海德堡美学手稿
海德堡美学手稿
https://archive.org/details/heidelbergerphil1912luka
GEORG LUKÄCS WERKE
GEORG LUKÄCS WERKE
BAND 16
GEORG LUKÄCS
Heidelberger
Philosophie der Kunst
(1912-1914)
LUCHTERHAND
Eckige Klammern umschließen Zusätze der Herausgeber.
Anhang 233
Namensverzeichnis 24 7
238201
DIE KUNST ALS »AUSDRUCK«
UND DIE MITTEILUNGSFORMEN
DER ERLEBNISWIRKLICHKEIT"')
*) [siehe Anhang i]
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 9
das Komische etc. — beigeordnet; zweitens soll sich das Geltungsreich dieses
(in sich vieldeutigen) ästhetischen Zentralwerts nicht nur auf das Verhalten
der Kunst, sondern auch auf das der Natur gegenüber beziehen. Um hier zu
einer Klarheit zu kommen, sind zwei Wege möglich: entweder wird der
metaphysische Begriff des Schönen als leitender Wegweiser in der Auswahl
- unbewußt — vorausgesetzt, oder es werden die Verhaltungsarten, die sich
den — historisch anerkannten — Kunstwerken gegenüber zeigen, untersucht
und die ihnen ähnlichen der Natur gegenüber auch in die Ästhetik miteinbe-
zogen. Im ersten Fall ist man, in verschleierter Form, zu der deduktiv-meta¬
physischen Ästhetik zurückgekehrt, nur wegen der unklareren Art der
Voraussetzungen in wesentlich unklarerer Weise; im anderen Fall ist unsere
Anfangsfrage, bloß ebenfalls weniger eindeutig, gestellt. Daß es überhaupt
eine Naturschönheit gibt, kann nur bewiesen werden, wenn entweder der
Natur gegenüber, notwendig und gesetzmäßig, sich ein receptives Verhalten
zeigt, das mit dem zu den Werken der Kunst — notwendig — identisch ist
(wobei also dieses Verhalten als erkannt vorausgesetzt wird), oder wenn die
objektive innere Struktur von Naturschönheit und Kunstschönheit ihrem
Wesen nach dieselbe ist (was zu beweisen nur in einer metaphysischen
Naturphilosophie möglich wäre, die aber ebenfalls - zum reinen Vergleich
- dem Kunstwerk gegenüber unsere Fragestellung nicht umgehen könnte).
Wir sehen: die Frage, ob das Kunstwerk oder das Schöne in den Mittelpunkt
der ästhetischen Methodik gestellt ist, bringt augenblicklich das für das
Schicksal der ganzen Ästhetik entscheidende Problem der Naturschönheit in
den Vordergrund. Rein methodisch kann das Problem so ausgesprochen
werden: entspricht der reinen Immanenz des ästhetischen Erlebnisses (des¬
sen Charakter seit Kant als klar erkannt vorausgesetzt werden darf)
notwendig irgendein ihm angemessenes Objekt? Wenn diese Frage bejaht
wird, so sind zwei Möglichkeiten da: Erstens muß die Naturschönheit als
wesentliches Element aus der Ästhetik ausscheiden, denn in diesem Falle ist
die Immanenz (die Kantische »Interesselosigkeit«) nur das subjektive Ver¬
halten, das der gewollten und erreichten Immanenz des Werks notwendig
entspricht und aus ihr folgt, und ein ähnliches Verhalten der »Natur« gegen¬
über beruht nur darauf, daß in ihr ein »glücklicher Zufall« Konstellationen
zustande bringt, die ein ähnliches Verhalten möglich, ihrer Zufälligkeit
wegen aber niemals notwendig machen können; es gibt also höchstens dem
ästhetisch-normativen Verhalten verwandte Erlebnisse der Natur gegen¬
über, aber keine Ästhetik der Natur als Gegenstück zu der der Kunst. Zwei¬
tens wird die Naturschönheit dadurch gerettet, daß sie eine Folge von auf sie
12 Philosophie der Kunst
intendierenden, objektiven Kräften ist, daß sie das Ziel der Natur, die
Offenbarung ihres Wesens ist, daß - mit einem Wort — es eine Ästhetik der
Natur gibt, deren Kategorien, weil sie die objektive Struktur der Natur tref¬
fen, naturphilosophisch und, weil sie die normativ-ästhetische Struktur
erzeugen, ästhetisch konstitutiv sind, daß also Ästhetik und Naturphiloso¬
phie zusammenfallen oder wenigstens ein für beide sehr bedeutsames Gebiet
gemeinsam besitzen. Wenn aber die oben gestellte Frage verneint wird, so
ist das Zusammentreffen von objektiver Immanenz des Kunstwerks und
subjektiver Immanenz des ästhetischen Verhaltens zufällig geworden;
sowohl Natur wie Kunst können diese Immanenz des Erlebnisses hervorru-
fen, es ist aber weder für die Natur noch für die Kunst notwendig, daß sie
es entstehen lassen. Die Kunst hat dadurch jeden für sich bestehenden Wert
verloren: was sie leisten kann, ist nicht ihre notwendige Folge, und nicht sie
allein ist es, die diese Wirkung hervorzurufen vermag. Das Wesentliche ist
die subjektive Immanenz des Erlebnisses, das als solches in sich vollendet ist
und von dem Objekt nuf erweckt, aber nicht erzeugt wird; für das Subjekt
liegt also der entscheidende Accent auf dem Verhalten selbst und sofern es
doch nicht rein in sich abgeschlossen bleibt, so ist es eine Vorbereitung für
ein anderes subjektives Verhalten: für das Ethische. Wenn aber trotz
alledem das Objekt auch hier zu einer Bedeutung gelangt, so wird es viel¬
mehr die Natur sein, als die Kunst. »Da es aber die Vernunft auch interes¬
siert . . . daß die Natur wenigstens eine Spur zeige oder einen Wink gebe, sie
enthalte in sich irgendeinen Grund, eine gesetzmäßige Übereinstimmung
ihrer Produkte zu unserm von allem Interesse unabhängigen Wohlgefal¬
len . . . anzunehmen: . . . kann das Gemüt über die Schönheit der Natur
nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich interessiert zu finden«,1 sagt
Kant. Ob und wie dadurch auch die Immanenz des Erlebnisses aufgehoben
wird, inwiefern dieses nicht doch ein ihm angemessenes Objekt (das Kunst¬
werk) fordert, um immanent verbleiben zu können, kann erst später unter¬
sucht werden. Zu betonen ist jedoch schon hier, daß aus einer solchen
Problemstellung aus die Faktizität der Kunst nie aufgehoben werden kann:
daß es Kunstwerke (und einen Schaffensprozeß) gibt, bleibt eine Tatsache,
der die Fol gen dieser Voraussetzungen nie eine Notwendigkeit zu geben
vermögen. Ich verweise bloß auf den ungewollten methodischen Sprung, der
[i Kritik der Urteilskraft, § 42 Werke, Bd. 5. Hrsg, von E. Cassirer Berlin, Cassirer
I9I4- S. 375-]
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit U
fertige Flug des Geistes von dieser seiner Sehnsucht zu ihrer Erfüllung über¬
schlägt den alles entscheidenden Prozeß des Reinmachens und der Selbster¬
kenntnis von Sehnsucht und verliert dadurch die Klarheit über eine
mögliche Erfüllung. Wenn daher für Schelling die Kunst deshalb das
Höchste ist, »weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger
und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in
der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln,
ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß«,1 so muß die ganze, ebenfalls
auf Erfüllung drängende Philosophie und Religion in dieses ihr vorgezeich¬
nete Ziel einströmen. Was früher getrennt war, muß sich einen und das
utopische Ziel des Denkens, vor dem die glanzvolle Vollendung der Kunst
als Führer und Wegweiser stand, wird doch in der Philosophie selbst reali¬
siert. Da hat sich aber — gegen den Willen des Denkers, aus der immanenten
Logik dieser Problemstellung heraus — die Kunst selbst aufgehoben: alle ihre
Erfüllungen sind nur kleine Inseln in einem Meere der Vereinzeltheit und
des Ringens nach Einheit; wenn der Ruf zur Sammlung, der für das Denken
aus ihnen erschallt, erhört wird, so hat der große Strom des endgültigen
Zusammengehörens von Allem auch ihre schwachen und vorläufigen
Dämme weggerissen und ihre Existenz — ihr einsames Für-sich-Bestehen —
vernichtet. Daß aber eine solche Vereinigung überhaupt möglich ist, davon
ist ihre — unaufhebbare — so geartete Existenz das einzige Zeichen und der
allein mögliche Beweis.
Darum müssen wir diese Wirklichkeit verlassen und sie aus der Ferne und
mit fremden Blicken betrachten, damit wir die Sehnsucht nach Vereinigung
und ihre Erfüllungen — von denen als die vornehmste und einzig irdisch-reale
sich vorerst nur noch die Kunst zeigt — als nackte Tatsachen sehen und ihre
wirkliche Struktur und ihr wahres Verhältnis zueinander begreifen können.
Das erste, das sich bei dieser Änderung des Augenpunkts als naiv geglaubte,
jedoch durch nichts bewiesene, noch beweisbare Voraussetzung zeigt, ist die
Restlosigkeit und Adäquatheit in der zwischen-menschlichen Mitteilung.
Diese Voraussetzung erweist sich, sobald sie über ein mehr als rein erlebnis-
haftes oder bloß praktisches Verhalten zu den Objekten hinausgehen soll, als
naiver und unhaltbarer Dogmatismus, ist aber zugleich, als Strukturelement
der reinen Erlebniswirklichkeit, deren entscheidende, konstitutive Gebiets-
kategorie. Denn die »Wirklichkeit« dieser Welt besteht eben darin, daß
nichts in ihr Vorkommen kann, was nicht augenblicklich den für das Objekt
zwar subjektiv-reflexiven, für das Subjekt dieser Wirklichkeit aber allein
konstitutiven Charakter des »Erlebten« und »Erlebbaren« aufnimmt. Der
tiefe Unterschied, der diese Sphäre von allen anderen (sowohl des wie immer
gearteten Erkennens, wie des ethischen oder religiösen Verhaltens etc.)
trennt, ist, daß sich in ihr keine Maxime der normativen Stellungnahme zu
den Objekten aufweisen läßt, daß sich also zwischen den verschiedenen
»Erlebnissen« verschiedenster Menschen - von den Prinzipien dieser Sphäre
aus - keine Wert- oder Wahrheitsdifferenz zeigt, daß diese vielmehr rein
subjektiv bleiben und nie eindeutig auf ein irgendwie garantiert gemein¬
sames Objekt treffen. Die Unterschiede, die zwischen ihnen vorhanden sind,
sind die der Qualität und der Intensität, sie sind also untereinander unver¬
gleichbar, und jeder Versuch, die verschiedenen Erlebnisse verschiedener
Menschen zu ordnen und miteinander zu vergleichen, ist nur durch ein
Verlassen des rein Erlebnishaften möglich.
Die Unbegrenztheit und Gegensatzlosigkeit dieser Sphäre, die so stark ist,
daß selbst das »Kein-Erlebnis« auch nur in erlebnishafter Form erscheinen
kann, bestimmt das Schwankende und Problematische der in ihr möglichen
Mitteilbarkeit. Denn das Wesen des Erlebnisses kann nicht anders als durch
seine qualitative Einzigartigkeit definiert werden, der gegenüber jedes Aus¬
drucksmittel blaß, abstrakt, verfälschend und gerade alles Wesentliche weg¬
lassend sein muß. Diese Diskrepanz zwischen Stoff und Form des Ausdrucks
entsteht aus dem hier notwendigen Mangel an normativem Verhalten: jede
Maxime, durch deren Annahme man in irgendeine Sphäre der Homoge-
neität gelangt, setzt eine gewisse — für sie — konstitutive Zusammengehörig¬
keit und organische Verbindung des in ihr vorkommenden Stoffes mit den
diesen organisierenden Formen voraus. Indem man durch Unterwerfung
unter die Botmäßigkeit der Maxime sich in die betreffende Sphäre hineinbe¬
geben hat, ist in ihr und für sie eine absolute Eindeutigkeit und Mangel an
Mißverständnis sichergestellt. Die frühgriechische Skepsis, die - wie z. B. im
dritten Satze des Gorgias — die eindeutige Mitteilbarkeit der Erkenntnis
geleugnet und damit die von ihr ebenfalls bezweifelte Möglichkeit einer
Erkenntnis bis zur absoluten Wertlosigkeit herabgesetzt hat, meint und trifft
letzten Endes nur die Erlebniswirklichkeit und nicht das Wissen. Nur weil
es der Struktur des griechischen Geistes fern stand, Erleben und Erkennen
streng zu scheiden und sowohl Subjekt wie Objekt und Mittel des Erkennens
der Sphäre des Erlebens zu entrücken, mußte diese genaue Beschreibung der
18 Philosophie der Kunst
Erlebbarkeit und jedem Vergleich mit ihr sorgsam frei zu halten. Es handelt
sich in beiden Fällen um notwendige Selbstregulierungen der Sphären, um
ihre unwillkürliche Tendenz, alles, was in ihnen vorkommt, den eigenen
Strukturen entsprechend zu verarbeiten und alles Widerstrebende als (für
sie) nichtseiend zu behandeln. Dadurch wäre der notwendige Gegensatz
zwischen der qualitativen Unvergleichbarkeit des reinen Erlebnisses und
jedem irgendwie denkbaren Ausdruck, der, wenn er Ausdruck sein soll,
schon Gemeinsames zwischen den beiden Subjekten der gegenseitigen Mit¬
teilung voraussetzt, begründet und als wesentliches Charakteristikon dieser
Sphäre erkannt. Dieser Gegensatz selbst wird freilich innerhalb dieser
Sphäre stets verdunkelt und nur ganz selten zu Tage treten.
Die Gründe dieser Unklarheit sind aber sehr verschiedenartig. Einerseits
knüpft sich eine sehr große Masse der Erlebnisse dieser Wirklichkeit an das
gewöhnliche praktische Handeln, wofür die abgestandenste und abstrakte¬
ste Begriffsbildung ausreicht. Indem hier weit mehr das in Handlung umge¬
setzte Erlebnis, als es selbst wichtig ist, kann und wird gar nicht untersucht
werden, ob eine in ihren Consequenzen der Absicht des einen erlebenden
Subjekts entsprechende Handlung des anderen Subjekts wirklich das Verste¬
hen des subjektiv Wesentlichen in der Absicht zum Motiv hat. Hier reicht
die Übereinstimmung von Absicht und Resultat vollkommen aus und nur im
Falle des Versagens kann das Problem des Nicht-verstanden-werdens auf¬
tauchen; muß es aber nicht, da so viele andere, praktisch näherliegende
Motive (Böswilligkeit, Unfähigkeit etc.) zur Verfügung stehen und zudem
das Subjekt an dem praktischen Gelingen seiner Absicht zu sehr interessiert
ist, um auf — jenseits des Praktischen liegende — Gründe des Scheiterns zu
reflektieren. Andererseits kommen in der Erlebniswirklichkeit in bunter
Vermischung und grenzenloser Abschwächung allerlei Elemente bereits
homogen verarbeiteter Wirklichkeiten vor, und einzelne normative Verhal¬
ten (das ästhetische, das religiöse etc.) fordern auch eine gewisse Art der
Erlebbarkeit, die scheinbar in einer übergangslosen Verlängerungslinie der
Erlebniswelt liegt. Dazu kommt, daß jeder voreilige und ohne Erschwe¬
rungen zum Ziele eilende Intellektualismus nur in dem begrifflich Ausdrück-
baren Wesenhaftes erblickt und die Sphäre der reinen Qualität allzu rasch
und unerledigt hinter sich läßt und als bloße quantite negligeable behandeln
zu können glaubt. Deshalb wird die Untersuchung dieser Wirklichkeit fast
immer der Psychologie überlassen, die als Naturwissenschaft gar keine
Organe für das Eigentliche dieser Welt haben kann, und für ihre Zwecke
auch nicht zu haben braucht; die unser Problem von der Struktur dieser
20 Philosophie der Kunst
Sphäre gar nicht zu fassen vermag, da für sie die adäquate Aussagbarkeit des
Erlebnisses eine notwendige und fruchtbare methodologische Voraussetzung
ist. Der entscheidende Grund liegt aber doch im Wesen der Erlebniswirk¬
lichkeit selbst: sie ist der dem Menschen »natürliche« Zustand, aus dem er,
um in eine der homogenen Sphären, z. B. in die des normativ-ethischen
Verhaltens, zu gelangen, sich gewaltsam herausreißen muß, in den er aber
ständig, mit einer Art von Fallgesetz des Kreatürlichen, wiederzukehren
bestrebt ist; dessen Gegensatz zu allen anderen Sphären er deshalb, um sich
die Übergänge zu erleichtern, unwillkürlich immer zu verwischen sucht.
Darum wird das In-sich-eingesperrt-sein des bloß erlebenden Menschen nur
ganz selten bewußt. Die glanzvollsten, bezauberndsten und raffiniertesten
Hilfsmittel werden ausgespielt, um die Inadäquatheit von Ausdrucksinhalt
und Ausdrucksmittel zu verdecken. Da sind vor allem die Gebärden und
Betonungsnuancen des Verkehrs der Menschen untereinander, Gespräche
z. B., vorhanden, mit ihren allseitigen, bis ins grenzenlos Kleine und Feine
heruntersteigenden Möglichkeiten der Differenzierung und mit ihrer gro¬
ßen Schmiegsamkeit und Bereitwilligkeit, gerade auf das Wesentliche und
Einzigartige des anderen Individuums einzugehen. Aber alle Reizbarkeit
Eindrücken gegenüber beweist doch nichts dafür, daß das, was hinter diesen
Eindrücken steht, das Erlebnis, das sie hervorgebracht hat und das sie
ausdrticken sollen, wirklich verstanden wurde; wie stark und fein auch die
Komplizierung des Zeichensystems werden kann, durch Verfeinerung wird
sie seine Grundparadoxie nie überwinden.
Daran schließen sich die theoretisch begründeten Gegenüberstellungen des
abstrakten, in sich bleibenden Begriffs und der das Wesen der sonst unaus¬
sprechbaren Qualität restlos treffenden Intuition an. Wobei jedoch stets
übersehen wird, daß mit der Betonung ihrer alleinigen konstitutiven Gewalt
gerade ihre Mitteilbarkeit zerstört wird: je mehr der Begriff, als Abstrak¬
tum, als dem »Wesen« Fremdes herabgesetzt wird, desto aussichtsloser
scheint es, mit den ihm verwandten Mitteln der Sprache das »Wesentliche«,
den eigentlichen Inhalt auch nur annähernd anzudeuten. Daß aber die auf
diese Weise zur Stummheit verurteilte Intuition bei allen Menschen die
gleiche ist, d. h. daß sie dieselbe metaphysische Essenz der Außenwelt als
Objekt, und Individuen, die in ihrer aufnehmenden Qualität wesensgleich
sind, als Subjekte hat, deren Identität nur durch das trübende Medium der
abstrakten Ausdrucksmittel verdeckt wird, kann gerade hier nur behauptet,
aber nie bewiesen werden. So wird aus naivem Selbsterhaltungstrieb nichts
unversucht gelassen, um diesen Abgrund zu überdecken. Und die praktische
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 21
Wirklichkeit mit ihren Apparaten, die die Reinheit des Erlebnishaften bloß
abschwächen, aber nicht aufheben, kommt dieser Bestrebung entgegen:
innerhalb ihrer matten Intensität scheint alles tadellos zu funktionieren und
nur ganz selten, in den trauervollen Zeiten der großen Verlassenheit, wird
dem Menschen der Erlebniswirklichkeit dieser Zwiespalt bewußt, wenn auch
wieder nur subjektiv, nur »erlebt«, nicht begriffen. ». . . alle diese Dinge /
Sind anders, und die Worte, die wir brauchen, / Sind wieder anders1«, sagt
eine Heldin von Hofmannsthal.
Inwiefern diese Lage der Dinge das ethische oder religiöse Verhalten beein¬
flussen kann, ist hier nicht unsere Aufgabe zu untersuchen; wichtig in diesem
Zusammenhang ist nur die eine Frage: ob Zeichen, in des Wortes weitestem
und umfassendstem Sinne, Erlebnisqualität überhaupt auszudrücken im
Stande sind. Wenn diese Frage ganz klar gestellt wird, d. h. wenn man unter
Ausdruck die vollständige Eindeutigkeit des Ausdrucksmittels, seine abso¬
lute Angemessenheit an Stoff und Inhalt und die ebenso unbezweifelbare
Kontrollierbarkeit, daß das Mitzuteilende tatsächlich mitgeteilt wurde, ver¬
steht, so muß mit der so gestellten Frage ihre Möglichkeit zugleich verneint
werden. Dann muß gesagt werden, daß wir über gar kein Mittel der
Kontrolle verfügen, noch uns überhaupt eins denken können, womit festge¬
stellt werden könnte, ob zwischen zwei erlebten Qualitäten, der ausge¬
drückten und der aufgenommenen, irgendein Verhältnis von Gleichheit
oder gar Identität besteht oder nicht besteht. Das Paradoxon der Ausdrucks¬
mittel, wovon diese Unmöglichkeit herstammt, ist folgendes: entweder
besitzen diese Mittel eine Tendenz zur Eindeutigkeit und Kontrollfähigkeit,
so sind sie abstrakt, Begriffe, und sind dem rein qualitativen Inhalt unange¬
messen; oder sie sind ihm adäquat, als qualitativ gefärbte, rein auf Ausdruck
der Qualität angelegte Zeichen und Andeutungen, so gibt es keine Möglich¬
keit festzustellen, ob sie — eindeutig, unverwechselbar und ohne Verfäl¬
schung — wirklich das mitteilen, was mit ihnen beabsichtigt wurde. Das
Zusammenstimmen-Scheinen der motorischen Reaktionen, der Einklang
von Stimmungen bei verschiedenen Menschen in einzelnen Lebenslagen
können hier nicht als Argument gelten, weil ihnen jede Nachweisbarkeit und
Nachprüfbarkeit fehlen muß; jede Anschauung aber, die in den einzelnen
qualitativen Erlebnissubjekten dieselbe qualitative, also letzten Endes erleb¬
nishafte und erlebbare Substanz als Erklärung der adäquaten Mitteilbarkeit
erblickt, setzt eine Metaphysik voraus, die in dieser Sphäre und für sie nie
beweisbar sein kann, da die Paradoxie von Inhalt und Form für sie geradeso
wie für die nichtmetaphysische Untersuchung besteht und durch das
einfache Setzen einer einheitlichen Substanz hinter der Welt der Begriffe
durchaus nicht aufgehoben werden kann. Auch können religiöse oder zum
Religiösen zustrebende Erlebnisse hier nicht als Beweis dienen: das religiöse
Verhalten der Seele ist eine homogene Sphäre mit normativ-allgemeingülti¬
gen Maximen, so gut wie die ethische, logische oder ästhetische; sie muß
deshalb ebenso wie diese eine eindeutige Mitteilbarkeit sui generis ihrer
eigentlichen Inhalte besitzen, aber was Inhalt und was Form dieser Mittei¬
lung ist, kann nur durch die Analyse ihrer spezifischen Struktur entschieden
werden, und es ist keineswegs gestattet, eine eventuell dort auffindbare und
nachweisbare Art der Mitteilung in der reinen Erlebniswirklichkeit auch als
realisiert vorzustellen.
Was wir also hier als Tatbestand dieses Strukturzusammenhanges vorfinden
und zu begreifen haben, ist: der unauihebbare Wunsch nach Mitteilung, der
allgemeine Glaube, daß man wirklich das Gewollte mitgeteilt, beziehungs¬
weise in sich aufgenommen hat, das hie und da aufdämmernde Entsetzen,
daß alle Mittel des Ausdrucks unangemessen sind und die heftige Sehnsucht,
die dadurch entstandene Kluft zu überbrücken — oder zu vergessen. Demge¬
genüber steht die eben festgestellte Paradoxie aller Ausdrucksmittel im
Verhältnis zur reinen Qualität und die Tatsache, daß die Summe alles
Mitgeteilten sich dennoch zu einer als Selbstverständlichkeit erlebten Conti-
nuität und Cohärenz zusammenballt. Dieses Faktum der Mitteilung zwängt
uns einen neuen Begriff der Form als Ausdrucksmittel des Erlebnisses auf.
Da die selbstverständliche Adäquatheit und immanente Homogeneität der
Ausdruckstormen sich als trügerisch erwiesen haben, müssen wir erst durch
ihre getrennte Zergliederung als Ausdruck und als Eindruck die Vorbedin¬
gungen dieses Begriffes genügend aufklären, um dann seine wahre Struktur
erkennen zu können. Von dem Moment des Aufnehmens, des Verstehens der
Zeichen aus betrachtet, erweist sich die Ausdrucksform nun als etwas auf
Suggestibilität Angelegtes. Jede Mitteilung kann in uns ein gewisses Erlebnis
von rein qualitativer, subjektiv-unvergleichbarer Art hervorrufen, welches
wir, da es in uns durch die von außen auf uns zukommende Ausdrucksform
und ihren Urheber erweckt wurde, in seinen Ausgangspunkt, den Mittei¬
lenden hineinprojicieren und es, als sein Erlebnis, nacherleben. Je intensiver
dieses Nacherleben ist, desto spontaner wird sich der Prozeß des Hineinpro-
jicierens vollziehen und mit der einzigen Ausnahme gewisser, rein praktisch-
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 23
[1 Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke. Hrsg, von E. Griesebach.
Leipzig, Reclam. 2. Abdruck. Bd. n. S. 542.
2 Die Seele und die Formen. Essays. Berlin, Fleischei. 1911. S. 232—3.
3 Ebenda, S. 234.]
z6 Philosophie der Kunst
seinem Inhalt nach identisch wäre, ist nicht zu erbringen. Was im Gefühl
dafür spricht, daß eine so tiefe und echte Empfindung unmöglich gegen¬
standslos, ja betrügerisch sein könne, bringt die Wirkung der Kunst erst recht
in die Nähe des Mitteilungsprozesses der Erlebniswirklichkeit, wo die Illu¬
sion lebendig war, daß die Suggestionskraft der Mitteilungsformen die
Garantie für ihre Fähigkeit zur wirklichen Mitteilung biete. Indem diese
Illusion, wegen des Verharrens in der Erlebnissphäre, nicht als Illusion
erkannt und in der Suggestionskraft ein wirkliches Vehikel der Mitteilung
erblickt wurde, konnten die Wirkungen der Kunst fast übergangslos als
gerade Fortsetzungen der natürlichen Beeindruckbarkeit aufgefaßt werden.
So mußten Anschauungen entstehen, wie die von Hemsterhuys, daß das
Schöne dasjenige sei, welches uns die größte Menge von Ideen in der kürze¬
sten Zeit gewährt. So mußte aber auch durch eine solche Anschauung, in der
die Kunst als adäquater Ausdruck einer gemeinsamen und mitteilbaren
Substanz gefaßt wurde, das eigentliche Kunstwerk — als bloßes Vehikel
dieses Mitteilungsprozesses — immer mehr übersprungen und die Kunst zum
Mitteilungsprozeß zwischen Schaffendem und Genießendem herabgesetzt
werden.
Erst wenn diese Illusion als Illusion, zugleich aber als allgemeines und unent¬
behrliches Element der Mitteilung von Erlebnissen erkannt wird, erlangen
wir die Möglichkeit, den Begriff dieser Form zu fassen. Wenn sich die
adäquate inhaltliche Mitteilung als unbeweisbar gezeigt hat, so wird man für
das dadurch nicht aufhebbare Faktum und das Funktionieren des wie immer
gearteten Ausdrucks eine andere Garantie suchen müssen. Dann wird man
die Mitteilungsform genauer ins Auge fassen und in ihr ein Schema erblik-
ken, welches zwar nur ein abstraktes und darum inadäquates Zeichen, aber
doch ein Zeichen für das Erlebnis ist, und deshalb über eine gewisse Kraft
zum Erwecken neuer Erlebnisse und zur Suggestion der Erlebnisintensität
verfügt. Das Wesen dieses Schemas ist durch seinen möglichst qualitativen
und unmittelbaren Charakter bestimmt, dadurch daß darin alles Allgemei¬
ne, Abstrakte, Begriffliche nur ein notwendiges Übel ist, daß es sowohl zu
seiner Eindrucks-, wie zu seiner Ausdrucksfunktion desto tauglicher ist, je
konkreter es sich gestaltet. Sowohl die relativ hohe subjektive Sicherheit, mit
der geringe und zweifellos völlig unbeabsichtigte Einzelheiten der Äußerun¬
gen am deutlichsten eine Persönlichkeit zu bezeichnen und zu verraten
scheinen (die ganze Methode Lermoliefs in der Bestimmung der Maler zwei¬
felhafter Bilder beruht auf dieser Voraussetzung), wie die menschliche Nähe
und Stärke des Glaubens am Zusammengehören und Sich-Verstehen, die aus
28 Philosophie der Kunst
eben diesen und nicht den rationalen und rationalisierbaren Elementen der
Mitteilungsform entspringen, weisen eindeutig darauf hin. Während
abstrakte, gewollte und kontrollierbare Mitteilungsformen nur zu rein prak¬
tischen Zwecken, also zu den niedersten und abgeschwächtesten Funktionen
der Erlebnissphäre ausreichen. Damit wäre der deutlich zum Qualitativen
hinstrebende, es aber dennoch nie erreichende Charakter dieser Form
erkannt; dieser Charakter hat aber das inhaltliche Mißverständnis jeder
Äußerung zur notwendigen Folge.
Die paradoxe Struktur dieses Schemas besteht darin, daß es zur Illusion der
inhaltlichen Mitteilung vollständig ausreicht und diese dabei ebenso voll¬
ständig unmöglich macht. Diesen Charakter verdankt es dem Umstand, daß
das qualitative Apriori der erlebenden und ihr Erlebnis ausdrückenden
Persönlichkeit im Schema als Qualität und Intensität, als etwas ganz
Konkretes wirkt und so zur Übertragung von Intensität und Erweckung von
Erlebnisqualität fähig ist. Wobei jedoch Qualität und Intensität dem ange¬
hören, dem das Erlebnis mitgeteilt wird, und hierdurch zu seiner Qualität
und Intensität werden und von denen des Sich-Mitteilenden prinzipiell
verschieden sind. Denn dem reinen Erlebnis gegenüber ist jeder Ausdruck
inadäquat: ein Schema; dieses Schema erhält aber bei jedem erlebenden
Individuum eine Qualität sui generis, ja ist dem Wesen nach nichts anderes
als die Projektion der Subjektivität des Erlebenden auf die »Träger« seines
Erlebnisses, es ist die unmittelbare »Weltanschauung« des Individuums, die
Färbung, das Cachet, das die ganze von ihm erlebte Welt von ihm erhält.
Daß es sich hier um ein Apriori des Erlebnisses handelt, beweist die umfor¬
mende Kraft dieses Schemas den Erlebnissen gegenüber: jeder Mensch erlebt
unmittelbar nur die eigenen Möglichkeiten des Handelns, Empfindens etc.
bei anderen Menschen, und ein Motiv, das seiner Psyche — der Qualität und
der Möglichkeit nach — ganz fremd ist, wird er nur bei sehr hoher Intellek-
tualität und geringer Erlebnisintensität sich überhaupt vergegenwärtigen
können. Freilich sind Breite und Intensitätsskala dieses Schemas bei den
verschiedenen Persönlichkeiten total voneinander verschieden, aber jedes
Schema umfaßt die ganze, für das betreffende Subjekt erlebbare Welt; es
kann für das Subjekt nichts existent werden, was nicht durch das Schema
umgearbeitet wäre. Darum bedeutet aber (für das erlebende Subjekt) die
Breite seines Schemas die Weite der Welt und seine Intensitätsskala die
Grenze menschlicher Erlebnismöglichkeiten. Wenn also ein Mensch von
dem tiefsten oder stärksten Gefühl z. B. spricht, so meint er die größte Inten¬
sität des Gefühls, die für ihn erlebbar ist, und Tiefe, Stärke etc. bedeuten die
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit
29
Der Drang des Subjekts nach Mitteilung ist von demselben Motive bestimmt,
nur zeigt er sich notwendig in anderer Weise: das sich äußernde Subjekt
wird sich unwillkürlich bestreben durch Mittel, die mit seinem qualitativen
Erlebnisapriori enger Zusammenhängen, als die aus der Sphäre der Gemein¬
samkeit stammenden Worte, mit Gebärden, Stimmitteln, Betonungsnuancen
etc. gerade dem ihm Wesentlichen, dem Qualitativ-Einzigartigen seines
Erlebnisses Ausdruck zu verleihen. Dadurch ist aber die Unaufhebbarkeit
des Mißverständnisses notwendig gemacht. Denn erstens kann man durch
diese qualitativen Ausdrucksmittel nur die Qualität des Erlebnisses ausdriik-
ken oder suggerieren, um seinen Inhalt anzudeuten, sind die - im Vergleich
dazu-immer abstrakten und inadäquaten Worte doch unentbehrlich. Zwei¬
tens vermischen sich diese qualitativen und qualitätsfremden Ausdrucksele¬
mente im Ausdruck selbst zu einer unentwirrbaren neuen Einheit, in der die
Beziehung des abstrakten Zeichens zur nach Ausdruck ringenden Qualität
für den Aufnehmenden notwendig eine andere sein muß, als bei dem Sich-
Mitteilenden; es wird z. B. zur Bezeichnung eines Erlebnisses eigens ein
Wort gewählt, weil es für den Sprechenden von Erinnerungen, die sich auf
seine Erlebnisse beziehen, erfüllt ist, für den Hörenden ist aber dieses Wort
entweder ganz erlebnisleer oder seine eigenen Erlebnisse assoziieren sich
daran, wodurch es einen ganz anderen als den beabsichtigten Accent erhält;
und weil die Einheit von Wort und Betonung auch für ihn unabwendbar ist,
wird die Auslegung mit seinen eigenen Erlebnissen in Beziehung gebracht.
Drittens kann die Wirkung der qualitativen Ausdrucksmittel nie eine andere
sein, als ein Eindruck, ein Erlebnis (das ist ja auch die Absicht des Sprechen-
Philosophie der Kunst
3°
den); aber dem Erlebnis des Zuhörenden gegenüber gilt auch alles, was über
das Erlebnis des Sprechenden bestimmt wurde: es kann nur die eigene
Qualität des Erlebnisses erlebt werden. Daß die Intensität des Erlebnisses,
wenn auch mit der subjektiven Projektion der eigenen Erlebnisqualität,
übermittelt werden kann, scheint freilich ein Zeichen dafür zu sein, daß die
Isolierung der erlebenden Subjekte doch nicht so vollständig ist, wie sie sich
in unserer Analyse gezeigt hat. Und wenn wir es hier nur wieder betonen
müssen, daß das Intensitätserlebnis auch nur ein Erlebnis der eigenen Inten¬
sität ist, so scheint sich hier doch eine gewisse Art der Gemeinsamkeit festzu¬
stellen, die darauf hinweist, daß die Bedingungen des Erlebens überhaupt
oder wenigstens ein Teil von ihnen allgemein und allen Subjekten
gemeinsam sind. Es darf aber nicht vergessen werden, daß die Übertragbar¬
keit der Intensität auch nur eine Suggestion, keine Mitteilung ist, daß sie nur
in beschränktem Maße von der wirklichen Erlebnisintensität abhängt und
viel mehr von der motorisch-emotionalen, erlebniserweckenden Kraft der -
beinahe in sich selbständig gewordenen — Ausdrucksmittel; daß diese — bis
zu einem gewissen Grad — die Fähigkeit haben, eine, im Erlebnis schwach
vorhandene, Intensität stark zu suggerieren und daß sie, wenn sie keine
motorisch-emotionale Macht besitzen, die wirklichen Erlebnisintensitäten,
selbst bei verfälschter Qualität, keineswegs anzudeuten vermögen. Dazu
kommt noch die Undurchdringlichkeit der Ausdrucksmittel: wenn eine
Intensität wirkt, so ist es so gut wie unmöglich zu entscheiden, ob sie aus dem
Erlebnis stammt oder von den Ausdrucksmitteln hervorgebracht wird; für
den Erlebenden sind das mitgeteilte Erlebnis und seine Mitteilung unzer¬
trennbar miteinander verflochten. Diese Möglichkeit der Übermittlung
kann also nur auf eine ganz abstrakte Gattungsgemeinsamkeit hindeuten,
die für den Aufbau einzelner Werksphären sehr wichtig ist (z. B. die Gesetz¬
lichkeit der motorisch-emotionalen Suggestion von Intensität für die Ästhe¬
tik), aber keine wirkliche Gemeinschaft der Subjekte innerhalb der reinen
Erlebniswirklichkeit statuieren kann. Dieser fast völlig freischwebende Cha¬
rakter der Ausdrucksmittel ist allerdings durch die Continuität der Erlebnis¬
wirklichkeit und ihr subjektives Äquivalent und Organ, das Gedächtnis,
wesentlich gemildert und corrigiert: wenn die Eindrücke, die ein Subjekt
dieser Sphäre von einem andern erhält, zu einem intuitiv erfaßten Gesamt¬
bild zu convergieren scheinen (das eventuell sowohl intellektuell formuliert,
wie emotional ausgedrückt werden kann, z. B. durch das sichere Vorgefühl,
wie die betreffende Persönlichkeit in einer bestimmten Lage handeln,
empfinden etc. würde), so könnte man darin auch etwas wie eine Aufhebung
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit
3i
gewinnt durch das Faktum des Ausdrucks eine vom Äußernden, seinem
Wollen und Wesen unabhängige und losgelöste Form, die eine eigene
Dialektik, eigene unabhängige Wirkungsfaktoren und dazu eine undurch-
dringbare Immanenz besitzt. Denn die grausame und tückische List dieser
Form besteht eben darin, daß sie den Drang nach Äußerung auf die größte
Intensität im rein Qualitativen zutreibt, der Äußerung die hinreißende und
bezaubernde Macht der unmittelbaren Wirkung verleiht, Wirkung, Wirken¬
des und Gewirktes aber - eben durch das Vehikel der Wirkung, die Unver¬
gleichbarkeit des Qualitativen - nie zur Vereinigung und wirklichen Erfül¬
lung gedeihen, sie vielmehr in einem nie völlig lichtwerdenden Fielldunkel
des Beinahe verschmachten läßt. Der Solipsismus ist also - wie aus den
vorhergehenden Analysen schon klar geworden ist - der begriffliche
Ausdruck für die innere Struktur der Erlebniswirklichkeit, und jede Logik,
die aus dieser entwächst oder in sie zurückzukehren beabsichtigt, ist
gezwungen, die logische Möglichkeit des Solipsismus als etwas Unwiderleg¬
bares, wenn auch ebenso Unfruchtbares unerledigt hinter sich zu lassen. Der
Solipsismus ist, nach Schopenhauers Worten, »eine kleine Gränzfestung, die
zwar auf immer unbezwinglich ist, deren Besatzung aber durchaus auch nie
aus ihr herauskann, daher man ihr Vorbeigehen und ohne Gefahr sie im
Rücken liegen lassen darf«1. Diese schwankende Stellungnahme ist nur
durch die - aus eigener Kraft und Substantialität gesicherte - Macht des
Begriffes, der sich definitiv von der Erlebniswelt abgelöst hat, aufhebbar. Ob
diese selbständige Bedeutung des Begriffs, als Form der Logik und Vehikel
ihrer nachweisbaren und allgemeinen Bestimmtheit, einen methodologi¬
schen oder metaphysischen Accent hat, ist hier einerlei; wichtig ist, daß
weder die logische Allgemeingültigkeit irgendwie diese Heterogeneität der
Subjekte zu überwinden bestrebt sei, noch daß man in dem erreichten meta-
subjektiven logischen Medium der Gemeinsamkeit und Eindeutigkeit ein
verbindendes Medium für die Getrenntheit der Subjekte in der Erlebnis¬
wirklichkeit erblicke. Denn einerseits werden dadurch beide Sphären mit¬
einander vermischt und der Logik für sie unauflösbare (weil ihrem Wesen
nach nicht ihr aufgegebene) Probleme aufgebürdet, andererseits wird dann
die wahre Struktur der Erlebniswirklichkeit verdunkelt und die homogenen
Werksphären, die in Beziehung zur Erlebbarkeit stehen (Ästhetik z. B.), von
[i Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke. Hrsg, von E. Griesebach.
Bd. i. S. 157.]
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 33
[i Sechste Enneade. Buch 7. Kap. 27. Übersetzt von M. Fr. Müller. Berlin, Weidmann.
1880. Bd. 2. S. 395.]
34 Philosophie der Kunst
Medium der Vermittlung zwischen den Welten der Normen und der Erleb¬
nisse als Grundlegung seiner Ästhetik. Der Prozeß des rapiden Verlassens
von allem, was mit Sinnlichkeit behaftet ist, die sehnsuchterfüllte Heimkehr
der befleckten und durch Unreinheit einsam gewordenen Seele zur Einheit
des Begriffs, scheint seiner klarsichtigen Gründlichkeit leichtfertig und zu
viel überschlagend. Er untersucht, ob es nicht erlebnisartige Verhalten gibt,
die man »jedermann ansinnen« kann und muß, die deshalb voraussetzen und
durch ihr Dasein beweisen können: »bei allen Menschen seien die subjek¬
tiven Bedingungen dieses Vermögens, was das Verhältnis der darin in Tätig¬
keit gesetzten Erkenntniskräfte zu einer Erkenntnis überhaupt betrifft,
einerlei«1. Durch diese Problemstellung, deren Notwendigkeit aus Kants
System wir später begreifen werden, wird aber unser Problem, wenn auch
nicht so kraß wie bei Platon, doch wieder überholt und nicht gelöst. Denn
was Kant aus dieser Zweideutigkeit rettet, ist kein Verhalten des erlebenden,
sondern das des über gewisse Erlebnisgruppen urteilenden Menschen: ein
logisches Verhalten. Wenn er also auch den »Geschmack« als »was unser
Gefühl an einer gegebenen Vorstellung ohne Vermittelung eines Begriffs
allgemein mitteilbar macht«2, definiert, so ist in diesem »ohne Begriff« doch
eben nur die Vorläufigkeit, das allmähliche Sich-zur-Klarheit-ringen dieser
Stufe gekennzeichnet, kein Positivum. Und ihre Sicherheit, Eindeutigkeit
und mithin ihre Mitteilbarkeit ist durch ihr unbewußtes, aber starkes
Hinstreben und Hindeuten zur wirklichen Reinheit: zur Logik und Ethik,
durch ihren Urteilscharakter und ihr Postulat der Allgemeingiiltigkeit
gewährleistet; dadurch, daß ihre Voraussetzungen »subjektive Bedingungen
der Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt sind«3, die bei allen Menschen
die »nämlichen« sein müssen. Der Zirkel, der hier begangen wurde, läßt sich
vielleicht so am kürzesten bezeichnen: die allgemeine Mitteilbarkeit dieses
Verhaltens, auf die sein Ansinnen jedermann gegenüber hinweisen soll, wird
durch die Urteilsform des Ausdrucks und deren notwendig allgemeine und
eindeutige (aber ebenso notwendig logische) Voraussetzungen bewiesen;
und infolge der Identifikation des »Verhaltens« selbst mit dem Urteil
darüber, kann die allgemeine Mitteilbarkeit dem Verhalten selbst zugespro¬
chen werden. Dem gegenüber aber haben wir zu fragen: kann die Allge-
[i Kritik der Urteilskraft § 38. Werke. Hrsg, von E. Cassirer. Bd. 5. S. 364.
2 Ebda. § 40. S. 369.
3 Ebda. § 39. S. 366.]
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 35
meingültigkeit des sogenannten ästhetischen Urteils eine andere Basis als die
logische besitzen, wenn deren Art auch wegen des ästhetischen Urteilsmate¬
rials eine eigene Nuance aufweist? Wenn diese Frage — was uns notwendig
erscheint — verneint werden muß, so zeigt sich: erstens, daß das sich im
Geschmacksurteil ausdrückende Verhalten schon an einem Wert orientiert
ist, also die Erlebnissphäre verlassen hat und eine durch dieses Verlassen
gewonnene Sicherheit in diese wieder zurückversetzt und damit die
Geltungssphäre seines begründenden Wortes über Gebühr verallgemeinert;
zweitens, daß jedes Identifizieren von Geschmackserlebnis und Geschmacks¬
urteil, ja selbst ihre allzustarke Annäherung aneinander, unstatthaft ist; drit¬
tens, daß das »jedermann Ansinnen« nur durch eine, ihm an sich nicht
zukommende, ethisch-logische Interpretation beweisfähiger erscheint, als
die von uns früher analysierte, nichts tragende und auf nichts treffende
Sehnsucht nach Aufhebung der Isoliertheit und die Illusion ihres Aufgeho¬
benseins. Das Mißverständnis der Ausdrucksform wird also auch bei Kant
nur durch das — nicht ganz bewußte — Verlassen der Erlebniswelt, durch eine
Intellektualisierung ihrer Struktur erreicht. Unsere Frage, die in dieser
Terminologie etwa so lauten würde: ob die allgemeine Mitteilbarkeit des
Geschmacksurteils irgendwelche Garantie für eine — wie immer aufgefaßte
— Gleichartigkeit der ihm zu Grunde liegenden Erlebnisse, also für die
Hebung des uns notwendig und konstitutiv scheinenden Mißverständnisses
zu bieten vermag, kann hier noch nicht einmal aufgeworfen werden; und die
von Kant aufgefundenen Möglichkeiten der Mitteilung können für unser
Problem gar nicht in Betracht kommen.
Freilich liegen in diesen Ausführungen Kants die wichtigsten Ansätze zu
einer fruchtbaren Strukturanalyse der Erlebniswirklichkeit. In einer solchen
dürfte der von uns immer stark pointierte negative Accent in der Mitteilbar-
keit weniger in der Negativität verharren wie in diesen Untersuchungen: es
müßte klargelegt werden, welche die positiven, zusammenhaltenden Struk¬
turbedingungen dieser Sphäre sind (z. B. die Beziehung des qualitativen
Erlebnisapriori zur empirischen Persönlichkeit; ihre Continuität und die
Möglichkeit ihrer Veränderung in Zusammenhang mit Gedächtnis etc. Und
in erster Reihe: ob sich in dieser, die Persönlichkeit konstituierenden Aprio-
rität nicht gewisse, wenn auch abstrakte, Gemeinsamkeiten zeigen, die die
Continuität der Erlebniswirklichkeit erklären können usw.). Es müßte also
nicht nur unser Problem, wie die Mitteilung nicht beschaffen ist, sondern
auch die Frage, wie sie in Wahrheit beschaffen ist, gelöst werden. Für uns
kam es aber auf etwas anderes an: nicht an sich haben wir die Möglichkeit
36 Philosophie der Kunst
erster Reihe für Fiedler) der Schaffensprozeß das absolut Normative: das
Werk ist die Realisation des rein gewordenen künstlerischen Wollens und
das der Erlebniswirklichkeit nahe, receptive Verhalten ist in seiner Inhalt-
lichkeit nur darum falsch und verwirrend, weil es nicht auf die wirklichen
Absichten des Künstlers eingeht. Damit ist aber einerseits das Wesen der
Receptivität verkannt; die Sehnsucht, die die Menschen zur Kunst führt, das
Wiederfinden-Wollen einer im Leben vergebens gesuchten in sich vollende¬
ten Welt wäre ein Irrtum, eine Vorläufigkeit, aus der mit den pädagogischen
Mitteln der Ästhetik das »richtige« Verhalten, das Kennertum, das Eingehen
auf die Absichten des Künstlers zu entwickeln wäre, wodurch aber die Kunst
zu einer Art von Atelier-Esoterik herabsinken würde. Andererseits ist aber
dadurch, daß der Schaffensprozeß das schlechthin Ausschlaggebende gewor¬
den ist, der einzig mögliche Ausgangspunkt der Ästhetik, ihre einzige »Tat¬
sache« aufgehoben: für Fiedler ist der Prozeß das Ewige, das Werk nur eine
Station, eine Objektivation, etwas Fragmentarisches; »die Aufgabe der
Kunst«, sagt er, ». . . bleibt immer dieselbe, im ganzen ungelöste und unlös¬
bare, und muß immer dieselbe bleiben, solange es Menschen gibt«1. So ist die
alte Eindeutigkeit nur mit entgegengesetztem Vorzeichen wiederhergestellt:
es gibt etwas, das mitgeteilt werden kann, und die Kunst ist nur das Vehikel
dieses »Ausdrucks«, nur daß der Inhalt problematischer geworden ist,
weniger allgemein, weniger allen Menschen gemeinsam. Die »Tatsache« der
Kunst bleibt eine wenig geklärte Gegebenheit; denn das Dasein des Werks
der Kunst erfordert zwar den künstlerischen Prozeß als Vorbedingung, kann
aber unmöglich in diesem allein seinen Sinn erhalten und durch diesen
seinen bloßen Tatsachencharakter verlieren. Wenn die künstlerische Tätig¬
keit das Einzige und das Letzte ist, was uns zur Erklärung dieser »Tatsache«
gegeben ist, so bleibt sie ebenso etwas schlechthin Gegebenes und Fiinzuneh-
mendes, wie sie früher war: die Bedeutung aber, die diese »Tatsache«
besitzt, und die in ihrer ganzen Schwere begriffen werden muß, liegt in dem
tiefen Bedürfnis nach Kunst in den nicht künstlerischen Menschen, in dem
hieraus unerklärlichen Dasein der Kunst, in dem systematischen und meta¬
physischen Sinn des Faktums der Kunst — und in der Tätigkeit, die zu ihr
führen muß. Indem dieses Motiv zum einzigen wird, entsteht die große Enge
und Ästhetikhaftigkeit solcher Theorien: letzten Endes müssen sie darauf
[i Uber den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit. Schriften über Kunst. Hrsg, von
H. Konnerth. München, Piper. Bd. i. 1913. S. 328.]
Mitteilungsformen der Erlebniswirklichkeit 39
klar erkannt und ebenso klar die notwendige Verbindung der beiden inadä¬
quaten Verhalten, des Schöpfers und des Receptiven, zu dem Werk. In dieser
Anschauung können alle Einseitigkeiten überwunden werden: für Leo Pop¬
per war die Theorie der Technik und des Materials die wahre Vorstufe zur
Metaphysik der Kunst; denn für seine Anschauung waren technisches
Wollen und Gesetz des Materials metasubjektive Träger des Willens zum
Werk, der über die wollenden und sich hingebenden Subjekte hinweg sich zu
realisieren gezwungen ist und sich in dem Werk substanziert, um ein von den
Menschen ersehntes, von ihnen erschaffenes, aber für ihren Willen und ihr
Erlebnis doch nie erreichbares irdisches Paradies zu errichten.
Durch die Erkenntnis dieser einzigartigen und paradoxen Beschaffenheit
des Werks ist der in sich klar gewordene Begriff seines Daseins erreicht. Zu
diesem Begriff seines Gegebenseins mußten wir Vordringen, um von hier aus
sein wirkliches Wesen in Wahrheit und ohne Vermischungen mit anderen
Bearbeitungen des Lebens erblicken und begreifen zu können.
II.
PHÄNOMENOLOGISCHE SKIZZE
DES SCHÖPFERISCHEN UND
RECEPTIVEN VERHALTENS
Schöpferisches und receptives Verhalten 45
Das uns als Resultat dieser Analyse »gegebene« Werk ist aber noch leer und
inhaltslos; ja das Einzige, was wir jetzt schon ganz bestimmt über sein Wesen
wissen können, ist etwas rein Negatives: die Gewißheit, daß weder das
Erlebnis des Schaffenden, dessen »Ausdruck« das Werk nach gewissen
Anschauungen sein soll, noch das des Genießenden, dem es »mitgeteilt« und
von dem es »verstanden« wurde, irgendetwas Adäquates darüber aussagen
können. Dieses Nichtwissen ist aber, weil wir seine Gründe, Beschaffenheit
und Notwendigkeit erkannt haben, kein bloßer Mangel am Wissen mehr,
sondern eine Art von docta ignorantia: wenn für uns auch keine unmittel¬
bare Erkenntnis vom Wesen des Werks möglich ist, so sind die Richtungsli¬
nien zur mittelbaren desto klarer und eindeutiger vorgezeichnet. Denn die
Incompetenz des schöpferischen und genießerischen Erlebnisses ist schon
jetzt nicht mehr bloß eine abstrakte Negativität, sondern jedes von beiden
kann als ein ganz bestimmtes und eigenartiges Gerichtetsein auf das Werk
bestimmt werden, und das Werk selbst erscheint auch nur für das unmittel¬
bare Erleben nicht in seiner wirklichen Gestalt; einer begrifflichen
Erkenntnis seiner Struktur ist es jedoch durchaus nicht unzugänglich. Es
kommt nur darauf an, die Konkretionsstufe des uns so gegebenen Werks,
sowie die Schwimmrichtung im Treiben zum Werk bei Schaffenden und
Receptiven zu erkennen und die so gewonnenen phänomenologischen
Typen rein zu machen und zu Ende zu führen; damit wir das Werk in einer
höheren Schicht seines Da-Seins erhalten, nunmehr inhaltlich erfüllt und zur
vollständigen Klarheit der Struktur bloß noch einer Analyse bedürftig. Von
dem so erlangten Werk aus betrachtet, erscheinen dann die beiden Rich¬
tungen des phänomenologischen Hinstrebens als einfache Nachkonstruktio¬
nen des ästhetischen Verhaltens, die dem empirisch-psychologischen Prozeß
des Schaffens und des Genießens gegenüber die normative Geltung von
Maximen, von Befehlen zur Realisierung besitzen. So entsteht die für die
Reinheit im Aufbau der Ästhetik sehr folgenreiche Unterscheidung von
Phänomenologie und Nachkonstruktion, deren Unterschied wir vorläufig
nur als den Unterschied der Erkenntnis des ästhetisch relevanten Verhaltens
vor dem erkannten Werk und des ästhetischen Verhaltens nach dem
erkannten Werk bezeichnen können: die Wichtigkeit der Betonung dieser
Verschiedenheit in der methodischen Stellung wird sich im weiteren Verlauf
unserer Untersuchungen erweisen.
Damit ist für das bis jetzt erreichte Stadium unserer Erkenntnisse die phäno¬
menologische Untersuchung ins Zentrum der Fragestellung gerückt. Bei der
Vieldeutigkeit dieser Methode und ihrer Ungewohntheit in spezifisch Ästhe-
46
Philosophie der Kunst
tischen wird es notwendig sein, sie genauer zu bestimmen. Vor allem haben
wir zu betonen, daß jede phänomenologische Forschung in welcher Sphäre
immer des homogenen Verhaltens das Dasein, das irgendwie Bestimmt- und
Gesichertsein des zentralen Wertes, auf den die Phänomenologie orientiert
und gerichtet ist, voraussetzt. Es ist eine Selbsttäuschung, zu glauben, daß in
der einfach gegebenen seelischen Wirklichkeit, die Stoff und Gegenstand der
empirischen Psychologie ist, durch ein »Nachschauen« im »immanenten
Fluß der Phänomene« Formen oder selbst Hindeutungen auf Formen,
subjektive Beziehungen zum Überindividuellen, abgeschwächte Vorahnun¬
gen und Erlebnisse des Objektiven vorfindbar sein könnten. Daß wir diese
überhaupt erblicken, sie im ungelösten und heterogenen Ablauf der seeli¬
schen Wirklichkeit als Zeichen eines über diese Wirklichkeit gespannten und
in ihr zu realisierenden Wertideals erkennen und begreifen können, müssen
wir dieses Ideal bereits als gegebenes irgendwie besitzen. Indem es nun - in
des Wortes eigenster Bedeutung - vorangesetzt wird, scheidet alles, ihm
heterogenes aus der in Betracht kommenden Wirklichkeit aus; die unklaren,
durch den richtungslosen Strom des Erlebens stets getrennten und abge¬
schwächten Hinweise auf das Ziel können offenbar werden, und ihre Andeu¬
tungen, Fingerzeige und Vorwegnahmen der Realisation als Richtungen, die
zum Wert führen, erkannt werden. Jedoch auch die Bedeutung des so reinge¬
machten, phänomenologischen Ausschnittes darf nicht überschätzt werden:
was wir hier vorfinden, sind Bruchstücke, Fragmente — vielleicht noch
weniger als dies. Konrad Fiedler, dessen Intuition wir die erste und bis jetzt
einzige Phänomenologie des künstlerischen Schaffens verdanken, beschreibt
folgendermaßen dieses Stadium der homogen gemachten »sichtbaren«
Wirklichkeit: »Es ist ein ungeheurer Irrtum, zu meinen, daß wir von der
sichtbaren Gestalt der Dinge eine nur einigermaßen reiche, zusammenhän¬
gende und entwickelte Vorstellungswelt besäßen; was wir als sichtbar in
unserem sehenden Bewußtsein wahrnehmen, sind unz'usammenhängende
Bruchstücke, flüchtige, vorübergehende Erscheinungen, und wir stehen hilf¬
los da, wenn das Bedürfnis in uns mächtig wird, uns ein zu Sehendes sichtbar
zu vergegenwärtigen.«1 So müssen wir uns darüber klar werden, daß das
phänomenologische Treiben, mit dem das Werk erreicht wird, weder
voraussetzungslos-intuitiv gefunden, noch in einem fertig erkennbaren
[ i K. Fiedler: Uber den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit. Schriften über Kunst.
Hrsg, von H. Konnerth. München, Piper. Bd. i. 1913. S. 258.]
Schöpferisches und receptives Verhalten
47
Verhaltungsmaßregel für die Künstler gesehen hat. So konnte man nicht nur
keinen Unterschied zwischen schöpferischer und genießerischer Haltung
wahrnehmen, sondern der Prozeß des Schaffens mußte in sinnloser und
inadäquater Strenge rationalisiert werden. Doch dieses vorschnelle Rationa¬
lisieren des seinem Wesen nach nicht Rationalisierbaren führte nicht nur
zum Vei kennen des eigentlich Schöpferischen im Schaffensprozeß, sondern
das Werk selbst, der »Ort« des ästhetischen Logos, wurde dadurch irratio¬
nell. Es mußte solchen oberflächlichen und reflexiven Mischbegriffen unzu¬
gänglich bleiben und darum als absolutes Rätsel, als innerlich Unbegreifba¬
res, als Mysterium schlechthin erscheinen.
werden. Weder von dem das Werk suchenden Willen seines Schöpfers, noch
von dem ganz zum Werk hingeneigten, zur Bereitschaft gewordenen
Verhalten der Receptiven führen Wege zum Werk: immer steht ein Abgrund
zwischen ihnen und kann nur durch die rätselvolle, wenn auch notwendige
und begreifbare Gnade des Sprunges überwunden werden.
Der - im Vergleich zur Ästhetik - wenig verwickelte Aufbau der Logik zeigt
sich am deutlichsten im Verhältnis der Form zum Material als ihrem
notwendig coordinierten Gegensatzpaare. Wie immer auch dieses Verhältnis
definiert wird, ob mit Cohen und seiner Schule als eine Art von Erzeugen
jedes Inhalts aus eigener Kraft der Formen, oder mit Windelband-Lask als
ein Umschließen eines durch Formen undurchdringbaren Materials, für die
Logik wird dieser Gegensatz stets nur als ein relativer erscheinen. Sowohl
den Begriffspyramiden der platonischen Systeme wie etwa Eduard von
Hartmanns Auffassung, daß ein »relativer Inhalt . . . selbst auch nur ein
Formenkomplex, aber ein noch nicht als solcher durchschauter und in seine
reinen Formenbestandteile analysierter«1 ist, hegt die Voraussetzung zu
Grunde, daß die Welt der Logik, im Übergang von zu Inhalte werdenden
Formen und zu Formen durchgearbeiteten Inhalte, sich von dem rem
formellen gv bis zur nur materiellen uptuTT) üX-r) ausdehnt, welche beide aber
für die reine Logik, die nicht Metaphysik sein will, nur Grenzbegriffe sind
und praktisch-methodisch gar nicht in Betracht kommen. Diese Einfachheit
der Struktur, die die Logik der homogenen Relativität des Form-Material-
Gegensatzes verdankt, fehlt vollständig in der ästhetischen Sphäre. Ihre
Struktur ist durch Stellung und Art des zum Werk erwachsenen Schemas,
eines von Inhalten erfüllten und wieder Inhalte erweckenden Formgebildes,
das die beiden phänomenologischen Subjekte in die normative Verbindung
miteinander setzt, bestimmt. Aus dem Begriff des Mißverständnisses folgt
nun, daß die in den phänomenologischen Subjekten entstehenden Bearbei¬
tungen ihrer Inhalte durch ihre Formen sowohl von einander, wie von dem
gemeinsamen centralen Formgebilde prinzipiell verschieden beschaffen
sind. Dazu kommt, daß die vom »Ausdruck« zum Aufnehmen sich hinzie¬
hende Bewegung des Mitteilens zwar alle diese Stadien durchlaufen und die
durch sie determinierten Formen aufnehmen muß, daß aber ein vereinfa¬
chendes Weitergehen zu einem letzten Ziele in dieser Sphäre von vorn¬
herein ausgeschlossen ist. Weshalb auch bei jeder versuchten oder erreichten
Welt der Erfüllung gegenüber. Hier scheint dieses Gefühl seine vollständige
Gerechtfertigung zu erhalten: denn während die durch das gewöhnliche
Leben gehemmte Individualität sich nicht einmal vom Menschen zum
Menschen adäquat auszudrücken vermag und so unausgesprochen und
unbekannt verschwinden muß, wird in den Werken des Genies, des persön¬
lichsten aller Menschen, das Erlebnis zum ewigen Leben erweckt, und über
den Wechsel von Zeiten und Menschen hinaus ist es in immer verstandenen
Zeichen deutlich geworden. Was allen anderen menschlichen Lebensäuße¬
rungen versagt oder nur in höchst spärlicher und fragwürdiger Weise
gegeben ist, wird hier erfüllt: das Schema der Mitteilung hat im Werk alles
Brüchige - sowohl das leer Abstrakte, wie das bloß Persönliche - abgelegt,
und die absolute Einheit des Individuellen und Uberindividuellen scheint
durch ihre Vereinigung im Werk, durch eine coincidentia oppositorum
erreicht. Was selbst den tiefsten persönlichen Lebensäußerungen noch fehlt,
worin ihre Ergänzungsbedürftigkeit durch von wo anders hergeholten Ele¬
menten entspringt, ist im Werk geleistet: rein aus sich heraus wirkt das
gestaltete Erlebnis und braucht dazu kein Wissen und kein vorangegangenes
Erlebnis.
Es fragt sich aber jetzt: was wirkt in diesem gestalteten Erlebnis, auf welcher
Stufe des Begreifens wir jetzt das Kunstwerk besitzen, und was ist das
Persönliche, das sich darin ausdrückt? Während die fragmentarischen und —
bei aller unmittelbaren Wucht ihrer einzelnen Momente - immer ergän¬
zungsbedürftigen Persönlichkeitsäußerungen, die sich nicht zum Werk
objektiviert haben, die Möglichkeit zu einer Convergenz, zu einem Zusam¬
menschließen durch ergänzende Betrachtung in der Persönlichkeit des Sich-
Mitteilenden besitzen, auf deren approximativer Möglichkeit die Möglich¬
keit der Geschichtswissenschaft beruht, ist diese Eindeutigkeit mit dem
Begriff des Werks, des In-sich-geschlossen-seins, aufgehoben. Man verfolge
die Wirkungsgeschichte irgend eines großen Kunstwerkes und man wird eine
sich nie wiederholende Fülle der voneinander völlig verschiedenen Inhalte
finden, in denen sich sein »Verstehen« objektiviert. Und dies ist kein empi¬
risch-historischer Zufall. Die Geschichtswissenschaft muß von der Anschau
ung ausgehen, daß alles Divergieren, das sich in der »Auffassung« einer
Persönlichkeit zeigt, eine Folge ihres mangelhaften Begreifens ist, und daß
hier durch fortschreitende wissenschaftliche Arbeit eine immer größere
Annäherung an das »Wahre« möglich ist. Das »Verstandenwerden« der
Kunstwerke kann aber nicht das Resultat eines gedanklichen, wissenschaftli¬
chen und darum - im Vergleich zum Erlebnis — immer abstraktiven Verfah-
*6 Philosophie der Kunst
rens sein, es muß das unmittelbare Erlebnis des Verstehens, das Aufleuchten
einer fremden Welt als einer uns nur noch unbekannten eigenen in unserer
eigenen Welt sein. (Eine solche Gestaltung des Stoffes der Geschichtswissen¬
schaft ist ebenfalls möglich; aus ihr entsteht — wie ich in der Einleitung
meines Buches »Die Seele und die Formen« zu zeigen versucht habe — die
Form des Essays als Kunstwerk.) Dieses unmittelbare Sich-finden im Werk,
dieses im tiefst Persönlichen von ihm Getroffen-werden, auf dessen zeitloser
Wiederholbarkeit seine ewige Wirkung beruht, schließt jede Möglichkeit
einer Gemeinschaft zwischen Erlebnis des Schöpfers und des Receptiven aus.
Das Mißverständnis, das in der Erlebniswirklichkeit nur eine verite de fait
war, wird hier zur verite eternelle. Die notwendige Ergänzung jedes unmit¬
telbaren Erlebnisses mit davon unabhängigen und zu großem Teil unleben¬
digem Wissen ist zwar eine Abschwächung der Tiefe der Wirkung, zugleich
aber eine Correctur ihrer absoluten inhaltlichen Willkür. Die Paradoxie der
Ausdrucksform, die das Mißverständnis verursacht, hat zur Folge, daß wenn
sie alles Abschwächende, der Ergänzung Bedürftige abgelegt hat, jede
Gewähr für selbst eine approximative inhaltliche Convergenz zwischen ver¬
ursachendem und verursachten Erlebnis verloren gehen muß. Gerade das
Allerpersönlichste, der reingewordene qualitative Charakter des Schemas
kann nichts Eindeutiges in seiner Inhaltlichkeit haben, so daß was in der
Erlebniswirklichkeit noch als eine, der Correctur bedürftige und relativ
corrigierbare, trübende Gewalt erschien, im Werk, worin dieses Qualitative
das Gewollte und Realisierte ist, sich als konstitutive und positive Notwen¬
digkeit zeigten. Das vollendete, seinen Normen wirklich entsprechende
Werk der Kunst erscheint uns hier als ein Formgebilde, das seinen Formen
die Macht verdankt, in den Menschen aller Zeiten das ihnen eigenst Persön¬
liche zu erwecken und als dessen Erfüllung zu erscheinen; worauf die
Möglichkeit dieser Wirkung beruht, werden wir erst später begreifen
können.
Der die »Persönlichkeit« des Schöpfers verdeckende Charakter des Werks
zeigt sich aber vielleicht noch klarer, wenn wir einen Blick darauf werfen,
wer als Schöpfer hinter dem vollendeten Werk steht, also nicht, wie man es
gewöhnlich tut, vom Schöpfer zum Werk, sondern vom Werk auf den
Schöpfer zurückgehen, und nicht, wie das ebenfalls zumeist der Fall ist, die
Unmittelbarkeit des ästhetischen Verhaltens durch Beimischung von aller¬
hand historischem Wissen trüben. Dann müssen wir sagen: es ist eine
Denknotwendigkeit, etwas, was als Einheitliches wirkt, als Einheit aufzufas¬
sen, und wenn es als Menschenwerk wirkt, es als von einem einheitlichen
Schöpferisches und receptives Verhalten 57
Willen Geformtes zu sehen. Für diese Betrachtung werden also sowohl ein
Torso, bei welchem brutale Zufälle das wirkliche Wollen seines Schöpfers
unkenntlich gemacht haben, wie eine Kathedrale, die die Arbeit vieler sich
ablösender, von verschiedenen Willensrichtungen und Erlebnissen erfüllter
Generationen ist, sich als von einem Schöpfer geschaffene Werke zeigen,
jedoch der »Schöpfer« eines solchen Werkes kann mit den empirischen
Persönlichkeiten, die es zustande gebracht haben, so gut wie nichts Gemein¬
sames haben. So verschmelzen Perugino und Signorelli als Schöpfer der
Florentiner Kreuzabnahme, Beaumont und Fletcher als Dramatiker, die
Brüder Goncourt als Romanciers in einer neuen Persönlichkeit, die ästhe¬
edierenden Erlebniswirklichkeit sind bei jedem Akt der Mitteilung alle Betei¬
ligte Gebende und Nehmende zugleich, und das Schema, als bloß flüchtige
und gleich wieder vernichtete Form je eines Mitteilungsaktes, kann und soll
hier keine Eindeutigkeit geben. Dadurch aber, daß im Werk das Schema zur
selbständigen, gewollten und wirkenden Substanz wird, teilen sich die bisher
vermischten Mitteilungsprozesse in zwei, deutlich voneinander geschiedene
Typen: in die Aktivität des Ausdrucks und in die Passivität des Erlebens.
Jedes noch so vorläufige und im Wesentlichen über die Erlebniswirklichkeit
kaum hinausgehende Fixieren oder Organisieren der Mitteilungsformen
weist schon auf diese doppelseitige Typologie hin; so wird schon z. B. in dem
früher erwähnten Fall des Briefes, wo die Wechselwirkung noch gar nicht
aufgehoben, sondern bloß zeitlich hinausgeschoben ist, in den deutlich
getrennten Akten des Schreibens, respective des Lesens eine Hindeutung auf
diese phänomenologische Gestaltung sichtbar; noch klarer erscheint sie im
Verhalten der Beteiligten bei den sogenannten rhetorischen Mitteilungspro¬
zessen, die — vielleicht aus diesem Grunde — so lange als ästhetische
Formungen behandelt worden sind, obwohl weder die Form des Ausdrucks
die geforderte, in sich vollendete Abgeschlossenheit, noch ihre Wirkung die
vorgeschriebene, reine Unmittelbarkeit und Erlebnisartigkeit besitzt. Die
große Schwierigkeit der phänomenologischen Analyse und der Grund der
Dürftigkeit ihrer Resultate besteht nun darin, daß das wirklich ästhetische
Verhalten durch keine Annäherung bei immer wachsender Deutlichkeit der
Hinweise erreicht werden kann; daß vielmehr zwischen dem nächsten
Beinahe und dem Erreichen eine unüberbrückbare Kluft ist, trotz oder
wegen der starken und vorherbestimmten Annäherung des ästhetischen Ver¬
haltens an die Erlebniswirklichkeit. Diese Undeutlichkeit zeigt sich im
passiven Verhalten noch stärker als im aktiven, obwohl in diesem primitiven
Stadium des Daseins vom Werk seine Verbindung mit der Receptivität
stärker zu Tage tritt wie die zum hervorbringenden Prozeß. Die klare Schei¬
dung zwischen Wirkung in der Erlebniswirklichkeit und in der Ästhetik läßt
sich vielleicht so am besten formulieren: jede bloß erlebnisartige Wirkung
verdankt ihr Dasein dem Zwang, den sie auszuüben vermag; d. h. sie kommt
von außen, ist von anderen Kausalitäten bewegt wie der ihr entgegenkom¬
mende Aufnahmeprozeß und wirkt durch die Wucht, mit der sie ihn zu über¬
wältigen fähig ist; sie ist ihrem Wesen nach immer eine Überrumpelung, aus
keinem notwendigen oder normativen Zusammenhang ableitbar, nur in
ihrem Dasein unentrinnbar, ist also bei intelligibler Zufälligkeit empirisch
notwendig. Dagegen setzt die ästhetische Wirkung, wie dies schon J. Cohn
Schöpferisches und receptives Verhalten 61
betont hat, eine gewisse Bereitschaft voraus: sie ist intelligibel notwendig, da
ihre Möglichkeit auf einer vorgearbeiteten Übereinstimmung von Subjekt
und Gegenstand beruht, muß aber gerade deshalb empirisch zufällig sein;
denn die Realisation dieser Übereinstimmung ist nur im Werk selbst bereits
vollzogen und vollendet, dem Wirkungsprozesse steht sie nur als Möglich¬
keit gegenüber, im empirischen Subjekt muß deshalb etwas vorgehen, es
muß sich zum ästhetisch receptiven Subjekt verwandeln, damit diese
Möglichkeit zur erfüllten Wirklichkeit werde.
Das Problem der phänomenologischen Analyse des Receptiven ist also
folgendes: die vorfindbaren Hindeutungen zu dieser Verwandlung des Sub¬
jekts aufzuzeigen; und ihre Schwierigkeit besteht darin, weder der psycholo-
gistischen Unentschiedenheit anheimzufallen, noch das ästhetische Verhal¬
ten durch Vorwegnahme hier noch nicht gewonnener Normen und ihrer
Anwendung auf noch nicht eindeutig ästhetisch gewordene Subjekte über
sich selbst hinauszutreiben, zu logisieren oder zu ethisieren. Die scharfe
Abtrennung vom Psychologismus scheint uns bereits hinlänglich vollzogen
zu sein, so daß hier die Ethisierung der Ästhetik als die größte methodische
Gefahr erscheint. Kant, der als erster das wirklich Ausschlaggebende des
receptiv-ästhetischen Verhaltens erkannt hat, gab ihm zugleich eine starke
ethische Betonung. Die »Interesselosigkeit«, die bei ihm den Zustand der
Passivität, der Bereitschaft der vorgeschriebenen Wirkung gegenüber
bezeichnet, hat eine ethische und nicht rein ästhetische Richtung; sie ist nicht
so sehr eine Bereitschaft auf die Wirkung des Werks, wie vielmehr eine
Abwehr von den Interessen der sinnlichen Welt, eine Vorbereitung zum
ethischen Aufstieg. Die wahre Bedeutung dieser Kantischen Fragestellung
kann nur später durchschaut werden, hier ist sie für uns nur ein Beispiel für
die Wichtigkeit der genauen Trennung der Phänomenologie von der Nach¬
konstruktion, der psychologia rationalis als andeutende Vorstufe zum Werk
von derselben als abgeleitete methodische Folge aus dem Werk und nach
dem Werk. Das entscheidende Moment hier ist, daß die Maxime der Bereit¬
schaft nur nach dem erreichten Werk aufgestellt werden darf, wenn die
Phänomenologie schon vollendet dasteht und in sich und in Beziehung zum
Werk klar geworden ist; denn erst auf dieser Stufe ist die ästhetische Welt
so fertig geworden, daß das Ethische der Maxime, der Befehl, nur im rein
Formellen ethisch wirkt und nicht durch inhaltlich Ethisches die Reinheit
der ästhetischen Sphäre trübt oder sie zum Vorhof ihres eigenen Gebietes,
der Ethik, erniedrigt. Auf der von uns bis jetzt erreichten Stufe kann also die
Passivität des Receptiven noch nicht den ethischen Accent der Bereitschaft
62 Philosophie der Kunst
haben, denn das »Wozu« dieser Bereitschaft, das Werk, ist noch nicht in
ganz konkret erkannter Wesenheit deutlich geworden; freilich ist dieses
Verhalten auch kein psychologisches mehr, denn sein Charakter ist schon
durch das bisher erkannte Wesen des Werks und der notwendigen Bezie¬
hung des Aufnehmens zum Werk bestimmt. Die Bereitschaft des Receptiven
also, die in seiner nachkonstruktiven Psychologie als die Maxime seines
vorgeschriebenen Verhaltens erscheinen wird, ist hier nur die Bereitschaft
des Subjekts, das an den ihm notwendig bereiteten Enttäuschungen durch
die empirische Wirklichkeit leidet und bereit ist sich allem hinzugeben, was
es von diesen befreien könnte. Passivität, Unmittelbarkeit und In-sich-fer-
tig-Sein sind jetzt schon notwendige Adjektive dieses Verhaltens, und seine
Richtung ist durch die früher festgestellte harmonia prästabilita zwischen
objektiver Werkform und subjektiver Erlebnisform in der Wirkung ebenfalls
eindeutig bezeichnet.
Als das wichtigste Moment der Receptivität erscheint uns die deutliche
Bestimmtheit der Passivität. Die homogene Organisiertheit des Werks hat
einen centralen Standpunkt zur Voraussetzung und eine stetig eingehaltene
Richtung zur Folge, die Passivität des aufnehmenden Verhaltens muß also
eine dieser entgegenkommende Bestimmtheit haben. Anders ausgedrückt:
da das Werk, wie wir gesehen haben, aus einer bestimmten Möglichkeit der
Organisation heraus seine Welt erschafft, und jeder andere Gesichtspunkt in
seiner Existenzsphäre gar nicht denkbar oder vorstellbar sein kann, wird
seine Wirkung nicht den ganzen Menschen der Erlebniswirkhchkeit treffen,
sondern nur die Organe von ihm, die dieser Organisationsform angemessen
sind. Die »Bereitschaft«, die so entsteht, unterscheidet sich trotz aller
Verwandtschaft doch von der ethischen Unterwerfung unter Maximen einer
Sphäre: erstens ist sie nach spontanen Möglichkeiten des Erlebens bestimmt,
nicht aber nach diesen fremden und sie überwältigenden Geboten. Zweitens
entsteht diese Bereitschaft nicht durch Unterdrückung oder Ausscheidung
des Heterogenen, sondern durch den positiven Accent, durch die Sammlung
und Zusammenfassung des Menschen, im Gerichtetsein auf diese eine
bestimmte Möglichkeit. Diese natürliche Geneigtheit zum In-den-Hmter-
grund-drängen aller receptiven Organe mit Ausnahme von einem findet sich
auch in der Erlebniswirklichkeit vor, und es ist einfach — wie Fiedler gezeigt
hat — das Zeichen der mangelhaften, durchschnittlichen Intensität des Erleb¬
nisses, wenn der Mensch in der Breite seiner gesamten Möglichkeiten zur
Aufnahme von Eindrücken fähig ist. Die einfache Intensität also, von was
immer auf ihn Zuströmenden, reicht aus, um den diesem angemessenen
Schöpferisches und receptives Verhalten 63
würde, daß diese zwar zum großer Teil das dem Subjekt vom Leben prak¬
tisch-inhaltlich Versagte zu ersetzen suchen, zum anderen Teil aber gerade
die formelle Nichtübereinstimmung der beiden Wirklichkeiten aufzuheben
unternehmen. Man würde z. B. finden, daß sie sich auf eben die Punkte, die
für das bereits erwähnte Versagen des Erlebens ausschlaggebend sind, richten,
so etwa auf das Tempo-Verhältnis zwischen dem wirklichen Geschehen des
Lebens und den immanenten Anforderungen der möglichst großen Erlebnis¬
intensität, auf das Reinmachen der äußeren Kausalitätskette der Ereignisse
von allem, was ihrem Erlebniswert nicht entspricht, auf die Ordnung in der
Aufeinanderfolge dieser Ereignisse zu einem intensiven Abwechseln der vor¬
bereiteten Lösungen von Gespanntsein und plötzlichen, gnadenvollen Über¬
raschungen etc. Doch dieses Phantasieren in der Erlebniswirklichkeit darf
der künstlerischen Phantasie nicht zu nahe gebracht werden: es hat nur als
hindeutender Akt seinen Wert, denn es bezeichnet die Sehnsucht, als deren
Erfüllung ein unbestimmtes und aus ihr unbestimmbares Etwas, das Werk
der Kunst, gesucht wird, in sich enthält es aber noch keinerlei Elemente, die
dessen Wesen irgendwie erklären könnten. Denn das entscheidende Kenn¬
zeichen einer wahrhaften Erfüllung dieser Sehnsucht besteht darin, daß das,
was den inneren Erlebnismöglichkeiten entspricht, eine Wirklichkeit, also
etwas dem Subjekt unabhängig Gegenüberstehendes, ihm Äußerliches und
Fremdes sei. Nur durch ein Bezogensein und Treffen auf eine »Wirklich¬
keit« kann das unfruchtbare Insichbleiben des bloß Subjektiven aufgehoben
werden. Das hemmungslose Weiterlaufen, die schlechte Unendlichkeit, die
es seiner Natur nach besitzt, verursacht, daß es das Brüchige des Lebens nur
in eine schattenhafte Cohärenz, nicht aber in das erträumte Leben zu
verwandeln vermag und so die Enttäuschung eher hinausschiebt und
vermeidet als eine Welt ohne Enttäuschung realisiert oder findet. Die
Unfruchtbarkeit zeigt sich noch deutlicher in der unklaren Art der Vermi¬
schung von Aktivität und Passivität in einem solchen Verhalten; indem die
Phantasiewelt rein durch das sie erlebende Subjekt hervorgebracht wird, ist
die Passivität, das Zuschauen, das In-sich-einströmen-lassen, das gesuchte
und ersehnte reine Erleben zur unhaltbaren Illusion geworden; und die
Aktivität selbst ist eine ins Leere hineinarbeitende Willkür, die ihren Stoff
nur in der Negativität der äußeren Welt und in den abstrakten Wünschen
findet, die also, wie jedes perpetuum mobile, langsam, sich selbst abschwä¬
chend und die eigenen Energien verzehrend absterben muß. Die Passivität
des receptiven Verhaltens, die von diesen phänomenologischen Akten viel¬
leicht unabhängig schien, enthüllt sich nun als unerläßliche Vorbedingung
66 Philosophie der Kunst
der Angemessenheit von Subjekt und Objekt im Erlebnis: Passivität ist dann
nur die auf das Subjekt bezogene Definition der Notwendigkeit, daß das die
Erfüllung bringende Objekt in der Tat eine Wirklichkeit ist. Aber diese
Passivität ist keine Passivität schlechthin, sondern eine in bezug auf das
Werk; nicht aufgegeben wird durch sie die Persönlichkeit des Erlebenden,
sondern — als Persönlichkeit und als Erlebnis — gereinigt und gesteigert.
Darum steht sie in starkem Gegensatz zur Passivität des mystischen Verhal¬
tens, wo in Folge der absoluten und richtungslosen Passivität der Seele ihre
Vereinigung mit ihrem gesuchten Objekt, mit ihrem Gott, vollzogen wird.
Hier dagegen kann und soll es zu keiner Aufhebung der Subjekt-Objekt-
Dualität, zu keinem Einswerden kommen, sondern bloß zu einem Erleben
einer fremden Welt, als ob sie die eigene wäre, als ob jede fremde Welt ihrem
Begriffe und Wesen nach der eigenen verwandt wäre. Aber die Distanz
zwischen Subjekt und Objekt kann nicht verschwinden, denn das Entschei¬
dende der hier gesuchten Erfüllung liegt eben darin, daß das - fremde und
distanzierte — Objekt in der Intensität einer absoluten Subjektsnähe erlebt
werde. Darum kann die Erfüllung nichts anderes sein als das Zusammen¬
fallen von Höhepunkt und Ende, ein Vordringen bis zu dem alles enthül¬
lenden Sinn, bis zu der nicht mehr überbietbaren Steigerung der Intensität,
womit aber zugleich und simultan der Schluß der äußeren Kausalitätskette
erreicht wird. Diese Erfüllung als Einheit des Innern und Äußern im Zuen¬
delaufen der beiden Reihen kann in der Erlebniswelt nirgends vorgefunden
werden; aber jede Sehnsucht nach einer Erfüllung, die die Erlebniswirklich-
keit nicht aufhebt, weist — mehr oder weniger deutlich — auf diesen Begriff
ihrer Realisation: auf das Werk der Kunst hin.
So hat sich der dürftige und fragmentarische Charakter des hier Auffind¬
baren gezeigt. Nur ein äußerst unklares Treiben und wenige spärliche
Hindeutungen zum Werk lassen sich aufweisen und selbst in den sich hierzu
annähernden Verhaltungen zeichnet sich keine eindeutige Richtung ab. Klar
geworden ist nur dieses: wir haben als phänomenologische Tatsache die
Sehnsucht des Menschen nach einem adäquaten Objekt seines Erlebnisses,
und als ihre mögliche Erfüllung das Werk der Kunst gefunden. Wie sich
diese Erfüllung konkret zu realisieren vermag, ist aus dem bis jetzt
erreichten Begriff des Werkes noch nicht ersichtlich. Durch diese Sehnsucht
und ihr Postulat an das Werk, daß es eine den Erlebnisformen des Subjekts
angemessene, aber ihnen unabhängig gegenüberstehende und als Unabhän¬
giges erlebte Wirklichkeit sein muß, um diese Wirkung hervorbringen zu
können, erweitert sich doch unsere Erkenntnis vom Werk. Dazu kommt, daß
Schöpferisches und receptives Verhalten 67
die Möglichkeit dieser Wirkung vom erlebenden Subjekt aus sich doch etwas
klarer enthüllt hat: wir haben im Subjekt der Erlebniswelt die Fähigkeit
erblickt, durch Hingebung an die Intensität eines Eindrucks so homogen zu
werden, daß die auf diese Weise erreichte Homogeneität das ganze erle¬
bende Subjekt bewegt, in sich faßt und bedeutet, daß sie also für das Subjekt
konstitutiv werden und in Folge dessen innerhalb der Erlebbarkeit die refle¬
xive Homogeneität dieser Sphäre überwinden könnte, wenn sie rein aus dem
Subjekt heraus zu verwirklichen wäre und nicht eines erregenden Objektes,
das aber die Erlebniswirklichkeit nicht aufzubieten vermag, bedürfte. Die
Spärlichkeit dieser Resultate, auf deren fragmentarischen Charakter wir an
einem wichtigen Punkt der Phänomenologie des Schöpfers noch hinweisen
werden, erklärt sich aus der entgegengesetzten Richtung von phänomenolo¬
gischen Treiben und nachkonstruktiven Verhalten des Receptiven. Während
beim Schaffenden sowohl die Maxime in der Nachkonstruktion ein Sollen
zum Werk ausspricht, wie das phänomenologische Verhalten sich als ein -
wenn auch weniger klares — Wollen zum Werk zeigt, soll hier die phänome¬
nologische Bewegung zu dem noch nicht erreichten Werk hinführen, wo
doch der normative Gang in der Nachkonstruktion vom Werk zum Recep¬
tiven führt, und sich, von ihm bloß Passivität und Hingebung fordernd, nur
in ihm, aber nicht von ihm aus vollendet. So kann der - als in der Struktur
der Ästhetik notwendig erkannte - Sprung zwischen Subjekt und Werk bei
dem Schöpfer in der Verlängerungslinie des phänomenologischen Verhal¬
tens liegen, während er sich in der Phänomenologie des Receptiven über¬
haupt nicht positiv aufweisen läßt und nur in der Nachkonstruktion metho¬
disch bestimmbar wird. Negativ ist freilich der Sprung auch hier gegeben, ja
das Faktum, daß nur über ihn der Weg vom Werk zum Receptiven führt, ist
der Grund der Undeutlichkeit aller Hinweise auf das Werk und auf das
normative Verhalten zum Werk auf dieser Stufe. Denn es liegt im Wesen des
reinen Erlebnisses begründet, daß in ihm nichts darüber hin Transcendie-
rendes vorzufinden ist, und wir mußten uns hier eben daraufhin bemühen,
gerade diesen Charakter des Erlebnisses, in dem sich das normative, ästhe-
tisch-receptive Verhalten zu zeigen beginnt, auf die möglichste Reinheit zu
bringen. Der Sprung liegt also jenseits des receptiven Verhaltens, bestimmt
es zwar - durch das notwendige Mißverständnis des Werks - vollständig
seiner Struktur und seinem Inhalte nach, kann aber eben deshalb darin nicht
aufgezeigt werden. Das schöpferische Verhalten muß, wegen der Tat und
dem Wollen, die in ihm liegen, über das rein Erlebnishafte hinausgehen, es
kann von Tendenzen zur Überwindung des Mißverständnisses erfüllt sein
68 Philosophie der Kunst
und so schon in sich selbst positive Anzeichen zum Sprung tragen; die
normative Receptivität dagegen ist das konstitutiv gewordene Mißverständ¬
nis, ein Subjekt-Objekt- Verhältnis, in dem diese inhaltliche Inadäquatheit
das Formell-Gewollte und den Normen Entsprechende ist. Hier wäre also
jedes Klarwerden über den vorangegangenen Sprung, über das sich vollzie¬
hende Mißverständnis eine Trübung der Reinheit in der Phänomenologie,
ein Aufstand gegen die Normen in der Nachkonstruktion.
Die primitive Erkenntnis, die wir über die Gliederung des ästhetischen
Gebietes erlangt haben, hebt die Wechselwirkung zwischen den Sich-Mittei-
lenden auf und schafft die correlaten homogenen Typen, des passiven
Receptiven und des aktiven Schöpfers. Dadurch daß es sich bei dem Schaf¬
fenden um eine Tätigkeit, also um etwas irgendwie Bewußtes und Gewolltes
handelt, ist sein Verhalten schärfer von der gewöhnlichen Erlebniswirklich¬
keit abgehoben als das des Receptiven; das Treiben, das sich hier zum
normativ vorgeschriebenen Prozeß ringt, ist deshalb deutlicher und diffe¬
renzierter als dort. Aber derselbe Grund, aus dem zunächst eine Erleichte¬
rung des Verfahrens und ein größerer Reichtum seiner Resultate zu
entspringen scheint, verursacht zugleich eine Erschwerung in der Sicherheit
der gewonnenen Ergebnisse. Denn die Beziehung auf das Werk ist hier
ungleich stärker und bestimmender, als sie dort war, so daß vielmehr davon
abhängen wird, wie scharf man, ohne Vorwegnahme von Unbewiesenem,
das Wesen dieses Werks ins Auge zu fassen vermag. Beim Receptiven
entstand ein — freilich leeres und abstraktes - Bild des Werks als gegebene
Erfüllung der dort lebendigen und treibenden Sehnsucht, und es mußte noch
nicht näher bestimmt werden, damit es als einzig mögliche Realisation des
Postulierten erscheine. Hier dagegen, wo es sich um Akte handelt, die über
die Erlebniswirklichkeit hinausgehen, die das Werk nicht als ihre, ihnen
dunkel vorschwebende Erfüllung besitzen, sondern es durch Handlungen
realisieren müssen, denen das Werk mithin nicht gegeben, sondern aufge¬
geben ist, kann die geringste Abweichung in der Fassung des Werks zu den
größten Abirrungen führen, indem Verhaltungen, die zu ganz anderen
Erfüllungen tendieren, als darauf gerichtet aufgefaßt werden. So entsteht
hier eine doppelte Gefahr der Bewußtheit: Einerseits scheint das, was wir
von dem Werk klar erblicken können, nicht auszureichen, und wir müssen
uns bemühen, es auf eine Stufe der helleren Bewußtheit zu bringen; anderer¬
seits müssen wir uns aber hüten, diese Steigerung des Bewußtwerdens in das
auf das Werk hinstrebende phänomenologische Treiben selbst hineinzutra¬
gen und es durch eine solche Intellektualisierung zu verfälschen. Der Sprung
Schöpferisches und receptives Verhalten 69
zwischen Schöpfer und Werk hat zur notwendigen Folge, daß im Bewußt¬
sein des Hervorbringenden das Hervorgebrachte nie ganz klar gegenwärtig
sein kann, daß sein Erkennen und Wollen sich zwar auf das Werk richten
und so richten, daß sie ihm zur Existenz verhelfen können, daß sie aber
notwendigerweise etwas anderes zu vollbringen meinen, als was durch sie
tatsächlich vollbracht wird. So wird jeder Schöpfer zu einem Saul, der
auszog, die Eselinnen seines Vaters zu suchen, und der ein Königreich fand.
Aber die Gnade im Mißverhältnis zwischen Weg und Ziel ist hier genau und
notwendig vorgezeichnet, und der Sprung, der sie trennt, ist geradeso
erkennbar und bestimmbar, wie die Allmählichkeit seiner Vorbereitung. Das
Problem dieser Phänomenologie kann deshalb so ausgesprochen werden: die
Tendenzen im Verhalten des Schöpfers zu finden, die auf den ihn mit dem
Werk verbindenden Sprung intendieren, deren immanente Notwendigkeit
es ist, zu ihm zu führen. Anders ausgedrückt: es kommt darauf an, im Schaf¬
fensprozeß selbst und in allen Lebensmomenten, die auf ihn hinweisen, die
Art von Verkennen und Falschsehen des Zieles deutlich zu machen, die diese
tiefe Fruchtbarkeit des Nichtsehens und Nichtwissens, die diese Fähigkeit
zum Sieg im Scheitern des Gewollten besitzt.
Doch damit sind wir, um die Richtung unserer Untersuchung genau
bestimmen zu können, bereits etwas weiter gegangen, als der gegenwärtige
Stand unserer Erkenntnisse es, streng genommen, gestattet hätte. Was uns
jetzt gegeben ist, ist der früher bestimmte Begriff des Werks als ein System
von Erlebnissen inadäquat vermittelnden Schemata, das so vollendet in sich
abgeschlossen ist, daß seine Wirkung von nichts anderem als den imma¬
nenten Beziehungen seiner Elemente abhängt. Dieser Definition kann der
jetzt schon allerdings deutlicher gewordene Begriff dieser Wirkung, die dort
nur als notwendig und allgemein gedacht bestimmt wurde, hinzugefügt
werden. Dadurch haben wir endlich den Punkt erreicht, wo sich unser
Gebiet als ästhetisches scharf von allen anderen abhebt: wenn in diesem
Werk und seiner Wirkung auch noch nicht alles deutlich umgrenzt ist, und
vor allem noch nicht alles von ihnen ausgeschieden ist, was eventuell damit
verwechselt werden kann (dies ist nur in dem vollendeten System der Künste
möglich), so sind wir doch wenigstens bis zu dem allgemeinen Begriff des
Künstlerischen vorgedrungen: das aktive Verhalten, das sich uns in der
ersten phänomenologischen Skizze gezeigt hat, kann nichts anderes als der
Schaffensprozeß des Künstlers sein. Das Werk, das hier geschaffen wird,
unterscheidet sich dadurch von allen anderen menschlichen Mitteilungsfor¬
men, daß in ihm das Vehikel des Ausdrucks zum Ziel, zur selbständigen
7° Philosophie der Kunst
Substanz geworden ist, weshalb auch der Wille zum Werk als notwendiges
Kennzeichen das Wollen dieser Substantialität und Immanenz des Werks an
sich tragen muß, ja allein durch diese Richtung des Willens definiert werden
kann. Es liegt aber im Wesen des Werks und des Verhältnisses des Menschen
zu ihm, daß dieser Wille nirgends eindeutig vorlindbar sein kann. Nicht die
starken Abweichungen der Theorien über den Schaffensprozeß voneinander
sind hier gemeint, sondern eine allen diesen Divergenzen zu Grunde
hegende Strukturtatsache des ästhetischen Gebietes, durch die ein großer
Teil der verschiedenartigsten Auffassungen als relativ zutreffende ihr Recht
behält und ihr Auseinandergehen nicht mehr als ein vorläufiges und zu über¬
windendes Stadium der Wissenschaft, sondern als ein notwendig zu Tage
tretendes Symptom des Wesens der Kunst erscheint. Es ist hier von einer
Dualität die Rede, die aus alledem, was bis jetzt über Mitteilungsform und
Werk gesagt wurde, ziemlich klar vorliegt: der Wille zum Werk kann
nämlich erstens vom Erlebnis des Schaffenden ausgehen und sich auf das
Werk als die Möglichkeit zur intensiv wie extensiv stärksten Wirkung rich¬
ten, er kann aber zweitens von vornherein durch das Eigenleben des Werks
bestimmt sein, dieses vom Schöpfer und seinem Erlebnis getrennte Dasein
des Werks wollen und suchen und nur im Resultat, im Erlebnis des Recepti-
ven, zu etwas Persönlichem Werden. (Es muß hoffentlich nicht eigens
betont werden, daß es sich hier um eine phänomenologische Typik, nicht
aber um eine Bestimmung der psychologischen Typen im Schaffensprozeß
handelt.) In dem ersten Fall ist das gesteckte Ziel eine adäquate Form für das
- an sich unabhängig von Kunst daseiende - Erlebnis zu finden, und das
Werk und seine Ausdrucksmittel sind eben nur Mittel und Wege, die dazu
führen; es kommt auf ein großes und tiefes Sich-Aussprechen und
-Ausdrücken des schöpferischen Menschen an. Im zweiten Fall liegt der
Wertaccent auf dem Finden der wirkenden Mittel, der Elemente des Werks,
die ihm seine in sich abgeschlossene Existenz verleihen: auf Technik. Vom
Standpunkt des Werks aus betrachtet, sind beide Arten des Verhaltens
inadäquat. Im ersten Fall entsteht der Konflikt zwischen dem sich in seiner
— wie wir wissen — nicht nutteilbaren Eigenart zum Ausdruck ringenden
Erlebnis und der eigenen, davon prinzipiell unabhängigen Dialektik der
Ausdrucksformen. Im zweiten Fall wird im Wollen des Schöpfers das
wesentliche Element der gewollten Wirkung übersehen: die Inhalte, Erleb¬
nisse erweckende Kraft der Formen, die diese Kraft nicht dem abstrakt,
sondern dem erfüllt Formellen in sich verdanken, die also, um intensiv
wirken zu können, entweder eine vorangegangene Intensität voraussetzen
Schöpferisches und receptives Verhalten 71
bestimmend; der Receptive ist in diesem Fall etwas wie ein Instrument, in
dem gewisse, genau bestimmte Möglichkeiten zu lautwerdenden Tönen stek-
ken, und die Aufgabe des Schöpfers ist, sie aus ihm hervorzulocken.
Während also im früheren Fall Werk und Receptiver zum Mittel des
einzigen Zieles, der Aussprache der schöpferischen Persönlichkeit wurden,
ist hier das Erlebnis des Receptiven, das vorgeschriebene Aktuell-werden
seines potentiell gegebenen Erlebnisses das Ziel, und der Wille des Schaf¬
fenden ist auf diese Seite des Werks, als auf die einzig wesentliche, gerichtet.
Dadurch ist die Unbestimmtheit und Richtungslosigkeit des anderen Typus
erledigt; in diesem Receptiven sind alle Möglichkeiten der Wirkung vorge¬
zeichnet und es scheint nur darauf anzukommen, daß der Schaffende die zur
Erkenntnis dieser Wirkungen ausreichende Bewußtheit und die völlige
Beherrschung der sie hervorrufenden Mittel erlange, damit er am Ziel
ankomme. Das Ankommen kann durch diese Herrschaft über die Technik
gesichert werden, es fragt sich nur, ob dieses Ankommen am Ziel auch ein
Erreichen des Zieles ist, ob ein exaktes Realisieren der zusammenstim¬
menden Formen zwischen Werk und receptiven Erlebnissen zur wirklichen
Aktualisierung dieser Erlebnisse ausreicht. Hier muß nun gesagt werden,
daß, obwohl der Receptive in der Phänomenologie des Schaffenden nicht
mit dem in der eigenen Sphäre identisch ist, so muß der phänomenologische
Schöpfer dennoch auf das wirkliche Bedürfnis des eigentlichen Receptiven
treffen, um die gesuchte und durch das Verhältnis des Schaffenden zum
Receptiven vorgeschriebene Wirkung tatsächlich hervorrufen zu können.
Wir haben aber gesehen, daß das Wesen der vom Receptiven aus ersehnten
Wirkung daraus besteht, daß die wirkenden Formen nicht als Formen
bewußt werden, daß das beglückende Wunder des künstlerischen Erlebnisses
gerade daraus entsteht, daß - infolge des absoluten aneinander Ange¬
paßtsein von Werkformen und Erlebnisformen - das Werk als eine Wirk¬
lichkeit, als ein Inhalte ausströmendes und von Inhalten erfülltes Etwas
wirkt, dessen Formcharakter nur durch Reflexion, nur durch Verlassen des
unmittelbaren Erlebnisses festgestellt werden kann. Das ausschließliche
Gerichtetsein des Schaffenden auf die formellen Elemente der zu erzie¬
lenden Wirkung birgt also die große Gefahr in sich, daß das so entstandene
Werk im Receptiven als Form erlebt wird, daß der Receptive, statt sich einer
ihm gnadenvoll zuneigenden utopischen Wirklichkeit hingeben zu können,
auf Formen reflektierend, deren immanente Angemessenheit beurteilend,
aus seiner Unmittelbarkeit und Ergriffenheit herausgerissen wird. Die Ver¬
meidung dieser Gefahr liegt - geradeso wie beim umgekehrten, vorher erör-
74 Philosophie der Kunst
terten Fall - nicht im Wesen dieses Wollens und seines Zieles; auch hier muß
die Lösung durch eine hier unbewußt gebliebene Voraussetzung gesichert
werden. Diese Voraussetzung ist das Erlebnis des Schaffenden, und seine
fruchtbare Selbsttäuschung besteht darin, daß er auf Wirkungen auszuge¬
hen, technische Probleme zu lösen und sich ganz zu vergessen meint, die
Technik aber, die er sucht und findet, zum symbolischen Ornament der
unbewußt gebliebenen oder bewußt verborgenen menschlichen Intensität
wird, die das Werk mit ihrer Schwere, Fülle und Unmittelbarkeit erfüllt und
es zur Wirklichkeit aufblühen läßt. Wo diese harmoma praestabilita von
Technik und Erlebnis nicht da ist, wird das Erlebnis bloß übersprungen,
nicht aber der Sprung von Technik auf Erlebnis realisiert, und der auf
Technik gerichtete Schaffende, dem diese Gnade nicht zu Teil ward,
erscheint als bloßer Virtuose, als Jakobiner der Technik.
Wir sahen: beide Verhaltungsartcn, die durch die Struktur des Werks und
sein Verhältnis zum Streben des Schaffenden und zur möglichen Wirkung
bestimmt sind, convergieren auf ein Postulat als notwendige Bedingung ihres
Gelingens: auf eine coincidentia der künstlerisch-technischen Formen mit
den unmittelbaren Erlebnisformen des Schaffenden. Nicht von einer Aufhe¬
bung des Mißverständnisses ist hier die Rede, geradesowenig wie in der
früher analysierten, entsprechenden Angemessenheit von Werkformen und
Erlebnisformen der Receptivität, sondern im Gegenteil davon, daß es in den
Formen des Werks seinen zufälligen und deshalb negativen, hemmenden
und trübenden Charakter verliere, notwendig, konstitutiv und infolgedessen
fruchtbar und blühend werde. Die hier postulierte harmonia praestabilita
bezieht sich also nicht darauf, daß die technischen Formen inhaltlich
adäquate Mitteilungsformen seien, daß sie das »Was« des Erlebnisses unver¬
fälscht auszudrücken vermögen, sondern auf eine Verewigung der Erlebnis-
mtensität, auf eine Substantnerung des »Das« und des »Wie« im Erlebnis. So
wie bei dem entsprechenden Fall in der receptiven Phänomenologie keine
Wirklichkeit erreicht oder getroffen, sondern ein Formkomplex als Wirk¬
lichkeit ei lebt und sein Realitätscharakter nur von der Immanenz des Erleb¬
nisses geti agen wurde, so soll hier durch diese Angemessenheit der
Ausdrucksform an das Erlebnis nicht die Richtigkeit, sondern die Wirksam¬
keit des Ausdrucks garantiert werden. Das große Scheitern jeder menschli¬
chen Sehnsucht sich mitzuteilen, soll also hier nicht verhüllt oder gar über¬
wunden werden: gerade in dem vollkommen geglückten Ausdruck wird
diese Tragik in ihrer ganzen Schärfe offenbar; nur hat diese Tragik nichts
Trauerndes und Sentimentales an sich, sie ist die Feststellung der tiefen
Schöpferisches und receptives Verhalten 75
[ i Kant: Kritik der Urteilskraft. § 47. Werke. Hrsg, von E. Cassirer. Bd. v. S. 384.]
7« Philosophie der Kunst
lung des produktiven Subjekts unter dem Wert, den es zu realisieren hat,
scheint im Vergleich zu anderen Wertgebieten nichts neues zu bedeuten,
denn es ist für Logik oder Ethik ebenfalls eine Selbstverständlichkeit, daß
das Subjekt sich in ihnen ewigen, es übersteigenden Normen unterwirft und
ihnen nahe zu kommen sucht. Aber diese Bewegung hat in der Ethik die aus
der Struktur dieses Verhältnisses natürlich folgende Richtung: der über dem
Subjekt stehende Wert kann nie vollständig erreicht werden; die entschei¬
dende Betonung der Innerlichkeit, der Gesinnung, des Willensmoments in
der Ethik drückt ganz klar aus, daß zwischen der objektiven Struktur des
Gebietes und der subjektiven Norm des Verhaltens kein Widerspruch
besteht: der Mensch hat die Pflicht, das über ihm Stehende realisieren zu
wollen, mit diesem Wollen ist aber die Pflicht erfüllt und die Ethik hat ihr
letztes Wort gesagt; die tatsächliche Realisation ist für sie gleichgültig, ja
wird von vornherein als unmöglich gedacht und aus ihrem Gebiet entfernt.
Eine ähnliche Angemessenheit von Wert und Wertrealisierung zeigt auch
die Logik: der jenseits von aller Individualität und hoch über allem Mensch¬
lichen thronende Wahrheitswert ist von dem Subjekt aus me erreichbar. Jede
Logik, die eine, wenn auch überpersönliche und objektive, doch menschliche
Spontaneität des Denkens voraussetzt, wird in einer Art von infinitesimater
Annäherung an den Wahrheitswert als Methode gipfeln. Der letzte Wert
kann dann prinzipiell nie erreicht werden, es kann sich nur um einen - der
Ethik analogen — unendlichen Prozeß der Annäherung handeln. Wo aber
das Erreichen des Zieles als Ziel der Logik gesetzt wird, erreicht es das
Subjekt nicht mehr als menschliches Subjekt und der Weg dazu führt nicht
mehr über Wege und durch Mittel menschlicher Denkspontaneität: dann ist
eine Welt ewiger Urbilder als Welt der Werte da, und das Denken ist eine,
im wesentlichen ethische Bemühung des Subjekts, sich zur reinen Passivität,
zur Bereitschaft der Aufnahme des An-sich-seienden zu entwickeln. In der
großen Lehre von der Wiedererinnerung wird alles Menschlich-Spontane
abgelegt und die von allem Kreatürlich-Subjektiven reingewordene Seele
kann die über ihr stehende Welt erblicken. Aber — und dies ist das Entschei¬
dende — sie erblickt sie bloß und realisiert sie nicht; diese Welt ist da, und
ihre Wahrheit und Wirklichkeit kann in keiner Weise durch diesen Prozeß
der Realisation berührt werden. Die Logik des spontanen Denkens bleibt
also in ihrem Prozeß menschlich, geschichtlich und kennt Begriffe wie
»Neu« und Entwicklung, wenn all dies auch bloß von relativem Wert ist,
und sich bloß in der Sphäre der Annäherung abspielt und das wirklich
Wesentliche — unberührt und unerreichbar — unabhängig von alledem
Schöpferisches und receptives Verhalten
79
dasteht; die Logik der Wiedererinnerung dagegen hat das Ewige und
Unveränderliche als alleinigen Inhalt, und durch den Prozeß, der zum
Erblicken der Urbilder führt, geschieht nur mit dem Subjekt etwas, nicht
aber in bezug aut den Wert. Das Verhältnis von Wert und Wertrealisation
in der Ästhetik ist der diametrale Gegensatz zu diesen Verhältnissen: der
ästhetische Wert, das Kunstwerk, entsteht erst in, durch und mit dem Prozeß
seiner Realisation; die ewigen Gesetze, deren Erfülltwerden das Werk zum
Werk macht, haben keine von ihrer Erfüllung trennbare Möglichkeit der
Existenz, ihre Ewigkeit selbst ist etwas Abstraktes, Abgezogenes, etwas nur
durch Denken, nur durch Verlassen der Unmittelbarkeit, des eigenst Ästhe¬
tischen, Erreichbares, sie entstehen aber immer neugeboren und wie zum
erstenmal bei jeder ihrer einzelnen Erfüllungen. Darum hat das Sollen, das
diese ewigen Normen aussprechen, einen ganz anderen Accent, wie das der
Logik oder der Ethik: erstens ist es nicht als Unerreichbares, sondern als
notwendig zu Erfüllendes gesetzt; es ist keine Annäherung denkbar, denn
der nicht absolut erfüllte Wert ist identisch mit der Wertlosigkeit selbst,
weshalb auch alles in dem Subjekt bleibendes (Gesinnung etc.) nur durch die
Vollendung in der vollbrachten Tat bedeutsam wird, an und für sich ganz
gleichgültig ist. Zweitens entsteht der Wert selbst durch die hervorbringende
Aktion des Subjekts, so daß es nicht einem von ihm unabhängig existenten
Wert gegenübersteht und ihn bloß erblickt, sondern selbst den, ihn über¬
strahlenden und von seinen subjektiven Bedingungen heraus unableitbaren
und unerklärbaren Wert erschafft. Drittens ist aber das einzigartige, das mit
der hervorbringenden Persönlichkeit engst verbundene Moment am Werk
für es selbst entscheidend und konstitutiv: nur indem es »neu« und von allen
anderen Realisationen völlig verschieden ist, wird es zum ästhetischen Wert,
während diese Seite für den ethischen Wert ein Adiaphoron, für den logi¬
schen etwas zu Verneinendes ist. Der Wert ist also in einer ganz anderen
Weise als irgendwo sonst an das Subjekt des Menschen gebunden, trotzdem
aber kann und soll das Verhältnis der Uberordnung nicht aufgehoben
werden. Das Schaffen des Künstlers ist der einzige Fall im gesamten Sein, wo
ein, wenn auch reingewordenes, so doch subjektiv-persönlich gebliebenes
menschliches Subjekt über sich selbst hinausschafft. Aber nicht etwa durch
den nach oben gerichteten Prozeß, wie in der Ethik, sich höher hinaufbringt
als es für sich selbst gegeben war, sondern ein, dem Seinen prinzipiell über¬
geordnetes, höherstehendes und unproblematisches Sem, das des Werks,
erschafft - sich selbst aber in der gegebenen Problematik zurückläßt und der
Erlösung, die es dem eigenen Werke gibt, selbst nicht teilhaftig wird. Wir
8o Philosophie der Kunst
Für uns freilich ist nur der Tatbestand des notwendigen Verhältnisses
zwischen Werk und ästhetisch relevantem, schöpferischem Subjekt, nicht
aber seine emotionale Nachwirkung im erlebenden Menschen wichtig, und
diese Tragik zeigt sich uns als die konkreter gewordene Form des früher
schon durch die Struktur der Phänomenologie gegebenen Sprunges zwischen
Schöpfer und Werk. Hier scheint sich aber ein gewisser Gegensatz zwischen
den bisher Ausgeführten zu zeigen: wir haben nämlich das Genie als
Möglichkeit der Existenz des Werks durch die hafmoma praestabilita
zwischen seinen Erlebnisformen und den technischen Formen definiert, um
dann später in seiner Beziehung zum Werk eine tiefe und unlösbare Tragik
zu finden. Dieser Widerspruch hebt sich selbst auf, wenn wir auf die
verschiedenen Richtungen achten, deren Folge diese beiden entgegengesetz¬
ten Betonungen desselben Tatbestandes sind: die harmoma praestabilita
bezeichnet nämlich die Bedeutung des Genies für das Werk, sie spricht das
Schöpferisches und receptives Verhalten
Postulat aus, wie das Genie beschaffen sein muß, um das Werk hervorzu¬
bringen, während die Tragik in der Beziehung des Werks auf das Genie
selbst liegt. Wenn wir nun wieder in die uns vorgeschriebene Richtung
einlenken und von dem, auf diesem Umweg heller beleuchteten Genie aus
wieder den Weg zum Werk suchen, so bedeutet in diesem veränderten
Aspekt die eben aufgezeigte Tragik diese Frage: wie ist es möglich, daß aus
menschlichen Bedingungen, ohne deren Aufhebung, die nicht mehr mensch¬
liche Welt der Werke entsteht; und ihre Beantwortung ist durch eine Klarle¬
gung des Verhältnisses zwischen den bis jetzt gefundenen drei Begriffen von
harmonia praestabilita möglich: wie die harmoma praestabilita von Erleb-
msiorm und technischer Form bei dem Schöpfer das Füreinanderbestimmt-
sein von Stoff und Form im Werk hervorbringt, woraus dann die Angemes¬
senheit der Wirkungsformen des Werks an die Erlebnisformen des Recep-
tiven entstammt. Es handelt sich hier um Fragen des Abstands: erstens um
die Frage des objektiven Abstands der Wirklichkeit von dem konkreten
Ideal ih rer immanenten Möglichkeit, von der ihr innewohnenden, nur stets
gehinderten utopischen Wirklichkeit, und zweitens um die Frage des subjek¬
tiven Abstands des Menschen sowohl von einer empirischen, wie von einer
utopischen, ihm gegenüberstehenden Welt. Für die ästhetische Phänomeno¬
logie kommt es nun darauf an, festzustellen, welche Arten von Abstand als
zu überwindende ihr gegeben und welche als in der Ästhetik zu realisierende
ihr aufgegeben sind; welche Arten des objektiven und subjektiven Abstands
einander ausschließen und welche einander bedingen. Die Analyse der
Erlebniswirklichkeit zeigte uns, daß das Zurückbleiben alles objektiv Dasei¬
enden hinter dem, was es seinem Begriffe nach sein könnte, und also sollte,
in engster Verbindung mit der Fdeimatlosigkeit des Subjekts in der es umge¬
benden Welt, mit seiner Sehnsucht, den trennenden Abstand zwischen sich
und den Objekten zu überbrücken, steht. Dazu sind wir in der phänomeno¬
logischen Skizze des receptiven Verhaltens zu dem Ergebnis angelangt, daß
einerseits das als Erfüllung dieser Sehnsucht postulierte Werk in sich eine
utopische Wirklichkeit realisiert haben muß, andererseits daß in dem das
Werk erlebenden Subjekt nur eine äußerste Nähe des Objekts an das Subjekt
infolge ihrer Angemessenheit zu einander, nicht aber eine Aufhebung des
Subjekt-Objekt-Verhältnisses erreicht werden soll; wir sind also im Werk zu
der Feststellung der objektiven Abstandslosigkeit, im receptiven Prozeß zu
dem Postulat eines normativen Abstands gekommen, der aber nicht mehr ein
das Subjekt von dem Objekt trennender Abgrund, sondern eine den Wirk¬
lichkeitscharakter des Objekts konstituierende Distanz ist.
82 Philosophie der Kunst
möglichen Stoffe — die utopische Wirklichkeit der Welt, auf die sie sich
beziehen, offenbar werden lassen. Ohne diese Correctur, durch die freilich
die reine Erlebniswirklichkeit gekündigt ist, entsteht das unangemessene
allegorische Verhältnis, daß Erlebniselemente von Formen umschlossen sind,
für die sie zugleich zuviel und zu wenig sind, daß man Zeichen erleben muß,
deren Sinn sich nicht klar und eindeutig aus dem für das Erleben Gegebenen
erhebt, sondern nur durch Reflexion damit verbunden werden kann. Einen
ähnlichen, nur schwerer corrigierbaren allegorischen Charakter zeigt die
Welt der Ethik, insofern sie als Erlebnis gefaßt wird. (Ob diese Frage für die
Ethik selbst von Bedeutung ist, kann und soll hier nicht untersucht werden.)
Diese setzt zwar eine ihrem Subjekt, dem ethisch-reingewordenen Willen,
fremd und heterogen gegenüberstehende Außenwelt und seelische Wirklich¬
keit voraus, und wird mit vollem Recht alles, was nicht als dem ethischen
Tun klar widerstrebend oder es dumpf hemmend gedacht werden kann, als
nicht seiend betrachten. Für das Erleben aber wird all dies doch da sein, und
da es - für das Erleben - mit dem ethisch Wertvollen und Wertfeindlichen
unzerlegbar vermischt ist, erscheinen die ethischen Formungen in der Erleb¬
niswirklichkeit als dieser unangemessen, äußerlich, mit einem Wort als alle¬
gorisch. Es ist z. B. so gut wie unmöglich, das tiefe ethische Bestreben, daß
ein schweres Geschehnis des Lebens rein als Schicksal erlebt werde, zu reali¬
sieren. Nicht an die widerstrebenden, kreatürlichen Tendenzen sei hier
gedacht, stellen wir uns diese als überwunden vor, aber daran, daß die totale
Umformung des wesentlichen Lebens, die sich hier vollzieht, seinem Begriffe
nach nur einen ganz kleinen Teil der Seele treffen kann, daß alles andere
sein früheres Leben weiterführt, aber doch ewig in das neue hineinspielt, daß
die Umwelt des Menschen von seiner Wandlung nie getroffen werden kann,
und daß sein neugewordenes Ich keinen Moment von alledem isolierbar ist.
Diesen Tatsachen gegenüber ist die reine ethische Stilisierung des Lebens
nicht aufrecht zu erhalten, sie kann den Stoff, der auf sie zuströmt, weder
vernichten noch durchdringen, und wenn sie dieser Gesamtheit gegenüber
als Form aulzutreten sich anmaßt, wird sie eine dem Material unangemes¬
sene Form, eine Allegorie. (Ich verweise hier auf meinen Essay über Kierke¬
gaard in »Die Seele und die Formen«.)
Diese innere Unangemessenheit jeder Wirklichkeit wird durch die symboli¬
sche Bedeutung des Stoffes in der Kunst überwunden. Denn der wirkliche
und entscheidende Unterschied zwischen Allegorie und Symbol ist, daß die
Allegorie eine ihr transcendente Wirklichkeit bedeutet oder auf eine
hinweist, das Symbol aber selbst eine Wirklichkeit ist und seine Bedeutung
Schöpferisches und receptives Verhalten
87
der Kunst realisiert wird, steht hinter der Bereitschaft des Receptiven dem
Werk gegenüber, und die Notwendigkeit, eine Erfüllung dieser Bereitschaft
und Sehnsucht zu sein, verknüpft diese harmonia praestabilita mit der, die
zwischen dem formgewordenen Werk und den Formen dieser Bereitschaft
existiert. Dadurch erhält die objektive Angemessenheit der Werkform an
die Materie eine, noch konkretere und gesetzlichere Bestimmtheit und
entfernt sich zugleich noch mehr von der Erlebmswirklichkeit: je mehr das
Werk sich den Postulaten der Wirkung, dem Schein einer zur Wirklichkeit
erweckten Utopie nähert, desto verborgenere Beziehungen muß es mit desto
größerer Energie und vollständiger an die Oberfläche bringen, Tendenzen,
die nur die Sehnsucht des Receptiven von der Wirklichkeit erhofft, gerade
weil in ihr keine Spur von ihnen vorhanden ist. Damit wären die Bedin¬
gungen dieser harmonia praestabilita festgestellt: erstens ist ein solcher
»Standpunkt« gefordert, dessen homogeneisierende und das Heterogene
ignorierende Tat die Kraft zur Symbolik besitzt, ein »Standpunkt«, der eine
im Material gegebene Möglichkeit zum Symbol trifft, von dem aus also eine
transcendentale Form möglich ist; zweitens wird gefordert, daß das so
entstehende Gebilde als Erfüllung des Leidens am objektiven Abstand der
Erlebniswirklichkeit und der Sehnsucht nach einer ihr entwachsenden und
sie fortsetzenden Utopie, durch Anpassung an die Formen der Erlebbarkeit
erscheine.
Mit alledem ist aber nur die Einsicht, was nötig ist, damit das so erkannte
Werk möglich sei, erreicht; die Frage, wie es möglich ist, kann erst jetzt
aufgeworfen werden. Die Frage, wie der »Standpunkt« beschaffen sein muß,
damit das ein homogenes Medium schaffende, konstitutive Ignorieren die
Symbolik der Materie und durch sie die transcendentale, Wirklichkeit erzeu¬
gende Form zur Folge habe. Um diese Frage beantworten zu können,
müssen wir auf ein früheres Stadium zurückgreifen und an das Faktum erin¬
nern, daß mit dem Setzen des »Standpunkts« die Elemente des so entstande¬
nen, homogenen, aber diskreten Komplexes miteinander und mit dem
»Standpunkt« teils in Übereinstimmung, teils in Widerspruch stehen. Dieser
Widerspruch soll keineswegs inhaltlich auf gefaßt werden; hier, wo es sich
um ein homogenes Gebilde handelt, wäre der inhaltliche Widerspruch nur
der äußerste Pol in der selbstverständlichen Verschiedenheit der Elemente
voneinander innerhalb der Homogeneität, würde er eventuell die Rolle des
Kontrastes als schärfsten Fall in der sich steigernden Reihe der Nuancen
spielen, zu einer entscheidenden Bedeutung könnte er aber nie gelangen.
Übereinstimmung und Widerspruch müssen hier in bezug auf die Gestal-
Schöpferisches und, receptives Verhalten
91
Elementen nötig. Wenn nun bei dieser völligen Umwandlung der Erlebnis¬
elemente ihr Erlebnischarakter nicht nur nicht angetastet werden darf,
sondern sogar gesteigert werden muß, so zeigt sich, daß die künstlerische
Stilisation schon an und für sich eine paradoxe, dem natürlichen Wesen ihres
gegebenen Materials widersprechende Art der Relationssetzung ist, deren
Paradoxie durch die Forderung, daß im vollendeten Werk eine prästabi-
lierte Harmonie zwischen dem Material und seinen Formungspnnzipien
herrsche, daß also alle paradoxen und dem Material widerstrebenden
Formungen als das Offenbarwerden seines eigensten Wesens erscheinen, nur
gesteigert wird. Diese Paradoxie hat zur Folge, daß in jedem künstlerischen
Formungsprozeß das Resultat den Strukturcharakter einer coincidentia
oppositorum haben muß. Wenn wir nun jetzt diese Prozesse näher untersu¬
chen, so finden wir, daß von diesem ersten, primitiven, ganz allgemeinen
und abstrakten Paradoxon des »Standpunkt«-setzens bis zu dem erreichten
Werk sich noch drei Gruppen der aufzulösenden Paradoxa zeigen, in denen
wir die drei wesentlichen phänomenologischen Stadien des zu schaffenden
Werks erkennen. (Daß es sich bei dieser Stufenfolge nicht um ein psycholo¬
gisches Nacheinander im Schaffensprozeß handelt, muß wohl kaum eigens
betont werden.)
Die erste Gruppe der Paradoxien kann als die Frage nach der konstitutiven
Cohärenz der Fläche, oder nach der statischen Homogeneität des Werks
bezeichnet werden. (Ich verweise hier, um das Verständnis zu folgenden
Ausführungen zu erleichtern, auf den Teppich als Paradigma dieser Ge¬
staltungsart; ihre Beziehung zu den anderen phänomenologischen For¬
mungsstadien kann nur am Ende dieser Analyse klargemacht werden;
immerhin sei jetzt schon darauf hingewiesen, daß mit dem hier skizzierten
Stilisierungsprozeß z. B. in der Malerei die reine Flächengestaltung, in der
Poesie die rein formale Wortkunst (Rhythmik, Reimtechnik etc.) gemeint
ist. Welche Bedeutung aber dieses Formungsprinzip in den einzelnen Kunst¬
arten hat und wie es sich in jedem einzelnen Fall zu den anderen Formungs¬
prinzipien verhält, kann selbstredend nur in dem vollendeten System der
Künste erledigt werden.) Die Paradoxie entspringt einerseits aus dem bereits
erwähnten Faktum, daß die homogen gewordenen Elemente des zu schaf¬
fenden Werks, bloß aus sich und aus der bloßen Beziehung zum abstrakten
»Standpunkt« heraus, keine sie verbindenden Relationen, mithin keine
Cohärenz untereinander ausbilden können, und andererseits aus der Cohä¬
renz als Postulat des reinen Erlebnischarakters, das der Receptive an das
Werk stellt. Die Paradoxie, die hieraus entsteht, ist eine doppelte. Erstens
Schöpferisches und receptives Verhalten
93
muß die Unmittelbarkeit des Gesamteindrucks, den der Receptive von der
herzustellenden, die homogen gemachten Elemente verbindenden Fläche
erhält, bewahrt bleiben, trotzdem daß der rein technische Charakter sowohl
der Auswahl der Elemente wie ihrer Verbindung in diesem Stadium noch
nicht verborgen werden kann. Zweitens ist durch den bloßen Prozeß des
Homogeneisierens, wie wir gesehen haben, nur die alte Erlebniswelt gekün¬
digt worden, aber noch keine neue entstanden, so daß die hier vorhandenen
homogenen Elemente sich in einem unklaren Zwischenstadium zwischen
ihrer alten, verlorenen, einfachen und ihrer neuen, noch nicht erreichten,
symbolischen Dinghaftigkeit und Realität befinden, die Relationen aber, die
jetzt zwischen ihnen gestiftet werden, sind beiden Realitätssphären gleich
fremd, können sie daher nur in einer, dem alten Realitätsbegriff gegenüber
willkürlichen, dem neuen gegenüber aber reflexiven Weise die Elemente
verknüpfen und deshalb weder ein Nachkhngen der verlassenen Dinghaftig¬
keit ganz verhindern, noch die neue zum Leben erwecken. Die zur Auflö¬
sung der ersten Paradoxie geforderte coincidentia oppositorum ist: eine
Cohärenz und Stetigkeit der homogen gemachten Elemente, die einerseits
nichts anderes ist als ihre Verknüpfung in einer rein technischen, also - vom
Standpunkt der zu gestaltenden Materialität aus gesehen - abstrakt-formel¬
len Art, die aber andererseits für den Receptiven das - ebenfalls abstrakte
— Schema einer erlebbaren Erfüllung überhaupt bietet.
Der Sinn des letzten Begriffs, der der Grundforderung alles Ästhetischen,
dem konkreten Charakter seiner Gebilde widerzusprechen und in dem
Zusammenfallen von Abstraktheit und Erlebbarkeit auch einen immanenten
Widerspruch in sich zu bergen scheint, kann erst durch die Lösung der zwei¬
ten, mit der ersten eng verbundenen Paradoxie klar werden. Hier ist die
Frage nämlich so gestellt: wie können Relationen, die die Elemente mitein¬
ander verknüpfen, ihrer Dinghaftigkeit gegenüber aber völlig neutral blei¬
ben, eine Cohärenz zwischen ihnen zustande bringen? Die wesentliche Para¬
doxie, zugleich aber der Weg zu ihrer Auflösung liegt in diesem neutralen
Charakter der Relationen; sie können weder eine empirische, noch eine
symbolische Dinghaftigkeit treffen und zwischen dingartigen Elementen
Verbindungen und Ordnung schaffen, sie beziehen sich also auf die
abstrakte Verknüpfbarkeit überhaupt, die zwischen diesen Elementen von
abgeblaßter und unklarer Dinghaftigkeit zu finden ist. Bei dieser Fragestel¬
lung enthüllt sich die positive Seite der notwendig paradoxen Art in allen
künstlerischen Gestaltungsprozessen, wodurch der die Struktur konstitu¬
ierende Begriff der coincidentia oppositorum einen noch konkreteren Sinn
Philosophie der Kunst
94
in der ersten Paradoxie dieses Stadiums und ihrer Auflösung auf: die
ausschließlich und sichtbar technische Art der Verknüpfung der homogen
gemachten Elemente untereinander widerspricht der postulierten Unmittel¬
barkeit des receptiven Erlebnisses nicht, da in dem Erlebnis selbst der
geschaffene, gemachte und nicht gleichsam von selbst daseiende Charakter
dieser Form notwendig enthalten ist. Die Schrankenlosigkeit der inhaltli¬
chen Erfüllung dieser Formen darf aber nur rein inhaltlich gedacht und die
formelle Bestimmtheit, innerhalb deren Grenzen sie sich abspielt, muß
soweit wie möglich gespannt werden. Dies folgt daraus, daß jeder ästhetisch
konstitutive »Standpunkt«, indem er eine in sich geschlossene Welt zu
schaffen vermag, eine Weltanschauung ist, und das von ihm aus Geschaffene
mit dieser Weltanschauung seiner Form durchdringt. Dadurch entsteht
innerhalb jeder Formung die eigentümliche und ästhetisch allein ausschlag¬
gebende Zwischenschicht zwischen reiner Inhaltlichkeit und leerer Formali¬
tät, deren Wesensart man vielleicht am besten durch den Ausdruck Inhalt
der spezifischen Form bezeichnen kann, deren entscheidendes Kennzeichen
in dem qualitativen Accent besteht, den die Formung jeder aus ihr entstan¬
denen oder auf sie bezogenen Inhaltlichkeit gibt, durch den die Rückbezie¬
hung des receptiven Erlebnisses auf das Werk und seine notwendige
Verknüpfung mit dem Werk gesichert wird. Dieser qualitative Accent, den
die abgeblaßte und unklare Dinghaftigkeit der Elemente durch die Wertbe¬
tonung der sie miteinander verbindenden abstrakten Relationen erhält, ist
die Aufhebung jeder — körperlichen wie geistigen — Schwere in ihnen, ist die
vollendete und beglückende Leichtigkeit als Substanz dieser Welt. Die aus
der Erlebniswirklichkeit stammende Verschiedenheit der vorkommenden
Elemente in bezug auf Schwere und Leichtigkeit ist durch die wertbetonte
Verblassung der Dinghaftigkeit in den abstrakten Relationen dieses Systems
verschwunden, sie sind gerade in dieser Beziehung einander völlig äquiva¬
lent geworden; ein erinnerungsmäßiges Nachklingen der alten Differenzen
kann zwar, wie wir sahen, nicht verhindert werden, muß es aber gar nicht,
da es gegen die Unmittelbarkeit der gleichmachenden Kraft im System
sowieso nicht aufkommen und durch seinen vergeblichen Kampf dagegen
den hier errungenen Wert der Leichtigkeit nur noch verstärken kann. Diese
Leichtigkeit hat notwendigerweise — in bezug auf die Kategorie der Ding¬
haftigkeit — etwas immaterielles an sich, da es sich nicht darum handelt, das
noch immer dinghatte und materielle, spezifische Gewicht des leichtesten
Elementes auf die anderen zu übertragen, sondern darum, daß sämtlichen
Elementen, ohne Rücksicht auf ihre spezifische Materialität und eigentliche
Schöpferisches und receptives Verhalten
97
Gruppen zeigt, ist der Rhythmus, der Träger der zweidimensionalen Stilisie¬
rung, das konstitutive Prinzip der Flächengestaltung. Da die Dmghaftigkeit
in dieser Welt aufgehoben ist, hat jedes Zeichen nur den Kompositionswert
seiner sinnlich zum Ausdruck kommenden Erscheinung, bietet sich also mit
einer gewissen Selbstverständlichkeit der mathematischen Rationalisierung
dar: es ist einerseits in sich eine Einheit und repräsentiert andererseits, im
Verhältnis zu anderen Zeichen, entweder einen Teil der durch sie repräsen¬
tierten Einheit oder das Äquivalent einer Gruppe von Einheiten. Es herrscht
also eine gewisse Relativität darin, welches Element als Einheit gefaßt
werden soll, um im Vergleich zu ihm die anderen als gleich, größer oder
kleiner zu bestimmen und so zu den organisierenden Gruppen und von
diesen zum Ganzen fortzuschreiten. Diese Relativität ist in bezug auf das
Fortschreiten grenzenlos; d. h. es ist nicht vorstellbar, wie aus den Prinzipien
dieser Gestaltung heraus die Größe des Ganzen zu bestimmen wäre; zu
jedem »Ganzen« könnten noch andere, ihm nach den Prinzipien der
Symmetrie angegliederte »Ganze« als Teile einer neuen Ganzheit beigeord¬
net werden und es wäre, wenn nur diese Prinzipien konstitutiv sein würden,
ein Ende nie zu erreichen. So ist — für die mathematischen Prinzipien der
Gestaltung — das Verhältnis des Ganzen zu den Teilen, das Format der
gesamten Komposition immer irrationell und aus ihnen nie ableitbar; dieses
Format ist für sie »gegeben« und die Aufgabe der Gestaltung besteht darin,
dieser Gegebenheit den Schein der Notwendigkeit, der Apriorität zu verlei¬
hen, sie so zu gestalten, daß diese Irrationalität der Aufgabe aufgehoben
werden. (Immer ist der Teppich die deutlichste Objektivation dieser
Verhältnisse. So besitzt der Teppich die stärkste Möglichkeit zum Fragment¬
werden, in dem Sinne, daß Stücke aus ihm ganz als abgeschlossene, fertige
und vollendete Ganzheiten wirken können, die nicht einmal den pikanten
oder melancholischen Reiz der Torsi, der in ihrer Ergänzungsbedürftigkeit
hegt, haben, sondern schlechthin vollendet sind; und umgekehrt, wäre es
ideell denkbar, daß mehrere Teppiche zu einem neuen Ganzen zusammen¬
gewoben werden, an dem die ehemalige Selbständigkeit der Teile nicht
mehr erkennbar wäre. Auch an das Verhältnis der Strophen zum Gedicht
wäre hier zu erinnern, deren Zahl aus ganz anderen Prinzipien als den
Proportionalitäten ihres ^.ufbaus bestimmt ist.) Noch deutlicher und wichti¬
ger aber ist das Aufhören der Relativität von Einheit und Gruppe aus
Einheiten in der Richtung nach unten. Flier wird dem mathematischen Rela¬
tivismus, dem es nur auf Proportionalität ankommt und dem das, was sich
in diese Verhältnisse einfügt, gleichgültig ist, der also an sich eine grenzen-
Schöpferisches und receptives Verhalten
99
lose Teilbarkeit fordern würde, durch die Dinghaftigkeit überhaupt, die die
zu Zeichen gewordenen Elemente konstituiert, die Grenze gesetzt. Jedes
»Zeichen« ist nicht mehr zerlegbar; d. h. es kann in die verschiedensten
Gruppierungen und Beziehungen eingehen, kann selbst eventuell noch nach
gewissen Proportionalitäten gegliedert sein, ist aber doch etwas Unzerlegba¬
res, etwas als solches, in sich und für sich Bedeutungsvolles, mit eigener
Qualität (der sinnlichen Wirkungsmöglichkeit seiner Erkennbarkeit und der
Materialität seiner Form) Erfülltes, etwas Letztes, eine Monade. Für die
mathematische Organisation liegt auch hier etwas Irrationelles, eine Gege¬
benheit vor und auch hier kann es nur ihre Aufgabe sein, der Aposteriorität
des Gegebenen den Schein der Apriorität zu verleihen. Dieser Monadencha¬
rakter der Elemente zeigt sich am klarsten in der Wortkunst. Wenn ein Wort
auch nach den verschiedenen rhythmischen, klanglichen etc. Werten seiner
Silben in verschiedene Relationen eingeordnet ist, so ist es doch etwas
notwendig Letztes und Unaufhebbares. Geradeso steht es mit einem mate¬
riell geschlossenen Element (Mensch, Tier etc.) in dem Bilde, ja selbst mit
den ganz zur Abstraktheit stilisierten, ihre Bestimmtheit nur leise andeu¬
tenden Zeichen im Teppich. Diese Schranke der auf abstrakten Relativismus
intendierenden Relationen schlägt aber ganz deutlich und stark in Positi-
vität um: die Leichtigkeit, in der wir schon früher die Substanz und den
Wert dieser Formung erkannt haben, bekommt erst durch dieses Verhältnis
der abstrakten Relationen zu den für sie irrationellen und unauflösbar
konkreten Zeichen die letzte, entscheidende Bedeutung. Wenn es dem Rela¬
tionssystem auch gelungen ist, alles Gegebene in Notwendigkeit zu verwan¬
deln, sind dessen Qualitäten doch intakt geblieben, und die unbedingte
Verkniipfbarkeit von Allem mit Allem und ihre Realisation in der Schran¬
kenlosigkeit des herrschenden Gesetzmäßigkeitssystems, wird, ohne die
eigene große Rationalität zu verlieren, tief und geheimnisvoll: unaussprech¬
bare Gesetze scheinen hier zu walten, über Dinge, die von den Gesetzen
nicht begriffen werden, die ihnen fremd bleiben und sich dennoch willig und
wie im Tanze ihren Geboten fügen. Und die Beziehungen der zu Zeichen
gewordenen Dinge zueinander erhalten die gleiche, klare und helle, und
doch unaussprechbare Gesetzmäßigkeit: wenn auf ein Wort im Reim ein
ihm völlig bedeutungsfremdes als notwendige, als einzig mögliche Antwort
erklingt, wenn in der Flächenkomposition des Bildes die Bewegungen der
Menschen mit den Bäumen, den Bergen und den Wolken rätselvolle, aber
selbstverständliche Ornamente bilden, so ist es gleich notwendig und gleich
geheimnisvoll, wie Dinge in solchen Systemen ihre Antwort erhalten können
100 Philosophie der Kunst
und wie diese Systeme sich aus den Dingen aufzubauen vermögen. Das ist
die Tiefe und die Schönheit des Teppichs, die Leo Popperts Essay über
Volkskunst1 vollendet formuliert, deren Stimmung Stefan Georges Strophe
so wundervoll trifft:
Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren
Sich fremd zum bund umrahmt von seidner franze
Und blaue sicheln weiße Sterne zieren
Und queren sie in dem erstarrten tanze.
Die Leichtigkeit ist hier zur Tat geworden: zu dem freien Spiel der Gesetz¬
mäßigkeiten mit den Dingen, zu der freigewordenen, zum Spiel und zum
Tanz gewordenen Gebundenheit der Dinge in ihren Beziehungen zueinan¬
der. Mit diesem Begriff des Ornaments, der Synthese von Ordnung und
Spiel und der ornamental gestalteten Oberfläche der Dinge, in die jede
Irrationalität aufgenommen werden kann und alles von strengen Gesetzen
umschlossen wird, wo aber die Starrheit der Gesetze sich löst, ohne an
Notwendigkeit einzubüßen und das Unauflösbare hell und leicht wird, ohne
sich in platter Begreifbarkeit zu verlieren, ist das Ziel dieser Formung
erreicht und alle ihre Paradoxien sind aufgelöst: das Abbild jeder utopischen
Wirklichkeit ist entstanden.
Dieses Formungsprinzip ist das am tiefsten und am eigentlichsten Künstleri¬
sche: es ist ganz Form, »reine« Form im wörtlichen Sinne und es erschafft ein
Werk, in dem alle Wünsche zur reinen Erfüllung konvergieren können, ein
Werk, das das wahrhafte irdische Paradies ist, in dem alle Gegensätze
zusammenfallen und, um eine paradiesische Welt aufzubauen, sich zusam¬
mentun. Diese Welt besitzt aber keine Wirklichkeit, sie ist abstrakt, ein
Abbild, eine Allegorie, ein Wiederschein ferner Erfüllungen, auf die sich die
Realisierungen nur subjektiv-reflexiv beziehen können; sie wird von der zur
Substanz gewordenen Inhaltslosigkeit ihrer Elemente getragen, und sie wäre
in dem Augenblick gesprengt, ihre leuchtende Oberfläche wäre verwirrt,
wenn die zur inhaltslosen Leichtigkeit verzauberten Dinge sich wieder ihrer
selbst und ihrer Dinghaftigkeit besännen. Und dies muß geschehen. Die
Möglichkeit des Teppichs ist ein ganz vereinzelter Glücksfall, wo die
Möglichkeiten dieser Formung zur endgültigen Gestaltung werden können;
sonst widerstreben überall Gestaltungsziel und Gestaltungsmaterial gleich
stark dieser paradiesischen, aber abstrakten Vollendung. Nur der Tanz, das
[ i Volkskunst und Formbeseelung. »Die Fackel«, xm. (1911), Nr. 324/25. S. 37—39.]
Schöpferisches und receptives Verhalten IOI
Märchen und gewisse Arten der Musik können mit dem Teppich verglichen
werden, sind aber auch schon Zwischenstufen zu anderen Formungsprinzi¬
pien. Und kein Bild kann bloße reine und schöne Fläche bleiben, sondern
muß zum Inbegriff von gestalteten Dingen in ihrer Materialität werden, und
jede Wortkunst widerstrebt der Tendenz, jeden Sinn in Reim, Rhythmus und
Klang auflösen zu lassen. So wird dieses paradiso terrestre zum verlorenen
und wiedergesuchten Paradies der Kunst: jede gestaltende, Wirklichkeit
erschaffende Kunst sucht diese ihre ornamentale Heimat, die sie der Wirk¬
lichkeit willen verlassen hat, nach der erreichten Wirklichkeit und in ihr und
für sie wieder zu gewinnen. So wird diese Form zu dem großen Correctiv
jeder Formung: »all art constantly aspires towards the condition of music«1,
hat Walter Pater gesagt und dieser Satz ist viel mehr als geistreich und fein,
wenn unter Musik diese zum Spiel gewordene, freie und befreiende Gebun¬
denheit verstanden wird. In dieser Correktivrolle wird sie aber über ihre
empirische Möglichkeit hinausgesteigert: die gestaltete Wirklichkeit soll in
sie, aber als solche, zurückkehren; es soll eine »reine« Form wieder erreicht
werden, aber eine, die jede Abstraktheit abgelegt hat, der gegenüber deshalb
auch jeder Abstand wieder verloren gegangen und wieder in Distanz
verwandelt worden ist. Diese Probleme: das Problem der Wirklichkeitsge¬
staltung und das Problem der Rückkehr der Wirklichkeit zur reinen Form
bilden die beiden folgenden Gruppen der aufzulösenden Paradoxien im
künstlerischen Gestaltungsprozeß.
Die Analyse der »reinen« Form hat eine neue und tiefere Paradoxie der
künstlerischen Gestaltung enthüllt: die Paradoxie ihres Wesens als utopische
Wirklichkeit; es hat sich gezeigt, daß das einfachste und vollständigste
Leisten der Utopie ihren Wirklichkeitscharakter aufhebt und das erreichte
Ziel noch problematischer werden läßt, als vorher die Möglichkeit seines
Erreichens schien. Darum muß der Versuch, die utopische Wirklichkeit der
Kunst zu realisieren, auch von der anderen Seite, von der Seite der Wirklich¬
keit in Angriff genommen werden; es muß unternommen werden, ob es nicht
möglich ist, eine Wirklichkeit zu erschaffen, die in sich selbst die Fähigkeit
findet und entwickelt, zur utopischen Wirklichkeit emporzuwachsen. Aber
das Problematische dieser Tendenz ist von Anfang an offenkundiger als es
bei der reinen Form war. Denn wenn diese wegen ihrer Überspannung des
eigentlichst Künstlerischen problematisch wurde, so steckt hier schon in den
[i The Renaissance. Studies in Art and Poetry. London, Macmillan. 1913. p. 140.]
102 Philosophie der Kunst
mit seiner Form erkannt haben, und wir wissen ebenfalls, daß es einerseits
nur spezifische Formen gibt, andererseits daß das einfache Setzen des die
Foim konstituierenden »Standpunkts« eine Materie erschafft, die keine
Analogie in der empirischen Wirklichkeit haben kann. Durch jeden Natu¬
ralismus entsteht aber die Gefahr, daß diese Unvergleichbarkeit von Werk
und gewöhnlicher Wirklichkeit aufgehoben wird, daß das Werk - in dem für
die Kunst günstigsten Fall — diese nur übertrifft, womit die Struktur der
receptiven Erlebnisse, das Herausgehobenwerden aus der Brüchigkeit des
Lebens in eine innerlich abstandslose Welt, das Ubertreffen der Sehnsucht
des Receptiven in der Erfüllung durch das Werk sowohl falsch quantifiziert,
wie zum Prinzip der Kunst überhaupt und der Phänomenologie des Schaf¬
fenden hypostasiert wird.
Und dennoch muß es einen Naturalismus des Schaffenden geben, denn ohne
diesen, ohne einen Willen zur Schaffung der Wirklichkeit kann das Werk
nicht aus dem Stadium der bloß abstrakten Erfüllung, die die »reine« Form
leistet, bis zur konkreten, gestalteten Wirklichkeit gebracht werden. Es
entsteht also durch den Naturalismus eine Sphäre der Differenz im künstle¬
rischen Prozeß, ein Prinzip des künstlerischen Wollens, das mit so einseitiger
Stärke das Wirklichkeitselement des Werks zum Objekt hat, daß es in seiner
Absicht scheitern muß, damit ein wirkliches Erreichen seines letztlich
vorschwebenden Zieles möglich werde. Hier zeigt sich am schärfsten der
Unterschied dieser phänomenologischen Stufe von der früheren: während
im Wollen der »reinen« Form das eigentlich Künstlerische auf die äußerste
Spitze getrieben war, und deshalb die Realisation dieses Wollens in der
Sphäre der Kunst möglich war, aber gerade das Erreichen die Einseitigkeit
im Wollen enthüllte und aus dem Sieg doch ein Scheitern wurde, muß hier
der der Absicht nach auf Außerkünstlerisches hinneigende Wille zum Natu¬
ralismus schon phänomenologisch scheitern, seine Paradoxien müssen sich
als an sich unauflösbare und nicht nur in ihren Consequenzen problemati¬
sche erweisen, damit aus dieser Niederlage des Wollens ein Sieg werde: die
Enthüllung der Notwendigkeit im Willen zur Wirklichkeit und die Über¬
windung der Gefahr, die in seiner, das Künstlerische transcendierenden
Absicht steckt. Durch diese Grundstruktur dieser Stufe ist es notwendig, daß
hier sowohl der Unterschied zwischen schöpferischer und receptiver Phäno¬
menologie, wie der Abgrund, der zwischen Schöpfer und Werk liegt — der
Sprung — deutlicher sichtbar werden, als auf der Stufe der »reinen« Form.
Das Problem des Naturalismus, der jetzt als Einheit von Gefahr und
Möglichkeit zu ihrer Überwindung im Scheitern gefaßt werden soll, kann als
104 Philosophie der Kunst
noch von dem Gegensatz des Schaffenden und des Receptiven im allge¬
meinen die Rede war und das spezifisch naturalistische Kunstwollen noch
nicht berücksichtigt wurde, scheint von ihrer Schärfe zu verlieren, wenn
auch dieses einbezogen wird; in Wahrheit aber tritt damit erst die hier
gesuchte Paradoxie zu Tage. Denn im Naturalismus ist eine Tendenz enthal¬
ten, die mit den Postulaten des Receptiven eine gewisse Verwandtschaft
zeigt: der Naturalismus hat stets die Fiktion zur Voraussetzung, daß es eine
an sich seiende und doch erlebbare Wirklichkeit gibt, deren möglichst
getreue Reproduktion seine Aufgabe ist, daß also der »Standpunkt« und die
von ihm aus erlangten Ausdrucksmittel mit ihren eigenen Wirkungsmöglich¬
keiten die Reinheit der Wiedergabe dieser Wirklichkeit trüben würden, daß
sie ein notwendiges Übel sind, deren Folgen der Künstler auf ein Minimum
zu reducieren sich bestreben muß. Es entsteht hierin eine Stellungnahme des
Künstlers zu der für ihn gegebenen Wirklichkeit, die tatsächlich viel
Verwandtschaft mit dem Wirklichkeitserlebnis des Receptiven dem vollen¬
deten Werk gegenüber hat. Diese entscheidende Ähnlichkeit aber, das
gleiche Substanz-Accidenz-Verhältnis in bezug auf die Dinge, löst hier die
Paradoxie in der Stellung des Schaffenden zur Wirklichkeit und zum Werk
aus. Denn diesem Begriff der Substantialität ist mit allem, was dem Schaf¬
fenden als Organe des Eindrucks und des Ausdrucks zur Verfügung stehen,
nicht beizukommen; wenn für diese Stellungnahme die spezifischen Aus¬
drucksmittel der einzelnen Künste nur Trübungen sind, deren Wirkung, die
das wahre Wesen der Dinge verschleiert, der Naturalist zu überwinden
trachtet, so kann er diese Substanz selbst doch nie erreichen. Wie immer
auch jeder »Standpunkt« und alle seine Folgen ausgeschaltet werden, immer
wird die Dinghaftigkeit, die Substanz der Dinge unerreicht bleiben, immer
wird der Naturalist nur Eigenschaften, nur Accidenzen, nur »Standpunkte«
vorfinden und in einem me vollendbaren, unendlichen Prozeß der Substan¬
tialität der Dinge der Wirklichkeit vergeblich nachstreben. Was für den
Receptiven die emotionale Krönung und Zusammenfassung der aus den
Eigenschaften der gestalteten Dinge ausströmenden Erlebnisse war, wird
hier zu einem unlösbaren Problem. Denn die »Dinge« im Werk müssen doch
fertig dastehen und dürfen und können keine Vorläufigkeiten, keine Andeu¬
tungen oder Grenzbegriffe eines unendlichen Prozesses der Annäherung
sein. Für den Naturalisten kann es sich aber um nichts anderes handeln, und
der Abschluß, das Sich-Abrunden der Gestaltung zum Werk ist für ihn ein
schweres Compromiß, das Aufgeben eines vergeblichen Kampfes. Daß das
Werk dennoch vollendet sein kann, daß aus der Summe der Accidenzen sich
Schöpferisches und receptives Verhalten io 7
— für den Receptiven — eine darüber hinausgehende Substanz bildet, ist von
hier aus nicht zu begreifen; es ist ein Wunder, eine Gnade: der Sprung, der
aber von hier aus nicht nur nicht als notwendig, sondern nicht einmal als
möglich scheint.
Wenn wir nun aber den phänomenologischen Prozeß im Naturalismus
selbst, der vor dem Sprung liegt, betrachten, so ist das Wichtigste, was
geschehen wird, daß die Aufnahmeorgane den Dingen gegenüber sich
immer schärfen, immer stärker und hingebender auf das aufhorchen, was die
Einzigartigkeit eines Dinges ausmacht, und der Schaffensprozeß nun diese
Einzigartigkeit den widerstrebenden Mitteln aufzuzwingen bestrebt ist.
Dadurch hat sich aber das Problem notwendig verschoben: die Substantia-
lität der einzelnen Dinge wurde gesucht, doch der Prozeß des Suchens hat
sich unwillkürlich auf ihre Einzigartigkeit gerichtet, als auf ein Moment, in
dem die Möglichkeit zu liegen scheint, den unendlichen Annäherungsprozeß
an die Wirklichkeit — wenn auch compromißartig — so doch in gewissem
Sinne aus sich selbst heraus zu vollenden; man könnte so sagen: die Einzig¬
artigkeit der Dinge ist - für den Schaffenden - der Grenzwert ihrer Substan-
tialität. Hier scheint es, als ob eine Versöhnung der beiden Prinzipien
möglich wäre: denn die Einzigartigkeit der einzelnen Dinge kann einerseits
nur als ein besonders betonter Ausdruck dafür gelten, daß es in der Gestal¬
tung für den Schaffenden gewisse Knotenpunkte der Relationen gibt, die
sich durch ihre größere Dichtigkeit und ihre, den anderen Teilen gegenüber
bestehende relative Andersartigkeit zu substanz-ähnlichen Gebilden zusam¬
menballen, und andererseits kann und muß der Naturalist, der jeden, den
Dingen gegenüber abstrakten »Standpunkt« a limene von sich weist, in der
Einzigartigkeit der Dinge das Vehikel ihrer eigentlichen und letzten
Substantialität sehen. Damit scheint das Problem der transcendentalen
Cohärenz der Lösung wesentlich näher gekommen zu sein, denn die gleich
notwendige wie paradoxe Umkehrung in Substanz-Accidenz-Verhältnis hat
hier viel von ihrer Schärfe verloren; es scheint denkbar, daß diese Umkeh¬
rung, so wie sie hier formuliert ist, nur die Verschiedenheit des receptiven
und schöpferischen Verhaltens ausdrückt, daß zwischen ihnen also kein
unüberbrückbarer Gegensatz ist. Die Tatsächlichkeit dieser Annäherung
hätte aber zur Voraussetzung, daß die Prozesse, in denen die Accidenzen
beim Schaffenden und Receptiven sich zur Substanz zusammenballen, im
wesentlichen gleichartig sind und nur durch die Verschiedenheit des schöp¬
ferischen vom genießerischen Verhalten modifiziert werden. Zu dieser Vor¬
aussetzung sind wir aber nicht berechtigt, denn der Aufbau der Accidenzen
108 Philosophie der Kunst
ten Dingheiten gemacht. Das Beziehen auf den »Standpunkt« von alledem,
was auf ihn nur beziehbar ist, aber nicht selbstverständlich auf ihn bezogen
werden muß (z. B. Tastvorstellungen in der Malerei, das »Unaussprechbare«
in der Wortkunst), ist nur durch diesen Kampf gegen den »Standpunkt«
überhaupt zu erreichen. Denn wenn er auch die Möglichkeit all dies auszu¬
drücken implicite in sich birgt, so steckt in dem Wirklichwerden dieser tief
verborgenen und stummen Möglichkeiten etwas so Paradoxes, daß es aus der
natürlichen Tendenz des »Standpunkts« nie hervortreten würde. Der Wert
des Naturalismus besteht darin, daß er alles, was mit der Dinghaftigkeit der
Objekte nur zusammenhängt, ohne irgendwelche Rücksichtnahme auf den
»Standpunkt« auszudrücken bestrebt ist. Sein Scheitern ist die Folge der
immanenten Selbstcorrectur der Kunstform, der Macht des »Standpunkts«,
der nur das auf ihn Beziehbare in Erscheinung treten läßt; er trifft also eine
Auswahl in dem ihm Dargebotenen und realisiert für sich seine eigenen
immanenten Möglichkeiten, die nur in bezug auf ihn, aber nie bloß aus
seiner Kraft wirklich werden könnten. Die richtungslose und unendliche
Bemühung des Naturalismus erreicht also nicht das, was er sucht, wohl aber
was aus den Ausdrucksmitteln für die Gestaltung der Dinge als primäre und
apriorische Notwendigkeiten zu erreichen ist, etwas, was ohne diesen
Aufstand des einen Formungsprinzips gegen alle andere nie zur Wirklichkeit
geworden wäre. So enthüllt sich hier ganz deutlich der paradoxe, doppelt-
fiktionsartige Charakter des »Standpunkts«; einerseits muß das aus dem
»Standpunkt« folgende Relationssystem so betrachtet werden, als ob es das
einzig mögliche und wirksame Realitätsprinzip wäre, gleichzeitig muß aber
andererseits der »Standpunkt« selbst so aufgefaßt werden, als ob er nichts
anderes wäre als die Stimme, in der das Wesen der Dinge als Dinge laut
wird. Erst aus dem Zusammenfallen beider Fiktionen kann die Realität des
Werkes entstehen. Die »reine« Form kann nur die erste in sich verwirkli¬
chen, substanziert sie zur einzigen, darum erblüht aus ihr nur die abstrakte
Utopie, die aber die klare Vollendung dieser Abstraktheit in sich tragen
kann. Der Naturalismus überspannt die zweite, hebt ihren Fiktionscharakter
auf und kann darum zu keiner Vollendung kommen. Es hegt aber im Wesen
der zweiten Fiktion, darin, daß sie über das eigentlichste, aber zu eng Künst¬
lerische hinauszugehen scheint, daß sie nicht von vornherein als Fiktion
erkannt werden kann, daß nur aus dem Scheitern ihrer Überspannung ihr
wahres, erfülltes und fruchtbringendes Wesen entspringen kann.
Von hier aus gesehen, erweist sich die Paradoxie der Materialität in ihrer
Wesensart und ihren Folgen als eng verknüpft mit der Dinghaftigkeit, ja es
Schöpferisches und receptives Verhalten 111
scheint, als ob das Bestreben, jedes Ding einzigartig zu erschaffen, mit dem
Willen, jedem Ding seine eigene Materialität zu geben, identisch wäre.
Jedoch diese Paradoxie bezieht sich einerseits auf ein engeres, andererseits
auf ein weiteres Feld, als die vorhergehende: sie scheint etwas viel Engeres
zu sein, sogar nur einen Teil von jener zu treffen, denn die Materialität eines
Dinges ist nur ein Komponent im Komplex der Dinghaftigkeit; sie bezieht
sich aber auf viel mehr, denn indem die spezifische Materialität des
einzelnen Dinges mit der Materialität, die vom »Standpunkt« aus gegeben
ist, die die sämtlichen Dinge, die im Werk Vorkommen, erhalten müssen, in
Widerstreit gerät, ist die Beziehung der einzelnen, relativ selbständigen
Elemente des Werks zueinander zum Problem geworden; welches Problem
dann weiter zur dritten Paradoxie dieses Stadiums führen wird. Die Bezie¬
hung der einzelnen selbständigen Elemente des Werks zueinander ist freilich
auch hier noch schwach und negativ. Das naturalistische Kunstwollen geht
immer auf die Einzigartigkeit jedes Dinges aus und würde, wenn ihm keine
heterogene Hemmung widerstrebte, seine Ausdrucksmittel jedem Ding
gegenüber neu erfinden, um der Einzigartigkeit eines jeden Dinges völlig
gerecht zu werden, oder, da dies unmöglich ist, wenigstens die gegebenen
Ausdrucksmittel der Materialität bis ins Unendliche differenzieren, um die
Annäherung so weit wie irgend möglich zu treiben. Auch hier ist also das
auffallendste Kennzeichen des Naturalismus sein Kampf gegen die künstle¬
rischen Ausdrucksmittel, der Versuch ihnen etwas Unmögliches abzuringen.
Diese Unmöglichkeit ist eine Doppelte: erstens hat, wie wir bereits wissen,
die Materie einer jeden Kunstform eine einheitliche Materialität sui generis,
die an und für sich von jeder spezifischen Materialität der einzelnen Dinge
unabhängig und verschieden ist, und die doch das einzige Ausdrucksmittel
ist, das dem Naturalisten, der die Einzigartigkeit jeder spezifischen Materia¬
lität sucht, zur Verfügung steht. Zweitens ist aber diese, der Differenzierung
und Spezifikation widerstrebende Einheitlichkeit in der Materie der Aus-
drucksmittel nicht bloß durch ihr Wesen allein begründet, sondern auch von
der sie handhabenden Persönlichkeit des Schaffenden selbst. Diese wird,
trotz allen Bemühungen eines bewußten Naturalismus, allen Spezifikatio¬
nen der Materie gerecht zu werden, immer ein qualitatives Apriori in der
Aufnahmefähigkeit und noch stärker in der Ausdrucksfähigkeit besitzen,
eine Schranke, über die hinauszukommen nie möglich ist. Durch die beiden
Hemmungen in der Differenzierung der Materialität entsteht der Zusam¬
menhang der Elemente miteinander: denn die Materialität der künstleri¬
schen Technik, die durch diese beiden zustande kommt, ist notwendiger-
I I 2 Philosophie der Kunst
weise für alle Teile des Werks dieselbe; sie stiftet hiermit eine, wenn auch
vorerst unbeabsichtigte, negative und abstrakte, so doch unauflösliche Ver¬
bindung zwischen ihnen. Beide Begriffe, die hier simultan auftreten — das
Werk als Ganzes und der Schaffende als Persönlichkeit — bezeichnen in
diesem Stadium des naturalistischen Kunstwollens Schranken und Hemmun¬
gen des hier Beabsichtigten, tauchen aber zugleich zum ersten Male in der
Phänomenologie als Probleme auf.
Mit diesem Problem ist der Begriff des Werks als konkreter Totalität zum
ersten Male aufgeworfen. Solange nur von »reiner« Form die Rede ist,
beherrscht die Materialität der Form, der Ausdrucksmittel das ganze Werk
und das qualitativ Unvergleichliche in der Persönlichkeit des Schaffenden
geht konfliktlos in ihr auf und unter: diese Materialität ist nämlich einerseits
als einzige Substanz der Form unüberwindlich, es gibt nichts außer ihr, was
ausgedrückt werden könnte, andererseits aber ist sie, weil sie sich den
einzelnen Dingen gegenüber abstrakt verhält, schmiegsam und fügt sich
unmerklich den leisen Nuancierungen, die hier das qualitative Apriori jeder
schaffenden Persönlichkeit ihr aufzuzwingen gedrängt ist. (Jede Volkskunst,
speziell Teppich, Handarbeit etc., ist hier das einleuchtendste Beispiel.) Für
die erste Stufe des Naturalismus, wo nur noch von der Dinghaftigkeit der
isoliert gedachten einzelnen Dingen die Rede war, kommt dieser Zusam¬
menhang auch noch weniger in Betracht. Freilich liegt dem Problem der
Bestimmung der Dinghaftigkeit durch den formschaffenden »Standpunkt«
schon die Idee des Werks als konkrete Totalität zu Grunde, und in der Annä¬
herung des Schaffenden an das Verhalten des Receptiven zeigen sich Spuren
der Persönlichkeitsfrage, aber die Lösungen selbst, d. h. die Zeichen der
Unlösbarkeit dieser Probleme, bedürfen noch nicht unbedingt dieser Frage¬
stellung, um begriffen zu werden. Allerdings liegt das Hinneigen des Schaf¬
fenden zum receptiven Typus sehr stark in dieser Linie: dieses Verhalten
geht nämlich darauf aus, die aktive, apriorische Voreingenommenheit des
Menschen zu der ihm gegenüberstehenden Wirklichkeit möglichst herabzu¬
mindern, der notwendigen Verengerung seines Wesens, seiner Beschränkung
auf die ihm eigene Qualität, die mit der intensiven Konzentrierung auf die
Tat des Schaffens Hand in Hand geht, möglichst entgegenzuarbeiten, und
aus dem Schaffenden so einen reinen Spiegel für die eigenste Wesensart
jedes einzelnen Dinges zu machen. Die Unüberwindlichkeit dieser Schranke
aber, das Eingesperrtsein des Menschen in sein qualitatives Erlebnisapriori
wird dort noch weniger sichtbar. Denn bei isoliert gedachten Objekten
scheint sich eine größere Schmiegsamkeit des Subjekts ihnen gegenüber zu
Schöpferisches und receptives Verhalten i n
zeigen, als sie einer Totalität von Objekten gegenüber möglich ist, wenn
auch diese Möglichkeit zur Annäherung an die Einzigartigkeit der Objekte
durch die Unmöglichkeit, sie zur wirksamen Einheit zusammenzufügen,
wieder aufgehoben ist, und die Idee des Werks und mit ihr die Persönlichkeit
des Schaffenden als Schranke des Naturalismus, allerdings in abstrakter und
negativer Form, auftaucht. Hier aber ist dieser Zusammenhang von vorn¬
herein gegeben, wenn er auch selbst für diesen Naturalismus nur als notwen¬
diges Übel erscheint, als ein gleichartiges Eingestelltsein allen Dingen
gegenüber und als ein schematisierendes Verfahren in ihrer Wiedergabe.
Diese Einheitlichkeit in der hemmenden Wirkung von persönlicher Eigenart
und technischer Bedingtheit entsteht daraus, daß beide an und für sich
zusammenfassende Prinzipien sind, die freigelassen, eine Welt nach ihrer
eigenen Apriorität schaffen und alle Dinge darin zur Einheitlichkeit verge¬
waltigen würden, wogegen eben der Naturalismus seinen Kampf führt. Für
den Naturalismus liegt also in der Erscheinungsform der Technik, als
persönliche Fähigkeit und Möglichkeit der Handhabung des künstlerischen
Materials, nur eine Steigerung ihrer zu überwindenden abstrakten Schema-
tik. Diese Abstraktheit ist aber schon etwas ganz anderes als die der »reinen«
Form war: sie ist das Versagen des Allgemeinen der Besonderheit gegenüber
bei jedem Versuch einer Annäherung, nicht mehr das selbstverständliche
Insich-ruhen einer von der gewöhnlichen Wirklichkeit abgewandten Allge¬
meinheit. Hier ist die Abstraktheit stark und schmerzlich fühlbar, eben weil
sie weniger abstrakt ist, weil ihrer solchen Wesensart soviel wie möglich
abgerungen wurde. Die Persönlichkeit des Schöpfers ihrerseits steigert diese
Konkretisierung des Zusammenhangs dadurch, daß durch sie die vergewalti¬
gende Schematik noch stärker fühlbar wird: nicht gegen die Grenzen der
Möglichkeit für eine Differenzierung, die in der Technik überhaupt liegen,
richtet sich hier der Kampf, sondern gegen die, welche die persönlich
bestimmte Eigenart und Fähigkeit der ganz konkreten eigenen Technik
aufzwingt. So bedeutet die naturalistische Tendenz in der Malerei etwa nicht
nur den Versuch zur Überwindung der Einheitlichkeit der Farbenmateriali¬
tät zu Gunsten der Materialität der Dinge, sondern auch den Kampf für eine
Schwere, Dichtigkeit etc. sui generis in jedem einzelnen Ding im Gegensatz
zu dem immer gleichen Rhythmus, den die Pinselstriche, die sie gestalten
sollen, ihnen verleihen. Daß dieser Kampf gegen die Vereinigung der stärk¬
sten subjektiven und objektiven Gebundenheiten des Künstlers zur Nieder¬
lage führen muß, ist selbstverständlich, bedeutsamer und interessanter ist,
was durch diese Niederlage gewonnen wird. Die Erweiterung der Erlebnis-
114 Philosophie der Kunst
gehört nicht hierher.) Dazu kommt, daß jede spezifische Materialität eines
Dinges auch für das naturalistische Wollen nicht bloß isoliert und affirmativ
vorkommt, sondern im Zusammenhang und negativ: als Andersheit der
Materialität eines Dinges im Gegensatz zu der der anderen. Der Relationa¬
lismus jeder Kunst und die Abhängigkeit ihres Relationssystems vom
»Standpunkt«, gegen die der Naturalismus im Aufstand ist, werden hier
noch stärker sichtbar: je näher einzelne Dinge zueinander stehen (z. B.
Menschen desselben Milieus), desto weniger reicht der breite Reichtum der
»standpunktlosen« Annäherung an das »Leben« dazu aus, um das ihnen
spezifisch Eigene auszudrücken, um sie voneinander abzuheben; es muß
eine immer energischere Auswahl unter den Erscheinungszeichen getroffen
werden und die, welche ein Ding im Gegensatz zu den anderen hat, müssen
als besonders wichtige, als charakteristische herausgehoben werden. Es ent¬
steht also die notwendige Fiktion, als ob das, was die dargestellten Dinge
von den ihnen im Werk benachbarten am stärksten unterscheidet, für ihr
Wesen am bezeichnendsten sei. Dieser Verbindung der Dinge untereinan¬
der, zu der der Naturalismus immanent gedrängt wird, steht von der Seite
der technischen Materialität folgendes gegenüber: Erstens kann es keine
Form ohne irgendwelche, wenn auch noch so schwache und abgeblaßte,
inhaltliche Erfüllung geben; wenn also die Materialität der Technik im
Verhältnis zum Spezifikationsbedürfnis des Naturalismus auch eine abstrak¬
te, rein formelle Form zu sein scheint, so ist sie doch, für sich selbst betrach¬
tet, mit Inhalten erfüllt. Jede Farbe, jeder Pinselstrich oder Meißelhieb, jedes
Wort ist zwar bloß Form für die zu gestaltende Materialität der Dinge, kann
aber auch isoliert von dieser Ausdrucksfunktion innerviert werden und hat
dann einen auf Dinge kaum lokalisierbaren, aber nichtsdestoweniger klar
und eindeutig bestimmten Inhalt: einen Stimmungswert. Zweitens ist aber
dieser Stimmungswert nicht für alle Elemente dieser Materialität derselbe.
Auch die Einheitlichkeit der technischen Materialität ist nur ein Beziehungs¬
begriff, der ihr Verhältnis zu den einzelnen Dingen ausdrückt; für sich selbst
wirkend hat jedes Element dieser Materie einen eigenen Stimmungswert und
die einzelnen Elemente können unter sich ein System von Kontrasten,
Nuancen, Verstärkungen und Abschwächungen etc. in bezug auf Stimmung
bilden. So zeigt sich einerseits im atomisierenden Naturalismus ein Zwang
zur Verbindung der Elemente und andererseits in der die Spezifikation
hindernden, »abstrakten« Einheit eine starke Tendenz zur Differenzierung;
nur daß die beiden Richtungen bloß ihrer formellen Eigenart nach zu
convergieren scheinen, in concreto ist aber ihre Convergenz nur eine
116 Philosophie der Kunst
Möglichkeit unter vielen, zu deren Sieg über die anderen weder in diesem
Naturalismus selbst, noch in der von ihm bekämpften Technik eine Notwen¬
digkeit vorliegt. Und in der Persönlichkeit des Schaffenden, dessen Erlebnis-
apriori den Zusammenschluß der Differenzierungen verstärkt und dessen
Ausdrucksbreite den Grad der möglichen Nuancierung in der Technik
bestimmt, liegt auch nur die Möglichkeit und nicht die Notwendigkeit ihres
Zusammenfallens. Die Möglichkeit ist aber durch den Naturalismus und sein
Scheitern gegeben und mit ihr die bereits konkret gewordene Möglichkeit der
Symbolik der Materie: die Coincidenz von Charakteristik und Stimmung,
von Eindrucksnuance der Dinge und Ausdrucksnuance des Materials. Das
Wirklichwerden dieser Möglichkeit kann vom Naturalismus aus nicht er¬
reicht werden, denn für ihn ist die Idee des Ganzen, trotz aller Annäherung,
nur als abstrakte Schranke, nicht als konkrete Bestimmung erreichbar.
Freilich gibt es auch für das naturalistische Kunstwollen eine konkrete Tota¬
lität des Werks. Diese Totalität ist von zwei Intendierungen des Natu¬
ralismus bestimmt, die — um das Werk möglich zu machen — zusammenfallen
müßten, die aber trotz einer gewissen Neigung zur Convergenz sich
dennoch aus den naturalistischen Voraussetzungen heraus nicht vereinigen
können. Die erste Tendenz ist, daß die Beziehungen der Elemente des Werks
zueinander, als Dingbeziehungen, als Folgen ihrer Spezifikation und Ver¬
schiedenheit, als Zusammenhänge voneinander unabhängiger Realitäten
auch für den Naturalismus unmittelbar als Gestaltungsziel aufgegeben sind.
Die zweite, daß das Werk, als konkreter Inbegriff aller seiner konstitu¬
ierenden Elemente zu einer, über ihre Summierung hinausgehenden und von
ihnen unabhängigen Bedeutung gelangt. Der erste Komplex geht auf das
Problem der naturalistischen Ausdrückbarkeit der realen Relationen (im
Gegensatz zu den ornamental-kompositionellen) aus. Die Beziehung der
Dinge zueinander ist, wie immer auch die Ausdruckstendenz auf ihre isolie¬
rende Einzigartigkeit hinstrebt, geradeso ursprünglich und unaufhebbar
gegeben, wie die Dinge selbst; mit dem Menschen etwa, der zu malen ist, ist
der Boden, auf dem er steht, und das Faktum des Stehens, mit der Darstel¬
lung irgendeines Menschen in einer dichterischen Form sein Verhältnis zu
den anderen Menschen oder menschlichen Verhältnissen, Institutionen etc.
simultan als Darstellungsziel aufgegeben. Die Paradoxie aber, die hier für
den Naturalisten entsteht, ist, daß die Dinge und ihre Relationen zwar
dieselbe Realität als Gegebenheiten haben und dieselbe Realität der Gestal¬
tung erhalten müssen, jedoch voneinander total verschiedene sinnliche
Erscheinungswerte, mithin Darstellungsmöglichkeiten besitzen. Wenn wir
Schöpferisches und receptives Verhalten II7
schäften des Dinges wirken und den gleichen, sinnlichen und unmittelbar
wirkenden Erscheinungswert haben, wie die anderen Eigenschaften des für
sich gedachten Dinges. Es ist also unmöglich zwischen dem Menschen des
Bildes und dem Boden, auf dem er steht, oder zwischen dem Menschen der
Tragödie und der abstrakten Staatsidee oder einem historischen Gesamt¬
komplex eine Verbindung zu stiften, die die gleiche Kraft und Vollendetheit
in der Gestaltung haben könnte, wie die physiognomischen oder psychologi¬
schen »Eigenschaften« der betreffenden Menschen, wenn der Mensch, der
hier in Betracht kommt, nicht apriorisch und seinem innersten Wesen nach
der stehende Mensch, beziehungsweise der schicksalbezeichnete Held des
großen historischen Momentes ist. Diese Beziehung kann aber niemals
einseitig sein, sie kann nur dann verwirklicht werden, wenn sie so absolut das
Apriori der Dinge ausmacht, daß alle nur in ihr und durch sie existieren,
wenn also in der unmittelbar daseienden Idee des stehenden Menschen nicht
nur der Mensch bloß in bezug auf den Boden, auf dem er steht, existiert,
sondern auch die Existenz des Bodens bloß auf seiner »Eigenschaft« als
Vehikel des Stehens beruht. Nur eine solche unbeschränkte, existenz-set-
zende Allmacht des »Standpunkts« kann die konkrete Totalität der Dinge
als Werk, als erfüllte utopische Wirklichkeit aus sich entlassen: dann ist die
Fremdheit der Dinge voneinander aufgehoben und mit ihr ihr Abstand von
der eigenen Utopie; aber indem sie miteinander verwandt werden und diese
ihre Verwandtschaft als ihr innerstes und eigenstes Wesen aus ihnen
erstrahlt, kommen sie noch stärker und tiefer zu sich selbst, bereichern sich
in sich selbst mit der Fülle dieser Zusammenhänge, ihre eigenes Sein hebt
sich nicht mehr als abstrakte Andersheit von den anderen ab, sondern reiht
sich ihnen als geschwisterliche Unterscheidung, als Basis und Träger der
Vereinigung, in Friede und Intensität, in Ruhe und Spannung an. Der
»Standpunkt« ist dann das geheime Centrum, auf das alles hinaufläuft, aus
dem alles entsteigt, erscheint aber nirgends, ist nur die — sokratische —
Hebamme der sich selbst gebärenden Dinge; die »Persönlichkeit« des Schaf¬
fenden ist nur der Kopf des Zeus und die Technik der Werkform der
Hammer des Hephaistos, mit deren Hilfe die immer fertige, nie entstandene
Pallas Athene in voller Rüstung in die Welt enteilt.
Diese reahtätsschaffende Macht des »Standpunkts« kann der Naturalismus
nie erreichen, für ihn können weder die Persönlichkeit noch die Technik
diese begnadete Hilfe leisten: Ihm muß immer diese Anschauung von
Ganzen, Teilen und ihren Beziehungen fehlen, weil er in dem »Standpunkt«
nicht diese schöpferische Fiktion erblickt, sondern eine Welt ohne jeden
Schöpferisches und receptives Verhalten I19
ob dieser Begriff nicht das hier Fehlende zu ersetzen und die Realisation des
Werks zu ermöglichen vermag, ob das, was als Aufstieg vom Element zum
Ganzen mißglücken mußte, nicht als Heruntersteigen von der Totalität zu
ihren Teilen gelingen kann. Diese Ganzheit ist in erster Reihe als die Größe
des Ganzen gegeben, die aus der Summierung aller Elemente und ihren
realen Beziehungen entsteht, aber einen über diesen seinen Charakter
hinausgehenden Wert und eine aus ihnen nicht ableitbare, im Gegenteil sie
bestimmende Qualität besitzt. Das Problem der Größe des Werks entspricht
dem Problem des Formats bei der »reinen« Form, nur daß es sich dort um
die Auflösung des für die Proportionalitäten irrationellen Formats in reine
Relationen gehandelt hat, während hier das Problem darin besteht, wie
zwischen der unmittelbar, in der Vision des Naturalisten gegebenen Größe
des Ganzen und der Größe seiner gleichfalls und auf ebensolche Art gege¬
benen Teilen für beide konstitutive Beziehungen zu finden sind. Diese
Größe ist vor allem die räumliche, beziehungsweise zeitliche Zusammenfas¬
sung der Elemente des Werks, ist also etwas schlechthin gegebenes, hinzu¬
nehmendes, empirisches; zu einer, über diesen empirischen Gegebenheits¬
charakter hinausgehenden Bedeutung kann sie nur dann gelangen, wenn die
Art, mit der sie alle ihre Elemente in sich faßt, für diese von konstitutiver
Notwendigkeit ist und wenn sie — ob als Grund oder Folge dieser Notwen¬
digkeit mag hier gleichwertig sein — dadurch als eine in sich abgeschlossene
Einheit von eigener Wirkungsqualität erscheint. Ein solcher zusammenfas¬
sender Rahmen ist für jedes Kunstwerk eine notwendige Voraussetzung der
Gestaltung überhaupt: er ist das Prinzip der Abgrenzung des Werks von der
übrigen Wirklichkeit, das Setzen der Grenzen des Werks und damit das
Setzen seiner Existenz als Werk. Das hier unbedingt erforderliche, apriori¬
sche und konstitutive Grenzsetzen zwischen Werk und Wirklichkeit, die
absolute Unvergleichbarkeit zwischen ihnen infolge dieser Abhebung, kann
und will der Naturalismus nicht vollziehen. Für den Naturalismus, der eine
an sich gegebene Wirklichkeit voraussetzt und zu erreichen sucht, ist die
Abhebung des Werks von der empirischen Wirklichkeit etwas relatives und
gleitendes; das Werk soll die absolute Wirklichkeit erreichen, oder wenig¬
stens ihr möglichst getreues Abbild sein, womit jedoch prinzipiell noch nicht
abgemacht ist, ob das Werk in allen Punkten ihr näher kommt als die empiri¬
sche Wirklichkeit oder gar hinter ihr zurückbleibt; auf alle Fälle handelt es
sich immer um ein Mehr oder ein Weniger, niemals aber um ein Anderes und
Unvergleichbares. Damit ist aber der empirische Charakter der »Größe«
nicht nur nicht überwunden und notwendig gemacht, sondern als notwendig
Schöpferisches und receptives Verhalten I 2 I
Damit simd wir von neuem, jedoch in wesentlich konkreterer und inhaltlich
erfüllterer Weise auf den phänomenologischen Typus des Genies gestoßen:
der früher vielleicht dogmatisch scheinende Begriff von der harmonfa
praestabilita der Erlebnisform mit der künstlerisch-technischen Form ist
transcendental-logisch geworden: die Wirklichkeit des Werks kann nur
erreicht werden, wenn die subjektiven Bedingungen ihres Entstehens (die
Erlebnisformen) mit den objektiv-struktiven Prinzipien ihrer Existenz (den
technischen Formen) identisch sind. Das objektive Moment an jeder Wirk¬
lichkeit liegt in ihrer - relativen - Gleichgültigkeit subjektiven Stellungnah¬
men, Wünschen und Wertungen gegenüber, die sich im Erlebnis des Betrach¬
ters als eine Unabhängigkeit von seinen aufnehmenden Funktionen, von den
Formen überhaupt spiegelt; »die Kategorie des >Seins<« sagt Windelband,
». . . bedeutet nie etwas Anderes als diese Unabhängigkeit des Bewußtseins¬
inhaltes von der Bewußtseinsfunction«1. Die Bedingung der künstlerischen
Wirklichkeit ist deshalb, daß in ihr das Sinnvolle und das Widersinnige, das
Wertbetonte und das Wertverneinende eine gleich starke Existenz besitzen,
wobei jedoch dieser wertfremden Struktur der Wirklichkeit alles Quälende,
die gleichgültige Feindschaft dem Flohen und Bedeutsamen gegenüber,
genommen werden muß. Die Kunst muß also in ihrem wirklichkeitschaf¬
fenden Prozeß eine ähnliche Umwandlung an der gegebenen gewöhnlichen
Wirklichkeit vollziehen, wie sie von dem Erkenntnisprozeß, der zur Theo-
dicee führt, vollbracht wird. Aber die Aufhebung des Widersinnes in der
Theodicee ist durch eine Verknüpfung mit transcendenten Gerechtfertigun¬
gen seiner Existenz erreicht worden und wird so Gegenstand des Erkennens
oder des Glaubens, während hier das Widersinnige einen immanenten Sinn
zu bekommen hat, um Gegenstand des unmittelbaren Erlebens werden zu
können. Wenn aber das Widersinnige im unmittelbaren Erlebnis, ohne
transcendente Legitimation, bejaht werden soll, so muß es in seiner unmit¬
telbar gegebenen Erscheinung zum Träger, zur unbedingten Voraussetzung,
zur absoluten conditio sine qua non des Wertes werden; nur wenn das inten¬
sivste Erlebnis des Wertes ohne dieses Gegenspiel unmöglich scheint, hat der
Widersinn seinen wertfeindlichen Charakter verloren: er ist zur Dissonanz
in einem Tonsystem geworden. Mit diesem, etwas vorwegnehmenden Ver¬
gleich aber ist das oben besagte auf das richtige Maß beschränkt: nicht das
Widersinnige an sich wird dem Sinn oder dem geschlossenen System der
möglichen Werte kontrastiert, sondern ein ganz bestimmter Widersinn (oder
eventuell ein Komplex von Widersinnigkeiten) in eine solche Beziehung
gebracht, in der er zur Voraussetzung eines ebenfalls konkret bestimmten
Wertes wird. Dadurch ist aber nicht nur die Wertfeindlichkeit des Wider¬
sinnes aufgehoben und in ein unauflösliches Bündnis mit dem Wert verwan¬
delt, sondern auch der Wertgegensatz von Sinn und Widersinn muß einer
Gleichordnung der beiden weichen, die so stark und umfassend ist und beide
so sehr durchdringt, daß das ehemals Bejahte ohne diese Beziehung als blaß,
arm und dürftig erscheinen würde und das früher Verneinte, Gefürchtete
oder Bedrückende von der reinen Glorie einer inneren Notwendigkeit und
Vollendung erstrahlt. Bloß dadurch kann das künstlerische Gebilde seine
Wirklichkeit erhalten: ein Sein, das unabhängig von jeder Wertung ist, das
die Notwendigkeit seines Da-seins und So-seins nur der eigenen imma¬
nenten Struktur verdankt. Die wertfremde Wesensart der gegebenen Erleb-
mswirklichkeit, die nur der wertsuchenden und in diesem Suchen
getäuschten Emotionalität des erlebenden Subjekts als wertfeindlich vor¬
kommt, kehrt hier geläutert, gewollt und bejaht zurück. Nur daß dort diese
Fremdheit negativ war und in einer vollständigen Heterogeneität jeder
Wertbezogenheit gegenüber bestand, und so weder das Wertvolle, noch das
dagegen Aufständische zur höchsten Intensität ihrer Möglichkeiten kommen
konnten, während es sich hier um etwas Positives, um das homogene Getra¬
gensein beider von einem und demselben Strom handelt, wo in der vorgear¬
beiteten Intention apriorisch beschlossen liegt, sie beide zu ihrer denkbar
höchsten Blüte gedeihen zu lassen. Die Wirklichkeit, die hier erreicht wird,
hängt geradeso stark von der Tiefe des zugrundeliegenden Gegensatzes, von
der Kraft der Spannung zwischen Sinn und Widersinn, wie von der Macht
der ausgleichenden, beide gleich tragenden und nährenden Intensität ihres
einfachen Seins ab. Die gleiche Wichtigkeit aber, die Spannung und
Ausgleich haben, bezieht sich nicht bloß auf das Ganze des Werks, sondern
auf alle seine Teile; das Werk ist auch in der Beziehung eine Rückkehr zur
ursprünglichen Wirklichkeit, daß [es] in ihm keine von dem Seienden abge¬
trennten und voneinander deutlich geschiedenen, in sich homogenen Reihen
von Werten und Unwerten gibt, sondern daß Sinn und Sein und Widersinn
sich in jedem einzelnen Element gleich stark vereinigen, bekämpfen und in
Balance halten. Dieser Verschiebung und Verschmelzung der Wertungsrei¬
hen verdankt das Werk seine Unerschöpflichkeit: die Elemente erhalten ein
Fiirsichsein, einen inneren Reichtum und dabei etwas Unerschaffenes, von
(
I 26 Philosophie der Kunst
logie der Menschen, die Struktur ihrer Beziehungen zueinander, die Gesetze
der Umwelt, die sie umgibt, von ihrer Soziologie bis zu ihrer Metaphysik,
eindeutig auf den Tod als intendiertes Ziel ausgehen; wenn — für die Werte
dieser Welt — das Ausbleiben des Todes wie eine Herabsetzung, wie eine
Entwürdigung, wie etwas Entsetzliches und Unerträgliches erscheinen wür¬
de. (Darüber Näheres in meiner »Metaphysik der Tragödie« in »Die Seele
und die Formen«.) In diesem Sinne repräsentiert der Untergang, der Tod
den Begriff der Dissonanz für die Tragödie; die Dissonanz als bejahten
Widersinn, als Verbündeten und Helfer eines Sinnes, tieferen als der, dem er
im »Leben« gegenüberstand; die Dissonanz, wie sie Brownings Abt Vogler
empfindet:
Why eise was the pause prolonged but that
singing might issue thence?
Why rushed the discords in but that
harmony should be prized?
Die Dissonanz ist aber dadurch mehr geworden als Hintergrund und
Erstärker der Harmonie. Nicht zeitlich geht sie ihr voraus, um durch ihre
dunklen Schatten das Erstrahlen einer zusammenklingenden Ordnung zu
verstärken, keine Antithesis ist sie in einer dialektischen Bewegung zur
Synthese, sie ist vielmehr das Prinzip, worauf die wirklichkeitschaffende
Apriorität, die allem dem Begriffe nach vorangeht, beruht. Der Tod als
apriorische Dissonanz für die Tragödie macht die Gestaltung möglich und
notwendig, in der der bejahte Widersinn seines gewöhnlichen Seins
entkleidet wird und als struktives Apriori sowohl Held wie Schicksal, sowohl
Charaktere wie Handlungen, sowohl seelische Stimmungen wie dekorative
Kontraste der Scene mit der gleichen Spannung durchdringt, einander
homogen und gleich wirklich macht. So entstehen die bildenden Künste aus
der Verlorenheit des Betrachters und mit ihm der Dinge in einem Raum, der
sie ihrem innersten Wesen fremd und darum feindlich, undurchsichtig und
im Tiefsten unklar umgibt, aus der Ratlosigkeit und Zerrissenheit dieses
Betrachters in einer Welt, in der jedes Ding dem andern völlig heterogen ist,
in der es nur praktisch-abstrakte, reflexive Ausgleiche zwischen dem
Wunsch nach Einheit und Ordnung und der Welt, mit der man sich ausein¬
ander zu setzen hat, zu geben scheint. Die begriffliche Apriorität der form-
schaffenden Dissonanz — im Gegensatz zum zeitlichen Vorangehen — ist hier
noch klarer: in dem realisierten Werk der Malerei, ja schon in dem sicherge¬
wordenen Wollen des Künstlers ist die Dissonanz als Widersinn aufgehoben
und ihre Bejahung, ihre Verwandlung zum notwendigen Träger des letzten
128
Philosophie der Kunst
Sinnes vollzogen; wenn man zu malen anfängt, so wollen sich die Dinge
bereits im Raume verlieren und finden in dem — für sie bereiteten und
bereiten — Raum ihre Heimat, und die Vielstoffigkeit der Dinge ist nur ein
Reicherwerden ihrer Einheit. Der Weltanschauungscharakter des »Stand¬
punkts« besteht eben darin, daß in ihm die Welt, in bezug auf den spezifi¬
schen Widersinn, der von der spezifischen Form des »Standpunkts« bejaht
wird, so betrachtet werden kann, als ob ihr Sinn nichts anderes als diese
Bejahung wäre, als ob auch die gewöhnliche Wirklichkeit auf diesen Sinn
intendieren würde und ihn nur nie vollendet erreichen könnte, als ob die
Form, die hier entsteht, nur die Entschleierung des Weltsinnes wäre.
Freilich handelt es sich auch hier um eine Fiktion, um eine Voraussetzung,
die an sich willkürlich und falsch ist, aus deren Anwendung aber etwas in
sich Richtiges und Vollendetes, wenn auch vom Wollen, das sich im Inhalt
der Fiktion ausspricht, total Verschiedenes entsteht. Es ist das produktiv
gewordene Mißverständnis: der Künstler, der von seinem »Standpunkt« aus
einen spezifischen Widersinn als offenbar gewordenen Träger des Weltsin-
nes betrachtet, mißversteht nicht nur den wahren Sinn der Wirklichkeit (ob
dieser als erreichbar oder unerreichbar gedacht ist, ist für diese Betrachtung
gleich), sondern entfernt sich noch stärker von ihm, indem er seine subjektiv¬
willkürliche Stellungnahme dazu, diese Hypostasierung seines Erlebnisses,
mit einem, der objektiven Gesamtwirklichkeit gegenüber ebenfalls willkür¬
lichen Gesichtspunkt, dem der Technik verknüpft. Seine Fiktion ist eine
doppelte: nicht nur diesem seinem subjektiven Erlebnissinn soll die Wirk¬
lichkeit zustreben, sondern Mittel und Wege der Offenbarung dieses Sinnes
sollen Mittel und Wege der Technik des Künstlers sein. Dadurch ist das
Mißverständnis unaufhebbar und — für das Gebilde, das hier entsteht —
konstitutiv geworden; dadurch aber hat — wieder in Bezug auf das zu schaf¬
fende Werk - die Subjektivität des Künstlers aufgehört bloß subjektiv, ein
Hindernis der Objektivierung zu sein: wenn einerseits das Erlebnis des
Schaffenden — die Umwandlung des Widersinnes in Dissonanz — zum Sinn
und Wesen der Welt, andererseits die Technik zum einzig möglichen
Vehikel ihrer Offenbarung hypostasiert wird und beide, als auf ein Ziel
intendierende Aprioritäten, zusammenfallen, kann aus dieser Einheit das
konstitutive Apriori einer neuen objektiven Welt entstehen. Diese Welt hat
mit der des gewöhnlichen Erlebnisses nur ihre unmittelbare Erlebbarkeit
gemein, und wenn sie als Abbildung oder Erfüllung oder Wesen dieser Welt
gefaßt wird, wird sie doppelt mißverstanden. Dieses doppelte Mißverständ¬
nis ist aber nur dann eine Trübung des »Wahren«, wenn das dadurch
Schöpferisches und receptives Verhalten 129
Entstandene nicht als Letztes betrachtet wird, wenn man darüber hinaus und
mit seiner Hilfe zu dem »Wesen« Vordringen will, wie man es dem einfachen
Mißverständnis der Erlebniswirklichkeit gegenüber notgedrungen tut. Ist
jedoch das Produkt dieser Mißverständnisse das Ziel, so ist ihre Einheit
etwas Notwendiges und als solches die tragende Gebietskategorie dieser
neuen Objektivität; und die neuen Mißverständnisse, die aus dem Erlebnis
des Produkts entstehen (über die an anderer Stelle zu sprechen sein wird),
sind etwas Vorgeschriebenes und den Normen dieses Gebiets Entsprechen¬
des.
Damit ist der phänomenologische Sinn der Vision des Künstlers bestimmbar
geworden: die Vision ist das unmittelbare Erlebnis dieser neuen - von der
doppelten Fiktion bestimmten - Welt als unantastbare Realität, als »wahre«
Wirklichkeit, als Entschleierung des verdeckten wirklichen Sinnes. Das
Weltbild also, das wir soeben mit Hilfe des Dissonanzbegriffes analytisch zu
zerlegen und zu begreifen suchten, entsteht in der Vision als etwas ganz
Ursprüngliches, das aber, obwohl es aus dem Innerlichsten des Künstlers
Entsprungenes ist, doch als aus ihm herausgetretene, von ihm selbständig
gewordene Realität über ihn gestellt ist. Der »Standpunkt« ist erst in der
Vision zur Weltanschauung geworden; denn in der Vision erblickt der
Künstler die Welt, die sich selbst innerlich angemessen ist, die sein Produkt
ist und doch erst durch seine technische Arbeit eigentlich wirklich werden
kann, die zugleich der tiefste Ausdruck seiner Subjektivität und etwas von
ihm völlig Unabhängiges ist. Das zusammenhaltende und organisierende
Prinzip dieser Welt ist ihr Erlebtsein in bezug auf die Bejahung des Wider¬
sinnes, ihr implicites Erfülltsein von den Ausdrucksformen und ihr naturge¬
mäßes Intendieren auf sie. Weil diese technischen Formen (nach unserei
Definition des Genies) Aprioritäten des Erlebnisses selbst waren, heben sie
dessen Unmittelbarkeit und Subjektivität nicht auf; weil sie jedoch ihrem
Wesen nach überpersönliche Ausdrucksformen sind, geben sie diesem
Gebilde den Charakter der Objektivität, und weil sie in dem Weltbild des
Künstlers auch als subjektive Vision implicite enthalten waren, bringt der
Prozeß der technischen Realisierung keine der Vision wesenfremden und
wirklich heterogenen Elemente: nicht eine transcendente Wirklichkeit soll
irgendwie erreicht, nicht ein unaufhebbarer Dualismus von Subjekt und
Objekt irgendwie überbrückt werden, es soll das in der Vision implicite
Enthaltene explicit werden, nur die latent vorhandenen Ausdrucksformen
auf die wirksame Oberfläche gebracht werden. Das wesentliche Kennzei¬
chen des Genies ist also nicht Wucht und Ursprünglichkeit der Vision, nicht
i3° Philosophie der Kunst
menschliche Größe oder besonders tiefe Einsicht in sie, sondern das Bündnis
solcher Eigenschaften der Vision mit den technischen Formen, das Erleben
in bezug auf Ausdrückbarkeit in einer bestimmten Form, die Verwandlung
der Weltanschauung des »Standpunkts« zur unmittelbar-subjektiven Welt¬
anschauung des Künstlers. Die Intensität also, die der Betrachter, von der
Intensität des Werks betroffen, dem Künstler als Subjekt des Erlebnisses
zuschreibt, kommt nicht diesem, sondern der in ihm vorhandenen Verbin¬
dung der beiden Formen zu.
Dieser Begriff der Vision bestimmt gleichzeitig den vom Naturalismus aus
vergebens gesuchten Begriff der Größe des Kunstwerks als konkreter Tota¬
lität alles Gestalteten: wenn die Dingbeziehungen konstitutiv geworden sind,
so ist ihre Totalität damit notwendig geworden; denn sie sind dann nicht
mehr Relationen, die ihnen wesensfremde Elemente verbinden und ihr System
[ist] keine Summe abstrakter Proportionalitäten, das beliebig relativiert
werden kann, sondern sie haben eine den verbundenen Dingen homogene
Einzigartigkeit und Notwendigkeit, und intendieren gleichartig und homo¬
gen mit den Dingen auf das Ziel dieser Gestaltung, auf den bejahten Wider¬
sinn hin, und entsteigen ebenfalls homogen mit den Dingen aus der sie alle
zur Einheit zusammenfassenden Vision. Diese Einheit des Ausgangspunktes
und des Zieles bestimmt die Größe des Werks: die Größe ist der apriorische
Rahmen, innerhalb dessen sich alles abspielt, und weil sich in ihm alles der
utopischen Vollendung zudrängt, so muß er selbst von derselben Notwen¬
digkeit getragen sein wie das, was er umfaßt. Wenn auf der Bühne des Werks
jeder Spieler sowohl den andern Spielern wie dem von ihnen geleisteten
Spiel mit apriorischer Notwendigkeit angepaßt ist, so folgt aus der Vollend-
barkeit dieser prästabilierten Harmonie, daß auch die Bühne Spielern und
Spielen geradeso angepaßt sein muß. Das Raumproblem der Malerei als
Dissonanzproblem der transcendentalen Form bedeutet nichts anderes: die
»Größe« des Raumes zu finden, die die apriorische Heimat aller darge¬
stellten Dinge ist. Die Vision des Malers hat nur dann die zum Werk
führende, zusammensehende Einheit, wenn sie Raum und Dinge derart
einander angemessen erlebt hat, daß es nicht unterscheidbar ist, ob der
Raum nur dazu da ist, um die Dinge zu ihrer eigentlichen Wesenheit zu
verhelfen, oder ob das System von Dingen und Dingbeziehungen nur als
Unterbau zu seiner Krönung von dem einzigartigen, durch dieses System
geschaffenen Raum dienen soll. Die Gesinnung der Vision des Genies ist die
Gesinnung, die Novalis vom Philosophen fordert: der Trieb zur Heimat;
und das Heimweh, von dem die Dinge in seiner Vision ergriffen zu sein
Schöpferisches und receptives Verhalten 131
scheinen, kann nur dann gestillt werden, wenn die ihnen prästabiliert zuge¬
teilte Heimat, die Heimat, die zu ihrer Erlösung bestimmt ist, die mit ihnen
simultan und auf ihre Erlösung hin geschaffene Größe des Werks ist. So ist
in der Vision die Größe des Werks als konkreter Inbegriff seiner konstitu¬
tiven Beziehungen gesetzt, und damit ist der Weg von der Vision zum Werk,
die Stilisierung, die von hier aus vollzogen wird, keine Abstraktion mehr. Sie
verändert ja nichts mehr an den Dingen, will sie keineswegs vergewaltigen,
sie zieht bloß ihre, von den vorausgesetzten Fiktionen aus sichtbar und sinn¬
voll gemachten, aber in der gegebenen Wirklichkeit nur leise angedeuteten,
von Heterogeneitäten gekreuzten Linien weiter, bis zu ihrem immanenten
utopischen Ziel. Sie hebt die Wirklichkeit nicht auf, sie macht sie vielmehr
»wirklicher« als sie aus eigener Kraft werden konnte. Aus der Gegenwart,
dem bloßen Kreuzungspunkt des Ungewordenen und des Verwesenden,
wird hier die Stunde des Erwachens, die große Stunde, wo alle Dinge sich
selbst erreicht haben und nicht mehr weiter wollen, weil es für sie kein
Weiter geben kann: weil sie am Ziel sind. Und darum kann hier die
Verschiedenheit der Dinge ohne Abstraktion und ohne Gleichmacherei auf¬
hören: ihre Verbrüderung, ihr Bündnis für das eine und dasselbe Ziel: die
Realisation des letzten Sinnes, das Prinzip ihrer transcendenten Einheit in
der Theodicee ist hier zum Apriori ihrer einfachen, immanenten Existenz
geworden; ihr Zusammenhang ist ihr Sein, und dieses Sein ist unmittelbar
der Sinn ihrer Beziehungen. Aus dieser Apriorität des »Standpunkts« ist die
konkrete Einheit des Stoffes in jeder Kunst begreiflich, der »Allteig«, wie sie
Leo Popper bezeichnet und für die Malerei (in seinem Breughel-Essay) so
beschrieben hat: »Die Blume hatte etwas vom Wasser, das Wasser von der
Straße, das Erz vom Himmel, und nichts war, das nicht wie von allem
gewesen wäre. So entstand der Urstoff dieser Malerei . . . dem unfreiwillig
die mystische Rolle zufiel, zu einen, was Gott getrennt hatte, der aber ... in
tiefstem Ernst dieser Aufgabe gerecht werden und als ein >Allteig< alle Stoffe
ausdrücken durfte1.« Als Prinzip der Gestaltung der einzelnen Dinge
bedeutet dies die gemeinsame Schwere der Dinge, die Schwere des Werks,
des Materials der Form, das simultan zum Ausdruck der Verschiedenheit wie
der Einheit der Dinge wird.
Hier tritt die Beziehung der jetzt errungenen transcendentalen Form zu der
»reinen« Form klar zu Tage und mit ihr die Notwendigkeit des Natu-
[ i Peter Brueghel der Ältere. »Kunst und Künstler.« Jahrgang V111./1910, S. 600.]
132 Philosophie der Kunst
ihnen emporgestiegen, als die letzte Vollendung ihres Seins erscheinen muß.
Für den Künstler aber ist diese Vereinigung höchstens ein Ideal: in der höch¬
sten Form, die sich in seinem phänomenologischen Subjekt vorlindet, in der
transcendentalen Form, ist diese Einheit der beiden Formen nur der Möglich¬
keit nach gegeben, und diese Möglichkeit kann nur im erreichten Werk
wirklich werden — und zwischen Schöpfer und Werk liegt der Sprung.
Daß gerade hier, bei dem Übergang von transcendentaler Schöpfungsform
zum Werk und bei der Vereinigung der transcendentalen Form mit der
wiedergekehrten »reinen« Form die methodischen Stellen für die zwei Arten
des Sprunges sind, erklärt sich aus mancherlei Gründen. Vor allem ist das
Postulat des Unbeabsichtigtseins dem Werk gegenüber da; dieses muß sich
natürlich auf das ganze Werk als unauflösliche Einheit seiner sämtlichen,
nur begrifflich scheidbaren Schichten beziehen, aber das Wollen der trans¬
cendentalen Gestaltung ist - in seiner phänomenologischen Erscheinung -
ein Wollen zur Erlösung der Dinge, ihres Erweckens zur wahren Wirklich¬
keit, während es sich bei dem Wollen dieser »reinen« Form um das Wollen
einer Wirkungsqualität der erlösten Dinge handeln würde, um eine Probe
ihres Ganz-zur-Form-geworden-seins, um eine Eigenschaft des vollendeten
Werks also, in dem sein Schöpfer als Wollender und auf das Werk Hinstre¬
bender schon erloschen sein muß. Freilich darf die erreichte Wirklichkeitsge-
staltung, das Resultat der transcendentalen Form auch nicht als Gewolltes
im Werk selbst erscheinen, so daß auch hier ein Sprung da ist, eine Hetero¬
genie des erreichten Zieles vom Weg, der dazu führt, und von dem, der ihn
ging — ein Ober-sich-schaffen. Diese beiden Arten des Sprungs sind aber
völlig voneinander verschieden: es ist der Unterschied von Schicksal und
Gnade. Jede Schicksalsbeziehung geht über die Persönlichkeit des sie erle¬
benden und hervorrufenden Subjekts hinaus, das erfüllte Schicksal ist immer
ein Sprung, immer etwas von der bloßen Persönlichkeit aus Unerreichbares,
der Möglichkeit nach ist es aber vollkommen in ihr enthalten, nur der
gnadenvolle Funke fehlt, der die ruhende und verschlossene Möglichkeit
durch die Explosion des Sprunges wirklich werden läßt; d. h. der Sprung ist
hier zwischen der klaren und deutlich bestimmten Möglichkeit und ihrer
Realisation, zwischen Intention und Erfüllung. Daß hier überhaupt ein
Sprung nötig ist, da er inhaltlich fast nur soviel Neues bringt, womit jede
Realisation ihre Möglichkeit einfach durch das Faktum des Realisierens
bereichert, folgt aus dem allgemeinen Verhältnis von Intention und Erfül¬
lung, wenn keine von beiden die Tendenz zum Ubergleiten in die andere
hat. Das Prinzip der dynamischen Homogeneität des Werks ist nun nicht
'34 Philosophie der Kunst
bloß eine Verwandlung zum Schicksal der Beziehungen, die die Elemente
des Werks miteinander verbinden, sondern das Wollen dieser Homogeneität
ist auch die Schicksalsbeziehung des Schöpfers zum Werk: das Problem
seiner Distanz zum Werk. Die dynamische Homogeneität bedeutet, daß
alles Äußere allem Inneren absolut angemessen ist, daß die Umgebung nur
deshalb mit dem Ding in Beziehung kommt, damit sein eigenstes, innerstes
Wesen sich erfülle, daß alle Elemente wechselseitig so zueinander stehen und
hierdurch, gerade weil sie sich und nur sich ganz erreichen, etwas weit über
sie Hinausgehendes zum Dasein erwecken; die von Anfang an geforderte
prästabilierte Harmonie zwischen Materie und Form ist erfüllt. Die Welt,
die so entsteht, ist ihrer Möglichkeit nach dem Wollen des Schaffenden
eingeboren, wenn er Genie ist, wenn seine Erlebnisformen in das unzer¬
trennliche Bündnis mit den technischen Formen der spezifischen Kunstart
des Werks getreten sind. Dann ist das Allerpersönlichste seines Subjekts, das
qualitative Schema seiner Erlebnisse, zum Träger dieser höchsten und einzig
lebenspendenden Objektivität des Werks geworden: die Atmosphäre, die
hier entsteht, der »Allteig«, aus dem alle Dinge zur miteinander verbün¬
deten Spezifikation herausgetreten und durch den sie zur füllegebenden
Einheit verbunden sind, ist nichts anderes als die objektive Wirklichkeit, die
diesem Schema der Erlebnisqualitäten entspricht. Aber gerade weil dieses
letzte Prinzip der Objektivität in der allersubjektivesten Beschaffenheit des
auf das Werk intendierenden Subjekts beruht, kann es in dem Subjekt selbst
nicht bewußt und also nicht Gegenstand seines Kunstwollens sein, sondern
tritt erst im Werk zu Tage, als ungewollte Vollendung des begnadet Gewoll¬
ten, als Resultat des Sprungs. Wenn etwa Shakespeare die stolze und starke,
aber darum nichts durchschauende und allem ausgelieferte Vornehmheit
Othellos gestalten will (das Wollen ist auch hier phänomenologisch und
nicht psychologisch gemeint), so geht sein Wollen darauf aus, ihm solche
Partner zu geben und die in eine solche Handlung einzufügen, die gerade
dies am leuchtendsten auszustrahlen verhelfen können. Darum wird er ihm,
dem Vornehm-Blinden, einen niedrig-klugen Intriganten, den Jago als Kon¬
trastgestalt und Henkersknecht des Schicksals gegenüberstellen, darum wird
er Jagos raffinierte Listen ersinnen, denen Othello wehrlos zum Opfer fallen
muß. All dies, mit der vehement emporsteigenden Entwicklung und Vertie¬
fung Othellos, mit der hauchartigen und doch so herb stolzen Vornehmheit
Desdemonas, mit allen prunkenden Worten der dramatischen Pathetik und
dem leuchtenden Vorwärtsstürmen der Scenen', liegt im Wollen des Künst¬
lers mit einbegriffen. Jago ist aber nur ein Vehikel: es ist notwendig, daß
Schöpferisches und receptives Verhalten 13 5
Othello ihm erliegt, es ist aber zufällig, daß sie Zusammenkommen; nicht an
die empirische Zufälligkeit ihres Zusammentreffens in der Welt dieses
Dramas denke ich hier — um die bekümmerte sich Shakespeare mit Recht
sehr wenig -, sondern an die Möglichkeit ihres Zusammentreffens über¬
haupt, an die Möglichkeit, daß sie beide dieselbe Luft, die Atmosphäre des
Werks, einer utopischen Wirklichkeit, atmen. Für das Wollen Shakespeares
ist das Zusammentreffen von Othello und Jago nur ein »Faktum«, etwas mit
der gewöhnlichen Wirklichkeit Wesensgemeines: es gibt eben solche Men¬
schen wie Othello und solche wie Jago, und wenn sie sich begegnen, so folgen
aus dieser Tatsache notwendig alle Geschehnisse der Tragödie. Dadurch ist
aber nur ein Intrigenstück mit tragischem Ausgang und mit allen dramati¬
schen und lyrischen Schönheiten der Tragödie, nicht aber die Tragödie
selbst, die Welt der absoluten, immanenten, überempirischen Notwendigkeit
zu leisten; Shakespeares Wollen ist also hier gescheitert: der listenreiche,
kluge Jago und der dieser Welt fremde Othello begegnen sich bloß zufällig
(tatsachenartig), ihre Begegnung und der Gegensatz ihrer Charaktere ist für
das zum Wollen gewordene Erlebnis des Dichters eine letzte Tatsache; und
damit hätte Othellos Tragödie ihre wirkliche, konstitutive Notwendigkeit
eingebüßt. Aber Shakespeares Wollen ist nicht nur hier, im Technisch-
Formellen gescheitert, sondern auch in der Objektivierung seines Erlebnis¬
ses. Der kalte, klare und kluge Jago - ist er wirklich solcher Mensch gewor¬
den? Und seine raffiniert angelegte Intrige - ist sie wirklich so geschickt und
berechnet? Jedoch eben dieser von vielen bemerkte Widerspruch zwischen
dem Wollen des Künstlers und dem Werk stellt die vermißte Notwendigkeit
der Tragödie her: Othellos Vornehmheit, das blinde und wilde Drauflos¬
stürmen seines Wesens ist nicht etwas von Shakespeare mit berechnender
Artistik in das Zentrum eines Dramas Gestelltes: es ist die Projektion seines
intensivsten Erlebnisses; sein Schema des Erlebnisses kann nur diese toll¬
kühne und unbedachte Vehemenz wirklich in sich aufnehmen, darum erhält
alles intensiv Gesehene und Gestaltete von ihm diese qualitative Note: Jago
ist ein Bruder Othellos, ein niedriger, gemeiner, verkommener Bruder, ein
Bastard seiner Ahnen vielleicht, aber er ist aus demselben Blute. Und die
Intrige, die er ersinnt, ist von derselben Primitivität und reinen Durchsich¬
tigkeit, wie ein Plan wäre, den Othello entworfen hätte. Und sie reicht doch
aus: Othello kann auch diese List nicht durchschauen und muß auch dieser
einfachen und kurzsichtigen Intrige zum Opfer fallen. Damit ist aber die
Welt des Dramas erst geschlossen und notwendig geworden: weil dann die
Intrige eben der Anschlag überhaupt ist, an dem der nicht für diese Welt
136 Philosophie der Kunst
mußte - in bezug auf das Werk, nicht auf die Erweiterung des phänomenolo¬
gischen Subjekts und seiner Formen — ein definitives Scheitern sein: wollte
ja der Naturalismus in seinem Prozesse der Annäherung eine transcendente,
»wahre« Wirklichkeit erreichen, wo ihm sowohl die Begrenzung der Persön¬
lichkeit, wie die Grenzen der Technik Hindernisse waren, die keine gnaden¬
volle Hilfe leisten konnten. Hier handelt es sich um die Realisation
der Vision des Künstlers, die aus der Vereinigung von technischen und
erlebnisbestimmenden Formen entstanden ist, aus dem Erleben in Bezug
auf die Ausdrucksformen, aus dem Erfülltwerden der technischen Formen
von dem Qualitätsreichtum der unmittelbaren Erlebnisse: der Schaffende
will hier also eine Welt realisieren, deren Aufbau auf den objektivierten
Formen seiner eigenen Innerlichkeit beruht, deren erreichte Existenz des¬
halb nur in der Tatsache des objektiven Fiirsichseins, in dem Abgetrenntsein
vom Subjekt des Schaffenden über die Vision hinauszugehen scheint. Aller¬
dings ist dieses Hinausgehen der Erfüllung über die Intention bedeutsamer,
als es in dieser abstrakten Formulierung zu sein scheint, und hat für die
phänomenologische Bestimmung des Genies wichtige Consequenzen. Es
zeigt sich nämlich, daß die prästabilierte Harmonie von technischer Form
und Erlebnisform in dem Subjekt des Schaffenden nur als treibende und
richtunggebende Kraft, nur als die Möglichkeiten des Schaffens bestim¬
mende Tendenz, nicht aber als ein Sem irgendwelcher Art vorhanden ist;
daß ihre Einheit nur im realisierten Werk wirklich da ist, während im
phänomenologischen Prozeß des Schaffens sich immer eine Bifurkation des
Subjekts zeigt, ein Uberw'iegen des einen oder des anderen Prinzips, oder
pünktlicher: in der Vision die Herrschaft der Erlebnisform, im Prozeß der
Annäherung an die Vision die der Technik; und ihre prästabilierte
Harmonie offenbart sich nur darin, daß das andere Prinzip latent immer
vorhanden ist und das herrschende auf ihre Einheit hin corrigiert und auf sie
zulenkt. Wegen dieser - relativen - Fremdheit des Schaffensprozesses von
der Vision, von der er ausgeht und auf die er hinstrebt, folgt, daß m
diesem Prozeß selbst kein bestimmendes Prinzip für sein Ende, kein Zeichen
für die Vollendung der Annäherung auffindbar sein kann; ja daß dieser
Prozeß seinem innersten Wesen nach ein unendlicher und unvollendbaier
sein muß: die Vision ist technisch nie zu erreichen, ist mit Technik me restlos
auszudrücken - das Beschließen der Arbeit, ihr Ende ist für den Künstler
immer eine Resignation. Aber gerade weil diese Fremdheit eine relative ist,
weil sie nur in der Bewußtheit des phänomenologischen Subjekts besteht,
nur in der Unmöglichkeit für das Subjekt beide Prinzipien der Gestaltung
i38 Philosophie der Kunst
simultan, mit der gleichen Intensität und als ihrem Wesen nach identisch
festzuhalten, weil das jeweilig in den Hintergrund gedrängte Prinzip latent
doch vorhanden ist und das Wollen unbewußt corrigiert und leitet, ist diese
Resignation nur für den Künstler, der seine Vision verwirklichen will, -ein
Verzicht: er muß auf die erweckte Vision verzichten — und realisiert dabei
das Werk.
Damit ist der »Ort« und die Art des Sprunges, der die transcendentale
Schöpfungsform mit dem geformten Werk verbindet, phänomenologisch
bestimmt: es ist erkannt worden, inwiefern und warum das Werk über alles,
was sein Schöpfer gewollt hat oder wollen konnte, weit hinausgeht, wie es
sich gerade dort gnadenvoll vollendet und zu ungeahnter Fülle rundet, wo
der Künstler zu resignieren gezwungen ist; es hat sich aber zugleich gezeigt,
daß damit nichts qualitativ Neues hinzugekommen ist, nur das Mögliche ist
wirklich, das implicit und latent Enthaltene explicit und offenbar geworden,
das Unbewußte ist ins helle Licht der Bewußtheit getreten, und das Bewußt¬
gewollte hat eine Correctur und Krönung durch die unbewußte Unterströ¬
mung und Begleitung des Willens erfahren. Im Schaffenden weist sich also
eine planvolle und zielstrebige Vereinigung des Bewußten und des Unbe¬
wußten auf: die Formung der Wirklichkeit durch die Erlebnisform hat eine
Tendenz zum Unbewußten, zum passiv scheinenden Hinnehmen einer
Gegebenheit, und ihre Gestaltung durch die Technik die Tendenz zur
Bewußtheit, zur klaren Arbeit für ein sicher erkanntes Ziel. Die Vision ist
also Produkt der Herrschaft des Unbewußten, und es liegt auch eine Art von
Sprung, ein Sich-Begeben des Schöpfers auf ein heterogen scheinendes
Gebiet, wenn er sie durch die bewußte Leistung der Technik zum objektiven
Dasein erwecken will, während die technische Arbeit am zu schaffenden
Werk in die Sphäre der Bewußtheit gehört. Die beiden Typen der Carricatur
des Schöpfers, der Dilettant und der Virtuose, scheinen damit wiederzu¬
kehren und sich in diesem Schöpfer zu vereinigen. In Wahrheit ist aber ihr
Scheitern nicht bloß die Folge ihrer Einseitigkeit, die durch eine Synthese
gehoben werden könnte, etwa durch Entwicklung der Technik bei dem
Dilettanten, sondern folgt daraus, daß die unbewußte Erlebnishaftigkeit des
Dilettanten eben nur reines Erlebnis ist (das Erlebnis an und für sich kann
mächtig, tief und reich sein) und keine eingeborene Beziehung auf die Werk¬
form und hiermit zu der technischen Form besitzt, und daß die Geschicklich¬
keit des Virtuosen (die eventuell auch außergewöhnlich sein kann) eine bloß
formale ist und nicht von einem Weltbild der transcendental-subjektiven
Vision ausgeht, um sie im objektiven Werk zu verwirklichen und so eine
Schöpferisches und receptives Verhalten i39
üerten Harmonie war, die — wegen der notwendigen Einseitigkeit jedes auf
ein Ziel gerichteten Subjekts — immer in einen Zustand der Uber- und
Unterordnung gekommen sind, welche Zustände nur als Momente des
Weges zum Werk gerechtfertigt waren und im Werk, durch den Sprung,
aufgehoben werden mußten. Hier dagegen ist von der metasubjektiven
Wirksamkeit der harmonia praestabilita die Rede, von dem tatsächlich und
nicht im Bewußtsein des Subjekts zu dem Werk führenden Weg, von der
wahrhaften Einheit der beiden Prinzipien der Gestaltung, die aus eigener
Kraft über das Subjekt hinweg und es nur als inadäquates Vehikel benut¬
zend, dem Werk zustreben. Das Werk ist seinem Begriffe nach eine vollkom¬
mene Einheit des Subjektiven und des Objektiven, besser gesagt: die Aufhe¬
bung dieses Gegensatzes. Im Subjekt des Schaffenden kann sich diese Einheit
aber nur als Relativierung der Gegensätzlichkeit der Elemente spiegeln,
indem einerseits die Vision als das tiefst Persönliche des Schöpfers erscheint,
an deren Realisierung er mit den objektivierenden Mitteln der Technik
herantritt, andererseits aber diese selbe Vision als etwas von ihm Losgelöstes,
schlechthin Hinzunehmendes» als ein mit eigenen Gesetzlichkeiten behafte¬
tes, objektives Gebilde vor ihm steht, dem er auf seinen subjektiven-persön-
lichen (technischen) Wegen nahe zu kommen bestrebt ist. Letzten Endes
kommt es dennoch auf die Überwindung der Subjektivität an: das in der
transcendentalen Form wirksame Kunstwollen geht auf die Objektivität des
Werks aus; es soll eine objektive, auf sich beruhende,-utopische Wirklichkeit
geschaffen werden, was phänomenologisch soviel bedeutet, daß sowohl
Vision wie Technik ihren subjektiven Charakter verlieren sollen. Die
Technik soll ganz unsichtbar werden, sich ganz in dem - wie von selbst
entstandenen — Werk verlieren und die Vision, als mit dem vollendeten
Werk identische, mit dem Werk und in ihm alle Bedeutung verlieren, sie soll
für den Schaffenden nur ein Wegweiser zur Objektivität in der notwendig
subjektiven technischen Arbeit sein, die Garantie, daß die Technik im
erreichten Werk als Technik verschwinden wird. Mit alledem ist aber die
letzte, paradoxe Vollendung des Werks nicht zu leisten: wohl entsteht aus
diesem Wollen und durch den es beendenden Sprung die utopische Wirklich¬
keit des Werks, wenn aber nur das entstehen würde, was in diesem Wollen
enthalten ist, so wäre es von der letzten Vollendung des Utopischen doch
sehr entfernt: es wäre zu sehr »Wirklichkeit«; wegen der verschwundenen
Technik wäre es ganz schöpferlos geworden, ein eigenartiges Gewächs ohne
Urheber, das aber —gerade wegen dieser Überspannung des objektiven Prin¬
zips — wieder allzusehr seinen subjektiven Charakter verraten würde; sein
Schöpferisches und receptives Verhalten 141
doch zum Spiel, der am tiefsten trostlose Roman zum Märchen und der
wildeste Aufschrei des Dichters zum Lied, zur Musik; so wird das wirklich
vollendete Bild, so sehr es Natur und Wirklichkeit ist, wieder zum Teppich
und die körperhafteste Statue hat nur — nach Winckelmanns Worten — ein
quasi Corpus und ihre Masse ist zugleich der schwer und edel gewordene
Körper, wie das leicht und edel, als reine Oberfläche, erglänzende Material.
Die Beziehung der abstrakten, aus dem Geiste der Technik entstandenen
Relationen zu ihrer Totalität, dem Format des Werks, das in der bloßen »rei¬
nen« Form nur mit dem Schein der Apriorität umgeben und seines Gegeben¬
heitscharakters in Wahrheit nicht völlig entkleidet werden konnte, wird hier
notwendig: das Format ist mit der — von der transcendentalen Form aus
geschaffenen — Größe identisch. Während es sich aber dort um den realen
Inbegriff der Dingbeziehungen gehandelt hat, um den den Geschehnissen
innerlich angemessenen Schauplatz, verwandelt sich dieser, wieder ohne
etwas von seiner Realität einzubüßen, in die dem Spiele angemessene
Bühne: das Technische an dieser Angemessenheit wird sichtbar und orna¬
mental; aus der unbewußten Weisheit des erlebten Schicksals, der Ffeimkehr
aller Dinge zu dem Ort, dem sie prästabiliert angehören, wird die bewußt
waltende Gnade eines sicheren, innerlich nunmehr ungefährdeten und jede
Gefahr vergessenden Tanzes.
Die Romantiker, vor allem Novalis und Friedrich Schlegel, waren die ersten,
die dieses Janusantlitz des Kunstwerks erblickt und erkannt haben, nur
wollten sie diese Einheit des Werks in die Seele des Künstlers selbst hinein¬
tragen, verwandelten diese Erfüllung, die der Künstler nicht wollen kann,
noch wollen darf, die als Gnade, als Consequenz seiner begnadeten Natur
sich auf ihn herabsenkt, in eine treibende Kraft des Schaffensprozesses. So
entstand der verwirrende Begriff der romantischen Ironie und — fast als
Belege für diese tiefgehende Verwechslung der Gebiete — die romantischen
Kunstwerke, in denen die bewußt gewollte »reine« Form die Wirklichkeit
der gestalteten Welt nicht verklärend vollendet, sondern zur krausen und
wirren Substanzlosigkeit herabgedrückt hat. Denn in dem Subjekt läßt sich
dieses Gleichgewicht nie verwirklichen: das Genie, der normative Künstler,
geht den vorgeschriebenen Weg der Schwankungen im Gleichgewicht und
ermöglicht dadurch das Herabsinken der gnadenvollen Vollendung, der
offenbar gewordenen harmonia praestabihta. Der romantische Künstler, der
dieses letzte Ziel als phänomenologisches Subjekt in sich realisieren wollte,
konnte auch nur dem einen Prinzip das Übergewicht geben, aber einem, das
nicht die Möglichkeit zu dieser Gnade in sich barg. Was phänomenologisch
Schöpferisches und receptives Verhalten M3
der romantischen Ironie entspricht, ist die subjektive Betonung der techni¬
schen Arbeit am Werk, wovon früher die Rede war, das Objektiv- und
Fremdgewordensein der Vision, der der Künstler mit einem freien Überblick
und Darüberstehen entgegentritt. Das ist aber nur der eine Aspekt der
Technik und der Vision und der andere bedeutet für den Künstler die Treue
gegen Motiv und Material, gegen die ganze, ihm in der Vision gegebene und
von ihm hmgenommene Welt. So entsteht für das Subjekt ein Schweben
zwischen den beiden — gleich normativen und gleich notwendigen — Verhal¬
tungsarten, zwischen Beherrschen der Arbeit und Beherrschtsein von ihr,
nicht aber die Werksynthese, die die Romantiker gefordert haben. Der
Sprung also, der die transcendentale Form mit der wiedergekehrten »rei¬
nen« Form verbindet, kommt in der Phänomenologie des Schaffenden,
sofern sie diesen als Subjekt, wenn auch nicht mit der psychologischen
Persönlichkeit des Künstlers identisches, faßt, überhaupt nicht vor; dieser
Sprung liegt jenseits des Weges, den der Schaffende von der Vision bis zum
Beenden der Arbeit zurücklegt, auch jenseits des Sprungs, der dieses
Beenden mit der erreichten transcendentalen Form verbindet. Dieser Begriff
macht aber den Sprung für das phänomenologische Subjekt doch nicht völlig
transcendent: die vollkommene harmonia praestabilita vermag das Subjekt
nur als Subjekt nicht in sich und im vollendeten Gleichgewicht zu halten,
doch jedes Moment, jede Schwankung und Wendung zum Gegenteil wird
durch sie zum normativen Ziel geleitet, durch sie wird die Vision uner¬
schöpflich und doch realisierbar, durch sie verliert sich die technische Arbeit
nicht zwischen Uberbewußtheit und Planlosigkeit. Ja hier ist der einzige
Punkt, wo die Ursache dieses Sprunges in die Phänomenologie selbst hinein¬
spielt und auf den Punkt in ihr ein erklärendes Licht wirft, den wir bis jetzt
als ungelöste Tatsache nur feststellen konnten, dessen Sinn [wir aber] auf
sich beruhen lassen mußten. Wir haben früher festgestellt, daß die Vision für
die Technik nie erreichbar sein kann, daß also das Abschließen der Arbeit
des Künstlers immer eine Resignation sein muß, und wenn wir auch hinzufü¬
gen konnten, daß gerade durch diesen Verzicht auf die Vision das Werk er¬
reicht wird, daß hier der »Ort« des früher behandelten Sprunges ist, so war
es uns dort noch unmöglich, diesen »Ort«, den Moment des Verzichtens, der
diese begnadete Macht hat, in seiner phänomenologischen Notwendigkeit zu
erkennen und zu bestimmen. Dazu bietet uns erst die metasubjektive Wirk¬
samkeit der vollendeten harmonia praestabilita, der Grund dieses zweiten
Sprunges, die Handhabe: die Annäherung an das Werk, beziehungsweise an
die Vision als Wirklichkeit durch die Leistung der Technik kann nie etwas
144 Philosophie der Kunst
anderes als ein unendlicher Prozeß und das von ihm Erreichte nie anders als
ein Grenzwert sein; anders gesagt: da die Wirklichkeit des Werks für das
Subjekt des Schöpfers durch den Wirklichkeitscharakter der Vision garan¬
tiert und kontrolliert wird und die Technik zwar ein notwendiges, aber
relativ heterogenes Mittel zu diesem Ziel zu sein scheint, ist auf diesem
Wege die Vision nie zu erreichen und die im Werk zu erreichende und
erreichbare Wirklichkeit kann immer als größer gedacht werden als die
tatsächlich erreichte. Wenn aber die letzte Vollendung des Werks nicht in
seiner Wirklichkeit allein besteht, sondern in dem Zum-Ornament-werden
der Wirklichkeit, so kann es nur einen Punkt geben, wo dieses Zusammen¬
treffen möglich ist, und die Resignation des Künstlers ist dann begnadet,
wenn sie gerade auf diesen Punkt trifft. Durch die Bestimmung dieses
Punktes zeigt sich der zweite Sprung als wirksames Element der Phänome¬
nologie des Schaffenden; es zeigt sich aber zugleich der metasubjektive
Charakter dieses Prinzips: der subjektive Ausdruck für dieses Ankommen
am höchsten Ziele ist der Verzicht des Subjekts auf sein — niedrigeres — Ziel.
Die phänomenologische Notwendigkeit dieser Spiegelung im Subjekt liegt
darin, daß das alles krönende Ornament nur ein Zum-Ornament-werden
dei Wirklichkeit sein kann und schon die Wirklichkeit kann vom phänome¬
nologischen Subjekt prinzipiell nicht erreicht werden. Daß aber das Orna¬
ment gewollt und erreicht wäre und sich dann mit Wirklichkeit erfüllen
würde, ist aus dem Wesen der Kunst heraus undenkbar: nach dem Ornament
gibt es keinen weiteren Weg, keinen Weg zu irgendeiner Wirklichkeit; selbst
der Naturalismus konnte nur als Kündigung und Aufstand gegen die »reine«
Form begriffen werden. Denn das Ornament steht »nach« der Wirklichkeit
nicht in dem zeitlichen Ablauf des psychologischen Schaffensprozesses, son¬
dern infolge seines Begriffes: es ist nur ein Ornament ohne Wirklichkeit
oder eines als Krönung einer Wirklichkeit denkbar. Eine Wirklichkeit kann
aber nur die transcendentale und nie die »reine« Form aus sich entlassen.
Damit sehen wir beide Arten des Sprunges als gleich notwendig für das wirk¬
lich vollendete Werk und wir können in ihnen die am Anfang der Phänome¬
nologie bestimmten zwei Arten des Sprunges, deren Wesen damals freilich
noch unbestimmt war, wiedererkennen: den Sprung von Technik auf
Erlebnis (von transcendentaler Schöpfungsform zum Werk als Wirklichkeit)
und den Sprung von Erlebnis auf Technik (von transcendentaler Werkform
zur wiedergekehrten »reinen« Form). Diese unbewußt-corrigierende Rolle,
diesen negativen Eingriff in den phänomenologischen Schöpfungsprozeß
verdankt das Prinzip der »reinen« Form dem Wesen des Werks, das dem
Schöpferisches und receptives Verhalten ‘45
Genie eingeboren ist, wenn sein Sub|ekt es auch nicht bewußt halten kann
— der vollendeten Coincidenz von Technik und Wirklichkeit. Und was vom
Subjekt aus gesehen eine Gnade war, erscheint vom Werk aus eine Notwen¬
digkeit.
Das Problem des Sprunges ist das Problem der Distanz zwischen Schöpfer
und Werk. Damit können wir, nachdem alle phänomenologischen Stufen des
Schaffens durchlaufen sind und die künstlerische Tat in ihrer Totalität
begriffen ist, zu der Frage zurückkehren, durch die wir gedrängt waren,
diese Beziehungen zu analysieren: auf die Frage, wie der Schaffende die für
ihn gegebenen Arten des Abstandes in normative Distanzen zu verwandeln
vermag. Wir konnten schon früher feststellen, daß der Schaffende zwei
Begriffe des Abstands kennt, den Abstand des erlebenden Subjekts von der
gegebenen Wirklichkeit und den Abstand des schöpferisch-produktiven Sub¬
jekts vom Werk. Die zweite Frage, die der Verwandlung des Abstands des
Subjekts vom Werk in eine normative Distanz, die wegen ihres normativen
Charakters von der Möglichkeit zum Hervorbringen des Werks erfüllt ist,
haben wir oben in einem anderen Zusammenhang so ausführlich behandelt,
daß wir uns hier damit begnügen können, die Resultate unserer Analyse
kurz zusammenzufassen und sie mit dem ersten Abstandsproblem in Bezie¬
hung zu bringen. Das für diese Betrachtung entscheidende Moment ist das
Verhältnis der Vision zum Werk, beziehungsweise zur gegebenen Erlebnis¬
wirklichkeit, zugleich und in starker Beziehung mit beiden Fragen das
Verhältnis des Schaffenden zu seiner Vision. Im Gegensatz zur reingewor¬
denen passiven Bereitschaft des Genießenden mußte das Wesentliche am
phänomenologischen Verhalten des Schaffenden als reine Aktivität definiert
werden, womit seine Stellung zur eigenen Vision, die auch eine Art von
passivem Hinnehmen ist, in Widerspruch zu stehen scheint. Dieser Wider¬
spruch löst sich aber sogleich, wenn wir bedenken, daß die passive Rolle des
Schaffenden der ihm aufleuchtenden Vision gegenüber und die bewußt¬
aktive Arbeit an ihrer Verwirklichung weder im Ablauf noch dem Begriffe
nach so schroff voneinander geschieden sind, wie es im ersten Augenblick
scheint und wie es, im Interesse der Klarheit der Analyse, bisher stellenweise
pointiert wurde. Die Passivität des Schöpfers in der Hinnahme der ihm
gnadenvoll geschenkten Vision ist gewissermaßen nur ein Grenzwert seiner
Aktivität, nur ein am schärfsten in diese Richtung zugespitzter Zustand, der
sich aber während der ganzen, wesentlich aktiven, technischen Arbeit der
Verwirklichung ständig wiederholt, der ein entscheidendes Merkmal des
aktiven Schaffensprozesses ist. Es ist nämlich ein Vorurteil jeder Ästhetik,
146 Philosophie der Kunst
die sich auf das Erlebnis allein aufbaut, daß sie die Bedeutung der ursprüng¬
lichen Vision nicht nur überschätzt, sondern diese absondert und in dem
Zustand der ersten Intuition erstarren läßt. Dann wären freilich Vision und
Arbeit, Passivität und Aktivität des Künstlers streng und für ewig vonein¬
ander geschieden — und letzten Endes wäre der technische Prozeß des Schaf¬
fens fast eine Entwürdigung der Reinheit der Vision und das realisierte Werk
weniger als das, was im Rausch der Offenbarung dem Künstler vorgeschwebt
hat. Die Vision ist aber eine ständige Begleiterin des Schaffens; nicht nur in
dem Sinn, daß sie als dem Künstler immer vorschwebendes Ideal die Arbeit,
die an [ihr] gemessen wird, corrigiert, sondern auch darin, daß sie während
der Arbeit und durch sie erst zum wirklichen Leben erwacht, zu Breite,
Reichtum und Fülle erwächst. Das wesentliche Kennzeichen des genuin
künstlerischen Erlebnisses ist, daß es in bezug auf eine bestimmte und
konkrete Kunstform erlebt wurde, die Vision enthält also, schon als plötzlich
aufleuchtendes, unmittelbar-subjektives Erlebnis, alle Möglichkeiten ihrer
Ausdriickbarkeit in der Form, zu der sie in dieser apriorischen Beziehung
steht; und der Schaffensprozeß ist nichts anderes als die Verwirklichung
dieser Möglichkeiten. Dadurch ist das Verhältnis von Aktivität und Passi¬
vität in der Beziehung des Schaffenden zu seiner Vision wesentlich modifi¬
ziert: die Vision entsteht erst in der aktiven Arbeit des Künstlers, ja dieses
Wachsen und Erblühen der Vision durch technische Verwirklichung ist das
einzig reale Kriterium einer Unterscheidung zwischen wirklicher Vision und
dilettantischem Einfall; die Tiefe und Intensität der Vision kann nur
dadurch offenbar werden, daß sie während der technischen Arbeit, die lang¬
wierig ist und im Detail so gut wie nie auf das Visionäre der Vision ausgeht,
nicht verblaßt, sondern stärker und intensiver wird. Die Maxime des
Floratius, das nonura prematur in annum, bezieht sich also in erster Reihe
auf die Wesenhaftigkeit der Vision, auf die Art wie Faust, Wilhelm Meister,
die Romane Flauberts oder die Bilder Leonardo da Vincis entstanden sind;
und die innere Einheitlichkeit großer »schöpferloser« Werke (Homer, das
Nibelungenlied, gotische Kathedrale etc.) weist noch viel stärker auf diese —
über jede Subjektivität hinausgehende — Lebenskraft der sich im Entstehen
entfaltenden Vision hin. Die Aktivität des Künstlers erscheint dadurch als
die Aktivität des fruchtbaren Dienens: das Werk, das in der Vision implicite
enthalten ist, kann nur durch die aktive Arbeit daran explicit werden. Die
Gebilde aber, die der Künstler vor sich hat — einerseits die sich zum Werk
nähernde, in den Prozeß der Verwirklichung einbezogene Vision, dieser
Komplex von noch unvollkommenen, zur Einheit strebenden Elemente (Ma-
Schöpferisches und. receptives Verhalten i47
terial, Motiv etc.) und andererseits die vor diesem Prozeß schreitende, durch
ihn immer reicher werdende, aber das bereits Geleistete eben deshalb immer
übertreffende Vision an sich — haben ihre eigene, auf das Werk intendie¬
rende Dialektik, die nur hervorgelockt, doch nie jakobinisch gewaltsam
erzwungen werden kann, über die die Herrschaft, die echte Verwirklichung
nur durch Unterwerfung, nur durch Dienen zu erringen ist; welche Herr¬
schaft jedoch, wenn sie das unausgesprochene Ziel der Vision erraten hat,
dieses ihr mit der größten Gewaltsamkeit entreißen kann und muß. Diese
dienende Aktivität, diese hellseherische Tyrannei bestimmt das Verhältnis
des Künstlers zu der Vision: einerseits steht sie immer über ihm, schwebt ihm
immer unerreicht und unerreichbar vor, und sowohl Arbeit wie Aufhören
der Arbeit tragen den Stempel der Resignation, dieser vergeblichen Umwer¬
bung, an sich; andererseits lebt im Schaffenden das sichere Bewußtsein
seiner Herrschaft und das Gefühl, daß das, was er beherrscht, die einzig
würdige und wahre Realität ist, daß durch seine Arbeit alles ausgesprochen
wird und das von ihm Fallengelassene oder Unbeachtete keiner Existenz
würdig ist. Die tief resignierte Lebensstimmung gerade der technisch
bewußtesten und bedeutendsten Künstler ihren Werken gegenüber, das
Gefühl, immer von Neuem anfangen und lernen zu müssen und nie fertig
werden zu können, wie es der alte Cesanne mit den Worten: »je n’ai pas rea-
1 ise«1 ausspricht, drückt geradeso stark die eine Seite dieses Verhältnisses
aus, wie die andere sich in der stolzen Bewußtheit des Künstlers als Künstler,
in dem Satz Theophile Gautiers etwa, objektivert: »l’inexprimable n’existe
pas«. Streng genommen ist das Verhalten des Künstlers zur Vision die
Einheit dieser beiden Stellungnahmen, wir haben aber schon in der früheren
phänomenologischen Analyse sehen können, daß selbst das Subjekt der
Phänomenologie unfähig ist, die stete Zweiseitigkeit der Tendenzen, deren
innerste Einheit den Schaffensprozeß möglich macht, in lebendigem Gleich¬
gewicht zu halten; aus der notwendigen Verknüpltheit der Subjektivität des
Künstlers mit der Realisation des Werks folgt aber auch, daß der Versuch zur
Überwindung dieser notwendigen Einseitigkeit gar nicht unternommen wer¬
den kann. Nicht nur, weil der Versuch mißlingen muß und nur eine andere
Einseitigkeit - und eventuell eine weniger fruchtbare — hervorbringt,
sondern weil gerade diese Einseitigkeit (in diesem Fall: dieses Hin- und
[1 Vgl. E. Bernard: Souvenirs sur Paul Cezanne. »Mercure de France«. 1907. x. 16.
No. 248. S. 614.]
148 Philosophie der Kunst
Momenten der stärksten Intensität sich in sich abschließt, sonst aber mit der
Wirklichkeit der übrigen Erlebnisse in unauthebbarem Kampfe steht. Für
den Künstler vom ersten Typus — dessen Wesen Flauberts Satz: »de la forme
nait l’idee«1 am klarsten ausspricht — handelt es sich nun darum, seine form¬
geborene Welt von jeder Befleckung durch die gewöhnliche rein zu bewah¬
ren, und seine Gefahr ist, daß die Tendenz zur Form zu stark wird und ihre
erlebnisbestimmende Macht verliert. Die Aufgabe des zweiten Typus — der
durch Constables Bekenntnis: »I never saw an ugly thing in my life«2 am
besten charakterisiert werden kann — ist, die gewöhnliche Erlebniswirklich¬
keit in sich ständig auf dieser FJöhe des visionären Naturalismus zu halten,
die Wirklichkeit so stark auf die utopische Vollendung hin sehen zu können,
daß im Erlebnis und im erlebten Dinge alles, was zu dieser Vollendung fehlt,
zu verschwinden scheine; die Gefahr liegt hier darin, daß dieser Natu¬
ralismus der Gesinnung nur in der Gesinnung bleibe, daß er nie seinen visio¬
nären Charakter verliere, immer die Dinge zu sich hinaufziehe, ohne je zu
ihnen herunterzusteigen, um in ihrer gewöhnlichen Wirklichkeit das Äqui¬
valent der Utopie zu finden. Auch diese beiden Richtungen kristallisieren
sich selten zur vollkommenen Einseitigkeit, können aber, aus bereits
bekannten Gründen, nie zur Einheit gelangen. Auch hier handelt es sich für
den Künstler um ein vorgeschriebenes, notwendiges Schwanken, wo nur die
Intensität des Taktes, das Fdellseherische der Verbissenheit sowohl die
Gefahren der unfruchtbaren absoluten Einseitigkeiten, wie die eines unbe¬
gnadeten Ausgleichs vermeiden läßt. In allen diesen Momenten zeigt sich
aber die phänomenologische Persönlichkeit des Schöpfers als ein mit tragi¬
scher Rastlosigkeit und Ruhelosigkeit beladenes Subjekt: immer handelt es
sich in seinem Verhältnis zur Erlebniswirklichkeit um eine unaufhebbare
Spannung zwischen Wirklichkeit und Utopie, immer ist sein Verhalten zum
Werk eine unaufhörliche und — im Subjekt — nie vollendbare Anspannung
zum Erreichen des Unerreichbaren. Was dem Receptiven durch die einfache
Bereitschaft mühelos und selbstverständlich geboten wird, dem strebt der
Schaffende, der viel tiefer noch unter dem objektiven Abstand der Welt
leidet, in ewigem Kampf vergeblich zu: er kann das Ziel all dieser Wünsche,
das Werk als die ersehnte utopische Wirklichkeit nur zum Dasein erwecken,
als Schaffender hat er nie Zutritt zu ihr: »nous sommes faits pour le dire,
non pour l’avoir«, sagt Flaubert.
In der Ewigkeit des Werks offenbart sich der paradoxe Charakter des ästhe¬
tischen Wertes am stärksten. Ewigkeit kann nichts anderes bedeuten, als die
zeitlose Geltung des Wertes, dessen In-Erscheinungtreten im zeitgebunde¬
nen Erlebnis, wie es Lasks Analyse für den Wahrheitswert hervorhebt, die
Diskrepanz des Zeitlichen und Zeitlosen nur noch schärfer betont. Während
es sich aber bei der ewigen Geltung des Wahrheitswerts um eine »völlige
Unabhängigkeit und Fremdartigkeit gegenüber der zeitlichen Entfaltung
ihrer bloßen Erlebnisträger«1 gehandelt hat, ist das Verhältnis von Zeitlich¬
keit und Zeitlosigkeit hier viel verwickelter. Die spezifische Wesensart des
ästhetischen Wertes, die diese Komplizierung verursacht, ist die vollständige
Einheit von Wert und Wertrealisation. Daß der ästhetische Wert nur dann
da ist, wenn er realisiert ist, daß kein Prozeß, der zu ihm führt und sich ihm
annähert, irgendeinen Wert beanspruchen kann, sondern daß nur im
erreichten Werk, im realisierten Wert das ewig und zeitlos Geltende
vorhanden ist. Die Paradoxie, die hier entsteht, ist, daß etwas, das seinem
innersten Wesen nach in der Zeit steht, zu dessen kategoriellen Aufbau die
Zeit (sowohl die reale Zeit des historischen Ablaufs, wo die ideale Zeit der
künstlerischen Zeitgestaltung in den spezifischen Formen) a priori unent¬
behrlich ist, nicht nur etwas Zeitlos-Geltendes repräsentiert, sondern der
zeitlose Wert selbst ist. Das Werk ist seinem Entstehen, seinem Bestehen und
seiner Wirkung nach zeitgebunden: die Frage ist nun, wie seine zeitlose
Geltung, seine Ewigkeit in diesem Zusammenhang denkbar ist? Daß das
Werk seinem Entstehen nach zeitlich ist, bedeutet nicht bloß, daß es von
einer Persönlichkeit, die notwendigerweise in der Zeit und deshalb in einer
bestimmten historischen Zeit lebt und vielfältig mit ihr verknüpft ist, produ¬
ziert wird, sondern auch, daß ein Begriff der Zeitlichkeit, der Begriff des
»Neuen« mit seinem überzeitlichen Wesen simultan gesetzt ist.
Das »Neue«, das jedes Werk an sich haben muß, scheint mit dem Begriff
seiner Einzigartigkeit identisch zu sein (weshalb es auch so scheint, als ob es
erst in Zusammenhang mit seinem persönlich-iiberpersönlichen Charakter
behandelt werden sollte), ist aber davon doch sehr verschieden. Denn das
»Neue« am Werk setzt nicht nur seine Verbundenheit mit dem hervorbrin¬
genden Subjekte voraus, sondern auch sein Eingefügt-sein in den einmaligen
zeitlich-historischen Ablauf. Die Einzigartigkeit unterscheidet sich von allen
[1 E. Lask: Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre. Tübingen, Mohr.
1911. S. 18.]
154 Philosophie der Kunst
ihren Gegensätzen qualitativ und absolut, sie wäre denkbar als eine Offen¬
barung des Zeitlosen, die ganz zufällig (intelligibel zufällig) in der Zeit
erscheint, wo also nur das Hervortreten in der Zeit überhaupt, als Bedin¬
gung des Offenbarwerdens notwendig, der Zeitpunkt selbst jedoch völlig
gleichgültig ist: das Werk erschiene dann in der Zeit, weil es eben nur in der
Zeit erscheinen kann, mit dem Moment seines Erscheinens wäre aber jeder
Zusammenhang zwischen Zeit und Werk erledigt, das Werk würde in
seinem Wesen nichts an der Zeit heftendes an sich tragen und der Zeitpunkt
seines In-die-Welt-tretens wäre für es geradeso gleichgültig, wie der Zeit¬
punkt der Entdeckung irgendeines »ewigen« Gesetzes für seine Geltung
völlig irrelevant ist. Das »Neue« ist jedoch ein durchaus zeitlich-historischer
Begriff, sein Verhältnis zu seinem coordinierten Gegensatzpaar ist ein rela¬
tives und selbst zeitliches: die eigentliche Bedeutung des »Neuen« ist, daß
jedes Zeitmoment etwas von allen früheren Momenten qualitativ Verschie¬
denes hervorzubringen vermag (oder pünktlicher: daß in einem historischen
Zeitcontinuum, durch das Hinzutreten eines neuen Zeitelements die Quali¬
tät des neuen Continuums vom alten verschieden ist). Das »Neue« ist also
ein zeitlicher Relationsbegriff, der Ausdruck dafür, daß der einmalige
Ablauf der historischen Zeit stets variable Qualitäten produziert und
zugleich die Sinnbetonung dieser Variabilität. Die Wertbeziehung, die
dadurch entsteht, deren notwendige Folge die Fassung des Zeitablaufs als
etwas Einmaliges ist, fordert zwar durchaus nicht, daß etwa eine Entwick¬
lung, ein ständiger Fortschritt gedacht sei, als dessen Produkt das immer
wertbetontere »Neue« erschiene, sondern nur — wie bei Rickerts viertem, für
die Geschichte relevantem Entwicklungsbegriff1 — daß die spezifische Ein¬
zigartigkeit dieses »Neuen«, sein Noch-me-dagewesen-sein, seine (relative)
Unvergleichbarkeit mit allem Vorangegangenen und Darauffolgenden in
eine Wertbeziehung gebracht werde. So wird alles, dessen Erscheinungsform
in die Wertbeziehung von »Neu« und »Nichtneu« gestellt werden kann,
zum historischen Gebilde und es fragt sich nun: wie ist in dem Wesen des
ästhetischen Wertes, des Werks der Widerspruch zu heben, daß es sowohl
zeithch-historisch-wertbezogen, wie zeitlos-geltend beschaffen ist. Um diese
Frage beantworten zu können, müssen wir die zeitlichen Elemente des
Werks getrennt, in ihrer Beziehung zum zeitlosen Wert des vollendeten
Werks analysieren, damit dann das letzte und allein entscheidende Problem
von dem Verhältnis von Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit des Werkes selbst klar
zu Tage trete. Wir haben deshalb vor allem die Beziehung des Entstehens
des Werkes zum Werke selbst genau ins Auge zu fassen. Hier zeigen sich nun
folgende Fragen: erstens der ästhetische Sinn des Postulats, daß jedes Werk
etwas «Neues« sei; zweitens die Zeitgebundenheit des produktiven Subjekts
in bezug darauf, ob sie überwunden werden kann oder nicht, und darauf,
inwiefern sie überwunden werden soll (das Problem der Zeitlichkeit von
Motiv und Material); drittens die Zeitgebundenheit der künstlerischen Aus¬
drucksmittel, der Technik und ihres Substrates, des Stoffes; viertens der zeit¬
liche Charakter der Wirkung des Werks, wobei Wirkung den schon klarge¬
machten phänomenologischen Sinn als Correktiv des Schaffens besitzt. Erst
nach Erledigung dieser Fragen können wir auf das Werkproblem im engeren
Sinn eingehen: erstens inwiefern die Existenz des Werks als zeitlich-histori¬
schen Gebildes mit seinem Ewigkeitscharakter vereinbar ist, und in welcher
Beziehung die ideale Zeit innerhalb des Kunstwerks eine Beziehung sowohl
zu seiner zeitlichen Existenz wie zu der zeitlosen Geltung des darin reali¬
sierten Wertes hat; zweitens in welchen Beziehungen der strukturell analy¬
sierte ästhetische Sinn des Werks zu seiner geschichtlichen Existenz und
deren geschichtsphilosophischer Typik und Periodik steht.
Daß das »Neue« eine notwendige Vorbedingung des Werks ist, folgt aus
dem Zusammenfallen von Wert und Wertrealisation in der Ästhetik, daraus,
daß jedes Kunstwerk der persönliche Ausdruck des Schaffenden und von
seiner Persönlichkeit untrennbar ist, weshalb auch jedes Kunstwerk von
allen anderen prinzipiell verschieden sein muß; und weil der Schaffende als
geschichtliche Persönlichkeit produziert, wird das durch ihn hervorge¬
brachte »Verschiedene« keine abstrakte Andersheit anderen Produkten
gegenüber sein, sondern ein konkreter und positiver Ausdruck des geschicht¬
lichen Moments: das »Neue«. Alle die Probleme, die hier zur Sprache
kommen, weisen auf einen sehr bedeutsamen Unterschied des ästhetischen
Wertes von den anderen ewigen Werten hin: auf die Beziehung des Wertes
zur Geschichte, auf die Frage, wie der Wert — als solcher, als ewiger Wert —
eine Geschichte haben kann. Wenn von einer Geschichte der Logik die Rede
ist, so ist dies immer in einem uneigentlichen Sinn gemeint: entweder
versteht man darunter die — notwendig zeitliche — Geschichte der
Erkenntnis des Wertes (wobei hier die Geschichte der Ästhetik als
Erkenntnis des ästhetischen Wertes die adäquate Parallele ist) oder man
sucht irgendeinen kulturhistorischen Prozeß, in dem die Werte durch
15 6 Philosophie der Kunst
das Genie seinem innersten Wesen nach zeitlos, von dem kulturell-sozialen
Gesamtkomplex seines empirischen Daseins völlig unabhängig sei. Diese
Annahme ist aber — ganz abgesehen von ihrer empirisch-historischen
Unhaltbarkeit — auch dem Begriff des Genies widersprechend. Vor allem ist
in dieser Auffassung die Beziehung zwischen Individuum und Zeitalter zu
eng gefaßt: als das einfache Getragensein des Menschen von den Zeitströ¬
mungen, als seine blinde Unterwerfung unter alle Conventionen der Zeit
etc.; während diese Beziehung wesentlich den qualitativen Accent jeder
Stellungnahme des Menschen zu dem ihm gegebenen und ihn umgebenden
Komplex der Dinge bedeutet und deshalb auch die Auflehnung gegen die
Zeit oder das Einsamsein in ihr umfaßt. Eben weil es sich hier um unmittel¬
bare Erlebnisse handelt (wenn auch um Erlebnisse sub specie formae), sind
diese in ihrer Qualität, worin das »Neue« besteht, sowohl dem Inhalt wie
der Form nach von dem historischen Gesamtkomplex bestimmt. Lessings
Ablehnu ng der tragedie classique und Alfieris Fortsetzen der Corneille-
Racine Tradition, Manets »Impressionismus« und Puvis de Chavannes Stil¬
suchen haben dieselbe qualitative Nuance der Gleichzeitigkeit, des gleichar¬
tig orientierten »Neuen«. (Ich verweise auch auf die empirische, jedoch sehr
bedeutsame Tatsache, daß man viel leichter und sicherer den Zeitpunkt der
Entstehung eines Werks feststellen kann, als etwa seinen Schöpfer, z. b. im
Florentiner Trecento und Quattrocento oder in der Dramatik von Shake¬
speares Zeiten.) Das wäre aber noch immer nur eine bloße Faktizität dieses
Zusammenhanges — wenn auch eine nunmehr notwendige —, eine Unent-
rinnbarkeit des Eingewurzeltseins in der historischen Zeit wegen der Unmit¬
telbarkeit des schöpferischen Erlebnisses und es könnte noch fraglich
erscheinen, ob diese Notwendigkeit eine sinnvolle und den Wert fördernde
ist. Aber — wie wir aus der phänomenologischen Analyse wissen — liegt in
dem höchsten erreichbaren Grad eben dieser Unmittelbarkeit, in der begna¬
deten Fähigkeit des Genies seine (scheinbar) bloß subjektiv-unmittelbaren
Erlebnisse in der Vision so zu besitzen, als ob gerade sie die absolute und
unproblematische Enthüllung des Weltsinnes wären, der notwendige Weg,
der zum wirklichen Werk, zur real gewordenen utopischen Wirklichkeit
führt. Je stärker die prästabilierte Harmonie zwischen Erlebnisform und
technischer Form unmittelbar und naiv da ist, je mehr sich die Reflexion des
Schöpfers nur auf die Technik als Arbeit und nicht auf die Grundbeziehung
zwischen Technik und Vision, auf die Grundprobleme der Kunst richtet,
desto mehr ist er Genie; d. h. der den ewigen Normen des zeitlosen Wertes
entsprechende Hervorbringer des Werks. Und jede Stellungnahme gegen
Philosophie der Kunst
ij8
die ihm unmittelbar als Ganzes gegebene (historische) Welt, sei es in kultu¬
reller, sei es in rein künstlerischer Hinsicht, wenn es sich nicht um eine
anders orientierte Unmittelbarkeit handelt, deren pseudo-polemische
Wesensart ebenfalls zeitgebunden ist, kann sehr leicht gerade diesen norma¬
tiven Charakter des Schöpfers und mit ihm den zeitlosen Wert des Werks
trüben und von dem - zeitlos - Sein-Sollenden entfernen. So wird uns die
historische Tatsache, daß gerade die allerbedeutsamsten Schöpfer (Shake¬
speare, Calderon, Giotto, Dante) selbst bis auf die conventioneilen
Ausdrucksmittel der Kunst ihre Zeit so gut wie bedingungslos acceptiert
haben und sich von ihren - jetzt conventioneil scheinenden - Zeitgenossen
nicht durch ihre Gesinnung zur Zeitlosigkeit, sondern gerade durch die
Intensität des unmittelbaren und naiven Bündnisses von Erlebnis und
Technik (die beide conventionell sein konnten) unterschieden, als notwen¬
dige Folge dieses phänomenologischen Verhältnisses begreiflich. Denn nur
durch die Unbefangenheit des phänomenologischen Schöpfers — die histo¬
risch seine Befangenheit in der Zeit bedeutet — kann das Werk die konkret
gewordene Utopie werden, die es seiner Idee nach sein muß, nur unter dieser
Bedingung ist sein Wesen, die vollendete innere Abstandslosigkeit erreich¬
bar. Diese normativ vorgeschriebene Konkretheit im vollendeten Werk ist
die Verbindung zwischen seiner Zeitgebundenheit und Zeitlosigkeit. Völlig
und unbeschränkt zeitlos kann nur das Abstrakte sein, und die - im Wesen
des Wertes inbegriffene — Forderung der Konkretheit des Werks bedeutet
zugleich sein Emgewurzeltsein in Zeit und Raum.
Daß diese Beziehung für den logischen Wert vollauf besteht, bedarf wohl
keiner Erörterung mehr. Für den ethischen Wert scheint das Problem etwas
komplizierter zu sein, nicht nur weil er doch in viel höherem Maße mit dem
wirklichen lebendigen Individuum im Zusammenhang besteht (das könnte
durch die prinzipielle Unerreichbarkeit des Wertes aufgewogen und aufge¬
hoben werden), sondern vor allem weil er sich als Norm auf einzelne Hand¬
lungen einzelner Menschen bezieht, wo in den Bedingungen des richtigen
Handelns die räumlichen und zeitlichen Umstände, die seine empirischen
Voraussetzungen sind, miteinbegriffen gedacht werden müssen. Jedoch das
Wesen der ethischen Formung des Lebens besteht eben darin, daß in der
Fülle und in dem Wirrsal dieser Bedingtheiten das Gerichtetsein auf das
Unbedingte gefunden werde: das Vorbildliche, das Kanonische. Wenn auch,
wegen der notwendigen raum-zeitlich-individuellen Verschiedenheit, dieses
allen ethischen Handlungen Gemeinsame, dieses Kanonische nicht als
Gesetz, als notwendiges System von wiederkehrenden Folgen gedacht wer-
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit U9
den kann, so bedeutet der ethische Kanon doch eine letzte, formelle,
abstrakte Identität aller als ethisch bewerteten Handlungen, die nur
dadurch, daß sie diesen abstrakten Kanon in sich realisieren, der ewigen
Norm entsprechend, d. h. ethisch werden. Die Formung ist also abstrakt,
und das Konkrete hegt nur im Material, das durch diese Formung überwun¬
den, ja letzten Endes vernichtet werden sollte. Und dieses Dilemma ist
unentrinnbar: sobald die Religion nicht als abstrakte Erfüllung der abstrakt¬
ethischen Postulate gedacht ist (wie bei Kant), ist sie in ihrem konkreten
Wesen, in der Offenbarung, von der Zeitlichkeit nicht mehr trennbar;
welche gedanklichen Schwierigkeiten oder Mysterien des Glaubens (credo
quia absurdum est) aus dem zeitlich-zeitlosen Charakter der Offenbarung
Christi entstehen, können wir hier freilich nicht berühren, wir konnten und
durften nur auf die Unüberbriickbarkeit dieses koordinierten Gegensatz¬
paares: konkret-zeitgebunden und abstrakt-überzeitlich ganz scharf hinwei-
sen. Mit der Forderung aber, daß das Werk eine utopische Wirklichkeit sei,
mit der Konkretheit des Wertes selbst ist die einzigartige Stellung des ästhe¬
tischen Wertes im System der Werte bezeichnet: nicht nur zu seinen norma¬
tiven Vorbedingungen gehört diese konkrete Zeitgebundenheit, sondern sie
ist für den realisierten Wert selbst konstitutiv, aus seinem innersten, zeit¬
losen Wesen heraus notwendig.
Die Form als utopische Erfüllung, als Bejahung und Aufhebung eines
bestimmten Widersinnes, kann nur das Ende der Verlängerungslinie von
konkreten Leiden und Freuden an der konkreten Wirklichkeit sein. Sie ist
die ersehnte, innerlich abstandslose Wirklichkeit, ist aber eben deshalb nicht
bloß eine ebenso konkrete Wirklichkeit wie es die abstandsvolle war,
sondern sogar — wegen der Aufhebung des Abstandes, der gegenseitigen
Kreuzungen heterogener Tendenzen — eine noch konkretere: der Sprung
zwischen dem Dasein der Dinge und ihrem sollenden Sein ist hier ihr
Konkreterwerden, ihr Eingestelltsein in eine Welt, die gerade dazu da ist,
um dieses ihr sonst verkümmerte und verhinderte konkrete Sein zum
wahren Leben und Aufblühen zu verhelfen. Wie sehr auch Hervorbringen
und Aufnehmen durch den Sprung von der Sache selbst getrennt sind, so ist
diese, das Werk, doch eine Umfassung, eine Lösung und eine Erlösung dieser
— aus der konkreten, geschichtlichen Wirklichkeit, aus der Stellungnahme zu
ihrer Gesamtheit entstehenden — Relationen und Tendenzen. Freilich haben
die Tendenzen, das Abstandsvolle der gegebenen Wirklichkeit zu überwin¬
den, jeweilig verschiedene Betonungen: das Leiden an der Wirklichkeit und
die Sehnsucht nach ihrer utopischen Erfüllung können einerseits aus dem
16 o Philosophie der Kunst
Gefühl entstehen, daß die Wirklichkeit durch die Formen, die sie gestalten
sollen, verkümmert und erstarrt sei und es entsteht als Kunstwollen und
Bereitschaft die Sehnsucht nach dem Konkreten; andererseits kann das
Oberhandnehmen des bloß Konkreten ein solches Leiden am Wirrsal, am
Kampf und gegenseitigen Sich-zugrunde-richten heterogener Konkreta ent¬
stehen lassen, daß als einzige Rettung das »Allgemein-Menschliche«, der
ewige Kanon erscheinen muß. Mit der phänomenologischen Form der ersten
Stellungnahme haben wir uns schon früher eingehend befaßt (bei der
Analyse des Naturalismus) und wissen, daß die hier hervortretende Forde¬
rung der Konkretheit, deren zeitlich-historischer Charakter wohl von nie¬
mand bezweifelt wird, nur durch das Bündnis mit den zeitlosen Formele¬
menten überhaupt realisierbar ist. Darum scheint hier die Analyse der
anderen Tendenz wichtiger zu sein, die Frage, ob das Kunstwollen nicht
schon an und für sich zeitlos sein kann, ob es nicht denkbar ist, daß der
zeitlos-ewige Gehalt des Werks schon in der ungewollten Weiterführung
und Stilisation der Wirklichkeit durch die Vision des Künstlers vollzogen
werde, daß also die zeitlose Form von vornherein einen zeitlosen Inhalt
empfängt. Viele Strömungen der Kunst hatten dieses Ideal, konnten es aber
nur durch Selbsttäuschung realisieren; d. h. was sie hervorgebracht haben,
waren zwar ewige Kunstwerke, waren aber ihrem Wesen nach von den
anders gewollten prinzipiell nicht verschieden. Denn das konkrete und
erlebte zeitlose Wesen des Inhalts der Werke ist doch nichts anderes, als die
durchaus zeitlich bedingte Vorstellung des Künstlers von dem ewigen Inhalt
seines Objekts, von seinen inhaltlichen Erfüllungen der Kunstformen. Wenn
Sophokles, Corneille oder der Goethe der Iphigenie-Tasso-Zeit »allgemein¬
menschliche« Konflikte aufgriffen, in denen das ewige, zeitfreie Wesen der
inneren Menschen offenbar werden sollte, wenn Signorelli, Poussin oder
Marees ein ähnliches ewiges Wesen der Sichtbarkeit für den erscheinenden
Menschen und die ihn umgebende Natur suchten, so ist dieses »Zeitlose«
geradeso zeitlich-historisch bedingt, wie es die »Natur« der Naturalisten
(Filippo Lippi, Teniers, Courbet) ist. Dieses »Zeitlose« ist die erlebte Erfül¬
lung der konkreten Ewigkeitssehnsucht einer konkreten Zeit, und weil die
Kunst weder aut das Erleben, noch auf seinen konkreten Gehalt verzichten
darf, kann sie sich aus dieser Zeitgebundenheit nie befreien. Und sie soll es
auch nicht, denn das wirkliche Erreichen des Zieles dieser Sehnsucht würde
ihr Objekt gedanklich und abstrakt machen: das Wesen der Kunst aufheben.
Ja schon in diesem, sich selbst mißverstehenden und ein nicht gewolltes Ziel
erreichenden Kunstwollen liegt eine große Gefahr für das Werk. Daß
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 161
nämlich durch die bewußte und gewollte Distanz des Künstlers zu der ihn
umgebenden Wirklichkeit, durch seinen Wunsch sie so weit wie möglich zu
entfernen und hinter sich zu lassen, die innere Abstandslosigkeit des Werks
getrübt oder in einer matten und dürftigen Weise erreicht wird. Indem der
so wollende Künstler sich von allen zeitlich-geschichtlichen Inhalten loszurin¬
gen bestrebt ist und die Konkretheit der Utopie in seiner Vision für das Werk
doch bewahren will, bleibt ihm nichts anderes übrig als die Form selbst zu
dem allein Inhalt zeugenden Prinzip zu hypostasieren und jede inhaltliche
Erfüllung (den ganzen Gehalt des Werks) aus dieser seiner Idee der ewigen
Formen entstehen zu lassen. Dadurch wird aber der Abstand der Wirklich¬
keit von der ihr eigenen Utopie bloß übersprungen, nicht überwunden und
zur verklärten Vollendung gebracht. Diese ausschließliche Orientierung an
die Form birgt, wie wir wissen, die Gefahr der bloßen Virtuosität in sich, wo
eine zwar abstandslose Welt im Werk entsteht, aber aut Kosten der Bezie¬
hung zur bereitschaftschaffenden Sehnsucht des Receptiven und des Errei¬
chen des Werks als Wirklichkeit: die Formwelt, die so entsteht, ist eben nur
Formwelt und kann nur als solche erlebt werden, wenn die kalte und
verstandesmäßige Anerkennung ihres beziehungslosen Zusammenhanges
mit sich selbst überhaupt ein Erlebnis im ästhetisch-phänomenologischen
auch innerhalb der einzelnen spezifischen Formen - das Prinzip der Diffe¬
renzierung ist: aus der erlebten einzelnen Dissonanz, ihrer vertieften Über¬
windung und Einbeziehung in das konkrete einzelne Werk entsteht das
Werk selbst. Der Inhalt der Dissonanz ist also konkretes Erlebnis, und ist als
solches historisch, zeitgebunden; hier ist der Punkt, wo (wegen der prästabi-
lierten Harmonie von Erlebnisform und technischer Form beim Genie) die
zeitlose Werkform untrennbar mit den zeitlichen Erlebnisinhalten verbun¬
den ist. Die Gefährdungen des Werkes also, die hier entstehen, sind
folgende: Erstens kann die Dissonanz nicht zu ihrem wirklichen und für das
Werk konstitutiven Sein ausreifen; nicht die die Wirklichkeit des Werks
erschaffende Dissonanz wird gefunden, herausgearbeitet, als Bestandteil in
das Werk hineingearbeitet und so überwunden, sondern es wird von vorn¬
herein eine Welt jenseits der Dissonanz gesucht; diese soll in der Vision
eilebt werden, kann es aber infolge des Wesens der Vision nicht, und aus
dem ersehnten Jenseits wird ein abgeschwächtes und trübes Diesseits. Zwei¬
tens aber kann, aus den soeben erörterten Gründen, die in der zeitlosen
Struktur der Form begründet sind, die Dissonanz mit ihrer ganzen zeit¬
lich-inhaltlichen Erfüllung nie aus dem Gestaltungsprozeß und hier¬
mit aus dem Aufbau des Werks selbst ausgeschaltet werden. Wird der
Versuch gemacht sie zu ignorieren, so zieht sie gegen den Willen des Schaf¬
fenden in das Werk ein, und weil sie nicht als Dissonanz ausreifen und so in
das ewigkeitschaffende Bündnis mit der Form treten konnte, verfälscht sie
die Form, zieht sie in ihre (unüberwundene) zeitliche Inhaltlichkeit herunter
und belastet sie mit ungelösten, wenn auch abstrakt gewordenen Elementen:
Das Werk ragt nicht nur nicht als abstandslose Utopie aus der abstands¬
vollen empirischen Wirklichkeit heraus, sondern ist auch in sich abstands¬
voll: die Formen sind zeitlich belastet und verbogen, und die Inhalte einer
unerreichbaren Zeitlosigkeit wegen abstrakt und dürftig. Aus diesem Kunst¬
wollen also, wenn es nicht ein bloß psychologisches Wollen seines Schöpfers
ist (in welchem Fall es zu den unzähligen Arten von falschen Spiegelungen
des phänomenologischen Wollens des empirischen Objekts gehört, die ästhe¬
tisch nicht in Betracht kommen), sondern wirkliches Kunstwollen, Wollen
des phänomenologischen Schöpfers ist, entsteht das epigonale Kunstwerk,
das, in dem was erreicht wurde (im Gegensatz zum Gewollten), das zeitge¬
bundenste aller Werte ist, das — mit dem Erlöschen der Empfindung, die es
hei vorgebracht hat, der sowohl abstrakt wie konkret abgeschwächten und
getrübten Vorstellung seines Schöpfers und seiner Zeit vom «Ewigen« - nur
die Bedeutung eines kulturhistorischen Zeitdokuments beanspruchen kann.
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 163
Nicht nur die allergrößten Werke der Kunst beweisen, daß ihre Ewigkeit aus
der Zeitlichkeit der (phänomenologisch) erlebten Lebensinhalte ihres
Schöpfers stammt, sondern auch innerhalb eines »Ewigkeit«-suchenden
Kunstwollens jene, bei denen ein zeitgebundenes Ideal des Schöpfers für ihn
mit solcher Intensität »ewig« wurde, daß der Prozeß des Dissonanz-setzens
sich doch irgendwie vollziehen konnte. Wenn die Gefahr und die Proble¬
matik auch für solche Werke besteht, so ist es doch denkbar, daß hier
»Werke« entstehen: sie werden zwar nicht das Ewig-Blühende, paradiesar¬
tig Vollkommene der anders gearteten Werke besitzen, wohl aber die schöne
und herbe Strenge einer in sich erstarrten Welt, die immerhin die Utopie
irgendeiner Sehnsucht ist. So entsteht der »klassizistisch« genannte Stil,
dessen paradoxes Kennzeichen, daß er historischer und subjektiver ist als
jeder andere, uns jetzt wohl kaum mehr paradox erscheinen wird1.
So erscheint das »Neue« am Werk, vom Standpunkt seines Entstehens, nicht
mehr nur als etwas Unabweisliches, sondern auch als etwas mit seinem Wert
Verbündetes. Nicht in dem Zusammenhang mit dem Zeitmoment steckt eine
Gefahr für den Schaffenden, vielmehr darin, daß er den paradoxen Weg zur
Aufhebung seiner Zeitbefangenheit nicht finden wird und infolge seines
jakobinischen Versuches der Überwindung der Zeitlichkeit, ihr noch mehr
und ausschließlicher verfällt. Wenn also jedes Kunstwerk als »neu«
bezeichnet werden muß, so ist damit weder eine bloße äußerlich-tatsächliche
Beschaffenheit, noch der Wert selbst gemeint, sondern eine bestimmte
Qualität des Wertes: das gestaltete Werk hebt sich von allen vorangegan¬
genen Wertrealisierungen durch diese seine Qualität ab, es objektiviert sich
in ihm das Qualitativ-Einzigartige des historischen Moments, das zu Folge
des Hmzutretens von etwas »Neuen« aus dem »alten« Continuum entsteht;
es handelt sich also nicht um eine abstrakte Einzigartigkeit, sondern um eine
konkrete Qualität, deren Wesentliches an die Richtung, Einmaligkeit und
Eigenart der historischen Ablaufsreihe gebunden ist.
Werks können nur begriffen werden, wenn das Subjekt nicht nur in
abstrakter Einheitlichkeit, als bloße Bedingung der Entstehung des Werks,
betrachtet, sondern konkretisiert, auf die Bestandteile an Produktivität und
Gegebenheit hin, die seine normative Subjektivität begründen, untersucht
wird. Als solche kommen vor allem Motiv und Material in Betracht, und es
muß bei jedem getrennt untersucht werden, wie das Verhältnis von Zeitlich¬
keit und Zeitlosigkeit sich in ihm gestaltet, um aus dieser Erkenntnis zu dem
entscheidenden Zusammenhang zwischen zeitlichem Entstehen des Werks
und zwischen seinem zeitlosen Wesen fortschreiten zu können. Für jede
Betrachtungsweise, deren richtunggebendes Ziel nicht die konkrete Allge¬
meinheit des Werks ist, scheint es naheliegend zu sein, das Motiv aus der
historisch-psychologischen Continuität heraus zu begreifen, im Gegensatz
zu der metahistorischen Bedeutung, die das Material zu beanspruchen hat;
es scheint als ob das Motiv — in gewissem Sinn der Keim und der Kern der
Vision - mit der Persönlichkeit des Schöpfers als Individuum und mithin
historischer Individualität innig und unzertrennbar verbunden wäre, wäh¬
rend das Material — als Substrat der ewigen Form — seinem Begriffe nach
einem jenseits der raum-zeitlichen Differenzierung der Geschichte zugehör¬
te. Das zeitlos-zeitliche Wesen des Werks zeigt sich aber gerade in der
Falschheit solcher einseitigen Orientierungen dieser Bestandteile seines Ent¬
stehens. Indem sich jeder von ihnen, wenn auch in der Qualität nach
verschiedener Weise, als zugleich geschichtlich und zeitlos erweist, konkreti¬
siert sich das diesen phänomenologischen Momenten entsprechende objek¬
tive Gebilde in seiner wirklichen Beziehung zum Zeitablauf. Das Ewige am
Motiv, soweit es in die Phänomenologie des Schöpfers gehört, ist durch die
dort analysierte harmonia praestabilita zwischen Erlebnisform und techni¬
scher Form gesichert: das Motiv ist gerade das Stück »Leben«, an welchem
die Apriorität der Form sich als formende Apriorität der Erlebnisse erweist.
Denn das spezifische Wesen dieses Apriori besteht nicht etwa darin, daß
jedes Erlebnis nur von ihm umformt erlebt werden kann (dann wäre es nur
der psychologisch-qualitative Erlebnisaccent des Subjektes), sondern darin,
daß gewisse Erlebnisse schon als Erlebnisse einen, nur im erreichten Werk
deutbaren und zu deutenden Sinn in sich bergen, durch diesen Sinn eine nur
ihnen eigene Ballung an Qualität und Intensität erhalten — und durch das
Erlebnis dieser Ballung das Subjekt der Erlebniswirklichkeit zum phänome¬
nologischen Subjekt verwandeln. So ist das Motiv als Sinn und Inhalt dieses
Erlebnisses, phänomenologisch betrachtet, das reine Erlebnis sub specie for-
mae, dadurch aber läßt sich sein Wesen gar nicht aussprechen: das Motiv ist
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 165
zwar der Anlaß der Verwandlung des psychologischen Subjekts ins phäno¬
menologische, gehört aber nur als solcher in die Phänomenologie, sonst ist
es seinem Wesen nach dem phänomenologischen Bewußtsein transcendent;
d. h. daß dieses Erlebnis für das phänomenologischen Subjekt nur eine
»Idee« (im Kantischen Sinne) ist, etwas was das Keimerlebnis der Vision sein
soll, aber nie ist, noch sein kann. Denn die Vision, als phänomenologische
Form der Wirklichkeit des Werks, ist ihrer eigenen Realisierung gegenüber
relativ heterogen, sie bereitet nur den Weg zum Sprung, der die transcen-
dentale, wirklichkeitsschaffende Werkform herbeiführt, vor, nicht abei den
Weg zu jenem Sprung, der die Wiederkehr der reinen Form, die Realisie¬
rung des Werks, als vom Menschen geschaffenes, technisch gestaltetes
Gebilde verursacht, während das Motiv nur als die Keimzelle dieses, dem
phänomenologischen Subjekt transcendenten Werks definiert werden kann.
Der methodische Ort der Begreifbarkeit des Motivs liegt mithin nach dem
erreichten Wrk, in der nachkonstruktiven Psychologie des Schaffenden,
woraus sich folgendes Verhältnis von Vision und Motiv ergibt: die Vision ist
eine Wirklichkeit, während das Motiv ein Gebilde, ein Artefakt ist, die
Vision ist etwas sich im phänomenologischen Prozeß Realisierendes, also
etwas ihrem Wesen nach Dynamisches, während das Motiv unwandelbar,
statisch ist, die Vision ist ein Erlebnis, wenn auch nur ein phänomenologi¬
sches, sie ist also mit der übrigen Erlebnismasse des Schaffenden in irgend¬
eine organische Beziehung zu setzen, wie paradox und problematisch diese
Beziehung auch sein mag, während das Motiv — soweit es sich überhaupt im
Bewußtsein des phänomenologischen Subjekts spiegelt, welches Bewußtwei¬
den durchaus nicht notwendig ist — ein »Einfall« ist, in sich geschlossen und
allen anderen Erlebnissen gegenüber in dieser seiner absoluten Heterogenei-
tät beharrend. All dies bedeutet für das Subjekt sowohl eine größere Freiheit
dem Motiv gegenüber, als sie in Beziehung zur Vision möglich war, aber
auch eine größere Unfreiheit: denn die absolute Heterogeneität des Motivs
zu anderen Erlebnissen kann sich nur in dem ihm allein zukommenden und
immanenten Werksinn offenbaren, sonst ist sein Erleben - gerade wegen
dieser absoluten Heterogeneität und ihrer Folge: des »Einfall«-Charakters
- das Erleben eines Erlebnisobjekts, nicht aber einer in sich geschlossenen,
sich zum selbständigen Leben substanzierenden Wirklichkeit, wie das Erleb¬
nis der Vision. Einerseits »beherrscht« also das Subjekt seinen »Einfall«,
»benützt« ihn nach »Willkür«, formt ihn um und fügt ihn-zur Wirklichkeit
der Vision- Welt erweiternd — in selbstgeschaffene Zusammenhänge ein,
andererseits ist es durch den dem Motiv immanenten Werksinn absolut
166
Philosophie der Kunst
am klarsten diese Entfernung) und an und für sich gar keine Antwort auf die
Bedürfnisse ist, von welchen aus das Werk gefordert wird; andererseits ist es
aber dem »Leben« näher als das Werk, denn es ist trotz allem ein »Stück«
Leben, das - als Leben - unmittelbar und deshalb in abstrakter und dem
phänomenologischen Subjekt transcendenter Weise von der Werkform
selbst umklammert wird, sich aber sonst, im Gegensatz zur In-sich-Geschlos-
senheit des Werks, von den übrigen Erlebnissen nicht zu isolieren vermag.
Diese abstrakte Vereinigung von einem »Stück« Leben mit dem Krystallisa-
tionspunkt des Werks, was das Wesen des Motivs ausmacht, gibt die
Möglichkeit der Klärung, wie Geschichtliches und Zeitloses sich in ihm
vermischen: das hier wesentliche, struktive Kennzeichen des Motivs ist, daß
sein Inhalt von einer zusammenfallenden Doppelformung umschlossen
wird: von der Werkform, die es zum Motiv, und von der Erlebnisapriorität
des Schaffenden, die es zum eigenen Erlebnis, zum »Einfall« macht. Indem
nun, wie früher gezeigt wurde, die normativ-schöpferische Gesinnung
durchaus nicht darauf ausgehen darf, die künstlerischen Formen und das
Ewige an ihnen als etwas der historisch verankerten Individualität des
Schaffenden Entgegengesetztes zu erleben, ist die phänomenologische Ten¬
denz gegeben, den Werksinn dieser Doppelformung hinter - besser gesagt:
in - der Subjektivität der Erlebnisform verschwinden zu lassen. Dadurch
sind Zeitlosigkeit und geschichtlich-zeitliche Determiniertheit unlösbar im
Motiv verflochten: es kann als Inhalt wegen seines Erlebnischarakters nur
das von dem historischen Moment Gelieferte besitzen (daß im Erlebnis und
für das Erlebnis alle außer diesem Moment liegenden Möglichkeiten -
Bildungselemente, Werte etc. — auch der von dem Moment getroffenen
Auswahl unterliegen, bedarf wohl keiner Erklärung); seine Form ist an das
qualitative Erlebnisapriori des Schaffenden und dessen Zugehörigkeit zum
geschichtlichen Ablauf gebunden. Zugleich aber erhält es ausschließlich dai-
aus seine Existenz als Motiv, daß es die Möglichkeit zur Entfaltung eines
Werkgebildes implizite in sich birgt, dessen Vollendung, sowohl der
Abschließung wie der Totalität nach, von den zeitlosen Normen der
Ästhetik garantiert und geregelt wird. Die Möglichkeit der Entstehung des
Werks erfordert also sowohl, daß die ewigen Normen der einzelnen Kunst¬
arten - als ausschließliche und normative Bedingungen ihrer Realisierung -
ins Zeitlich-Geschichtliche hinunterreichende Differenzierungsmöglichkei¬
ten enthalten, wie daß es Typen der Formung der Erlebnisse duich ihr
qualitativ-apriorisches Schema gäbe, welche den zeitlosen Postulaten, die
die Existenz einer Werk-Welt verbürgen, entsprechen können. Das Aufein-
168 Philosophie der Kunst
Geschichte gebracht werden kann. Der Marmor ist aber, ästhetisch betrach¬
tet, das Substrat eines rein optischen Relationssystems, das mit Hilfe von
Erhöhungen und Vertiefungen (die von einer Systematik in der Verteilung
des Lichtes und des Schattens abhängig sind) ein dynamisches Gleichgewicht
zwischen kubischen und flächenhaften Gesichtseindrücken hervorbringt.
Durch die Beziehung dieser beiden Faktoren zueinander, des sinnlichen
Wirkungspostulats der Form und der sinnlichen Wirkungsmöglichkeiten des
Materials, wird das Wesen des Materials ästhetisch bestimmt und begrenzt.
Die Beantwortbarkeit der hier auftauchenden Fragen kompliziert sich aber
auch noch dadurch, daß das Material als Substrat der Werkform nicht bloß
Substrat der reinen, sondern auch Substrat der transcendentalen Form ist,
daß also sowohl Wirkungspostulat wie Wirkungsmöglichkeit sich nicht nur
auf die reingemachte, homogene Sinnlichkeit der Form, sondern auch aut
die symbolschaffende Sinnlichkeit der »Einbeziehung alles Einbeziehbaren«
richten. Diese Verbundenheit der reinen Form mit der transcendentalen ist,
wenn sie einmal vorhanden ist, unaufhebbar; d. h. daß in dem Begriff der
sinnlichen Wirkungsmöglichkeit des Materials nun auch seine Potenz und
Qualität zum Symbolischwerden miteinbegriffen ist. Diese Wirkungsmög¬
lichkeit selbst ist aber durch die Variationsmöglichkeit jener Faktoren deter¬
miniert, deren Gleichgewicht herzustellen das Problem der Form ist, die —
in der ästhetisch me vorkommenden, rein begrifflichen Einseitigkeit ihres
bloß gedachten Wesens - die Grenzen bestimmen, innerhalb deren Gebiets
je eine Formung ihre Werkwelt schaffende Kraft bewähren kann (in
unserem Beispiel: das Kubische und das Flächenhafte). Die Variabilität des
Gleichgewichts kann sich aber zu dem Problem der transcendentalen
Formung (der »Einbeziehung«) nicht gleichgültig verhalten: es ist notwen¬
dig, daß zwischen Qualität und Quantität der »Einbeziehung« und der Art
des möglichen Gleichgewichtes ein bestimmter Zusammenhang bestehe, daß
also die Prävalenz des einen Faktors die »Einbeziehung« begünstige, die des
anderen nicht, daß der eine Faktor ein Prinzip der reinen, der andere das dei
transcendentalen Form sei, daß in dem einen die Sinnlichkeit des Materials
selbst, in dem anderen seine symbolische, gestaltende, wirklichkeitschaf¬
fende Sinnlichkeit, seine Sinnbildhchkeit sich ausspräche. Die vorhin postu¬
lierte Unzertrennbarkeit der beiden Werkformen ist durch das Prinzip des
Gleichgewichts, das ja das Dasein und die Valenz beider Faktoren erfordert
und nur Variabilitäten der Prävalenz ermöglicht, gesichtert. So offenbart
sich im Block das kubische Prinzip des Marmors, sein sinnlicher Wirkungs¬
wert als Masse, während seine Bearbeitbarkeit als ein System von aufein-
17° Philosophie der Kunst
ander bezogenen Erhöhungen und Vertiefungen — das durch den Block nur
begrenzt, aber nicht bestimmt ist, dessen Einheit gerade in dem Sich-Zusam-
menschließen aller Teile zu etwas von einem Außenpunkt Balanciertem und
Homogenem, zu einem quasi flächenhaften Zusammenhang (»Relief«-Auf-
fassung) besteht — der Träger der sinnbildlichen Materialität ist. In jeder
Marmorplastik muß ein Gleichgewicht dieser beiden Prinzipien der Mate-
rialpotenzialität erreicht werden, und in dem so zustande gekommenen
Formenkomplex repräsentiert der Block die Sinnlichkeit, das Relief die
Sinnbildlichkeit des Materials, der Block die reine, das Relief die transcen-
dentale Form, wobei jedoch nie vergessen werden darf, daß das Setzen des
einen Prinzips das des anderen bedingt, daß sie also beide nur Tendenzen,
in realisierter Reinheit nur Denkmöglichkeiten, nicht aber ästhetische Reali¬
täten sind. Daraus ergibt sich für das Material in bezug auf seine immanente
Wirkungsmöglichkeit folgende Typologie der möglichen Gleichgewichtsver¬
hältnisse: bei Prävalenz des Prinzips der reinen Form ist eine Tendenz zur
möglichsten Reduzierung des »Einbeziehens« (Ägytische Plastik) und ande¬
rerseits eine, die zum Maximum desselben hinstrebt (Michelangelo) denk¬
bar; bei der Praevalenz des Trägers der transcendentalen Form hingegen
kann sowohl die Tendenz zu einer sehr starken, wenn auch eventuell bis zur
Unappercipierbarkeit verarbeiteten Correctivrolle des ersten Prinzips
(Griechische Plastik), wie eine möglichste Abschwächung derselben (»male¬
rische« Plastik) wirksam sein.
Diese Typologie der möglichen Tendenzen ist ihrem Wesen nach sowohl
geschichtlich wie übergeschichtlich; sie ist von jedem Zeitablauf unabhängig,
denn es entfalten sich in ihr bloß die Möglichkeiten des Materials, welche
ihm seinem zeitlosen Begriffe nach angehören, und unabhängig von ihrer
Realisation in der Zeit sind; sie ist aber zugleich in ihrem innersten Wesen
geschichtlich, denn das principium differentiationis ergibt sich aus einem
Moment des Materials, das — ebenfalls seinem zeitlosen Begriffe nach —
historisch determiniert ist. Dieses Moment ist der Begriff der »Einbezie¬
hung«; zugleich der Punkt, wo die Wechselwirkung von Wirkungspostulat
und Wirkungsmöglichkeit begriffen werden kann. Wir sahen: die sinnlichen
Wirkungspostulate der Formung sind an sich vom Material unabhängig; wir
können dies nun konkreter formulieren: in den Wirkungspostulaten spricht
sich der Wille zur Schaffung einer ganz bestimmten Werkwelt aus, wo die
Gesinnung, aus der der Wille entspringt, Fülle und Maß, Art und Masse
dessen bestimmt, woraus — sowohl inhaltlich wie formell — diese Welt sich
aufbauen soll. Das Material kann nur die Grenzen der Möglichkeiten für die
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 171
3-
miteinander Zusammenhängen.
Wir haben den Stoff früher als die Summe und die Einheit des Geformten
bestimmt; jetzt sind wir in der Lage, dasselbe konkreter auszudrücken: wn
haben unter Stoff den Gesamtkomplex der Erlebnisinhalte zu verstehen, zu
dem sich das Motiv durch die Vision ausbreitet, soweit diese Erlebnisinhalte
in der Materialität der gesuchten Form aufzugehen fähig sind. Der Unter¬
schied von Material und Stoff ist damit hinlänglich beleuchtet; es kommt
jetzt nur darauf an, das Verhältnis zwischen Stoff und Vision einerseits, und
Stoff und Motiv andererseits zu begreifen. Vom Motiv unterscheidet sich dei
176 Philosophie der Kunst
Stoff dadurch, daß er die ganze extensive Fülle des Gestalteten gerade in
ihrem extensiven Ausgebreitetsein vollständig umfaßt, während diese im
Motiv nur implizite enthalten ist. Daraus folgt freilich auch, daß das Motiv
- infolge der formalen Beschaffenheit dieses Implizite - bei der hier vollzo¬
genen Zweiteilung auch der Sphäre der Aktivität, der Technik als Correctiv-
prinzip der Auswahl angehört; es bestimmt, was aus der Fülle der Erlebnis-
mhalte, zu der sich das Motiv ausbreitet, in das Werk eingehen, zum Stoff
werden darf. Der wesentlichste Unterschied zwischen Stoff und Vision ist,
daß die Vision eine Wirklichkeit ist, also eine gewisse Parallelität zu dem
gesamten Werk besitzt, während der Stoff, der inhaltlich dasselbe umfaßt,
seine Wirklichkeit erst durch das Bearbeitetwerden von der Technik erhält;
das Wesen des Stoffes ist mithin gerade keine Wirklichkeit, sondern bloß
Substrat einer zu schaffenden Wirklichkeit zu sein, den Komplex der Erleb¬
nisse in einer solchen Weise zu formen und zu umfassen, daß sie einer Bear¬
beitung durch die Technik und dadurch der Werkwirklichkeit teilhaftig
werden können, während die Formung der Visionsinhalte schon eine Analo¬
gie, eine Art Gegenbild der technischen Formungen bietet. Wenn also die
Foimen der Welt der Vision zu den technischen Formen ebenfalls in einem
Verhältnis der Möglichkeit zur Aktualisierung stehen, so bleibt doch der
Unterschied, daß diese Potentiahtätsbeziehung bei der Vision eine Correc-
tiv-, bei dem Stoffe eine Substratsrolle ist.
Damit sind wir aber noch immer nicht zu dem Punkt gekommen, wo Zeit¬
lichkeit und Zeitlosigkeit dieser Struktur klar werden könnte. Wir haben
Technik und Stoff nur ihrer Weite, nicht aber ihrer Einheit nach analysiert
und sind damit stets im Bereich des Werks selbst, oder besser gesagt inner¬
halb der rein objektiven Bedingungen seines Entstehens geblieben. So
verschieden nun das Wesen der Einheit für Technik und Stoff auch sei, das
eine haben sie gemein, daß sie in die normativ subjektive Sphäre der Entste¬
hung des Werks hinüberleiten, daß das Prinzip der Einheit, obwohl es den
Kern diesei objektiv-struktiven Elemente bildet, gleichzeitig und in einer
Weise, die von seiner Objektivität untrennbar ist, etwas Erlebnishaftes an
sich hat. Diese Einheit ist für die Technik, die als System der Aktualisie-
tungsformen definiert wurde, ein Prinzip der Organisation, für den Stoff,
dessen Wesen wir als Komplex und Summe von ausdrückbaren und auszu¬
drückenden Inhalten umschrieben haben, eine Direktive der Auswahl und
der Ballung, der Weite und der Dichtigkeit; für die Technik eine Form,
durch deren Umfassung, durch das Inhaltwerden in ihr sie selbst als Form
zui Konkretheit erwächst, für den Stoff die Essenz des von ihm, der der
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit l77
Technik gegenüber Substrat ist, Geformten, wo aber aus dem Geformten für
die Form die Richtung und die Bestimmtheit erwächst. Das formende
Erlebnis der Technik ist die Gesinnung; das vom Stoff geformte und ihn
bestimmende Erlebnis die Aufgabe. Beide sind eigentlich Kategorien der
nachkonstruktiven Psychologie des Schaffenden, können also in voller Aus¬
führlichkeit erst dort behandelt werden, nehmen aber innerhalb jener
Sphäre eine Stellung sui generis ein: sie sind keine Kategorien des Schaf¬
fenden der nachkonstruktiven Psychologie (wie Motiv, Material und Tech¬
nik), sondern Kategorien der Voraussetzung dieser Psychologie; ihr Dasein
garantiert die Existenz des nachkonstruktiven Schöpfers, indem sie die
Möglichkeit der Aufstellung der Maxime dieser Sphäre (der Akribie) und
der Konkretisierung ihres Gehalts bieten. Ihre eigentliche Wirksamkeit liegt
aber vor dieser Sphäre: sie ist mit dem realisierten Werk simultan gesetzt,
während die nachkonstruktive Psychologie (begrifflich) nach ihm liegt. Sie
sind aber auch keine Kategorien der Phänomenologie des Schaffenden, denn
sie enthalten kein Hinstreben auf das Werk, was das auffallendste Kennzei¬
chen dieser, vor dem Sprung liegenden Sphäre ist, sondern sind die Voraus¬
setzungen seines (bereits als realisiert gedachten) Geleistet-seins. Während
also die ihnen entsprechenden phänomenologischen Kategorien (der
»Standpunkt« und die Dissonanz) sich nur auf Auswahl und Umgestaltung
der Inhalte der Erlebniswirklichkeit richten, an ihnen den Homogeneisie-
rungsprozeß vollziehen und somit die Möglichkeit des Schaffens herbeifüh¬
ren, an sich aber nur richtungweisende Faktoren sind und an dem (phänome¬
nologischen) Schaffensprozeß keinen Anteil haben, beziehen sich diese
Kategorien unmittelbar und die Gestaltung bestimmend auf die Foimation
des Werkes selbst. So stehen »Standpunkt« und Gesinnung, Dissonanz und
Aufgabe als entsprechende Voraussetzungskategorien der beiden subjekti¬
ven Sphären nebeneinander, doch aus der Verschiedenheit der Sphären
folgen ihre entscheidenden Verschiedenheiten, die uns vorläufig genügen
müssen, um die jetzt nötigen Begriffe von Gesinnung und Aufgabe klarer zu
machen.
Es ist uns bereits aus der phänomenologischen Analyse bekannt, daß der
Begriff des »Standpunkts« aus den Problemen von Abstandslosigkeit,
Abstand und Distanz entsteht, und der »Standpunkt« als Ausgangspunkt
und Möglichkeit der normativen Überwindung dieser Problematik am kür¬
zesten definiert werden könnte. Indessen kann in der Phänomenologie das
Wesen der objektiven Abstandlosigkeit des Werks nicht konkret hervortre¬
ten und selbst von den beiden Begriffen des subjektiven Abstands (Abstand
i78 Philosophie der Kunst
des Schaffenden als erlebendes Subjekt von den Objekten der gegebenen
Wirklichkeit und sein Abstand als schaffendes Subjekt von dem Werk) kann
nur der erste nicht nur konkret gemacht, sondern auch als in die normative
Distanz positiv verwandelt begriffen werden. Aus dem zweiten Begriff des
Abstandes können wir nur zu dem Begriff des Sprunges gelangen, der in
seiner gänzlich begriffenen Konkretheit zwar die Beziehung des Subjekts
zum Werk klarmacht, aber die Bedeutung dieser Beziehung für das Werk
selbst nicht aufzuhellen vermag, also für den Sinn des Werks nur eine nega¬
tive Klärung bietet. Weil nun der methodische Ort der Begreifbarkeit der
Gesinnung in und nach dem erreichten Werk liegt, ist ihr Wesen gerade
durch ihre Fähigkeit, die dort unbeantwortbaren Fragen zu lösen, bestimmt;
durch die Funktion der Gesinnung die objektive Abstandslosigkeit des
Werks konkretisiert und der subjektive Abstand des Schöpfers zum Werk
positiv umgedeutet werden kann (der Abstand zur Erlebniswirklichkeit
kommt auf dieser Stufe nicht mehr vor). Der Werksinn des subjektiven
Abstands bedeutet nun den Abstand zwischen Ausdrucksmittel und Aus¬
druck, der in die normative Distanz der fruchtbringenden Fiktion verwan¬
delt werden muß, und die objektive Abstandslosigkeit des Werks selbst
gewinnt einen konkreten Gehalt, wenn der utopische Maßstab der
Abstandslosigkeit sowohl seinem Inhalt und seiner Qualität nach, wie in
seiner Beziehung zu den Objekten, aus denen sich die utopische Wirklich¬
keit aufbaut, festgestellt werden kann. Diese letzte Einheit des konkret
gewordenen Werkes setzt eine Einheit der hervorbringenden Faktoren vor¬
aus (wenn diese dem phänomenologischen Subjekt auch transcendent ist):
die Gesinnung. Sie ist die Erlebniseinheit, in der die Ausdrucksmittel als
Wesenrevelationen des Auszudrückenden (als System der Aktualisierung),
die Objekte der Gestaltung als organisch eingeborene Glieder des Werk¬
ganzen und dieses selbst als utopische Einheit, Antwort und Erfüllung des
leidvollen Wirrsals, das sich kaum zur Frage ballen konnte, erscheinen. Fdier
handelt es sich nur um die Analyse der Gesinnung als Erlebniseinheit, die
den Abstand der Ausdrucksmittel vom Auszudrückenden überbrückt, indem
sie durch die formende Kraft ihrer Einheitlichkeit das in der Definition
geforderte System der Technik leistet. Denn die lebenerweckende Macht der
Technik, ihre Fähigkeit, den Abstand verschwinden zu lassen, verdankt sie
ihrem Systemsein und dem Erlebniskern dieses Systems. Ohne diese
emotional-systematische Einheit verharrt die Technik dem Stoff gegenüber
in einer vollkommenen Abstraktheit (Abstand zwischen Ausdrucksmittel
und Ausdruck): sie ist abstrakt den Elementen des Stoffes gegenüber, weil sie
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit i79
setzbar ist, zuläßt, folgt aus dem Begriff der Technik, der von zwei Postu-
laten bestimmt und umgrenzt wird: erstens daß die Technik einen Erschei¬
nungskomplex zur Totalität einer in sich vollendeten Welt aktualisiere und
zweitens daß dieser Prozeß sich in bezug aut ein bestimmtes, durch die
homogeneisierende Kraft des »Standpunkts« reingewordenes Autnahmeor-
gan vollziehe und der gestalteten Welt in dieser Relation eine vollkommene
Klarheit und Sinnfälligkeit verleihe. Aus dem Zusammenwirken beider
Postulate folgt, daß in der von der Technik aktualisierten Welt Erscheinung
und Wesen des Gestalteten zusammenfallen müssen, aber auch daß dieses
Zusammsnfallen ein fiktives ist: es setzt als Maxime der Technik die
Anschauung voraus, als ob die Aktualisierungsmittel der Technik (z. B. Linie
und Farbe in der Malerei) Eigenschaften der gestalteten Objekte — sowohl
ihrem Wesen, wie ihrer Erscheinung nach — wären. Weil nun das technische
System ein hierarchisches und auf ein Zentrum bezogenes ist, muß in ihm
einerseits entweder das Primat des Wesens, wobei den Erscheinungsfaktoren
die Rolle der notwendigen und adäquaten Accidenzen zukommt, oder das
Primat der Erscheinung, das dem Wesen die Bedeutung der aposteriorischen
Einheit von Erscheinungskomplexen zuschreibt, vorhanden sein und ande¬
rerseits muß jeder dieser möglichen Systemtypen auf das Primat eines
Aktualisierungsprinzips und auf sein hierarchisches Verhältnis zu den ande¬
ren gegründet werden. Die Alternative im rein technischen System ist die
Frage, ob diese Gestaltung durch die Umfassung die Dinghaftigkeit reali¬
siert (Priorität des Umrisses: lineare Gesinnung in der Malerei) oder ob sie
aus der gestalteten Ballung deren Grenzen herauswachsen läßt (Priorität der
Gestalt vor der Begrenzung: malerische Gesinnung). Diese Alternative fällt
mit der von Erscheinung und Wesen nicht zusammen, wenn es auch
unleugbar ist, daß Wesen und Umriß einerseits, und Erscheinung und
Gestaltspriorität andererseits eine gewisse Affinität zueinander haben; es
kann geradeso, um beim Beispiel der Malerei zu bleiben, eine malerische,
auf das Wesen gerichtete Gesinnung geben (Cezanne), wie eine mit dem
Mittel des Umrisses die Erscheinung suchende Gesinnung (linearer Impres¬
sionismus im Florentiner Quattrocento).
Alle d rei Paare der Alternative sind nicht durch die Idee der Technik selbst,
sondern durch ihre, von der Gesinnung zustande gebrachte Systematisation
bedingt, enthalten also in ihrem rein ästhetisch gefaßten Begriff nicht bloß
die einfache Faktizität der Geschichtlichkeit, sondern auch deren Notwen¬
digkeit und Logizität. Denn der Begriff der Gesinnung ist ein geschichtli¬
cher: er bezieht sich ja auf die Frage von Abstand und Abstandslosigkeit, auf
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit x 81
Qualität und Struktur der utopischen Wirklichkeit: die Gesinnung ist die aus
dem Wirrsal und dem Leiden an der Wirklichkeit zur Erlösung heimfin¬
dende Weltanschauung. Freilich ist sie dies bloß sub specie formae und
deshalb fiktiv: sie ist ein formales Schema für die Angemessenheit der Werk¬
welt an die Aufnahmeorgane, nicht aber eine Form, die irgendein objektives
Wesen der gegebenen Wirklichkeit treffen könnte. Dadurch ist aber der
Begriff der Gesinnung auch einer anderen Richtung nach bestimmt und
begrenzt: er bezieht sich nicht auf die Kunst schlechthin, sondern nur auf die
einzelnen Kunstformen. Fiedlers Satz, daß es keine Kunst, sondern nur
Künste gibt1, bewahrheitet sich auch hier: es ist zwar möglich aus dem
abstrakten Begriff der Kunst die rein formalen Elemente und die Bedin¬
gungen ihrer Realisierung in den einzelnen Kunstformen abzuleiten, diese
weisen aber, selbst in ihrer abstraktesten Formalität, auf die einzelnen
Künste als auf die eigentliche Bühne ihrer Verwirklichung, auf den natürli¬
chen Ort ihrer Begreifbarkeit hin. Die Tatsache jedoch, daß die einzelnen
Künste das originäre Element der Kunstbetrachtung sind, bedeutet dann
auch noch, daß die durch Analyse der Kunst gewonnenen Formungsprinzi¬
pien sich innerhalb jeder Kunstform verschieden zueinander verhalten:
wenn die Kunst als freischwebendes und in sich ruhendes Formgebilde defi¬
niert werden muß und wenn die einzelnen Kunstformen das konkrete Wesen
des Ästhetischen ausdrücken, so kann sich ihre Differentiation nur in der
Beziehungsqualität der einzelnen Formungselemente zueinander ausspre¬
chen; diese Qualität muß in jeder Kunstform verschieden sein und nur die
Tatsache, daß in diesen Formungen, wenn auch nur abstraktiv, dieselbe
Elemente und dieselben Elementar- und Möglichkeitsverhältnisse aufgefun¬
den werden können, garantiert, daß es überhaupt eine Einheit des Ästheti¬
schen, einen Begriff der Kunst gibt. Wenn wir also hier die Struktur dei von
der Gesinnung zum System organisierten Technik in bezug auf ihre
Geschichtlichkeit näher betrachten, so müssen wir betonen, daß es sich hier
nur um eine Analyse der abstrakten Möglichkeit handeln kann, das eigent¬
liche Feld dieser Analyse ist das System der Künste, wo jede einzelne Kunst¬
form auf die ihr allein zukommende, spezifische Qualität hin untersucht
wird, die die Relation der Formungsprinzipien zueinander in ihr aufnimmt;
diese Qualität, sowie der durch sie inhaltlich konkreter gewordene Begriff
[ i Uber den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit. Schriften über Kunst. Hrsg, von
H. Konnerth. München, Piper. 1913. Bd. 1. S. 185.]
182 Philosophie der Kunst
der Gesinnung bestimmen dann die Art der Geschichtlichkeit für jede
einzelne Kunstform - welche dann selbstredend für jede Form eine verschie¬
dene ist. Hier kann nur vom Prinzip, von der abstrakten Möglichkeit und
von den Grenzen dieses Verhältnisses die Rede sein.
Diese abstrakte Umrahmung der tatsächlichen historischen Typik bringt die
Variabilität der beiden Alternativen in der hierarchischen Gliederung des
technischen Systems zustande. Wie verschieden auch in jeder einzelnen
Kunstform die inhaltliche Erfüllung dieser Begriffe (Erscheinung und Wesen
etc.) sei, wie sehr diese Formen auch dadurch voneinander unterschieden
sind, ob in dem endgültig einheitlichen System der Technik die Gesinnungs¬
alternative vor der rein technischen das Primat hat (Drama) oder umgekehrt
(Malerei), wie sehr es auch die einzelnen Kunstformen voneinander trennt,
welche Qualität den hierarchisch untergeordneten Elementen im Verhältnis
zu den herrschenden zukommt, so ergibt sich aus dem unlösbaren Zusam¬
menwirken der beiden Alternativpaare doch nur eine viergliedrige Typik als
Schema der möglichen Variabilität: Primat des Wesens mit der Alternative
der technischen Vorherrschaft des Umrisses oder des Aufbaus von innen
heraus und Primat der Erscheinung, mit derselben Alternative in der
weiteren Gliederung. Diese Typik ist in ihrem innersten Wesen geschicht¬
lich: während in der Typik des Materials der abstrakte Begriff der Gesin¬
nung nur als Prinzip der Differentiation überhaupt mit den rein ästhetischen
Prinzipien in Berührung trat und dadurch die Typik überhistorisch-abstrakt,
ihre tatsächliche Verwirklichung geschichtlich-irrationell wurde, ist hier die
Gesinnung nicht nur das formende Element dieses Systems, sondern auch an
und für sich eine konkrete, von Inhalten erfüllte Form, weshalb die durch sie
hervorgebrachte Typik zugleich und in unzertrennbarer Weise geschichtlich
und zeitlos ist. Ihre Zeitlosigkeit ist jedoch nicht mehr —wie in der Typik des
Materials — ein abstrakter Rahmen der Verwirklichung, der deshalb dem
immer »Neuen« der tatsächlichen Verwirklichungen gleichgültig gegen¬
übersteht, sondern der die Vollendung der Gestaltung garantierende
Gesichtspunkt, der ganz dasselbe umfaßt wie der - die Konkretheit der
Gestaltung begründende — Gesichtspunkt der Historizität. Das Kunstwerk
ist das Zeitlos-werden eines ganz bestimmten Zeitmoments: diese Eigen¬
schaft des ästhetischen Werts wird hier begreiflich. Die Idee des Kunstwerks
(worunter jetzt die der einzelnen Kunstform zu verstehen ist) umfaßt in
ihrer zeitlosen Wesenheit jede Möglichkeit ihres Erscheinung-werdens in
dem geschichtlichen Ablauf; sie wählt, so könnte man sagen, von allen
möglichen Erlebnisformen, die in unbegrenzter Variabilität stets als »neue«
Geschichtlichkeit und Treulosigkeit 183
in dem historischen Prozeß auttreten, diejenige, als allein für sie relevante,
aus, die den Anforderungen dieser Typik gemäß sind. Diese verlieren
dadurch keineswegs ihren historisch-»neuen«, einmaligen und unvergleich¬
baren Charakter — bekommen aber zugleich damit den Accent: von Ewig¬
keit her für das Zeitloswerden in der ihnen angemessenen Kunstform präde¬
stiniert gewesen zu sein. Da es sich hier um das Verhältnis von Formen
zueinander handelt, kann die Fragestellung zweiseitig sein. Es können
erstens die Erlebnisformen einer Zeit (unabhängig von der Kunst gedacht)
analysiert und typisiert werden, um dann zu fragen: welchen von den Kunst¬
formen vorgeschriebenen Gesinnungen diese Erlebnisformen entsprechen
und inwiefern sie auf eine bestimmte Kunstform hinweisen: welchem der
dort möglichen Typen sie angehören und welche qualitative Variation sie
innerhalb dieser Typik hervorrufen? Es kann also historisch-soziologisch
nach der Möglichkeit der Verwirklichung der verschiedenen Kunstformen
und ihrer Typik gefragt werden, und es können »Bedingungsgesetze« aufge¬
funden werden, unter welchen historisch-soziologischen Voraussetzungen
gewisse Kunstformen (oder gewisse Gesinnungstypen innerhalb der Kunst¬
formen) möglich sind etc. Es kann aber von dieser Typologie der Gesinnung
aus auch nach den Bedingungen der Realisation gefragt werden. Es ist
möglich, vom Begriff einer Kunstform ausgehend, die Möglichkeiten der
Gesinnungen zu untersuchen, die die Systematisation und damit die
Konkretheit ihrer Technik zu leisten fähig sind, um von dort aus bei den
soziologisch-historischen Formen anzukommsn, von denen diese Gesinnun¬
gen abhängig sind. Eine Soziologie der Kunst, d. h. eine Lehre von den
Verwirklichungsmöglichkeiten der Kunstformen, das Auffinden von Gesetz¬
mäßigkeiten in der historischen Realisation des ästhetischen Wertes, ist also,
wenigstens als Denkmöglichkeit, nicht abzuweisen, ja sie ist als Bedingung
einer wirklichen und konkreten Erkenntnis des Komplexes: Kunst ein unab-
weisliches Postulat geworden. Allerdings setzt diese Soziologie ein vollende¬
tes System der Künste und die darin erkannte Struktur jeder einzelnen
Kunstform voraus.
Die »Gesetze« dieser Soziologie sind freilich negativ: Bedingungsgesetze;
sie können nur über die Möglichkeiten der Verwirklichung etwas aussagen,
nicht aber über die Verwirklichung selbst; sie können nur feststellen, welche
gefolgert werden. Die eigentümliche Struktur dieser Gesetze ist, daß sie
zugleich eine Norm und einen funktionellen Zusammenhang, keineswegs
aber ein Kausalverhältnis enthalten. Die Beziehung der Gesinnung als
Werkelement zu der Gesinnung als historisch-soziologischer Erlebnisform
ist eine normative: es wird von der Kunstform als ästhetischer Norm aus das
ihr entsprechende Sollen der Gesinnung gegenüber ausgesprochen, dem
Normcharakter dieser Beziehung entsprechend, ganz unabhängig davon, ob
in der Gesinnung die Möglichkeit der Realisation des Sollens enthalten ist.
Wenn hingegen von der historisch-soziologischen Wesenheit der Gesinnung
aus nach ihrer Relation zu den Kunstformen, welche für diese Betrachtung
unantastbare, von anderen Begriffsbildungen logisierte »Tatsachen« sind,
gefragt wird, so ergibt sich ein funktioneller Zusammenhang: es werden
miteinander homogene Formgruppen aufgefunden und es kann festgestellt
werden daß die eine nicht nur die unerläßliche Bedingung der anderen ist,
sondern auch, daß bestimmten feststellbaren qualitativen Änderungen in der
einen Gruppe ebenfalls feststellbare, mit ihnen gesetzmäßig zusammenhän¬
gende qualitative Änderungen in der anderen entsprechen. Damit ist aber
über Verursachung garnichts ausgesagt; nicht nur weil das Werk dann als
Produkt der Bedingungen erscheinen müßte, was es evidenterweise nicht ist,
auch nicht weil, wenn eine Kausalbeziehung da wäre, das Werk jedesmal
entstehen müßte, wenn die Bedingungen gegeben sind und keine Hemmung,
deren Typik aber dann auch auffindbar wäre, der Verwirklichung entgegen¬
tritt, sondern weil die Werkelemente, die zu den soziologischen Formen in
eine funktionelle Beziehung kommen, selbst nur Bedingungen der Realisa¬
tion des Werks und Bestimmungsprinzipien seiner Qualität sind, aber das
Werk selbst weder vollkommen zu konstituieren, noch hervorzubringen ver¬
mögen. Die Möglichkeit des Funktionsverhältnisses, daß beide Formgrup¬
pen einander homogen sind, stammt ja gerade daraus, daß beide Bedin¬
gungen der Verwirklichung, nicht aber diese selbst oder deren Ursache sind.
Daß d ie die Technik systematisierende Gesinnung den vollzogenen Sprung
voraussetzt und deshalb in sich birgt, gibt diesem Verhältnis ein einzigartiges
Cachet: trotz dieser Homogeneität und ohne Aufhebung derselben trennt
diese Beziehung zum Sprung die beiden Gruppen doch dem Wesen nach
voneinander. Dieser Unterschied ist das Bezogensein auf die Norm, das
Enthalten der Wertrealisation, woraus sich eine von der Norm aus begrenzte
und typisierte Möglichkeit der Variabilität ergibt, die für die andere, bloß
historisch bestimmte Gruppe nicht besteht; sonst sind die beiden Form¬
gruppen jedoch einander völlig homogen. Das Eigentümliche dieses Funk-
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 185
tionsverhältnisses ist nun erstens, daß es bloß einseitig ist, d. h. das rein
Ästhetische ist eine Funktion des Soziologischen - aber nicht umgekehrt;
zweitens daß der funktionelle Zusammenhang eine parallele und begreif¬
bare Qualitäts- und nicht Quantitätsänderung bei den Gliedern der Funk¬
tion bedeutet; drittens daß nicht jeder Veränderung im historisch-soziologi¬
schen Formkomplex eine Variation in der Werkgesinnung entsprechen muß.
Hier offenbart sich am stärksten der Gesetzescharakter dieses Verhältnisses:
es ist — unter den angegebenen Voraussetzungen - möglich, Aussagen von
restloser Allgemeingültigkeit darüber zu fällen, welche historisch-soziolo¬
gisch erkannten Erlebnisformen (und in Zusammenhang mit ihnen: welche
historisch-soziologischen Konstellationen überhaupt) die Realisation einer
bestimmten Kunstform, die Systematisation ihrer Technik ermöglichend,
zulassen und welche nicht. Es sind also — negative — Gesetze über die Entste¬
hungsbedingungen der einzelnen Kunstformen möglich, die aber unter kei¬
nen Umständen weder als Gesetze der Hervorbringung der Kunstform
gefaßt, noch als Bedingungsgesetze der Kunst überhaupt generalisiert wer¬
den dürfen. Es gibt also eine Soziologie der Künste, aber weder eine soziolo¬
gische Entwicklungsgeschichte der Künste, noch eine Soziologie der Kunst.
Diese negativen Bedingungsgesetze, die eigentlich nur die zuerst betonte
Alternative, die aus dem qualitativen Wesen der Technik folgt, daß sie
nämlich als System den Stoff entweder adäquat oder überhaupt nicht zu
gestalten vermag, anders aussprechen, leiten zu der zweiten, hier zu untersu¬
chenden Formbeziehung, zu der von Stoff und Aufgabe über. Die struktu¬
relle Eigenart des Stoffes ist - wie wir wissen - dadurch bestimmt, daß er, der
als Substrat der Technik seine Werkbedeutung erlangt, zur Einheit doch erst
durch seinen Formcharakter wird: die Einheit, die der Stoff als Summe und
Komplex der auszudrückenden und ausdriickbaren Inhalte besitzt, erhält er
von der Erlebnismaterie, die er als Form umfaßt, von der Aufgabe. Die
Aufgabe bedeutet also die den zu Stoff werdenden Erlebnisinhalten imma¬
nent eigene Ballungsintensität, ihre Hinneigung zum Geformtwerden, ihre
Eignung schon als Erlebnisse zur Bearbeitbarkeit durch künstlerische For¬
men: sie ist also eine Erlebnisform, ln der Phänomenologie wurde schon
mehrmals auf diese Beziehung hingewiesen: nicht nur in der beim Genie, als
Postulat der Möglichkeit des Werks, abgeleiteten harmonia praestabilita von
Erlebnisform und technischer Form ist diese Beziehung implicite enthalten,
sondern sie konkretisiert sich auch zu dem phänomenologischen Begriff der
Dissonanz. Da aber die Aufgabe eine Voraussetzungskategorie der nachkon¬
struktiven Psychologie ist und deshalb den Sprung als bereits vollzogen
186 Philosophie der Kunst
voraussetzt, ist ihr Wesen von dem der Dissonanz — ihrer phänomenologi¬
schen Parallele — geradeso verschieden, wie das Wesen der Gesinnung von
dem des »Standpunkts« verschieden ist. Die Differenz zeigt sich natürlich
hier wie dort in der weit engeren beziehung zum Werk: so wie der »Stand¬
punkt«, ist auch die Dissonanz wesentlich ein ordnendes Aprion der Erleb¬
niselemente, nach dessen Leistung erst (begrifflich gesprochen) die eigent¬
liche künstlerische Tätigkeit beginnen kann, während im Begriff der
Aufgabe selbst diese Leistung gewissermaßen schon enthalten ist. Jedoch —
und hier zeigt sich das inhaltlich Verschiedene dieser Beziehung von der
früheren als Lolge der Strukturdifferenz — die Leistung ist hier nur bis zu
einem gewissen Grade miteinbegriffen, da ja selbst die werkgewordene
Objektivität der Aufgabe, ihr Geformtsein durch den Stoff, nur das Substrat
der Formung ist, also bloß deren Möglichkeit. Die Dissonanz ist die Zusam¬
menfassung der Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt des bejahten Wider¬
sinnes, auf welcher Bejahung die Form beruht, und sie weist infolge dieses
ihres Wesens nicht auf die Kunst im Allgemeinen, sondern auf die einzelnen
Kunstarten hin, denn der Begriff des Widersinns bedingt die Konkretheit
seines Inhalts, er kann nur als bestimmter Widersinn, mithin als Möglichkeit
einer bestimmten Kunstart gedacht werden. Die Dissonanz ist deshalb das
principium specificationis der Kunst. Sie ist jedoch nur in dieser einen Bezie¬
hung richtungweisend: sie gibt die Punkte an, von welchen aus die künstleri¬
sche Tätigkeit einsetzen muß, welche aus dem allgemeinen Begriff der Kunst
sonst nicht ableitbar wären; sie durchdringt die Erlebniselemente mit der
doppelseitigen Unzertrennbarkeit von Sinn und Sein, wodurch erst die vom
»Standpunkt« aus geleistete Homogeneität der Erlebnisse für das Werk
fruchtbar werden kann, aber das konkrete Weitergehen auf das Werk selbst
kann in ihr nicht enthalten sein. Dieses Konkrete, Richtungweisende ist das
Wesen der Aufgabe: sie ist die erlebte Essenz dessen, was zu erfüllen die
Werke geschaffen werden, der Gehalt, der sich in der Einheit von Sinn und
Widersinn ausspricht, die erlebnishafte Vorwegnahme des utopischen Werk¬
weltinhaltes. Dadurch scheint der Begriff der Aufgabe sowohl dem der
Vision, wie dem des (receptiv-phänomenologischen) Leidens an der empiri¬
schen Wirklichkeit nahe zu kommen; von dem ersten trennt ihn jedoch, daß
er nicht eine subjektive Wirklichkeit ist wie die Vision, sondern ein objek¬
tives Postulat der Wirklichkeit gegenüber; von dem zweiten, daß er auf die
konkrete Erfüllung hindeutet und nicht bei dem bloßen Leiden oder der
Sehnsucht stehen bleibt. (Eine Verwandtschaft zwischen Aufgabe und recep-
tiver Sehnsucht ist indessen vorhanden, nur kann ihre Analyse erst später
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 187
aufgenommen werden; hier muß der Hinweis genügen, daß in der Aufgabe
eine nachkonstruktive und dementsprechend konkretere Parallele zu der
phänomenologischen Kontrollrolle, die der Begriff des idealen Receptiven
für den Schaffenden ausübt, vorliegt.)
Die Bestimmung der Aufgabe als objektives Postulat der Wirklichkeit
gegenüber bedeutet vor allem, daß hier der Punkt ist, wo sich das Problem
der »Einbeziehung« zu entscheiden hat. Bisher konnte diese Frage nur auf
die Möglichkeit ihrer Beantwortung hin untersucht werden (in bezug auf die
Ausdrucksfähigkeit des Materials), daß aber die Kunst überhaupt vor diese
Aufgabe gestellt wird, erschien bloß als Tatsache, denn ihr notwendiges
Auftauchen in der Phänomenologie bedeutet noch keine Notwendigkeit für
den Werksinn. Die Aufgabe kann aber als der Punkt bezeichnet werden, wo
Künstlerisches und Außerkünstlerisches sich treffen, wo das Lebenselement,
dessen »Einbeziehung« dem Werk den Wirklichkeitscharakter verleiht, als
Postulat dem Leben gegenüber auftritt. Der Inhalt dieses Postulats ist außer¬
künstlerisch: es wird ein Gebilde erfordert, in dem die Wirklichkeit, die
bereits auf die von der Dissonanz geschaffene Homogeneität eingestellt ist,
sich als sinnesdurchdrungen erweist; es wird eine Antwort auf Fragen gefor¬
dert, die das Leben stellt, auf Fragen, die — an und für sich — gar nichts mit
Kunst zu tun haben und selbst die Richtung, von der aus sie gestellt werden,
ist mit der der Kunst nicht identisch; man denke daran, wie die Tragödie
ideell als aus dem Postulat entstanden gedacht werden kann, für eine Schick¬
salsbeziehung, eine Beziehung ethischer Verhaltungsarten zueinander und
zu dem Weltlauf eine Klärung zu bringen. Die Objektivität dieses Postulats
ist aber rein künstlerisch: die Beantwortbarkeit der hier gestellten Fragen ist
an die künstlerische Stilisierungsmöglichkeit geknüpft, und deshalb werden
die Formen der Künste hier inhaltlich bestimmende Faktoren für Lebenspro¬
bleme; wie sehr auch die »Aufgabe«, vor die die Tragödie gestellt ist, ethi¬
scher oder metaphysischer Natur sei, ihre Lösungsmöglichkeit — auch ethisch
und metaphysisch — hängt von den Formen ab, die sie — nach rein immanent
ästhetischen Prinzipien — zu objektivieren fähig und berufen sind. (Man
denke auch an die Beziehung von Architektur und Religion.) Auch in der
Dissonanz liegt ein ähnliches Verhältnis des ästhetischen Prinzips zum
außerästhetischen vor; während aber dort nur das allerletzte Prinzip der
Form, der Punkt, von welchem aus die einzelnen Formen sich differenzieren,
als Einheit der beiden erscheint, indem eine — außerästhetische, lebenhafte,
weltanschauungsartige — Betrachtungsweise zum tiefsten Grund künstleri¬
scher Gestaltung wird, erscheint hier die ganze Fülle des zu Gestaltenden,
188 Philosophie der Kunst
Die hier erreichte Formung der Erlebnisse wird von einer anderen, wesentli¬
cher künstlerischen Form umspannt, wodurch die Einheit des außerkünstle¬
rischen Bedürfnisses mit den Erfordernissen der künstlerischen Formen zum
absoluten Gleichgewicht gebracht wird: während für die Aufgabe das
Außerkünstlerische primär und die Beziehung zur Kunstform nur implizite
vorhanden war, während für die eigentlichst künstlerischen Formungsprin-
zipien das Außerkünstlerische nur die Rolle eines Vorwands zum immanent
künstlerischen Gestalten spielt und nur eine Bereicherung und Erschwerung,
nur ein Substrat, aber nichts Gleichwertiges ist, ist der Stoff gerade der Teil
des ästhetischen Komplexes, wo diese beiden Elemente sich vollständig und
als ebenbürtige Bestandteile balancieren. Dadurch ist die Beziehung des
Stoffes zur Aufgabe, die wir von der formellen Seite als die von Umfassung
und Umfaßtem erkannt haben, näher bestimmt: infolge dieses Gleichge¬
wichtverhältnisses verliert der Stoff die scharfe und schroffe Selbständigkeit,
die die Aufgabe besitzt. Diese hat als Vorwegnahme der Werkessenz, in der
Prävalenz des Außerkünstlerischen ein so starkes Eigenleben, das sich fast
mit dem des Werks selbst vergleichen läßt, indem sie, als Postulat vor Werk
und Wirklichkeit stehend, beiden gegenüber auf sich zu beruhen scheint.
Dagegen macht das Ausgeglichensein der beiden Prinzipien den Stoff
physiognomielos, passiv, ohne Eigenleben: sein Wesen ist Substrat zu
werden; seine Tat ist, das zu Formende — ohne die Leistung der Technik
vorwegzunehmsn — in einen Aggregatzustand zu bringen, aus dem die
Werkwirklichkeit nur herauszulösen ist, in dem alles zu Schaffende
vorhanden ist, dem nur die ordnende Fiierarchie der utopischen Wirklich¬
keit, die Werkbeziehung des Künstlerischen zum Außerkünstlerischen, mit
allen seinen Verzweigungen, zur erreichten Vollendung fehlt. Der Stoff ist
alles für das Werk: denn in der Technik wird nur sein Wesen laut und diese
tut nichts Neues hinzu, läßt nur diesen laut werden; der Stoff ist nichts in
dem Werk: denn dieses baut sich auf die Selbstherrlichkeit der schaffenden
Formen auf, für die alles zu Schaffende nur ein Vorwand, nur eine Gelegen¬
heit ist, um ein in sich fertiges System ihrer Eigengesetzlichkeit aufleuchten
zu lassen, für die ein Stoff nur deshalb notwendig ist, weil ihre Offenbarung,
auf deren immanente Vollendung alles ankommt, eben irgendeiner Gele¬
genheit, eines Vorwandes bedarf. Daß diese paradoxe Rolle des Stoffes mit
seiner paradoxen Struktur — daß er durch seine formende Funktion zum
Substrat wird — eng zusammenhängt, ist hiermit deutlich geworden und es
ist jetzt auch wohl verständlich, warum das Richtungbestimmende des
Stoffes als Form nicht in ihm selbst, sondern in dem von ihm Geformten, in
190 Philosophie der Kunst
der Aufgabe liegen muß: die Entfernung vom »Leben« bei Beibehaltung, ja
Steigerung der Lebensfülle kann nur diese doppelte Formung hervorbringen
und garantieren, wo sich — vom Standpunkt des Schaffenden ausgedrückt —
das sub specie tormae erlebende Subjekt in den reinen Künstler, den Artifex,
und die harmonia praestabilita der Erlebnisform und der Werkform in die
von Stoff und Form verwandelt, wo jede Lebensnähe des Künstlers aufhört,
um ihn zum reinen Vollstrecker ästhetischer Werkgesetzlichkeiten zu
machen; wo — vom objektiven Werksinn aus gesprochen — die Immanenz des
Werks zur Wirksamkeit erwacht und jeden Faden, der es mit dem gebä¬
renden Leben verband, zerschneidet. Der Stoff ist der Punkt, wo Werk und
Leben sich am schroffsten voneinander abheben; gerade weil der Stoff —
inhaltlich — nichts enthalten kann als was aus dem Leben, im weitesten Sinn,
entnommen ist, hat er seinem Wesen nach, in seiner Substrat-Struktur, nichts
mehr mit dem Leben gemein: die Aufgabe wies noch, als Postulat, auf das
Leben hin (geradeso wie die Gesinnung aus ihm aufzusteigen schien), den
Stoff können — eben infolge seiner Passivität und Physiognomielosigkeit —
nur die schaffenden Formen der Kunst (die geradeso lebensfremde Technik)
berühren. Freilich offenbart sich an diesem Punkte wieder die aus den
Begriffen der harmonia praestabilita folgende Paradoxie des Genies, für das
der Stoff alles und nichts ist, aber beides zugleich und in einer nicht mehr
zertrennbaren Weise; für den Dilettanten ist der Stoff alles — und seine
Leistung fällt kraftlos und ohne eine eigene Immanenz zu erlangen ins
Leben zurück; für den Virtuosen ist der Stoff nichts — und was er zu voll¬
bringen meint, zerflattert in Nichts infolge seiner wesensleeren Immanenz.
Daß die Aufgabe ihrem innersten Wesen nach historisch ist, braucht vermut¬
lich nunmehr nicht bewiesen zu werden: so wie ihre Objektivität sich auf die
konkreten einzelnen Kunstformen bezog, so bezieht sich ihr Postulats¬
charakter dem Leben gegenüber auf das Konkrete des Lebens: auf die
unmittelbare historische Wirklichkeit. In der Aufgabe objektiviert sich die
spezifische Gestaltungssehnsucht des Zeitpunkts: das »Neue« am Kunst¬
werk; und dieses »Neue« wird infolge der strukturellen Beziehung der
Aufgabe zum Stoff — ohne etwas von seiner Wesensart zu verlieren oder sich
in dieser Ffinsicht abzuschwächen — zum Bestandteil des Stoffes. Im Gegen¬
satz zu der Formgruppe Technik-Gesinnung, die, wie wir sahen, teils eine
normativ- geschichtsphilosophische, teils eine soziologische (also mit Rickert
gesprochen: relativ historische) Struktur aufwies, kommen wir hier in das
Gebiet des rein Historischen. Und diese geschichtliche Umspannung der
Kunst ist hier so stark, daß selbst die konkrete Alleingültigkeit der einzelnen
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 191
strukturell erkennbar und damit ist der Begriff des Stoffes unabhängig von
seiner Bearbeitung auffindbar; seine Erkenntnis im Konkreten, seine Isolie-
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 193
des Essayisten, worüber später die Rede sein soll, trifft außerdem einen ande¬
ren Aspekt des Werks als die Erkenntnis des Historikers; also sind nicht nur
ihre Methoden verschieden, sondern jeder von ihnen setzt einen anderen Ge¬
genstand. Die Annäherung an den Standpunkt des Künstlers kann auchzur
Analyse der Technik führen, muß jedoch damit im Ahistorismus landen. Es
wuide indessen der Versuch gemacht, durch eine Analyse der rein technischen
Beschaffenheit des Werks, diese als Ausdruck des Künstlers und seiner Zeit
auffassend, zu einer gleichzeitig künstlerischen und historischen Stellung zu
den Werken zu gelangen. Insbesondere die vielen schwebenden Fragen in
der Bestimmung der Zugehörigkeit von Werken der bildenden Kunst (und
auch der Literatur) haben diese Methode entwickeln helfen; über ihre
eigentliche Struktur kann nur bei dem Persönhchkeitsproblem eingehender
gesprochen werden, hier muß die Feststellung genügen, daß das hier
Ei reichbare nur eine Hilfswissenschaft der Kunstgeschichte, nie aber diese
selbst sein kann. Alles was mit dem kennerhaften oder philologischen
Scharfsinn in bezug auf die Bestimmung von Hervorbringer und Entstehung
gewisser Werke geleistet werden kann, ist nur eine Klärung des Gegenstands
dei Kunstgeschichte, nicht aber diese selbst; die Kunstgeschichte verdankt
solchen Arbeiten unendlich vieles, sie kann aber als eigentliche Wissenschaft
erst dort beginnen, wo diese Forschungen aufgehört haben. Die Umgebung
des Stoffes also, die diese kennerhaften Untersuchungen kennzeichnet, kann
zur Lösung dieses Dilemmas nichts beitragen; ihre Methode selbst, wie
Lermoheff es immer betont und wie es neuerdings Vossler für die Sprachwis¬
senschaft mit großer Klarheit und Entschiedenheit hervorgehoben hat,
»darf . . . nicht historisieren, muß vielmehr streng naturwissenschaftlich ver¬
fahren«1. Inwiefern es sich hier um relativ historische Strukturen handelt und
in welchem Verhältnis sie zur eigentlichen Geschichte stehen, darauf kann
hier nicht näher eingegangen werden. Hier kam es nur darauf an, diese
Historizität des Werks nachzuweisen; auszuführen wie es um die wissen¬
schaftliche Erkennbarkeit derselben steht, wäre die Aufgabe einer Methodik
dei Kunstwissenschaften, welche an dieser Stelle .und in diesen Zusammen¬
hängen nicht einmal angedeutet werden konnte.
4-
Das Problem von Stoff und Aufgabe leitet notwendigerweise zur Analyse
der Bereitschaft über, auf deren Typologie wir jedoch hier nicht näher
eingehen können; der Receptive bedeutet in diesen Ausführungen immer
nur den einfachen Receptiven, die anderen Typen (Kenner, Kritiker etc.)
und ihre Stellungnahmen zum Werk können erst in der nachkonstruktiven
Psychologie eingehend untersucht werden. Die landläufige Beobachtung
vom »stofflichen Interesse« des Receptiven bezeichnet nicht bloß sehr
richtig sein tatsächliches durchschnittliches Verhalten den Werken der Kunst
gegenüber, sondern weist, wenn auch unbestimmt und widerspruchsvoll, auf
seine normative Beziehung zu ihnen hin. Einerseits ist nämlich bereits
erwähnt worden, daß in dem Begriff der Aufgabe (und hiermit in dem des
Stoffes) eine nachkonstruktive Parallele zur phänomenologischen Correk-
tivrolle des Receptiven vorliegt, andererseits folgt aus dem Sprung, der das
Werk vom Receptiven trennt, beziehungsweise mit ihm verbindet, aus dem
Mißverständnis als normativer Form des Aufnahmeprozesses, daß die
gestaltenden Formen der Kunst in der Wirkung nicht als Formen bewußt
werden, daß ihre entscheidende Wirksamkeit vielmehr darin besteht, rein
inhaltliche Effekte im Receptiven hervorzubringen. Freilich ist dieses
»Stoffliche« mit dem von uns analysierten Stoff keineswegs identisch: liegt
doch dessen Wesen gerade darin, Substrat der gestaltenden Formen, also -
noch — unberührt von ihnen, einer Gestaltung durch sie bedürftig und erwar¬
tend zu sein, während das »Stoffliche« der receptiven Wirkung Produkt des
künstlerischen Formungsprozesses ist. Dieses »Stoffliche« ist also die recep-
tiv-subjektive Spiegelung des objektiven Werkgehalts, des von den Formen
bearbeiteten, von ihnen aufgesogenen und - Schillerisch ausgedrückt -
vernichteten Stoffes. Die beiden Begriffe des Stoffes haben nicht nur ganz
verschiedene Strukturen, sondern auch ihre Inhalte sind keineswegs iden¬
tisch. Aus der phänomenologischen Analyse ist uns bereits bekannt, daß jede
gestaltende Form einen Ausdrucksgehalt per se besitzt (z. B. Materialität der
Technik, Stimmungswert des Materials etc.), welcher bei vollendeter Gestal¬
tung unlösbar und im unmittelbaren Erlebnis unerkennbar mit dem bearbei¬
teten Stoff verbunden ist; was also für den Receptiven zum »Stofflichen«
wird, ist der inhaltliche Niederschlag seines - von den Formen des Werks
geleiteten - Erlebnisses, das dem Umfang und der Intensität nach mehr
enthalten muß, als der Stoff an sich enthielt, wenn es auch andererseits,
wegen des Mißverständnisses, nicht die organisch geordnete Ballung des
196 Philosophie der Kunst
künstlerischen Stoffes besitzt. Dieser letzte Unterschied ist für die Struktur
des receptiven Erlebnisses sehr wichtig; denn während im Stoff die objektive
harmonia praestabilita zu den gestaltenden Formen vorliegt (der die subjek¬
tive Harmonie von Erlebnisform und technischer Form bei dem Schaffenden
entspricht), handelt es sich bei dem Receptiven um die harmonia praestabi¬
lita zwischen der dargebotenen und von ihm »mißverstandenen« Werkwelt
und seinen Forderungen an Angemessenheit der Wirklichkeit gegenüber. Da
aber diese Forderungen nur als Inhalte bewußt werden können, wenn ihr
Wesen auch gerade die formale Angemessenheit ist, und diese Inhalte mit
dem Werkgehalt nicht identisch sind, erhält die Haltung des Receptiven eine
gewisse Unabhängigkeit vom Werk, wodurch sein »stoffliches Interesse« -
welches eben als eine normative Beziehung zum Werk aufgezeigt wurde —
vom Werk, ja von der Idee der Kunst lostrennbar wird. Das Problem, das
hier entsteht, ist in gewissem Sinn eine receptive Parallelerscheinung zur
»Einbeziehung«. Wir sagten: im Stoff vereinigt sich alles Außerkünstleri¬
sche, um zum Substrat der gestaltenden Prinzipien des Künstlers zu werden,
für den er deshalb zugleich alles und nichts ist. In dem »stofflichen Interesse«
des Receptiven konzentriert sich alles, dessen vergebliches Ersehnen vom
Leben ihm die Kunst notwendig macht; hier ist nun - entsprechend der voll¬
kommen entgegengesetzten Art der Struktur - die Form alles und nichts
zugleich. Sie ist alles, denn es handelt sich hier nicht um die Schaffung neuer
Inhalte, sondern um Formen, welche den Erlebnisforderungen des Recepti¬
ven angemessen sind; sie ist nichts, denn diese Angemessenheit kann eben
nur als ein Dargebotenwerden von Inhalten, welche diesen Postulaten
entsprechen, überhaupt erfüllt werden. Die oben angedeutete Lostrennbar¬
keit dieses Verhaltens vom Werk, worin sich die bereits aus der Phänomeno¬
logie bekannte, im Vergleich zum Schaffenden lockerere Beziehung des
Receptiven zum Werk konkretisiert, bedeutet so viel, daß dieser inhaltliche
Niederschlag der formalen Angemessenheit sowohl in der Wirkung des
Werks sich vom Werk selbst verselbständigt, indem der Receptive diesen
»Inhalt« von den »Formen« zu trennen versucht, als daß er in scheinbarer
Unabhängigkeit von der Kunst überhaupt dem Leben gegenüber als Forde¬
rung auftritt oder sogar als etwas vom Leben Geleistetes erlebt zu werden
geglaubt wird. Daß die vom Receptiven vollzogene Trennung des Inhalts
von der Form auf einer vollkommenen Verkennung sowohl der objektiven
Werkstruktur wie der Formgestaltung beim Schaffenden beruht, bedarf
wohl keiner eingehenden Erörterung; wichtig ist bloß, daß die wesentlichen
gestaltenden Formen, freilich durch das Medium des Mißverständnisses
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit i97
getrübt, bei dieser Zweiteilung in das Gebiet des Inhaltes gehören, während
sie mit dem, was der Receptive als Form von seinem Inhalt lostrennt, so gut
wie nichts zu tun haben.
Es handelt sich hier also darum, daß dem Receptiven die Möglichkeit
gegeben ist, von sich aus inhaltliche Anforderungen in bezug auf die Erfül¬
lung seiner Sehnsucht an Werk und Wirklichkeit zu richten, und daß deshalb
nur solche Werke in ihm die zur Wirkung notwendige Bereitschaft vorfin¬
den, welche diesen inhaltlichen Postulaten genugzutun fähig sind. Diese
aber sind ihrer Natur nach individuell, und da sie gerade aus der konkreten,
unmittelbaren Individualität - die nur in der realisierten Bereitschaft zum
ästhetischen Subjekt wird — stammen, auch notwendigerweise historisch,
zeitgebunden. Sie drücken gerade das Unvergleichbare, Einzigartige, sich
nie wiederholende der historischen Individualität aus: in ihnen wird in rein¬
ster Weise laut, was sich ein bestimmtes Zeitalter inhaltlich unter Vollen¬
dung und Vollkommenheit vorstellt, was einem gewissen Zeitalter »gefällt«,
was »seinem Geschmack entspricht«. An diesem Punkt zeigt sich die größte
Entfernung des Receptiven von der künstlerischen Form und zugleich die
Beziehung dieser seiner Flaltungsstruktur zu der »Aufgabe«: auch hier liegt
eine Forderung der Wirklichkeit gegenüber vor und das Problem, das dem
Werke gestellt ist, ist diese Sehnsucht in einer, sie an Qualität, Intensität und
Reichtum übertreffenden Weise zu erfüllen. Wenn es nun auch unmöglich
ist, daß aus jedweder utopischen Gestaltung der Wirklichkeit, soweit diese
sich auf unmittelbare Erlebnisse richtet, die Beziehung zu den künstlerischen
Formen ganz ausgeschaltet sei, weil jede solche Utopie nur auf Grund der
formalen Angemessenheit an die Erlebnisformen und einer - wenn auch
noch so rudimentären oder fragmentarischen - Homogeneisierung der
Wirklichkeit in der Richtung dieser Angemessenheit und mithin in der Rich¬
tung einer bestimmten Gestaltungsform möglich ist, so ist hier doch das
Minimum an künstlerischer Form, oder besser gesagt das Maximum an
Zuriickdrängung und Verschwinden dieser Form aus den bewußten Erleb¬
nisfaktoren erreicht. Dadurch haftet diesen Gebilden eine vollkommene
individuelle Irrationalität an, welche sich in der allgemeinen, auch von Kant
aufgenommenen Meinung am klarsten ausspricht: »Es ist kein objektives
Prinzip des Geschmacks möglich«1, wobei unter Geschmack der unmittel¬
bare Impuls der Bereitschaft zur Wirkung im erlebenden Subjekt zu
[1 Kritik der Urteilskraft. § 34. Werke. Hrsg, von E. Cassirer. Bd. v. S. 359.]
198 Philosophie der Kunst
verstehen ist, welcher spontan und organisch von allen möglichen und wirk¬
lichen Erlebnisinhalten diejenigen auswählt, welche diesen Anforderungen
an die Wirklichkeit entsprechen, alle anderen aber, ebenso spontan und
organisch, von sich weist. Der Geschmack ist also rein individuell, weder
logisierbar, noch auf ein System zu bringen und bei seiner - so gefaßten -
absoluten Herrschaft sinkt das Subjekt in den Solipsismus der Erlebniswirk¬
lichkeit zurück: nicht nur daß es keine Gemeinsamkeit des Geschmackes
zwischen den einzelnen Individuen geben kann, sondern selbst der Zusam¬
menhang des so Erlebten mit dem Subjekt ist nicht mitteilbar, denn die
Gründe und Motive, weshalb etwas gefallt und etwas anderes abstößt,
können nie das eigentliche Wesen dieses Verhaltens treffen, bleiben stets
intellektuell und dem wirklichen Erlebnis gegenüber bloß inadäquate,
andeutende Zeichen.
Trotz dieser Irrationalität, oder gerade wegen ihr, spricht sich in dieser
Erlebnismöglichkeit des Receptiven seine Beziehung zur Geschichte aus: im
»stofflichen Interesse«, im »Geschmack« objektiviert sich der Begriff des
»Neuen« von dem Standpunkt des Rezeptiven aus betrachtet. Die Zusam¬
menfassung vieler solcher receptiver Erlebnisse bedeutet bloß ihre empiri¬
sche, geschichtliche Zusammenfassung und keine Systematisierung. Sie
bedeutet nur, daß gerade das unmittelbar erlebende Subjekt sowohl seinem
Erlebnisse wie seinem Erlebnisobjekte nach vollkommen historisch ist und -
solange es in dieser Unmittelbarkeit verharrt - auch über die Gebundenheit
an die zeitlich-örtliche Determination seines historischen Daseins nicht hin¬
ausgeht; sie bedeutet also, daß jeder Zeitpunkt und jeder Ort, ja letzten
Endes jedes Individuum etwas Unvergleichliches, Einziges und Eigenartiges
ist und jede begriffliche Synthese, wodurch ein solcher Inhaltskomplex als
»neu« bezeichnet wird, eben Werk der Abstraktion ist und daß es eine rein
historisch-methodologische Frage ist, wie weit die Abstraktion sich einerseits
vom Individuum entfernt und andererseits welche Spanne von Zeit und
Raum sie als letztes Element eines unaufhörlichen Wandels setzt. Diesem
receptiven Begriff des »Neuen« steht, ebenfalls als Wertbegriff des
Geschmackes - und in derselben Irrationalität und Unvergleichbarkeit - der
Begriff des »Alten«, des »Vertrauten« gegenüber (daß beide Pole vom
Geschmack sowohl als bejaht wie als verneint Vorkommen und daß diese
Geschmackswertung auch kein objektives Prinzip hat, ist selbstverständ¬
lich). Dieses »Alte« hat dieselbe Struktur wie das »Neue«; es ist geradeso
wie dieses ein individuell-historisches Gebilde von beständig wechselnder
Einzigartigkeit: es ist der Grund, von dem sich das »Neue« abhebt, die Welt
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 199
in die es bereichernd hineintritt, und keines von beiden ist ohne das andere
auch nur denkbar. Die von diesem Gegensatz umfaßte und konstituierte
Welt ist das Erlebnis sowohl der gewöhnlichen Wirklichkeit wie das der
Kunst. Wenn wir es hier, um es ganz rein zu fassen, in seiner möglichsten
Kunstferne betrachtet haben, so heißt das nicht, daß in dieser Welt der Kunst
eine untergeordnete, ja auch nur eine der Natur bloß nebengeordnete Rolle
zukommt. Das »Alte«, das »Vertraute« ist größtenteils aus dem Nieder¬
schlag des historischen Erlebniscontinuums der Kunst entstanden und wenn
das »Neue« sich davon abhebt, so handelt es sich um etwas Ähnliches, wie
wenn sich ein »neu« hervorgebrachtes Werk von den »alten« — in der
Analyse dieses Gegensatzes beim Künstler — abhob. Allerdings bloß um
etwas Ähnliches. Denn »neu« ist hier nicht das, was neugeschaffen wurde,
sondern was als Erfüllung der Geschmackssehnsucht »neu« erlebt zu werden
vermag — ganz unabhängig davon, ob es seiner Gestaltung nach »neu« odei
»alt« ist. So daß die rein historisch so wichtige Kategorie der bloßen
Existenz, das wertfreie Bestehenbleiben und Weiterwirken von Etwas, nur
darum, weil es nun einmal da ist, sich hier sehr stark mit dem Begriff des
»Neuen« berührt. Denn in der Wirkungsgeschichte der Kunst kann nur das
wenigstens teilweise als »neu« Erlebte eine Fortdauer der Existenz haben,
im Gegensatz zu anderen historischen Gebieten, wo das von der Receptivität
unabhängige historische Eigenleben des einmal Realisierten viel stärkei ist
(Institutionen). Wie weit sich ähnliche Verhältnisse auch in der Wirkungsge¬
schichte der Kunst nachweisen lassen, speziell dort, wo es sich um institu¬
tionsartige Bedingungen und Mittel der Wirkung handelt (Theater, Kirche etc.)
und inwiefern ihr Bestehenbleiben auf die Gestaltung und hiermit auch auf die
Wirkung von Einfluß ist, kann nur in Einzeluntersuchungen spezifischer Ge¬
biete entschieden werden: die Erlebbarkeit wird aber hier immer ein Grenz¬
wert bleiben, und ein Minimum am - wenn auch conventionell getrübten und
verkümmerten — »Neuen« als erlebnishafte Voraussetzung des Bestehen
bleibens von einem ästhetischen Komplex nachweisbar sein. Während aber
die historisch relevante Ablaufsreihe bei dem entsprechenden Gebiet des
Schaffenden mit dem tatsächlichen Ablauf wesentlich identisch ist und des¬
halb jedes Werk als »neu« nur einmal vorkommt, ist hier diese Reihe - oder
besser gesagt: die ständig wechselnde Gruppierung des »Alten«, die eine
Folie zum »Neuen« bildet - von dem Nacheinander des Entstehens vollkom¬
men unabhängig und jedes Werk kommt unzählige Male als »neu« vor.
Auf diesen Begriffen des »Alten« und des »Neuen« beruht die geschichtliche
Erkennbarkeit dieser Beziehung. Indem die sich inhaltlich vollziehende
200 Philosophie der Kunst
Wandlung dieser Begriffe auf die Werke projiziert wird, gelangen wir zu
dem Begriff einer Wirkungsgeschichte der Kunst, deren Gegenstand die
Untersuchung sein wird, welche Kunstwerke in einer bestimmten Epoche als
»neu«, als wirkungsfähig empfunden werden und welche inhaltliche Erfül¬
lungen sie dadurch erhalten; d. h. warum sie als »neu« empfunden worden
sind. Von ebendemselben Ausgangspunkt kann man auch zu einer Sozio¬
logie der Wirkung fortschreiten, indem auf die sozialen Gemeinsamkeiten
zwischen Zeittendenzen, sozialen Strukturen und »Neu«-heitsforderungen
der Kunst gegenüber reflektiert wird, und geradeso wie beim Schaffungs¬
prozeß ist das Aufstellen funktioneller Bedingungsgesetze für mögliche Wir¬
kungen auch hier denkbar. Die Problematik jeder geschichtlichen wie sozio¬
logischen Betrachtungsart zeigt sich hier darin, daß für sie nur die tatsäch¬
liche Wirkung oder Unwirksamkeit der Kunstwerke als Ausgangspunkt
gegeben ist und die Frage, ob das Nichteintreten einer Wirkung am Werk
selbst oder an der nicht realisierten Bereitschaft des Receptiven liegt, ist von
ihren Voraussetzungen aus und mit ihren Begriffsbildungen nicht beant¬
wortbar. In der realisierten Bereitschaft erhält zudem der Begriff des
»Neuen«, ohne das früher Dargelegte zu verlieren, auch noch eine andere
Betonung: es wird zur hinreißenden und unmittelbaren, überraschenden
und überwältigenden Erfüllung der Sehnsucht des Receptiven, zu seinem
Herausgerissenwerden aus dem gewöhnlichen Leben und seinem Emporge¬
hobenwerden darüber; es ist ein Sprung in der Erlebnisreihe des Receptiven
und deshalb auch in bezug auf diese Reihe »neu«. Und sein coordinierter
Gegenbegriff ist nur ein verstärkender Kontrast zum blitzartig den Erlebnis¬
fluß unterbrechenden »Neuen«; er bestärkt nur den Eindruck, als ob das im
Werk Gestaltete bloß die Erfüllung von etwas wäre, was der Genießende
von der Wirklichkeit selbst eigentlich immer erwartet hatte und dessen
Fehlen der Grund seines Enttäuschtseins und Leidens an ihr war. Das
Entscheidende und Positive bleibt aber hier das »Neue«.
5-
Diese Tatsache führt uns zum rein Ästhetischen, zum Werksinn zurück. Die
Analyse des Receptiven zeigte uns, daß jedes Werk unendliche Male als
»neu« Vorkommen kann, wenn aber dieser Tatbestand vom Werk aus
betrachtet und das Sein der Wirkung auf ihre Beziehung zum Sollen unter¬
sucht wird, so gelangen wir zu dem allgemeinen Wirkungspostulat des
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 201
Werks, worin sich das Spezifische der Geltungsart des ästhetischen Werts am
deutlichsten ausspricht: iedes Werk muß für jede Bereitschaft als »neu«
Vorkommen können. Oder allgemeiner noch: die Ewigkeit des Werks
bedeutet, daß es zu jeder Zeit in der vom receptiv-ästhetischen Subjekt reali¬
sierten Bereitschaft die normativ vorgeschriebene Wirkung hervorbringen
kann, daß es also unabhängig von dem Zeitablauf diese Wirkung haben soll.
So erscheint das »Neue« in der Wirkung des Werks als Geltungsqualität des
ästhetischen Werts, so daß sein zeitloses Wesen normativ mit seinem Gewur-
zeltsein in der geschichtlichen Realität verbunden ist. Die Paradoxie der
Geltung des ästhetischen Wertes offenbart sich in der Frage, wie es möglich
ist, die Wirkung des Werks als realisiertes Gelten zeitloser Normen zu
fassen, wenn sie nicht nur bei jedem Werk, sondern bei jeder Wirkung
desselben Werks total verschieden ist, und gerade diese Unvergleichbarkeit
eine Folge des Wertes selbst ist. Die Antwort auf diese Frage kann uns nur
der schon öfters analysierte Begriff des Mißverständnisses als normativ
vorgeschriebener Wirkung des Werks bieten. Das Mißverständnis bedeutet,
wie wir wissen, daß im Erlebnis des Werks der Ästhetisch-Receptive nicht
den »wahren« Gehalt des Werks in sich aufnimmt, noch etwa dessen innere
Struktur durchschaut, sondern daß in ihm, aus den eigenen Erlebniselemen¬
ten, die prinzipiell nicht mitteilbar und von unvergleichbarer Qualität sind,
eine in sich geschlossene Welt entsteht, die der Receptive als das Werk, also
als etwas von ihm Unabhängiges erlebt. Da dieses Werk in einer, ihm nicht
bewußtwerdenden Weise nur seine eigenen Erlebnisinhalte und seine eigene
Erlebnisqualität enthält, bedeutet es für ihn die gerade ihm entsprechende
und gerade ihn erfüllende utopische Wirklichkeit. Die Allgemeinheit des
ästhetischen Wertes besteht also nicht darin, wie für jeden anderen Wert,
daß das Subjekt auf das Allgemeine der Norm bezogen wird, entweder
indem seine Subjektivität aufgehoben (Logik), oder der Norm — bei Beste¬
henbleiben des Subjekt-seins — untergeordnet wird (Ethik), sondern in einer
solchen Beschaffenheit des realisierten ästhetischen Wertes, des Werks, die
es gestattet, daß dieses Verhältnis zwischen Subjekt und Wert jedem Subjekt
gegenüber möglich werde. Diese Allgemeinheit hat die künstlerische Form
zu leisten und sie leistet sie durch ihre, das Mißverständnis hervorrufende
Fähigkeit: die Allgemeinheit des Werks ist eine formale; sie ist das Schema
jedes möglichen Mißverständnisses. Hier erleuchtet sich der Satz, daß für die
Ästhetik die einzelne Kunstart und innerhalb deren Bereich das einzelne
Kunstwerk, und nicht die Kunst überhaupt das wirklich Konkrete ist, am
hellsten. Jede Kunstart bedeutet die Notwendigkeit eines homogenen einge-
202 Philosophie der Kunst
stelltseins der Welt gegenüber; als gestaltende Form: die Möglichkeit für den
Aufbau einer Welt, die bei Voraussetzung und Acceptierung dieser Einstel¬
lung eine immanente Vollkommenheit bedeuten kann; als receptiv mißver¬
standene, wirkende Form: die Gesetzmäßigkeit der Schemata, welche die
Typik der möglichen Mißverständnisse regelt, das Symbol einer immanen¬
ten Ordnung überhaupt, die sich von einem bestimmten Gesichtswinkel aus
ergeben muß. Denn die Möglichkeiten der Einstellung der Welt gegenüber,
deren notwendige Projizierung in das Werk das Mißverständnis hervor¬
bringt, sind wenn auch irrational und nicht systematisierbar, dennoch nicht
einer völligen Anarchie preisgegeben. Nicht nur weil dann der Übergang
von dem spontanen Solipsismus der Erlebniswirklichkeit in die theoretischen
wie praktischen konstruiert eindeutigen Gebiete unmöglich wäre — deren
Da-Sein mithin schon ein Beweis dafür ist, daß der absolute Solipsismus nur
an die Spontaneität als Mitteilungs- und Erlebnisform, nicht aber an die Idee
des Mensch-seins überhaupt gebunden ist —, sondern auch weil die Zahl der
unmittelbaren Einstellungen der Wirklichkeit gegenüber nicht unbegrenzt
und nicht ohne Typik ist. Sie ist erstens durch die numerische Begrenztheit
der aufnehmenden Organe bestimmt, jedoch auch innerhalb deren bereits
endlicher Typik gibt es nicht unzählige oder beliebig variable Möglichkeiten
des Eingestelltsems, wenn als dessen Folge eine immanent geschlossene und
in sich sinnvolle Welt gefordert wird. (Hierauf beruht das System der
Künste, worüber an anderer Stelle ausführlicher zu sprechen sein wird.)
Dem unmittelbaren Erlebnis des Receptiven gegenüber jedoch, wovon jetzt
die Rede sein soll, ist auch die einzelne Kunstgattung eine Abstraktion: er
steht nur vor den einzelnen Kunstwerken und es fragt sich, wie die eben skiz¬
zierte Beziehung des Allgemeinen zum Einmalig-Spontanen hier zu denken
ist. Das Prinzip der Allgemeinheit im Werk ist natürlich die Form, die ist
aber hier nichts Abstraktes mehr, sondern das Organisationssystem eines
konkret-einmaligen Stoffes, welches, infolge der prästabilierten Harmonie
zwischen Stoff und Form, dessen Einmaligkeit und Konkretheit teilt, ja von
ihm nicht einmal gedanklich zu trennen und in eine dem Stoff nicht zukom¬
mende Region der Abstraktheit und Allgemeinheit zu versetzen ist. Die
Rolle der Form in diesem Prozeß ist ebenfalls, Schema jedes möglichen
Mißverständnisses zu sein, dieses Schema richtet sich aber nicht mehr bloß
auf die Organisationsmöglichkeit eines Eingestelltseins dem Leben gegen¬
über, sondern auch auf die Möglichkeiten der inhaltlichen Erfüllung, welche
sich in bezug auf die Mitteilung eines bestimmten Erlebniskomplexes (des
bearbeiteten Stoffes, des Gehalts) ergeben können. Selbst die mißverstan-
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 203
stärker hängt aber die Möglichkeit ihrer Verwirklichung von dem Bestehen¬
bleiben dieser konventionellen Formen im Aufnehmenden ab. Damit die
Wirkung von dieser Gebundenheit frei werde, müssen an Stelle dieser Sche¬
mata Formen treten, welche in der Linie der Intensitätssteigerung, die von
der Fdomogeneität des bearbeiteten Stoffes abhängt, hegen; die konventio¬
nellen Formen müssen entweder ignoriert oder aber von den neuen Erlebnis¬
formen aufgesogen werden. Diese Gestaltung schließt eben deshalb selbst
die annähernde adäquate inhaltliche Identität zwischen Mitgeteiltem und
Aufgenommenem, welche von den soziologisch-historischen Konventionen
der Zeitgenossenschaft stets gewährleistet wird, aus, oder sie werden für die
Gestaltung ganz gleichgültig: inhaltlich geradeso inadäquate Reaktionen,
wie die anderen, auf deren Grad an Inadäquatheit es jedoch gar nicht
ankommen kann, da bloß die Intensität der Wirkung für die Absicht von
Belang ist. Ein Werk wie der König Ödipus des Sophokles kann hier als
deutlichstes Beispiel dienen. Es ist wahrscheinlich, daß es zur Zeit seiner
Entstehung als Ausdruck aktuell empfundener, inhaltlich definierbarer Pro¬
bleme und Erlebnisse galt. Seine wahre Wirkung verdankte es jedoch
trotzdem der eigenartigen und vollendeten Organisation des Stoffes, in der
sein technischer Aufbau zum Ornament eine[r] Schicksalsbeziehung über¬
haupt geworden ist. Mag nun diese Beziehung seinerzeit eine aktuelle und
als aktuell wirksame gewesen sein — heute können wir diese Inhalte selbst
wissenschaftlich kaum mehr rekonstruieren und sicherlich wird sie kein
Mensch mehr nacherleben können; daß die Tragödie dennoch mit unver¬
minderter Intensität wirkt, verdankt sie dieser Formung, durch welche in ihr
das ewige Sinnbild der schicksalverstrickten Helden erscheint; und dieses
Schema erfüllt jede Zeit mit ihrem Helden und ihrem Schicksal - und jedes
Mißverständnis paßt in den Aufbau, jedes wird mit der gleichen Intensität
des Erlebens vom Drama zu Ende geführt.
So steckt die »Tiefe« des Hamlet in der unvergleichlichen Genialität, mit der
seine Handlung aufgebaut ist; alle inhaltlichen Motive wie absichtlich im
Dunkel lassend, dafür mit desto farbenstärkerer Plastik das Schicksals¬
moment herausarbeitend: den Menschen, der seine Tat nicht tun kann, der
sie nur am Ende, an ihr zu Grunde gehend, vom Zufall ihr zugeführt, zu
erreichen vermag. Gerade weil sich hier Unbestimmtheit des Inhalts mit
Klarheit der Form vereinigt, entsteht die Tiefe: die Erschütterung des
Receptiven veranlaßt ihn hier, die letzten Motive seines Nichthandelns,
oder die seines Volkes, seiner Zeit zu erleben und als den Sinn Hamlets zu
erblicken. Immer wurde Hamlet als »tief« erlebt; immer aber war der Sinn
20 6 Philosophie der Kunst
historischen Zeitablaufs aus diesem Strom heraus und verleiht ihm das Über¬
dauern der Zeit, erhebt ihn in eine Region jenseits der Zeit, ohne ihm den
Duft und das Cachet, den Zauber und den Schein der Vergänglichkeit zu
nehmen, den er gerade dieser seiner Augenblicklichkeit verdankt. Darum
hat Schelling tiefer und künstlerischer als alle anderen Ästhetiker, die im
Anschluß an die Ideenlehre die Erklärung des Werks suchten, sein Wesen
erfaßt, da er es unzertrennlich mit der Mythologie verknüpft sah. Denn wie
sehr man auch die Beziehung der Ideenlehre zum Kunstwerk zu verfeinern,
ihr alles Abstrahierende abzustreifen versucht, immer wird die Idee, deren
Abbild oder Gegenbild das Werk sein soll, hoch über das Zerbröckeltsein der
Emanation im Zeitablauf thronen; um den Weg dazu zurückzufinden,
müßte das Werk nicht nur jeden Erdenrest von sich abschütteln, sondern
auch vergessen machen, daß es aus der Zeit stammt und - wirkend - in die
Zeit zurückstrebt; es müßte abstrakt werden und seine formelle Tiefe und
Allgemeinheit mit einer inhaltlichen vertauschen: statt ein Schema aller hier
möglichen Erlebnisse zu sein, müßte es die Allgemeinheit des Erlebnisses
inhaltlich — und deshalb enger und trivialer — ausdrücken, es müßte inhalt¬
lich »allgemein menschlich« werden, statt für jeden Menschen die eigene
konkrete Erfüllung zu sein. Die Form, zu deren vollkommener, erdenferner
Reinheit jeder Platonismus der Ästhetik strebt und streben muß, kann nur
dann Herrin über den Stoff werden, wenn sie ihm dient, wenn sie sich in
vollendeter Gleichartigkeit ihm anschmiegt und nur sein eigenstes Wesen
aus dem Chaos zur Klarheit, von der Stummheit zum Lautsein zu bringen
scheint; sobald sie ihn zu vergewaltigen, ihm eine wurzelfremde Zeitlosig¬
keit zu verleihen sucht, wird sie ihn nie »vernichten« können, muß ihn viel¬
mehr im rohen und unvermittelten Stadium der Unerlösbarkeit verharren
lassen. Wenn Schelling die Mythologie als apriorischen Stoff für die Kunst
fordert, so hat er deren konkrete Wesenheit klarer erfaßt, als sie je vor ihm
erfaßt wurde; daß »die Schönheit ... ist überall gesetzt, wo Licht und Mate¬
rie, Ideales und Reales sich berühren. Die Schönheit ist weder bloß das
Allgemeine oder Ideale . . . noch das bloß Reale . . ., also sie ist nur die voll¬
kommene Durchdringung oder Ineinsbildung beider. Schönheit ist da
gesetzt, wo das Besondere (Reale) seinem Begriff so angemessen ist, daß
dieser selbst, als Unendliches, eintritt in das Endliche und in concreto ange¬
schaut wird1.« Nur das mythologisch Gewordene besitzt eine geschichtliche
Ewigkeit, nur ihre Inhalte können entstanden und dem Untergang geweiht
und dennoch in einem Jenseits des gewöhnlichen Zeitablaufs verweilend
gedacht werden.
Es fragt sich bloß, ob dieses Mythologische, soweit es als ästhetisches Erleben
in Betracht kommt, und weder zum Gegenstand des religiösen Erlebnisses
noch der metaphysischen Spekulation wird, ein Stoff oder eine Form ist. Das
Formale daran entgeht natürlich auch Schelling nicht. Er sagt: »Die Mytho¬
logie ist . . . selbst schon Poesie und doch für sich wieder Stoff und Element
der Poesie«1. Wie ist das möglich? Dem Dilemma, vor das hier jede nicht
platonisierende, sondern das rein ästhetische Wesen der Kunst suchende
Kunstphilosophie gestellt ist, daß nämlich die Mythologie entweder erst in
der Gestalt der Kunst entsteht, oder aber daß die Funktion der Kunstform
nur eine Trübung der religiös-metaphysischen Wahrheit ist, entgehen Schel¬
ling und alle romantischen Erneuerer der Ideenlehre, indem sie die receptive
wie die produktive Kunsttätigkeit mit der Erkenntnis der Wahrheit, mit dem
Erschauen der Ideenwelt gleichsetzen. »Jedes Kunstwerk — sagt Schopen¬
hauer— ist demgemäß eigentlich bemüht, uns das Leben und die Dinge so zu
zeigen, wie sie in Wahrheit sind, aber, durch den Nebel objektiver und
subjektiver Zufälligkeiten hindurch, nicht von jedem unmittelbar erfaßt
werden können. Diesen Nebel nimmt die Kunst hinweg.« ». . . ihr Zweck
[ist] die Erleichterung der Erkenntnis der Ideen der Welt«2; und Schelling:
»Schönheit und Wahrheit sind an sich oder der Idee nach eins . . . Die Wahr¬
heit, die nicht Schönheit ist, ist auch nicht absolute Wahrheit, und umge¬
kehrt3«. Damit ist aber jede eigenkräftige Leistung der Form geleugnet: es
ist eine an sich schöne und wahre Welt da, jenseits jedes Eingesperrtseins in
Raum und in Zeit, in die man hineinzulangen hat, und das Kunstwerk kann
dabei behilflich sein, den Weg zu diesen verschütteten Urbildern der Dinge
zurückzufinden (Schopenhauer spricht on der »Idee seiner Gattung«, zu der
das Ding in der Anschauung des »reinen Subjekts des Erkennens«4 des ästhe¬
tischen Subjekts wird), es ist aber durchaus nicht der einzig mögliche Weg
zu ihnen. Diese Welt kann einerseits in keiner, noch so paradoxen Weise
historisch sein, was sie als Mythologie sein sollte, geradeso wie etwa ein
2 Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke. Hrsg, von E. Griesebach.
Leipzig, Reclam. 2. Abdruck. Bd. 11. S. 476-7 und 479.
3 Philosophie der Kunst. § 20. S. 384-385.
4 Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 1. S. 245.]
209
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit
einer Ideenlehre nur als Trübung und Fälschung erscheinen kann. Wenn für
Schopenhauer der ästhetisch Erlebende ». . . zieht . . . die Natur in sich
hinein, so daß er sie nur noch als ein Accidenz seines Wesens empfindet«1,
wenn hierfür diese Verse Byrons als Beweis dienen sollen.
Are not the mountains, wawes and skies, a part
Of me and oi my soul, as I of them?2
so mußte er dabei übersehen, daß hier nicht etwa das »Wesen« der Natur
erlebt wurde, sondern die Ausdrucksmöglichkeiten des Lyrikers - die
Umsetzung jeder Dinghaftigkeit in Stimmung, jedes Objekts in seinen rem
subjektiven Erlebnisreflex - der Phänomenologie dieser Form gemäß ausge¬
sprochen und als Erlebnis gestaltet wurden. Daß hier geradesowenig von der
Idee des Berges der sie verdeckende Schleier weggezogen wurde als wenn
etwa ein Berg bei Cezanne in der Schwere seiner struktiven Dinghaftigkeit,
bei Dirk Bouts als eine Kostbarkeit gleichartig und gleichwertig des Goldes
und der Edelsteine, die die heiligen drei Könige dem Heiland bringen, bei
Perugino als Vehikel zum Aufbau eines weiten und treien Raumes, als icin
architektonisches Element, bei Henri Rousseau als ein rührendes Spielzeug,
bei Giotto als Begleiter einer Handlung, bei Lorenzo Monaco als zum
Skelett reduziertes Symbol seiner formalen Beschaffenheit erscheint. I iii
jede Form, für jedes Werk entsteht eine neue Welt, die mit keiner dci
anderen etwas gemein haben kann, die aber so beschaffen sein muß, daß sie
erlebt werde, als ob der Receptive jetzt erst die Wiedererinnerung an die
verdeckten und verborgenen Urbilder aller Dinge erhalten hätte, als ob ihm
erst jetzt die Legende von der Weltschöpfung oder von den Wundern dei
erschaffenen Welt erzählt würde. Die vollendet geleistete Form macht die
von ihr geschaffene Welt legendarisch, zum Märchen. »Das Mäichen ist
gleichsam der Kanon der Poesie«2, sagt Novalis. Die Mythologie ist also
nicht der apriorische Stoff der Kunst, sondern jede wirklich erreichte Form
erschafft eine, an unmittelbarer Wirkung und ästhetischer Wesensart dem
Mythologischen verwandte Welt: eine vollkommene Welt, die in ihrer sinn¬
lich unmittelbaren Wirklichkeit jeden Schmerz und jedes Leiden zum
Schweigen bringt, sie in jenem wahren Sinne aufhebt, daß die ihr entströ¬
mende, unendliche und doch in ihr bleibende Freude gerade aus diesem Leid
und diesem Schmerz quillt; eine vollkommene Welt, die in unabweisbarer
Gegenwärtigkeit da ist und dennoch aus einer anderen Region, die der
Vergänglichkeit des Moments »Gegenwart« entrückt ist, herabzusteigen
scheint; eine utopische, ewig gewordene Wirklichkeit, deren Entstehen und
Vergehen aber, zur Legende geworden, mit ihrer Erscheinung unzertrenn¬
bar verwoben sind. Wie für die Mythologie die Meeresgeburt der Aphrodite,
das Enteilen der bewaffneten Pallas aus dem gespaltenen Schädel des Zeus,
das Zerrissenwerden des Dionysus und das frühe Ende des Adonis zu ihrem
unsterblichen Dasein, zur Idee ihrer Gottheit und Ewigkeit mitgehören, so
tragen alle griechischen Statuen, alle Liebeslieder der Troubadours, alle
Madonnen der Renaissance und die Romane von Tolstoy oder Dostojewsky
den Stempel ihrer Geburt, den Ort und die Zeit ihres Entstehens, den Glanz
und die Tragik ihrer Existenz mit in ihre Ewigkeit. Nur daß auch dieses
Entstehen zur Legende geworden ist und in jeder Neugeburt in jedem recep-
tiven Erlebnis mit der neuen Deutung dieser spezifischen Unmittelbarkeit
erfüllt wird. Es darf uns nicht irreführen, daß diese Umdeutung zweiter
Potenz sich nicht mehr in der Kunst selbst ausspricht — so wie die antike und
christliche Mythologie in den immerwechselnden Inhalten und Stimmungen,
die das Schicksal der Atriden oder das Geheimnis der Verkündigung erfüllen
und umgeben, immer von neuem wiedergeboren wurde. In den Werken
großer Essayisten und Historiker sind Griechentum und Mittelalter, Orient
und Renaissance bereits zur Legende, zum Mythos geworden und ihre, aus
den immer neuen Mißverständnissen ewiger Werke gespeisten inhaltlichen
Abweichungen sind nicht nur ein »Fortschritt der Wissenschaft«, sondern
eine Gestaltung dieser, von der Kunstform geschaffenen Mythologie. Doch
diese Umdeutbarkeit selbst gehört zum Wesen jeder Mythologie: sie ist nur
darum lebendig, weil sie eine sinnbildliche Spiegelung des Weltsinns bietet
und ist nur solange lebendig, als jede neue Deutung des Weltsinns nur eine
Neumotivierung der mythologischen Tatsachen bedeutet, solange diese in
einer unverrückbaren Faktizität, deren Evidenz ihre Erlebtheit bietet, daste¬
hen und die Wandlungen der Inhalte, von denen die Menschen bewegt
werden, nur ihre Motive, nicht aber ihre Existenz berühren. Das Mythologi-
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 111
sehe der vollendeten Form, deren Deutungswandel die Essayisten gestalten, un¬
terscheidet sich nur darin von der echten Mythologie, daß ihr innerster Sinn dar¬
auf und nur darauf zustrebt, was als dieses ewige Mißverständnis mit ihrer
Existenz normativ gesetzt ist. (Im Vorwort meines Essaybandes »Die Seele
und die Formen« ist diese Beziehung der Essays zum Werk näher analysiert.)
So baut sich aus den beiden historischen und mit Gegensätzen behafteten
Begriffen des »Neuen« — des schöpferischen und des receptiven —, durch ihr
normativ inadäquates Zusammenstößen als Werkpostulate, das »Neue« des
Werks selbst auf, das aber von den beiden subjektiven phänomenologischen
Begriffen völlig verschieden ist: es ist gegensatzlos. Dieses Neue ist weder
eine Überwindung der Gegensatzprinzipien, noch ein Jenseits der Gegensät¬
ze, sondern ihre Identität. Das Werk ist »neu«, weil seine Geltungsqualität als
Wert das Erlebnis des »Neuen« im Receptiven bedingt, weil das, wodurch es
entstanden ist, als Schema aller seiner möglichen Erlebnisse zur ewigen
Jugend in ihm erblüht ist und erhalten bleibt. Während aber sowohl schöpfe¬
risches wie receptives Erleben mit irgendeinem vorangegangenen Erlebms-
continuum, aus dem sie sich emporheben, kontrastieren, besitzt das Werk
ebenfalls als Geltungsqualität seiner Werthaftigkeit ein Als ob der Wieder¬
erinnerung. Tiefer und treffender als irgendeine die empirisch-psychologi¬
sche Tatsächlichkeit suchende Beschreibung haben deshalb die platonisie-
renden Ästhetiker die normative Wirkung des Werks beschrieben, wenn sie
darin ein Erschauen der Ideenwelt erblickt haben: jede Erscheinung ist als
Erscheinung zur Substanz geworden, denn ihr sinnlicher Wirkungswert ist
nichts als die Revelation ihres hier möglichen Wesens; jedes Ding ist seiner
Idee angemessen, denn es ist durch die Formung eine Welt entstanden, in der
nur die Identität mit der Idee den Dingen eine Existenz zu verleihen
vermag, in der Sinn und Vollkommsnheit dasselbe bedeuten. Daß dies keine
Erkenntnis, sondern ein Erleben, daß die erlebte Vollkommenheit nur eine
Vollendung sub specie formae ist, das ist die Folge der alleinigen konkreten
Realität der einzelnen Formen; daß dies aber nicht als Folge von Fiktionen,
sondern als Enthüllung des Weltsinns erlebt wird, ist von der absoluten
Immanenz, von dem reinen Fiktionscharakter dieser Formen verursacht. Nur
weil in dem Werk keine Spur einer wahrhaften Wiedererinnerung an die Urbil¬
der der Dinge sein kann, muß jede der Werkidee entsprechende Schöpfung ihrer
Gestaltung den eingeborenen Wiederscheineiner Ideenwelt verleihen. Das Werk
ist immer »neu«, weil es »alt« war als es entstand, und es steht jenseits des
historischen Zeitablaufs, weil es aus ihm entstiegen ist und ständig in ihn
wieder zurückkehrt.
2 I 2 Philosophie der Kunst
Aber nicht bloß den Zeitpunkt seiner Geburt reißt das gestaltete Werk mit
in die Ewigkeit seines Erlöstseins, sondern auch die Zeit des Ablaufs und den
Raum als Bühne. Während die Zeitlosigkeit der Logik jede Erinnerung an
ein zeitliches Nacheinander von sich weisen muß, und die Ethik Raum und
Zeit nur deshalb kennt, weil auch die von ihnen bedingte Begrenzung den
Abstand zwischen Mensch und Norm zu schaffen hilft, entzieht die ästheti¬
sche Gestaltung das Werk und sein normatives Erleben nur deshalb dem
Zeitablauf und isoliert sie nur deshalb vom empirischen Raum, um beide
Apnoritäten der Sinnlichkeit, gereinigt von ihrem entstellenden Ineinander
der Unmittelbarkeit und der Möglichkeit zur Abstraktion, auf einen rein
sinnlichen Sinn gebracht Wiederaufleben zu lassen. Es wäre oberflächlich,
hier bloß an die sogenannten zeitlichen und räumlichen Künste und noch
dazu in strenger Scheidung zu denken. Jede Kunstform, als vollendete,
unmittelbar und sinnlich zu erlebende Wirklichkeit, muß ihren Raum und
ihre Zeit besitzen. Wie die erlebte Ewigkeit der mystischen Entrücktheit
kein abstrakter Gegenpol des Zeitablaufs ist, sondern nur eine, ihm völlig
heterogene Zeit, wie der von Gott besessene Mohamed alle Himmel durch¬
wandernd eine mythische Zeit erlebte, während sein umgestoßener Wasser¬
krug noch nicht seinen Inhalt entleeren konnte, so heben sich im Werk ein
Anfang und ein Ende, ein Ablauf und eine Dauer aus der Zeit heraus und
grenzen sich, in ihrer zeitlichen Struktur ewig geworden, gegen die empiri¬
sche Zeit ab. Und der Raum als Bühne und Enclave der Gestaltung schließt
sich ebenfalls nur infolge seiner struktiven Heterogeneität von dem des
gewöhnlichen Lebens ab, er ist aber ein Raum, so wie die Gefilde der Seli¬
gen, der Olymp, so wie die Sphären des christlichen Himmels, wie es die
Erlösungs- und die Verdammungsstätte, die Bühnen der letzten religiösen
Wirklichkeit für jede echte und erlebte Religiosität räumlich sind. Es wird
das Problem einer Darstellung der einzelnen Kunstformen sein, wie in jeder
von ihnen Raum und Zeit Vorkommen, inwiefern man etwas in Tempo und
Rhythmus, Gleichartigkeit und Abwechslung, mit denen man sich in einem
Bild zu bewegen gezwungen ist, einen Zeitbegriff der Malerei zu finden hat,
oder wie man die Raumgestaltung der Tragödie von der des Epos oder des
Märchens unterscheiden kann. Jede Form ist aber als sinnliches Universum räum¬
lich und zeitlich, und es wird die Aufgabe eines subtileren und künstlerische¬
ren »Laokoons« sein, die Künste nicht in bezug auf Räumlichkeit oder Zeit¬
lichkeit zu trennen, sondern jeder die ihr spezifisch eigenen Gestaltungsprin¬
zipien des Raumes und der Zeit zuzuweisen.
Geschichtlichkeit und Treulosigkeit
6.
Jede Kunstform ist ein Theodicee; sie stellt einen Erlösungsaspekt auf, indem
sie alle Dinge, die in ihrer homogenen Welt Vorkommen können, zu dem
ihrer Idee absolut angemessenen Dasein führt und zugleich in ein
Universum einstellt, das für ihr solches Ausreifen und Sich-Erreichen präde¬
stiniert zu sein scheint. Das ist die Idee der objektiven Abstandslosigkeit des
Werks, das Prinzip seiner immanenten Vollendung, wodurch es seine zeit¬
lose Geltung als realisierter ästhetischer Wert erhält. Diese objektive
Abstandslosigkeit jedoch, von der bis jetzt bloß in abstrakter Allgemeinheit
gesprochen werden konnte, zeigt bei näherer Betrachtung eine mehrglied¬
rige Typik, deren Prinzip das Werk noch einmal in die geschichtliche Wirk¬
lichkeit verankert: es ist das Prinzip des Stils, der Geschichtsphilosophie der
Kunst. Wir sagten: es muß im Werk eine innerlich abstandslose Welt
geschaffen werden, wo das Ganze für das Einzelne, das Gestaltungspi inzip
für das Gestaltete prädestiniert ist. Daraus scheint zu folgen, daß die Einheit
aller Dinge mit einfacher organischer Selbstverständlichkeit aus ihnen her¬
auswachsen muß, daß selbst die Spannungen in ihnen und die Hemmung der
Ordnung nur zur Förderung des organischen Wachstums und zum Eins¬
werden von nöten sind, daß deren Überwinden und Aufheben, so ernst sie
auch seien, wie ein Spiel gelingen muß und die eingeborene Einheit dei
Dinge keinen Moment wahrhaft zu gefährden vermag. Diese Denkmöglich-
keit scheint so sehr aus dem Wesen des Werks selbst zu stammen, daß sie
notwendigerweise für viele als einzig vorstellbarer Kanon der utopischen
Wirklichkeit des Werks vorkommt: als die einzig reale Erfüllung der Idee
der Kunst, der erreichten vollkommenen objektiven Abstandslosigkeit. Die
Idee dieser Abstandslosigkeit ist jedoch allgemeiner und foi melier, sie
bedeutet bloß ein sinnlich-sinnfällig gewordenes Heimfinden jedes einzel¬
nen Dinges in das Werkganze, in seine apriorische Heimat, ein Aufgeho¬
bensein jedes Abstandes zwischen Erscheinung und Idee, zwischen Teil und
Ganzheit, zwischen Eigenleben und Zusammenhang; ob dies aber in organi¬
scher oder abstrakter Weise geschieht, ob in der Idee der erreichten
Abstandslosigkeit nicht auch die Idee eines überwundenen odei überbi Lick¬
ten Abstandes etc. miteinbegriffen ist, darüber kann diese Bestimmung des
Werks nichts aussagen. Es wäre eine inhaltliche Übersteigerung des
formellen Werkgedankens, ihn mit der organischen Zusammengehörigkeit
zu identifizieren oder jene Abweichungen von der Oiganik, deren
Wirkungsintensität zu stark ist, als daß ihr Kunstcharakter übersehen
214 Philosophie der Kunst
werden könnte, mit Hilfe des Begriffs vom Transcendieren der Kunstform
über sich selbst hinaus rechtfertigen zu wollen. Die Paradoxie dieser
Konstellation, daß hier nämlich eine überzeitliche Typik der letzten Gliede¬
rung des Werks aufgefunden werden muß, die sich aber dennoch als Prinzip
einer Geschichtsphilosophie der Kunst objektiviert, verhindert das Gelingen
jener einseitigen Versuche, welche die hier verborgene Problematik zwar
deutlich empfanden, sie aber entweder einer rein historischen oder rein
ästhetischen Systematik zu Liebe zu verdecken, oder die Paradoxie in eine
be griffliche Unklarheiten schaffende Synthese zu verwandeln suchten.
Es ist bekannt, daß das Problem einer Geschichtsphilosophie der Kunst aus
dem Bedürfnis entstand, der modernen Kunst als der antiken wenigstens
relativ gleichberechtigten Erscheinung gerecht zu werden: sowohl Schillers
Unterscheidung zwischen naiver und sentimentaler wie Jean Pauls zwischen
antiker und romantischer Kunst, wie Friedrich Schlegels Versuch, das Inter¬
essante als eigene ästhetische Kategorie zu begründen, liegt dieselbe
Empfindung zu Grunde und sie erhält ihre tiefste und durchdachteste
Formulierung in der Hegelschen Periodik von symbolischen, klassischen und
romantischen Kunstformen. Das Gemeinsame all dieser Versuche bei aller
Verschiedenheit im Einzelnen (Shakespeare z. B. ist bei Schiller ein naiver
Dichter, während er bei Friedrich Schlegels Einteilung der modern-romanti¬
schen Kunstrichtung zugehört) ist, daß das Antike trotz allem der Kanon der
Kunst bleibt. Ob es nun dennoch, wie bei Schiller, als möglich erscheint, daß
die andere Weltanschauung eine angemessene Gestaltung findet, ob das
Moderne, wie für Fr. Schlegel, einen notwendigen Übergang zum Wiederer¬
reichen der antiken »Objektivität« bedeutet, ob die Idee der Kunst sich, bei
Hegel, im Klassischen als »schlechthin angemessene Einheit von Inhalt und
Form« erreicht, während im Symbolischen »... sucht die Idee noch ihren
echten Kunstausdruck«, um in der Romantik die Sphäre der Kunst zu »über¬
schreiten«1: dieses Verhältnis bleibt bei allen ähnlichen Versuchen das¬
selbe. Daraus muß, zur Verankelung des Problems, einerseits ein wertendes
Verhalten den verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten gegenüber folgen,
dessen methodische Consequenzen dadurch, daß die ästhetische Verurtei¬
lung der einen Richtung ihr geschichtsphilosophisches, moralisches oder
metaphysisches Bewerten bedeutet, gar nicht wesentlich geändert werden
[i Vorlesungen über die Ästhetik. Zweiter Teil. Werke. Bd. io. Abt. i. Hrsg, von H.
G. Hotho. Berlin, 1835. S. 388—390. (Aufbau-Ausgabe, Berlin, 1955. S. 3 10—3 11).]
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 215
können und andererseits muß dieser Kanon, gewollt oder ungewollt, auf ein
einmaliges historisches Zeitalter (Griechen, Renaissance) oder sogar auch
auf eine bestimmte Kunstform (Plastik bei Hegel) lokalisiert werden. Und
wenn der moderne Historizismus allen solchen Konstruktionen gegenüber
einen geschichtlichen Relativismus fordert, daß nämlich jede Zeit und damit
jede Empfindungsweise ihre adäquate oder ihrem historischen Ursprung
gemäß einzigartige und unvergleichbare Objektivation finden kann, so ist
damit dieses Problem bloß umgangen, aber nicht gelöst. Denn was von der
Einzigartigkeit einer historischen Konstellation am Werk bestimmt wird, ist
teils die bereits analysierte Zeitlichkeit von Stoff, Technik etc., teils die
inhaltliche Spiegelung und Erfüllung der hier gemeinten letzten Struktur¬
gliederung des Werks; ihre Typik selbst aber, wenn sie überhaupt aus ästhe¬
tisch gleichwertigen Gliedern bestehen soll, wozu ja auch der Historizismus
gedrängt wird, kann nur eine aus der zeitlosen Idee des Werks abgeleitete
sein. Denn die wesentliche Paradoxie dieses Problems liegt gerade darin,
daß der Begriff des Stils einerseits die prinzipielle und kanonische Lösung
einer apriorisch typisierten Aufgabe bedeutet, und andererseits, daß diese
Aufgabe in ihrer inhaltlich gegebenen Konkretheit, deren Folgen aber auch
auf ihre Formenstruktur zurückwirken, von einmalig-geschichtlichen Kon¬
stellationen gestellt ist. Der Begriff des Stils vereinigt also in sich sowohl die
Möglichkeit und die Notwendigkeit der Wiederkehr (wobei es freilich
gleichgültig ist, ob diese sich im wirklichen geschichtlichen Ablauf tatsäch¬
lich realisiert oder nicht), 'wie das absolut Einzigartige jeder seiner jewei¬
ligen historischen Realisationen. Er ist nicht nur eine apriorische Typik der
dort möglichen Gestaltungsmodalitäten, sondern gleichzeitig ihre Periodik:
mit dem Begriff eines Stiles ist seine — zeitliche — Stellung zu den anderen
Stilen simultan gesetzt. Darin zeigt sich der entscheidende Unterschied
dieser Typik von der historisch-soziologischen, die wir bei der Analyse von
Technik und Gesinnung gefunden haben: jene bezog sich nur auf die struk¬
turelle Möglichkeit des Werks und war deshalb mit den historischen Realisa¬
tionsbedingungen desselben in ein funktionelles Verhältnis zu setzen; wenn
also sowohl die Gesamtheit der Typen, wie jeder einzelne Typus auch histo¬
risch bedingt waren, so konnte die Typik in ihrer eigenen Struktur als Typik
nicht den Begriff des Ablaufs und der Aufeinanderfolge umfassen: sie war
keine Periodik. Dies ist erst hier, wo von der strukturellen Eigenart des
verwirklichten Werkes selbst die Rede ist, möglich geworden.
Wenn wir nun auf diese Möglichkeiten der Beziehung zwischen der letzten
Einheit des Werks und den gestalteten Einzeldingen von relativ selbstän-
216 Philosophie der Kunst
ihn nie mit der Kunst irgendeiner Nation identifizieren kann; es erscheint
als selbstverständlich, daß dieses natürliche Gleichgewicht ein ganz seltenes
und von Gefahren umdrohtes Zusammentreffen einmaliger Gesinnungen
und Möglichkeiten zur Voraussetzung hat, daß es zwar innerhalb jeder
Kunstentwicklung erreicht werden kann, aber das kleinste Anderswerden
der kleinsten Werkbedingung die auf Messerschneide gestellte Balance
gefährden und eine andere Art der Zusammenfassung erfoidein kann. Denn
eben wegen des in re Charakters dieser Gestaltung kann sie bei - relativ -
gleichen Bedingungen nur - einmal hervortreten; so wie die griechische
Epik in Homer, das Drama in Sophokles, die Plastik in Phidias ihre Klassik
erreicht hat, so erreichte sie die mittelalterliche Malerei in Giotto, die
moderne Musik in Mozart - aber jedes solches Erreichen ist das Verlassen
einer früheren Ordnung und die Entwicklung, die darauf folgt, ist durchaus
nicht mit einem Niedergang gleichzusetzen. Jede Klassik bedeutet entweder,
daß eine naturalistische Gesinnung aus sich heraus zum Stil zu werden, oder
daß ein reines Formsuchen und Formfinden aus der bloßen Kiaft dieser
Formen heraus den schlichten Wirkungsgehalt des Gewachsenseins hei vor¬
zutreiben vermag; anders ausgedrückt: die transcendentale Werkform
beherrscht mit derart selbstverständlicher Gewalt die Gestaltung, daß sie ihr
eigenes Dekorativ-werden, die Wiederkehr der reinen Form in sich aufsaugt
und unkenntlich macht: die Dinge werden als Dinge dekorativ und lhie
Umfassung erscheint bloß als ihre dinghafte Eigenschaft. Die Kategorie der
Ordnung und die Kategorie der Dinghaftigkeit - beide mit unbegriffenen
ten dieses Stiles, die hier freilich nur kurz angedeutet werden können.
Erstens daß der Gehalt dieses Stiles ein transcendenter und kein transcen-
dentaler, und sein Ausdruck allegorisch und nicht symbolisch ist. Das
bedeutet nun, daß die Technik, Stoff und Bereitschaft bestimmenden Kate¬
gorien (Gesinnung und Aufgabe) eindeutiger und bestimmter gegeben sind
als die jedes anderen Stiles, wodurch das Mißverständnis des Werks teils
weniger ungehemmt ist als bei anderen Gestaltungen, teils einer ganz unbe¬
grenzten Hemmungslosigkeit preisgegeben ist. Solange nämlich diese Werke
innerhalb der — religiösen — Bereitschaft ihres Entstehens wirken, ist das
Inhaltliche der Wirkung vorgeschrieben und nur ihre Qualität und Inten¬
sität können je nach Werk und Receptivität variieren; sobald diese Bereit¬
schaft erloschen ist, ist die inhaltliche Mißverstehbarkeit noch stärker als bei
anderen Stilen, weil der transcendente Gehalt aus der allegorischen Gestal¬
tung verschwinden muß und das receptive Mißverständnis in dem nicht in
bezug auf Gehalt konkretisierten Stoff zwar keinen bestimmten Anhalts¬
punkt, aber auch keine hemmende Leitung finden kann. Aus dieser Struktur
folgt aber zweitens ein eigenartiges Verhältnis zum Material. Da die Tran-
scendenz des Gehalts ein Konkretwerden des Stoffes verhindert, kann der
Träger der Sinnlichkeit nur das Material selbst sein; jede primitive Gesin¬
nung wird deshalb einerseits die rein sinnliche Wirkungsintensität des Mate¬
rials auf das Maximum steigern (während die Klassik eher eine Tendenz zur
Vergeistigung des Materials hat) und andererseits darauf ausgehen, inner¬
halb der Möglichkeiten dieser reinen Materialität, also bei einem Minimum
an »Einbeziehung«, das Individuell-Charakteristische zu betonen. Dieses
Charakteristische, in dessen Suchen sich der Naturalismus der Primitivität
ausspricht, ist durch die Einheit der schroffst charakteristischen und rein
dekorativen Tendenzen bestimmt: es ist bei vollkommener dekorativer Har¬
monie organisch maßlos und hemmungslos. (Aus der einseitig klassisch
orientierten Bildung der meisten modernen Menschen folgt, daß Produkte
dieses Stiles bald als abstrakt — ägyptische Plastik —, bald als fratzenhaft
übertrieben - Negerskulpturen - bezeichnet werden.) Hier zeigt sich aber
wieder die für jede ästhetische Systematik ausschlaggebende Struktur der
Kunst, daß in ihr nur das Einzelne eigentlicher Gegenstand der Erkenntnis
sein kann: das Verhältnis des Materials zur Primitivität bedingt, daß — je
nach ihrem spezifischen Verhältnis zum eigenen Material - für jede Kunstart
der Begriff der Primitivität etwas anderes bedeutet. Ganz kurz gefaßt (da
eine nähere Ausführung ein System der Künste voraussetzt), können wir
sagen: nur jene Künste können einen primitiven Stil haben, deren Materia-
219
Geschichtlichkeit und Treulosigkeit
lität sich zwar zur ganz eigenen und einfach erlebbaren sinnlichen Wirkung
substanziiert, jedoch nicht rein aus sich selbst heraus - als bloße reine Form -
selbständig wird. So kann aus dem Verhältnis der Steinplastik zum Block,
der Holzplastik zum Pfahl, des Reliefs zur Fläche und deren ornamentaler
Gestaltung zur Schrift und zum Zeichen, des Verses zum Gesang ein
primitiver Kunststil als eine geschichtsphilosophische Kategorie unter ande¬
ren gleichwertigen entstehen, während einerseits das Märchen neben den
anderen epischen Formen, der Teppich und das Mosaik neben den maleri¬
schen Formen, der Tanz neben der Schauspielkunst zu eigenen, apriorisch
primitiven Formen werden und andererseits Kunstformen wie die Tragödie
überhaupt keinen primitiven Stil besitzen können. Dieses Verhältnis des
primitiven Stiles zum Material bedeutet aber nicht, daß er mit dem dort
aufgezeigten ersten Materialtypus identifizierbar wäre; diese Typik ist, wie
dort betont wurde, als Typik abstrakt, metahistorisch und nicht geschichts¬
philosophisch, und der Typus, der mit der primitiven Gestaltung vielleicht
verwechselbar scheint, umfaßt allerdings das Primitive, daneben aber auch
das sogenannte Archaische, welches als Stil sowohl klassizistisch wie ro¬
mantisch, niemals aber primitiv sein kann. Aus diesem Zusammenhang
ergibt sich aber die notwendige Consequenz, daß die Künste deren Foimen-
struktur die Alleinherrschaft der reinen Form aufzeigt, nur einen primitiven
Stil haben können, oder - was ja dasselbe besagt - der geschichtsphilosophi-
schen Periodik entrückt sind. Wenn in Zeiten, in denen andere Gesinnungen
ausschlaggebend sind, auch diese Kunstarten aufgegriffen werden, so ver¬
harren sie entweder trotzdem in ihrer Primitivität, die sich also als überzeit¬
lich erweist (Tanz; Märchen von Selma Lagerlöf), oder sie behalten nur die
äußeren Kennzeichen ihrer Art bei und gehören ihrem eigensten Wesen
nach anderen Kunstarten an (z. B. Goethes Märchen ist eine romantische
Novelle, Raffaels Teppiche sind klassische Gemälde). Wenn die primitive
Wesensart einer Kunst so stark ist, daß diese Umwandlung nicht gelingen
kann, oder die gestaltende, nicht primitive Gesinnung nicht stark genug ist,
um die andere, nur äußerlich verwandte Form entstehen zu lassen, kann
kein Werk erreicht werden: Tieck’s Märchen sind unorganische Mischungen
von Märchenmotiven und Gestaltungselementen romantischer Novellen,
und jeder »vertiefte« Tanz muß zur sinnlosen Pantomimik ausarten. Diese
Beziehung setzt einen völligen Mangel an sinnlichem Abstand zwischen
Ding und Idee sowohl als schöpferische Gesinnung wie als - zeitgenössische -
receptive Bereitschaft voraus, dessen Voraussetzung andererseits freilich
eine geradezu absolute Unvergleichbarkeit der beiden in bezug auf ihre rem
2 20
Philosophie der Kunst
Die Einheit ante rem kann aber auch etwas Anderes, sogar ganz Entgegen¬
gesetztes bedeuten, nämlich eine Gesinnung zur Einheit, welche die
Eikenntnis und das Erlebnis eines unüberbrückbaren Abstandes zur norma¬
tiven Voraussetzung hat. Bei beiden bisher behandelten Stilen war keine
eigentliche Stilisierung von nöten: durch die den Dingen immanente
Abstandslosigkeit oder Fähigkeit zur Überwindung des Abstands ward die
Utopie zur sinnlich unmittelbaren Wirklichkeit, die von der Kunst nur
gestaltet werden mußte; in diesem Sinne der schöpferisch-phänomenologi¬
schen Identifikation von Wirklichkeit und Utopie konnten der klassische
und der primitive Künstler »Naturalisten« sein. Die Entstehung des
abstandslosen Werks ist aber auch so denkbar, daß nicht die Wirklichkeit als
Utopie, sondern die Utopie als Wirklichkeit erscheint; daß das Sollen, das
jede Gestaltung der Wirklichkeit gegenüber ausspricht, nicht in sie — phäno¬
menologisch - hineinprojiziert wird, um dann von ihr abgelesen zu werden,
sondern sich als sollendes Sein, unabhängig von der Wirklichkeit, mit
bewußter Betonung des Abstands, der zwischen ihnen liegt, im Werk objek¬
tiviert. Auch hier erscheint die Werkidee der Einheit und der Ordnung als
strukturelles Prius dem Gestalteten gegenüber, ihre wesentliche Beziehung
ist auch hier ante rem, gestattet also innerhalb der Werkwelt keine Span¬
nung, jedoch sowohl Umfassung, wie Umfaßtes tragen die unvertilgbaren
Spuren einer Spannung an sich: des Kampfes zwischen Sollen und Sein, der
mit der absoluten Herrschaft des Sollens, mit seiner Verwandlung in ein
sollendes Sem beendigt wurde. Damit das Gestaltete der Möglichkeit einer
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 22 I
solchen Umfassung würdig werde, muß es alles bloß Irdische, alles bloß
Momentane und Spontane, alles Leidenschaftliche und alles Individuelle
von sich abstreifen, muß sich jeder empirischen Vergleichbarkeit gegenüber
scharf absondern und zwischen sich und dem, woran es m der Empme des
Lebens gemessen werden könnte, eine stolze und unüberbrückbare Distanz
errichten. Das WLnder bricht hier nicht rätselhaft in das Leben ein, das
Leben selbst zum Wunder verwandelnd, sondern das Wunder des Sich-
selbst-Erreichens der Dinge schwebt in ferner Isolierung über das Leben
dahin; das Leben wird nicht zum Fest in der Gestaltung, sondern die Fest¬
lichkeit des Gestalteten steht dem Leben als realisiertes Sollen unabweislich
und doch unerreichbar gegenüber. Die objektive Abstandslosigkeit wird so
auch in diesem Stil - dem klassizistischen - geleistet, denn die zur eigenen
Idee gewordenen, als Erscheinungen substanznerten Dinge finden auch lnei
in einer von Ewigkeit her für sie bereiten Form ihre Heimat und der Abstand
ist auch hier nur ein normativer Bestandteil der Werkwelt, eine bloße
Voraussetzung zur Realisation der Abstandslosigkeit, er ist abei hiei gleich¬
zeitig zum Aufbauelement des Ganzen und zum eingeborenen Bestandteil
jedes Einzeldinges geworden. Das sub specie formae Erlebte jedes Dinges in
der Kunst bestimmt hier den Gehalt, und die Ewigkeit des Weiks, die
abstrakte Werkidee tritt als lebendiger Beweger in die Welt des Werks selbst
ein. Darum setzt dieser Stil, in ganz anderer Weise als die Klassik, die histo¬
rische Existenz der Kunst voraus: er ist nur möglich, wenn dei Abstand
zwischen Kunst und Leben bewußt geworden ist, wenn die spontan reali¬
sierte und naiv erlebte Utopie der Klassik bereits da war und vergangen ist,
wenn also die Idee der Ewigkeit des Werks, die alles bewegende und durch¬
dringende Apnorität dieses Stiles, nicht nur als ein über das Leben
gespanntes Ideal erlebt werden kann, sondern in Beziehung auf das vorange¬
gangene und nunmehr verlorene Erreichen in der Klassik erlebt werden
muß. Jeder Klassizismus muß seinem Begriffe nach in der Periodik aut eine
Klassik folgen.
Die Idee der Kunst als Erreichen der vollendeten Abstandslosigkeit kann
jedoch auch in anderer Weis für die Gestaltung des Abstands von Bedeutung
sein. Die Werkvollendung kann nämlich nicht nur, wie hier, als Werk, als
Leistung in ihrer Ewigkeit vorbildlich werden, sondern auch als bloßes Sein,
als Gehalt, als Faktum der Utopie. Diese Faktizität bedeutet vor allem, daß
nicht in der Einheit und der Ordnung, sondern in dem Aufblühen und dem
Sich-selbst-Erreichen des Einzelnen innerhalb der Ordnung das Ideal
erblickt, daß die Einheit nur in ihrer inhaltlichen Spiegelung, als Heimat
222 Philosophie der Kunst
aller Dinge, nicht aber als Bindung, erkannt und gewollt wird. Der Abstand
also, von dem hier die Rede ist, ist nicht - wie bei dem Klassizismus -
zwischen dem ungesammelten Wirrsal des Lebens und zwischen der geord¬
neten Ballung der Kunst, sondern zwischen dem Verkümmern . und
Verdorren jedes Bliihens in der abstrakt geregelten Hemmungslosigkeit der
Empirie und zwischen der naturhaft zur Ordnung strebenden Willkür im
Werk. Während im Klassizismus das Gestaltungsprinzip zum Sollen dem
Leben gegenüber wurde, wird es hier die von ihm erreichte Wirkungsqua¬
lität des Gestalteten. Die Überwindung des objektiven Abstands, die Stilisie¬
rung, richtet sich also in erster Reihe auf die Schaffung von »schönen«, d. h.
immanent vollendeten, ihre Idee adäquat objektivierenden Gegenständen
und deren Umfassung, ihre Einheit und ihre Ordnung soll gleichsam aus
ihnen selbst, aus ihren naturhaften Beziehungen zueinander entsteigen, soll
nicht mehr sein als die Gemeinsamkeit der Atmosphäre, die sie umgibt, die
Gleichheit des Duftes, den sie ausströmen: es ist eine Einheit post rem.
Deshalb ist das phänomenologische Verhältnis zur Natur derart beschaffen,
daß der Künstler dieses Stiles, der Romantiker, ebenfalls in einem
bestimmten Sinn »Naturalist« sein kann; auch er kann seine Vision vom
sollenden Sein der utopischen Wirklichkeit in die Natur hineinprojizieren
und aus ihr als ihren wahren Sinn ablesen, diese wahre Natur wird jedoch
für ihn nicht mehr —wie für den klassischen oder primitiven Künstler — etwas
Gegenwärtiges, sondern etwas Vergangenes, etwas von sich Abgefallenes,
Verschüttetes und Verlorenes sein, das sich entweder zu einer Märchenwelt
von eigener Schönheit absondert oder als immanent richtendes Ideal in der
Empirie selbst, deren Nichtigkeit enthüllend, erscheint. Phänomenologisch
gesprochen ist also der Romantiker Abbild eines, auch von ihm selbst als
nicht seiend gedachten Vorbildes und wenn er auch »Naturalist« im eigenen
Sinnes des Wortes ist, so ist sein Naturalismus niemals das In-Eins-Setzen
von Erscheinung und Idee, wie bei dem klassischen oder primitiven Künst¬
ler, sondern ihr bewußtes Kontrastieren, niemals ein mißverstandenes Ziel,
sondern em Ausdrucksmittel für etwas Anderes, niemals eine Verherrlichung
der »Natur«, sondern ihr Herabsetzen, niemals ein Verschwindenlassen des
Abstandes, sondern die Gestaltung seines Daseins. Dementsprechend wird
die romantische Gestaltung den Stempel dieses Abstandes an sich tragen:
entweder den Reiz und die Schwermut einer aus Zauberschlaf ins Leben
erwachten, verwunschenen Welt, oder die herbe Trauer und tiefe Ironie von
dem Gesunkensein der Empirie und von dem wesensvollen, doch kraftlosen
Duichscheinen der in ihr vergrabenen Utopie. Das Werk hat aber innerlich
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit n}
jeden Abstand überwunden, denn die böse oder leidende Gegenwart, von
der seine Vollendung sich abhebt, ist nur als phänomenologische Vorausset¬
zung böse oder leidend, im Werk selbst wird sie entweder von der - in den
Traum verzauberten — realisierten Utopie ganz verdeckt oder vei hilft
dieser, indem sie ihre eigene Wesenlosigkeit entlarvt, zur stärkeren Beto¬
nung der Substanzialität. So ist hier auch eine immanente Vollendung
möglich, aber alles Vollendete ist mit der Melancholie seines Ursprungs und
seiner Heimat geziert. In der Romantik im engeren Sinn entsteht eine eigen¬
artig gewobene Substanz aller Dinge, durch welche das vollkommene Sein
schwer an seiner Unwirklichkeit, an seinem bloß postulativen Charaktei zu
leiden hat und im romantischen Naturalismus erweitert sich das Gewöhn¬
lichste ins schauerlich oder grotesk Erhabene ob der drückenden Fülle des
mit ihm immanent kontrastierenden Ideals, des Ideals seiner sein-sollenden
Vollendung. Und eine Technik, die als Technik bewußt geworden und
sichtbar die Oberfläche belebt, verleiht jeder Gestaltung ihre erforderte
Leichtigkeit: sie nimmt ihr die Realität und damit die Schwere und den
Ernst der Trauer, und diese glühen nur als dunkel leuchtende Farben in dem
spielartig feinen Gewebe der Technik. Die Romantik ist die als Kunst
bewußtgewordene Kunst, und indem der Formgehalt der Kunst überhaupt
zum Erlebnis des phänomenologischen Künstlers geworden ist, kann ihre
Bewußtheit zur Weltanschauung reifen: zur leise schaukelnden Balance zwi¬
schen Sehnsucht und Sein, zwischen Melancholie und Ironie. Eine undurch¬
dringliche und in sich absolute Systematik der technischen Vollendung
macht alles immanent, aber Leben und Kunst beleuchten und beschatten
einander in diesem System: jedes wird durch den Kontrast zum anderen
leicht und schwer, trauervoll und heiter zugleich. Die Romantik ist dei
subjektive Stil par excellence, aber das reine Spiel der technischen Vollen¬
dung läßt jede Individualität zurücktreten: die immanenten Eigengesetz¬
lichkeiten der Technik scheinen ausschließlich hier zu walten und ihre - in
Beziehung auf Logik der Gegenständlichkeit - selbstherrliche Willkür ver¬
deckt die Willkür der schaffenden Persönlichkeit und deckt sich zugleich mit
ihr, und aus der unzertrennbaren Mischung dieses Einsseins mit diesei
Andersheit entsteigt wieder dasselbe Gleichgewicht: Schwermut und Spiel,
Trauer und Tanz. Darum ist die Romantik ihrer Idee nach eine späte Kunst;
sie setzt eine erreichte, verlorene und ferne Vollendung der Kunst voraus.
Aber für die ihr normative Stellungnahme verschmelzen Klassik und
Primitivität: der Kanon, dessen Gefühlsniederschlag hier richtunggebend
wird, kann ebenso eine Überwindung des Abstands, wie ein Mangel an
224 Philosophie der Kunst
Wir haben das Klassische als das natürliche Gleichgewicht von centripetaler
und centrifugaler Intensität definiert und haben zugleich auf die selten reali¬
sierbare Möglichkeit seiner Erfüllung hingewiesen. Wenn wir nun diese Stel¬
lung der Klassik in der geschichtsphilosophischen Periodik betrachten, so
können wir im Verhältnis zu ihr den Klassizismus als eine Herabminderuns
oder Spiritualisierung der Intensität — zur Aufrechterhaltung der Balance
bei einer Gesinnung, der dies nicht mehr naturhaft selbstverständlich ist -
bezeichnen, und damit nochmals dem Klassizismus seine Stelle in der
geschichtsphilosophischen Periodik nach der Klassik zuweisen. Diese
Bestimmung gibt uns zugleich die Möglichkeit, die Wesensart der beiden,
ebenfalls post rem vereinheitlichenden Stile kurz zu betrachten. Wenn die
Gesinnung zur Intensitätsgleichung die Selbstverständlichkeit der Klassik
noch nicht oder nicht mehr besitzt, so kann eine Harmonie auch auf dem
Wege der Intensitätssteigerung und einer aus ihr entstehenden, kampfvollen
und spannungsreichen, abenteuerlichen und heroischen neuen Beziehung
der centrifugalen und centripetalen Elemente entstehen. Während der Klas¬
sizismus durch Intensitätsschwächung eine Einheit ante rem leistet, liegt das
Wesen des Barokkstiles in einer durch Intensitätssteigerung erreichten Har¬
monie post rem, wenn die organische, in re Gesinnung der Klassik bereits
ei loschen ist. Daß dieser Stil vom centrifugalen ausgehen muß, wird wohl
als selbstverständlich erscheinen: Intensitätssteigerung kann nur, wenn
das Gleichgewicht erstrebt wird und das Werk erreicht werden soll, hier
entsetzen, denn die Steigerung der centripetalen Intensität bedeutet letzten
Endes bei realisierter Harmonie eine Minderung der Intensität: Klassi-
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit 225
Massaccio oder Piero della Francesca und der römischen Renaissance, so die
Jugend Goethes und Schillers zwischen dem Klassizismus Lessings und der
ihnen eigenen Weimarer Vollendung, während die Vorgänger Shakespeares
last ausnahmslos an dem Fehlen dieses Correctivs scheitern mußten. So nahe
hohe Intensitätssteigerungen dieses Stiles dem Barokk kommen mögen (dies
ist auch ein Grund, weshalb man beiden Stilen, jeden mit den Maßstäben des
anderen messend, ungerecht wurde), die Gesinnung zur Organik und das
Fehlen eines phänomenologischen Willens zum Zwang wird sie immer
voneinander scheiden: man muß nur Myron mit Skopas, Signorelli mit
Tintoretto, Marlowe mit Beaumont-Fletcher etc. vergleichen, damit diese
prinzipielle Differenz klarwerde.
Mit alledem ist kaum ein Abriß der geschichtsphilosophischen Typik und
Periodik der Kunst geleistet; es soll indessen hier auch nur auf einige Prinzi¬
pien hingewiesen werden. Wir sagten: eine wirklich konkrete Geschichts¬
philosophie der Kunst setzt das System der Künste voraus; nur nachdem dort
die Formenstruktur jeder einzelnen Kunstart genau dargelegt wurde, kann
es wirklich begriffen werden, wie sich die hier bloß in ihrer abstrakten
Möglichkeit skizzierte Typik in den einzelnen Künsten gestaltet und
konkretisiert; das hier analysierte einzige Beispiel genügt wohl, um zu
zeigen, daß jeder Stil in jeder Kunstart, je nach ihrer spezifischen Struktur,
eine spezifische Form aufnehmen muß, und eine wieder allgemein werdende
Geschichtsphilosophie der Kunst kann nur als Synthese auf diese Analyse
folgen, nicht aber deren Resultate irgendwie vorwegnehmen. Wenn aber die
Geschichtsphilosophie diese Synthese vollzieht, so wird sie sich noch einmal
mit der Einmaligkeit des geschichtlichen Ablaufs auseinandersetzen müssen.
So wie wir zu sehen gezwungen waren, daß die Lokalisierung eines Stiles auf
eine Kunstart zu Unklarheiten führt, weil es zum Wesen des Stiles gehört,
sich auf alle Kunstarten, wenn auch in je verschiedener Weise, zu beziehen,
so sahen wir auch, daß es nicht angeht, irgendeine einmalig geschichtliche
Erscheinung durch ästhetische Kanonisierung ihres geschichtlich durchdrun¬
genen Gehalts zum Gegenstand der Geschichtsphilosophie der Kunst zu
erheben, da jede solche Einheit (Griechentum, Gothik, Renaissance) in
verschiedene Typen des geschichtsphilosophischen Systems zerlegt werden
muß.
Diese Einheiten sind aber doch weder bloß fiktiv, noch für die Ästhetik irre¬
levant. Wenn sie sich vorerst auch nur als Einheiten des gestalteten Gehaltes
fassen lassen, so ist damit ihre Bedeutung doch nicht erledigt. Unsere
Analyse der einzelnen geschichtsphilosophischen Typen zeigt uns, daß die
229
Geschichtlichkeit und Zeitlosigkeit
wird, deren Wesen in ihrer Einmaligkeit besteht, so kann dadurch das schon
erreichte Kanonische nicht mehr ins Empirisch-Einmalige herabgezogen,
sondern nur in seiner ewigen Geltung gesteigert werden: der letzte - histori¬
sche — Grund der Kunst ist von der empirischen geschichtlichen Continuität
noch entfernter als es jede historisch-metahistorische Typik sein kann, sie ist
noch allgemeiner, sie ist die reinste Verwirklichung des ästhetischen Wertes.
Diese Einmaligkeit steht zu der rein historischen im Verhältnis der Idee zur
Wirklichkeit: in ihr drückt sich der geschichtsphilosophische Sinn eines
Stadiums, einer Epoche aus, und von allem, was diese Epochen tatsächlich
hervorgebracht haben (deren Gesamtheit Gegenstand des HistonKeis ist,,
kommt nur das in Betracht, worin sich diese Idee realisiert hat und auch nur
insofern, als sich diese hier realisiert hat. Der Gegenstand der Geschichtsphi¬
losophie der Kunst ist das zur Kategorie der sinnvollen Einmaligkeit gewor¬
dene Einzelne. Dieser Sinn ist für den Geschichtsphilosophen der Kunst
adäquat erfaßbar, und er wird eine — nur vom Standpunkt der reinen Histo¬
rizität aus eine willkürlich scheinende — Auswahl treffen, wenn für ihn dei
größte Teil an sich wertvoller Kunstwerke nicht in Betracht kommt, ja wenn
er ganze Epochen der Kunst als nicht-seiend, weil nicht zum Kanon dieses
Sinnes gediehen, behandelt. Aber geradeso wie für den Historiker, wenn ei
nicht zur Ästhetik transcendiert, seine Beziehung zum Stoff mit allei liratio-
nalität. die daraus folgt, unüberwindlich bleibt, so muß der Geschichtsphilo-
soph der Kunst, wenn er über die Faktizität der deutbaren einzelnen Revela
tionen einzigartiger und einmaliger geschichtsphilosophischer Sinnesrealisa¬
tionen hinausgehen und noch darüber hinaus eine letzte Einheit der
gesamten Kanonik der Kunst erreichen will, die immanente Ästhetik trans-
cendieren und Metaphysiker der Kunst werden. Die Einheit, die der Histo¬
riker in der kulturgeschichtlichen Zusammenfassung zu finden vermag, ist
ihm versagt und er muß sich damit begnügen, alles ästhetisch-konomsch
Logisierbare hinter sich lassend, vor der rein erkannten Faktizität cliesei
letzten Einmaligkeit stehen zu bleiben. Nur wenn in dem geschichtlichen
Ablauf selbst ein einheitlicher Sinn aufgefunden werden kann, können seine
Objektivierungen in der Struktur der Kunstwerke ihrer Ursache nach
begriffen werden. Die Geschichtsphilosophie der Kunst wird sich also
entweder mit der letzten Irrationalität des einmaligen geschichtlichen
Ablaufs - bei der Erkenntnis dieser seiner Faktizität - begnügen, oder sie
wird metaphysisch werden müssen: sie wird in diesen, von keiner rein ästhe¬
tischen Systematik faßbaren Begriffen von Entwicklungsstadien dei Kunst
Spuren und Zeichen des letzten, metaphysischen Sinnes des Weltlaufs
232
Philosophie der Kunst
[Dieses Fragment fand sich als Manuskript im Lukäcs Nachlaß. Es ist die
erste, später umgearbeitete Fassung des Anfangs des ersten Kapitels der
Denken ist das Lautwerden des Gegenstandes: das blinde Sich-kreuzen und
Vermischen von Heterogeneitäten, das wahllose Ineinander von inadäqua¬
ten Formen, ziellosen Halbfabrikaten und wirren Inhaltlichkeiten, deren
subjektiv-reflexive Einheit im Moment des Erlebnisses wir »Leben« zu
nennen pflegen, wird rein, kehrt in sich zurück und findet, selbstgeworden,
die Heimat in der zum vollendeten System gereiften Philosophie. Das
System ist für diese Gesinnung keine Konstruktion mehr, wo alles aus der
immanenten Logik eines seinen Gegenstand rein erzeugenden Denkens ent¬
wickelt wird und wo den Dingen bloß ihre Stellen zugewiesen werden: Stel¬
len, die absolut konstitutiv sein sollen, die - wie das Kompositionspiinzip
eines strengen Freskos oder Dramas - durch Ort und Beziehung alles über
die Dinge aussprechen sollen, was über sie auszusprechen ist. Dieses Denken
will von den Dingen lernen, und wenn es sie zur Reinheit zurückfuhren, sie
aus den falschen Verbindungen und kraftlosen Sonderungen des einfachen
Gegebenseins in die Systematik erlösen will, so will es sie zu der ihnen
eigenen und eingeborenen Reinheit zurückführen, nichts will es ihnen
geben, als was zu besitzen ihnen bloß die Kraft der Reinheit gefehlt hat.
Diesen Willen zum Sinn muß jede Philosophie haben, diesen Glauben am
Sinn darf sie deshalb für sich als erlaubte und eingestandene Voraussetzung
in Anspruch nehmen, und diese Gesinnung zum Sinn hat sie als Verhalten
von jedem, der als Begreifender in Betracht kommen will, zu fordern.
Den Sinn von etwas finden kann aber nichts anderes heißen, als das
irgendwie Gegebene auf seine immanente Homogeneität zuruckzufuhren, es
in&dieser, ihm innerlich angemessenen homogenen Sphäre zum Gegenstand
zu klären und zu erheben, und den so aufgefundenen Gegenstand zu begrei¬
fen, auf seinen Begriff zu bringen. Daß man also von den Dingen lernen
kann und soll, bedeutet, daß man sie deshalb nicht durch Begriffe vergewal¬
tigen muß, vielmehr sie bis zu ihrem Begriff läutern soll; es bedeutet, daß die
begriffene Welt nur in der vollendeten Totalität ihrer erreichten Systematik
sich ganz zur Einheit rundet, daß - als notwendige und unaufhebbare Stufen
zu dieser Krönung - einheitliche, in sich abgeschlossene, homogene Sphären
der begriffenen Gegenstände gefunden und konstituiert werden müssen; es
bedeutet die Absage an jeden methodologischen Monismus, der mit einer
einmal glücklich entdeckten und irgendwo vielleicht tadellos funktionieren-
23 6 Philosophie der Kunst
muß, bis er seine wirklich eigene Sphäre erreicht hat, ist für jede Wissen¬
schaft das Auffinden des Gegenstandes oder Gegenstandkomplexes, der für
sie als Ausgangspunkt, als centrale Gegebenheit dienen kann, eine Existenz¬
frage. Denn nur durch dieses Auffinden kann es entschieden werden, wo und
wie eine Wissenschaft im System der Erkenntnis steht, ob sie in sich abge¬
schlossen werden kann, oder gerade über ihren ausschlaggebendsten Pioble-
men in anderen Sphären der letzte Rechtsspruch gefällt wird. Die Strenge
der Begriffbildung bezieht [sich] deshalb auf diese zwei Reihen, und fordert
einerseits ein Nie-stehen-bleiben, ein Immer-höher-transcendieren dei Grund¬
begriffe, bis man sie nicht zum selbstverständlichen Stillstehen an dem ihnen
zukommenden methodischen »Ort« gebracht hat, andererseits aber ist die¬
selbe Strenge in der Richtung auf Immanenz von Nöten, indem man, solange
nur irgendein Grundbegriff oder irgendeine Grundgegebenheit aufzufinden
ist, die weniger zum Transcendieren und hiermit zur Abschwächung der
Existenz und Struktur sui generis der Sphäre hinneigt, die Pflicht hat, diese
zu wählen und der Sphäre von hier aus die ihr eigenst angemessene Struktur
zu geben. Wenn also alle scharfsinnigen und feingedachten Versuche der
Rechtsphilosophie, das ganze Problem von Schuld und Verbrechen inner¬
halb der Kompetenz der Rechtssprechung abzuhandeln und so dem Recht
eine immanente, nicht zur Ethik transcendierende Sphäre zu sichern, nur
zum juristischen Aussprechen der Motive aus privater Moral durch
mildernde Umstände, Geschworenengerichtsbarkeit etc. und der Motive aus
sozialer Moral durch die eigene Kategorie des »politischen Verbrechens«
hinreichen, wenn dagegen der Aufstand gegen das Gesetz, der aus
dianoetischer Moral oder erst aus rein religiösen Motiven geschieht, juristisch
nicht mehr faßbar ist und Christus und Sokrates - juristisch - nur als »Ver¬
brecher« begriffen werden können, so liegt hier unbezweifelbar ein Pall des
Transcendierens vor, der als Faktum der Strukturzusammenhänge zwischen
Rechtsphilosophie und Ethik erst in der allgemeinen Systematik erledigt
werden kann. Hingegen konnten manche scheinbar starke Tendenzen zum
Transcendieren von Geschichte über Geschichtsphilosophie zu einer mate¬
rialistischen Weltmetaphysik [. . .]* werden, indem der Begriff des »Geset¬
zes« seiner angemaßten, centralen Stellung in der Struktur und dem Aufbau
Wir werden in eine, als Erlebnis unaufhebbare und darum nur als Selbstver¬
ständlichkeit erlebbare Welt des historisch Entstandenen hineingeboren.
Darum wird für das einfache Nachdenken, das nur die in dieser Wirklichkeit
deutlich sich aufweisenden Linien zu Ende läuft, sie aber nicht in ihrer -
jenseits von ihr liegenden — Wesenheit ergreift und zu begreifen sucht, alles
durch die geschichtlich gegebene Vergangenheit der Menschheit Produzierte
in einer Atmosphäre der natürlichen Notwendigkeit und fernab von jeder
Fragwürdigkeit stehen. Für dieses Denken, aus dem ja auch die wundervoll-
tiefe Ehrfurcht großer Fiistoriker vor jedem Faktum als Sein und Zeichen
des Seins entspringt, hebt das Da-Sem von Etwas alle seine Problematik auf.
So müssen die Werke der Kunst als eine uns angegebene, freundliche und
fiaglose Selbstverständlichkeit erscheinen: für alle unsere Stimmungen
scheinen überall entsprechende Stimulanzen hoher oder niederer Ordnung
in einer angenehmen und leicht erreichbaren harmonia praestabilita bereit
zu stehen; und von den Werken, an deren nicht [.. .]*
[Wie das im Nachlaß gefundene Manuskript ausweist, hat Lukacs den ersten
Abschnitt des ersten Kapitels wesentlich geändert und zwar noch bevor das
Manuskript gesetzt.
Im Nachlaß fand sich die erste Variante des Endes des ersten Abschnittes,
die von der späteren - der Drucklegung hier zugrundeliegenden - Abschrift
wesentlich abweicht.
Die Variante wird, wegen ihres inhaltlichen Gewichts im Folgenden als
Anhang abgedruckt.]
.
'
■
Anhang 243
Die Erkenntnis dieser Bedingungen des Werks gibt uns Klarheit über sein
zeitloses Wesen: die Zeitlosigkeit, die Ewigkeit des Werks bedeutet vor
allem, daß es in der vom phänomenologischen Subjekt des Receptiven reali¬
sierten Bereitschaft die normativ vorgeschriebene Wirkung hervorbringen
kann, daß es also - unabhängig von dem zeitlichen Ablauf — diese Wirkung
haben soll. In dieser Beziehung unterscheidet sich also der ästhetische Wert
kaum vom logischen oder ethischen: die Zeitlosigkeit bedeutet hier ebenso¬
wenig ein Überdauern der Zeit oder ein Überihrschweben (was alles zeit¬
liche Bilder für das Überzeitliche sind), sonder eine ewige Geltung des
Wertes, die nur in Beziehung auf die Realisierung des Wertes so ausgespro¬
chen wird, daß der Wert jederzeit (also unabhängig von der Zeit) realisiert
werden soll. Innerhalb dieser Gemeinsamkeit der Werte zeigen sich freilich
manche qualitative Verschiedenheiten des ästhetischen Wertes von den
anderen Werten; vor allem wieder in dem Problem des »Neuen«. Wir haben
gesehen, daß die Zeitgebundenheit im Entstehen des Werkes nur in einer
gewissen, ästhetisch-normativ vorgeschriebenen Weise überwunden werden
kann und auch aus dem vollendeten Werk selbst nie vertilgt werden soll, daß
diese Beziehung zur Zeit für das Werk selbst konstitutiv ist; daß also jedes
Werk als Werk und im positiven, wertbetonten Sinn »neu« ist.
Dieses »Neue« ist aber nicht mehr ein zeitlich-historischer Relationsbegiiff,
sondern eine ewige Qualität des Gehens, eine Eigenschaft der sollenden
Realisation des Wertes: das Werk soll auf den normativ-phänomenologi¬
schen Receptiven so wirken, als ob sich vor ihm plötzlich eine Welt eröffnen
würde, die ganz »neu«, d. h. vor allen anderen, früher erlebten prinzipiell
verschieden ist. Dadurch ist aber das »Neue« unhistorisch geworden, sein
Wesen besteht jetzt in der vollendeten und restlosen Unmittelbarkeit des
normativen Erlebnisses; das Werk ist aus dem Zusammenhang, aus dem es
notwendig entstanden ist, herausgetreten, hat alle Relationen, in bezug auf
welche es in seinem Entstehen notwendig »neu« war, von sich abgestreift
und nur den rein formalen Character des »Neuen« überhaupt bewahrt: es ist
die hinreißende und unmittelbare, überraschende und überwältigende Erfül¬
lung der Sehnsucht des Receptiven, sein Herausgerissenwerden aus dem
gewöhnlichen Leben und sein Emporgehobensein darüber; ein Sprung in der
Erlebnisreihe des Receptiven und deshalb in bezug auf diese Reihe: »neu«.
244 Philosophie der Kunst
Es ist aber in diesem Begriff des »Neuen« als Qualität des geltenden Wertes
etwas, was von dem Begriff des »Neuen« als Bestandteil des normativen
Entstehungsprozesses völlig verschieden ist: er ist Gegensatzlos.
Im Entstehen des Werks hat das »Neue« stets als Gegensatz das »Andere«,
das »Alte« etc., wenn auch diese Entgegensetzung seinem normativen
Character nach kein bewußter Willensakt ist, sondern die notwendige Folge
der Erlebnisunmittelbarkeit des Schöpfers als historischen Individuums; im
Werk selbst dagegen hört diese Entgegensetzung auf. Denn das Wesen des
Werks als utopischer Wirklichkeit bedingt auch hier eine coincidentia oppo-
sitorum: einerseits muß es »neu« sein, weil es die vollendete Erfüllung selbst
im unmittelbaren Erlebnis ist und so jedem Wunsch und jeder Sehnsucht
qualitativ heterogen, andererseits ist es aber doch die Erfüllung einer
bestimmten Sehnsucht, eines bestimmten Leidens und kann den Erfüllungs-
character nur dann ganz rem in sich realisieren, wenn es als apriorisches
Objekt und Ziel der Sehnsucht erscheint, wenn gerade diese Erfüllung etwas
ihrem Wesen nach der auf sie gerichteten Sehnsucht Vertrautes ist. So ist das
Werk zugleich »neu« und »alt«; es besitzt diese entgegengesetzten Eigen¬
schaften unzertrennbar m sich vereinigt, als — ohne innere Entgegengesetzt¬
heit — einander bedingend. Diese Gegensatzlosigkeit ist freilich nur im Werk
selbst erhalten, kann also nur erkannt, nicht aber — als Gegensatzlosigkeit —
erlebt werden; im receptiven Erlebnis trennen sich diese beiden Elemente
des Werks wieder und wenn sie sich auch gegenseitig bedingen, so besteht
doch eine paradoxe Entgegensetzung zwischen ihnen. Das Gegensatzpaar,
das im receptiven Erlebnis entsteht, ist nicht nur von der objektiven
Werkstruktur, sondern auch vom Erlebnisgegensatz beim Schaffenden ver¬
schieden: das »Neue« wird wieder zu einem zeitlichen Relationsbegriff, was
ihm aber gegenübersteht, ist die vorangegangene historisch-individuelle
Erlebnisreihe des Receptiven; das Werk ist also für den Receptiven nur
darum aus der Voraussetzungscontinuität, die es hervorgebracht hat, heraus¬
getreten, um sich als »Neues« von gleicher Struktur, aber verschiedener
inhaltlicher Erfüllung, in die Erlebnisreihe des Receptiven einzufügen. (So
ist — um ein recht einfaches Beispiel zu sagen — für den schaffenden Tizian
Giorgione die Voraussetzung, der gegenüber seine Werke »neue« sind; für
den heute Wirkenden kann etwa ein Bild Anselm Feuerbach’s diese Voraus¬
setzung sein.) Die »Vertrautheit«, die für die Struktur des Werks das mit
dem »Neuen« identische »Alte« bedeutet, ist hier nur ein Teil dessen, was
mit dem »Neuen« des Ausdrucks kontrastiert: das positive, inhaltsbetonte,
wunschartige Element der Voraussetzung der Wirkung, und es ist mit den
Anhang *45
Ewigkeit als Konkretum ist die stärkste Verführung, in den Werken der
Kunst die Ideen, die Urbilder des Gestalteten zu erblicken: das Werk wäre
dann nur der (abgeschwächte) Ausdruck für das, was an einem Ding oder
einer Verbindung von Dingen ewig ist und das zeitlose Gelten des ästheti¬
schen Werts wäre darauf begründet, daß, wenn es überhaupt eine Erlebbar-
keit der Urbilder gibt - was in den Kunstwerken garantiert zu sein scheint—,
das Sollen dieses Erlebnisses und die Möglichkeit seiner Realisierung im
Subjekt gleichfalls zeitlos sein müssen. Welche logischen Schwierigkeiten aus
einer solchen Auffassung der Ideenlehre entstehen, brauchen wir hier nicht
zu untersuchen, für uns ist nur das wichtig, das bei einer solchen Auffassung
entweder die möglichen Inhalte der Kunst (das Konkrete, das Historische,
das »Neue«) apriorisch festgelegt werden, und so das Faktum der Geschichte
der Kunst geleugnet werden muß und das »Neue« im Werk sich als trügeri¬
scher Schein erweist, oder es muß angenommen werden, daß die Zahl, die
Art etc. der Ideen prinzipiell unendlich ist, daß — da jedes gestaltete
Konkretum einem Urbild entspricht — über das Wesen der Kunst nichts
apriori Aussagbares geben kann: jedes Kunstwerk wäre (nicht nur als Erleb¬
nis, sondern auch als Objekt einer möglichen ästhetischen Erkenntnis) etwas
Letztes, eine Monade und nur das »Neue« wäre das künstlerische Prinzip im
Werk; alle Formkriterien, nach denen das Werksein eines Werks
bestimmbar sein könnte, wären nur etwas von dem bisher Geleisteten empi¬
risch-historisch Abgeleitetes; wobei jedoch die Ewigkeit dieses Wertes in
keiner Weise festgestellt werden könnte. Das Problem, wie das Kunstwerk
als Kunstwerk von der Geschichte nicht lostrennbar, also zugleich zeitlich
und zeitlos ist, kann hierdurch nicht gelöst werden: statt des geforderten
Zusammenfallens von »neu« und »alt« erhalten wir ein Dilemma, ein
Entweder-Oder. Jede ausschließende Gegensätzlichkeit verfälscht aber
nicht nur die Struktur des Werks, sondern auch den Inhalt und die Träger
der Entgegengesetztheit: wenn »alt« und »neu« einander ausschließen, so
kann jedes von ihnen nur die subjektiv-reflexive Bedeutung haben, die es
innerhalb der receptiven Erlebnisse besitzt, eine Bedeutung, die ihm als
Folge der Urstruktur gewiß notwendig zukommt, die jedoch nicht mit dieser
identisch ist. Wir haben das Werk als das Ewig-geworden-sein eines
bestimmten, konkret-individuell-zeitlichen Moments bezeichnet.
247
Namensverzeichnis
Massaccio 227 f.
Massinger, P. 226 Schelling, F. W. J. 16, 36, 207 f.
Pater, W. 101
Paul, J. 214 Teniers, D. 160
0 1163 0147355 3
TRENT UNIVERSITY
BH221 .I184L76
Lulcäcs, Györgv
Heidelberger Philosophie der
Kunst (1912-1914).
ISSUED TO
DATE
238201
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