkt geben, wo dieses Zusammen¬
treffen möglich ist, und die Resignation des Künstlers ist dann begnadet,
wenn sie gerade auf diesen Punkt trifft. Durch die Bestimmung dieses
Punktes zeigt sich der zweite Sprung als wirksames Element der Phänome¬
nologie des Schaffenden; es zeigt sich aber zugleich der metasubjektive
Charakter dieses Prinzips: der subjektive Ausdruck für dieses Ankommen
am höchsten Ziele ist der Verzicht des Subjekts auf sein — niedrigeres — Ziel.
Die phänomenologische Notwendigkeit dieser Spiegelung im Subjekt liegt
darin, daß das alles krönende Ornament nur ein Zum-Ornament-werden
dei Wirklichkeit sein kann und schon die Wirklichkeit kann vom phänome¬
nologischen Subjekt prinzipiell nicht erreicht werden. Daß aber das Orna¬
ment gewollt und erreicht wäre und sich dann mit Wirklichkeit erfüllen
würde, ist aus dem Wesen der Kunst heraus undenkbar: nach dem Ornament
gibt es keinen weiteren Weg, keinen Weg zu irgendeiner Wirklichkeit; selbst
der Naturalismus konnte nur als Kündigung und Aufstand gegen die »reine«
Form begriffen werden. Denn das Ornament steht »nach« der Wirklichkeit
nicht in dem zeitlichen Ablauf des psychologischen Schaffensprozesses, son¬
dern infolge seines Begriffes: es ist nur ein Ornament ohne Wirklichkeit
oder eines als Krönung einer Wirklichkeit denkbar. Eine Wirklichkeit kann
aber nur die transcendentale und nie die »reine« Form aus sich entlassen.
Damit sehen wir beide Arten des Sprunges als gleich notwendig für das wirk¬
lich vollendete Werk und wir können in ihnen die am Anfang der Phänome¬
nologie bestimmten zwei Arten des Sprunges, deren Wesen damals freilich
noch unbestimmt war, wiedererkennen: den Sprung von Technik auf
Erlebnis (von transcendentaler Schöpfungsform zum Werk als Wirklichkeit)
und den Sprung von Erlebnis auf Technik (von transcendentaler Werkform
zur wiedergekehrten »reinen« Form). Diese unbewußt-corrigierende Rolle,
diesen negativen Eingriff in den phänomenologischen Schöpfungsprozeß
verdankt das Prinzip der »reinen« Form dem Wesen des Werks, das dem
Schöpferisches und receptives Verhalten ‘45

Genie eingeboren ist, wenn sein Sub|ekt es auch nicht bewußt halten kann
— der vollendeten Coincidenz von Technik und Wirklichkeit. Und was vom
Subjekt aus gesehen eine Gnade war, erscheint vom Werk aus eine Notwen¬
digkeit.
Das Problem des Sprunges ist das Problem der Distanz zwischen Schöpfer
und Werk. Damit können wir, nachdem alle phänomenologischen Stufen des
Schaffens durchlaufen sind und die künstlerische Tat in ihrer Totalität
begriffen ist, zu der Frage zurückkehren, durch die wir gedrängt waren,
diese Beziehungen zu analysieren: auf die Frage, wie der Schaffende die für
ihn gegebenen Arten des Abstandes in normative Distanzen zu verwandeln
vermag. Wir konnten schon früher feststellen, daß der Schaffende zwei
Begriffe des Abstands kennt, den Abstand des erlebenden Subjekts von der
gegebenen Wirklichkeit und den Abstand des schöpferisch-produktiven Sub¬
jekts vom Werk. Die zweite Frage, die der Verwandlung des Abstands des
Subjekts vom Werk in eine normative Distanz, die wegen ihres normativen
Charakters von der Möglichkeit zum Hervorbringen des Werks erfüllt ist,
haben wir oben in einem anderen Zusammenhang so ausführlich behandelt,
daß wir uns hier damit begnügen können, die Resultate unserer Analyse
kurz zusammenzufassen und sie mit dem ersten Abstandsproblem in Bezie¬
hung zu bringen. Das für diese Betrachtung entscheidende Moment ist das
Verhältnis der Vision zum Werk, beziehungsweise zur gegebenen Erlebnis¬
wirklichkeit, zugleich und in starker Beziehung mit beiden Fragen das
Verhältnis des Schaffenden zu seiner Vision. Im Gegensatz zur reingewor¬
denen passiven Bereitschaft des Genießenden mußte das Wesentliche am
phänomenologischen Verhalten des Schaffenden als reine Aktivität definiert
werden, womit seine Stellung zur eigenen Vision, die auch eine Art von
passivem Hinnehmen ist, in Widerspruch zu stehen scheint. Dieser Wider¬
spruch löst sich aber sogleich, wenn wir bedenken, daß die passive Rolle des
Schaffenden der ihm aufleuchtenden Vision gegenüber und die bewußt¬
aktive Arbeit an ihrer Verwirklichung weder im Ablauf noch dem Begriffe
nach so schroff voneinander geschieden sind, wie es im ersten Augenblick
scheint und wie es, im Interesse der Klarheit der Analyse, bisher stellenweise
pointiert wurde. Die Passivität des Schöpfers in der Hinnahme der ihm
gnadenvoll geschenkten Vision ist gewissermaßen nur ein Grenzwert seiner
Aktivität, nur ein am schärfsten in diese Richtung zugespitzter Zustand, der
sich aber während der ganzen, wesentlich aktiven, technischen Arbeit der
Verwirklichung ständig wiederholt, der ein entscheidendes Merkmal des
aktiven Schaffensprozesses ist. Es ist nämlich ein Vorurteil jeder Ästhetik,
146 Philosophie der Kunst

die sich auf das Erlebnis allein aufbaut, daß sie die Bedeutung der ursprüng¬
lichen Vision nicht nur überschätzt, sondern diese absondert und in dem
Zustand der ersten Intuition erstarren läßt. Dann wären freilich Vision und
Arbeit, Passivität und Aktivität des Künstlers streng und für ewig vonein¬
ander geschieden — und letzten Endes wäre der technische Prozeß des Schaf¬
fens fast eine Entwürdigung der Reinheit der Vision und das realisierte Werk
weniger als das, was im Rausch der Offenbarung dem Künstler vorgeschwebt
hat. Die Vision ist aber eine ständige Begleiterin des Schaffens; nicht nur in
dem Sinn, daß sie als dem Künstler immer vorschwebendes Ideal die Arbeit,
die an [ihr] gemessen wird, corrigiert, sondern auch darin, daß sie während
der Arbeit und durch sie erst zum wirklichen Leben erwacht, zu Breite,
Reichtum und Fülle erwächst. Das wesentliche Kennzeichen des genuin
künstlerischen Erlebnisses ist, daß es in bezug auf eine bestimmte und
konkrete Kunstform erlebt wurde, die Vision enthält also, schon als plötzlich
aufleuchtendes, unmittelbar-subjektives Erlebnis, alle Möglichkeiten ihrer
Ausdriickbarkeit in der Form, zu der sie in dieser apriorischen Beziehung
steht; und der Schaffensprozeß ist nichts anderes als die Verwirklichung
dieser Möglichkeiten. Dadurch ist das Verhältnis von Aktivität und Passi¬
vität in der Beziehung des Schaffenden zu seiner Vision wesentlich modifi¬
ziert: die Vision entsteht erst in der aktiven Arbeit des Künstlers, ja dieses
Wachsen und Erblühen der Vision durch technische Verwirklichung ist das
einzig reale Kriterium einer Unterscheidung zwischen wirklicher Vision und
dilettantischem Einfall; die Tiefe und Intensität der Vision kann nur
dadurch offenbar werden, daß sie während der technischen Arbeit, die lang¬
wierig ist und im Detail so gut wie nie auf das Visionäre der Vision ausgeht,
nicht verblaßt, sondern stärker und intensiver wird. Die Maxime des
Floratius, das nonura prematur in annum, bezieht sich also in erster Reihe
auf die Wesenhaftigkeit der Vision, auf die Art wie Faust, Wilhelm Meister,
die Romane Flauberts oder die Bilder Leonardo da Vincis entstanden sind;
und die innere Einheitlichkeit großer »schöpferloser« Werke (Homer, das
Nibelungenlied, gotische Kathedrale etc.) weist noch viel stärker auf diese —
über jede Subjektivität hinausgehende — Lebenskraft der sich im Entstehen
entfaltenden Vision hin. Die Aktivität des Künstlers erscheint dadurch als
die Aktivität des fruchtbaren Dienens: das Werk, das in der Vision implicite
enthalten ist, kann nur durch die aktive Arbeit daran explicit werden. Die
Gebilde aber, die der Künstler vor sich hat — einerseits die sich zum Werk
nähernde, in den Prozeß der Verwirklichung einbezogene Vision, dieser
Komplex von noch unvollkommenen, zur Einheit strebenden Elemente (Ma-
Schöpferisches und. receptives Verhalten i47

terial, Motiv etc.) und andererseits die vor diesem Prozeß schreitende, durch
ihn immer reicher werdende, aber das bereits Geleistete eben deshalb immer
übertreffende Vision an sich — haben ihre eigene, auf das Werk intendie¬
rende Dialektik, die nur hervorgelockt, doch nie jakobinisch gewaltsam
erzwungen werden kann, über die die Herrschaft, die echte Verwirklichung
nur durch Unterwerfung, nur durch Dienen zu erringen ist; welche Herr¬
schaft jedoch, wenn sie das unausgesprochene Ziel der Vision erraten hat,
dieses ihr mit der größten Gewaltsamkeit entreißen kann und muß. Diese
dienende Aktivität, diese hellseherische Tyrannei bestimmt das Verhältnis
des Künstlers zu der Vision: einerseits steht sie immer über ihm, schwebt ihm
immer unerreicht und unerreichbar vor, und sowohl Arbeit wie Aufhören
der Arbeit tragen den Stempel der Resignation, dieser vergeblichen Umwer¬
bung, an sich; andererseits lebt im Schaffenden das sichere Bewußtsein
seiner Herrschaft und das Gefühl, daß das, was er beherrscht, die einzig
würdige und wahre Realität ist, daß durch seine Arbeit alles ausgesprochen
wird und das von ihm Fallengelassene oder Unbeachtete keiner Existenz
würdig ist. Die tief resignierte Lebensstimmung gerade der technisch
bewußtesten und bedeutendsten Künstler ihren Werken gegenüber, das
Gefühl, immer von Neuem anfangen und lernen zu müssen und nie fertig
werden zu können, wie es der alte Cesanne mit den Worten: »je n’ai pas rea-
1 ise«1 ausspricht, drückt geradeso stark die eine Seite dieses Verhältnisses
aus, wie die andere sich in der stolzen Bewußtheit des Künstlers als Künstler,
in dem Satz Theophile Gautiers etwa, objektivert: »l’inexprimable n’existe
pas«. Streng genommen ist das Verhalten des Künstlers zur Vision die
Einheit dieser beiden Stellungnahmen, wir haben aber schon in der früheren
phänomenologischen Analyse sehen können, daß selbst das Subjekt der
Phänomenologie unfähig ist, die stete Zweiseitigkeit der Tendenzen, deren
innerste Einheit den Schaffensprozeß möglich macht, in lebendigem Gleich¬
gewicht zu halten; aus der notwendigen Verknüpltheit der Subjektivität des
Künstlers mit der Realisation des Werks folgt aber auch, daß der Versuch zur
Überwindung dieser notwendigen Einseitigkeit gar nicht unternommen wer¬
den kann. Nicht nur, weil der Versuch mißlingen muß und nur eine andere
Einseitigkeit - und eventuell eine weniger fruchtbare — hervorbringt,
sondern weil gerade diese Einseitigkeit (in diesem Fall: dieses Hin- und

[1 Vgl. E. Bernard: Souvenirs sur Paul Cezanne. »Mercure de France«. 1907. x. 16.
No. 248. S. 614.]
148 Philosophie der Kunst

Herschwanken zwischen beiden Einseitigkeiten) den Takt, die schwebend¬


hellseherische Sicherheit des normativen Schaffensprozesses entstehen läßt,
weil sich gerade in diesem Schwanken und Schweben die bloße Scheinbar-
keit des Gegensatzes von beiden Tendenzen offenbart. (Daß dieses
Schwanken im emotionalen, empirisch-psychologischen Subjekt des Künst¬
lers noch stärker ist, daß es sogar in einzelnen Fällen nur als das Herrschen
der einen Tendenz bewußt wird, ist selbstverständlich, hat aber uns hier
nicht zu beschäftigen.) Durch diesen Schaffensprozeß wird der Künstler zum
Sprung geführt; daß er durch diesen ewig und apriorisch unter das von ihm
geschaffene Werk gestellt ist, bedarf, nach der vorangegangenen Analyse
des Sprunges, wohl keiner weiteren Erörterung.
In dem Verhältnis der Vision zur Erlebniswirklichkeit zeigt sich eine sehr
ähnliche Schwankung im Verhalten des schöpferischen Subjekts. Durch die
Vision wird der Schaffende aus dem gewöhnlichen Abstand von der in sich
abstandsvollen empirischen Wirklichkeit gerettet und zu der utopischen,
wenn auch für ihn postulativen, zu realisierenden Wirklichkeit der Vision in
Beziehung gesetzt. Während aber für den Receptiven durch die Bereitschaft
dem Werk gegenüber sowohl der objektive innere Abstand der Wirklichkeit,
wie sein eigener subjektiver Abstand von ihr aufgehoben waren und —
solange er sich der Wirkung des Werks hingebend, seine Distanz zu ihm
erlangt hat — nicht existent geworden sind, ist hier für den Schaffenden
durch die Vision erst recht das Problem entstanden. Der subjektive Abstand
ist freilich in die Distanz des Schaffens verwandelt worden: die Wirklichkeit
wird vom Künstler als »Thema«, als Stoff zum möglichen Ausdruck erlebt,
es handelt sich für ihn um das Verhältnis seiner utopischen Wirklichkeit der
Vision zu der gewöhnlichen Wirklichkeit, die sich ihm in seinen Erlebnissen
— ob er es will oder nicht — darbietet und aufdrängt. Den Kern der hier
entstehenden Konflikte bildet das Verhältnis des phänomenologisch-schöp¬
ferischen Subjekts zu der eigenen empirisch-psychologischen Gesamtpersön¬
lichkeit, der es angehört. Denn wenn es auch das Wesenszeichen der Vision
ist, daß sie aus der harmonia praestabilita von Erlebnisform und technischer
Form als Erlebmsapriorität entsteht, so ist es geradeso unmöglich, daß dieses
Apriori alle Erlebnisse der Gesamtpersönlichkeit bestimme, wie es undenk¬
bar ist, daß sich das sub specie formae Erlebte übergangslos von dem Rest
der Erlebnisse scheide. Diese Vision selbst ist vielmehr nur ein bewußteres
Aufleuchten von vielem unbewußt schon in bezug auf sie Erlebtem, sie ist nur
das Sich-Zusammenballen von manchem, in dem als es Erlebnis war noch
kein Gerichtetsein auf die Form geahnt werden konnte. Liegt es doch schon
Schöpferisches und receptives Verhalten t49

in dem Begriff der harmonia praestabilita beschlossen, daß sich Erlebnisform


und technische Form im Gleichgewicht zu halten haben, und weil die Reali¬
sation dieses Gleichgewichts im Subjekt selbst nicht vollziehbar ist, müssen
die Erlebnisse für das Subjekt entweder eine bestimmte Betonung auf das
Werk hin haben, oder sich im Bewußtsein des Subjekts als ganz gewöhnliche
Erlebnisse zeigen, denen gegenüber alle Probleme vom subjektiven und
objektiven Abstand in voller Schärfe bestehen bleiben. Dazu kommt, daß
das Wesen der höchsten subjektiven Gestaltungsform, der transcendentalen
Form, es gar nicht gestattet, daß das Erleben in bezug auf die Form als
solches allzusehr bewußt werde; so daß die Möglichkeit der Formgebung
selbst für das phänomenologische Subjekt die notwendige Lage schafft, sich
so wenig wie möglich von der eigenen empirisch-psychologischen Gesamt¬
persönlichkeit zu isolieren, und es dazu drängt, die Konzentration des unbe¬
wußt in bezug auf Form Erlebten dem begnadeten Augenblick der Vision zu
überlassen. Darum kann der Schaffende die gewöhnliche Erlebniswirklich¬
keit nie definitiv hinter sich lassen — wie etwa der Philosoph —, sondern sein
ganzes Leben ist eine ständige Auseinandersetzung mit ihr: ein Entfliehen¬
wollen und ein Zurückfallen, ein Vergewaltigen und ein Besiegtsein, das
tiefste Leiden an dem Abstand und der Rausch der Abstandslosigkeit in der
Vision. Hier sind ebenfalls zwei entgegengesetzte Verhaltungsarten mög¬
lich: die Wirklichkeit der utopischen Formenwelt, die Welt der Vision im
Gegensatz zur gewöhnlichen Wirklichkeit kann als eine dieser transcenden-
ten oder als eine ihr immanente Welt erlebt werden. Auch dies folgt aus der
Unfähigkeit des Subjekts, beide Komponenten der harmonia praestabilita
mit simultaner Bewußtheit in sich zu realisieren. In dem einen Fall wird sein
Erlebnis das Formbetonte pointieren, dann erscheint alle Inhalthchkeit der
utopischen Wirklichkeit wie aus der bloßen Form geboren zu sein, und die
gewöhnliche Welt ist eine erbärmliche Carricatur der visionären, aus der
eventuell einzelne Stücke, die durch einen »glücklichen Zufall« weniger
vom Geist der Form verlassen sind wie das übrige, entrissen und als Rohstoff
benützt werden können, sonst ist aber diese Welt etwas dem Wesen nach
Verachtenswertes. Im anderen Fall herrscht das Erlebnishafte in der Vision
und sie erscheint als das verborgene, nur für den zum Seher gewordenen
Künstler offenbar gewordene Wesen dieser Welt, das immer und überall
enthalten ist, jedoch nur durch den begnadeten Blick und die begnadete
Arbeit des Künstlers aus seinem Zauberschlaf erweckt werden kann. Jedoch
auch hier ist die Vision nicht etwas vom übrigen Erlebnisablauf starr Isolier¬
tes, sie ist vielmehr ein ständiger Zustand des Künstlers, der nur in den
15° Philosophie der Kunst

Momenten der stärksten Intensität sich in sich abschließt, sonst aber mit der
Wirklichkeit der übrigen Erlebnisse in unauthebbarem Kampfe steht. Für
den Künstler vom ersten Typus — dessen Wesen Flauberts Satz: »de la forme
nait l’idee«1 am klarsten ausspricht — handelt es sich nun darum, seine form¬
geborene Welt von jeder Befleckung durch die gewöhnliche rein zu bewah¬
ren, und seine Gefahr ist, daß die Tendenz zur Form zu stark wird und ihre
erlebnisbestimmende Macht verliert. Die Aufgabe des zweiten Typus — der
durch Constables Bekenntnis: »I never saw an ugly thing in my life«2 am
besten charakterisiert werden kann — ist, die gewöhnliche Erlebniswirklich¬
keit in sich ständig auf dieser FJöhe des visionären Naturalismus zu halten,
die Wirklichkeit so stark auf die utopische Vollendung hin sehen zu können,
daß im Erlebnis und im erlebten Dinge alles, was zu dieser Vollendung fehlt,
zu verschwinden scheine; die Gefahr liegt hier darin, daß dieser Natu¬
ralismus der Gesinnung nur in der Gesinnung bleibe, daß er nie seinen visio¬
nären Charakter verliere, immer die Dinge zu sich hinaufziehe, ohne je zu
ihnen herunterzusteigen, um in ihrer gewöhnlichen Wirklichkeit das Äqui¬
valent der Utopie zu finden. Auch diese beiden Richtungen kristallisieren
sich selten zur vollkommenen Einseitigkeit, können aber, aus bereits
bekannten Gründen, nie zur Einheit gelangen. Auch hier handelt es sich für
den Künstler um ein vorgeschriebenes, notwendiges Schwanken, wo nur die
Intensität des Taktes, das Fdellseherische der Verbissenheit sowohl die
Gefahren der unfruchtbaren absoluten Einseitigkeiten, wie die eines unbe¬
gnadeten Ausgleichs vermeiden läßt. In allen diesen Momenten zeigt sich
aber die phänomenologische Persönlichkeit des Schöpfers als ein mit tragi¬
scher Rastlosigkeit und Ruhelosigkeit beladenes Subjekt: immer handelt es
sich in seinem Verhältnis zur Erlebniswirklichkeit um eine unaufhebbare
Spannung zwischen Wirklichkeit und Utopie, immer ist sein Verhalten zum
Werk eine unaufhörliche und — im Subjekt — nie vollendbare Anspannung
zum Erreichen des Unerreichbaren. Was dem Receptiven durch die einfache
Bereitschaft mühelos und selbstverständlich geboten wird, dem strebt der
Schaffende, der viel tiefer noch unter dem objektiven Abstand der Welt
leidet, in ewigem Kampf vergeblich zu: er kann das Ziel all dieser Wünsche,
das Werk als die ersehnte utopische Wirklichkeit nur zum Dasein erwecken,
als Schaffender hat er nie Zutritt zu ihr: »nous sommes faits pour le dire,
non pour l’avoir«, sagt Flaubert.

[ i Vgl.: E. et J. Goncourt: Journal. Vol. i. Paris, Charpentier. 1895. S. 164.


2 Vgl.:C.R.Leslie:MemoirsoftheLifeofJohnConstable.London,Dent. 1912.S. 212.]
GESCHICHTLICHKEIT UND
ZEITLOSIGKEIT DES KUNSTWERKS
.
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit i53

In der Ewigkeit des Werks offenbart sich der paradoxe Charakter des ästhe¬
tischen Wertes am stärksten. Ewigkeit kann nichts anderes bedeuten, als die
zeitlose Geltung des Wertes, dessen In-Erscheinungtreten im zeitgebunde¬
nen Erlebnis, wie es Lasks Analyse für den Wahrheitswert hervorhebt, die
Diskrepanz des Zeitlichen und Zeitlosen nur noch schärfer betont. Während
es sich aber bei der ewigen Geltung des Wahrheitswerts um eine »völlige
Unabhängigkeit und Fremdartigkeit gegenüber der zeitlichen Entfaltung
ihrer bloßen Erlebnisträger«1 gehandelt hat, ist das Verhältnis von Zeitlich¬
keit und Zeitlosigkeit hier viel verwickelter. Die spezifische Wesensart des
ästhetischen Wertes, die diese Komplizierung verursacht, ist die vollständige
Einheit von Wert und Wertrealisation. Daß der ästhetische Wert nur dann
da ist, wenn er realisiert ist, daß kein Prozeß, der zu ihm führt und sich ihm
annähert, irgendeinen Wert beanspruchen kann, sondern daß nur im
erreichten Werk, im realisierten Wert das ewig und zeitlos Geltende
vorhanden ist. Die Paradoxie, die hier entsteht, ist, daß etwas, das seinem
innersten Wesen nach in der Zeit steht, zu dessen kategoriellen Aufbau die
Zeit (sowohl die reale Zeit des historischen Ablaufs, wo die ideale Zeit der
künstlerischen Zeitgestaltung in den spezifischen Formen) a priori unent¬
behrlich ist, nicht nur etwas Zeitlos-Geltendes repräsentiert, sondern der
zeitlose Wert selbst ist. Das Werk ist seinem Entstehen, seinem Bestehen und
seiner Wirkung nach zeitgebunden: die Frage ist nun, wie seine zeitlose
Geltung, seine Ewigkeit in diesem Zusammenhang denkbar ist? Daß das
Werk seinem Entstehen nach zeitlich ist, bedeutet nicht bloß, daß es von
einer Persönlichkeit, die notwendigerweise in der Zeit und deshalb in einer
bestimmten historischen Zeit lebt und vielfältig mit ihr verknüpft ist, produ¬
ziert wird, sondern auch, daß ein Begriff der Zeitlichkeit, der Begriff des
»Neuen« mit seinem überzeitlichen Wesen simultan gesetzt ist.
Das »Neue«, das jedes Werk an sich haben muß, scheint mit dem Begriff
seiner Einzigartigkeit identisch zu sein (weshalb es auch so scheint, als ob es
erst in Zusammenhang mit seinem persönlich-iiberpersönlichen Charakter
behandelt werden sollte), ist aber davon doch sehr verschieden. Denn das
»Neue« am Werk setzt nicht nur seine Verbundenheit mit dem hervorbrin¬
genden Subjekte voraus, sondern auch sein Eingefügt-sein in den einmaligen
zeitlich-historischen Ablauf. Die Einzigartigkeit unterscheidet sich von allen

[1 E. Lask: Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre. Tübingen, Mohr.
1911. S. 18.]
154 Philosophie der Kunst

ihren Gegensätzen qualitativ und absolut, sie wäre denkbar als eine Offen¬
barung des Zeitlosen, die ganz zufällig (intelligibel zufällig) in der Zeit
erscheint, wo also nur das Hervortreten in der Zeit überhaupt, als Bedin¬
gung des Offenbarwerdens notwendig, der Zeitpunkt selbst jedoch völlig
gleichgültig ist: das Werk erschiene dann in der Zeit, weil es eben nur in der
Zeit erscheinen kann, mit dem Moment seines Erscheinens wäre aber jeder
Zusammenhang zwischen Zeit und Werk erledigt, das Werk würde in
seinem Wesen nichts an der Zeit heftendes an sich tragen und der Zeitpunkt
seines In-die-Welt-tretens wäre für es geradeso gleichgültig, wie der Zeit¬
punkt der Entdeckung irgendeines »ewigen« Gesetzes für seine Geltung
völlig irrelevant ist. Das »Neue« ist jedoch ein durchaus zeitlich-historischer
Begriff, sein Verhältnis zu seinem coordinierten Gegensatzpaar ist ein rela¬
tives und selbst zeitliches: die eigentliche Bedeutung des »Neuen« ist, daß
jedes Zeitmoment etwas von allen früheren Momenten qualitativ Verschie¬
denes hervorzubringen vermag (oder pünktlicher: daß in einem historischen
Zeitcontinuum, durch das Hinzutreten eines neuen Zeitelements die Quali¬
tät des neuen Continuums vom alten verschieden ist). Das »Neue« ist also
ein zeitlicher Relationsbegriff, der Ausdruck dafür, daß der einmalige
Ablauf der historischen Zeit stets variable Qualitäten produziert und
zugleich die Sinnbetonung dieser Variabilität. Die Wertbeziehung, die
dadurch entsteht, deren notwendige Folge die Fassung des Zeitablaufs als
etwas Einmaliges ist, fordert zwar durchaus nicht, daß etwa eine Entwick¬
lung, ein ständiger Fortschritt gedacht sei, als dessen Produkt das immer
wertbetontere »Neue« erschiene, sondern nur — wie bei Rickerts viertem, für
die Geschichte relevantem Entwicklungsbegriff1 — daß die spezifische Ein¬
zigartigkeit dieses »Neuen«, sein Noch-me-dagewesen-sein, seine (relative)
Unvergleichbarkeit mit allem Vorangegangenen und Darauffolgenden in
eine Wertbeziehung gebracht werde. So wird alles, dessen Erscheinungsform
in die Wertbeziehung von »Neu« und »Nichtneu« gestellt werden kann,
zum historischen Gebilde und es fragt sich nun: wie ist in dem Wesen des
ästhetischen Wertes, des Werks der Widerspruch zu heben, daß es sowohl
zeithch-historisch-wertbezogen, wie zeitlos-geltend beschaffen ist. Um diese
Frage beantworten zu können, müssen wir die zeitlichen Elemente des
Werks getrennt, in ihrer Beziehung zum zeitlosen Wert des vollendeten

[i Vgl.: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Zweite Aufl.


Tübingen, Mohr. 1913. S. 422-423.]
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit U5

Werks analysieren, damit dann das letzte und allein entscheidende Problem
von dem Verhältnis von Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit des Werkes selbst klar
zu Tage trete. Wir haben deshalb vor allem die Beziehung des Entstehens
des Werkes zum Werke selbst genau ins Auge zu fassen. Hier zeigen sich nun
folgende Fragen: erstens der ästhetische Sinn des Postulats, daß jedes Werk
etwas «Neues« sei; zweitens die Zeitgebundenheit des produktiven Subjekts
in bezug darauf, ob sie überwunden werden kann oder nicht, und darauf,
inwiefern sie überwunden werden soll (das Problem der Zeitlichkeit von
Motiv und Material); drittens die Zeitgebundenheit der künstlerischen Aus¬
drucksmittel, der Technik und ihres Substrates, des Stoffes; viertens der zeit¬
liche Charakter der Wirkung des Werks, wobei Wirkung den schon klarge¬
machten phänomenologischen Sinn als Correktiv des Schaffens besitzt. Erst
nach Erledigung dieser Fragen können wir auf das Werkproblem im engeren
Sinn eingehen: erstens inwiefern die Existenz des Werks als zeitlich-histori¬
schen Gebildes mit seinem Ewigkeitscharakter vereinbar ist, und in welcher
Beziehung die ideale Zeit innerhalb des Kunstwerks eine Beziehung sowohl
zu seiner zeitlichen Existenz wie zu der zeitlosen Geltung des darin reali¬
sierten Wertes hat; zweitens in welchen Beziehungen der strukturell analy¬
sierte ästhetische Sinn des Werks zu seiner geschichtlichen Existenz und
deren geschichtsphilosophischer Typik und Periodik steht.
Daß das »Neue« eine notwendige Vorbedingung des Werks ist, folgt aus
dem Zusammenfallen von Wert und Wertrealisation in der Ästhetik, daraus,
daß jedes Kunstwerk der persönliche Ausdruck des Schaffenden und von
seiner Persönlichkeit untrennbar ist, weshalb auch jedes Kunstwerk von
allen anderen prinzipiell verschieden sein muß; und weil der Schaffende als
geschichtliche Persönlichkeit produziert, wird das durch ihn hervorge¬
brachte »Verschiedene« keine abstrakte Andersheit anderen Produkten
gegenüber sein, sondern ein konkreter und positiver Ausdruck des geschicht¬
lichen Moments: das »Neue«. Alle die Probleme, die hier zur Sprache
kommen, weisen auf einen sehr bedeutsamen Unterschied des ästhetischen
Wertes von den anderen ewigen Werten hin: auf die Beziehung des Wertes
zur Geschichte, auf die Frage, wie der Wert — als solcher, als ewiger Wert —
eine Geschichte haben kann. Wenn von einer Geschichte der Logik die Rede
ist, so ist dies immer in einem uneigentlichen Sinn gemeint: entweder
versteht man darunter die — notwendig zeitliche — Geschichte der
Erkenntnis des Wertes (wobei hier die Geschichte der Ästhetik als
Erkenntnis des ästhetischen Wertes die adäquate Parallele ist) oder man
sucht irgendeinen kulturhistorischen Prozeß, in dem die Werte durch
15 6 Philosophie der Kunst

bestimmte Persönlichkeiten, innerhalb bestimmter geschichtlicher Bedin¬


gungen realisiert werden (wo freilich die ästhetischen Wertrealisierungen
geradeso behandelt werden können wie die anderen). Beide Betrachtungs¬
weisen können aber nie das Wesen des logischen Wertes treffen: der ist jeder
Geschichte entrückt. Dagegen gibt es aber eine Kunstgeschichte, deren
Wesen (was ihre Methode scharf von der aller anderen Geschichtswissen¬
schaften trennt) eben darin besteht, daß sie die Geschichte des realisierten
Wertes selbst darstellen will. Man kann zwar — kulturgeschichtlich — jede
Erkenntnis als etwas Neues und geschichtlich Determiniertes auffassen,
sofern sie aber wirklich Erkenntnis ist, ist diese Betrachtungsweise ihr gegen¬
über inadäquat. Husserl betont in seiner Polemik Sigwart gegenüber mit
vollem Recht sehr scharf die gefährlichen Consequenzen, die entstehen,
wenn man es nur für eine Fiktion hält »als könne ein Urteil wahr sein, abge¬
sehen davon, daß irgendeine Intelligenz dieses Urteil denkt«; er weist
darauf hin, daß bei einer solchen Annahme »das Urteil, das die Gravita¬
tionsformel ausdrückt, wäre vor Newton nicht wahr gewesen. Und so wäre
es, genau besehen, eigentlich widerspruchsvoll und überhaupt falsch«1.
Wenn wir nun diesen Wahrheitswert etwa der Newtonschen Gesetze mit
dem ästhetischen Wert einer Tragödie von Sophokles oder eines Bildes von
Raffael oder Rembrandt vergleichen, so kann uns dieser Unterschied in der
Struktur der Werte sofort intuitiv klar werden. Wir können diese Differenz
vielleicht so am besten formulieren: die Zeitlosigkeit des logischen Werts
bezieht sich nicht bloß auf den Wert selbst, sondern auch auf seine wie
immer geartete Realisation; das Subjekt, in dem er realisiert wird, muß —
damit die Realisation möglich werde — aus jeder raum-zeitlichen, kulturell¬
historischen Bedingtheit herausgerissen werden, um in eine Beziehung zum
Wert treten zu können. Dagegen ist das Werk eine sub|ektive Vision des
schöpferischen Individuums; wenn sich auch seine empirische Persönlichkeit
in die normativ-phänomenologische verwandelt, wenn auch selbst dieser
Schaffende das Werk selbst nicht erreicht, die Möglichkeit zum Sprung,
wodurch das Werk entsteht, ist mit den Erlebnisformen des schöpferischen
Subjekts doch unzertrennbar verbunden und diese Formen können nur zeit¬
lich-sozial bedingte historische Formen sein.
Die Empfindung, daß es sich hier um eine paradoxe Relation handelt, hat
freilich oft zu sehr merkwürdigen Annahmen geführt, vor allem zu der, daß

[i Logische Untersuchungen, i. Band. Zweite Aufl. Halle, Niemeyer. S. 127—128.]


Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit
15 7

das Genie seinem innersten Wesen nach zeitlos, von dem kulturell-sozialen
Gesamtkomplex seines empirischen Daseins völlig unabhängig sei. Diese
Annahme ist aber — ganz abgesehen von ihrer empirisch-historischen
Unhaltbarkeit — auch dem Begriff des Genies widersprechend. Vor allem ist
in dieser Auffassung die Beziehung zwischen Individuum und Zeitalter zu
eng gefaßt: als das einfache Getragensein des Menschen von den Zeitströ¬
mungen, als seine blinde Unterwerfung unter alle Conventionen der Zeit
etc.; während diese Beziehung wesentlich den qualitativen Accent jeder
Stellungnahme des Menschen zu dem ihm gegebenen und ihn umgebenden
Komplex der Dinge bedeutet und deshalb auch die Auflehnung gegen die
Zeit oder das Einsamsein in ihr umfaßt. Eben weil es sich hier um unmittel¬
bare Erlebnisse handelt (wenn auch um Erlebnisse sub specie formae), sind
diese in ihrer Qualität, worin das »Neue« besteht, sowohl dem Inhalt wie
der Form nach von dem historischen Gesamtkomplex bestimmt. Lessings
Ablehnu ng der tragedie classique und Alfieris Fortsetzen der Corneille-
Racine Tradition, Manets »Impressionismus« und Puvis de Chavannes Stil¬
suchen haben dieselbe qualitative Nuance der Gleichzeitigkeit, des gleichar¬
tig orientierten »Neuen«. (Ich verweise auch auf die empirische, jedoch sehr
bedeutsame Tatsache, daß man viel leichter und sicherer den Zeitpunkt der
Entstehung eines Werks feststellen kann, als etwa seinen Schöpfer, z. b. im
Florentiner Trecento und Quattrocento oder in der Dramatik von Shake¬
speares Zeiten.) Das wäre aber noch immer nur eine bloße Faktizität dieses
Zusammenhanges — wenn auch eine nunmehr notwendige —, eine Unent-
rinnbarkeit des Eingewurzeltseins in der historischen Zeit wegen der Unmit¬
telbarkeit des schöpferischen Erlebnisses und es könnte noch fraglich
erscheinen, ob diese Notwendigkeit eine sinnvolle und den Wert fördernde
ist. Aber — wie wir aus der phänomenologischen Analyse wissen — liegt in
dem höchsten erreichbaren Grad eben dieser Unmittelbarkeit, in der begna¬
deten Fähigkeit des Genies seine (scheinbar) bloß subjektiv-unmittelbaren
Erlebnisse in der Vision so zu besitzen, als ob gerade sie die absolute und
unproblematische Enthüllung des Weltsinnes wären, der notwendige Weg,
der zum wirklichen Werk, zur real gewordenen utopischen Wirklichkeit
führt. Je stärker die prästabilierte Harmonie zwischen Erlebnisform und
technischer Form unmittelbar und naiv da ist, je mehr sich die Reflexion des
Schöpfers nur auf die Technik als Arbeit und nicht auf die Grundbeziehung
zwischen Technik und Vision, auf die Grundprobleme der Kunst richtet,
desto mehr ist er Genie; d. h. der den ewigen Normen des zeitlosen Wertes
entsprechende Hervorbringer des Werks. Und jede Stellungnahme gegen
Philosophie der Kunst
ij8

die ihm unmittelbar als Ganzes gegebene (historische) Welt, sei es in kultu¬
reller, sei es in rein künstlerischer Hinsicht, wenn es sich nicht um eine
anders orientierte Unmittelbarkeit handelt, deren pseudo-polemische
Wesensart ebenfalls zeitgebunden ist, kann sehr leicht gerade diesen norma¬
tiven Charakter des Schöpfers und mit ihm den zeitlosen Wert des Werks
trüben und von dem - zeitlos - Sein-Sollenden entfernen. So wird uns die
historische Tatsache, daß gerade die allerbedeutsamsten Schöpfer (Shake¬
speare, Calderon, Giotto, Dante) selbst bis auf die conventioneilen
Ausdrucksmittel der Kunst ihre Zeit so gut wie bedingungslos acceptiert
haben und sich von ihren - jetzt conventioneil scheinenden - Zeitgenossen
nicht durch ihre Gesinnung zur Zeitlosigkeit, sondern gerade durch die
Intensität des unmittelbaren und naiven Bündnisses von Erlebnis und
Technik (die beide conventionell sein konnten) unterschieden, als notwen¬
dige Folge dieses phänomenologischen Verhältnisses begreiflich. Denn nur
durch die Unbefangenheit des phänomenologischen Schöpfers — die histo¬
risch seine Befangenheit in der Zeit bedeutet — kann das Werk die konkret
gewordene Utopie werden, die es seiner Idee nach sein muß, nur unter dieser
Bedingung ist sein Wesen, die vollendete innere Abstandslosigkeit erreich¬
bar. Diese normativ vorgeschriebene Konkretheit im vollendeten Werk ist
die Verbindung zwischen seiner Zeitgebundenheit und Zeitlosigkeit. Völlig
und unbeschränkt zeitlos kann nur das Abstrakte sein, und die - im Wesen
des Wertes inbegriffene — Forderung der Konkretheit des Werks bedeutet
zugleich sein Emgewurzeltsein in Zeit und Raum.
Daß diese Beziehung für den logischen Wert vollauf besteht, bedarf wohl
keiner Erörterung mehr. Für den ethischen Wert scheint das Problem etwas
komplizierter zu sein, nicht nur weil er doch in viel höherem Maße mit dem
wirklichen lebendigen Individuum im Zusammenhang besteht (das könnte
durch die prinzipielle Unerreichbarkeit des Wertes aufgewogen und aufge¬
hoben werden), sondern vor allem weil er sich als Norm auf einzelne Hand¬
lungen einzelner Menschen bezieht, wo in den Bedingungen des richtigen
Handelns die räumlichen und zeitlichen Umstände, die seine empirischen
Voraussetzungen sind, miteinbegriffen gedacht werden müssen. Jedoch das
Wesen der ethischen Formung des Lebens besteht eben darin, daß in der
Fülle und in dem Wirrsal dieser Bedingtheiten das Gerichtetsein auf das
Unbedingte gefunden werde: das Vorbildliche, das Kanonische. Wenn auch,
wegen der notwendigen raum-zeitlich-individuellen Verschiedenheit, dieses
allen ethischen Handlungen Gemeinsame, dieses Kanonische nicht als
Gesetz, als notwendiges System von wiederkehrenden Folgen gedacht wer-
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit U9

den kann, so bedeutet der ethische Kanon doch eine letzte, formelle,
abstrakte Identität aller als ethisch bewerteten Handlungen, die nur
dadurch, daß sie diesen abstrakten Kanon in sich realisieren, der ewigen
Norm entsprechend, d. h. ethisch werden. Die Formung ist also abstrakt,
und das Konkrete hegt nur im Material, das durch diese Formung überwun¬
den, ja letzten Endes vernichtet werden sollte. Und dieses Dilemma ist
unentrinnbar: sobald die Religion nicht als abstrakte Erfüllung der abstrakt¬
ethischen Postulate gedacht ist (wie bei Kant), ist sie in ihrem konkreten
Wesen, in der Offenbarung, von der Zeitlichkeit nicht mehr trennbar;
welche gedanklichen Schwierigkeiten oder Mysterien des Glaubens (credo
quia absurdum est) aus dem zeitlich-zeitlosen Charakter der Offenbarung
Christi entstehen, können wir hier freilich nicht berühren, wir konnten und
durften nur auf die Unüberbriickbarkeit dieses koordinierten Gegensatz¬
paares: konkret-zeitgebunden und abstrakt-überzeitlich ganz scharf hinwei-
sen. Mit der Forderung aber, daß das Werk eine utopische Wirklichkeit sei,
mit der Konkretheit des Wertes selbst ist die einzigartige Stellung des ästhe¬
tischen Wertes im System der Werte bezeichnet: nicht nur zu seinen norma¬
tiven Vorbedingungen gehört diese konkrete Zeitgebundenheit, sondern sie
ist für den realisierten Wert selbst konstitutiv, aus seinem innersten, zeit¬
losen Wesen heraus notwendig.
Die Form als utopische Erfüllung, als Bejahung und Aufhebung eines
bestimmten Widersinnes, kann nur das Ende der Verlängerungslinie von
konkreten Leiden und Freuden an der konkreten Wirklichkeit sein. Sie ist
die ersehnte, innerlich abstandslose Wirklichkeit, ist aber eben deshalb nicht
bloß eine ebenso konkrete Wirklichkeit wie es die abstandsvolle war,
sondern sogar — wegen der Aufhebung des Abstandes, der gegenseitigen
Kreuzungen heterogener Tendenzen — eine noch konkretere: der Sprung
zwischen dem Dasein der Dinge und ihrem sollenden Sein ist hier ihr
Konkreterwerden, ihr Eingestelltsein in eine Welt, die gerade dazu da ist,
um dieses ihr sonst verkümmerte und verhinderte konkrete Sein zum
wahren Leben und Aufblühen zu verhelfen. Wie sehr auch Hervorbringen
und Aufnehmen durch den Sprung von der Sache selbst getrennt sind, so ist
diese, das Werk, doch eine Umfassung, eine Lösung und eine Erlösung dieser
— aus der konkreten, geschichtlichen Wirklichkeit, aus der Stellungnahme zu
ihrer Gesamtheit entstehenden — Relationen und Tendenzen. Freilich haben
die Tendenzen, das Abstandsvolle der gegebenen Wirklichkeit zu überwin¬
den, jeweilig verschiedene Betonungen: das Leiden an der Wirklichkeit und
die Sehnsucht nach ihrer utopischen Erfüllung können einerseits aus dem
16 o Philosophie der Kunst

Gefühl entstehen, daß die Wirklichkeit durch die Formen, die sie gestalten
sollen, verkümmert und erstarrt sei und es entsteht als Kunstwollen und
Bereitschaft die Sehnsucht nach dem Konkreten; andererseits kann das
Oberhandnehmen des bloß Konkreten ein solches Leiden am Wirrsal, am
Kampf und gegenseitigen Sich-zugrunde-richten heterogener Konkreta ent¬
stehen lassen, daß als einzige Rettung das »Allgemein-Menschliche«, der
ewige Kanon erscheinen muß. Mit der phänomenologischen Form der ersten
Stellungnahme haben wir uns schon früher eingehend befaßt (bei der
Analyse des Naturalismus) und wissen, daß die hier hervortretende Forde¬
rung der Konkretheit, deren zeitlich-historischer Charakter wohl von nie¬
mand bezweifelt wird, nur durch das Bündnis mit den zeitlosen Formele¬
menten überhaupt realisierbar ist. Darum scheint hier die Analyse der
anderen Tendenz wichtiger zu sein, die Frage, ob das Kunstwollen nicht
schon an und für sich zeitlos sein kann, ob es nicht denkbar ist, daß der
zeitlos-ewige Gehalt des Werks schon in der ungewollten Weiterführung
und Stilisation der Wirklichkeit durch die Vision des Künstlers vollzogen
werde, daß also die zeitlose Form von vornherein einen zeitlosen Inhalt
empfängt. Viele Strömungen der Kunst hatten dieses Ideal, konnten es aber
nur durch Selbsttäuschung realisieren; d. h. was sie hervorgebracht haben,
waren zwar ewige Kunstwerke, waren aber ihrem Wesen nach von den
anders gewollten prinzipiell nicht verschieden. Denn das konkrete und
erlebte zeitlose Wesen des Inhalts der Werke ist doch nichts anderes, als die
durchaus zeitlich bedingte Vorstellung des Künstlers von dem ewigen Inhalt
seines Objekts, von seinen inhaltlichen Erfüllungen der Kunstformen. Wenn
Sophokles, Corneille oder der Goethe der Iphigenie-Tasso-Zeit »allgemein¬
menschliche« Konflikte aufgriffen, in denen das ewige, zeitfreie Wesen der
inneren Menschen offenbar werden sollte, wenn Signorelli, Poussin oder
Marees ein ähnliches ewiges Wesen der Sichtbarkeit für den erscheinenden
Menschen und die ihn umgebende Natur suchten, so ist dieses »Zeitlose«
geradeso zeitlich-historisch bedingt, wie es die »Natur« der Naturalisten
(Filippo Lippi, Teniers, Courbet) ist. Dieses »Zeitlose« ist die erlebte Erfül¬
lung der konkreten Ewigkeitssehnsucht einer konkreten Zeit, und weil die
Kunst weder aut das Erleben, noch auf seinen konkreten Gehalt verzichten
darf, kann sie sich aus dieser Zeitgebundenheit nie befreien. Und sie soll es
auch nicht, denn das wirkliche Erreichen des Zieles dieser Sehnsucht würde
ihr Objekt gedanklich und abstrakt machen: das Wesen der Kunst aufheben.
Ja schon in diesem, sich selbst mißverstehenden und ein nicht gewolltes Ziel
erreichenden Kunstwollen liegt eine große Gefahr für das Werk. Daß
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 161

nämlich durch die bewußte und gewollte Distanz des Künstlers zu der ihn
umgebenden Wirklichkeit, durch seinen Wunsch sie so weit wie möglich zu
entfernen und hinter sich zu lassen, die innere Abstandslosigkeit des Werks
getrübt oder in einer matten und dürftigen Weise erreicht wird. Indem der
so wollende Künstler sich von allen zeitlich-geschichtlichen Inhalten loszurin¬
gen bestrebt ist und die Konkretheit der Utopie in seiner Vision für das Werk
doch bewahren will, bleibt ihm nichts anderes übrig als die Form selbst zu
dem allein Inhalt zeugenden Prinzip zu hypostasieren und jede inhaltliche
Erfüllung (den ganzen Gehalt des Werks) aus dieser seiner Idee der ewigen
Formen entstehen zu lassen. Dadurch wird aber der Abstand der Wirklich¬
keit von der ihr eigenen Utopie bloß übersprungen, nicht überwunden und
zur verklärten Vollendung gebracht. Diese ausschließliche Orientierung an
die Form birgt, wie wir wissen, die Gefahr der bloßen Virtuosität in sich, wo
eine zwar abstandslose Welt im Werk entsteht, aber aut Kosten der Bezie¬
hung zur bereitschaftschaffenden Sehnsucht des Receptiven und des Errei¬
chen des Werks als Wirklichkeit: die Formwelt, die so entsteht, ist eben nur
Formwelt und kann nur als solche erlebt werden, wenn die kalte und
verstandesmäßige Anerkennung ihres beziehungslosen Zusammenhanges
mit sich selbst überhaupt ein Erlebnis im ästhetisch-phänomenologischen

Sinn genannt werden darf.


Jedoch in diesem Fall ist unter »Form«, bei den wirklich in Betracht
kommenden Vertretern dieses Kunstwollens, etwas anderes zu verstehen:
das konkret realisierte Werk als Erfüllung der Ewigkeits-Sehnsucht dieses
schöpferischen Subjekts: die Ewigkeit des Werks als Norm des erlebten und
zu gestaltenden Lebens, als platonische Idee jedes Seins, das im Werk nur
»abgebildet« wird. Der Begriff der Form wird allerdings überspannt, aber
nur deshalb weil diese »Form« alle Tendenzen des möglichen Kunstwollens
in sich faßt und zur Hypostasis der utopischen Wirklichkeit wird. Das
Unerledigt-lassen der Dissonanz bleibt aber auch für eine so gefaßte Form
die ständige Gefahr. Die Dissonanz ist nämlich der Beziehungsbegriff,
der (in dem auf die Form intendierenden Erlebnis des Schaffenden) die
Verbindung zwischen erlebter und utopischer Wirklichkeit herstellt. Die
Dissonanz ist ihrer Form nach die Vorbedingung der Wirklichkeit des
Werks, indem durch sie die Theodicee-artige, gleiche Existenz- und Wertin¬
tensität alles im Werk Vorkommenden möglich wird. Ihrem Inhalt nach ist
aber die Dissonanz die konkrete Basis des Kunstwerks: nicht nur weil durch
sie die spezifischen Formen entstehen und sich zu von selbständigen eigenen
Gesetzen regierten Welten differenzieren, sondern weil die Dissonanz
162
Philosophie der Kunst

auch innerhalb der einzelnen spezifischen Formen - das Prinzip der Diffe¬
renzierung ist: aus der erlebten einzelnen Dissonanz, ihrer vertieften Über¬
windung und Einbeziehung in das konkrete einzelne Werk entsteht das
Werk selbst. Der Inhalt der Dissonanz ist also konkretes Erlebnis, und ist als
solches historisch, zeitgebunden; hier ist der Punkt, wo (wegen der prästabi-
lierten Harmonie von Erlebnisform und technischer Form beim Genie) die
zeitlose Werkform untrennbar mit den zeitlichen Erlebnisinhalten verbun¬
den ist. Die Gefährdungen des Werkes also, die hier entstehen, sind
folgende: Erstens kann die Dissonanz nicht zu ihrem wirklichen und für das
Werk konstitutiven Sein ausreifen; nicht die die Wirklichkeit des Werks
erschaffende Dissonanz wird gefunden, herausgearbeitet, als Bestandteil in
das Werk hineingearbeitet und so überwunden, sondern es wird von vorn¬
herein eine Welt jenseits der Dissonanz gesucht; diese soll in der Vision
eilebt werden, kann es aber infolge des Wesens der Vision nicht, und aus
dem ersehnten Jenseits wird ein abgeschwächtes und trübes Diesseits. Zwei¬
tens aber kann, aus den soeben erörterten Gründen, die in der zeitlosen
Struktur der Form begründet sind, die Dissonanz mit ihrer ganzen zeit¬
lich-inhaltlichen Erfüllung nie aus dem Gestaltungsprozeß und hier¬
mit aus dem Aufbau des Werks selbst ausgeschaltet werden. Wird der
Versuch gemacht sie zu ignorieren, so zieht sie gegen den Willen des Schaf¬
fenden in das Werk ein, und weil sie nicht als Dissonanz ausreifen und so in
das ewigkeitschaffende Bündnis mit der Form treten konnte, verfälscht sie
die Form, zieht sie in ihre (unüberwundene) zeitliche Inhaltlichkeit herunter
und belastet sie mit ungelösten, wenn auch abstrakt gewordenen Elementen:
Das Werk ragt nicht nur nicht als abstandslose Utopie aus der abstands¬
vollen empirischen Wirklichkeit heraus, sondern ist auch in sich abstands¬
voll: die Formen sind zeitlich belastet und verbogen, und die Inhalte einer
unerreichbaren Zeitlosigkeit wegen abstrakt und dürftig. Aus diesem Kunst¬
wollen also, wenn es nicht ein bloß psychologisches Wollen seines Schöpfers
ist (in welchem Fall es zu den unzähligen Arten von falschen Spiegelungen
des phänomenologischen Wollens des empirischen Objekts gehört, die ästhe¬
tisch nicht in Betracht kommen), sondern wirkliches Kunstwollen, Wollen
des phänomenologischen Schöpfers ist, entsteht das epigonale Kunstwerk,
das, in dem was erreicht wurde (im Gegensatz zum Gewollten), das zeitge¬
bundenste aller Werte ist, das — mit dem Erlöschen der Empfindung, die es
hei vorgebracht hat, der sowohl abstrakt wie konkret abgeschwächten und
getrübten Vorstellung seines Schöpfers und seiner Zeit vom «Ewigen« - nur
die Bedeutung eines kulturhistorischen Zeitdokuments beanspruchen kann.
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 163

Nicht nur die allergrößten Werke der Kunst beweisen, daß ihre Ewigkeit aus
der Zeitlichkeit der (phänomenologisch) erlebten Lebensinhalte ihres
Schöpfers stammt, sondern auch innerhalb eines »Ewigkeit«-suchenden
Kunstwollens jene, bei denen ein zeitgebundenes Ideal des Schöpfers für ihn
mit solcher Intensität »ewig« wurde, daß der Prozeß des Dissonanz-setzens
sich doch irgendwie vollziehen konnte. Wenn die Gefahr und die Proble¬
matik auch für solche Werke besteht, so ist es doch denkbar, daß hier
»Werke« entstehen: sie werden zwar nicht das Ewig-Blühende, paradiesar¬
tig Vollkommene der anders gearteten Werke besitzen, wohl aber die schöne
und herbe Strenge einer in sich erstarrten Welt, die immerhin die Utopie
irgendeiner Sehnsucht ist. So entsteht der »klassizistisch« genannte Stil,
dessen paradoxes Kennzeichen, daß er historischer und subjektiver ist als
jeder andere, uns jetzt wohl kaum mehr paradox erscheinen wird1.
So erscheint das »Neue« am Werk, vom Standpunkt seines Entstehens, nicht
mehr nur als etwas Unabweisliches, sondern auch als etwas mit seinem Wert
Verbündetes. Nicht in dem Zusammenhang mit dem Zeitmoment steckt eine
Gefahr für den Schaffenden, vielmehr darin, daß er den paradoxen Weg zur
Aufhebung seiner Zeitbefangenheit nicht finden wird und infolge seines
jakobinischen Versuches der Überwindung der Zeitlichkeit, ihr noch mehr
und ausschließlicher verfällt. Wenn also jedes Kunstwerk als »neu«
bezeichnet werden muß, so ist damit weder eine bloße äußerlich-tatsächliche
Beschaffenheit, noch der Wert selbst gemeint, sondern eine bestimmte
Qualität des Wertes: das gestaltete Werk hebt sich von allen vorangegan¬
genen Wertrealisierungen durch diese seine Qualität ab, es objektiviert sich
in ihm das Qualitativ-Einzigartige des historischen Moments, das zu Folge
des Hmzutretens von etwas »Neuen« aus dem »alten« Continuum entsteht;
es handelt sich also nicht um eine abstrakte Einzigartigkeit, sondern um eine
konkrete Qualität, deren Wesentliches an die Richtung, Einmaligkeit und
Eigenart der historischen Ablaufsreihe gebunden ist.

Die Beziehung des schöpferischen Subjekts zu dem historischen Gesamt¬


komplex, den es vorfindet, und ihre Consequenzen für die Struktur des

[1 Siehe Anhang 11.]


164 Philosophie der Kunst

Werks können nur begriffen werden, wenn das Subjekt nicht nur in
abstrakter Einheitlichkeit, als bloße Bedingung der Entstehung des Werks,
betrachtet, sondern konkretisiert, auf die Bestandteile an Produktivität und
Gegebenheit hin, die seine normative Subjektivität begründen, untersucht
wird. Als solche kommen vor allem Motiv und Material in Betracht, und es
muß bei jedem getrennt untersucht werden, wie das Verhältnis von Zeitlich¬
keit und Zeitlosigkeit sich in ihm gestaltet, um aus dieser Erkenntnis zu dem
entscheidenden Zusammenhang zwischen zeitlichem Entstehen des Werks
und zwischen seinem zeitlosen Wesen fortschreiten zu können. Für jede
Betrachtungsweise, deren richtunggebendes Ziel nicht die konkrete Allge¬
meinheit des Werks ist, scheint es naheliegend zu sein, das Motiv aus der
historisch-psychologischen Continuität heraus zu begreifen, im Gegensatz
zu der metahistorischen Bedeutung, die das Material zu beanspruchen hat;
es scheint als ob das Motiv — in gewissem Sinn der Keim und der Kern der
Vision - mit der Persönlichkeit des Schöpfers als Individuum und mithin
historischer Individualität innig und unzertrennbar verbunden wäre, wäh¬
rend das Material — als Substrat der ewigen Form — seinem Begriffe nach
einem jenseits der raum-zeitlichen Differenzierung der Geschichte zugehör¬
te. Das zeitlos-zeitliche Wesen des Werks zeigt sich aber gerade in der
Falschheit solcher einseitigen Orientierungen dieser Bestandteile seines Ent¬
stehens. Indem sich jeder von ihnen, wenn auch in der Qualität nach
verschiedener Weise, als zugleich geschichtlich und zeitlos erweist, konkreti¬
siert sich das diesen phänomenologischen Momenten entsprechende objek¬
tive Gebilde in seiner wirklichen Beziehung zum Zeitablauf. Das Ewige am
Motiv, soweit es in die Phänomenologie des Schöpfers gehört, ist durch die
dort analysierte harmonia praestabilita zwischen Erlebnisform und techni¬
scher Form gesichert: das Motiv ist gerade das Stück »Leben«, an welchem
die Apriorität der Form sich als formende Apriorität der Erlebnisse erweist.
Denn das spezifische Wesen dieses Apriori besteht nicht etwa darin, daß
jedes Erlebnis nur von ihm umformt erlebt werden kann (dann wäre es nur
der psychologisch-qualitative Erlebnisaccent des Subjektes), sondern darin,
daß gewisse Erlebnisse schon als Erlebnisse einen, nur im erreichten Werk
deutbaren und zu deutenden Sinn in sich bergen, durch diesen Sinn eine nur
ihnen eigene Ballung an Qualität und Intensität erhalten — und durch das
Erlebnis dieser Ballung das Subjekt der Erlebniswirklichkeit zum phänome¬
nologischen Subjekt verwandeln. So ist das Motiv als Sinn und Inhalt dieses
Erlebnisses, phänomenologisch betrachtet, das reine Erlebnis sub specie for-
mae, dadurch aber läßt sich sein Wesen gar nicht aussprechen: das Motiv ist
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 165

zwar der Anlaß der Verwandlung des psychologischen Subjekts ins phäno¬
menologische, gehört aber nur als solcher in die Phänomenologie, sonst ist
es seinem Wesen nach dem phänomenologischen Bewußtsein transcendent;
d. h. daß dieses Erlebnis für das phänomenologischen Subjekt nur eine
»Idee« (im Kantischen Sinne) ist, etwas was das Keimerlebnis der Vision sein
soll, aber nie ist, noch sein kann. Denn die Vision, als phänomenologische
Form der Wirklichkeit des Werks, ist ihrer eigenen Realisierung gegenüber
relativ heterogen, sie bereitet nur den Weg zum Sprung, der die transcen-
dentale, wirklichkeitsschaffende Werkform herbeiführt, vor, nicht abei den
Weg zu jenem Sprung, der die Wiederkehr der reinen Form, die Realisie¬
rung des Werks, als vom Menschen geschaffenes, technisch gestaltetes
Gebilde verursacht, während das Motiv nur als die Keimzelle dieses, dem
phänomenologischen Subjekt transcendenten Werks definiert werden kann.
Der methodische Ort der Begreifbarkeit des Motivs liegt mithin nach dem
erreichten Wrk, in der nachkonstruktiven Psychologie des Schaffenden,
woraus sich folgendes Verhältnis von Vision und Motiv ergibt: die Vision ist
eine Wirklichkeit, während das Motiv ein Gebilde, ein Artefakt ist, die
Vision ist etwas sich im phänomenologischen Prozeß Realisierendes, also
etwas ihrem Wesen nach Dynamisches, während das Motiv unwandelbar,
statisch ist, die Vision ist ein Erlebnis, wenn auch nur ein phänomenologi¬
sches, sie ist also mit der übrigen Erlebnismasse des Schaffenden in irgend¬
eine organische Beziehung zu setzen, wie paradox und problematisch diese
Beziehung auch sein mag, während das Motiv — soweit es sich überhaupt im
Bewußtsein des phänomenologischen Subjekts spiegelt, welches Bewußtwei¬
den durchaus nicht notwendig ist — ein »Einfall« ist, in sich geschlossen und
allen anderen Erlebnissen gegenüber in dieser seiner absoluten Heterogenei-
tät beharrend. All dies bedeutet für das Subjekt sowohl eine größere Freiheit
dem Motiv gegenüber, als sie in Beziehung zur Vision möglich war, aber
auch eine größere Unfreiheit: denn die absolute Heterogeneität des Motivs
zu anderen Erlebnissen kann sich nur in dem ihm allein zukommenden und
immanenten Werksinn offenbaren, sonst ist sein Erleben - gerade wegen
dieser absoluten Heterogeneität und ihrer Folge: des »Einfall«-Charakters
- das Erleben eines Erlebnisobjekts, nicht aber einer in sich geschlossenen,
sich zum selbständigen Leben substanzierenden Wirklichkeit, wie das Erleb¬
nis der Vision. Einerseits »beherrscht« also das Subjekt seinen »Einfall«,
»benützt« ihn nach »Willkür«, formt ihn um und fügt ihn-zur Wirklichkeit
der Vision- Welt erweiternd — in selbstgeschaffene Zusammenhänge ein,
andererseits ist es durch den dem Motiv immanenten Werksinn absolut
166
Philosophie der Kunst

gebunden, die Freiheit des phänomenologischen Subjekts dem Motiv gegen¬


über kann nur dann ästhetisch relevant sein (besser gesagt: es gibt nur dann
ein solches Subjekt und seine Freiheit), wenn die Freiheit nichts anderes ist
als der Weg zur Entwicklung des im Motiv implizite enthaltenen, dem
Subjekt transcendenten Werksinnes. Das Motiv ist also dem Werk näher als
die Vision, denn es vereinigt in sich seine letzten Paradoxien, und ferner
zugleich, denn es fehlt ihm ihre Wirklichkeit. (Daraus folgt zugleich, daß für
jede Kunstart ohne transcendentale Wirklichkeitsform Motiv und Vision
zusammenfallen. In der Phänomenologie, wo die reine Form nur als
Stadium, nicht aber als selbständige Objektivation behandelt wurde, konnte
eben deshalb dieses Problem nicht einmal berührt werden. Erst die struk-
tiven Modifikationen des Werksinnes, die sich aus der autochtonen Vollen¬
dung der reinen Form ergeben und die erst später ausführlich analysiert
werden können, ergeben die Möglichkeit, die daraus folgenden Consequen-
zen in der nachkonstruktiven Psychologie näher zu behandeln. Wenn also
hier vom Werk und von der reinen Form gesprochen wird, so ist stets das
Werk als Wirklichkeit und die wiedererrungene reine Form gemeint.)
Die objektiv-struktive Seite dieses Verhältnisses ist, daß das Motiv als das
einzige — normativ und nicht antiästhetisch, abstraktiv zu gewinnende —
isolierbare Element des Werks erscheint, welches durch eine Form konstru¬
iert ist, die wie sehr sie auch von der Form des Werkes selbst verschieden sei,
mit dieser doch in einem bestimmten Sinne homogen ist: das Motiv ist als
Formung geformt, nicht aber — wie die anderen Werkelemente (die gegen¬
ständlichen etwa) als »Leben«, als »Wfrklichkeit«. Der Werksinn dieser
Formung ist: Maß und Objektivation der immanenten Vollendung des
Werks zu sein. Indem im Motiv implizite alles enthalten ist, was sich im
Werk zu einer in sich geschlossenen und vollkommenen Welt rundet, gibt
das Motiv sowohl die Grenze der seinsollenden Fülle dieser Vollendung,
durch das Postulat der bloßen Explicierung seines immanenten Gehalts, wie
das Maß in der Strenge des Ausscheidens, durch die Forderung seiner totalen
Ausschöpfung an. Die zweiseitige Abstraktheit des Motivs, die sich hier¬
durch sowohl dem Werk wie der Erlebniscontinuität gegenüber zeigt, ist,
daß im Motiv ein Lebenselement oder eine gewisse Gruppierung von
Lebenselementen in eine solche Beziehung zum letzten objektiven Sinne des
Werks kommt. Einerseits ist das Motiv dem »Leben« ferner als das Werk,
denn die Form, die es umschließt, konstituiert es durchwegs als künstliches
Gebilde, das nur in Beziehung zum Werk einen Sinn bekommen kann (die
Skizze, die im eigentlichen Sinne die Darstellung des bloßen Motivs ist, zeigt
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 167

am klarsten diese Entfernung) und an und für sich gar keine Antwort auf die
Bedürfnisse ist, von welchen aus das Werk gefordert wird; andererseits ist es
aber dem »Leben« näher als das Werk, denn es ist trotz allem ein »Stück«
Leben, das - als Leben - unmittelbar und deshalb in abstrakter und dem
phänomenologischen Subjekt transcendenter Weise von der Werkform
selbst umklammert wird, sich aber sonst, im Gegensatz zur In-sich-Geschlos-
senheit des Werks, von den übrigen Erlebnissen nicht zu isolieren vermag.
Diese abstrakte Vereinigung von einem »Stück« Leben mit dem Krystallisa-
tionspunkt des Werks, was das Wesen des Motivs ausmacht, gibt die
Möglichkeit der Klärung, wie Geschichtliches und Zeitloses sich in ihm
vermischen: das hier wesentliche, struktive Kennzeichen des Motivs ist, daß
sein Inhalt von einer zusammenfallenden Doppelformung umschlossen
wird: von der Werkform, die es zum Motiv, und von der Erlebnisapriorität
des Schaffenden, die es zum eigenen Erlebnis, zum »Einfall« macht. Indem
nun, wie früher gezeigt wurde, die normativ-schöpferische Gesinnung
durchaus nicht darauf ausgehen darf, die künstlerischen Formen und das
Ewige an ihnen als etwas der historisch verankerten Individualität des
Schaffenden Entgegengesetztes zu erleben, ist die phänomenologische Ten¬
denz gegeben, den Werksinn dieser Doppelformung hinter - besser gesagt:
in - der Subjektivität der Erlebnisform verschwinden zu lassen. Dadurch
sind Zeitlosigkeit und geschichtlich-zeitliche Determiniertheit unlösbar im
Motiv verflochten: es kann als Inhalt wegen seines Erlebnischarakters nur
das von dem historischen Moment Gelieferte besitzen (daß im Erlebnis und
für das Erlebnis alle außer diesem Moment liegenden Möglichkeiten -
Bildungselemente, Werte etc. — auch der von dem Moment getroffenen
Auswahl unterliegen, bedarf wohl keiner Erklärung); seine Form ist an das
qualitative Erlebnisapriori des Schaffenden und dessen Zugehörigkeit zum
geschichtlichen Ablauf gebunden. Zugleich aber erhält es ausschließlich dai-
aus seine Existenz als Motiv, daß es die Möglichkeit zur Entfaltung eines
Werkgebildes implizite in sich birgt, dessen Vollendung, sowohl der
Abschließung wie der Totalität nach, von den zeitlosen Normen der
Ästhetik garantiert und geregelt wird. Die Möglichkeit der Entstehung des
Werks erfordert also sowohl, daß die ewigen Normen der einzelnen Kunst¬
arten - als ausschließliche und normative Bedingungen ihrer Realisierung -
ins Zeitlich-Geschichtliche hinunterreichende Differenzierungsmöglichkei¬
ten enthalten, wie daß es Typen der Formung der Erlebnisse duich ihr
qualitativ-apriorisches Schema gäbe, welche den zeitlosen Postulaten, die
die Existenz einer Werk-Welt verbürgen, entsprechen können. Das Aufein-
168 Philosophie der Kunst

anderhinweisen und Zusammenfallen der beiden Formungen ist aber hier


durchaus abstrakt: ihre Existenz muß gefordert, aber nur als bloßes »Das«
der Existenz und nicht als ihr qualitativ differenziertes »Wie« kann es
be griffen werden. Weder vom Werk, noch vom Erlebnis aus kann eine aprio¬
rische Gliederung des Motivs aufgezeigt werden, in der sich die Faktizität
dieses Zusammenhanges zur eigenen Logizität geklärt zeigen würde: es gibt
also weder eine geschichtsphilosophische Typologie der möglichen Motive,
wo von den apriorischen Bedingungen seiner historischen Existenz aus die
Systematik seiner Beziehung zu den ewigen Normen sich in einer wieder¬
kehrenden Typik krystalhsiert, noch ein vom Werk aus konstruierbares
System möglicher Motive, denen der geschichtliche Ablauf als Realisierung
korrespondiert. Keine Geschichte der Motive kann seinen ästhetischen Sinn
erreichen, und jede seiner metahistorischen Gruppierungen kann nur eine
Übersicht, aber keine Systematik ergeben.
Der letzte Grund dieser Irrationalität ist, daß das Motiv nicht nur ein
formales Apriori gewisser Erlebnisse ist, sondern auch in seinem Wesen
einen konkreten und darum notwendigerweise einmaligen Erlebnisinhalt
enthält. Weil nun seine formale Seite an dieses Einmalige des Inhalts voll¬
kommen angepaßt sein muß, muß es selbst den Stempel der daraus
folgenden Unvergleichbarkeit und Ungeeignetheit zur Systematisation an
sich tragen. Ein diesem sowohl verwandtes, wie entgegengesetztes Verhält¬
nis von Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit weist das Material auf. Wir haben das
Material als Substrat der Werkform definiert; konkreter ausgedrückt bedeu¬
tet diese Definition, daß unter Material die Summa und das System der sinn¬
lichen Wirkungsmöglichkeiten zu verstehen sind, die einer bestimmten For¬
mung zu Gebote stehen. Schon durch diese Definition ist der Glaube an eine
kunst-»materialistisch« fundierte Außerzeitlichkeit des Werks erschüttert:
wie sehr auch der Schein dafür spricht, daß die Kunst an das gegebene Mate¬
rial gebunden und dieses dem Wandel des Zeitablaufs nicht unterworfen
wäre (man denke an das Verhältnis von Plastik und Marmor, um gerade die
»zeitloseste« Kunst als Beispiel zu nehmen), so zeigt sich hier gleich der
Denkfehler des Kunstmateriahsmus: die Verwechslung des naturwissen¬
schaftlichen und deshalb notwendigerweise unhistorisch-»ewigen« Begriffes
der Materie mit dem ästhetischen Begriff des Materials. Keine naturwissen¬
schaftliche Begriffsbildung darf im Begriff »Marmor« irgend etwas
geschichtlich Wandelbares zugeben und wenn das ästhetische »Wesen« des
Marmors mit seinem naturwissenschaftlichen Sein identisch wäre, so hätten
wir hier tatsächlich ein Werkelement vor uns, das in keine Beziehung mit der
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 169

Geschichte gebracht werden kann. Der Marmor ist aber, ästhetisch betrach¬
tet, das Substrat eines rein optischen Relationssystems, das mit Hilfe von
Erhöhungen und Vertiefungen (die von einer Systematik in der Verteilung
des Lichtes und des Schattens abhängig sind) ein dynamisches Gleichgewicht
zwischen kubischen und flächenhaften Gesichtseindrücken hervorbringt.
Durch die Beziehung dieser beiden Faktoren zueinander, des sinnlichen
Wirkungspostulats der Form und der sinnlichen Wirkungsmöglichkeiten des
Materials, wird das Wesen des Materials ästhetisch bestimmt und begrenzt.
Die Beantwortbarkeit der hier auftauchenden Fragen kompliziert sich aber
auch noch dadurch, daß das Material als Substrat der Werkform nicht bloß
Substrat der reinen, sondern auch Substrat der transcendentalen Form ist,
daß also sowohl Wirkungspostulat wie Wirkungsmöglichkeit sich nicht nur
auf die reingemachte, homogene Sinnlichkeit der Form, sondern auch aut
die symbolschaffende Sinnlichkeit der »Einbeziehung alles Einbeziehbaren«
richten. Diese Verbundenheit der reinen Form mit der transcendentalen ist,
wenn sie einmal vorhanden ist, unaufhebbar; d. h. daß in dem Begriff der
sinnlichen Wirkungsmöglichkeit des Materials nun auch seine Potenz und
Qualität zum Symbolischwerden miteinbegriffen ist. Diese Wirkungsmög¬
lichkeit selbst ist aber durch die Variationsmöglichkeit jener Faktoren deter¬
miniert, deren Gleichgewicht herzustellen das Problem der Form ist, die —
in der ästhetisch me vorkommenden, rein begrifflichen Einseitigkeit ihres
bloß gedachten Wesens - die Grenzen bestimmen, innerhalb deren Gebiets
je eine Formung ihre Werkwelt schaffende Kraft bewähren kann (in
unserem Beispiel: das Kubische und das Flächenhafte). Die Variabilität des
Gleichgewichts kann sich aber zu dem Problem der transcendentalen
Formung (der »Einbeziehung«) nicht gleichgültig verhalten: es ist notwen¬
dig, daß zwischen Qualität und Quantität der »Einbeziehung« und der Art
des möglichen Gleichgewichtes ein bestimmter Zusammenhang bestehe, daß
also die Prävalenz des einen Faktors die »Einbeziehung« begünstige, die des
anderen nicht, daß der eine Faktor ein Prinzip der reinen, der andere das dei
transcendentalen Form sei, daß in dem einen die Sinnlichkeit des Materials
selbst, in dem anderen seine symbolische, gestaltende, wirklichkeitschaf¬
fende Sinnlichkeit, seine Sinnbildhchkeit sich ausspräche. Die vorhin postu¬
lierte Unzertrennbarkeit der beiden Werkformen ist durch das Prinzip des
Gleichgewichts, das ja das Dasein und die Valenz beider Faktoren erfordert
und nur Variabilitäten der Prävalenz ermöglicht, gesichtert. So offenbart
sich im Block das kubische Prinzip des Marmors, sein sinnlicher Wirkungs¬
wert als Masse, während seine Bearbeitbarkeit als ein System von aufein-
17° Philosophie der Kunst

ander bezogenen Erhöhungen und Vertiefungen — das durch den Block nur
begrenzt, aber nicht bestimmt ist, dessen Einheit gerade in dem Sich-Zusam-
menschließen aller Teile zu etwas von einem Außenpunkt Balanciertem und
Homogenem, zu einem quasi flächenhaften Zusammenhang (»Relief«-Auf-
fassung) besteht — der Träger der sinnbildlichen Materialität ist. In jeder
Marmorplastik muß ein Gleichgewicht dieser beiden Prinzipien der Mate-
rialpotenzialität erreicht werden, und in dem so zustande gekommenen
Formenkomplex repräsentiert der Block die Sinnlichkeit, das Relief die
Sinnbildlichkeit des Materials, der Block die reine, das Relief die transcen-
dentale Form, wobei jedoch nie vergessen werden darf, daß das Setzen des
einen Prinzips das des anderen bedingt, daß sie also beide nur Tendenzen,
in realisierter Reinheit nur Denkmöglichkeiten, nicht aber ästhetische Reali¬
täten sind. Daraus ergibt sich für das Material in bezug auf seine immanente
Wirkungsmöglichkeit folgende Typologie der möglichen Gleichgewichtsver¬
hältnisse: bei Prävalenz des Prinzips der reinen Form ist eine Tendenz zur
möglichsten Reduzierung des »Einbeziehens« (Ägytische Plastik) und ande¬
rerseits eine, die zum Maximum desselben hinstrebt (Michelangelo) denk¬
bar; bei der Praevalenz des Trägers der transcendentalen Form hingegen
kann sowohl die Tendenz zu einer sehr starken, wenn auch eventuell bis zur
Unappercipierbarkeit verarbeiteten Correctivrolle des ersten Prinzips
(Griechische Plastik), wie eine möglichste Abschwächung derselben (»male¬
rische« Plastik) wirksam sein.
Diese Typologie der möglichen Tendenzen ist ihrem Wesen nach sowohl
geschichtlich wie übergeschichtlich; sie ist von jedem Zeitablauf unabhängig,
denn es entfalten sich in ihr bloß die Möglichkeiten des Materials, welche
ihm seinem zeitlosen Begriffe nach angehören, und unabhängig von ihrer
Realisation in der Zeit sind; sie ist aber zugleich in ihrem innersten Wesen
geschichtlich, denn das principium differentiationis ergibt sich aus einem
Moment des Materials, das — ebenfalls seinem zeitlosen Begriffe nach —
historisch determiniert ist. Dieses Moment ist der Begriff der »Einbezie¬
hung«; zugleich der Punkt, wo die Wechselwirkung von Wirkungspostulat
und Wirkungsmöglichkeit begriffen werden kann. Wir sahen: die sinnlichen
Wirkungspostulate der Formung sind an sich vom Material unabhängig; wir
können dies nun konkreter formulieren: in den Wirkungspostulaten spricht
sich der Wille zur Schaffung einer ganz bestimmten Werkwelt aus, wo die
Gesinnung, aus der der Wille entspringt, Fülle und Maß, Art und Masse
dessen bestimmt, woraus — sowohl inhaltlich wie formell — diese Welt sich
aufbauen soll. Das Material kann nur die Grenzen der Möglichkeiten für die
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 171

Realisierung angeben: nur solche Gesinnungen werden überhaupt ästhetisch


relevant, deren Richtungen mit den vorgezeichneten Tendenzen des Mate¬
rials übereinstimmen, und nur insofern werden sie ästhetisch bedeutsam, als
sie diesen entsprechen. Als Denkmöglichkeiten, als Folgerungen aus dem
bloßen Begriff des Willens zum Schaffen einer Werkwelt können aber auch
noch andere Gesinnungen abgeleitet werden, die — immanent logisch
betrachtet - sich in gar nichts von den anderen unterscheiden, nur werden
diese sich nie realisieren können, während jene sich am Material schöpfe¬
risch erweisen. Daß es sich aber hier nicht um ein müßiges Denkexperiment
handelt, zeigt die Existenz problematischer Stilprodukte, die, wenn sie auch
ästhetisch irrelevant sind und nur kulturgeschichtlich Vorkommen, so doch
beweisen, daß die prästabilierte Harmonie zwischen Wirkungspostulat und
Wirkungsmöglichkeit nur aus dem erreichten Werk nachkonstruktiv gefol¬
gert, nicht aber aus dem bloßen Begriff der sinnlichen Wirkungspostulate
abgeleitet werden kann; die harmonia praestabihta ist also nur eine Erklä¬
rung des ästhetisch Realisierten (die Bedingung seiner Realisation), der
Begriff dessen aber, was sich ästhetisch realisiert, ist inhaltlich unerschöpfbar
und enthält neben den zahllosen Realisierungen auch noch unzählbare
Tendenzen, die sich von jenen nur durch die Unmöglichkeit ihrer Realisie¬
rung unterscheiden. Die Wirkungspostulate können also keine Systematik
aufweisen: sie sind rein geschichtlich, d. h. sie entspringen aus der Vorstel¬
lung, die ein Zeitpunkt von der Erfüllung seiner eigenen Sehnsucht nach
einer ihm spezifisch angemessenen utopischen Wirklichkeit empfindet.
Selbst die Typik dieser Postulate kann also nur ein aposteriorisches Ordnen
und Zusammenfassen der historisch bereits realisierten Postulate sein, keine
apriorische Ableitung der Realisierungsmöglichkeiten aus dem Begriff des
zu Realisierenden; nur eine empirisch-historische Typik, keine geschichts¬
philosophische. Und die Begrenzung, die sie durch die Typik der Wirkungs¬
möglichkeiten des reinen Materials erfährt, kann auch nichts an dieser
Struktur ändern: die vier Tendenzen, die wir dort aus dem Wesen des Mate¬
rials apriorisch abgeleitet haben, sind nur als Tendenzen apriorisch, als
solche aber ganz unabhängig vom historischen Zeitablauf und von geschicht¬
licher Realisierung: sie geben nur die Grenzen an, innerhalb deren
Geltungsreich Realisierungen überhaupt möglich sind; ihre Bestimmungs¬
kraft auf die Postulate ist rein ausscheidend und negativ, sie konstituieren
nur das Das der Realisierung, nicht aber deren Wie. Denn die Apriorität
dieser Typologie hört mit der Ableitung der vier Tendenzen auf und es ist
undenkbar, aus dem Begriff einer jeden weitere Untertypen etc. bis hinab
1J2 Philosophie der Kunst

zur einzelnen, einmalig-historischen Realisierung zu finden; innerhalb jeder


Tendenz herrscht die Unsystematisierbarkeit des historisch Einmaligen. Die
Verflechtung von Zeitlosigkeit und Geschichte hat also hier auch etwas von
der bloßen Faktizität, die wir bei der Analyse des Motivs gefunden haben,
wenn sich diese auch innerhalb des Rahmens einer übergeschichtlich-aprio-
rischen Typik abspielen muß. Nur ist der Grund gerade der entgegenge¬
setzte: während wir dort einen nicht logisierbaren Erlebnisinhalt vorfanden,
haben wir es hier mit bloßen Formen (mit Postulaten und Möglichkeiten der
Wirkung) zu tun, die zu ihren Realisierungen im Einmalig-Konkreten nur in
dem abstrakten Verhältnis der Potentialität stehen. Selbst der Begriff
»Wirklichkeit«, dem durch die »Einbeziehung alles »Einbeziehbaren«,
durch die Unzertrennbarkeit von reiner und transcendentaler Form hier
eine so entscheidende Bedeutung zukommt, verharrt in vollkommener
Abstraktheit: auch er ist nur ein Prinzip, nur die Tendenz zu einer »Wirk¬
lichkeit überhaupt«, modifiziert also diese Struktur in keiner Beziehung.

3-

Nur die Analyse von konkreten Formungen, wo sowohl das Historisch-


Einmalige als Formgewordenes, wie das Zeitlos-Ästhetische als Inhaltser¬
fülltes da ist, wo es sich also um die Beziehung von Formen zueinander, nicht
aber um die von Formen zu möglichen Inhalten überhaupt oder umgekehrt
handelt, kann uns über diese Faktizität hinausbringen. Die beiden Formen,
auf deren Beziehung es hier ankommt, sind Technik und Stoff. Durch ihre
Gegenüberstellung wird der gesamte Komplex, sowohl der der Werkwelt
wie der seiner Entstehung umfaßt, nicht mehr ein Teil dieses Komplexes in
seiner Beziehung zu den anderen untersucht; zugleich aber muß manches
früher als Einheitliches Behandelte sich in eine Zweiheit auflösen: denn
indem der gesamte Entstehungskomplex des Werks auf den in der Formung
erreichten objektiven Sinn hin betrachtet wird, muß sich das Formende von
dem Geformten scheiden und da jedes Element, wie wir sahen, gerade aus
dem Zusammenwirken und Aufeinanderweisen beider entstanden ist, muß
es sich hier in diese seine Bestandteile auflösen. Daß einerseits der hier als
das Geformte definierte Komplex in seiner Beziehung zur Welt, die, dem
Begriffe nach, vor dem Werk liegt, als Form auftritt und daß wir anderer¬
seits zu einem Gesichtspunkt gedrängt werden, von dem aus auch das
formende Prinzip als etwas von Formen Umschlossenes erscheint, hebt die
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit i73

Absolutheit dieses Verhältnisses innerhalb der Werkwelt nicht auf, ermög¬


licht vielmehr die hier beabsichtigte Analyse der Zeitlosigkeit und Histori¬
zität des Werks. Wenn aber hier Stoff, Summe und Einheit des Geformten,
Technik System und Einheit der formenden Prinzipien bedeutet, so müssen
beide Begriffe von allen anderen möglichen Gegenüberstellungen des I 01
menden zu dem Geformten streng unterschieden werden. Der Gegensatz,
auf den es hier ankommt, entsteht in bezug auf den objektiven Werksinn des
Schaffensprozesses und hat deshalb weder mit seiner phänomenologischen,
noch mit seiner nachkonstruktiven Struktur etwas gemein. Während also m
der Phänomenologie mit dem dynamischen Begriff der Technik - als Inbe¬
griff der künstlerischen Tätigkeit - der (ebenfalls dynamische, in der Arbeit
der Realisierung zum eigentlichen Leben erwachende) Begriff der Vision
kontrastiert, d. h. der objektive Faktor mit dem subjektiven; während wir in
der nachkonstruktiven Psychologie (aus Gründen, die erst doit klar werden
können) als Substrat der Technik, die dort die einzige Objektivation des
künstlerischen Formungsprinzips ist, das Material vorfinden werden, also
einen Kontrast des Geistig-Aktiven zu dem Sinnlich-Potenziellen; während
sowohl in der Phänomenologie wie in der nachkonstruktiven Psychologie
des Receptiven die inhaltliche Erfüllung den normativen Gegensatz zum
Formbegriff bildet, drückt sich hier das Wesen des Kontrastes in dem Einan¬
dergegenüberstehen des Eigentlichst-Kiinstlerischen und des außerkünstle-
risch-lebenhaft »Einbezogenen« aus. Es scheint deshalb, als ob es sich hiei
wieder nur um das Verhältnis der reinen Form zur transcendentalen handeln
würde, als ob Technik nur ein dynamisch gewordener und dementsprechend
subjektivierter Abglanz der reinen, und Stoff nichts als ein halbfabrikatar¬
tiger Zustand der transcendentalen Form wäre. Doch einerseits stoßen wir
auf den Technik-Stoff-Gegensatz auch dort, wo wir die beiden Formbegriffe
isoliert betrachten, also innerhalb jeder der beiden Formen (die schon aufge¬
wiesene und noch zu analysierende Gestaltungseventualität der reinen Foim
und die phänomenologische Problematik des Naturalismus bezeugen es),
und andererseits besteht die Rolle der wiederscheinenden reinen Form in
dem Gebilde, das aus dem Zusammenwirken beider Formen entsteht, nur
unter anderem nur in dem Sichtbarmachen der Technik; die Technik ist
als Gestaltungsprinzip unabhängig von der reinen Form vorhanden, nur ist
sie dem Als ob des Naturhaft-Gewachsenen, der Maxime der transcen¬
dentalen Formung unterworfen und dadurch unsichtbar geworden. Wenn
wir also die Technik als den Inbegriff der künstlerischen Formungsprinzi¬
pien im Zustand der Aktivität und der Aktualisierung definieren, so wird es
174 Philosophie der Kunst

verständlich, warum ihr in der Phänomenologie die Vision, in der nachkon¬


struktiven Psychologie das Material kontrastieren, die beide Substrate, Prin¬
zipien der Potentialität sind; im Wesentlichen ändert sich der Begriff der
Technik nicht, denn sowohl die Verschiedenheit der Kontrastbegriffe, wie
die Veränderung, die durch sie der Begriff der Technik selbst erfährt, sind
eben nur durch die Verschiedenheit der von den Sphärenstrukturen vorge¬
schriebenen Aspekte bedingt. Es wird auch verständlich, daß die transcen-
dentale Form die Technik verschwinden lassen muß, da ihre gestaltete Wirk¬
lichkeit kein Prinzip der Aktualität erscheinen lassen darf und der Aktuali¬
sierungsprozeß mit ihrem Erreichen als vollendet gedacht werden muß. Es
wird aber auch verständlich, daß die in der wiederkehrenden reinen Form
offenbar gewordene Technik nicht den gesamten Begriff der Technik
umfassen kann: der Sinn der Technik in dieser Formung ist nur den Gebilde¬
charakter des Werks sichtbar zu machen, ohne seine Wirklichkeit aufzuhe¬
ben, die Technik erscheint hier also bloß als das Prinzip der Aktivität über¬
haupt, dessen Da-Sein dieses nicht von selbst gewachsene, sondern von
Menschenarbeit geschaffene Wesen des Werks sinnfällig macht. Der Begriff
der Technik umfaßt hier bloß das sinnlich Sichtbare der bereits vollzogenen
technischen Arbeit; Technik ist hier bloß ein Symbol der Aktivität, nicht die
Aktivität selbst, bloß die Tatsache des Aktualisierthabens, nicht die Aktuali¬
sierung selbst. Dadurch kann die oben formulierte Definition der Technik,
die sich weder auf eine dem Werk zugeordnete subjektive Sphäre, noch auf
ein Formungsprinzip des Werks, sondern auf die Idee des gesamten Werks
bezieht, einen klareren und konkreteren Sinn erhalten: Technik bedeutet
die Einheit und das System jener Prinzipien, durch deren Hilfe sämtliche
möglichen Substrate des Werks zur Werkform erhoben werden; Technik ist
also weder die Form selbst, denn diese ist Resultat und die Technik Mittel,
noch der Prozeß, der zu ihr führt, denn der Prozeß ist ein subjektiver Weg,
während die Technik eine objektive Bedingung ist. Das Verhältnis der
Tech nik zu seinem Substrate ist das der Aktualisierung zur Potentialität und
muß sich deshalb, ja nach der verschiedenen Qualität der Beziehung der
einzelnen Werkelemente zu ihren möglichen Realisierungen, den verschie¬
denen Werkelementen gegenüber verschieden gestalten. So ist die Bezie¬
hung der Technik zu allem auf die reine Form Bezogenen ein einfaches
Realisieren, während derselbe Prozeß der Aktualisierung paradox wird,
wenn es sich darum handelt, eine Wirklichkeit zu gestalten. Im ersten Fall

verschwinden Technik und Material in ihrer realisierten Einheit und der


Anteil des potenziell Gegebenen ist von dem des Aktualisierens untrennbar;
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit >75

im zweiten Fall entsteht jene relative Unabhängigkeit beider voneinander,


von der bereits in der Phänomenologie die Rede war und die sich darin
offenbart, daß die Technik sowohl die Tendenz zum Untergehen in der
gestalteten Gegenständlichkeit (die mit ihrer oben erwähnten Einheit mit
dem Material durchaus nicht gleichbedeutend ist), als die Tendenz zur
Entlassung nur von ihr abstammender und abhängiger Inhalte (Materialität,
Stimmungsgehalt der Technik etc.) besitzt. In beiden Fällen ist aber die
Technik unlösbar an das Material verknüpft, ja ihr Wesen drückt sich am
schärfsten in der vollständigen, wenn auch paradoxen Ent-wicklung alles im
Material Enthaltenen aus, wodurch wir für diesen Zusammenhang zu dem
Resultat gelangen, daß das Material — bei dieser Teilung des Werkkom¬
plexes - auf der Seite der Formelemente steht und als integrierender
Bestandteil der Technik, als Bedingung ihrer Möglichkeit von ihrem
Begriffe umfaßt wird. Dieses Umfaßt-sein des Materials ist aber kein voll¬
ständiges Aufgehen; geradeso wie der Begriff der Technik mehr umfaßt als
die in ihm enthaltene Materialität, so besitzt der Begriff des Materials auch
eine Seite, die nicht restlos in die Reihe der Formelemente einzugliedern ist,
nämlich die Möglichkeit der »Einbeziehung«. Daß diese Eigenschaft des
Materials auch schon als formales Element behandelt werden mußte, steht in
keinem Widerspruch zu dieser Behauptung; diese Zweiseitigkeit ist viel¬
mehr schon im Begriff des »Einbeziehens« enthalten: das »Einbeziehen«
bedeutet einerseits das Umsetzen jeder Gegebenheit, der gegenüber die
Wirkungspostulate einer Form geltend gemacht werden können, in die sinn¬
liche Wirkungsmöglichkeit dieser Form, andererseits aber die Fähigkeit des
Materials (als Wirkungsmöglichkeit) sich — ihm an sich heterogenen
Wirkungsforderungen, die von der Gegenständlichkeit der einbezogenen
Gegebenheiten gestellt werden, anzupassen. Das Material ist also in
doppeltem Sinn ein Prinzip der Potentialität: es ist die Möglichkeit der
Technik und des Stoffes zugleich und dadurch der Punkt, wo sie unlösbar

miteinander Zusammenhängen.
Wir haben den Stoff früher als die Summe und die Einheit des Geformten
bestimmt; jetzt sind wir in der Lage, dasselbe konkreter auszudrücken: wn
haben unter Stoff den Gesamtkomplex der Erlebnisinhalte zu verstehen, zu
dem sich das Motiv durch die Vision ausbreitet, soweit diese Erlebnisinhalte
in der Materialität der gesuchten Form aufzugehen fähig sind. Der Unter¬
schied von Material und Stoff ist damit hinlänglich beleuchtet; es kommt
jetzt nur darauf an, das Verhältnis zwischen Stoff und Vision einerseits, und
Stoff und Motiv andererseits zu begreifen. Vom Motiv unterscheidet sich dei
176 Philosophie der Kunst

Stoff dadurch, daß er die ganze extensive Fülle des Gestalteten gerade in
ihrem extensiven Ausgebreitetsein vollständig umfaßt, während diese im
Motiv nur implizite enthalten ist. Daraus folgt freilich auch, daß das Motiv
- infolge der formalen Beschaffenheit dieses Implizite - bei der hier vollzo¬
genen Zweiteilung auch der Sphäre der Aktivität, der Technik als Correctiv-
prinzip der Auswahl angehört; es bestimmt, was aus der Fülle der Erlebnis-
mhalte, zu der sich das Motiv ausbreitet, in das Werk eingehen, zum Stoff
werden darf. Der wesentlichste Unterschied zwischen Stoff und Vision ist,
daß die Vision eine Wirklichkeit ist, also eine gewisse Parallelität zu dem
gesamten Werk besitzt, während der Stoff, der inhaltlich dasselbe umfaßt,
seine Wirklichkeit erst durch das Bearbeitetwerden von der Technik erhält;
das Wesen des Stoffes ist mithin gerade keine Wirklichkeit, sondern bloß
Substrat einer zu schaffenden Wirklichkeit zu sein, den Komplex der Erleb¬
nisse in einer solchen Weise zu formen und zu umfassen, daß sie einer Bear¬
beitung durch die Technik und dadurch der Werkwirklichkeit teilhaftig
werden können, während die Formung der Visionsinhalte schon eine Analo¬
gie, eine Art Gegenbild der technischen Formungen bietet. Wenn also die
Foimen der Welt der Vision zu den technischen Formen ebenfalls in einem
Verhältnis der Möglichkeit zur Aktualisierung stehen, so bleibt doch der
Unterschied, daß diese Potentiahtätsbeziehung bei der Vision eine Correc-
tiv-, bei dem Stoffe eine Substratsrolle ist.

Damit sind wir aber noch immer nicht zu dem Punkt gekommen, wo Zeit¬
lichkeit und Zeitlosigkeit dieser Struktur klar werden könnte. Wir haben
Technik und Stoff nur ihrer Weite, nicht aber ihrer Einheit nach analysiert
und sind damit stets im Bereich des Werks selbst, oder besser gesagt inner¬
halb der rein objektiven Bedingungen seines Entstehens geblieben. So
verschieden nun das Wesen der Einheit für Technik und Stoff auch sei, das
eine haben sie gemein, daß sie in die normativ subjektive Sphäre der Entste¬
hung des Werks hinüberleiten, daß das Prinzip der Einheit, obwohl es den
Kern diesei objektiv-struktiven Elemente bildet, gleichzeitig und in einer
Weise, die von seiner Objektivität untrennbar ist, etwas Erlebnishaftes an
sich hat. Diese Einheit ist für die Technik, die als System der Aktualisie-
tungsformen definiert wurde, ein Prinzip der Organisation, für den Stoff,
dessen Wesen wir als Komplex und Summe von ausdrückbaren und auszu¬
drückenden Inhalten umschrieben haben, eine Direktive der Auswahl und
der Ballung, der Weite und der Dichtigkeit; für die Technik eine Form,
durch deren Umfassung, durch das Inhaltwerden in ihr sie selbst als Form
zui Konkretheit erwächst, für den Stoff die Essenz des von ihm, der der
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit l77

Technik gegenüber Substrat ist, Geformten, wo aber aus dem Geformten für
die Form die Richtung und die Bestimmtheit erwächst. Das formende
Erlebnis der Technik ist die Gesinnung; das vom Stoff geformte und ihn
bestimmende Erlebnis die Aufgabe. Beide sind eigentlich Kategorien der
nachkonstruktiven Psychologie des Schaffenden, können also in voller Aus¬
führlichkeit erst dort behandelt werden, nehmen aber innerhalb jener
Sphäre eine Stellung sui generis ein: sie sind keine Kategorien des Schaf¬
fenden der nachkonstruktiven Psychologie (wie Motiv, Material und Tech¬
nik), sondern Kategorien der Voraussetzung dieser Psychologie; ihr Dasein
garantiert die Existenz des nachkonstruktiven Schöpfers, indem sie die
Möglichkeit der Aufstellung der Maxime dieser Sphäre (der Akribie) und
der Konkretisierung ihres Gehalts bieten. Ihre eigentliche Wirksamkeit liegt
aber vor dieser Sphäre: sie ist mit dem realisierten Werk simultan gesetzt,
während die nachkonstruktive Psychologie (begrifflich) nach ihm liegt. Sie
sind aber auch keine Kategorien der Phänomenologie des Schaffenden, denn
sie enthalten kein Hinstreben auf das Werk, was das auffallendste Kennzei¬
chen dieser, vor dem Sprung liegenden Sphäre ist, sondern sind die Voraus¬
setzungen seines (bereits als realisiert gedachten) Geleistet-seins. Während
also die ihnen entsprechenden phänomenologischen Kategorien (der
»Standpunkt« und die Dissonanz) sich nur auf Auswahl und Umgestaltung
der Inhalte der Erlebniswirklichkeit richten, an ihnen den Homogeneisie-
rungsprozeß vollziehen und somit die Möglichkeit des Schaffens herbeifüh¬
ren, an sich aber nur richtungweisende Faktoren sind und an dem (phänome¬
nologischen) Schaffensprozeß keinen Anteil haben, beziehen sich diese
Kategorien unmittelbar und die Gestaltung bestimmend auf die Foimation
des Werkes selbst. So stehen »Standpunkt« und Gesinnung, Dissonanz und
Aufgabe als entsprechende Voraussetzungskategorien der beiden subjekti¬
ven Sphären nebeneinander, doch aus der Verschiedenheit der Sphären
folgen ihre entscheidenden Verschiedenheiten, die uns vorläufig genügen
müssen, um die jetzt nötigen Begriffe von Gesinnung und Aufgabe klarer zu

machen.
Es ist uns bereits aus der phänomenologischen Analyse bekannt, daß der
Begriff des »Standpunkts« aus den Problemen von Abstandslosigkeit,
Abstand und Distanz entsteht, und der »Standpunkt« als Ausgangspunkt
und Möglichkeit der normativen Überwindung dieser Problematik am kür¬
zesten definiert werden könnte. Indessen kann in der Phänomenologie das
Wesen der objektiven Abstandlosigkeit des Werks nicht konkret hervortre¬
ten und selbst von den beiden Begriffen des subjektiven Abstands (Abstand
i78 Philosophie der Kunst

des Schaffenden als erlebendes Subjekt von den Objekten der gegebenen
Wirklichkeit und sein Abstand als schaffendes Subjekt von dem Werk) kann
nur der erste nicht nur konkret gemacht, sondern auch als in die normative
Distanz positiv verwandelt begriffen werden. Aus dem zweiten Begriff des
Abstandes können wir nur zu dem Begriff des Sprunges gelangen, der in
seiner gänzlich begriffenen Konkretheit zwar die Beziehung des Subjekts
zum Werk klarmacht, aber die Bedeutung dieser Beziehung für das Werk
selbst nicht aufzuhellen vermag, also für den Sinn des Werks nur eine nega¬
tive Klärung bietet. Weil nun der methodische Ort der Begreifbarkeit der
Gesinnung in und nach dem erreichten Werk liegt, ist ihr Wesen gerade
durch ihre Fähigkeit, die dort unbeantwortbaren Fragen zu lösen, bestimmt;
durch die Funktion der Gesinnung die objektive Abstandslosigkeit des
Werks konkretisiert und der subjektive Abstand des Schöpfers zum Werk
positiv umgedeutet werden kann (der Abstand zur Erlebniswirklichkeit
kommt auf dieser Stufe nicht mehr vor). Der Werksinn des subjektiven
Abstands bedeutet nun den Abstand zwischen Ausdrucksmittel und Aus¬
druck, der in die normative Distanz der fruchtbringenden Fiktion verwan¬
delt werden muß, und die objektive Abstandslosigkeit des Werks selbst
gewinnt einen konkreten Gehalt, wenn der utopische Maßstab der
Abstandslosigkeit sowohl seinem Inhalt und seiner Qualität nach, wie in
seiner Beziehung zu den Objekten, aus denen sich die utopische Wirklich¬
keit aufbaut, festgestellt werden kann. Diese letzte Einheit des konkret
gewordenen Werkes setzt eine Einheit der hervorbringenden Faktoren vor¬
aus (wenn diese dem phänomenologischen Subjekt auch transcendent ist):
die Gesinnung. Sie ist die Erlebniseinheit, in der die Ausdrucksmittel als
Wesenrevelationen des Auszudrückenden (als System der Aktualisierung),
die Objekte der Gestaltung als organisch eingeborene Glieder des Werk¬
ganzen und dieses selbst als utopische Einheit, Antwort und Erfüllung des
leidvollen Wirrsals, das sich kaum zur Frage ballen konnte, erscheinen. Fdier
handelt es sich nur um die Analyse der Gesinnung als Erlebniseinheit, die
den Abstand der Ausdrucksmittel vom Auszudrückenden überbrückt, indem
sie durch die formende Kraft ihrer Einheitlichkeit das in der Definition
geforderte System der Technik leistet. Denn die lebenerweckende Macht der
Technik, ihre Fähigkeit, den Abstand verschwinden zu lassen, verdankt sie
ihrem Systemsein und dem Erlebniskern dieses Systems. Ohne diese
emotional-systematische Einheit verharrt die Technik dem Stoff gegenüber
in einer vollkommenen Abstraktheit (Abstand zwischen Ausdrucksmittel
und Ausdruck): sie ist abstrakt den Elementen des Stoffes gegenüber, weil sie
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit i79

diesen eine ihnen wesensfremde Uniformität (Materialität der Technik) auf¬


zwingt, abstrakt ihren Beziehungen gegenüber, weil diese durch ihnen eben¬
falls wesenfremde technische Zusammenhänge ersetzt werden, und dem
Stoff als Ganzem gegenüber besitzt sie gar keine Möglichkeit des Ausdrucks.
Diese Abstraktheit der bloßen Technik, der wir in der Phänomenologie
mehrmals begegnet sind, wird von der Gesinnung als vereinheitlichende
Formumfassung der Technik aufgehoben, weil sie eine Stellungnahme zu
den — von der Technik umgrenzten und erschaffenen — möglichen Welten
ist; sie steht zu diesen Welten in einem ähnlichen Verhältnis wie der phäno¬
menologische »Standpunkt« zu den — auf dem Weg der Homogeneisierung
gewinnbaren - reingewordenen Komplexen der Erlebniswirklichkeit. Wäh¬
rend aber mit dem Setzen des »Standpunkts« nur die Idee und die Möglich¬
keit der Werkwelt vorweggenommen, nur eine, im Wesentlichen negative
Auswahl getroffen und das Positive von anderen Faktoren geleistet wird,
bezieht sich die Gesinnung direkt auf die Ausdrucksmittel. Sie faßt die
Technik als in sich geschlossenes und eine immanente Totalität schaffendes
System auf, dessen Einheit, Zusammenhang und Komplettheit nicht nur eine
bestimmte Richtung in der Affinität zum Auszudrückenden besitzt, sondern
auch in sich selbst die Möglichkeit zu einer bestimmten Stimmungs- und
Eindrucksqualität trägt. Dadurch steht ein System der Technik ihrem
Substrate - dem Stoff - gegenüber, und weil das System von einer konkreten
Ausdrucksqualität getragen wird und nicht bloß die abstrakte Einheit der
Aktualisierungsprinzipien überhaupt ist, kann es den Stoff, dessen Wesen im
Verhältnis zur Technik gerade in seiner Konkretheit besteht, entweder über¬
haupt nicht aktualisieren oder es wird als die einzig mögliche Realisation
seines innersten Wesens erscheinen.
Dieses Alternativverhältnis des technischen Systems zum Stoffe ist durch die
Struktur des Systems selbst bestimmt: weil das Prinzip der Einheit hier etwas
emotional Betontes ist, kann diese nicht die abstrakt-harmonische Zusam¬
menfügung aller möglichen technischen Elemente zu einem Systeme sein,

sondern ein hierarchisch gegliederter Aufbau, in dem die Ausdrucksqualität


des als zentral gesetzten Prinzips und sein ebenfalls hierarchisch determi¬
niertes Verhältnis zur Qualität der anderen möglichen Prinzipien, in
Auswahl und Gliederung eben von dem einheitschaffenden Erlebnis, von der
Gesinnung bestimmt wird. Daß diese Auswahl nur alternativ ist, d. h. daß
die Technik selbst als abstraktes System möglicher Aktualisierungen nicht
unzählbare mögliche Prinzipien, deren jedes zum Herrschen fähig und
deren Gesamtheit auf das jeweilig Zentrale in beliebig variable Beziehungen
180 Philosophie der Kunst

setzbar ist, zuläßt, folgt aus dem Begriff der Technik, der von zwei Postu-
laten bestimmt und umgrenzt wird: erstens daß die Technik einen Erschei¬
nungskomplex zur Totalität einer in sich vollendeten Welt aktualisiere und
zweitens daß dieser Prozeß sich in bezug aut ein bestimmtes, durch die
homogeneisierende Kraft des »Standpunkts« reingewordenes Autnahmeor-
gan vollziehe und der gestalteten Welt in dieser Relation eine vollkommene
Klarheit und Sinnfälligkeit verleihe. Aus dem Zusammenwirken beider
Postulate folgt, daß in der von der Technik aktualisierten Welt Erscheinung
und Wesen des Gestalteten zusammenfallen müssen, aber auch daß dieses
Zusammsnfallen ein fiktives ist: es setzt als Maxime der Technik die
Anschauung voraus, als ob die Aktualisierungsmittel der Technik (z. B. Linie
und Farbe in der Malerei) Eigenschaften der gestalteten Objekte — sowohl
ihrem Wesen, wie ihrer Erscheinung nach — wären. Weil nun das technische
System ein hierarchisches und auf ein Zentrum bezogenes ist, muß in ihm
einerseits entweder das Primat des Wesens, wobei den Erscheinungsfaktoren
die Rolle der notwendigen und adäquaten Accidenzen zukommt, oder das
Primat der Erscheinung, das dem Wesen die Bedeutung der aposteriorischen
Einheit von Erscheinungskomplexen zuschreibt, vorhanden sein und ande¬
rerseits muß jeder dieser möglichen Systemtypen auf das Primat eines
Aktualisierungsprinzips und auf sein hierarchisches Verhältnis zu den ande¬
ren gegründet werden. Die Alternative im rein technischen System ist die
Frage, ob diese Gestaltung durch die Umfassung die Dinghaftigkeit reali¬
siert (Priorität des Umrisses: lineare Gesinnung in der Malerei) oder ob sie
aus der gestalteten Ballung deren Grenzen herauswachsen läßt (Priorität der
Gestalt vor der Begrenzung: malerische Gesinnung). Diese Alternative fällt
mit der von Erscheinung und Wesen nicht zusammen, wenn es auch
unleugbar ist, daß Wesen und Umriß einerseits, und Erscheinung und
Gestaltspriorität andererseits eine gewisse Affinität zueinander haben; es
kann geradeso, um beim Beispiel der Malerei zu bleiben, eine malerische,
auf das Wesen gerichtete Gesinnung geben (Cezanne), wie eine mit dem
Mittel des Umrisses die Erscheinung suchende Gesinnung (linearer Impres¬
sionismus im Florentiner Quattrocento).
Alle d rei Paare der Alternative sind nicht durch die Idee der Technik selbst,
sondern durch ihre, von der Gesinnung zustande gebrachte Systematisation
bedingt, enthalten also in ihrem rein ästhetisch gefaßten Begriff nicht bloß
die einfache Faktizität der Geschichtlichkeit, sondern auch deren Notwen¬
digkeit und Logizität. Denn der Begriff der Gesinnung ist ein geschichtli¬
cher: er bezieht sich ja auf die Frage von Abstand und Abstandslosigkeit, auf
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit x 81

Qualität und Struktur der utopischen Wirklichkeit: die Gesinnung ist die aus
dem Wirrsal und dem Leiden an der Wirklichkeit zur Erlösung heimfin¬
dende Weltanschauung. Freilich ist sie dies bloß sub specie formae und
deshalb fiktiv: sie ist ein formales Schema für die Angemessenheit der Werk¬
welt an die Aufnahmeorgane, nicht aber eine Form, die irgendein objektives

Wesen der gegebenen Wirklichkeit treffen könnte. Dadurch ist aber der
Begriff der Gesinnung auch einer anderen Richtung nach bestimmt und
begrenzt: er bezieht sich nicht auf die Kunst schlechthin, sondern nur auf die
einzelnen Kunstformen. Fiedlers Satz, daß es keine Kunst, sondern nur
Künste gibt1, bewahrheitet sich auch hier: es ist zwar möglich aus dem
abstrakten Begriff der Kunst die rein formalen Elemente und die Bedin¬
gungen ihrer Realisierung in den einzelnen Kunstformen abzuleiten, diese
weisen aber, selbst in ihrer abstraktesten Formalität, auf die einzelnen
Künste als auf die eigentliche Bühne ihrer Verwirklichung, auf den natürli¬
chen Ort ihrer Begreifbarkeit hin. Die Tatsache jedoch, daß die einzelnen
Künste das originäre Element der Kunstbetrachtung sind, bedeutet dann
auch noch, daß die durch Analyse der Kunst gewonnenen Formungsprinzi¬
pien sich innerhalb jeder Kunstform verschieden zueinander verhalten:
wenn die Kunst als freischwebendes und in sich ruhendes Formgebilde defi¬
niert werden muß und wenn die einzelnen Kunstformen das konkrete Wesen
des Ästhetischen ausdrücken, so kann sich ihre Differentiation nur in der
Beziehungsqualität der einzelnen Formungselemente zueinander ausspre¬
chen; diese Qualität muß in jeder Kunstform verschieden sein und nur die
Tatsache, daß in diesen Formungen, wenn auch nur abstraktiv, dieselbe
Elemente und dieselben Elementar- und Möglichkeitsverhältnisse aufgefun¬
den werden können, garantiert, daß es überhaupt eine Einheit des Ästheti¬
schen, einen Begriff der Kunst gibt. Wenn wir also hier die Struktur dei von
der Gesinnung zum System organisierten Technik in bezug auf ihre
Geschichtlichkeit näher betrachten, so müssen wir betonen, daß es sich hier
nur um eine Analyse der abstrakten Möglichkeit handeln kann, das eigent¬
liche Feld dieser Analyse ist das System der Künste, wo jede einzelne Kunst¬
form auf die ihr allein zukommende, spezifische Qualität hin untersucht
wird, die die Relation der Formungsprinzipien zueinander in ihr aufnimmt;
diese Qualität, sowie der durch sie inhaltlich konkreter gewordene Begriff

[ i Uber den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit. Schriften über Kunst. Hrsg, von
H. Konnerth. München, Piper. 1913. Bd. 1. S. 185.]
182 Philosophie der Kunst

der Gesinnung bestimmen dann die Art der Geschichtlichkeit für jede
einzelne Kunstform - welche dann selbstredend für jede Form eine verschie¬
dene ist. Hier kann nur vom Prinzip, von der abstrakten Möglichkeit und
von den Grenzen dieses Verhältnisses die Rede sein.
Diese abstrakte Umrahmung der tatsächlichen historischen Typik bringt die
Variabilität der beiden Alternativen in der hierarchischen Gliederung des
technischen Systems zustande. Wie verschieden auch in jeder einzelnen
Kunstform die inhaltliche Erfüllung dieser Begriffe (Erscheinung und Wesen
etc.) sei, wie sehr diese Formen auch dadurch voneinander unterschieden
sind, ob in dem endgültig einheitlichen System der Technik die Gesinnungs¬
alternative vor der rein technischen das Primat hat (Drama) oder umgekehrt
(Malerei), wie sehr es auch die einzelnen Kunstformen voneinander trennt,
welche Qualität den hierarchisch untergeordneten Elementen im Verhältnis
zu den herrschenden zukommt, so ergibt sich aus dem unlösbaren Zusam¬
menwirken der beiden Alternativpaare doch nur eine viergliedrige Typik als
Schema der möglichen Variabilität: Primat des Wesens mit der Alternative
der technischen Vorherrschaft des Umrisses oder des Aufbaus von innen
heraus und Primat der Erscheinung, mit derselben Alternative in der
weiteren Gliederung. Diese Typik ist in ihrem innersten Wesen geschicht¬
lich: während in der Typik des Materials der abstrakte Begriff der Gesin¬
nung nur als Prinzip der Differentiation überhaupt mit den rein ästhetischen
Prinzipien in Berührung trat und dadurch die Typik überhistorisch-abstrakt,
ihre tatsächliche Verwirklichung geschichtlich-irrationell wurde, ist hier die
Gesinnung nicht nur das formende Element dieses Systems, sondern auch an
und für sich eine konkrete, von Inhalten erfüllte Form, weshalb die durch sie
hervorgebrachte Typik zugleich und in unzertrennbarer Weise geschichtlich
und zeitlos ist. Ihre Zeitlosigkeit ist jedoch nicht mehr —wie in der Typik des
Materials — ein abstrakter Rahmen der Verwirklichung, der deshalb dem
immer »Neuen« der tatsächlichen Verwirklichungen gleichgültig gegen¬
übersteht, sondern der die Vollendung der Gestaltung garantierende
Gesichtspunkt, der ganz dasselbe umfaßt wie der - die Konkretheit der
Gestaltung begründende — Gesichtspunkt der Historizität. Das Kunstwerk
ist das Zeitlos-werden eines ganz bestimmten Zeitmoments: diese Eigen¬
schaft des ästhetischen Werts wird hier begreiflich. Die Idee des Kunstwerks
(worunter jetzt die der einzelnen Kunstform zu verstehen ist) umfaßt in
ihrer zeitlosen Wesenheit jede Möglichkeit ihres Erscheinung-werdens in
dem geschichtlichen Ablauf; sie wählt, so könnte man sagen, von allen
möglichen Erlebnisformen, die in unbegrenzter Variabilität stets als »neue«
Geschichtlichkeit und Treulosigkeit 183

in dem historischen Prozeß auttreten, diejenige, als allein für sie relevante,
aus, die den Anforderungen dieser Typik gemäß sind. Diese verlieren
dadurch keineswegs ihren historisch-»neuen«, einmaligen und unvergleich¬
baren Charakter — bekommen aber zugleich damit den Accent: von Ewig¬
keit her für das Zeitloswerden in der ihnen angemessenen Kunstform präde¬
stiniert gewesen zu sein. Da es sich hier um das Verhältnis von Formen
zueinander handelt, kann die Fragestellung zweiseitig sein. Es können
erstens die Erlebnisformen einer Zeit (unabhängig von der Kunst gedacht)
analysiert und typisiert werden, um dann zu fragen: welchen von den Kunst¬
formen vorgeschriebenen Gesinnungen diese Erlebnisformen entsprechen
und inwiefern sie auf eine bestimmte Kunstform hinweisen: welchem der
dort möglichen Typen sie angehören und welche qualitative Variation sie
innerhalb dieser Typik hervorrufen? Es kann also historisch-soziologisch
nach der Möglichkeit der Verwirklichung der verschiedenen Kunstformen
und ihrer Typik gefragt werden, und es können »Bedingungsgesetze« aufge¬
funden werden, unter welchen historisch-soziologischen Voraussetzungen
gewisse Kunstformen (oder gewisse Gesinnungstypen innerhalb der Kunst¬
formen) möglich sind etc. Es kann aber von dieser Typologie der Gesinnung
aus auch nach den Bedingungen der Realisation gefragt werden. Es ist
möglich, vom Begriff einer Kunstform ausgehend, die Möglichkeiten der
Gesinnungen zu untersuchen, die die Systematisation und damit die
Konkretheit ihrer Technik zu leisten fähig sind, um von dort aus bei den
soziologisch-historischen Formen anzukommsn, von denen diese Gesinnun¬
gen abhängig sind. Eine Soziologie der Kunst, d. h. eine Lehre von den
Verwirklichungsmöglichkeiten der Kunstformen, das Auffinden von Gesetz¬
mäßigkeiten in der historischen Realisation des ästhetischen Wertes, ist also,
wenigstens als Denkmöglichkeit, nicht abzuweisen, ja sie ist als Bedingung
einer wirklichen und konkreten Erkenntnis des Komplexes: Kunst ein unab-
weisliches Postulat geworden. Allerdings setzt diese Soziologie ein vollende¬
tes System der Künste und die darin erkannte Struktur jeder einzelnen
Kunstform voraus.
Die »Gesetze« dieser Soziologie sind freilich negativ: Bedingungsgesetze;
sie können nur über die Möglichkeiten der Verwirklichung etwas aussagen,
nicht aber über die Verwirklichung selbst; sie können nur feststellen, welche

Gesinnungen, als Formen des Erlebnisses, da sein müssen, damit gewisse

Kunstformen realisiert werden können — ob diese aber selbst bei Vorhanden¬


sein dieser Gesinnungen sich tatsächlich realisieren werden oder nicht, das
kann natürlich in diesen Gesetzen nie ausgesprochen, noch je aus ihnen
184 Philosophie der Kunst

gefolgert werden. Die eigentümliche Struktur dieser Gesetze ist, daß sie
zugleich eine Norm und einen funktionellen Zusammenhang, keineswegs
aber ein Kausalverhältnis enthalten. Die Beziehung der Gesinnung als
Werkelement zu der Gesinnung als historisch-soziologischer Erlebnisform
ist eine normative: es wird von der Kunstform als ästhetischer Norm aus das
ihr entsprechende Sollen der Gesinnung gegenüber ausgesprochen, dem
Normcharakter dieser Beziehung entsprechend, ganz unabhängig davon, ob
in der Gesinnung die Möglichkeit der Realisation des Sollens enthalten ist.
Wenn hingegen von der historisch-soziologischen Wesenheit der Gesinnung
aus nach ihrer Relation zu den Kunstformen, welche für diese Betrachtung
unantastbare, von anderen Begriffsbildungen logisierte »Tatsachen« sind,
gefragt wird, so ergibt sich ein funktioneller Zusammenhang: es werden
miteinander homogene Formgruppen aufgefunden und es kann festgestellt
werden daß die eine nicht nur die unerläßliche Bedingung der anderen ist,
sondern auch, daß bestimmten feststellbaren qualitativen Änderungen in der
einen Gruppe ebenfalls feststellbare, mit ihnen gesetzmäßig zusammenhän¬
gende qualitative Änderungen in der anderen entsprechen. Damit ist aber
über Verursachung garnichts ausgesagt; nicht nur weil das Werk dann als
Produkt der Bedingungen erscheinen müßte, was es evidenterweise nicht ist,
auch nicht weil, wenn eine Kausalbeziehung da wäre, das Werk jedesmal
entstehen müßte, wenn die Bedingungen gegeben sind und keine Hemmung,
deren Typik aber dann auch auffindbar wäre, der Verwirklichung entgegen¬
tritt, sondern weil die Werkelemente, die zu den soziologischen Formen in
eine funktionelle Beziehung kommen, selbst nur Bedingungen der Realisa¬
tion des Werks und Bestimmungsprinzipien seiner Qualität sind, aber das
Werk selbst weder vollkommen zu konstituieren, noch hervorzubringen ver¬
mögen. Die Möglichkeit des Funktionsverhältnisses, daß beide Formgrup¬
pen einander homogen sind, stammt ja gerade daraus, daß beide Bedin¬
gungen der Verwirklichung, nicht aber diese selbst oder deren Ursache sind.
Daß d ie die Technik systematisierende Gesinnung den vollzogenen Sprung
voraussetzt und deshalb in sich birgt, gibt diesem Verhältnis ein einzigartiges
Cachet: trotz dieser Homogeneität und ohne Aufhebung derselben trennt
diese Beziehung zum Sprung die beiden Gruppen doch dem Wesen nach
voneinander. Dieser Unterschied ist das Bezogensein auf die Norm, das
Enthalten der Wertrealisation, woraus sich eine von der Norm aus begrenzte
und typisierte Möglichkeit der Variabilität ergibt, die für die andere, bloß
historisch bestimmte Gruppe nicht besteht; sonst sind die beiden Form¬
gruppen jedoch einander völlig homogen. Das Eigentümliche dieses Funk-
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 185

tionsverhältnisses ist nun erstens, daß es bloß einseitig ist, d. h. das rein
Ästhetische ist eine Funktion des Soziologischen - aber nicht umgekehrt;
zweitens daß der funktionelle Zusammenhang eine parallele und begreif¬
bare Qualitäts- und nicht Quantitätsänderung bei den Gliedern der Funk¬
tion bedeutet; drittens daß nicht jeder Veränderung im historisch-soziologi¬
schen Formkomplex eine Variation in der Werkgesinnung entsprechen muß.
Hier offenbart sich am stärksten der Gesetzescharakter dieses Verhältnisses:
es ist — unter den angegebenen Voraussetzungen - möglich, Aussagen von
restloser Allgemeingültigkeit darüber zu fällen, welche historisch-soziolo¬
gisch erkannten Erlebnisformen (und in Zusammenhang mit ihnen: welche
historisch-soziologischen Konstellationen überhaupt) die Realisation einer
bestimmten Kunstform, die Systematisation ihrer Technik ermöglichend,
zulassen und welche nicht. Es sind also — negative — Gesetze über die Entste¬
hungsbedingungen der einzelnen Kunstformen möglich, die aber unter kei¬
nen Umständen weder als Gesetze der Hervorbringung der Kunstform
gefaßt, noch als Bedingungsgesetze der Kunst überhaupt generalisiert wer¬
den dürfen. Es gibt also eine Soziologie der Künste, aber weder eine soziolo¬
gische Entwicklungsgeschichte der Künste, noch eine Soziologie der Kunst.
Diese negativen Bedingungsgesetze, die eigentlich nur die zuerst betonte
Alternative, die aus dem qualitativen Wesen der Technik folgt, daß sie
nämlich als System den Stoff entweder adäquat oder überhaupt nicht zu
gestalten vermag, anders aussprechen, leiten zu der zweiten, hier zu untersu¬
chenden Formbeziehung, zu der von Stoff und Aufgabe über. Die struktu¬
relle Eigenart des Stoffes ist - wie wir wissen - dadurch bestimmt, daß er, der
als Substrat der Technik seine Werkbedeutung erlangt, zur Einheit doch erst
durch seinen Formcharakter wird: die Einheit, die der Stoff als Summe und
Komplex der auszudrückenden und ausdriickbaren Inhalte besitzt, erhält er
von der Erlebnismaterie, die er als Form umfaßt, von der Aufgabe. Die
Aufgabe bedeutet also die den zu Stoff werdenden Erlebnisinhalten imma¬
nent eigene Ballungsintensität, ihre Hinneigung zum Geformtwerden, ihre
Eignung schon als Erlebnisse zur Bearbeitbarkeit durch künstlerische For¬
men: sie ist also eine Erlebnisform, ln der Phänomenologie wurde schon
mehrmals auf diese Beziehung hingewiesen: nicht nur in der beim Genie, als
Postulat der Möglichkeit des Werks, abgeleiteten harmonia praestabilita von
Erlebnisform und technischer Form ist diese Beziehung implicite enthalten,
sondern sie konkretisiert sich auch zu dem phänomenologischen Begriff der
Dissonanz. Da aber die Aufgabe eine Voraussetzungskategorie der nachkon¬
struktiven Psychologie ist und deshalb den Sprung als bereits vollzogen
186 Philosophie der Kunst

voraussetzt, ist ihr Wesen von dem der Dissonanz — ihrer phänomenologi¬
schen Parallele — geradeso verschieden, wie das Wesen der Gesinnung von
dem des »Standpunkts« verschieden ist. Die Differenz zeigt sich natürlich
hier wie dort in der weit engeren beziehung zum Werk: so wie der »Stand¬
punkt«, ist auch die Dissonanz wesentlich ein ordnendes Aprion der Erleb¬
niselemente, nach dessen Leistung erst (begrifflich gesprochen) die eigent¬
liche künstlerische Tätigkeit beginnen kann, während im Begriff der
Aufgabe selbst diese Leistung gewissermaßen schon enthalten ist. Jedoch —
und hier zeigt sich das inhaltlich Verschiedene dieser Beziehung von der
früheren als Lolge der Strukturdifferenz — die Leistung ist hier nur bis zu
einem gewissen Grade miteinbegriffen, da ja selbst die werkgewordene
Objektivität der Aufgabe, ihr Geformtsein durch den Stoff, nur das Substrat
der Formung ist, also bloß deren Möglichkeit. Die Dissonanz ist die Zusam¬
menfassung der Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt des bejahten Wider¬
sinnes, auf welcher Bejahung die Form beruht, und sie weist infolge dieses
ihres Wesens nicht auf die Kunst im Allgemeinen, sondern auf die einzelnen
Kunstarten hin, denn der Begriff des Widersinns bedingt die Konkretheit
seines Inhalts, er kann nur als bestimmter Widersinn, mithin als Möglichkeit
einer bestimmten Kunstart gedacht werden. Die Dissonanz ist deshalb das
principium specificationis der Kunst. Sie ist jedoch nur in dieser einen Bezie¬
hung richtungweisend: sie gibt die Punkte an, von welchen aus die künstleri¬
sche Tätigkeit einsetzen muß, welche aus dem allgemeinen Begriff der Kunst
sonst nicht ableitbar wären; sie durchdringt die Erlebniselemente mit der
doppelseitigen Unzertrennbarkeit von Sinn und Sein, wodurch erst die vom
»Standpunkt« aus geleistete Homogeneität der Erlebnisse für das Werk
fruchtbar werden kann, aber das konkrete Weitergehen auf das Werk selbst
kann in ihr nicht enthalten sein. Dieses Konkrete, Richtungweisende ist das
Wesen der Aufgabe: sie ist die erlebte Essenz dessen, was zu erfüllen die
Werke geschaffen werden, der Gehalt, der sich in der Einheit von Sinn und
Widersinn ausspricht, die erlebnishafte Vorwegnahme des utopischen Werk¬
weltinhaltes. Dadurch scheint der Begriff der Aufgabe sowohl dem der
Vision, wie dem des (receptiv-phänomenologischen) Leidens an der empiri¬
schen Wirklichkeit nahe zu kommen; von dem ersten trennt ihn jedoch, daß
er nicht eine subjektive Wirklichkeit ist wie die Vision, sondern ein objek¬
tives Postulat der Wirklichkeit gegenüber; von dem zweiten, daß er auf die
konkrete Erfüllung hindeutet und nicht bei dem bloßen Leiden oder der
Sehnsucht stehen bleibt. (Eine Verwandtschaft zwischen Aufgabe und recep-
tiver Sehnsucht ist indessen vorhanden, nur kann ihre Analyse erst später
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 187

aufgenommen werden; hier muß der Hinweis genügen, daß in der Aufgabe
eine nachkonstruktive und dementsprechend konkretere Parallele zu der
phänomenologischen Kontrollrolle, die der Begriff des idealen Receptiven
für den Schaffenden ausübt, vorliegt.)
Die Bestimmung der Aufgabe als objektives Postulat der Wirklichkeit
gegenüber bedeutet vor allem, daß hier der Punkt ist, wo sich das Problem
der »Einbeziehung« zu entscheiden hat. Bisher konnte diese Frage nur auf
die Möglichkeit ihrer Beantwortung hin untersucht werden (in bezug auf die
Ausdrucksfähigkeit des Materials), daß aber die Kunst überhaupt vor diese
Aufgabe gestellt wird, erschien bloß als Tatsache, denn ihr notwendiges
Auftauchen in der Phänomenologie bedeutet noch keine Notwendigkeit für
den Werksinn. Die Aufgabe kann aber als der Punkt bezeichnet werden, wo
Künstlerisches und Außerkünstlerisches sich treffen, wo das Lebenselement,
dessen »Einbeziehung« dem Werk den Wirklichkeitscharakter verleiht, als
Postulat dem Leben gegenüber auftritt. Der Inhalt dieses Postulats ist außer¬
künstlerisch: es wird ein Gebilde erfordert, in dem die Wirklichkeit, die
bereits auf die von der Dissonanz geschaffene Homogeneität eingestellt ist,
sich als sinnesdurchdrungen erweist; es wird eine Antwort auf Fragen gefor¬
dert, die das Leben stellt, auf Fragen, die — an und für sich — gar nichts mit
Kunst zu tun haben und selbst die Richtung, von der aus sie gestellt werden,
ist mit der der Kunst nicht identisch; man denke daran, wie die Tragödie
ideell als aus dem Postulat entstanden gedacht werden kann, für eine Schick¬
salsbeziehung, eine Beziehung ethischer Verhaltungsarten zueinander und
zu dem Weltlauf eine Klärung zu bringen. Die Objektivität dieses Postulats
ist aber rein künstlerisch: die Beantwortbarkeit der hier gestellten Fragen ist
an die künstlerische Stilisierungsmöglichkeit geknüpft, und deshalb werden
die Formen der Künste hier inhaltlich bestimmende Faktoren für Lebenspro¬
bleme; wie sehr auch die »Aufgabe«, vor die die Tragödie gestellt ist, ethi¬
scher oder metaphysischer Natur sei, ihre Lösungsmöglichkeit — auch ethisch
und metaphysisch — hängt von den Formen ab, die sie — nach rein immanent
ästhetischen Prinzipien — zu objektivieren fähig und berufen sind. (Man
denke auch an die Beziehung von Architektur und Religion.) Auch in der
Dissonanz liegt ein ähnliches Verhältnis des ästhetischen Prinzips zum
außerästhetischen vor; während aber dort nur das allerletzte Prinzip der
Form, der Punkt, von welchem aus die einzelnen Formen sich differenzieren,
als Einheit der beiden erscheint, indem eine — außerästhetische, lebenhafte,
weltanschauungsartige — Betrachtungsweise zum tiefsten Grund künstleri¬
scher Gestaltung wird, erscheint hier die ganze Fülle des zu Gestaltenden,
188 Philosophie der Kunst

mit seiner eingeborenen Hinneigung zu den gestaltenden Formen, zur Tech¬


nik, als aus dem Außerkünstlerischen geboren und in der Kunst seine
Lösung, zu der es aus nicht künstlerischer Sehnsucht getrieben war und die
es nicht in der Kunst als Kunst suchte, zu finden. Darum bezieht sich .die
Dissonanz einerseits nur auf die Erlebniselemente, andererseits nur aul das
letzte, metaphysische Prinzip der jeweiligen Kunstform (Tod in der Tragö¬
die) und vereinigt beide nur abstrakt, denn vor der konkreten Vereinigung
steht der Sprung, zwischen den beiden postulierten Einheiten steht ihre
erreichte Einheit: das Werk. Die Aufgabe ist unlöslicher mit dem Werk
verknüpft, gerade weil sie radikaler an das Außerkünstlerische gebunden ist:
sie setzt den Sprung als bereits vollzogen voraus und bezieht sich auf die
Erlebniselemente als auf Substrate der künstlerischen Gestaltung, auf die
Formen der Künste als Ausdrucksmöglichkeiten der Lebensinhalte (Konflikt
in der Tragödie). Durch diese Doppeltheit ist das Wesen der Aufgabe am
deutlichsten gekennzeichnet: einerseits nimmt sie die Essenz des Werks
vorweg, sie tut es aber, indem sie alles, was an dem Werk nicht rein künstle¬
risch ist, als Forderung der Wirklichkeit gegenüberstellt und andererseits
bezieht sie sich gerade auf das innerlichste und detailliertest Künstlerische im
Werk: auf Aufbau, Gliederung etc., hier aber auch von dem Nicht-Künstle¬
rischen ausgehend und das Künstlerische nur als Regulativ, implizite und
unausgesprochen in sich bergend. Dieses Zentrum, wo alles »Einbezogene«
der wirksamen, jedoch nicht wahrnehmbaren Form begegnet und mit ihr
eins wird, ist den anderen Erlebnisssen, denen gegenüber es die Funktion des
Ballens und des Ordnens hat, völlig homogen; es kann also in ihnen ein
Intendieren auf den Stoff zustande bringen, ohne sie deshalb ihrer Unmittel¬
barkeit und hiermit ihres Erlebnischarakters zu entkleiden. Was hier
entsteht, ist deshalb weder ein System, noch eine Formung der Erlebnisele¬
mente nach irgendwelchen ihnen fremden Prinzipien, sondern ein immanent
und organisch geordneter Komplex von Erlebnissen, der sich zwar der
übrigen Erlebnismasse gegenüber absondert, weil er als Postulat der Lösung
bestimmter Fragen auftritt und damit Auswahl, Ausscheidung und Anzie¬
hung unter ihnen vornimmt, sich aber nur durch die Qualität und Intensität
dieser Ballung, also nur relativ und mit gleitenden Grenzen von ihnen
abhebt. So erscheint hier das phänomenologische Erlebnis sub specie formae,
die harmonia praestabilita von Erlebnisform und technischer Form, gerade
von ihrer Erlebnisseite aus betrachtet, objektiviert und auf ihre Logizität des
Werksinnes gebracht. Indem nun die hier verborgene, nur regulativ wirk¬
same Form bewußt, das heimliche Intendieren auf die Form offenbar wird,
entsteht der Stoff.
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 189

Die hier erreichte Formung der Erlebnisse wird von einer anderen, wesentli¬
cher künstlerischen Form umspannt, wodurch die Einheit des außerkünstle¬
rischen Bedürfnisses mit den Erfordernissen der künstlerischen Formen zum
absoluten Gleichgewicht gebracht wird: während für die Aufgabe das
Außerkünstlerische primär und die Beziehung zur Kunstform nur implizite
vorhanden war, während für die eigentlichst künstlerischen Formungsprin-
zipien das Außerkünstlerische nur die Rolle eines Vorwands zum immanent
künstlerischen Gestalten spielt und nur eine Bereicherung und Erschwerung,
nur ein Substrat, aber nichts Gleichwertiges ist, ist der Stoff gerade der Teil
des ästhetischen Komplexes, wo diese beiden Elemente sich vollständig und
als ebenbürtige Bestandteile balancieren. Dadurch ist die Beziehung des
Stoffes zur Aufgabe, die wir von der formellen Seite als die von Umfassung
und Umfaßtem erkannt haben, näher bestimmt: infolge dieses Gleichge¬
wichtverhältnisses verliert der Stoff die scharfe und schroffe Selbständigkeit,
die die Aufgabe besitzt. Diese hat als Vorwegnahme der Werkessenz, in der
Prävalenz des Außerkünstlerischen ein so starkes Eigenleben, das sich fast
mit dem des Werks selbst vergleichen läßt, indem sie, als Postulat vor Werk
und Wirklichkeit stehend, beiden gegenüber auf sich zu beruhen scheint.
Dagegen macht das Ausgeglichensein der beiden Prinzipien den Stoff
physiognomielos, passiv, ohne Eigenleben: sein Wesen ist Substrat zu
werden; seine Tat ist, das zu Formende — ohne die Leistung der Technik
vorwegzunehmsn — in einen Aggregatzustand zu bringen, aus dem die
Werkwirklichkeit nur herauszulösen ist, in dem alles zu Schaffende
vorhanden ist, dem nur die ordnende Fiierarchie der utopischen Wirklich¬
keit, die Werkbeziehung des Künstlerischen zum Außerkünstlerischen, mit
allen seinen Verzweigungen, zur erreichten Vollendung fehlt. Der Stoff ist
alles für das Werk: denn in der Technik wird nur sein Wesen laut und diese
tut nichts Neues hinzu, läßt nur diesen laut werden; der Stoff ist nichts in
dem Werk: denn dieses baut sich auf die Selbstherrlichkeit der schaffenden
Formen auf, für die alles zu Schaffende nur ein Vorwand, nur eine Gelegen¬
heit ist, um ein in sich fertiges System ihrer Eigengesetzlichkeit aufleuchten
zu lassen, für die ein Stoff nur deshalb notwendig ist, weil ihre Offenbarung,
auf deren immanente Vollendung alles ankommt, eben irgendeiner Gele¬
genheit, eines Vorwandes bedarf. Daß diese paradoxe Rolle des Stoffes mit
seiner paradoxen Struktur — daß er durch seine formende Funktion zum
Substrat wird — eng zusammenhängt, ist hiermit deutlich geworden und es
ist jetzt auch wohl verständlich, warum das Richtungbestimmende des
Stoffes als Form nicht in ihm selbst, sondern in dem von ihm Geformten, in
190 Philosophie der Kunst

der Aufgabe liegen muß: die Entfernung vom »Leben« bei Beibehaltung, ja
Steigerung der Lebensfülle kann nur diese doppelte Formung hervorbringen
und garantieren, wo sich — vom Standpunkt des Schaffenden ausgedrückt —
das sub specie tormae erlebende Subjekt in den reinen Künstler, den Artifex,
und die harmonia praestabilita der Erlebnisform und der Werkform in die
von Stoff und Form verwandelt, wo jede Lebensnähe des Künstlers aufhört,
um ihn zum reinen Vollstrecker ästhetischer Werkgesetzlichkeiten zu
machen; wo — vom objektiven Werksinn aus gesprochen — die Immanenz des
Werks zur Wirksamkeit erwacht und jeden Faden, der es mit dem gebä¬
renden Leben verband, zerschneidet. Der Stoff ist der Punkt, wo Werk und
Leben sich am schroffsten voneinander abheben; gerade weil der Stoff —
inhaltlich — nichts enthalten kann als was aus dem Leben, im weitesten Sinn,
entnommen ist, hat er seinem Wesen nach, in seiner Substrat-Struktur, nichts
mehr mit dem Leben gemein: die Aufgabe wies noch, als Postulat, auf das
Leben hin (geradeso wie die Gesinnung aus ihm aufzusteigen schien), den
Stoff können — eben infolge seiner Passivität und Physiognomielosigkeit —
nur die schaffenden Formen der Kunst (die geradeso lebensfremde Technik)
berühren. Freilich offenbart sich an diesem Punkte wieder die aus den
Begriffen der harmonia praestabilita folgende Paradoxie des Genies, für das
der Stoff alles und nichts ist, aber beides zugleich und in einer nicht mehr
zertrennbaren Weise; für den Dilettanten ist der Stoff alles — und seine
Leistung fällt kraftlos und ohne eine eigene Immanenz zu erlangen ins
Leben zurück; für den Virtuosen ist der Stoff nichts — und was er zu voll¬
bringen meint, zerflattert in Nichts infolge seiner wesensleeren Immanenz.
Daß die Aufgabe ihrem innersten Wesen nach historisch ist, braucht vermut¬
lich nunmehr nicht bewiesen zu werden: so wie ihre Objektivität sich auf die
konkreten einzelnen Kunstformen bezog, so bezieht sich ihr Postulats¬
charakter dem Leben gegenüber auf das Konkrete des Lebens: auf die
unmittelbare historische Wirklichkeit. In der Aufgabe objektiviert sich die
spezifische Gestaltungssehnsucht des Zeitpunkts: das »Neue« am Kunst¬
werk; und dieses »Neue« wird infolge der strukturellen Beziehung der
Aufgabe zum Stoff — ohne etwas von seiner Wesensart zu verlieren oder sich
in dieser Ffinsicht abzuschwächen — zum Bestandteil des Stoffes. Im Gegen¬
satz zu der Formgruppe Technik-Gesinnung, die, wie wir sahen, teils eine
normativ- geschichtsphilosophische, teils eine soziologische (also mit Rickert
gesprochen: relativ historische) Struktur aufwies, kommen wir hier in das
Gebiet des rein Historischen. Und diese geschichtliche Umspannung der
Kunst ist hier so stark, daß selbst die konkrete Alleingültigkeit der einzelnen
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 191

Kunstarten von ihr erschüttert zu werden scheint. Indem nämlich die


Aufgabe aus den Nöten und Wünschen, aus den Hoffnungen und Entbeh¬
rungen einer Zeit ein Postulat der Erfüllung formt, muß sie zwar — um erfüllt
werden zu können - auf das einzig konkrete Vehikel der Realisation, auf die
einzelne Kunstart hinweisen, sie stammt aber aus einem Lebenskomplex, der
weiter und umfassender ist als jede einzelne Kunstart, der auf die Gesamt¬
heit der ausdrückbaren Inhalte, auf die Kunst selbst hinweist und die
Aufgabe trägt den Stempel dieses Komplexes in diese Beziehung hinein und
drückt ihn hiermit auch dem Stoffe auf. Wenn dieser gemeinsame Lebens¬
grund auch sogleich von der Möglichkeit der Realisation modifiziert wird,
da die Aufgabe sich als Aufgabe nur schon in Beziehung auf die einzelnen
Kunstarten konstituieren kann, so behält er doch eine konkrete Essenz: es
wird in dem »Neuen«, das ein Zeitalter zum Ausdruck zu bringen hat,
immer etwas Gemeinsames, über die Differenzierung in den Künsten
Hinausweisendes und der Kunst doch nicht völlig Fremdes erhalten bleiben.
Dieser gemeinsame Lebensgrund, aus dem die Künste emporsteigen, der der
Erkenntnisgrund und das Erkenntnisobjekt jeder kulturgeschichtlichen
Betrachtung der Kunst ist, erweist sich hiermit mit dem Wesen der Kunst
normativ verbunden, und dadurch scheint das Problematische dieser
Betrachtungsweise und der aus ihr gewonnenen Methode, daß nämlich die
Kunst in ihr völlig heterogene Begriffsbildungen eingefügt werden sollte, zu
verschwinden: wenn es möglich ist, diesen über die Differenzierung in den
einzelnen Kunstformen hinausweisenden Lebensgrund nicht nur an und für
sich zu begreifen, sondern auch die Logizität seiner verschiedenartigen Rela¬
tionen zu den verschiedenen Kunstarten zu erkennen (welche Zusammen¬
hänge darum nicht unbedingt die Gesetzesstruktur haben müssen), so ist eine
kulturgeschichtliche Behandlung der Kunst ohne innere Problematik mög¬
lich.
Diese Möglichkeit ist jedoch aus zwei Gründen zu bestreiten. Erstens weil
die Differentiation des Lebensgefühls, des allgemein »Neuen« nicht aus
diesem Komplex selbst heraus geschehen kann, sondern bloß aus den imma¬
nenten Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Formen, so daß die hier entste¬
hende geschichtliche Begriffsbildung in dem Moment, wo sie über das Allge¬
meinste hinausgehen und das eigentlich Historische, die Einzelerscheinun¬
gen, ergreifen wollte, bei fremden (übergeschichtlichen oder relativ histori¬
schen) Begriffsbildungen Anleihen zu machen gezwungen wäre; wodurch es
ihr unmöglich gemacht wird, hier ein homogen historisches Weltbild aufzu¬
bauen. Zweitens weil dieser Lebensgrund nirgends unmittelbar gegeben ist;
192 Philosophie der Kunst

wenn er auch in der methodischen Deduktion als unmittelbarste Wirklich¬


keit aufgezeigt und in dieser Notwendigkeit begriffen werden konnte, so
kann er doch nur in den konkreten Einzelerscheinungen, den Kunstwerken,
als ein allen gemeinsames Zentrum intuitiv erfaßt oder aus ihnen abgeleitet
werden. Die Möglichkeit dieses Erfassens setzt aber ein Dbersehen des
Spezifischen an der Kunstform voraus: die Auffassung der Kunst als
adäquaten Ausdruck eines Lebensgefühls, das Vorbeigehen an dem Mißver¬
ständnis. Dieser Problematik, die aus der paradoxen Bedeutung des Stoffes
für die Werkstruktur — daß er sowohl alles wie nichts für das Werk bedeutet —
folgt, muß jede historische Betrachtung, die vom Stoff oder seiner Bezie¬
hung zur Aufgabe ausgeht, verfallen. Denn die zweite hier aufgezeigte Para¬
doxie ist nicht nur für eine allgemein kulturgeschichtliche Betrachtung der
Kunst unüberwindlich, sondern auch für die Geschichte der einzelnen
Kunstarten, soweit sie in ihrer Begriffsbildung dem Stoff eine konstitutive
Bedeutung zumißt. Dazu ist jedoch jede rein historische Kunstbetrachtung
methodisch gezwungen, denn — wie wir sahen ist gerade hier der Ort, wo
das eigentlich Historische mit dem Wesen der Kunst in eine normative
Berührung kommt. Damit zeigt sich, daß die Neigung vieler Kunsthistori¬
ker, den Stoff der Kunst zum methodischen Ausgangspunkt zu wählen oder
ihm eine zentrale Stelle in der Gestaltung des geschichtlichen Ablaufs zuzu¬
weisen, aus dem notwendigen Verhältnis des Historikers par excellence zum
Faktum der Kunst folgt und nicht aus seinem Mangel an ästhetischem Sinn,
wie es leicht ausgelegt werden könnte und oft auch ausgelegt geworden ist.
Denn jede rein ästhetische Kunstbetrachtung wird einem Ahistorismus
zuneigen: sind doch die formalen Elemente des Werks (Technik etc.) mit
dem eigentlich Historischen in keine normative Verbindung zu setzen und
ihre Analyse wird entweder einer ungeschichthchen Betrachtung zustreben
(Fiedler-Hildebrand) oder einer soziologisch-geschichtsphilosophischen, re¬
lativ historischen Typik (Riegl, Wickhoff, Worringer etc.).
Die methodische Paradoxie jeder Kunstgeschichte konzentriert sich also um
das Problem, daß ihr als Erkenntnisobjekt etwas adäquat Unerkennbares
zugemessen ist. Der Stoff und mit ihm die Aufgabe können nur dann ästhe¬
tisch (und hiermit kunsthistorisch) relevant werden, wenn an ihnen die
gestaltende Arbeit der Formen vollzogen wurde, wenn ihre Wirkung
— normativ — eine inadäquate, das gewollte und gesollte Mißverständnis
geworden ist. Dieses Verhältnis ist in seiner Allgemeinheit für die Ästhetik

strukturell erkennbar und damit ist der Begriff des Stoffes unabhängig von
seiner Bearbeitung auffindbar; seine Erkenntnis im Konkreten, seine Isolie-
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 193

rung im einzelnen Kunstwerk ist wegen des öfters analysierten Dilemmas


von Unmittelbarkeit und Eindeutigkeit, wegen seiner Consequenz, dem
Mißverständnis, nur als Postulat aufstellbar, dessen Erfüllung jedoch a priori
unmöglich ist. Der Stoff ist nicht adäquat erkennbar. Der Künstler hat die
adäquate — schöpferische, aber nicht erkennende — Haltung zu ihm als
Substrat seiner gestaltenden Tätigkeit; der Genießende kommt in die
normative Position der Ergriffenheit dem gestalteten Stoffe — dem Gehalt —
gegenüber, ohne daß dieses Problem für ihn auch nur auftauchen müßte. Der
Historiker müßte einen adäquaten und erkennenden Gesichtspunkt zum
Stoffe finden, den es nicht gibt noch geben kann, weil er dazu das — unüber¬
windbare — Mißverständnis überwinden müßte. Für den Künstler, in dessen
Typologie das Mißverständnis seine normativ vorgeschriebene Stelle findet,
ist der Stoff zugleich alles und nichts; sein Verhältnis zum Stoff ist eine
Aufhebung des Widerspruchs, eine coincidentia oppositorum, eine Parado¬
xie, aber kein Dilemma. Für das erkennende Verhalten des Historikers gibt
es ein Dilemma - und ein Compromiß. Entweder ist der Stoff für ihn alles
und seine Gestaltung wird zur Kulturgeschichte oder kulturhistorischen
Geschichtsphilosophie hinneigen (Burckhardt), oder der Stoff ist für ihn
nichts und er muß notwendigerweise zur Ästhetik transcendieren (Wölftlin).
Zumeist wird eine Vereinigung beider Tendenzen gesucht, wobei jedoch
höchstens eine individuelle, quasi-künstlerische Synthese, nicht aber eine
einheitliche Begriffsbildung gewonnen werden kann. (Über die Problematik
eines anderen Auswegs, der monographisch-geschichtlichen Fassung, die die
Synthese in der Persönlichkeit des Künstlers und in dessen Erkenntnis sucht,
wird in anderen Zusammenhängen die Rede sein.)
Diese individuellen Synthesen streben dem Künstlerischen zu: aus dem
Gefühl, daß nur der Künstler das normative Verhältnis zum Stoffe haben
kann, entsteht der Wunsch, im Erkenntnisprozeß der Kunst seinen Weg zu
gehen und aus dem Schaffen analogen Voraussetzungen zu der adäquaten
Erkenntnis der Werke vorzudringen. Die Paradoxie kann aber auch hier
nicht aufgehoben werden: bleibt das hiermit Geleistete trotz aller Annähe¬
rung zum Künstlerischen dennoch ausschließlich erkenntnishaft, so besteht
dafür das oben gestellte Dilemma; verläßt es die Sphäre des Erkennens und
rekonstruiert es gestaltend das Werk und den Weg, den es bis zum Werk¬
werden zurückgelegt hat, so ist es eine Kunstform — und leistet ein noima-
tives Mißverständnis, nicht aber eine adäquate Erkenntnis. Daß diese Stel¬
lungnahme zum Werk möglich ist, ergibt sich von selbst, aber gleichzeitig auch,
daß sie zur Lösung dieser Frage nichts zu bieten hat. Das gestaltete Erlebnis
194 Philosophie der Kunst

des Essayisten, worüber später die Rede sein soll, trifft außerdem einen ande¬
ren Aspekt des Werks als die Erkenntnis des Historikers; also sind nicht nur
ihre Methoden verschieden, sondern jeder von ihnen setzt einen anderen Ge¬
genstand. Die Annäherung an den Standpunkt des Künstlers kann auchzur
Analyse der Technik führen, muß jedoch damit im Ahistorismus landen. Es
wuide indessen der Versuch gemacht, durch eine Analyse der rein technischen
Beschaffenheit des Werks, diese als Ausdruck des Künstlers und seiner Zeit
auffassend, zu einer gleichzeitig künstlerischen und historischen Stellung zu
den Werken zu gelangen. Insbesondere die vielen schwebenden Fragen in
der Bestimmung der Zugehörigkeit von Werken der bildenden Kunst (und
auch der Literatur) haben diese Methode entwickeln helfen; über ihre
eigentliche Struktur kann nur bei dem Persönhchkeitsproblem eingehender
gesprochen werden, hier muß die Feststellung genügen, daß das hier
Ei reichbare nur eine Hilfswissenschaft der Kunstgeschichte, nie aber diese
selbst sein kann. Alles was mit dem kennerhaften oder philologischen
Scharfsinn in bezug auf die Bestimmung von Hervorbringer und Entstehung
gewisser Werke geleistet werden kann, ist nur eine Klärung des Gegenstands
dei Kunstgeschichte, nicht aber diese selbst; die Kunstgeschichte verdankt
solchen Arbeiten unendlich vieles, sie kann aber als eigentliche Wissenschaft
erst dort beginnen, wo diese Forschungen aufgehört haben. Die Umgebung
des Stoffes also, die diese kennerhaften Untersuchungen kennzeichnet, kann
zur Lösung dieses Dilemmas nichts beitragen; ihre Methode selbst, wie
Lermoheff es immer betont und wie es neuerdings Vossler für die Sprachwis¬
senschaft mit großer Klarheit und Entschiedenheit hervorgehoben hat,
»darf . . . nicht historisieren, muß vielmehr streng naturwissenschaftlich ver¬
fahren«1. Inwiefern es sich hier um relativ historische Strukturen handelt und
in welchem Verhältnis sie zur eigentlichen Geschichte stehen, darauf kann
hier nicht näher eingegangen werden. Hier kam es nur darauf an, diese
Historizität des Werks nachzuweisen; auszuführen wie es um die wissen¬
schaftliche Erkennbarkeit derselben steht, wäre die Aufgabe einer Methodik
dei Kunstwissenschaften, welche an dieser Stelle .und in diesen Zusammen¬
hängen nicht einmal angedeutet werden konnte.

[i Das System der Grammatik. »Logos«. Bd. iv. 1913. S. 220-221.]


Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit <95

4-

Das Problem von Stoff und Aufgabe leitet notwendigerweise zur Analyse
der Bereitschaft über, auf deren Typologie wir jedoch hier nicht näher
eingehen können; der Receptive bedeutet in diesen Ausführungen immer
nur den einfachen Receptiven, die anderen Typen (Kenner, Kritiker etc.)
und ihre Stellungnahmen zum Werk können erst in der nachkonstruktiven
Psychologie eingehend untersucht werden. Die landläufige Beobachtung
vom »stofflichen Interesse« des Receptiven bezeichnet nicht bloß sehr
richtig sein tatsächliches durchschnittliches Verhalten den Werken der Kunst
gegenüber, sondern weist, wenn auch unbestimmt und widerspruchsvoll, auf
seine normative Beziehung zu ihnen hin. Einerseits ist nämlich bereits
erwähnt worden, daß in dem Begriff der Aufgabe (und hiermit in dem des
Stoffes) eine nachkonstruktive Parallele zur phänomenologischen Correk-
tivrolle des Receptiven vorliegt, andererseits folgt aus dem Sprung, der das
Werk vom Receptiven trennt, beziehungsweise mit ihm verbindet, aus dem
Mißverständnis als normativer Form des Aufnahmeprozesses, daß die
gestaltenden Formen der Kunst in der Wirkung nicht als Formen bewußt
werden, daß ihre entscheidende Wirksamkeit vielmehr darin besteht, rein
inhaltliche Effekte im Receptiven hervorzubringen. Freilich ist dieses
»Stoffliche« mit dem von uns analysierten Stoff keineswegs identisch: liegt
doch dessen Wesen gerade darin, Substrat der gestaltenden Formen, also -
noch — unberührt von ihnen, einer Gestaltung durch sie bedürftig und erwar¬
tend zu sein, während das »Stoffliche« der receptiven Wirkung Produkt des
künstlerischen Formungsprozesses ist. Dieses »Stoffliche« ist also die recep-
tiv-subjektive Spiegelung des objektiven Werkgehalts, des von den Formen
bearbeiteten, von ihnen aufgesogenen und - Schillerisch ausgedrückt -
vernichteten Stoffes. Die beiden Begriffe des Stoffes haben nicht nur ganz
verschiedene Strukturen, sondern auch ihre Inhalte sind keineswegs iden¬
tisch. Aus der phänomenologischen Analyse ist uns bereits bekannt, daß jede
gestaltende Form einen Ausdrucksgehalt per se besitzt (z. B. Materialität der
Technik, Stimmungswert des Materials etc.), welcher bei vollendeter Gestal¬
tung unlösbar und im unmittelbaren Erlebnis unerkennbar mit dem bearbei¬
teten Stoff verbunden ist; was also für den Receptiven zum »Stofflichen«
wird, ist der inhaltliche Niederschlag seines - von den Formen des Werks
geleiteten - Erlebnisses, das dem Umfang und der Intensität nach mehr
enthalten muß, als der Stoff an sich enthielt, wenn es auch andererseits,
wegen des Mißverständnisses, nicht die organisch geordnete Ballung des
196 Philosophie der Kunst

künstlerischen Stoffes besitzt. Dieser letzte Unterschied ist für die Struktur
des receptiven Erlebnisses sehr wichtig; denn während im Stoff die objektive
harmonia praestabilita zu den gestaltenden Formen vorliegt (der die subjek¬
tive Harmonie von Erlebnisform und technischer Form bei dem Schaffenden
entspricht), handelt es sich bei dem Receptiven um die harmonia praestabi¬
lita zwischen der dargebotenen und von ihm »mißverstandenen« Werkwelt
und seinen Forderungen an Angemessenheit der Wirklichkeit gegenüber. Da
aber diese Forderungen nur als Inhalte bewußt werden können, wenn ihr
Wesen auch gerade die formale Angemessenheit ist, und diese Inhalte mit
dem Werkgehalt nicht identisch sind, erhält die Haltung des Receptiven eine
gewisse Unabhängigkeit vom Werk, wodurch sein »stoffliches Interesse« -
welches eben als eine normative Beziehung zum Werk aufgezeigt wurde —
vom Werk, ja von der Idee der Kunst lostrennbar wird. Das Problem, das
hier entsteht, ist in gewissem Sinn eine receptive Parallelerscheinung zur
»Einbeziehung«. Wir sagten: im Stoff vereinigt sich alles Außerkünstleri¬
sche, um zum Substrat der gestaltenden Prinzipien des Künstlers zu werden,
für den er deshalb zugleich alles und nichts ist. In dem »stofflichen Interesse«
des Receptiven konzentriert sich alles, dessen vergebliches Ersehnen vom
Leben ihm die Kunst notwendig macht; hier ist nun - entsprechend der voll¬
kommen entgegengesetzten Art der Struktur - die Form alles und nichts
zugleich. Sie ist alles, denn es handelt sich hier nicht um die Schaffung neuer
Inhalte, sondern um Formen, welche den Erlebnisforderungen des Recepti¬
ven angemessen sind; sie ist nichts, denn diese Angemessenheit kann eben
nur als ein Dargebotenwerden von Inhalten, welche diesen Postulaten
entsprechen, überhaupt erfüllt werden. Die oben angedeutete Lostrennbar¬
keit dieses Verhaltens vom Werk, worin sich die bereits aus der Phänomeno¬
logie bekannte, im Vergleich zum Schaffenden lockerere Beziehung des
Receptiven zum Werk konkretisiert, bedeutet so viel, daß dieser inhaltliche
Niederschlag der formalen Angemessenheit sowohl in der Wirkung des
Werks sich vom Werk selbst verselbständigt, indem der Receptive diesen
»Inhalt« von den »Formen« zu trennen versucht, als daß er in scheinbarer
Unabhängigkeit von der Kunst überhaupt dem Leben gegenüber als Forde¬
rung auftritt oder sogar als etwas vom Leben Geleistetes erlebt zu werden
geglaubt wird. Daß die vom Receptiven vollzogene Trennung des Inhalts
von der Form auf einer vollkommenen Verkennung sowohl der objektiven
Werkstruktur wie der Formgestaltung beim Schaffenden beruht, bedarf
wohl keiner eingehenden Erörterung; wichtig ist bloß, daß die wesentlichen
gestaltenden Formen, freilich durch das Medium des Mißverständnisses
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit i97

getrübt, bei dieser Zweiteilung in das Gebiet des Inhaltes gehören, während
sie mit dem, was der Receptive als Form von seinem Inhalt lostrennt, so gut
wie nichts zu tun haben.
Es handelt sich hier also darum, daß dem Receptiven die Möglichkeit
gegeben ist, von sich aus inhaltliche Anforderungen in bezug auf die Erfül¬
lung seiner Sehnsucht an Werk und Wirklichkeit zu richten, und daß deshalb
nur solche Werke in ihm die zur Wirkung notwendige Bereitschaft vorfin¬
den, welche diesen inhaltlichen Postulaten genugzutun fähig sind. Diese
aber sind ihrer Natur nach individuell, und da sie gerade aus der konkreten,
unmittelbaren Individualität - die nur in der realisierten Bereitschaft zum
ästhetischen Subjekt wird — stammen, auch notwendigerweise historisch,
zeitgebunden. Sie drücken gerade das Unvergleichbare, Einzigartige, sich
nie wiederholende der historischen Individualität aus: in ihnen wird in rein¬
ster Weise laut, was sich ein bestimmtes Zeitalter inhaltlich unter Vollen¬
dung und Vollkommenheit vorstellt, was einem gewissen Zeitalter »gefällt«,
was »seinem Geschmack entspricht«. An diesem Punkt zeigt sich die größte
Entfernung des Receptiven von der künstlerischen Form und zugleich die
Beziehung dieser seiner Flaltungsstruktur zu der »Aufgabe«: auch hier liegt
eine Forderung der Wirklichkeit gegenüber vor und das Problem, das dem
Werke gestellt ist, ist diese Sehnsucht in einer, sie an Qualität, Intensität und
Reichtum übertreffenden Weise zu erfüllen. Wenn es nun auch unmöglich
ist, daß aus jedweder utopischen Gestaltung der Wirklichkeit, soweit diese
sich auf unmittelbare Erlebnisse richtet, die Beziehung zu den künstlerischen
Formen ganz ausgeschaltet sei, weil jede solche Utopie nur auf Grund der
formalen Angemessenheit an die Erlebnisformen und einer - wenn auch
noch so rudimentären oder fragmentarischen - Homogeneisierung der
Wirklichkeit in der Richtung dieser Angemessenheit und mithin in der Rich¬
tung einer bestimmten Gestaltungsform möglich ist, so ist hier doch das
Minimum an künstlerischer Form, oder besser gesagt das Maximum an
Zuriickdrängung und Verschwinden dieser Form aus den bewußten Erleb¬
nisfaktoren erreicht. Dadurch haftet diesen Gebilden eine vollkommene
individuelle Irrationalität an, welche sich in der allgemeinen, auch von Kant
aufgenommenen Meinung am klarsten ausspricht: »Es ist kein objektives
Prinzip des Geschmacks möglich«1, wobei unter Geschmack der unmittel¬
bare Impuls der Bereitschaft zur Wirkung im erlebenden Subjekt zu

[1 Kritik der Urteilskraft. § 34. Werke. Hrsg, von E. Cassirer. Bd. v. S. 359.]
198 Philosophie der Kunst

verstehen ist, welcher spontan und organisch von allen möglichen und wirk¬
lichen Erlebnisinhalten diejenigen auswählt, welche diesen Anforderungen
an die Wirklichkeit entsprechen, alle anderen aber, ebenso spontan und
organisch, von sich weist. Der Geschmack ist also rein individuell, weder
logisierbar, noch auf ein System zu bringen und bei seiner - so gefaßten -
absoluten Herrschaft sinkt das Subjekt in den Solipsismus der Erlebniswirk¬
lichkeit zurück: nicht nur daß es keine Gemeinsamkeit des Geschmackes
zwischen den einzelnen Individuen geben kann, sondern selbst der Zusam¬
menhang des so Erlebten mit dem Subjekt ist nicht mitteilbar, denn die
Gründe und Motive, weshalb etwas gefallt und etwas anderes abstößt,
können nie das eigentliche Wesen dieses Verhaltens treffen, bleiben stets
intellektuell und dem wirklichen Erlebnis gegenüber bloß inadäquate,
andeutende Zeichen.
Trotz dieser Irrationalität, oder gerade wegen ihr, spricht sich in dieser
Erlebnismöglichkeit des Receptiven seine Beziehung zur Geschichte aus: im
»stofflichen Interesse«, im »Geschmack« objektiviert sich der Begriff des
»Neuen« von dem Standpunkt des Rezeptiven aus betrachtet. Die Zusam¬
menfassung vieler solcher receptiver Erlebnisse bedeutet bloß ihre empiri¬
sche, geschichtliche Zusammenfassung und keine Systematisierung. Sie
bedeutet nur, daß gerade das unmittelbar erlebende Subjekt sowohl seinem
Erlebnisse wie seinem Erlebnisobjekte nach vollkommen historisch ist und -
solange es in dieser Unmittelbarkeit verharrt - auch über die Gebundenheit
an die zeitlich-örtliche Determination seines historischen Daseins nicht hin¬
ausgeht; sie bedeutet also, daß jeder Zeitpunkt und jeder Ort, ja letzten
Endes jedes Individuum etwas Unvergleichliches, Einziges und Eigenartiges
ist und jede begriffliche Synthese, wodurch ein solcher Inhaltskomplex als
»neu« bezeichnet wird, eben Werk der Abstraktion ist und daß es eine rein
historisch-methodologische Frage ist, wie weit die Abstraktion sich einerseits
vom Individuum entfernt und andererseits welche Spanne von Zeit und
Raum sie als letztes Element eines unaufhörlichen Wandels setzt. Diesem
receptiven Begriff des »Neuen« steht, ebenfalls als Wertbegriff des
Geschmackes - und in derselben Irrationalität und Unvergleichbarkeit - der
Begriff des »Alten«, des »Vertrauten« gegenüber (daß beide Pole vom
Geschmack sowohl als bejaht wie als verneint Vorkommen und daß diese
Geschmackswertung auch kein objektives Prinzip hat, ist selbstverständ¬
lich). Dieses »Alte« hat dieselbe Struktur wie das »Neue«; es ist geradeso
wie dieses ein individuell-historisches Gebilde von beständig wechselnder
Einzigartigkeit: es ist der Grund, von dem sich das »Neue« abhebt, die Welt
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 199

in die es bereichernd hineintritt, und keines von beiden ist ohne das andere
auch nur denkbar. Die von diesem Gegensatz umfaßte und konstituierte
Welt ist das Erlebnis sowohl der gewöhnlichen Wirklichkeit wie das der
Kunst. Wenn wir es hier, um es ganz rein zu fassen, in seiner möglichsten
Kunstferne betrachtet haben, so heißt das nicht, daß in dieser Welt der Kunst
eine untergeordnete, ja auch nur eine der Natur bloß nebengeordnete Rolle
zukommt. Das »Alte«, das »Vertraute« ist größtenteils aus dem Nieder¬
schlag des historischen Erlebniscontinuums der Kunst entstanden und wenn
das »Neue« sich davon abhebt, so handelt es sich um etwas Ähnliches, wie
wenn sich ein »neu« hervorgebrachtes Werk von den »alten« — in der
Analyse dieses Gegensatzes beim Künstler — abhob. Allerdings bloß um
etwas Ähnliches. Denn »neu« ist hier nicht das, was neugeschaffen wurde,
sondern was als Erfüllung der Geschmackssehnsucht »neu« erlebt zu werden
vermag — ganz unabhängig davon, ob es seiner Gestaltung nach »neu« odei
»alt« ist. So daß die rein historisch so wichtige Kategorie der bloßen
Existenz, das wertfreie Bestehenbleiben und Weiterwirken von Etwas, nur
darum, weil es nun einmal da ist, sich hier sehr stark mit dem Begriff des
»Neuen« berührt. Denn in der Wirkungsgeschichte der Kunst kann nur das
wenigstens teilweise als »neu« Erlebte eine Fortdauer der Existenz haben,
im Gegensatz zu anderen historischen Gebieten, wo das von der Receptivität
unabhängige historische Eigenleben des einmal Realisierten viel stärkei ist
(Institutionen). Wie weit sich ähnliche Verhältnisse auch in der Wirkungsge¬
schichte der Kunst nachweisen lassen, speziell dort, wo es sich um institu¬
tionsartige Bedingungen und Mittel der Wirkung handelt (Theater, Kirche etc.)
und inwiefern ihr Bestehenbleiben auf die Gestaltung und hiermit auch auf die
Wirkung von Einfluß ist, kann nur in Einzeluntersuchungen spezifischer Ge¬
biete entschieden werden: die Erlebbarkeit wird aber hier immer ein Grenz¬
wert bleiben, und ein Minimum am - wenn auch conventionell getrübten und
verkümmerten — »Neuen« als erlebnishafte Voraussetzung des Bestehen
bleibens von einem ästhetischen Komplex nachweisbar sein. Während aber
die historisch relevante Ablaufsreihe bei dem entsprechenden Gebiet des
Schaffenden mit dem tatsächlichen Ablauf wesentlich identisch ist und des¬
halb jedes Werk als »neu« nur einmal vorkommt, ist hier diese Reihe - oder
besser gesagt: die ständig wechselnde Gruppierung des »Alten«, die eine
Folie zum »Neuen« bildet - von dem Nacheinander des Entstehens vollkom¬
men unabhängig und jedes Werk kommt unzählige Male als »neu« vor.
Auf diesen Begriffen des »Alten« und des »Neuen« beruht die geschichtliche
Erkennbarkeit dieser Beziehung. Indem die sich inhaltlich vollziehende
200 Philosophie der Kunst

Wandlung dieser Begriffe auf die Werke projiziert wird, gelangen wir zu
dem Begriff einer Wirkungsgeschichte der Kunst, deren Gegenstand die
Untersuchung sein wird, welche Kunstwerke in einer bestimmten Epoche als
»neu«, als wirkungsfähig empfunden werden und welche inhaltliche Erfül¬
lungen sie dadurch erhalten; d. h. warum sie als »neu« empfunden worden
sind. Von ebendemselben Ausgangspunkt kann man auch zu einer Sozio¬
logie der Wirkung fortschreiten, indem auf die sozialen Gemeinsamkeiten
zwischen Zeittendenzen, sozialen Strukturen und »Neu«-heitsforderungen
der Kunst gegenüber reflektiert wird, und geradeso wie beim Schaffungs¬
prozeß ist das Aufstellen funktioneller Bedingungsgesetze für mögliche Wir¬
kungen auch hier denkbar. Die Problematik jeder geschichtlichen wie sozio¬
logischen Betrachtungsart zeigt sich hier darin, daß für sie nur die tatsäch¬
liche Wirkung oder Unwirksamkeit der Kunstwerke als Ausgangspunkt
gegeben ist und die Frage, ob das Nichteintreten einer Wirkung am Werk
selbst oder an der nicht realisierten Bereitschaft des Receptiven liegt, ist von
ihren Voraussetzungen aus und mit ihren Begriffsbildungen nicht beant¬
wortbar. In der realisierten Bereitschaft erhält zudem der Begriff des
»Neuen«, ohne das früher Dargelegte zu verlieren, auch noch eine andere
Betonung: es wird zur hinreißenden und unmittelbaren, überraschenden
und überwältigenden Erfüllung der Sehnsucht des Receptiven, zu seinem
Herausgerissenwerden aus dem gewöhnlichen Leben und seinem Emporge¬
hobenwerden darüber; es ist ein Sprung in der Erlebnisreihe des Receptiven
und deshalb auch in bezug auf diese Reihe »neu«. Und sein coordinierter
Gegenbegriff ist nur ein verstärkender Kontrast zum blitzartig den Erlebnis¬
fluß unterbrechenden »Neuen«; er bestärkt nur den Eindruck, als ob das im
Werk Gestaltete bloß die Erfüllung von etwas wäre, was der Genießende
von der Wirklichkeit selbst eigentlich immer erwartet hatte und dessen
Fehlen der Grund seines Enttäuschtseins und Leidens an ihr war. Das
Entscheidende und Positive bleibt aber hier das »Neue«.

5-

Diese Tatsache führt uns zum rein Ästhetischen, zum Werksinn zurück. Die
Analyse des Receptiven zeigte uns, daß jedes Werk unendliche Male als
»neu« Vorkommen kann, wenn aber dieser Tatbestand vom Werk aus
betrachtet und das Sein der Wirkung auf ihre Beziehung zum Sollen unter¬
sucht wird, so gelangen wir zu dem allgemeinen Wirkungspostulat des
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 201

Werks, worin sich das Spezifische der Geltungsart des ästhetischen Werts am
deutlichsten ausspricht: iedes Werk muß für jede Bereitschaft als »neu«
Vorkommen können. Oder allgemeiner noch: die Ewigkeit des Werks
bedeutet, daß es zu jeder Zeit in der vom receptiv-ästhetischen Subjekt reali¬
sierten Bereitschaft die normativ vorgeschriebene Wirkung hervorbringen
kann, daß es also unabhängig von dem Zeitablauf diese Wirkung haben soll.
So erscheint das »Neue« in der Wirkung des Werks als Geltungsqualität des
ästhetischen Werts, so daß sein zeitloses Wesen normativ mit seinem Gewur-
zeltsein in der geschichtlichen Realität verbunden ist. Die Paradoxie der
Geltung des ästhetischen Wertes offenbart sich in der Frage, wie es möglich
ist, die Wirkung des Werks als realisiertes Gelten zeitloser Normen zu
fassen, wenn sie nicht nur bei jedem Werk, sondern bei jeder Wirkung
desselben Werks total verschieden ist, und gerade diese Unvergleichbarkeit
eine Folge des Wertes selbst ist. Die Antwort auf diese Frage kann uns nur
der schon öfters analysierte Begriff des Mißverständnisses als normativ
vorgeschriebener Wirkung des Werks bieten. Das Mißverständnis bedeutet,
wie wir wissen, daß im Erlebnis des Werks der Ästhetisch-Receptive nicht
den »wahren« Gehalt des Werks in sich aufnimmt, noch etwa dessen innere
Struktur durchschaut, sondern daß in ihm, aus den eigenen Erlebniselemen¬
ten, die prinzipiell nicht mitteilbar und von unvergleichbarer Qualität sind,
eine in sich geschlossene Welt entsteht, die der Receptive als das Werk, also
als etwas von ihm Unabhängiges erlebt. Da dieses Werk in einer, ihm nicht
bewußtwerdenden Weise nur seine eigenen Erlebnisinhalte und seine eigene
Erlebnisqualität enthält, bedeutet es für ihn die gerade ihm entsprechende
und gerade ihn erfüllende utopische Wirklichkeit. Die Allgemeinheit des
ästhetischen Wertes besteht also nicht darin, wie für jeden anderen Wert,
daß das Subjekt auf das Allgemeine der Norm bezogen wird, entweder
indem seine Subjektivität aufgehoben (Logik), oder der Norm — bei Beste¬
henbleiben des Subjekt-seins — untergeordnet wird (Ethik), sondern in einer
solchen Beschaffenheit des realisierten ästhetischen Wertes, des Werks, die
es gestattet, daß dieses Verhältnis zwischen Subjekt und Wert jedem Subjekt
gegenüber möglich werde. Diese Allgemeinheit hat die künstlerische Form
zu leisten und sie leistet sie durch ihre, das Mißverständnis hervorrufende
Fähigkeit: die Allgemeinheit des Werks ist eine formale; sie ist das Schema
jedes möglichen Mißverständnisses. Hier erleuchtet sich der Satz, daß für die
Ästhetik die einzelne Kunstart und innerhalb deren Bereich das einzelne
Kunstwerk, und nicht die Kunst überhaupt das wirklich Konkrete ist, am
hellsten. Jede Kunstart bedeutet die Notwendigkeit eines homogenen einge-
202 Philosophie der Kunst

stelltseins der Welt gegenüber; als gestaltende Form: die Möglichkeit für den
Aufbau einer Welt, die bei Voraussetzung und Acceptierung dieser Einstel¬
lung eine immanente Vollkommenheit bedeuten kann; als receptiv mißver¬
standene, wirkende Form: die Gesetzmäßigkeit der Schemata, welche die
Typik der möglichen Mißverständnisse regelt, das Symbol einer immanen¬
ten Ordnung überhaupt, die sich von einem bestimmten Gesichtswinkel aus
ergeben muß. Denn die Möglichkeiten der Einstellung der Welt gegenüber,
deren notwendige Projizierung in das Werk das Mißverständnis hervor¬
bringt, sind wenn auch irrational und nicht systematisierbar, dennoch nicht
einer völligen Anarchie preisgegeben. Nicht nur weil dann der Übergang
von dem spontanen Solipsismus der Erlebniswirklichkeit in die theoretischen
wie praktischen konstruiert eindeutigen Gebiete unmöglich wäre — deren
Da-Sein mithin schon ein Beweis dafür ist, daß der absolute Solipsismus nur
an die Spontaneität als Mitteilungs- und Erlebnisform, nicht aber an die Idee
des Mensch-seins überhaupt gebunden ist —, sondern auch weil die Zahl der
unmittelbaren Einstellungen der Wirklichkeit gegenüber nicht unbegrenzt
und nicht ohne Typik ist. Sie ist erstens durch die numerische Begrenztheit
der aufnehmenden Organe bestimmt, jedoch auch innerhalb deren bereits
endlicher Typik gibt es nicht unzählige oder beliebig variable Möglichkeiten
des Eingestelltsems, wenn als dessen Folge eine immanent geschlossene und
in sich sinnvolle Welt gefordert wird. (Hierauf beruht das System der
Künste, worüber an anderer Stelle ausführlicher zu sprechen sein wird.)
Dem unmittelbaren Erlebnis des Receptiven gegenüber jedoch, wovon jetzt
die Rede sein soll, ist auch die einzelne Kunstgattung eine Abstraktion: er
steht nur vor den einzelnen Kunstwerken und es fragt sich, wie die eben skiz¬
zierte Beziehung des Allgemeinen zum Einmalig-Spontanen hier zu denken
ist. Das Prinzip der Allgemeinheit im Werk ist natürlich die Form, die ist
aber hier nichts Abstraktes mehr, sondern das Organisationssystem eines
konkret-einmaligen Stoffes, welches, infolge der prästabilierten Harmonie
zwischen Stoff und Form, dessen Einmaligkeit und Konkretheit teilt, ja von
ihm nicht einmal gedanklich zu trennen und in eine dem Stoff nicht zukom¬
mende Region der Abstraktheit und Allgemeinheit zu versetzen ist. Die
Rolle der Form in diesem Prozeß ist ebenfalls, Schema jedes möglichen
Mißverständnisses zu sein, dieses Schema richtet sich aber nicht mehr bloß
auf die Organisationsmöglichkeit eines Eingestelltseins dem Leben gegen¬
über, sondern auch auf die Möglichkeiten der inhaltlichen Erfüllung, welche
sich in bezug auf die Mitteilung eines bestimmten Erlebniskomplexes (des
bearbeiteten Stoffes, des Gehalts) ergeben können. Selbst die mißverstan-
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 203

dene Mitteilung der Erlebniswirklichkeit setzt etwas Gemeinsames zwischen


den beiden »mißverstandenen« Inhalten voraus, ja der Solipsismus dieser
Lebenssphäre beruht letzten Endes darauf, daß im Erlebnis das adäquat und
das inadäquat Appercipierte nicht unterscheidbar und nicht etwa auf eine
eindeutige Gesetzmäßigkeit im Nicht-treffen-können des Objekts zu brin¬
gen sind. Das Mißverständnis kann nur das Mißverständnis von Etwas sein
und sowohl dieses Etwas wie seine mißverstandene Erlebnisspiegelung
beziehen sich auf etwas Gemeinsames, was freilich infolge der Struktur der
reinen Erlebniswirklichkeit weder erlebt, noch erkannt zu werden vermag:
auf das Schema, als auf einen Vermittlungsapparat zwischen Erlebniserreger
und Erlebnis, in dem sich die ganze Suggerabilität des Erlebniserregers staut,
wo sich also Wirkendes und Gewirktes als Möglichkeit und Wirklichkeit des
Erlebnisses vereinigen. Wir haben, mit bewußter Vorläufigkeit, die Werk¬
form als ein Substanzwerden dieses Schemas definiert, die, auf das
Maximum an Suggestionskraft hingearbeitet, das Gleiten der Erlebniswirk¬
lichkeit verliert und dadurch freischwebend und in sich geschlossen wird.
Das Maximum an unmittelbarer Suggestionskraft bedeutet aber, wenn es
sich einerseits auf einen bestimmten, einzigen und einmaligen Stoff bezieht
und andererseits eine zeitlose Allgemeinheit der möglichen Wirkung zu
erringen hat, vor allem eine Stilisierung des Stoffes in der Richtung, die ihm
alle seine Ballungsmöglichkeiten (Motiv, Aufgabe etc.) zuweisen, ein
Bewußtwerden, ein Auf-die-Oberfläche-treiben seiner geheimen Organisa¬
tion, wobei den gestaltenden Prinzipien bei erreichtem Maximum ihrer
immanenten Intensität bloß die Rolle des Exphzit-machens zuzukommen
scheint; also ein Konkreterwerden des bearbeiteten Stoffes, des Gehalts, als
es in seiner ursprünglichen Möglichkeit, in der Möglichkeit jeder Gegeben¬
heit, überhaupt lag. Daneben aber das Abstrahieren dieses selben Stoffes in
der Richtung einer rein technischen Schematik, in der Richtung eines Maxi¬
mums an der Ausdrucksintensität, welche durch Konzentration, Organisa¬
tion, mit einem Wort durch Vertilgung des »Stofflichen« zu erreichen ist und
endlich eine absolute Einheit der beiden Tendenzen. Die Möglichkeit dieser
Einheit ist durch die schon oft erörterten Begriffe des »Standpunkts« und
der durch ihn erweckten Homogeneität gegeben: dadurch ist für den Recep-
tiven erreicht, daß seine Erlebnisse in eine, von dem homogenen Strom des
aufnehmenden Organs bestimmte Richtung gedrängt und innerhalb dieser
Richtung von zielbewußt sich den Erlebnisforderungen anpassenden und
ihnen entgegenkommenden Erlebniserregern auf das Maximum an Intensi¬
tät hingeleitet werden. Wenn nun dieser Organisationsapparat zugleich
204 Philosophie der Kunst

Organisator eines bestimmten Stoffes ist, d. h. wenn seine Leistung gerade


in dem Herausholen des Wirkungsmaximums aus diesem einen Stoff besteht,
so muß sich - bei vollendetem Erreichen — das inhaltliche Mißverständnis in
jedem Fall der realisierten Bereitschaft einstellen und da es ein Maximum, an
Erlebnisintensität zur Folge hat, wird dieses Erleben der eigenen Inhalte des
Receptiven in den von Formen organisierten Stoff projiziert, das Werk wird
als die ihm entsprechende utopische Wirklichkeit erlebt, es ist für den
Receptiven »neu« geworden. Dies kann aber nur dann geschehen, wenn es
der Technik des Künstlers gelungen ist, dem Stoff die ihm spezifisch eigene
Wirkungsintensität zu entreißen, wenn die organisierenden Formen zum
Schema der höchsten Potenz gerade dieser Wirkungsmöglichkeit werden
und das System der Technik (für sich betrachtet) zum Symbol dieser Ballung
des Stoffes wird. Die Möglichkeit dieser Gestaltung bietet die Gesinnung,
die zugleich das System der Technik zustande bringt und ihrem Wesen nach
eine Weltanschauung (wie eine in sich geschlossene und sich immanent erfül¬
lende Welt unter diesen Voraussetzungen möglich ist) ausspricht, indem sie
durch ihre erst genannte Eigenschaft das gleitende Schema der Mitteilung
zur geschlossenen und homogenen Form, zum Schema der sich von diesem
Punkt aus ergebenden und möglichen Mißverständnisse überhaupt verwan¬
delt, welches Schema aber - durch die zweite Qualität der Form - einen
Stimmungswert und eine stimmungerweckende Macht sui generis erhält, die
dieselbe bleibt in der immerwährenden Wandlung der inhaltlichen Spiege¬
lung der receptiven Wirkung: ein Mißverständnis.
Je bedeutender und zeitloser ein Kunstwerk ist, desto mehr ist seine
Deutung, als intellektualisierte Auslegung des Mißverständnisses im recepti¬
ven Erlebnis, dem Wandel der Zeiten unterworfen: nur ein Werk, das in
unbegrenzter Variabilität mißverstehbar ist, vermag zu jeder Zeit und auf
jeden zu wirken. Da jede unmittelbare Wirkung von der Suggestionskraft
des Mitzuteilenden abhängig ist, steht der unbegrenzten Mitteilbarkeit der
reinen Erlebnissphäre das gleitende und unsichere Wesen des Schemas im
Wege. Wenn die immanente Absicht der Mitteilung (also nicht ihr bewußt-
psychologisches Motiv, sondern der objektive Sinn, der in ihr, als Akt
betrachtet, steckt) etwas Inhaltliches ist, so ist das Schema bloß ein Vehikel,
ein trübendes Medium, ein notwendiges Übel; daß überhaupt eine
Kommunikation entsteht, verdankt es dem Gemeinsamen an soziologisch-
historischen, mehr oder weniger konventionellen Formen. Je stärker eine
Mitteilung auf diese Inhaltlichkeit orientiert ist, desto adäquater ist sie
inhaltlich, wenn dies auch freilich bloß relativ und approximativ ist, desto
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 205

stärker hängt aber die Möglichkeit ihrer Verwirklichung von dem Bestehen¬
bleiben dieser konventionellen Formen im Aufnehmenden ab. Damit die
Wirkung von dieser Gebundenheit frei werde, müssen an Stelle dieser Sche¬
mata Formen treten, welche in der Linie der Intensitätssteigerung, die von
der Fdomogeneität des bearbeiteten Stoffes abhängt, hegen; die konventio¬
nellen Formen müssen entweder ignoriert oder aber von den neuen Erlebnis¬
formen aufgesogen werden. Diese Gestaltung schließt eben deshalb selbst
die annähernde adäquate inhaltliche Identität zwischen Mitgeteiltem und
Aufgenommenem, welche von den soziologisch-historischen Konventionen
der Zeitgenossenschaft stets gewährleistet wird, aus, oder sie werden für die
Gestaltung ganz gleichgültig: inhaltlich geradeso inadäquate Reaktionen,
wie die anderen, auf deren Grad an Inadäquatheit es jedoch gar nicht
ankommen kann, da bloß die Intensität der Wirkung für die Absicht von
Belang ist. Ein Werk wie der König Ödipus des Sophokles kann hier als
deutlichstes Beispiel dienen. Es ist wahrscheinlich, daß es zur Zeit seiner
Entstehung als Ausdruck aktuell empfundener, inhaltlich definierbarer Pro¬
bleme und Erlebnisse galt. Seine wahre Wirkung verdankte es jedoch
trotzdem der eigenartigen und vollendeten Organisation des Stoffes, in der
sein technischer Aufbau zum Ornament eine[r] Schicksalsbeziehung über¬
haupt geworden ist. Mag nun diese Beziehung seinerzeit eine aktuelle und
als aktuell wirksame gewesen sein — heute können wir diese Inhalte selbst
wissenschaftlich kaum mehr rekonstruieren und sicherlich wird sie kein
Mensch mehr nacherleben können; daß die Tragödie dennoch mit unver¬
minderter Intensität wirkt, verdankt sie dieser Formung, durch welche in ihr
das ewige Sinnbild der schicksalverstrickten Helden erscheint; und dieses
Schema erfüllt jede Zeit mit ihrem Helden und ihrem Schicksal - und jedes
Mißverständnis paßt in den Aufbau, jedes wird mit der gleichen Intensität
des Erlebens vom Drama zu Ende geführt.
So steckt die »Tiefe« des Hamlet in der unvergleichlichen Genialität, mit der
seine Handlung aufgebaut ist; alle inhaltlichen Motive wie absichtlich im
Dunkel lassend, dafür mit desto farbenstärkerer Plastik das Schicksals¬
moment herausarbeitend: den Menschen, der seine Tat nicht tun kann, der
sie nur am Ende, an ihr zu Grunde gehend, vom Zufall ihr zugeführt, zu
erreichen vermag. Gerade weil sich hier Unbestimmtheit des Inhalts mit
Klarheit der Form vereinigt, entsteht die Tiefe: die Erschütterung des
Receptiven veranlaßt ihn hier, die letzten Motive seines Nichthandelns,
oder die seines Volkes, seiner Zeit zu erleben und als den Sinn Hamlets zu
erblicken. Immer wurde Hamlet als »tief« erlebt; immer aber war der Sinn
20 6 Philosophie der Kunst

dieser Tiefe ein verschiedener. Diese Wirkungsmöglichkeit kann nur die


völlig zu sich gekommene Form erringen; jedes Kunstwerk, das eine noch so
tiefe, echte oder warme Wirkung irgendwelchen gewöhnlichen, inhaltlichen
Mitteilungsschemata verdankt, muß — sobald diese mit dem Vergehen seiner
historischen Existenzbedingungen verschwinden — unverständlich werden;
es wird nur mehr inhaltlich deutbar seiner Absicht, seiner Richtung und
seinem Umfang nach, ist aber nicht mehr unmittelbar nacherlebbar: es ist
veraltet. Die hieraus verständlich gewordene Beziehung der rein zeitlichen,
inhaltlich orientierten Mitteilungsschemata und der Schemata der mögli¬
chen Wirkungen überhaupt macht uns möglich, die »Aufgabe« noch einmal
von der Seite des Receptiven zu betrachten, wo ihm eine Correctivrolle für
den Schaffenden zukommt. Für den Receptiven werden gerade die inhaltli¬
chen Wirkungen, welche von den durchwegs historisch bedingten Mittei¬
lungsschemata vermittelt werden, die am nächstliegenden sein. Das Pro¬
blem, das von dieser Struktur aus an die Kunst gestellt wird, ist also: in den
historisch-inhaltlichen Wirkungsforderungen des Receptiven die ewige Wir¬
kungsmöglichkeit zu finden; die Bereitschaft, die er als zeitlich befangenes
Wesen der Kunst entgegenbringt, so zu erfüllen, daß die hierdurch in ihm
erreichte Realisation der normativ ästhetischen Wirkung nur eine von den
unendlich vielen anderen möglichen Wirkungen sei, zu welchen das Werk
vermöge seiner Struktur fähig ist. So wird der Receptive im doppelten Sinn
correctiv für den Schaffenden: die Idee des Receptiven überhaupt für sein
Suchen und Finden der ewigen Form, die — dem Zeitgenossen unvermerkt —
Anderes und Mehr als das Geforderte als Erfüllung bietet; und der unmit¬
telbar gegebene Receptive für die erfüllte Form, damit diese nicht durch ein
allzu direktes Streben zur Ewigkeit in der entgegengesetzten Schematik, in
der unwirksamen Inhaltlichkeit und Dürftigkeit lande.
Diese Zeitlosigkeit des Werks, die vom Zeitablauf unabhängige Möglichkeit
seiner Wirkung, hat also seine doppelte Historizität zur Voraussetzung: die
Wirkung muß in ihrer erlebten Inhaltlichkeit historisch sein, um jederzeit
realisierbar zu werden, da der unmittelbar Erlebende aus der geschichtlichen
Continuität nicht herauszutreten vermag, und das gestaltete Gebilde soll in
keinem seiner Momente das Konkret-Unmittelbare, das Geschichtlich-Ein¬
gewurzelte seines Ursprungs und seiner Bestandteile verlieren, beruht ja die
Zeitlosigkeit seiner Wirkung gerade darauf, daß seine Geschlossenheit ein
Symbolisch-werden (in bezug auf eine bestimmte Wirkungsintensität) eines
konkret-historischen Erlebniskomplexes ist. Jedes Werk ist das Ewigwerden
eines bestimmten, historischen Moments; es reißt einen Augenblick des
Geschichtlichkeit und, Zeitlosigkeit 107

historischen Zeitablaufs aus diesem Strom heraus und verleiht ihm das Über¬
dauern der Zeit, erhebt ihn in eine Region jenseits der Zeit, ohne ihm den
Duft und das Cachet, den Zauber und den Schein der Vergänglichkeit zu
nehmen, den er gerade dieser seiner Augenblicklichkeit verdankt. Darum
hat Schelling tiefer und künstlerischer als alle anderen Ästhetiker, die im
Anschluß an die Ideenlehre die Erklärung des Werks suchten, sein Wesen
erfaßt, da er es unzertrennlich mit der Mythologie verknüpft sah. Denn wie
sehr man auch die Beziehung der Ideenlehre zum Kunstwerk zu verfeinern,
ihr alles Abstrahierende abzustreifen versucht, immer wird die Idee, deren
Abbild oder Gegenbild das Werk sein soll, hoch über das Zerbröckeltsein der
Emanation im Zeitablauf thronen; um den Weg dazu zurückzufinden,
müßte das Werk nicht nur jeden Erdenrest von sich abschütteln, sondern
auch vergessen machen, daß es aus der Zeit stammt und - wirkend - in die
Zeit zurückstrebt; es müßte abstrakt werden und seine formelle Tiefe und
Allgemeinheit mit einer inhaltlichen vertauschen: statt ein Schema aller hier
möglichen Erlebnisse zu sein, müßte es die Allgemeinheit des Erlebnisses
inhaltlich — und deshalb enger und trivialer — ausdrücken, es müßte inhalt¬
lich »allgemein menschlich« werden, statt für jeden Menschen die eigene
konkrete Erfüllung zu sein. Die Form, zu deren vollkommener, erdenferner
Reinheit jeder Platonismus der Ästhetik strebt und streben muß, kann nur
dann Herrin über den Stoff werden, wenn sie ihm dient, wenn sie sich in
vollendeter Gleichartigkeit ihm anschmiegt und nur sein eigenstes Wesen
aus dem Chaos zur Klarheit, von der Stummheit zum Lautsein zu bringen
scheint; sobald sie ihn zu vergewaltigen, ihm eine wurzelfremde Zeitlosig¬
keit zu verleihen sucht, wird sie ihn nie »vernichten« können, muß ihn viel¬
mehr im rohen und unvermittelten Stadium der Unerlösbarkeit verharren
lassen. Wenn Schelling die Mythologie als apriorischen Stoff für die Kunst
fordert, so hat er deren konkrete Wesenheit klarer erfaßt, als sie je vor ihm
erfaßt wurde; daß »die Schönheit ... ist überall gesetzt, wo Licht und Mate¬
rie, Ideales und Reales sich berühren. Die Schönheit ist weder bloß das
Allgemeine oder Ideale . . . noch das bloß Reale . . ., also sie ist nur die voll¬
kommene Durchdringung oder Ineinsbildung beider. Schönheit ist da
gesetzt, wo das Besondere (Reale) seinem Begriff so angemessen ist, daß
dieser selbst, als Unendliches, eintritt in das Endliche und in concreto ange¬
schaut wird1.« Nur das mythologisch Gewordene besitzt eine geschichtliche

[1 Philosophie der Kunst. § 16 Sämmtliche Werke. Hrsg, von K. F. A. Schelling.


Stuttgart, Cotta, 1858. Abt. 1. Bd. v. S. 382.]
208 Philosophie der Kunst

Ewigkeit, nur ihre Inhalte können entstanden und dem Untergang geweiht
und dennoch in einem Jenseits des gewöhnlichen Zeitablaufs verweilend
gedacht werden.
Es fragt sich bloß, ob dieses Mythologische, soweit es als ästhetisches Erleben
in Betracht kommt, und weder zum Gegenstand des religiösen Erlebnisses
noch der metaphysischen Spekulation wird, ein Stoff oder eine Form ist. Das
Formale daran entgeht natürlich auch Schelling nicht. Er sagt: »Die Mytho¬
logie ist . . . selbst schon Poesie und doch für sich wieder Stoff und Element
der Poesie«1. Wie ist das möglich? Dem Dilemma, vor das hier jede nicht
platonisierende, sondern das rein ästhetische Wesen der Kunst suchende
Kunstphilosophie gestellt ist, daß nämlich die Mythologie entweder erst in
der Gestalt der Kunst entsteht, oder aber daß die Funktion der Kunstform
nur eine Trübung der religiös-metaphysischen Wahrheit ist, entgehen Schel¬
ling und alle romantischen Erneuerer der Ideenlehre, indem sie die receptive
wie die produktive Kunsttätigkeit mit der Erkenntnis der Wahrheit, mit dem
Erschauen der Ideenwelt gleichsetzen. »Jedes Kunstwerk — sagt Schopen¬
hauer— ist demgemäß eigentlich bemüht, uns das Leben und die Dinge so zu
zeigen, wie sie in Wahrheit sind, aber, durch den Nebel objektiver und
subjektiver Zufälligkeiten hindurch, nicht von jedem unmittelbar erfaßt
werden können. Diesen Nebel nimmt die Kunst hinweg.« ». . . ihr Zweck
[ist] die Erleichterung der Erkenntnis der Ideen der Welt«2; und Schelling:
»Schönheit und Wahrheit sind an sich oder der Idee nach eins . . . Die Wahr¬
heit, die nicht Schönheit ist, ist auch nicht absolute Wahrheit, und umge¬
kehrt3«. Damit ist aber jede eigenkräftige Leistung der Form geleugnet: es
ist eine an sich schöne und wahre Welt da, jenseits jedes Eingesperrtseins in
Raum und in Zeit, in die man hineinzulangen hat, und das Kunstwerk kann
dabei behilflich sein, den Weg zu diesen verschütteten Urbildern der Dinge
zurückzufinden (Schopenhauer spricht on der »Idee seiner Gattung«, zu der
das Ding in der Anschauung des »reinen Subjekts des Erkennens«4 des ästhe¬
tischen Subjekts wird), es ist aber durchaus nicht der einzig mögliche Weg
zu ihnen. Diese Welt kann einerseits in keiner, noch so paradoxen Weise
historisch sein, was sie als Mythologie sein sollte, geradeso wie etwa ein

[ i Ebda, § 38. S. 406.

2 Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke. Hrsg, von E. Griesebach.
Leipzig, Reclam. 2. Abdruck. Bd. 11. S. 476-7 und 479.
3 Philosophie der Kunst. § 20. S. 384-385.
4 Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 1. S. 245.]
209
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit

logisch-metaphysisches Auseinander in den Emanationsstufen bei Plotin


nichts mit einem historischen Nacheinander zu tun haben kann, und ande¬
rerseits ist es nicht einzusehen, daß von dieser Funktion der Form nicht eine
völlige Verurteilung der Kunst folge, wie sie bei Platon folgte. Denn die
Formen der Künste geben immer die Welt nur aus der Perspektive ihrer
Wirkungsmöglichkeiten und -Voraussetzungen, die in der Metaphysik

einer Ideenlehre nur als Trübung und Fälschung erscheinen kann. Wenn für
Schopenhauer der ästhetisch Erlebende ». . . zieht . . . die Natur in sich
hinein, so daß er sie nur noch als ein Accidenz seines Wesens empfindet«1,
wenn hierfür diese Verse Byrons als Beweis dienen sollen.
Are not the mountains, wawes and skies, a part
Of me and oi my soul, as I of them?2
so mußte er dabei übersehen, daß hier nicht etwa das »Wesen« der Natur
erlebt wurde, sondern die Ausdrucksmöglichkeiten des Lyrikers - die
Umsetzung jeder Dinghaftigkeit in Stimmung, jedes Objekts in seinen rem
subjektiven Erlebnisreflex - der Phänomenologie dieser Form gemäß ausge¬
sprochen und als Erlebnis gestaltet wurden. Daß hier geradesowenig von der
Idee des Berges der sie verdeckende Schleier weggezogen wurde als wenn
etwa ein Berg bei Cezanne in der Schwere seiner struktiven Dinghaftigkeit,
bei Dirk Bouts als eine Kostbarkeit gleichartig und gleichwertig des Goldes
und der Edelsteine, die die heiligen drei Könige dem Heiland bringen, bei
Perugino als Vehikel zum Aufbau eines weiten und treien Raumes, als icin
architektonisches Element, bei Henri Rousseau als ein rührendes Spielzeug,
bei Giotto als Begleiter einer Handlung, bei Lorenzo Monaco als zum
Skelett reduziertes Symbol seiner formalen Beschaffenheit erscheint. I iii
jede Form, für jedes Werk entsteht eine neue Welt, die mit keiner dci
anderen etwas gemein haben kann, die aber so beschaffen sein muß, daß sie
erlebt werde, als ob der Receptive jetzt erst die Wiedererinnerung an die
verdeckten und verborgenen Urbilder aller Dinge erhalten hätte, als ob ihm
erst jetzt die Legende von der Weltschöpfung oder von den Wundern dei
erschaffenen Welt erzählt würde. Die vollendet geleistete Form macht die
von ihr geschaffene Welt legendarisch, zum Märchen. »Das Mäichen ist
gleichsam der Kanon der Poesie«2, sagt Novalis. Die Mythologie ist also

[ 1 Ebdas, Bd. 1. S. 247.


2 Zit. nach Schopenhauer, ebendort.
3 Fragmente (aus der Nachlese von Bülov). Nr. 6. Schriften. Hrsg, von J. Minor
Diederichs, Jena, 1923. 1923. Bd. 3. S. 4.]
2 10
Philosophie der Kunst

nicht der apriorische Stoff der Kunst, sondern jede wirklich erreichte Form
erschafft eine, an unmittelbarer Wirkung und ästhetischer Wesensart dem
Mythologischen verwandte Welt: eine vollkommene Welt, die in ihrer sinn¬
lich unmittelbaren Wirklichkeit jeden Schmerz und jedes Leiden zum
Schweigen bringt, sie in jenem wahren Sinne aufhebt, daß die ihr entströ¬
mende, unendliche und doch in ihr bleibende Freude gerade aus diesem Leid
und diesem Schmerz quillt; eine vollkommene Welt, die in unabweisbarer
Gegenwärtigkeit da ist und dennoch aus einer anderen Region, die der
Vergänglichkeit des Moments »Gegenwart« entrückt ist, herabzusteigen
scheint; eine utopische, ewig gewordene Wirklichkeit, deren Entstehen und
Vergehen aber, zur Legende geworden, mit ihrer Erscheinung unzertrenn¬
bar verwoben sind. Wie für die Mythologie die Meeresgeburt der Aphrodite,
das Enteilen der bewaffneten Pallas aus dem gespaltenen Schädel des Zeus,
das Zerrissenwerden des Dionysus und das frühe Ende des Adonis zu ihrem
unsterblichen Dasein, zur Idee ihrer Gottheit und Ewigkeit mitgehören, so
tragen alle griechischen Statuen, alle Liebeslieder der Troubadours, alle
Madonnen der Renaissance und die Romane von Tolstoy oder Dostojewsky
den Stempel ihrer Geburt, den Ort und die Zeit ihres Entstehens, den Glanz
und die Tragik ihrer Existenz mit in ihre Ewigkeit. Nur daß auch dieses
Entstehen zur Legende geworden ist und in jeder Neugeburt in jedem recep-
tiven Erlebnis mit der neuen Deutung dieser spezifischen Unmittelbarkeit
erfüllt wird. Es darf uns nicht irreführen, daß diese Umdeutung zweiter
Potenz sich nicht mehr in der Kunst selbst ausspricht — so wie die antike und
christliche Mythologie in den immerwechselnden Inhalten und Stimmungen,
die das Schicksal der Atriden oder das Geheimnis der Verkündigung erfüllen
und umgeben, immer von neuem wiedergeboren wurde. In den Werken
großer Essayisten und Historiker sind Griechentum und Mittelalter, Orient
und Renaissance bereits zur Legende, zum Mythos geworden und ihre, aus
den immer neuen Mißverständnissen ewiger Werke gespeisten inhaltlichen
Abweichungen sind nicht nur ein »Fortschritt der Wissenschaft«, sondern
eine Gestaltung dieser, von der Kunstform geschaffenen Mythologie. Doch
diese Umdeutbarkeit selbst gehört zum Wesen jeder Mythologie: sie ist nur
darum lebendig, weil sie eine sinnbildliche Spiegelung des Weltsinns bietet
und ist nur solange lebendig, als jede neue Deutung des Weltsinns nur eine
Neumotivierung der mythologischen Tatsachen bedeutet, solange diese in
einer unverrückbaren Faktizität, deren Evidenz ihre Erlebtheit bietet, daste¬
hen und die Wandlungen der Inhalte, von denen die Menschen bewegt
werden, nur ihre Motive, nicht aber ihre Existenz berühren. Das Mythologi-
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 111

sehe der vollendeten Form, deren Deutungswandel die Essayisten gestalten, un¬
terscheidet sich nur darin von der echten Mythologie, daß ihr innerster Sinn dar¬
auf und nur darauf zustrebt, was als dieses ewige Mißverständnis mit ihrer
Existenz normativ gesetzt ist. (Im Vorwort meines Essaybandes »Die Seele
und die Formen« ist diese Beziehung der Essays zum Werk näher analysiert.)
So baut sich aus den beiden historischen und mit Gegensätzen behafteten
Begriffen des »Neuen« — des schöpferischen und des receptiven —, durch ihr
normativ inadäquates Zusammenstößen als Werkpostulate, das »Neue« des
Werks selbst auf, das aber von den beiden subjektiven phänomenologischen
Begriffen völlig verschieden ist: es ist gegensatzlos. Dieses Neue ist weder
eine Überwindung der Gegensatzprinzipien, noch ein Jenseits der Gegensät¬
ze, sondern ihre Identität. Das Werk ist »neu«, weil seine Geltungsqualität als
Wert das Erlebnis des »Neuen« im Receptiven bedingt, weil das, wodurch es
entstanden ist, als Schema aller seiner möglichen Erlebnisse zur ewigen
Jugend in ihm erblüht ist und erhalten bleibt. Während aber sowohl schöpfe¬
risches wie receptives Erleben mit irgendeinem vorangegangenen Erlebms-
continuum, aus dem sie sich emporheben, kontrastieren, besitzt das Werk
ebenfalls als Geltungsqualität seiner Werthaftigkeit ein Als ob der Wieder¬
erinnerung. Tiefer und treffender als irgendeine die empirisch-psychologi¬
sche Tatsächlichkeit suchende Beschreibung haben deshalb die platonisie-
renden Ästhetiker die normative Wirkung des Werks beschrieben, wenn sie
darin ein Erschauen der Ideenwelt erblickt haben: jede Erscheinung ist als
Erscheinung zur Substanz geworden, denn ihr sinnlicher Wirkungswert ist
nichts als die Revelation ihres hier möglichen Wesens; jedes Ding ist seiner
Idee angemessen, denn es ist durch die Formung eine Welt entstanden, in der
nur die Identität mit der Idee den Dingen eine Existenz zu verleihen
vermag, in der Sinn und Vollkommsnheit dasselbe bedeuten. Daß dies keine
Erkenntnis, sondern ein Erleben, daß die erlebte Vollkommenheit nur eine
Vollendung sub specie formae ist, das ist die Folge der alleinigen konkreten
Realität der einzelnen Formen; daß dies aber nicht als Folge von Fiktionen,
sondern als Enthüllung des Weltsinns erlebt wird, ist von der absoluten
Immanenz, von dem reinen Fiktionscharakter dieser Formen verursacht. Nur
weil in dem Werk keine Spur einer wahrhaften Wiedererinnerung an die Urbil¬
der der Dinge sein kann, muß jede der Werkidee entsprechende Schöpfung ihrer
Gestaltung den eingeborenen Wiederscheineiner Ideenwelt verleihen. Das Werk

ist immer »neu«, weil es »alt« war als es entstand, und es steht jenseits des
historischen Zeitablaufs, weil es aus ihm entstiegen ist und ständig in ihn

wieder zurückkehrt.
2 I 2 Philosophie der Kunst

Aber nicht bloß den Zeitpunkt seiner Geburt reißt das gestaltete Werk mit
in die Ewigkeit seines Erlöstseins, sondern auch die Zeit des Ablaufs und den
Raum als Bühne. Während die Zeitlosigkeit der Logik jede Erinnerung an
ein zeitliches Nacheinander von sich weisen muß, und die Ethik Raum und
Zeit nur deshalb kennt, weil auch die von ihnen bedingte Begrenzung den
Abstand zwischen Mensch und Norm zu schaffen hilft, entzieht die ästheti¬
sche Gestaltung das Werk und sein normatives Erleben nur deshalb dem
Zeitablauf und isoliert sie nur deshalb vom empirischen Raum, um beide
Apnoritäten der Sinnlichkeit, gereinigt von ihrem entstellenden Ineinander
der Unmittelbarkeit und der Möglichkeit zur Abstraktion, auf einen rein
sinnlichen Sinn gebracht Wiederaufleben zu lassen. Es wäre oberflächlich,
hier bloß an die sogenannten zeitlichen und räumlichen Künste und noch
dazu in strenger Scheidung zu denken. Jede Kunstform, als vollendete,
unmittelbar und sinnlich zu erlebende Wirklichkeit, muß ihren Raum und
ihre Zeit besitzen. Wie die erlebte Ewigkeit der mystischen Entrücktheit
kein abstrakter Gegenpol des Zeitablaufs ist, sondern nur eine, ihm völlig
heterogene Zeit, wie der von Gott besessene Mohamed alle Himmel durch¬
wandernd eine mythische Zeit erlebte, während sein umgestoßener Wasser¬
krug noch nicht seinen Inhalt entleeren konnte, so heben sich im Werk ein
Anfang und ein Ende, ein Ablauf und eine Dauer aus der Zeit heraus und
grenzen sich, in ihrer zeitlichen Struktur ewig geworden, gegen die empiri¬
sche Zeit ab. Und der Raum als Bühne und Enclave der Gestaltung schließt
sich ebenfalls nur infolge seiner struktiven Heterogeneität von dem des
gewöhnlichen Lebens ab, er ist aber ein Raum, so wie die Gefilde der Seli¬
gen, der Olymp, so wie die Sphären des christlichen Himmels, wie es die
Erlösungs- und die Verdammungsstätte, die Bühnen der letzten religiösen
Wirklichkeit für jede echte und erlebte Religiosität räumlich sind. Es wird
das Problem einer Darstellung der einzelnen Kunstformen sein, wie in jeder
von ihnen Raum und Zeit Vorkommen, inwiefern man etwas in Tempo und
Rhythmus, Gleichartigkeit und Abwechslung, mit denen man sich in einem
Bild zu bewegen gezwungen ist, einen Zeitbegriff der Malerei zu finden hat,
oder wie man die Raumgestaltung der Tragödie von der des Epos oder des

Märchens unterscheiden kann. Jede Form ist aber als sinnliches Universum räum¬
lich und zeitlich, und es wird die Aufgabe eines subtileren und künstlerische¬
ren »Laokoons« sein, die Künste nicht in bezug auf Räumlichkeit oder Zeit¬
lichkeit zu trennen, sondern jeder die ihr spezifisch eigenen Gestaltungsprin¬
zipien des Raumes und der Zeit zuzuweisen.
Geschichtlichkeit und Treulosigkeit

6.

Jede Kunstform ist ein Theodicee; sie stellt einen Erlösungsaspekt auf, indem
sie alle Dinge, die in ihrer homogenen Welt Vorkommen können, zu dem
ihrer Idee absolut angemessenen Dasein führt und zugleich in ein
Universum einstellt, das für ihr solches Ausreifen und Sich-Erreichen präde¬
stiniert zu sein scheint. Das ist die Idee der objektiven Abstandslosigkeit des
Werks, das Prinzip seiner immanenten Vollendung, wodurch es seine zeit¬
lose Geltung als realisierter ästhetischer Wert erhält. Diese objektive
Abstandslosigkeit jedoch, von der bis jetzt bloß in abstrakter Allgemeinheit
gesprochen werden konnte, zeigt bei näherer Betrachtung eine mehrglied¬
rige Typik, deren Prinzip das Werk noch einmal in die geschichtliche Wirk¬
lichkeit verankert: es ist das Prinzip des Stils, der Geschichtsphilosophie der
Kunst. Wir sagten: es muß im Werk eine innerlich abstandslose Welt
geschaffen werden, wo das Ganze für das Einzelne, das Gestaltungspi inzip
für das Gestaltete prädestiniert ist. Daraus scheint zu folgen, daß die Einheit
aller Dinge mit einfacher organischer Selbstverständlichkeit aus ihnen her¬
auswachsen muß, daß selbst die Spannungen in ihnen und die Hemmung der
Ordnung nur zur Förderung des organischen Wachstums und zum Eins¬
werden von nöten sind, daß deren Überwinden und Aufheben, so ernst sie
auch seien, wie ein Spiel gelingen muß und die eingeborene Einheit dei
Dinge keinen Moment wahrhaft zu gefährden vermag. Diese Denkmöglich-
keit scheint so sehr aus dem Wesen des Werks selbst zu stammen, daß sie
notwendigerweise für viele als einzig vorstellbarer Kanon der utopischen
Wirklichkeit des Werks vorkommt: als die einzig reale Erfüllung der Idee
der Kunst, der erreichten vollkommenen objektiven Abstandslosigkeit. Die
Idee dieser Abstandslosigkeit ist jedoch allgemeiner und foi melier, sie
bedeutet bloß ein sinnlich-sinnfällig gewordenes Heimfinden jedes einzel¬
nen Dinges in das Werkganze, in seine apriorische Heimat, ein Aufgeho¬
bensein jedes Abstandes zwischen Erscheinung und Idee, zwischen Teil und
Ganzheit, zwischen Eigenleben und Zusammenhang; ob dies aber in organi¬
scher oder abstrakter Weise geschieht, ob in der Idee der erreichten
Abstandslosigkeit nicht auch die Idee eines überwundenen odei überbi Lick¬
ten Abstandes etc. miteinbegriffen ist, darüber kann diese Bestimmung des
Werks nichts aussagen. Es wäre eine inhaltliche Übersteigerung des
formellen Werkgedankens, ihn mit der organischen Zusammengehörigkeit
zu identifizieren oder jene Abweichungen von der Oiganik, deren
Wirkungsintensität zu stark ist, als daß ihr Kunstcharakter übersehen
214 Philosophie der Kunst

werden könnte, mit Hilfe des Begriffs vom Transcendieren der Kunstform
über sich selbst hinaus rechtfertigen zu wollen. Die Paradoxie dieser
Konstellation, daß hier nämlich eine überzeitliche Typik der letzten Gliede¬
rung des Werks aufgefunden werden muß, die sich aber dennoch als Prinzip
einer Geschichtsphilosophie der Kunst objektiviert, verhindert das Gelingen
jener einseitigen Versuche, welche die hier verborgene Problematik zwar
deutlich empfanden, sie aber entweder einer rein historischen oder rein
ästhetischen Systematik zu Liebe zu verdecken, oder die Paradoxie in eine
be griffliche Unklarheiten schaffende Synthese zu verwandeln suchten.
Es ist bekannt, daß das Problem einer Geschichtsphilosophie der Kunst aus
dem Bedürfnis entstand, der modernen Kunst als der antiken wenigstens
relativ gleichberechtigten Erscheinung gerecht zu werden: sowohl Schillers
Unterscheidung zwischen naiver und sentimentaler wie Jean Pauls zwischen
antiker und romantischer Kunst, wie Friedrich Schlegels Versuch, das Inter¬
essante als eigene ästhetische Kategorie zu begründen, liegt dieselbe
Empfindung zu Grunde und sie erhält ihre tiefste und durchdachteste
Formulierung in der Hegelschen Periodik von symbolischen, klassischen und
romantischen Kunstformen. Das Gemeinsame all dieser Versuche bei aller
Verschiedenheit im Einzelnen (Shakespeare z. B. ist bei Schiller ein naiver
Dichter, während er bei Friedrich Schlegels Einteilung der modern-romanti¬
schen Kunstrichtung zugehört) ist, daß das Antike trotz allem der Kanon der
Kunst bleibt. Ob es nun dennoch, wie bei Schiller, als möglich erscheint, daß
die andere Weltanschauung eine angemessene Gestaltung findet, ob das
Moderne, wie für Fr. Schlegel, einen notwendigen Übergang zum Wiederer¬
reichen der antiken »Objektivität« bedeutet, ob die Idee der Kunst sich, bei
Hegel, im Klassischen als »schlechthin angemessene Einheit von Inhalt und
Form« erreicht, während im Symbolischen »... sucht die Idee noch ihren
echten Kunstausdruck«, um in der Romantik die Sphäre der Kunst zu »über¬
schreiten«1: dieses Verhältnis bleibt bei allen ähnlichen Versuchen das¬
selbe. Daraus muß, zur Verankelung des Problems, einerseits ein wertendes
Verhalten den verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten gegenüber folgen,
dessen methodische Consequenzen dadurch, daß die ästhetische Verurtei¬
lung der einen Richtung ihr geschichtsphilosophisches, moralisches oder
metaphysisches Bewerten bedeutet, gar nicht wesentlich geändert werden

[i Vorlesungen über die Ästhetik. Zweiter Teil. Werke. Bd. io. Abt. i. Hrsg, von H.
G. Hotho. Berlin, 1835. S. 388—390. (Aufbau-Ausgabe, Berlin, 1955. S. 3 10—3 11).]
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 215

können und andererseits muß dieser Kanon, gewollt oder ungewollt, auf ein
einmaliges historisches Zeitalter (Griechen, Renaissance) oder sogar auch
auf eine bestimmte Kunstform (Plastik bei Hegel) lokalisiert werden. Und
wenn der moderne Historizismus allen solchen Konstruktionen gegenüber
einen geschichtlichen Relativismus fordert, daß nämlich jede Zeit und damit
jede Empfindungsweise ihre adäquate oder ihrem historischen Ursprung
gemäß einzigartige und unvergleichbare Objektivation finden kann, so ist
damit dieses Problem bloß umgangen, aber nicht gelöst. Denn was von der
Einzigartigkeit einer historischen Konstellation am Werk bestimmt wird, ist
teils die bereits analysierte Zeitlichkeit von Stoff, Technik etc., teils die
inhaltliche Spiegelung und Erfüllung der hier gemeinten letzten Struktur¬
gliederung des Werks; ihre Typik selbst aber, wenn sie überhaupt aus ästhe¬
tisch gleichwertigen Gliedern bestehen soll, wozu ja auch der Historizismus
gedrängt wird, kann nur eine aus der zeitlosen Idee des Werks abgeleitete
sein. Denn die wesentliche Paradoxie dieses Problems liegt gerade darin,
daß der Begriff des Stils einerseits die prinzipielle und kanonische Lösung
einer apriorisch typisierten Aufgabe bedeutet, und andererseits, daß diese
Aufgabe in ihrer inhaltlich gegebenen Konkretheit, deren Folgen aber auch
auf ihre Formenstruktur zurückwirken, von einmalig-geschichtlichen Kon¬
stellationen gestellt ist. Der Begriff des Stils vereinigt also in sich sowohl die
Möglichkeit und die Notwendigkeit der Wiederkehr (wobei es freilich
gleichgültig ist, ob diese sich im wirklichen geschichtlichen Ablauf tatsäch¬
lich realisiert oder nicht), 'wie das absolut Einzigartige jeder seiner jewei¬
ligen historischen Realisationen. Er ist nicht nur eine apriorische Typik der
dort möglichen Gestaltungsmodalitäten, sondern gleichzeitig ihre Periodik:
mit dem Begriff eines Stiles ist seine — zeitliche — Stellung zu den anderen
Stilen simultan gesetzt. Darin zeigt sich der entscheidende Unterschied
dieser Typik von der historisch-soziologischen, die wir bei der Analyse von
Technik und Gesinnung gefunden haben: jene bezog sich nur auf die struk¬
turelle Möglichkeit des Werks und war deshalb mit den historischen Realisa¬
tionsbedingungen desselben in ein funktionelles Verhältnis zu setzen; wenn
also sowohl die Gesamtheit der Typen, wie jeder einzelne Typus auch histo¬
risch bedingt waren, so konnte die Typik in ihrer eigenen Struktur als Typik
nicht den Begriff des Ablaufs und der Aufeinanderfolge umfassen: sie war
keine Periodik. Dies ist erst hier, wo von der strukturellen Eigenart des
verwirklichten Werkes selbst die Rede ist, möglich geworden.
Wenn wir nun auf diese Möglichkeiten der Beziehung zwischen der letzten
Einheit des Werks und den gestalteten Einzeldingen von relativ selbstän-
216 Philosophie der Kunst

diger Substanzialität reflektieren, so finden wir, daß die Umfassung zu dem


Umfaßten in der Relation von ante rem, post rem und in re stehen kann. Es
erscheint auch als leicht verständlich, daß eine Beziehung in re für die einzig
mögliche echt künstlerische Lösung gilt. Nicht nur infolge unserer histori¬
schen Bildung, für die gerade diese Stile (das Griechentum des IV—V. Jahr¬
hunderts, die Hochrenaissance) ausschlaggebend geworden sind, sondern
weil nur in ihnen diese organische Beziehung vorfindbar ist; die Frage nach
der Möglichkeit anderer Stile konzentriert sich also um die Frage, ob eine
innere Vollendung ohne Organik als Kanon der Relation und des Aufbaues
möglich sein kann. Die Bezeichnung »Organik« kann hier freilich leicht
irreführend sein; einerseits drängt sie bei der durchschnittlichen Kunsterzie¬
hung und dem allgemeinen Lebensgefühl sehr leicht wieder ein Höher¬
werten anderen Möglichkeiten gegenüber auf, andererseits muß man ihren
Gegensatz zu einseitig (als Abstraktion) fassen, wodurch, wie bei Worringer,
so heterogene Gestaltungsarten wie Orient und Gotik auf ein Prinzip
zurückgeführt werden müssen; dazu kommt, daß Bezeichnungen wie »orga¬
nisch« und »abstrakt« sich noch immer zu sehr auf die inhaltliche, erlebnis¬
hafte Erfüllung dieser Strukturdifferenzen und zu wenig auf diese selbst
beziehen, wodurch notwendigerweise die hier erreichten Kategorien auf
einmalig-historische Komplexe lokalisiert werden müssen und das Stilpro¬
blem auf Fragen von Rasse, Milieu, Kultur etc. verschoben wird. Wenn wir
also hier — statt organische — Beziehung in re sagen, so ist dies kein bloß
terminologischer Unterschied. Die Gestaltung eines Zusammenfassens in re
bedeutet dann die Überwindung des Abstandes in der Weise, daß die Dinge
als Dinge, auf dem Wege des Erreichens ihrer höchstgespannten Dinghaftig-
keit, in den Zusammenhang einmünden, daß die Möglichkeit eines
Abstandes zwar als Möglichkeit mitgesetzt ist, seine Überwindung jedoch
kampflos, aus der bloßen eingeborenen Heimatssehnsucht der Dinge nach
Ordnung geleitet wird. Der Abstand ist in die abstandslose Welt einbezogen,
wie das Sterben in das organische Leben, seine Idee ist von der ihren
untrennbar, wie der Schatten mit dem Licht verbunden ist; es ist die Existenz
dieses Abstandes, die der erreichten abstandslosen Welt die Breite und das
Blühen verleiht. Ob dieser Stil als organische Gestaltung, als naiv oder als
objektiv bezeichnet wird, immer ist dieses eine gemeint: daß die Ordnung
die Dinge nicht als — relativ — Fremdes umfaßt, daß die Idee des Abstandes
in beiden — und in beiden gleich intensiv — da ist, in beiden aber mit der glei¬
chen intensiven Selbstverständlichkeit überwunden wird. Wenn wir aber
diese Gestaltung in re als Stil klassisch nennen, so sehen wir gleich, daß man
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 7

ihn nie mit der Kunst irgendeiner Nation identifizieren kann; es erscheint
als selbstverständlich, daß dieses natürliche Gleichgewicht ein ganz seltenes
und von Gefahren umdrohtes Zusammentreffen einmaliger Gesinnungen
und Möglichkeiten zur Voraussetzung hat, daß es zwar innerhalb jeder
Kunstentwicklung erreicht werden kann, aber das kleinste Anderswerden
der kleinsten Werkbedingung die auf Messerschneide gestellte Balance
gefährden und eine andere Art der Zusammenfassung erfoidein kann. Denn
eben wegen des in re Charakters dieser Gestaltung kann sie bei - relativ -
gleichen Bedingungen nur - einmal hervortreten; so wie die griechische
Epik in Homer, das Drama in Sophokles, die Plastik in Phidias ihre Klassik
erreicht hat, so erreichte sie die mittelalterliche Malerei in Giotto, die
moderne Musik in Mozart - aber jedes solches Erreichen ist das Verlassen
einer früheren Ordnung und die Entwicklung, die darauf folgt, ist durchaus
nicht mit einem Niedergang gleichzusetzen. Jede Klassik bedeutet entweder,
daß eine naturalistische Gesinnung aus sich heraus zum Stil zu werden, oder
daß ein reines Formsuchen und Formfinden aus der bloßen Kiaft dieser
Formen heraus den schlichten Wirkungsgehalt des Gewachsenseins hei vor¬
zutreiben vermag; anders ausgedrückt: die transcendentale Werkform
beherrscht mit derart selbstverständlicher Gewalt die Gestaltung, daß sie ihr
eigenes Dekorativ-werden, die Wiederkehr der reinen Form in sich aufsaugt
und unkenntlich macht: die Dinge werden als Dinge dekorativ und lhie
Umfassung erscheint bloß als ihre dinghafte Eigenschaft. Die Kategorie der
Ordnung und die Kategorie der Dinghaftigkeit - beide mit unbegriffenen

Abstand - fallen zusammen.


Diese Harmonie setzt einen existenten und innerlich überwundenen
Abstand voraus, es ist aber auch eine Abstandslosigkeit denkbar, bei welchei
der Abstand nicht einmal als Denkmöglichkeit auftauchen kann, bei welcher
die Geltungsqualität und -intensität der Einheit derart ist, daß sie eine spezi¬
fische, apriorisch gebundene, sich von ihr nie ablösende Dinghaftigkeit aus
sich entläßt, daß Maximum an Dinghaftigkeit und dekorativer Einheit nicht
zusammenfallen, sondern eins sind: eine Ordnung und Einheit ante rem, ein
primitiver Kunststil. Formell ausgedrückt bedeutet dies ein restloses Unter¬
tauchen jeder gestaltenden, transcendentalen Form in der reinen Form der
Oberfläche, so daß hier weniger die Gestalt zum Gebilde zu werden scheint,
wie dies im Allgemeinen bei der Wiederkehr der reinen Form der Fall ist, als
daß nur das auf die Oberfläche Getriebene zur Gestalt zu werden vermag;
und dies kann nur insofern geschehen, als es spannungslos zur reinen Ober¬
fläche geworden ist. Daraus folgen die zwei wesentlichsten Eigentümlichkei-
2 1 8
Philosophie der Kunst

ten dieses Stiles, die hier freilich nur kurz angedeutet werden können.
Erstens daß der Gehalt dieses Stiles ein transcendenter und kein transcen-
dentaler, und sein Ausdruck allegorisch und nicht symbolisch ist. Das
bedeutet nun, daß die Technik, Stoff und Bereitschaft bestimmenden Kate¬
gorien (Gesinnung und Aufgabe) eindeutiger und bestimmter gegeben sind
als die jedes anderen Stiles, wodurch das Mißverständnis des Werks teils
weniger ungehemmt ist als bei anderen Gestaltungen, teils einer ganz unbe¬
grenzten Hemmungslosigkeit preisgegeben ist. Solange nämlich diese Werke
innerhalb der — religiösen — Bereitschaft ihres Entstehens wirken, ist das
Inhaltliche der Wirkung vorgeschrieben und nur ihre Qualität und Inten¬
sität können je nach Werk und Receptivität variieren; sobald diese Bereit¬
schaft erloschen ist, ist die inhaltliche Mißverstehbarkeit noch stärker als bei
anderen Stilen, weil der transcendente Gehalt aus der allegorischen Gestal¬
tung verschwinden muß und das receptive Mißverständnis in dem nicht in
bezug auf Gehalt konkretisierten Stoff zwar keinen bestimmten Anhalts¬
punkt, aber auch keine hemmende Leitung finden kann. Aus dieser Struktur
folgt aber zweitens ein eigenartiges Verhältnis zum Material. Da die Tran-
scendenz des Gehalts ein Konkretwerden des Stoffes verhindert, kann der
Träger der Sinnlichkeit nur das Material selbst sein; jede primitive Gesin¬
nung wird deshalb einerseits die rein sinnliche Wirkungsintensität des Mate¬
rials auf das Maximum steigern (während die Klassik eher eine Tendenz zur
Vergeistigung des Materials hat) und andererseits darauf ausgehen, inner¬
halb der Möglichkeiten dieser reinen Materialität, also bei einem Minimum
an »Einbeziehung«, das Individuell-Charakteristische zu betonen. Dieses
Charakteristische, in dessen Suchen sich der Naturalismus der Primitivität
ausspricht, ist durch die Einheit der schroffst charakteristischen und rein
dekorativen Tendenzen bestimmt: es ist bei vollkommener dekorativer Har¬
monie organisch maßlos und hemmungslos. (Aus der einseitig klassisch
orientierten Bildung der meisten modernen Menschen folgt, daß Produkte
dieses Stiles bald als abstrakt — ägyptische Plastik —, bald als fratzenhaft
übertrieben - Negerskulpturen - bezeichnet werden.) Hier zeigt sich aber
wieder die für jede ästhetische Systematik ausschlaggebende Struktur der
Kunst, daß in ihr nur das Einzelne eigentlicher Gegenstand der Erkenntnis
sein kann: das Verhältnis des Materials zur Primitivität bedingt, daß — je
nach ihrem spezifischen Verhältnis zum eigenen Material - für jede Kunstart
der Begriff der Primitivität etwas anderes bedeutet. Ganz kurz gefaßt (da
eine nähere Ausführung ein System der Künste voraussetzt), können wir
sagen: nur jene Künste können einen primitiven Stil haben, deren Materia-
219
Geschichtlichkeit und Treulosigkeit

lität sich zwar zur ganz eigenen und einfach erlebbaren sinnlichen Wirkung
substanziiert, jedoch nicht rein aus sich selbst heraus - als bloße reine Form -
selbständig wird. So kann aus dem Verhältnis der Steinplastik zum Block,

der Holzplastik zum Pfahl, des Reliefs zur Fläche und deren ornamentaler
Gestaltung zur Schrift und zum Zeichen, des Verses zum Gesang ein
primitiver Kunststil als eine geschichtsphilosophische Kategorie unter ande¬
ren gleichwertigen entstehen, während einerseits das Märchen neben den
anderen epischen Formen, der Teppich und das Mosaik neben den maleri¬
schen Formen, der Tanz neben der Schauspielkunst zu eigenen, apriorisch
primitiven Formen werden und andererseits Kunstformen wie die Tragödie
überhaupt keinen primitiven Stil besitzen können. Dieses Verhältnis des
primitiven Stiles zum Material bedeutet aber nicht, daß er mit dem dort
aufgezeigten ersten Materialtypus identifizierbar wäre; diese Typik ist, wie
dort betont wurde, als Typik abstrakt, metahistorisch und nicht geschichts¬
philosophisch, und der Typus, der mit der primitiven Gestaltung vielleicht
verwechselbar scheint, umfaßt allerdings das Primitive, daneben aber auch
das sogenannte Archaische, welches als Stil sowohl klassizistisch wie ro¬
mantisch, niemals aber primitiv sein kann. Aus diesem Zusammenhang
ergibt sich aber die notwendige Consequenz, daß die Künste deren Foimen-
struktur die Alleinherrschaft der reinen Form aufzeigt, nur einen primitiven
Stil haben können, oder - was ja dasselbe besagt - der geschichtsphilosophi-
schen Periodik entrückt sind. Wenn in Zeiten, in denen andere Gesinnungen
ausschlaggebend sind, auch diese Kunstarten aufgegriffen werden, so ver¬
harren sie entweder trotzdem in ihrer Primitivität, die sich also als überzeit¬
lich erweist (Tanz; Märchen von Selma Lagerlöf), oder sie behalten nur die
äußeren Kennzeichen ihrer Art bei und gehören ihrem eigensten Wesen
nach anderen Kunstarten an (z. B. Goethes Märchen ist eine romantische
Novelle, Raffaels Teppiche sind klassische Gemälde). Wenn die primitive
Wesensart einer Kunst so stark ist, daß diese Umwandlung nicht gelingen
kann, oder die gestaltende, nicht primitive Gesinnung nicht stark genug ist,
um die andere, nur äußerlich verwandte Form entstehen zu lassen, kann
kein Werk erreicht werden: Tieck’s Märchen sind unorganische Mischungen
von Märchenmotiven und Gestaltungselementen romantischer Novellen,
und jeder »vertiefte« Tanz muß zur sinnlosen Pantomimik ausarten. Diese
Beziehung setzt einen völligen Mangel an sinnlichem Abstand zwischen
Ding und Idee sowohl als schöpferische Gesinnung wie als - zeitgenössische -
receptive Bereitschaft voraus, dessen Voraussetzung andererseits freilich
eine geradezu absolute Unvergleichbarkeit der beiden in bezug auf ihre rem
2 20
Philosophie der Kunst

religiöse, im Werk nur allegorisch ausdrückbare Essenz ist. Während die


klassische Gesinnung, da ihre Abstandslosigkeit aus einer Überwindung des
Abstands entsteht, Ding und Idee als einander angemessen auffassen muß,
um in dieser naiv erlebten Abstandslosigkeit beider ihre Einheit und ihren
organischen Ausgleich zu finden, stehen beide in ungehinderter Eigenart
und Schroffheit einsgeworden in der primitiven Gestaltung da. Jede Stilisie¬
rung - nicht bloß im Sinne der Intensitätsmilderung zu Gunsten der Einheit,
sondern sogar im Abstimmen auf eine solche Einheit - ist dieser Gesinnung
ganz fremd, sowohl das Wildeste, Ausschweifendste, Momentanste, wie das
Abstiakteste ist — wegen des allegorischen Charakters — mit der Einheit
einfach identisch. Und die Erlebnismöglichkeit dieser Einheit, als hervor-
bi ingende Gesinnung und zeitgenössische, das Allegorische erlebende
Receptivität, stellt die Entstehung dieses Stiles in die religiös vollständig
gebundenen Epochen, vor jede Entwicklung, die zur Auflösung dieser
Gebundenheit führen muß.

Die Einheit ante rem kann aber auch etwas Anderes, sogar ganz Entgegen¬
gesetztes bedeuten, nämlich eine Gesinnung zur Einheit, welche die
Eikenntnis und das Erlebnis eines unüberbrückbaren Abstandes zur norma¬
tiven Voraussetzung hat. Bei beiden bisher behandelten Stilen war keine
eigentliche Stilisierung von nöten: durch die den Dingen immanente
Abstandslosigkeit oder Fähigkeit zur Überwindung des Abstands ward die
Utopie zur sinnlich unmittelbaren Wirklichkeit, die von der Kunst nur
gestaltet werden mußte; in diesem Sinne der schöpferisch-phänomenologi¬
schen Identifikation von Wirklichkeit und Utopie konnten der klassische
und der primitive Künstler »Naturalisten« sein. Die Entstehung des
abstandslosen Werks ist aber auch so denkbar, daß nicht die Wirklichkeit als
Utopie, sondern die Utopie als Wirklichkeit erscheint; daß das Sollen, das
jede Gestaltung der Wirklichkeit gegenüber ausspricht, nicht in sie — phäno¬
menologisch - hineinprojiziert wird, um dann von ihr abgelesen zu werden,
sondern sich als sollendes Sein, unabhängig von der Wirklichkeit, mit
bewußter Betonung des Abstands, der zwischen ihnen liegt, im Werk objek¬
tiviert. Auch hier erscheint die Werkidee der Einheit und der Ordnung als
strukturelles Prius dem Gestalteten gegenüber, ihre wesentliche Beziehung
ist auch hier ante rem, gestattet also innerhalb der Werkwelt keine Span¬
nung, jedoch sowohl Umfassung, wie Umfaßtes tragen die unvertilgbaren
Spuren einer Spannung an sich: des Kampfes zwischen Sollen und Sein, der
mit der absoluten Herrschaft des Sollens, mit seiner Verwandlung in ein
sollendes Sem beendigt wurde. Damit das Gestaltete der Möglichkeit einer
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 22 I

solchen Umfassung würdig werde, muß es alles bloß Irdische, alles bloß
Momentane und Spontane, alles Leidenschaftliche und alles Individuelle
von sich abstreifen, muß sich jeder empirischen Vergleichbarkeit gegenüber
scharf absondern und zwischen sich und dem, woran es m der Empme des
Lebens gemessen werden könnte, eine stolze und unüberbrückbare Distanz
errichten. Das WLnder bricht hier nicht rätselhaft in das Leben ein, das
Leben selbst zum Wunder verwandelnd, sondern das Wunder des Sich-
selbst-Erreichens der Dinge schwebt in ferner Isolierung über das Leben
dahin; das Leben wird nicht zum Fest in der Gestaltung, sondern die Fest¬
lichkeit des Gestalteten steht dem Leben als realisiertes Sollen unabweislich
und doch unerreichbar gegenüber. Die objektive Abstandslosigkeit wird so
auch in diesem Stil - dem klassizistischen - geleistet, denn die zur eigenen
Idee gewordenen, als Erscheinungen substanznerten Dinge finden auch lnei
in einer von Ewigkeit her für sie bereiten Form ihre Heimat und der Abstand
ist auch hier nur ein normativer Bestandteil der Werkwelt, eine bloße
Voraussetzung zur Realisation der Abstandslosigkeit, er ist abei hiei gleich¬
zeitig zum Aufbauelement des Ganzen und zum eingeborenen Bestandteil
jedes Einzeldinges geworden. Das sub specie formae Erlebte jedes Dinges in
der Kunst bestimmt hier den Gehalt, und die Ewigkeit des Weiks, die
abstrakte Werkidee tritt als lebendiger Beweger in die Welt des Werks selbst
ein. Darum setzt dieser Stil, in ganz anderer Weise als die Klassik, die histo¬
rische Existenz der Kunst voraus: er ist nur möglich, wenn dei Abstand
zwischen Kunst und Leben bewußt geworden ist, wenn die spontan reali¬
sierte und naiv erlebte Utopie der Klassik bereits da war und vergangen ist,
wenn also die Idee der Ewigkeit des Werks, die alles bewegende und durch¬
dringende Apnorität dieses Stiles, nicht nur als ein über das Leben
gespanntes Ideal erlebt werden kann, sondern in Beziehung auf das vorange¬
gangene und nunmehr verlorene Erreichen in der Klassik erlebt werden
muß. Jeder Klassizismus muß seinem Begriffe nach in der Periodik aut eine

Klassik folgen.
Die Idee der Kunst als Erreichen der vollendeten Abstandslosigkeit kann
jedoch auch in anderer Weis für die Gestaltung des Abstands von Bedeutung
sein. Die Werkvollendung kann nämlich nicht nur, wie hier, als Werk, als
Leistung in ihrer Ewigkeit vorbildlich werden, sondern auch als bloßes Sein,
als Gehalt, als Faktum der Utopie. Diese Faktizität bedeutet vor allem, daß
nicht in der Einheit und der Ordnung, sondern in dem Aufblühen und dem
Sich-selbst-Erreichen des Einzelnen innerhalb der Ordnung das Ideal
erblickt, daß die Einheit nur in ihrer inhaltlichen Spiegelung, als Heimat
222 Philosophie der Kunst

aller Dinge, nicht aber als Bindung, erkannt und gewollt wird. Der Abstand
also, von dem hier die Rede ist, ist nicht - wie bei dem Klassizismus -
zwischen dem ungesammelten Wirrsal des Lebens und zwischen der geord¬
neten Ballung der Kunst, sondern zwischen dem Verkümmern . und
Verdorren jedes Bliihens in der abstrakt geregelten Hemmungslosigkeit der
Empirie und zwischen der naturhaft zur Ordnung strebenden Willkür im
Werk. Während im Klassizismus das Gestaltungsprinzip zum Sollen dem
Leben gegenüber wurde, wird es hier die von ihm erreichte Wirkungsqua¬
lität des Gestalteten. Die Überwindung des objektiven Abstands, die Stilisie¬
rung, richtet sich also in erster Reihe auf die Schaffung von »schönen«, d. h.
immanent vollendeten, ihre Idee adäquat objektivierenden Gegenständen
und deren Umfassung, ihre Einheit und ihre Ordnung soll gleichsam aus
ihnen selbst, aus ihren naturhaften Beziehungen zueinander entsteigen, soll
nicht mehr sein als die Gemeinsamkeit der Atmosphäre, die sie umgibt, die
Gleichheit des Duftes, den sie ausströmen: es ist eine Einheit post rem.
Deshalb ist das phänomenologische Verhältnis zur Natur derart beschaffen,
daß der Künstler dieses Stiles, der Romantiker, ebenfalls in einem
bestimmten Sinn »Naturalist« sein kann; auch er kann seine Vision vom
sollenden Sein der utopischen Wirklichkeit in die Natur hineinprojizieren
und aus ihr als ihren wahren Sinn ablesen, diese wahre Natur wird jedoch
für ihn nicht mehr —wie für den klassischen oder primitiven Künstler — etwas
Gegenwärtiges, sondern etwas Vergangenes, etwas von sich Abgefallenes,
Verschüttetes und Verlorenes sein, das sich entweder zu einer Märchenwelt
von eigener Schönheit absondert oder als immanent richtendes Ideal in der
Empirie selbst, deren Nichtigkeit enthüllend, erscheint. Phänomenologisch
gesprochen ist also der Romantiker Abbild eines, auch von ihm selbst als
nicht seiend gedachten Vorbildes und wenn er auch »Naturalist« im eigenen
Sinnes des Wortes ist, so ist sein Naturalismus niemals das In-Eins-Setzen
von Erscheinung und Idee, wie bei dem klassischen oder primitiven Künst¬
ler, sondern ihr bewußtes Kontrastieren, niemals ein mißverstandenes Ziel,
sondern em Ausdrucksmittel für etwas Anderes, niemals eine Verherrlichung
der »Natur«, sondern ihr Herabsetzen, niemals ein Verschwindenlassen des
Abstandes, sondern die Gestaltung seines Daseins. Dementsprechend wird
die romantische Gestaltung den Stempel dieses Abstandes an sich tragen:
entweder den Reiz und die Schwermut einer aus Zauberschlaf ins Leben
erwachten, verwunschenen Welt, oder die herbe Trauer und tiefe Ironie von
dem Gesunkensein der Empirie und von dem wesensvollen, doch kraftlosen
Duichscheinen der in ihr vergrabenen Utopie. Das Werk hat aber innerlich
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit n}

jeden Abstand überwunden, denn die böse oder leidende Gegenwart, von
der seine Vollendung sich abhebt, ist nur als phänomenologische Vorausset¬
zung böse oder leidend, im Werk selbst wird sie entweder von der - in den
Traum verzauberten — realisierten Utopie ganz verdeckt oder vei hilft
dieser, indem sie ihre eigene Wesenlosigkeit entlarvt, zur stärkeren Beto¬
nung der Substanzialität. So ist hier auch eine immanente Vollendung
möglich, aber alles Vollendete ist mit der Melancholie seines Ursprungs und
seiner Heimat geziert. In der Romantik im engeren Sinn entsteht eine eigen¬
artig gewobene Substanz aller Dinge, durch welche das vollkommene Sein
schwer an seiner Unwirklichkeit, an seinem bloß postulativen Charaktei zu
leiden hat und im romantischen Naturalismus erweitert sich das Gewöhn¬
lichste ins schauerlich oder grotesk Erhabene ob der drückenden Fülle des
mit ihm immanent kontrastierenden Ideals, des Ideals seiner sein-sollenden
Vollendung. Und eine Technik, die als Technik bewußt geworden und
sichtbar die Oberfläche belebt, verleiht jeder Gestaltung ihre erforderte
Leichtigkeit: sie nimmt ihr die Realität und damit die Schwere und den
Ernst der Trauer, und diese glühen nur als dunkel leuchtende Farben in dem
spielartig feinen Gewebe der Technik. Die Romantik ist die als Kunst
bewußtgewordene Kunst, und indem der Formgehalt der Kunst überhaupt
zum Erlebnis des phänomenologischen Künstlers geworden ist, kann ihre
Bewußtheit zur Weltanschauung reifen: zur leise schaukelnden Balance zwi¬
schen Sehnsucht und Sein, zwischen Melancholie und Ironie. Eine undurch¬
dringliche und in sich absolute Systematik der technischen Vollendung
macht alles immanent, aber Leben und Kunst beleuchten und beschatten
einander in diesem System: jedes wird durch den Kontrast zum anderen
leicht und schwer, trauervoll und heiter zugleich. Die Romantik ist dei
subjektive Stil par excellence, aber das reine Spiel der technischen Vollen¬
dung läßt jede Individualität zurücktreten: die immanenten Eigengesetz¬
lichkeiten der Technik scheinen ausschließlich hier zu walten und ihre - in
Beziehung auf Logik der Gegenständlichkeit - selbstherrliche Willkür ver¬
deckt die Willkür der schaffenden Persönlichkeit und deckt sich zugleich mit
ihr, und aus der unzertrennbaren Mischung dieses Einsseins mit diesei
Andersheit entsteigt wieder dasselbe Gleichgewicht: Schwermut und Spiel,
Trauer und Tanz. Darum ist die Romantik ihrer Idee nach eine späte Kunst;
sie setzt eine erreichte, verlorene und ferne Vollendung der Kunst voraus.
Aber für die ihr normative Stellungnahme verschmelzen Klassik und
Primitivität: der Kanon, dessen Gefühlsniederschlag hier richtunggebend
wird, kann ebenso eine Überwindung des Abstands, wie ein Mangel an
224 Philosophie der Kunst

Abstand sein. Ja es liegt im Wesen der Romantik, Klassik und Primitivität


gleichzusetzen und eher das Klassische dem Primitiven als dieses jenem
anzunähern, indem die Klassik von der Seite des Gehalts und nicht der
Struktur erfaßt und in sie die spezifisch primitive Nuance von Abstandslo-
sigkeit hineininterpretiert wird. Schon daraus folgt eine größere Entfernung
von der Klassik, selbst wenn die Aufeinanderfolge eine zeitlich unmittelbare
ist, und diese Distanz wird noch dadurch vergrößert, daß die Romantik ihrer
inneren Struktur entsprechend sich nicht einmal relativ aus denselben
Elementen und unter annähernd ähnlichen Voraussetzungen aufbaut, wie
die Klassik, daß also ihr Verhältnis zu dieser ein ganz anderes ist, als das von
Klassizismus oder Barokk. Die Stelle der Romantik in der geschichtsphiloso¬
phischen Periodik ist deshalb weniger an eine bestimmte Klassik geknüpft
(wie die des Klassizismus), als an die Idee einer einmal realisierten Vollen¬
dung überhaupt.

Wir haben das Klassische als das natürliche Gleichgewicht von centripetaler
und centrifugaler Intensität definiert und haben zugleich auf die selten reali¬
sierbare Möglichkeit seiner Erfüllung hingewiesen. Wenn wir nun diese Stel¬
lung der Klassik in der geschichtsphilosophischen Periodik betrachten, so
können wir im Verhältnis zu ihr den Klassizismus als eine Herabminderuns
oder Spiritualisierung der Intensität — zur Aufrechterhaltung der Balance
bei einer Gesinnung, der dies nicht mehr naturhaft selbstverständlich ist -
bezeichnen, und damit nochmals dem Klassizismus seine Stelle in der
geschichtsphilosophischen Periodik nach der Klassik zuweisen. Diese
Bestimmung gibt uns zugleich die Möglichkeit, die Wesensart der beiden,
ebenfalls post rem vereinheitlichenden Stile kurz zu betrachten. Wenn die
Gesinnung zur Intensitätsgleichung die Selbstverständlichkeit der Klassik
noch nicht oder nicht mehr besitzt, so kann eine Harmonie auch auf dem
Wege der Intensitätssteigerung und einer aus ihr entstehenden, kampfvollen
und spannungsreichen, abenteuerlichen und heroischen neuen Beziehung
der centrifugalen und centripetalen Elemente entstehen. Während der Klas¬
sizismus durch Intensitätsschwächung eine Einheit ante rem leistet, liegt das
Wesen des Barokkstiles in einer durch Intensitätssteigerung erreichten Har¬
monie post rem, wenn die organische, in re Gesinnung der Klassik bereits
ei loschen ist. Daß dieser Stil vom centrifugalen ausgehen muß, wird wohl
als selbstverständlich erscheinen: Intensitätssteigerung kann nur, wenn
das Gleichgewicht erstrebt wird und das Werk erreicht werden soll, hier
entsetzen, denn die Steigerung der centripetalen Intensität bedeutet letzten
Endes bei realisierter Harmonie eine Minderung der Intensität: Klassi-
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 225

zismus. So bedeuten einerseits centrifugale Tendenz, Intensitätssteige¬


rung und Einheit post rem, und andererseits, centripetale Tendenz, Inten¬
sitätsschwächung und Einheit ante rem je dasselbe. Aus denselben Kunst-
und Lebenselementen, die die Klassik entstehen ließen, können nun diese
beiden Möglichkeiten entsteigen: Barokk und Klassizismus, z. B. die
unmittelbaren Schüler des späten Michelangelo und Gian Bologna, oder
Beethoven und Mendelssohn nach Mozart, Skopas und Piaxiteles nach
Phidias etc. Da aber das Wesen dieser Steigerung immer nur konkret
gedacht werden kann, bedeutet es eine merkwürdige Einheit von »Natu¬
ralismus« und Stilisierung: gerade die Seiten der Darstellbarkeit einer
Erscheinung, welche in der Linie einer höchsten Ausdrucksintensität hegen,
werden als immanente, jedoch in der Natur me vollendet realisierte
Tendenzen der Gegenstände selbst betrachtet und die Natur in dieser lhiei
— fiktiven — eigenen Entwicklungslinie übertroffen. Weil aber dieses Hmaus-
treiben über die Natur ein bewußtes ist, wird dadurch die Organik der
Gestaltung zerrissen und die Spannung zwischen einfachem und sollendem
Sein in die Gestalt selbst hineinverlegt; denn die Richtung dieser Intensitäts¬
steigerung fällt nicht mit den Postulaten der Gestaltung der Einzelerschei¬
nungen als Dinge zusammen: diese fordern den Schein der immanenten
Geschlossenheit für jedes Werkelement, dessen Gegenständlichkeit ein rela¬
tives Selbständigwerden zuläßt, während die Intensitätssteigerung als Ziel
jedes Ding zum bloßen Vehikel dieses Intensitätsausdrucks verwandelt und
seine Dinghaftigkeit nur insofern gestaltet, als sie zum Symbol und zum
Ornament der - im Vergleich zur konkreten und immanenten Organik des
Gegenstandes - abstrakten Intensität geworden ist. Dadurch ist aber auch
die Beziehung von Teil und Ganzem bestimmt. Je mehr in sich vollendetes
Eigenleben die Gegenstände besitzen, desto homogener muß die Beziehung
zwischen Umfassung und Umfaßtem werden, da die einmal geleistete orga.-
nische Gegenständlichkeit nicht mehr aufgehoben werden kann und darf;
bei einem pathetischen Fragmentansmus aber, wie beim Barokkstil, muß die
Einheit von anderer Art sein als das von ihr Vereinheitlichte: sie muß das an
sich Unvollendete fertig machen, das für sich Dissonante zum Einklang billi¬
gen, sie wird also gerade dort einsetzen, wo die Stilisierung auf Intensität —
bewußt und absichtlich — Lücken gelassen hat. Um aber der Wucht dei
centrifugalen Energien Gegenwehr leisten zu können, muß das ihnen cjuali
tativ heterogene Centripetale an Intensität ihnen gleichweitig sein, es muß
mit derselben Intensität und derselben Vergewaltigung der Organik, wie die
Einzelgestaltung die Dinge geformt hat, alles Vereinzelte umfassen und es
226
Philosophie der Kunst

in sein ihm fremdes System von Beziehung restlos einspannen. So herrscht


in beiden Prinzipien der Komposition Kampf und Spannung, es sind aber
Disharmonien, die aufeinander angewiesen und ineinander eingefügt sind,
aus deren Zusammenwirken also eine heroische Harmonie entstehen k,ann.
»• • • je gelockerter die Ebene«, so beschreibt Riegl den Barokkstil des Miche¬
langelo, »desto strenger die Symmetrie ... Es kommt dadurch zu einem
gewissen Eindrücke des Rotierens, einer Bewegung, die das Eigentümliche
hat, daß alle Teile in steter Bewegung sind, ohne daß das Ganze sich vom
Flecke rührt: äußerste Ruhe des Ganzen, äußerste Bewegung der Teile, also
wieder Steigerung der Gegensätze . . . Also in der Komposition dreierlei
Gegensätze: optischer Tiefraum, taktische Symmetrie; optische Schatten,
taktische Linie; Bewegung der Teile, Ruhe des Ganzen«'.
Nur eine allzu einseitig an das Klassische (oder Klassizistische) orientierte
Anschauung wird diese nahe Beziehung von Klassik und Barokk übersehen:
sie bewegen sich auf einem relativ gleichen Boden, und nur das notwendig
erfolgende in Qualität-Umschlagen der Intensitätssteigerung richtet zwi¬
schen beiden eine unüberbrückbare Kluft auf und erfordert, daß nachdem
die organische balancierten Teilelemente der Klassik diese Bindung
gesprengt haben, sie im Barokk in einer anders gearteten Ordnung einander
gegenüberstehen. So kommt im Barokk des Tintoretto und des Rubens die
Lichtkomposition auf, so im Elisabethinisch-Jakobinischen Drama, im Bar¬
okk, das auf Shakespeare folgte, die ausschweifendere, lyrischere und doch
strengere Bindung bei möglicher Vermeidung der Mischung von Komik und
Tragik (Beaumont-Fletcher, Webster, Massinger etc.). Ja es ist gerade diese
Beziehung zur Klassik, die das Barokk von dem — ihm sonst vielfach, wenn
auch oberflächlich, verwandten, noch zu behandelnden — anderen post rem
Stil am Wesentlichsten unterscheidet. Das Hinausgehen über eine Bindung
und das Hinstreben auf einen neuen post rem Stil, das als Tendenz immer
den Schein der Kündigung der Ordnung überhaupt an sich trägt, kann
nämlich nicht nur infolge einer Intensitätssteigerung, sondern auch durch
das Hinzutreten völlig neuer Ausdruckselemente bewerkstelligt werden. In
diesem Fall ist einerseits die Beziehung zur gekündigten Ordnung eine
weitaus lockerere, als sie bei dem Barokk war, ja der verlassene Stil ist
seinem Begriffe nach durchaus nicht notwendigerweise der klassische und
wird es sogar in der Wirklichkeit nur ausnahmsweise sein (z. B. in der Bezie-

[ i Die Entstehung der Barockkunst in Rom. Wien, Schroll. 1908. S. 3 5—36.]


Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 227

hung Massaccios zu dem auf ihn folgenden Quattrocento), andererseits ist


das Bewältigen-wollen der neu auftretenden Gestaltungselemente für die
Gesinnung dieses Stiles weitaus entscheidender als ihre kompositioneile Bin¬
dung. Dadurch rückt dieser Stil in einem gewissen Sinne in die Nähe der
Romantik: er hat mit ihr gemein, daß es auch bei ihm in erster Reihe auf das
Schaffen von Gegenständen und nicht auf ihre Zusammenhänge ankommt
(nur daß es sich hier um Ausdrucksintensität handelt, während doit »Schön¬
heit« das Gestaltungsziel war) und daß für beide der Gefühlsniederschlag
der erlebten utopischen Wirklichkeit, nicht aber deren Struktur zum
Vorbild, das den Weg zur Überwindung des Abstands zeigt, wird. Aber die
erlebte Vollendung ist hier nicht, wie in der Romantik, etwas Versunkenes
und Verlorenes, sondern im wörtlichsten Sinn eine Utopie: der kommende,
der noch nicht gefundene, aber auffindbare und zu suchende Sinn der Wirk¬
lichkeit. Der Abstand also, der hier bewältigt werden soll, ist der zwischen
Einzelerscheinung und Bindung. Der phänomenologische Wille des Künst¬
lers ist naturalistisch; er geht auf eine höchstgesteigerte, organische Inten¬
sität der Einzelgestalt aus, die er in der Natur zu finden und aus ihr bloß
herauszuheben meint und will auf diesem Wege, ausschließlich durch diese
Gestaltung, die noch nicht daseiende, diesen Erscheinungen jedoch aprio¬
risch zubestimmte Heimat finden. In diesem Kunstwollen ist also die
Ordnung, die letzte Einheit bloß postulativ: die Forderung einer neuen
Klassik. Dadurch scheint es, als wäre dieser Stil seinem Wesen nach der
Problematik anheimgefallen, denn eine postulative Einheit widerspricht
dem Wesen des Kunstwerks, ist ein Selbstwiderspruch. Hier aber wird dieser
Stil von der verlassenen und gekündigten Ordnung gerettet: diese schließt
das aus ihr Herausstrebende wieder ein und bindet es in einer Weise, in der
sein Suchen nach Neuem als Sehnsucht erlöst wird; sie wird zur ewigen
Gebärde des Suchens, zum Symbol des keimenden Lebens, das gerade seine
beengenden Hüllen abzustreifen im Begriffe ist. So ist das Stimmungskenn¬
zeichen dieses Stiles, den man nach seiner bekanntesten historischen Objek-
tivation vielleicht als Quattrocento bezeichnen könnte, die Strenge des
Suchens und der Reichtum des Gefundenen, das frisch Gelockerte der
Erscheinung und die herbe Zusammenfassung des Ganzen. Und seine Stelle
in der Periodik zwischen zwei Vollendungen, wovon che wesentlichei e tüi
seine Richtung die auf ihn folgende, für die Möglichkeit seines Gelingens die
correctiv-lebendige, die hinter ihm liegende ist. So steht die Entwicklung dei
archaisch-griechischen Plastik mit Myron als Gipfel zwischen dem Orient
und Phidias, so das Quattrocento zwischen den frühen Vollendungen eines
228 Philosophie der Kunst

Massaccio oder Piero della Francesca und der römischen Renaissance, so die
Jugend Goethes und Schillers zwischen dem Klassizismus Lessings und der
ihnen eigenen Weimarer Vollendung, während die Vorgänger Shakespeares
last ausnahmslos an dem Fehlen dieses Correctivs scheitern mußten. So nahe
hohe Intensitätssteigerungen dieses Stiles dem Barokk kommen mögen (dies
ist auch ein Grund, weshalb man beiden Stilen, jeden mit den Maßstäben des
anderen messend, ungerecht wurde), die Gesinnung zur Organik und das
Fehlen eines phänomenologischen Willens zum Zwang wird sie immer
voneinander scheiden: man muß nur Myron mit Skopas, Signorelli mit
Tintoretto, Marlowe mit Beaumont-Fletcher etc. vergleichen, damit diese
prinzipielle Differenz klarwerde.
Mit alledem ist kaum ein Abriß der geschichtsphilosophischen Typik und
Periodik der Kunst geleistet; es soll indessen hier auch nur auf einige Prinzi¬
pien hingewiesen werden. Wir sagten: eine wirklich konkrete Geschichts¬
philosophie der Kunst setzt das System der Künste voraus; nur nachdem dort
die Formenstruktur jeder einzelnen Kunstart genau dargelegt wurde, kann
es wirklich begriffen werden, wie sich die hier bloß in ihrer abstrakten
Möglichkeit skizzierte Typik in den einzelnen Künsten gestaltet und
konkretisiert; das hier analysierte einzige Beispiel genügt wohl, um zu
zeigen, daß jeder Stil in jeder Kunstart, je nach ihrer spezifischen Struktur,
eine spezifische Form aufnehmen muß, und eine wieder allgemein werdende
Geschichtsphilosophie der Kunst kann nur als Synthese auf diese Analyse
folgen, nicht aber deren Resultate irgendwie vorwegnehmen. Wenn aber die
Geschichtsphilosophie diese Synthese vollzieht, so wird sie sich noch einmal
mit der Einmaligkeit des geschichtlichen Ablaufs auseinandersetzen müssen.
So wie wir zu sehen gezwungen waren, daß die Lokalisierung eines Stiles auf
eine Kunstart zu Unklarheiten führt, weil es zum Wesen des Stiles gehört,
sich auf alle Kunstarten, wenn auch in je verschiedener Weise, zu beziehen,
so sahen wir auch, daß es nicht angeht, irgendeine einmalig geschichtliche
Erscheinung durch ästhetische Kanonisierung ihres geschichtlich durchdrun¬
genen Gehalts zum Gegenstand der Geschichtsphilosophie der Kunst zu
erheben, da jede solche Einheit (Griechentum, Gothik, Renaissance) in
verschiedene Typen des geschichtsphilosophischen Systems zerlegt werden
muß.
Diese Einheiten sind aber doch weder bloß fiktiv, noch für die Ästhetik irre¬
levant. Wenn sie sich vorerst auch nur als Einheiten des gestalteten Gehaltes
fassen lassen, so ist damit ihre Bedeutung doch nicht erledigt. Unsere
Analyse der einzelnen geschichtsphilosophischen Typen zeigt uns, daß die
229
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit

Bewegung der Kunst innerhalb ihrer Periodik keine immanente Selbstbewe¬


gung des geschichtsphilosophischen Begriffes ist, daß diese Typik vielmehr
nur die formalen Möglichkeiten angeben kann, wie sich eine Bewegung, die
von fremden Kausalitäten getrieben wird, ästhetisch zu objektivieren ver¬
mag. Damit ist für die geschichtsphilosophische Typik und Periodik eine
doppelte Irrationalität gegeben. Erstens wird die tatsächliche Aufeinander¬
folge in unbegrenzter Variabilität sich innerhalb des geschichtsphilosophi¬
schen Rahmens abspielen (ob auf Klassik Klassizismus oder Barokk, oder
eventuell Romantik folgt, oder alle drei oder zwei von ihnen etc., läßt sich
aus der Typik selbst natürlich nie ableiten, noch irgendwie anders als nach¬
träglich, als Einmaligkeit begreifen). Zweitens sondern sich die einzigaitigen
Realisationen je eines geschichtlichen Ablaufsstadiums streng voneinander
ab, indem die Verschiedenheiten des gestalteten Gehalts, welche - wie wir
sahen - von den historisch bestimmten Gesinnungen und Aufgaben
abhängig sind, sich auch als einzigartige, rein ästhetische Formenstrukturen
enthüllen. So streng auch die einzelnen Kunstarten an sich und — mneihalb
eines solchen Stadiums - die verschiedenen geschichtsphilosophischen Perio-
dicitätstypen voneinander zu trennen sind, haben diese Stadien doch einen
ästhetisch genau konkretisierbaren, wenn auch in seinen Gründen irrationel¬
len, einheitlichen Sinn. Es können Formenstrukturen in der griechischen
Plastik, Tragödie oder Architektur nachgewiesen werden, welche sie gerade
in kompositionell einheitlicher Weise etwa von Plastik, Tragödie und Aichi-
tektur der Renaissance unterscheiden: es ist ein gemeinsames »Was« des zu
Gestaltenden aus dem gemeinsamen »Wie« der Gestaltung abstrahierbar.
Ohne die Scheidung der Kunstarten oder der geschichtsphilosophischen
Typen aufzuheben, ergeben sich hier einmalige Begriffe für die letzten
Elemente der Kunstwerke (z. B. Bewegung, Leidenschaft usw.), welche
ebenso einmalige Beziehungsbegriffe zwischen ihnen eiioidern (z. B.
Gleichgewicht). Es wird die Aufgabe der Geschichtsphilosophie der Kunst
sein, neben ihrer zeitlosen Periodik den ästhetischen Sinn dieser einzigai¬
tigen und nicht wiederkehrenden Studien zu deuten.
Diese Betrachtung muß sowohl von der rein geschichtlichen, wie von der
essayistischen Gestaltungsweise streng unterschieden werden. Der Essay hat
zwar die geschichtsphilosophische Beschaffenheit der Kunst zum Gegen
stand, er hat es aber nur mit der erlebten Evidenz dieses geschichtsphiloso-
phischen Seins zu tun; er umfaßt also sowohl Ewigkeit wie Zeitgebundenheit
der Kunst, statt aber nach Erkenntnis ihrer zeitlosen Struktur zur letzten
Faktizität ihrer Einmaligkeit vorzudringen, gestaltet er die unmittelbaren
230 Philosophie der Kunst

Spiegelungen ihrer erlebten Ewigkeit, so daß die Paradoxie dieser


Erkenntnis in der Paradoxie seiner gestaltenden Form zwar enthalten, aber
nicht auseinandergelegt ist, und deshalb in ihr nicht zur Klärung und Lösung
gedeihen kann. Für die rem geschichtliche Betrachtungsweise hingegen ist
selbst das hier Logisierte, worüber hinaus der Sinn der letzten Faktizität als
Problem der Geschichtsphilosophie der Kunst gesucht werden muß, nur
Tatsache. So wie die Geschichte alle relativ historischen Generalisierungen
nur als Hilfsmittel gebrauchen kann, so werden die von der Geschichtsphilo¬
sophie der Kunst, die ein Teil des Systems der Ästhetik ist, aufgestellten Stil¬
typen für sie nur den Wert von »Idealtypen« im Sinne von Max Webers
Terminologie haben, also auch nur Mittel und nicht Gegenstände der
Erkenntnis sein. Die Einzigartigkeit des Griechentums im Vergleich zum
Mittelalter unterscheidet sich also für den reinen Historiker qualitativ
garnicht von der Einzigartigkeit der griechischen Klassik im Vergleich zum
Archaismus, oder selbst von der Einzigartigkeit der Gestaltungsweise des
einen Künstlers von der des anderen. Darum kann der reine Historiker die
hier gesuchte letzte Einzigartigkeit von der allgemein historischen nicht
deutlich abheben; ihr rein strukturelles, objektiv-ästhetisches Wesen wird
für ihn nur ein Kennzeichen der Historizität neben anderen gleichwertigen
sein. Geschichtsphilosoph und Historiker der Kunst haben also, wenn sie von
der Einzigartigkeit einmaliger Perioden und von der Einmaligkeit des
Gesamtablaufs sprechen, nicht einmal den Gegenstand der gesuchten
Erkenntnis gemein. Für den Historiker ist der Gesamtkomplex etwas inhalt¬
lich Einmaliges, zu dessen Verständnis und Zusammenfassung ihm Ästhetik
und Soziologie Hilfsmittel der Erkenntnis bieten; sein Gegenstand ist die
Totalität dessen, was als Kunst bezeichnet werden kann. (Daß dieser Begriff
für den Historiker ein schwankender ist und daß er nicht nur in bezug auf
Einzelerscheinungen, sondern selbst auf ganze Gattungen - z. B. Garten¬
kunst — nicht selbst die Entscheidung, ob etwas der Kunst angehört oder
nicht, zu fällen vermag, daß er dies also als »Tatsache« entweder von der
Ästhetik oder von dem Lebensgefühl seiner Zeit zu übernehmen hat, ist
selbstverständlich, ist jedoch hier nur als weiteres Bestimmungselement der
Verschiedenheit der Gegenstände von Belang.) Der Gegenstand für den
Geschichtsphilosophen der Kunst hingegen wird nur die zur Kategorie
gewordene Einzelerscheinung sein. Er hat in den Begriffen der Stile einer¬
seits und der Kunstformen andererseits die historisch-metahistorische
V* esensart der wahrhaft kanonischen Werke erkannt. Wenn also hinter dem
zeitlos-historischen System dieser Verzweigungen eine Einheit sichtbar
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 231

wird, deren Wesen in ihrer Einmaligkeit besteht, so kann dadurch das schon
erreichte Kanonische nicht mehr ins Empirisch-Einmalige herabgezogen,
sondern nur in seiner ewigen Geltung gesteigert werden: der letzte - histori¬
sche — Grund der Kunst ist von der empirischen geschichtlichen Continuität
noch entfernter als es jede historisch-metahistorische Typik sein kann, sie ist
noch allgemeiner, sie ist die reinste Verwirklichung des ästhetischen Wertes.
Diese Einmaligkeit steht zu der rein historischen im Verhältnis der Idee zur
Wirklichkeit: in ihr drückt sich der geschichtsphilosophische Sinn eines
Stadiums, einer Epoche aus, und von allem, was diese Epochen tatsächlich
hervorgebracht haben (deren Gesamtheit Gegenstand des HistonKeis ist,,
kommt nur das in Betracht, worin sich diese Idee realisiert hat und auch nur
insofern, als sich diese hier realisiert hat. Der Gegenstand der Geschichtsphi¬
losophie der Kunst ist das zur Kategorie der sinnvollen Einmaligkeit gewor¬
dene Einzelne. Dieser Sinn ist für den Geschichtsphilosophen der Kunst
adäquat erfaßbar, und er wird eine — nur vom Standpunkt der reinen Histo¬
rizität aus eine willkürlich scheinende — Auswahl treffen, wenn für ihn dei
größte Teil an sich wertvoller Kunstwerke nicht in Betracht kommt, ja wenn
er ganze Epochen der Kunst als nicht-seiend, weil nicht zum Kanon dieses
Sinnes gediehen, behandelt. Aber geradeso wie für den Historiker, wenn ei
nicht zur Ästhetik transcendiert, seine Beziehung zum Stoff mit allei liratio-
nalität. die daraus folgt, unüberwindlich bleibt, so muß der Geschichtsphilo-
soph der Kunst, wenn er über die Faktizität der deutbaren einzelnen Revela
tionen einzigartiger und einmaliger geschichtsphilosophischer Sinnesrealisa¬
tionen hinausgehen und noch darüber hinaus eine letzte Einheit der
gesamten Kanonik der Kunst erreichen will, die immanente Ästhetik trans-
cendieren und Metaphysiker der Kunst werden. Die Einheit, die der Histo¬
riker in der kulturgeschichtlichen Zusammenfassung zu finden vermag, ist
ihm versagt und er muß sich damit begnügen, alles ästhetisch-konomsch
Logisierbare hinter sich lassend, vor der rein erkannten Faktizität cliesei
letzten Einmaligkeit stehen zu bleiben. Nur wenn in dem geschichtlichen
Ablauf selbst ein einheitlicher Sinn aufgefunden werden kann, können seine
Objektivierungen in der Struktur der Kunstwerke ihrer Ursache nach
begriffen werden. Die Geschichtsphilosophie der Kunst wird sich also
entweder mit der letzten Irrationalität des einmaligen geschichtlichen
Ablaufs - bei der Erkenntnis dieser seiner Faktizität - begnügen, oder sie
wird metaphysisch werden müssen: sie wird in diesen, von keiner rein ästhe¬
tischen Systematik faßbaren Begriffen von Entwicklungsstadien dei Kunst
Spuren und Zeichen des letzten, metaphysischen Sinnes des Weltlaufs
232
Philosophie der Kunst

erblicken und ihre Hieroglyphen in einer, die Kunst miteinbegreifenden,


aber bei ihrem Begreifen nicht stehenbleibenden Weise abzulesen versuchen.
ANHANG I

[Dieses Fragment fand sich als Manuskript im Lukäcs Nachlaß. Es ist die
erste, später umgearbeitete Fassung des Anfangs des ersten Kapitels der

»Philosophie der Kunst«]


*35

i. Das Dasein des Werks

Denken ist das Lautwerden des Gegenstandes: das blinde Sich-kreuzen und
Vermischen von Heterogeneitäten, das wahllose Ineinander von inadäqua¬
ten Formen, ziellosen Halbfabrikaten und wirren Inhaltlichkeiten, deren
subjektiv-reflexive Einheit im Moment des Erlebnisses wir »Leben« zu
nennen pflegen, wird rein, kehrt in sich zurück und findet, selbstgeworden,
die Heimat in der zum vollendeten System gereiften Philosophie. Das
System ist für diese Gesinnung keine Konstruktion mehr, wo alles aus der
immanenten Logik eines seinen Gegenstand rein erzeugenden Denkens ent¬
wickelt wird und wo den Dingen bloß ihre Stellen zugewiesen werden: Stel¬
len, die absolut konstitutiv sein sollen, die - wie das Kompositionspiinzip
eines strengen Freskos oder Dramas - durch Ort und Beziehung alles über
die Dinge aussprechen sollen, was über sie auszusprechen ist. Dieses Denken
will von den Dingen lernen, und wenn es sie zur Reinheit zurückfuhren, sie
aus den falschen Verbindungen und kraftlosen Sonderungen des einfachen
Gegebenseins in die Systematik erlösen will, so will es sie zu der ihnen
eigenen und eingeborenen Reinheit zurückführen, nichts will es ihnen
geben, als was zu besitzen ihnen bloß die Kraft der Reinheit gefehlt hat.
Diesen Willen zum Sinn muß jede Philosophie haben, diesen Glauben am
Sinn darf sie deshalb für sich als erlaubte und eingestandene Voraussetzung
in Anspruch nehmen, und diese Gesinnung zum Sinn hat sie als Verhalten
von jedem, der als Begreifender in Betracht kommen will, zu fordern.
Den Sinn von etwas finden kann aber nichts anderes heißen, als das
irgendwie Gegebene auf seine immanente Homogeneität zuruckzufuhren, es
in&dieser, ihm innerlich angemessenen homogenen Sphäre zum Gegenstand
zu klären und zu erheben, und den so aufgefundenen Gegenstand zu begrei¬
fen, auf seinen Begriff zu bringen. Daß man also von den Dingen lernen
kann und soll, bedeutet, daß man sie deshalb nicht durch Begriffe vergewal¬
tigen muß, vielmehr sie bis zu ihrem Begriff läutern soll; es bedeutet, daß die
begriffene Welt nur in der vollendeten Totalität ihrer erreichten Systematik
sich ganz zur Einheit rundet, daß - als notwendige und unaufhebbare Stufen
zu dieser Krönung - einheitliche, in sich abgeschlossene, homogene Sphären
der begriffenen Gegenstände gefunden und konstituiert werden müssen; es
bedeutet die Absage an jeden methodologischen Monismus, der mit einer
einmal glücklich entdeckten und irgendwo vielleicht tadellos funktionieren-
23 6 Philosophie der Kunst

den Methode die Einheitlichkeit des letzten Erkenntniszusammenhanges


voreilig und jakobinisch als Unitormisierung der voneinander unabhängigen
homogenen Sphären auffassen will und diese der ihnen eigenen Strukturen
zu berauben sucht. Denn die Möglichkeit der Erkenntnis eines für sich beste¬
henden Komplexes setzt diese - relative - Unabhängigkeit homogener
Sphären voraus und stellt dem Erkennenden die Aufgabe, die Struktur sui
generis der Sphäre, welcher der von ihm als Problem gefaßte Gegenstand
zugehört, aufzudecken, sie als etwas in sich Einheitliches und Abgeschlos¬
senes zu begreifen, so daß jedes zum Gegenstand der Erkenntnis gewordene
Ding nur bis zu der in ihm ursprünglich implicite erhaltenen Wesenheit
gebracht wird. Dadurch ist die doppelte Verantwortlichkeit des Erkennen¬
den bestimmt; die Verantwortung den Dingen gegenüber, die zum
Auffmden der homogenen Sphären mit voneinander verschiedenen Struk¬
turverhältnissen führt, und die Verantwortung dem System gegenüber, durch
die alle Endresultate dieser früheren Bewegung als Fakte höherer Ordnung,
als Tatsachen und Gegebenheiten eines, jetzt erst zu findenden neuen
Zusammenhanges wieder als Probleme gefaßt werden. Diese Sphären mit
ihren Strukturen sui generis, die hier als Bedingung einer wirklichen
Ei kenntnis gefordert werden, stehen nicht nur in keinem Gegensätze zu dem
Millen zur Einheit im System, sie sind vielmehr die einzig mögliche Vorbe¬
dingung derselben: wenn ein System der Erkenntnis nicht bloß ein
vorschwebendes und müßiges Gedankengebilde sein will, das auf nichts
auftrifft und auf das sich nichts bezieht, so muß es sich diesem Prozesse
unterziehen: den Gegebenheiten ihre methodologischen Formungen abzu¬
lauschen und diese dann — als wiedererrungene Und reingewordene Gege¬
benheiten zweiter Stufe — in ihrem Zusammenhang zu begreifen. So wird die
Erkenntnis zu einem doppelten Prozeß des Lernens von immer klarer zu sich
einkehrenden Gegebenheiten, von Tatsachen, die durch Formungen wieder
zu Tatsachen höherer Zusammenhänge sich zusammenfügen. Von diesen
Tatsachen zweiter Potenz, die die methodologische Vollendung der einzel¬
nen homogenen Sphären der Metaphysik als abschließender Systematik dar-
bietet, sind hier für uns zwei von höchster Bedeutung: erstens das Transcen-
dieren der Gegenstände und Begriffe von einer Sphäre in die andere, zwei¬
tens ihr Immanent-bleiben, ihr Erreichen der ihnen gegebenen begrifflichen
Vollendung in der eigenen Sphäre als einziger Heimat. Jede Wissenschaft ist
durch Alt und Grad des Transcendierens und des Immanent-bleibens ihrer
Grundbegriffe und eigenster Gegenstände bestimmt, und weil im conse-
quenten und gegenständlichen Denken jeder Begriff solange transcendieren
Anhang *37

muß, bis er seine wirklich eigene Sphäre erreicht hat, ist für jede Wissen¬
schaft das Auffinden des Gegenstandes oder Gegenstandkomplexes, der für
sie als Ausgangspunkt, als centrale Gegebenheit dienen kann, eine Existenz¬
frage. Denn nur durch dieses Auffinden kann es entschieden werden, wo und
wie eine Wissenschaft im System der Erkenntnis steht, ob sie in sich abge¬
schlossen werden kann, oder gerade über ihren ausschlaggebendsten Pioble-
men in anderen Sphären der letzte Rechtsspruch gefällt wird. Die Strenge
der Begriffbildung bezieht [sich] deshalb auf diese zwei Reihen, und fordert
einerseits ein Nie-stehen-bleiben, ein Immer-höher-transcendieren dei Grund¬
begriffe, bis man sie nicht zum selbstverständlichen Stillstehen an dem ihnen
zukommenden methodischen »Ort« gebracht hat, andererseits aber ist die¬
selbe Strenge in der Richtung auf Immanenz von Nöten, indem man, solange
nur irgendein Grundbegriff oder irgendeine Grundgegebenheit aufzufinden
ist, die weniger zum Transcendieren und hiermit zur Abschwächung der
Existenz und Struktur sui generis der Sphäre hinneigt, die Pflicht hat, diese
zu wählen und der Sphäre von hier aus die ihr eigenst angemessene Struktur
zu geben. Wenn also alle scharfsinnigen und feingedachten Versuche der
Rechtsphilosophie, das ganze Problem von Schuld und Verbrechen inner¬
halb der Kompetenz der Rechtssprechung abzuhandeln und so dem Recht
eine immanente, nicht zur Ethik transcendierende Sphäre zu sichern, nur
zum juristischen Aussprechen der Motive aus privater Moral durch
mildernde Umstände, Geschworenengerichtsbarkeit etc. und der Motive aus
sozialer Moral durch die eigene Kategorie des »politischen Verbrechens«
hinreichen, wenn dagegen der Aufstand gegen das Gesetz, der aus
dianoetischer Moral oder erst aus rein religiösen Motiven geschieht, juristisch
nicht mehr faßbar ist und Christus und Sokrates - juristisch - nur als »Ver¬
brecher« begriffen werden können, so liegt hier unbezweifelbar ein Pall des
Transcendierens vor, der als Faktum der Strukturzusammenhänge zwischen
Rechtsphilosophie und Ethik erst in der allgemeinen Systematik erledigt
werden kann. Hingegen konnten manche scheinbar starke Tendenzen zum
Transcendieren von Geschichte über Geschichtsphilosophie zu einer mate¬
rialistischen Weltmetaphysik [. . .]* werden, indem der Begriff des »Geset¬
zes« seiner angemaßten, centralen Stellung in der Struktur und dem Aufbau

der geschichtlichen Welt enthoben wurde.

* [Drei Worte unlesbar]


238 Philosophie der Kunst

Darum wird jeder ernsthaften Untersuchung eines Gebietes — bewußt oder


unbewußt - die tiefe und alle vorangehenden Forschungsmethoden umwäl¬
zende Fragestellung Kants: »wie ist. . . möglich?« zu Grunde hegen. Der
scheinbare Zirkel in der Grundlegung dieser Methode, die Voranstellung des
Zu-Beweisenden, einer »Tatsache«, deren Wesen bloß durch das Endresultat
des Erkenntnisganges begriffen und deren Auf-sich- beruhen bloß durch ihr
Wiedei-erreicht-werden als Schlußbegriff der Sphäre garantiert werden
kann, findet seine Rechtfertigung in dem durch diese Methode entstande¬
nen, neuen Begriff des »Gegebenen«. Die doppelte Verantwortlichkeit und
zweiseitige Strenge des Denkens, die Vereinigung von ewiger Wahrheit und
Ffingebung den Dingen gegenüber, die früher gefordert wurde, kann nur auf
diesem Wege erreicht werden. Denn nur in dem folgerichtigen Zu-Ende-
gehen des hier aufgezeigten Weges wird der Gegensatz von Formung und
Tatsache, von Gefolgertem und Gegebenem, also letzten Endes von Form
und Materie, nicht aus der Welt geschafft, nicht »aufgehoben«, sondern als
notwendiger — wenn auch relativer — Gegensatz begriffen und in den Bau
des Systems emgeordnet. Wir haben einzusehen, daß uns nur Formungen
gegeben sind, daß in einem vollendet und adäquat gedachten System der
Foimen dei ganze Gegensatz, der unsere Welt erfüllt, gar nicht da wäre; daß
wir von dem gegensätzlichen Prinzip der Formen gar nichts wissen könnten,
ja über kein Mittel zur Erlangung seiner Denkbarkeit verfügten, wenn die
vor uns liegende, uns gegebene und aufgegebene Mannigfaltigkeit der
Formungen ein System von adäquaten Formen wäre. Dieses Ideal — das
Schillerische Ideal einer Vertilgung des Stoffes durch die Form - stellt diese
Methode dem Denken, und der Weg, den ihre Frage »wie ist . . . möglich?«
ihm zuweist und aufzeigt, ist das Suchen nach wahrhaft konstitutiven
Begriffen und Beziehungen. In der Fragestellung Kants steckt die Forderung
und die Gesinnung, daß beide aufzufinden sind, und das Aufgreifen einer
Formung aus den unzähligen der Wirklichkeit, ihres Klarmachen als Gege¬
benes und als Problem setzt sowohl den Glauben an die immanente Cohä-
lenz der auf die Dinge auftreffenden Begriffe, wie den an die immanente
Logik dei sie verbindenden Beziehung voraus. Indem also eine Formung als
gegeben vorangestellt und aus ihrer Tatsächlichkeit heraus »wie ist sie
möglich?« gefragt wird, werden wir in diesem Prozeß des reinmachenden
Flomogeneisierens von diesen beiden immanenten Kräften geführt, geför¬
dert und begrenzt. So wird der Zirkel der Antinomien am Ausgangspunkt
gelöst: denn durch diese Rückkehr zum Ausgang haben wir eine neue Welt
erobert, die durch ihr bloßes Bestehen-können sich selbst begründet und wo
Anhang 239

der am Schluß erreichte Anfang als notwendiger Gipfel eines notwendigen


Ganges erscheint. Aber nur am vollendeten System. Denn der Tatsachencha¬
rakter des Ausgangspunktes kann bei aller Relativität von Formung und
Gegebenheit in einem methodologischen Abschnitt nie endgültig aufgeho¬
ben werden, ja selbst in den Nebeneinanderreihen aller möglichen methodo¬
logischen Gebiete nicht. Am Schlüsse als Gipfelbegriff seiner methodologi¬
schen Schicht, wo anscheinend alles Gegebene schon in dem begrifflichen
Aufbau eingegangen ist, wird vielmehr das ganze Endresultat, das
Verhältnis von Transcendieren und Immanent-bleiben im Strukturzusam¬
menhang, als neue, schon ganz rein gewordene Gegebenheit höchster
Ordnung, als Aufgabe vor die letzte Systematik gestellt. Nur in ihr hört
diese Zweiheit auf und mit ihr das Hypothetische und dem Augenschein
nach Willkürliche des Ausgangspunktes: diese Wege fuhren alle nach Rom,
oder besser: der Weg wird dadurch, daß er nach Rom führt, und nur dadurch
als Weg erkannt und anerkannt. Daß die erste - willkürlich gewählte und
vorerst hypothetisch ins Centrum gestellte - Gegebenheit zum widerspruch¬
losen Aufbau einer Sphäre ausreicht und als Gegebenheit zweiter Potenz voi
die Systematik gestellt werden kann, vermag nur eine arbeitstechnisch¬
methodische Rechtfertigung dieser Willkür zu geben; daß aber diese Willkür
nur eine scheinbare ist, daß sie nur wegen unserer vorerst postulativen und
abstandsreichen Stellung zum vollendeten System überhaupt als Wahl und
Willkür aufgefaßt werden kann, ist das rückblickende Resultat des zu Ende
gegangenen Weges. Vom Standpunkt des erreichten Systems aus betrachtet
wird dieses Abenteuer der Vernunft zur sachlichen Notwendigkeit des
Sprungs von der Heterogeneität der bloß erlebten, reflexiven Wirklichkeit
— über die einzelnen Sphären von erkannten Komplexen hindurch — zu dei
vollendeten, konstitutiven Homogeneität der letzten Wirklichkeit im
System. Und so wie es, wenn die Vollendung erreicht ist, nur ein Erreichen
geben kann, so kann es bei dem implicite konstitutiven Charakter der beiden
Reiche, die den möglichen Weg und durch ihn die eventuell möglichen
Ausgangspunkte bestimmen, letzten Endes doch nur ein Weg und einen
Ausgangspunkt geben. So können wir auf die Frage »wie ist . . . möglich?«
nur ein: »es ist notwendig« als Antwort enthalten, wenn Frage und Weg
nicht als falsch entlarvt werden, und durch die Krönung und Weihe dieser
Notwendigkeit wird das Abenteuer des Anfangs legitim, wie ein Condot-
tieri, der sich einen Thron erkämpft hat, in seinen regierenden Enkeln als
Ahne des Geschlechts alles Unsichere und Gewagte der ersten Eroberung
abgelegt und für immer ungeschehen gemacht hat. Das hypothetische und
240
Philosophie der Kunst

willkürlich scheinende Faktum des Aufgreifens einer bestimmten Formung


kann also nur durch eine solche Selbstgarantie des Systems gehoben werden
und ein festeres Fundament können wir nirgends finden, wollen es aber auch
nicht suchen.

Kant stellte die mathematische Naturwissenschaft als »gegeben« vor seine


Erkenntnislehre und das Faktum der Selbstgesetzgebung vor die Ethik. Für
die Ästhetik hat weder er, noch die, die auf ihn folgten, ein analoges
Verfahren versucht, und doch dringt sich diesem Gebiet, so roh geformt und
bloß empirisch umgrenzt wir es uns auch jetzt noch vorstellen mögen, mit
derselben Selbstverständlichkeit, wie in der Erkenntnis die Tatsache der
Gewißheit der Naturgesetze, das Faktum des In-sich-Geschlossenseins und
In-sich-ruhen der Werke der Kunst auf. Wir nehmen also diese als gegeben,
als Tatsachen an und fragen: es gibt Kunstwerke - wie sind sie möglich?

Wir werden in eine, als Erlebnis unaufhebbare und darum nur als Selbstver¬
ständlichkeit erlebbare Welt des historisch Entstandenen hineingeboren.
Darum wird für das einfache Nachdenken, das nur die in dieser Wirklichkeit
deutlich sich aufweisenden Linien zu Ende läuft, sie aber nicht in ihrer -
jenseits von ihr liegenden — Wesenheit ergreift und zu begreifen sucht, alles
durch die geschichtlich gegebene Vergangenheit der Menschheit Produzierte
in einer Atmosphäre der natürlichen Notwendigkeit und fernab von jeder
Fragwürdigkeit stehen. Für dieses Denken, aus dem ja auch die wundervoll-
tiefe Ehrfurcht großer Fiistoriker vor jedem Faktum als Sein und Zeichen
des Seins entspringt, hebt das Da-Sem von Etwas alle seine Problematik auf.
So müssen die Werke der Kunst als eine uns angegebene, freundliche und
fiaglose Selbstverständlichkeit erscheinen: für alle unsere Stimmungen
scheinen überall entsprechende Stimulanzen hoher oder niederer Ordnung
in einer angenehmen und leicht erreichbaren harmonia praestabilita bereit
zu stehen; und von den Werken, an deren nicht [.. .]*

[Das Manuskript bricht hier ab]


ANHANG II

[Wie das im Nachlaß gefundene Manuskript ausweist, hat Lukacs den ersten
Abschnitt des ersten Kapitels wesentlich geändert und zwar noch bevor das

Manuskript abgeschrieben war.


Das Originalmanuskript fängt auf Seite 5 mit einem ausgestrichenen Halbsatz
an. Titel wie die Ziffer 1 wurden offensichtlich später mit Bleistift über das

Manuskript gesetzt.
Im Nachlaß fand sich die erste Variante des Endes des ersten Abschnittes,
die von der späteren - der Drucklegung hier zugrundeliegenden - Abschrift

wesentlich abweicht.
Die Variante wird, wegen ihres inhaltlichen Gewichts im Folgenden als

Anhang abgedruckt.]
.

'


Anhang 243

Die Erkenntnis dieser Bedingungen des Werks gibt uns Klarheit über sein
zeitloses Wesen: die Zeitlosigkeit, die Ewigkeit des Werks bedeutet vor
allem, daß es in der vom phänomenologischen Subjekt des Receptiven reali¬
sierten Bereitschaft die normativ vorgeschriebene Wirkung hervorbringen
kann, daß es also - unabhängig von dem zeitlichen Ablauf — diese Wirkung
haben soll. In dieser Beziehung unterscheidet sich also der ästhetische Wert
kaum vom logischen oder ethischen: die Zeitlosigkeit bedeutet hier ebenso¬
wenig ein Überdauern der Zeit oder ein Überihrschweben (was alles zeit¬
liche Bilder für das Überzeitliche sind), sonder eine ewige Geltung des
Wertes, die nur in Beziehung auf die Realisierung des Wertes so ausgespro¬
chen wird, daß der Wert jederzeit (also unabhängig von der Zeit) realisiert
werden soll. Innerhalb dieser Gemeinsamkeit der Werte zeigen sich freilich
manche qualitative Verschiedenheiten des ästhetischen Wertes von den
anderen Werten; vor allem wieder in dem Problem des »Neuen«. Wir haben
gesehen, daß die Zeitgebundenheit im Entstehen des Werkes nur in einer
gewissen, ästhetisch-normativ vorgeschriebenen Weise überwunden werden
kann und auch aus dem vollendeten Werk selbst nie vertilgt werden soll, daß
diese Beziehung zur Zeit für das Werk selbst konstitutiv ist; daß also jedes
Werk als Werk und im positiven, wertbetonten Sinn »neu« ist.
Dieses »Neue« ist aber nicht mehr ein zeitlich-historischer Relationsbegiiff,
sondern eine ewige Qualität des Gehens, eine Eigenschaft der sollenden
Realisation des Wertes: das Werk soll auf den normativ-phänomenologi¬
schen Receptiven so wirken, als ob sich vor ihm plötzlich eine Welt eröffnen
würde, die ganz »neu«, d. h. vor allen anderen, früher erlebten prinzipiell
verschieden ist. Dadurch ist aber das »Neue« unhistorisch geworden, sein
Wesen besteht jetzt in der vollendeten und restlosen Unmittelbarkeit des
normativen Erlebnisses; das Werk ist aus dem Zusammenhang, aus dem es
notwendig entstanden ist, herausgetreten, hat alle Relationen, in bezug auf
welche es in seinem Entstehen notwendig »neu« war, von sich abgestreift
und nur den rein formalen Character des »Neuen« überhaupt bewahrt: es ist
die hinreißende und unmittelbare, überraschende und überwältigende Erfül¬
lung der Sehnsucht des Receptiven, sein Herausgerissenwerden aus dem
gewöhnlichen Leben und sein Emporgehobensein darüber; ein Sprung in der
Erlebnisreihe des Receptiven und deshalb in bezug auf diese Reihe: »neu«.
244 Philosophie der Kunst

Es ist aber in diesem Begriff des »Neuen« als Qualität des geltenden Wertes
etwas, was von dem Begriff des »Neuen« als Bestandteil des normativen
Entstehungsprozesses völlig verschieden ist: er ist Gegensatzlos.
Im Entstehen des Werks hat das »Neue« stets als Gegensatz das »Andere«,
das »Alte« etc., wenn auch diese Entgegensetzung seinem normativen
Character nach kein bewußter Willensakt ist, sondern die notwendige Folge
der Erlebnisunmittelbarkeit des Schöpfers als historischen Individuums; im
Werk selbst dagegen hört diese Entgegensetzung auf. Denn das Wesen des
Werks als utopischer Wirklichkeit bedingt auch hier eine coincidentia oppo-
sitorum: einerseits muß es »neu« sein, weil es die vollendete Erfüllung selbst
im unmittelbaren Erlebnis ist und so jedem Wunsch und jeder Sehnsucht
qualitativ heterogen, andererseits ist es aber doch die Erfüllung einer
bestimmten Sehnsucht, eines bestimmten Leidens und kann den Erfüllungs-
character nur dann ganz rem in sich realisieren, wenn es als apriorisches
Objekt und Ziel der Sehnsucht erscheint, wenn gerade diese Erfüllung etwas
ihrem Wesen nach der auf sie gerichteten Sehnsucht Vertrautes ist. So ist das
Werk zugleich »neu« und »alt«; es besitzt diese entgegengesetzten Eigen¬
schaften unzertrennbar m sich vereinigt, als — ohne innere Entgegengesetzt¬
heit — einander bedingend. Diese Gegensatzlosigkeit ist freilich nur im Werk
selbst erhalten, kann also nur erkannt, nicht aber — als Gegensatzlosigkeit —
erlebt werden; im receptiven Erlebnis trennen sich diese beiden Elemente
des Werks wieder und wenn sie sich auch gegenseitig bedingen, so besteht
doch eine paradoxe Entgegensetzung zwischen ihnen. Das Gegensatzpaar,
das im receptiven Erlebnis entsteht, ist nicht nur von der objektiven
Werkstruktur, sondern auch vom Erlebnisgegensatz beim Schaffenden ver¬
schieden: das »Neue« wird wieder zu einem zeitlichen Relationsbegriff, was
ihm aber gegenübersteht, ist die vorangegangene historisch-individuelle
Erlebnisreihe des Receptiven; das Werk ist also für den Receptiven nur
darum aus der Voraussetzungscontinuität, die es hervorgebracht hat, heraus¬
getreten, um sich als »Neues« von gleicher Struktur, aber verschiedener
inhaltlicher Erfüllung, in die Erlebnisreihe des Receptiven einzufügen. (So
ist — um ein recht einfaches Beispiel zu sagen — für den schaffenden Tizian
Giorgione die Voraussetzung, der gegenüber seine Werke »neue« sind; für
den heute Wirkenden kann etwa ein Bild Anselm Feuerbach’s diese Voraus¬
setzung sein.) Die »Vertrautheit«, die für die Struktur des Werks das mit
dem »Neuen« identische »Alte« bedeutet, ist hier nur ein Teil dessen, was
mit dem »Neuen« des Ausdrucks kontrastiert: das positive, inhaltsbetonte,
wunschartige Element der Voraussetzung der Wirkung, und es ist mit den
Anhang *45

anderen Elementen, mit dem Leiden an der empirischen Wirklichkeit, mit


der unklaren Sehnsucht, sie zu verlassen, unzertrennlich vermischt. Selbst in
der eingetretenen Wirkung des Werks wird diese Verworrenheit nicht defi¬
nitiv überwunden: die intuitive, ersehnte und dennoch unerwartete Ver¬
trautheit des Genießens mit der Welt des Werks (das »Alte« am Werk) ist
nur ein verstärkender Kontrast zum blitzartig den Erlebnisfluß unterbre¬
chenden »Neuen«; sie ist bestärkt von dem Eindruck, als ob das im Werk
Gestaltete die Erfüllung von etwas wäre, was der Genießende von der Wirk¬
lichkeit eigentlich erwartet hat, dessen Fehlen der Grund seines Enttäuscht¬
seins und Leidens an ihr ist, aber sie ist mit der erreichten Utopie, deren
Heterogeneität der Erlebniscontinuität gegenüber das Wesen des genießeri¬
schen »Neuen« ausmacht, nicht identisch. Diese Identität ist das Wesen der
Werkstruktur; sie ist jedoch keine Überwindung der Gegensätze (wie in der
Ethik), kein Jenseits der Gegensätze (wie in der Logik), sondern — strikt und
wirklich - ihre Identität, die aber nur im - von Entstehung und Wirkung
isolierten - Werk selbst, im Werk an sich erkennbar, nie aber durch
irgendein phänomenologisches Subjekt erlebbar ist. Deshalb haben die
lebendigen und erlebten Kontraste in den phänomenologischen Subjekten
eine andere Bedeutung, als sie in ihrer Identität, im Werk haben, sie sind
aber gerade deshalb die Voraussetzungen der Möglichkeit dieser Identität.
Denn diese Identität ist nur eine der sich auf jedem Punkt unserer weiteren
Untersuchungen zeigenden Konkretisierungsformen der schon früher
erkannten harmoma praestabihta von Stoff und Form im Werk. Nicht als ob
das Prinzip der Form als das allem Ewigkeitsspendende dieses Komplexes
wäre, wozu der Stoff (als das historisch »Neue«) als Prinzip der Variabilität
hinzutritt; Stoff und Form sind im realisierten Werk unzertrennlich eins
geworden, und deshalb müssen sich sowohl im Entstehen wie in der Wirkung
des Werks die sich kontrastierenden Tendenzen auf beide Aufbauelemente
des Werks richten. Die harmonia praestabihta bedeutet vielmehr das Postu¬
lat, daß einerseits in dem seiner Natur nach stets historischen, variablen
Stoff Möglichkeiten zum Formwerden (d. h. eine zeitlose Geltung erlangen)
enthalten sein sollen und andererseits, daß die (ewigen) Formen die
Möglichkeit der Variabilität, der Anpassungsfähigkeit an die wechselnden
Stoffe in sich tragen. Weil das Werk eine konkret» Welt ist und die Kontrolle
seiner Realisierung in der - phänomenologisch bestimmten - erlebniserwek-
kenden Macht liegt, ist sein Wesen: das Ewigwerden eines bestimmten,
historisch gefärbten, individuell erlebten, konkreten Moments. Diese unauf¬
hebbare Verbindung eines konkret gestalteten Dingkomplexes mit seinei
246 Philosophie der Kunst

Ewigkeit als Konkretum ist die stärkste Verführung, in den Werken der
Kunst die Ideen, die Urbilder des Gestalteten zu erblicken: das Werk wäre
dann nur der (abgeschwächte) Ausdruck für das, was an einem Ding oder
einer Verbindung von Dingen ewig ist und das zeitlose Gelten des ästheti¬
schen Werts wäre darauf begründet, daß, wenn es überhaupt eine Erlebbar-
keit der Urbilder gibt - was in den Kunstwerken garantiert zu sein scheint—,
das Sollen dieses Erlebnisses und die Möglichkeit seiner Realisierung im
Subjekt gleichfalls zeitlos sein müssen. Welche logischen Schwierigkeiten aus
einer solchen Auffassung der Ideenlehre entstehen, brauchen wir hier nicht
zu untersuchen, für uns ist nur das wichtig, das bei einer solchen Auffassung
entweder die möglichen Inhalte der Kunst (das Konkrete, das Historische,
das »Neue«) apriorisch festgelegt werden, und so das Faktum der Geschichte
der Kunst geleugnet werden muß und das »Neue« im Werk sich als trügeri¬
scher Schein erweist, oder es muß angenommen werden, daß die Zahl, die
Art etc. der Ideen prinzipiell unendlich ist, daß — da jedes gestaltete
Konkretum einem Urbild entspricht — über das Wesen der Kunst nichts
apriori Aussagbares geben kann: jedes Kunstwerk wäre (nicht nur als Erleb¬
nis, sondern auch als Objekt einer möglichen ästhetischen Erkenntnis) etwas
Letztes, eine Monade und nur das »Neue« wäre das künstlerische Prinzip im
Werk; alle Formkriterien, nach denen das Werksein eines Werks
bestimmbar sein könnte, wären nur etwas von dem bisher Geleisteten empi¬
risch-historisch Abgeleitetes; wobei jedoch die Ewigkeit dieses Wertes in
keiner Weise festgestellt werden könnte. Das Problem, wie das Kunstwerk
als Kunstwerk von der Geschichte nicht lostrennbar, also zugleich zeitlich
und zeitlos ist, kann hierdurch nicht gelöst werden: statt des geforderten
Zusammenfallens von »neu« und »alt« erhalten wir ein Dilemma, ein
Entweder-Oder. Jede ausschließende Gegensätzlichkeit verfälscht aber
nicht nur die Struktur des Werks, sondern auch den Inhalt und die Träger
der Entgegengesetztheit: wenn »alt« und »neu« einander ausschließen, so
kann jedes von ihnen nur die subjektiv-reflexive Bedeutung haben, die es
innerhalb der receptiven Erlebnisse besitzt, eine Bedeutung, die ihm als
Folge der Urstruktur gewiß notwendig zukommt, die jedoch nicht mit dieser
identisch ist. Wir haben das Werk als das Ewig-geworden-sein eines
bestimmten, konkret-individuell-zeitlichen Moments bezeichnet.
247

Namensverzeichnis

Alfieri, V. 157 Giorgione 244


Giotto 158, 209, 217
Beaumont, F. 57, 226, 228 Goethe, J. W. 72, 77, 160, 219,
Beer-Hotmann, R. 25 228
Beethoven, L. 225 Goncourt, E. 57, 150
Bergson, H. 63 Gorgias 17 f.
Bernard, E. 147 Goya, F. 77
Bologna, G. 225 Griesebach, E. 25, 32, 208
Bouts, D. 209
Breughel, P. d. Ä. 131,136 Hartmann, E. v. 51
Browning, R. 80, 127 Hebbel, F. 77
Burckhardt, J. 193 Hegel, G. W. F. 36, 57, 214 f.
Byron, G. G. N. 209 Hemsterhuys, T. 27
Hildebrand, A. 37, 47, 192
Calderon de la Barca, P. C. 158 Holmannsthal, H. v. 21
Cassirer, E. 12,34,77,197 Homer 146, 217
Cezanne, P. 147,180,209 Horaz 146
Cohen, H. 51 Hotho, H. G. 214
Cohn, J. 60 Husserl, E. 156
Constable, J. 150
Corneille, P. 157, 160 Kant, I. 33, 35, 61, 159, 165, 197,
Courbet, G. 160 238, 240
Couturat, E. 54 Kierkegaard, S. 86
Konnerth, H. 38,46,181
Dante, Alighieri 158
Dostojewsky, F. 210 Lagerlöf, S. 219
Lask, E. 51, 54, 153
Feuerbach,A. 244 Leibniz, G. W. 54

Fiedler, K. 37 ff„ 46 f., 62, 181, 192 Leonardo da Vinci 146

Flaubert, G. 146, 150 Lermolieff, I. (Morelli, G.)


Fletcher, j. 57,226,228 27> l94
Leslie, C. R. 150
Gautier, Th. 147 Lessing, G. E. 157,228
George, St. 100 Lippi, F. 160
248

Manet, E. 157 Riegl, A. 37, 39, 192, 226

Marees, H. v. 117, 160 Rousseau, H. 209

Marlowe, Ch. 228 Rubens, P. P. 226

Massaccio 227 f.
Massinger, P. 226 Schelling, F. W. J. 16, 36, 207 f.

Mendelsohn, F. 225 Schiller, F. 195, 214, 228, 238

Michelangelo 77, 170, 225 f. Schlegel, Fr. 142, 214

Minor, J. 209 Schopenhauer, A. 23, 32, 36,

Mohamed 212 208 f.

Monaco, L. 209 Schröter, M. 16, 207

Morelli, G. 27, 194 Semper, G. 37

Mozart, W. A. 217, 225 Shakespeare, W. 134 f., 157 f., 214,

Müller, M. Fr. 33 226, 228

Myron 227 f. Signorelli, L. 57, 160, 228


Sigwart, Ch. 124, 156

Newton, I. 156 Skopas 225, 228

Novalis 142, 209 Sokrates 237


Sophokles 156, 160, 205, 217

Pater, W. 101
Paul, J. 214 Teniers, D. 160

Perugino, P. 57, 209 Tintoretto 226, 228

Phidias 217, 225, 227 Tizian 244


Piero della Francesca 228 Tolstoy, L. 210
Platon 36, 209
Plotin 33 f., 36, 209 Vossler, K. 194
Popper, L. 40 f., 100, 131, 136
Poussin, N. 160 Weber, M. 230
Praxiteles 225 Webster, J. 226
Wickhoff, F. 192
Racine, J. B. 157 Winckelmann, J. J. 142
Raffael Santi 76, 156 Windelband, W. 51,124
Rembrandt 156 Wölfflin, Ff. 193
Rickert, H. 154, 190 Worringer, W. 192,216
Date Due
BH 221 .H84 L76
Lukacs, Gyorgy, 1885-1971 010101 000
Heidelberger Phtilosophie der K

0 1163 0147355 3
TRENT UNIVERSITY

BH221 .I184L76
Lulcäcs, Györgv
Heidelberger Philosophie der
Kunst (1912-1914).

ISSUED TO
DATE

238201
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