Z Literaturwiss Linguistik (2021) 51:751–758
https://doi.org/10.1007/s41244-021-00232-0
ESSAY
Lektüren des Ästhetischen – Ästhetische Lektüren. Alte
und neue Hermeneutik
Annette Gerok-Reiter
Eingegangen: 21. September 2021 / Angenommen: 30. September 2021 / Online publiziert: 1. Dezember
2021
© Der/die Autor(en) 2021
Zusammenfassung Lektüren des Ästhetischen bilden einen ›Paradefall‹ herme-
neutischen Verstehens. Zugleich jedoch kommt der hermeneutische Zugriff gerade
hier an seine Grenze, werden Lektüren des Ästhetischen zu dessen ›Härtefall‹. Die
grundsätzliche Skepsis gegenüber einem hermeneutischen Zugriff ebenso wie ge-
genüber Interpretationen, die vorrangig ästhetische Aspekte fokussieren, ist daher
in den letzten Jahrzehnten durchaus in Relation zu sehen. Vor diesem Hintergrund
möchte die Skizze pointieren, inwiefern die derzeitige ›Rückkehr der Ästhetik‹ mit
einem Perspektivwechsel korreliert ist, der auch eine Neujustierung hermeneutischen
Verstehens einfordert.
Schlüsselwörter Germanistik · Literaturwissenschaft · Ästhetik · Hermeneutik ·
Lesen · Verstehen · Interpretieren · Aesthetic turn · Andere Ästhetik
Annette Gerok-Reiter ()
Deutsches Seminar, Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland
E-Mail:
[email protected]752 A. Gerok-Reiter
Readings of the Aesthetic – Aesthetic Readings. Old and New
Hermeneutics
Abstract Readings of the aesthetic are a prime example of hermeneutic interpre-
tation. By the same token however, these readings of the aesthetic are what puts
the hermeneutic approach to the test and pushes it to its limit. For the last few
decades, the general suspicions of hermeneutic approaches and of interpretations
which mainly focus on aesthetic aspects should therefore be seen as interrelated.
Against this backdrop, this outline wishes to draw special attention to the fact that
the current ›comeback of aesthetics‹ comes with a change of perspective which also
calls for hermeneutic interpretation to be recalibrated.
Keywords German Studies · Literary Studies · Aesthetics · Hermeneutics ·
Reading · Understanding · Interpreting · Aesthetic Turn · Different Aesthetics
Lektüren des Ästhetischen, d. h. Lektüren ästhetisch modellierter Texte,1 bieten in
der Regel einen ›Paradefall‹ für den hermeneutischen Zugriff, insbesondere in der
Perspektive der ›älteren‹ Hermeneutik von Wilhelm Dilthey über Hans-Georg Ga-
damer bis hin zu Hans Robert Jauß.2 Die enge Korrelation von Hermeneutik und
Ästhetik erscheint dabei naheliegend. So setzen Lektüren des Ästhetischen in hohem
Maß die souveräne Kenntnis der jeweiligen Sprache und das Wissen um textkon-
stituierende Komponenten als Grundbedingungen eines gelingenden Leseprozesses
voraus, d. h. die Regeln eines grammatischen, philologiebasierten Verstehens gemäß
Schleiermacher.3 Ebenso entziehen sie sich einem oberflächlichen, rein konsumieren-
den Lesen, sondern drängen auf Reflexion und Interpretation, wollen sie in Prozessen
der Sinnkonstitution über das Ideal des delectare hinauskommen. Und sie verweigern
sich dezidiert einem Urteil nach den Oppositionskriterien von richtig oder falsch:
Der Anspruch des Verstehens zielt auf komplexere Relationen.4 Hermeneutische Be-
deutungserschließung gehört daher seit den Anfängen der Literaturwissenschaft zu
den notwendigen methodischen Praktiken ästhetischer Lektüren.
1 Der Begriff der Lektüre wird hier als Terminus benutzt, der im umfassenden Sinn die Akte des Lesens,
Interpretierens und Verstehens umfasst, also nicht zwingend eine Verkürzung bedeuten muss. Vgl. Lob-
sien, Eckhard: Schematisierte Ansichten. Literaturtheorie mit Husserl, Ingarden, Blumenberg. Paderborn/
München: Fink, 2012, S. 11 f.
2 Dilthey, Wilhelm: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing. Goethe, Novalis, Hölderlin (Gesammelte
Schriften, Bd. 26). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005 [1906]; Gadamer, Hans-Georg: Hermeneu-
tik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr, 4. Aufl.
1975, insbes. »Erster Teil: Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst«, S. 11–161; Jauß,
Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Bd. 1: Versuche im Feld der ästheti-
schen Erfahrung. München: Fink, 1977.
3 Vgl. Schleiermacher, Friedrich D. E.: Hermeneutik und Kritik. Hg. und eingel. von Manfred Frank.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 80 f.
4 Siehe zu den genannten Kriterien auch Bleumer, Hartmut u. a.: »Bindestrich-Hermeneutiken – Neue
Verortungen der Lektüre?« In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 50 (2021), S. 563–580,
hier S. 564 f. Dass dieses komplexere Verstehen – gegen Schleiermacher – kein psychologisch-intuitives
Verstehen bedeuten muss, ist durch die Vorgaben der Reflexion und Interpretation bereits impliziert.
Lektüren des Ästhetischen – Ästhetische Lektüren 753
Zugleich jedoch wird die hermeneutische Bedeutungserschließung im Feld des
Ästhetischen an ihre Grenze geführt, werden Lektüren des Ästhetischen zum ›Här-
tefall‹ und zur Provokation hermeneutischen Verstehens. Der Grund hierfür lässt
sich als Kehrseite dessen verstehen, was in den Lektüren des Ästhetischen die her-
meneutische Erschließung an und für sich gerade einfordert – und dies in dreierlei
Hinsicht: Erstens führt der ästhetische Anspruch des Textes selbst an jene Gren-
ze, insofern er eben das als ›ästhetisch‹ auszeichnet, was in keiner propositionalen
Aussage aufgeht, ja, was sich dem Begriff grundsätzlich entzieht. Indem der äs-
thetische Anspruch auf das Unbestimmbare als das Ungreifbare abzielt, lässt er
auch das Unsagbare, das gleichwohl in der Sprache aufgehoben ist, ja, lässt er
Sprache überhaupt hinter sich. Ein hermeneutisches Verstehen, das sich auf das
Erschließen primär sprachlich konstituierter Bedeutung ebenso wie sprachlich ver-
mittelter Wahrheit von Texten ausrichtet, verfängt sich damit in Widersprüchen.5
Schwierigkeit bietet – zweitens – der ästhetische Gegenstand auch deshalb, als er
in prononcierter Weise seine jeweilige Materialität und Medialität nicht nur in den
Blick rückt, sondern ihm besonderes Gewicht zuspricht (hierzu zählen Rhythmus,
Reim, Klang, Lautung, rhetorische Figuren, insbes. Strategien der Bildlichkeit, der
synästhetischen Erfahrung; Fragen der Mündlichkeit, der Schriftlichkeit, der mate-
rialen Textkultur etc.).6 Ästhetisches Wahrnehmen, das auf dieses Angebot reagiert,
ist daher von sinnlicher Affizienz nicht zu trennen.7 Ob und wie von hier aus ein
rationales Verstehen möglich ist oder – noch intrikater – wie sinnliche Erfahrung in
Erkennen umschlagen kann, gehört zu den wohl meist reflektierten Irritationen phi-
losophischer Ästhetik. Wenn Hermeneutik jedoch Wahrnehmen mit Verstehen und
Erkennen verbindet,8 wird sie gerade hier auf eine besondere Probe gestellt. Und
schließlich – drittens – bringen ästhetische Präsentationen in der Regel multiple
Sinnebenen ins Spiel (von Phänomenen der Ambiguität über Angebote mehrfachen
Schriftsinns bis hin zu nicht abschließbaren Lektürebewegungen der Dekonstruk-
tion; in der Spannung von histoire und discours; im Integral von Sinnlichkeit und
Sinn; in intermedialen Phänomenen etc.). Die Multiplikation der Sinnebenen droht
den hermeneutischen Zugriff, sofern dieser sich in klassischer Weise Fragen »nach
dem Autor, der Intention, der Tradition und der ontologischen Grundlage«9 widmet,
zu überfordern.
5 Vgl. zu der Problematik bei Gadamer, aber auch bei Dilthey Jung, Werner: »Neuere Hermeneutikkon-
zepte. Methodische Verfahren oder geniale Anschauung?« In: Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Neue Litera-
turtheorien. Eine Einführung. Opladen: Westdt. Verl., 1997 [1990], S. 159–180, hier S. 165 und S. 171;
grundsätzlich: Nassen, Ulrich: »Statt einer Einleitung: Notizen zur philologischen Hermeneutik«. In: Ders.
(Hg.): Texthermeneutik. Aktualität, Geschichte, Kritik. Paderborn u. a.: Schöningh, 1979, S. 9–22, hier S.
10 f.
6 Zur Materialität von Texten: Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. München: Hanser, 2000, S.
204–214.
7 Dazu insbes. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frank-
furt a. M.: Suhrkamp, 2004, S. 17–37.
8 Vgl. Bleumer u. a. (s. Anm. 4), S. 568 f.
9 Vgl. ebd., S. 579. Zur Rehabilitierung eines relativierten Autorbegriffs und eine hypothetischen Intentio-
nalismus im Sinn einer Neohermeneutik: Köppe, Tilmann/Winko, Simone: Neuere Literaturtheorien. Eine
Einführung. 2., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, 2013, S. 133–148.
754 A. Gerok-Reiter
Die Spannung zwischen Parade- und Härtefall ästhetischen Fragens im Rahmen
der Hermeneutik prägt sich wissenschaftsgeschichtlich analog zur Spannung zwi-
schen der Hermeneutik als methodischem Primat in den Geisteswissenschaften und
einer grundlegenden Skepsis ihr gegenüber aus. So sind einerseits im Zuge der her-
meneutischen Skepsis, andererseits durch die Überforderung des hermeneutischen
Zugangs über mehrere Jahrzehnte genuin ästhetische Fragen im Wissenschaftsdis-
kurs vielfach in den Hintergrund getreten, verbunden mit der kulturwissenschaftli-
chen Wende der Geisteswissenschaften, die vom schwierigen Geschäft der Bedeu-
tungs- und Sinnsuche aus dem Text heraus den Blick grundsätzlich auf Kontexte
umlenken oder von posthermeneutischen Standpunkten aus die Bedeutungs- und
Sinnsuche ganz in Frage stellen wollte:10 »Die neuere Hermeneutik gibt [...] die
Vorstellung eines ursprünglichen, mit sich selbst identischen Textsinns auf, den es
durch die Interpretation freizulegen gelte.«11 Verzichtet die Literaturwissenschaft
aber auf die hermeneutische Bedeutungs- und Sinnsuche, so verlieren nicht nur
ästhetische Lektüren insgesamt an Glaubwürdigkeit und Geltung; die Literaturwis-
senschaft selbst droht, wie Klaus-Michael Bogdal zu Recht anmahnt, »belanglos«,
weil beliebig zu werden.12 Von hier aus stellt sich die Frage, wie das hermeneutische
Angebot der ›Deutung‹ als literaturwissenschaftliche Kernaufgabe aufrecht erhalten
bleiben kann, ohne dass die »›Wahrheit‹ eines Textes«13 jenseits der ihm eigenen
Geschichtlichkeit oder ein »mit sich selbst identische[r] Textsinn«14 jenseits ebenso
dynamischer wie irritierender Fremdreferenzen gesucht werden müsste.
Es erscheint vor diesem Hintergrund plausibel, dass die ›Rückkehr der Ästhetik‹15
in die geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen in zentraler Weise mit ei-
ner Neujustierung hermeneutischen Vorgehens in Verbindung steht. Denn die ›Rück-
kehr der Ästhetik‹ profitiert von einem entscheidenden methodischer Perspektiv-
wechsel. Dessen Impuls verdankt sich über weite Strecken dem insbesondere in den
Gesellschafts- und Naturwissenschaften in den letzten Jahren ausgerufenen aesthe-
tic turn,16 ebenso aber auch den historisch arbeitenden Geisteswissenschaften, die
sich dezidiert auf die Kulturwissenschaften hin geöffnet haben. Das vermeintliche
10 Vgl. Rusterholz, Peter: »Zum Verhältnis von Hermeneutik und neueren antihermeneutischen Strömun-
gen«. In: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München:
dtv, 1996, S. 157–177.
11 Bogdal, Klaus-Michael: »Problematisierung der Hermeneutik im Zeichen des Poststrukturalismus«. In:
Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: dtv 1996,
S. 137–156, hier S. 139–154, Zitat S. 147.
12 Ebd., S. 156.
13 Ebd., vgl. auch Nassen (s. Anm. 5), S. 20.
14 Bogdal (s. Anm. 11), S. 147.
15 Diese wird besonders deutlich in verschiedenen Forschungsprojekten, die sich in jüngerer Zeit wieder
um dezidiert ästhetische Fragestellungen gruppieren: Siehe z. B. die DFG-Kolleg-Forschungsgruppe 1627
BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik (FU Berlin), die SNF-Forschungsgruppe The Power of Wonder – The
Instrumentalization of Admiration, Astonishment and Surprise in Discourses of Knowledge, Power and Art
(Universität Zürich) oder den SFB 1391 Andere Ästhetik (Universität Tübingen).
16 In Auswahl: Opondo, Samson/Shapiro, Michael J. (Hg.): The New Violent Cartography. Geo-Analysis
after the Aesthetic Turn. Abingdon, Oxon/New York: Routledge, 2012; Shapiro, Michael: Studies in trans-
disciplinary method. After the aesthetic turn. Abingdon (Oxon)/New York: Routledge, 2013; Kompridis,
Nikolas: The Aesthetic Turn in Political Thought. New York/London: Bloomsbury Academic, 2014; Zeki,
Lektüren des Ästhetischen – Ästhetische Lektüren 755
›Defizit‹ gerade vormoderner Artefakte, ihre fehlende Autonomie aufgrund ihrer le-
bensweltlichen Eingebundenheit, gewinnt in dieser Perspektive neue Attraktivität.
In beiden Ansätzen tritt eine funktionale Ausrichtung von ästhetischen Gegenstän-
den in konkreten lebensweltlichen, soziokulturellen Kontexten in den Vordergrund.
Fremdreferenzen erhalten vor diesem Hintergrund eine veritable Geltung. Und statt
die ›Wahrheit‹ von Artefakten in einer der Zeit entzogenen Tiefendimensionen zu
suchen, wird hier von den Auswirkungen oder der ›sozialen Energie‹ im Rahmen
konkreter gesellschaftlicher bzw. politischer Praktiken gesprochen; Artefakte wer-
den in neuer Weise von heterologen Kontexten her begriffen.17 Im Gegensatz zu
den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts kommt dabei aber nun gerade den histo-
risch arbeitenden Kulturwissenschaften die Aufgabe zu, einsinnig sozialhistorisch-
kausale Programmatiken als Verkürzung, die auch in den derzeitigen Natur- und
Gesellschaftswissenschaften droht, aufzudecken im Rekurs auf die Widerständig-
keiten des ästhetischen Materials, seiner formalen Eigenlogik oder seiner pluralen
Traditionsimplemente, wie umgekehrt die jeweils gestaltenden Elemente auf der au-
tologischen Seite des Artefakts an die heterologischen Impulse gebunden bleiben,
deren Diskursabhängigkeiten, Geschichtlichkeit und Unzuverlässigkeit mittranspor-
tieren, sich je neu im epistemischen Transfer anpassen müssen.
Damit greift eine doppelte Dynamisierung:18 ein ›unstillbarer‹ Austausch an
Wechselbeziehungen zwischen der autologischen Dimension der Texte einerseits,
ihrer heterologischen Dimension andererseits – und dies nicht, indem ein Text ›in‹
einem geistesgeschichtlichen ›Um‹-feld situiert würde, sondern indem sich dieser
Austausch bis in kleinste Details der ästhetischen Faktur selbst hineinzieht, ebenso
wie der Austausch von den sublimen Irritationen auf der Form-, Motiv- oder Ge-
staltebene immer erneut angetrieben wird. Dieser Dynamik kann jedoch nur eine
›neue‹ und ›andere‹ Hermeneutik nachkommen, die die »produktive Offenheit« der
Sinnsuche als performativen Prozess auffasst, mixed methods anwendet und nicht
auf das fixierende Begreifen, sondern auf »Relationen des Erkennens« abhebt,19
eine Hermeneutik, die jene ästhetische Wende unterstützt, ebenso wie jene auf diese
verweist.
Semir: Glanz und Elend des Gehirns. Neurobiologie im Spiegel von Kunst, Musik und Literatur. München:
Reinhardt, 2010.
17 Grundlegend für die Ansätze des New Historicism bzw. Diskursanalyse: Greenblatt, Stephen: Shakes-
pearean Negotiations: The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Oxford: Clarendon Press,
1988.
18 Zu den Begriffen von Autologie bzw. Heterologie bzw. deren dynamische Relation vgl. das Forschungs-
programm des SFB 1391: https://uni-tuebingen.de/forschung/forschungsschwerpunkte/.
sonderforschungsbereiche/sfb-andere-aesthetik/forschungsprogramm/das-praxeologische-modell-ei-
ner-anderen-aesthetik/ (20.09.2021) bzw. Gerok-Reiter, Annette/Robert, Jörg: »Andere Ästhetik – Akte
und Artefakte in der Vormoderne. Zum Forschungsprogramm des SFB 1391«. In: Gerok-Reiter u. a. (Hg.):
Andere Ästhetik. Grundlagen – Fragen – Perspektiven. Berlin/Boston [erscheint 2022].
19 Bleumer u. a. (s. Anm. 4), S. 566 und 568.
756 A. Gerok-Reiter
Beiden Ansätzen ist die Auffassung gemeinsam, dass Sinnsuche keineswegs den
»Bändigungsversuch des Sinns«20 für das Verstehen impliziert,21 sondern umgekehrt
die Forderung erhebt, eine »Bändigung« gerade nicht vorzunehmen. Darüber hi-
naus stellen beide ihren axiologischen Anspruch in neuer Weise aus: Eine Lektüre,
die als gewinnbringend erachtet wird, und eine positive ästhetische Wertung spie-
len Hand in Hand. Und wie es nicht um eine »philosophische Hermeneutik post
rem« geht, sondern um eine »literarische Hermeneutik in re«,22 so haben sich die
Lektüren des Ästhetischen in ästhetische Lektüren zu verwandeln, nicht um in ana-
chronistischer Weise sich ›psychologisch‹ fundierten Lesarten23 wieder zuzuwenden,
sondern um »Texte als Ereignisse ›anzunehmen‹«, indem mit Hilfe genauer literatur-
wissenschaftlicher Verfahrensweisen diese »in ihrer Bewirktheit und Einzigartigkeit
zugleich rekonstruiert« werden können.24
»Hermeneutik heute« heißt somit zu realisieren, dass Verstehen dort einsetzt, wo
in grundsätzlicher Weise der Einsicht Raum gegeben wird, dass jedes Verstehen im
performativen Prozess des Lesens und Interpretierens nicht an eine Ende kommen
kann – und dies aufgrund der nicht still zu stellenden Austauschverhältnisse und der
Fülle an möglichen Austauschebenen gerade im historischen ›Ereignis‹ des Textes
selbst.25 Jedes Verstehen impliziert so das Eingeständnis eines Nicht-Verstehens, be-
ruht auf einer Krise des Verstehens,26 ohne jedoch in einer »antihermeneutischen«
grundsätzlichen Unlesbarkeit (Paul de Man) bzw. in einer »antihermeneutischen«
grundsätzlichen Differenz, die kein Verstehen mehr erlaubt (Derrida), aufgehen zu
müssen.27 Das Angebot von handhabbaren Lösungen, eindeutigen Intentionen oder
fragloser Gewissheit – ein Angebot also, dem das Krisenmoment nicht eingeschrie-
ben ist – macht heute im postfaktischen Zeitalter eher misstrauisch, nicht weil Lösun-
gen nicht erwünscht wären, sondern weil gewusst wird, dass ein Verstehen, das kein
Krisenmoment kennt, nicht ausreicht. Die Antwort hierauf kann jedoch weder sein,
20 Ebd., S. 569.
21 Zur Diskussion, anschließend an Blumenbergs ›Bändigungsthese‹, Gerok-Reiter, Annette: »Mythos und
Ästhetik. Ordnungsgemengelagen des Erzählens in Veldekes ›Eneasroman‹«. In: Daniela Fuhrmann/Pia
Selmayr (Hg.): Erzählte Ordnungen – Ordnungen des Erzählens. Studien zu Texten vom Mittelalter bis
zur Frühen Neuzeit. Berlin/Boston: de Gruyter, 2021, S. 275–304, hier S. 303 f. https://doi.org/10.1515/
9783110729115.
22 Bleumer u. a. (s. Anm. 4), S. 579.
23 Vgl. Schleiermacher (s. Anm. 3), S. 80 f.
24 Bogdal (s. Anm. 11), S. 156. Vgl. Bleumer, Hartmut: Ereignis. Eine narratologische Spurensuche im
historischen Feld der Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2020.
25 Zu dieser Fülle vgl. auch Jung (s. Anm. 5), S. 177. Dies heißt jedoch – gegen Jung – keineswegs, dass es
»keine richtige Deutung, bloß jeweils bessere Begründungen für einen Lektürevorschlag« geben könne (S.
177 f.). Auch das Angebot pluraler Lektürevorschläge bleibt auf die je adäquate, historisch kontextualisier-
te Deutung innerhalb des einen Vorschlags angewiesen; Pluralität sollte nicht mit Beliebigkeit verwechselt
werden. Entsprechend betont Bogdal (s. Anm. 11), S. 155, denn auch gerade, dass die historische Kon-
textualisierung für eine »endliche Menge an Aussagemöglichkeiten« des Textes sorge. Ebendies kann und
muss die konkrete Deutung anleiten.
26 Bleumer (s. Anm. 24), S. 25, bezeichnet dies als »Inkompossibilität«: Im »Ereignis tut sich vielmehr
[...] ein Riss im Bereich des aktuell Möglichen auf, in dem schlagartig die unabsehbare Fülle aller weiteren
erdenklichen Möglichkeiten spürbar wird.«
27 Rusterholz (s. Anm. 10), insbes. S. 167–176.
Lektüren des Ästhetischen – Ästhetische Lektüren 757
das Bemühen um ein Verstehen ganz aufzugeben, noch Konfusion zum Normalzu-
stand zu erklären. Als Antwort bietet sich vielmehr an, die Krise des Verstehens als
Integral des Verstehens selbst aufzufassen.28
Genau dies aber gehört zum Kerngeschäft ästhetischen Verstehens. Im ästheti-
schen Verstehen ist die Krise des Verstehens gleichsam auf Dauer gestellt, nicht
aber als Versagen, sondern als Konzept, um mehr verstehen zu können als das ratio-
nal Handhabbare, das explizit Beabsichtigte, das begrifflich Fixierte. Dieses ›mehr‹
zielt heute nicht länger auf den exklusiven Raum derjenigen Kunst, die sich die
Freiheit einer eigenen Gesetzlichkeit oder eines mit sich selbst identischen Text-
sinns nimmt. Es zielt vielmehr auf die Ambiguitäten, die entstehen, weil Semanti-
ken nicht außerhalb der Pragmatik zu denken sind, weil ästhetische Lektüren nicht
aus Lebenswelten hinaus-, sondern in sie hineinführen, weil Artefakte nicht allein
autologisch, sondern mindestens ebenso heterologisch bestimmt sind. Eine ›ande-
re‹ Hermeneutik, eine Hermeneutik, die ihre Krise mitdenkt,29 kann so mit einer
›anderen‹ Ästhetik korrelieren, deren Verstehen nicht im Anspruch ›interesselosen
Wohlgefallens‹ oder reiner Präsenz aufgeht,30 sondern die das ästhetische Agieren
und Verstehen als zentralen Erschließungsmodus im Rahmen komplexer historischer
und sozialer Praktiken31 auffasst.32 Hermeneutische Lektüren des Ästhetischen wer-
den so, im gelungenen Fall, zu ästhetischen Lektüren,33 die ästhetische Lektüren
zu einer ästhetischen Praxis.34 Eine ›andere‹ Hermeneutik hätte sich damit nicht
nur den Status der Auslegungs-Kunst neu erobert, sondern hätte als Praxis einen
gesellschaftlichen Ort allererst gefunden.
Funding Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Li-
zenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in
jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ord-
28 Ebd., S. 176: »Die Alternative ›Interpretierbarkeit oder Uninterpretierbarkeit der Texte‹ ist wohl zu
einfach.«
29 Hierin würde sich das Unternehmen der literarischen Hermeneutik, die sich nicht erst seit Jauß, son-
dern von ihren Anfängen an schrittweise immer »offener, pluraler« (Jung [s. Anm. 5], S. 176) zeigte, erst
eigentlich ihrem Anspruch gerecht. In diesem Sinn hebt Bogdal (s. Anm. 11) hervor, dass manche »post-
strukturalistische Globalkritik der Interpretation« der Hermeneutik, die nur auf die ›eine‹ Wahrheit zulaufe,
zu kurz greift (S. 138) – mit Verweis auf Blumenbergs ausgewogene Definition: »Hermeneutik geht auf
das, was nicht nur je einen Sinn haben und preisgeben soll und für alle Zeiten behalten kann, sondern was
gerade wegen seiner Vieldeutigkeit seine Auslegungen in seine Bedeutung aufnimmt«; Blumenberg, Hans:
Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, S. 21.
30 Dazu Gumbrecht (s. Anm. 7): »Letzten Endes wird in diesem Buch ein Verhältnis zu den Dingen dieser
Welt befürwortet, das zwischen Präsenz- und Sinneffekten oszillieren könnte« (S. 12).
31 Vgl. Reckwitz, Andreas: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie.
Bielefeld: transcript, 2016.
32 In diesem Sinn hat der SFB 1391 Andere Ästhetik ein praxeologisches Analysemodell entwickelt: s.
Anm. 17.
33 Bleumer (s. Anm. 24), S. 7 f.: So könne auch Literaturwissenschaft »zum Ereignis werden. Gewiss heißt
das nicht, dass ein solches wissenschaftliches Ereignis [...] dem literarischen gleichzusetzen wäre. Aber es
beruht zumindest auf einer doppelten Grenzüberschreitung: von der Literatur zur Wissenschaft und von
der Wissenschaft zur Literatur.«
34 Vgl. Bertram, Georg W.: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Berlin: Suhrkamp, 2. Aufl. 2018.
758 A. Gerok-Reiter
nungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen
vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten
Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betref-
fende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung
nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des
Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/
licenses/by/4.0/deed.de.