SCHILDKNECHT Peter - Die Biblischen Geschichten - Wahr Oder Fiktion
SCHILDKNECHT Peter - Die Biblischen Geschichten - Wahr Oder Fiktion
Gottes Wort und Jesus Christus sein göttlicher Sohn ist. Peter Schildknecht
Der Autor geht dieser Behauptung nach, indem er die
Bibel auf den Prüfstand stellt. Die Kriterien seiner Prü-
Peter Schildknecht
978-3-643-14295-5
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Peter Schildknecht
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Peter Schildknecht
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ANHANG
Anhang 1: WIDERSPRÜCHE IN DER BIBEL . . . . . . . . . . . . 473
Anhang 2: Eckpunkte der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491
Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein
vermeint, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die
Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch
den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich
seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit
besteht.
Alles, was in der christlichen Bibel steht, ist wahr. Davon waren und sind
Millionen von Menschen überzeugt und richten ihr Leben danach. In der
Tat, gäbe es eine Möglichkeit, zweifelsfrei diese Aussage zu beweisen,
dann käme das nicht weniger als einer Revolution gleich. Nicht nur, dass al-
le anderen konkurrierenden Glaubenssysteme und Ideologien wie auch der
Atheismus erledigt wären, wir hätten zum ersten Mal zuverlässiges Wissen
über die Existenz eines Wesens jenseits von Zeit und Raum, dessen Macht
alle unsere Vorstellungskräfte übersteigt. Diese Gewissheit würde zu einer
völligen Neuordnung der menschlichen Beziehungen führen und unseren
Lebensinhalt mit einem ganz neuen Sinn erfüllen.
Doch solch einen Beweis gibt es nicht und er wird wohl auch nie zu füh-
ren sein. Allerdings verhalten sich viele Gläubige, als stünde die Wahrheit
der Bibel außer Zweifel und akzeptieren damit ungefragt auch die phantas-
tischsten biblischen Erzählungen als historische Begebenheiten, sei es z.B.
Gottes Abendspaziergang im Garten Eden oder Marias Empfängnis durch
den heiligen Geist. Diese Vorstellungen erscheinen den meisten von uns
heute absurd. Wie hätte z.B. die Befruchtung Marias, d.h. die Übertragung
der genetischen Informationen, auf physischem Wege stattfinden können?
Wer kann heute noch glauben, dass auf ein Wort hin Tote auferstehen konn-
ten oder dass Jesus auf dem Wasser wandelte? Nach dem Glaubensbekennt-
nis der Kirche soll Jesus zum Reich des Todes hinabgestiegen sein und sich
dort drei Tage bei den Geistern aufgehalten haben. Von diesem Ort ist er
dann wieder zurückgekommen, um danach in den Himmel aufzusteigen.
War das ein Ereignis, dass man hätte photographisch festhalten können?
Umfragen belegen, dass Christen heute Kernaussagen des von der Kir-
che verkündigten Glaubens nicht mehr für sich akzeptieren. Ist dem aber
so, dann ist für viele wenn nicht die meisten Kirchenbesucher das Aufsa-
gen des Glaubensbekenntnisses zu einem entleerten Ritual geworden. Falls
sie sich aber nicht wirklich mit seinem Inhalt identifizieren können, und sie
sprechen es doch nach, dann sagen sie mit den Worten ‚ich glaube an . . . ‘
im Grunde genommen die Unwahrheit.
4 1. Wahrheit und Erkenntnisfindung
Standen die Menschen Gott früher näher? Glaubt man der Bibel, dann
waren z.B. alttestamentliche Patriarchen und Erzväter wie Noah, Abraham
und Mose mit Gott praktisch auf Du und Du, ja Abraham soll Gott sogar
einmal zu Gast bei sich bei seinem Zelt gehabt haben. Doch mit der Zeit
scheint sich Gott zurückgezogen haben, jedenfalls gibt es diese Art von di-
rekten Kontakten nicht mehr. Haben wir nicht mehr die richtige Antenne für
ihn oder gibt es eine andere Erklärung für das göttliche Schweigen? Ist es
vielleicht so, dass mit unserem zunehmenden Wissen über Naturvorgänge
eine andere Form der Wahrheit den Glauben als überholt erscheinen lassen
und dass uns Kirchen mehr und mehr wie Relikte aus einer vergangenen
Zeit vorkommen?
Andererseits, wenn nicht der Glaube, was soll unser Dasein mit Sinn
erfüllen? Gibt es einen Ersatz für die Religion, deren vornehmste Aufga-
be es doch ist, Antworten auf essentielle Fragen menschlicher Existenz zu
geben wie: Woher komme ich und wohin gehe ich? Ferner, führt ein Verlö-
schen des Glaubens nicht auch zu einem Rückgang gesellschaftlicher Bin-
dungskräfte? Einen Glauben wird man sicherlich nicht aufgrund seiner ver-
muteten sozial wertvollen Funktionen verordnen können, er muss ja auch
Überzeugungskraft besitzen und die scheint sich in unserer säkularisierten
Welt zunehmend abzuschwächen.
Das Wesen des Glaubens reflektiert das Wesen unseres Menschseins,
im Guten als auch im Schlechten. Menschen fühlten sich durch ihren Glau-
ben beflügelt, für ihre Freiheit zu kämpfen, sich für andere in Not einzuset-
zen. Im Namen des Kreuzes wurden aber auch Kriege geführt und Anders-
gläubige verfolgt. Der christliche Glaube soll den Menschen Heil bringen,
aber so oft hat er Unheil über andere gebracht. Christen glauben an die
heilsame Botschaft des Jesus von Nazareth, die durch die Heilige Schrift
vermittelt und durch die Heilige Christliche Kirche verkündigt wird. Heil
ist hier gleichbedeutend mit Erlösung von Schuld und Sünde und meint die
Aufhebung der Entfremdung des Menschen von Gott. Der Theologe Rudolf
Otto (1869–1937) assoziiert mit dem Begriff ‚Das Heilige‘, also mit Gott,
ein Anderssein, dass er mit Ausdrücken wie Ehrfurcht, Schaudern, Faszi-
nation, Furcht und Ekstase umschreibt. Wenn aber die Bibel vom ‚Heiligen
Land‘ spricht, dann impliziert es ein Eigentumsrecht Gottes. Und die Is-
raeliten, die sich als ein von Gott erwähltes Volk sahen, überfielen dieses
‚Heilige Land‘ und verjagten oder töteten die früheren Einwohner, glaubten
1. Wahrheit und Erkenntnisfindung 5
sie sich doch im göttlichen Recht. So liest es sich zumindest in der Bibel.
Wenn auch viele Gläubige dieses Geschehen als einen Akt der Befreiung
verstehen, so würde man es doch aus heutiger Sicht wohl eher als einen
Genozid verurteilen.
Im Namen ihres Glaubens begehen auch heute wieder fundamenta-
listische islamische Gotteskrieger die abscheulichsten Gräueltaten. Daran
zeigt sich einmal wieder, wie leicht ein Glaube zu einer Ideologie degenie-
ren kann, zur Weltanschauung eines totalitären Systems. Der Kommunist
glaubt an die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft, der Faschismus ist ei-
ne auf dem Führerprinzip basierende völkisch-rassistische Ideologie. Wie
sehr während der Hitlerzeit die Trennlinie zwischen Glauben und Ideolo-
gie verschwamm belegen Auszüge aus dem Tagebuch des Friedrich Kellner
(Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne). Kellner schrieb, dass der einfache
Bürger glaubte, Hitler wäre „von Gott gesandt“ bzw. „ein Gesandter Gottes
ist, der uns den Endsieg bringen würde“. Ein Professor Walter Frank be-
zeichnete in seiner Rede am 10.8.1944 die „Errettung des Führers . . . als
ein Wunder Gottes“. Und wen soll es da überraschen, dass Hitler selbst in
einer Rede an das Volk zum Neujahrstag 1944 „ein Gebet an den Herrgott“
richtete. Man begrüßte sich mit ‚Sieg Heil‘ oder ‚Heil Hitler‘ und schon im
Kindergarten hieß es „Händchen falten, Köpfchen senken, immer an den
Führer denken“. Über die bestialischen Verbrechen während der Nazizeit
sind wir bestens informiert, so dass wir uns es hier ersparen können, darauf
weiter einzugehen.
Im Glauben steckt die inhärente Gefahr, dass er in Intoleranz und Ge-
walt abgleiten kann. Je verfestigter dieser Glaube ist, je leidenschaftlicher
er vertreten wird, desto mehr steigt das Risiko, dass Kritik am Glauben all-
zu persönlich genommen wird und Aggression auslöst. Hitler beförderte
den Glauben an ihn durch Indoktrination, die Erwartung blinden Gehor-
sams, durch Gleichschaltung der Medien und Unterdrückung jeglicher Kri-
tik. Hatte sich die Kirche im Mittelalter nicht oft ähnlich verhalten, indem
sie ihre Gegner unterdrückt, verfolgt und ausgemerzt hat und ihre Schäf-
chen mit der Drohung mit und Angst vor der Hölle bei der Stange zu halten
versucht hatte? Ist es da nicht recht, dass auch die Heilige Schrift, der Nähr-
boden des christlichen Glaubens, nach seinem Wahrheitsgehalt abgeklopft
und es auf sein mögliches Potential für ideologische Brandstiftung unter-
sucht wird? Schon die Volksweisheit rät uns, dass der prüfe, der sich ewig
bindet. Gebunden aber ist der Glaube an die Bibel.
6 1. Wahrheit und Erkenntnisfindung
Wie aber soll die Untersuchung ablaufen? Wie sollen wir die Wahrheit
über die Bibel herausfinden können? Es existieren die unterschiedlichsten
Urteile über die Bibel. Für die einen ist sie das unfehlbare Wort Gottes, bei
der nach dem Verständnis lutherischer Theologen aus der Zeit der Refor-
mation Gott selbst die Feder geführt haben soll. Ein Atheist wie Richard
Dawkins (Der Gotteswahn) bezeichnet sie als grotesk und gewann den Ein-
druck „einer chaotisch zusammengestoppelten Anthologie zusammenhang-
loser Schriften“. Nun ist auch der Atheismus eine Form des Glaubens, näm-
lich des an die Nicht-Existenz Gottes. Wer aber nun überwiegend durch das
Prisma eines Glaubens wie aus einer festen und verschlossenen Burg her-
aus auf die Welt blickt, dem muss die Sicht auf die Realität verstellt bleiben
und verzerrt sein. Man sieht nur das, was man sehen will nach dem Prinzip
was nicht sein darf, das kann nicht sein. Aber ist es überhaupt möglich, die
Scheuklappen seines Glaubens abzulegen und einen völlig neutralen Blick
auf die Welt zu richten, eine Art jungfräuliches Schauen?
Es muss von vornherein zugegeben werden, dass eine völlig wertneu-
trale Sicht nicht möglich ist; denn unser Denken wird gefiltert durch un-
sere Erfahrungen, unsere Emotionen, unsere Überzeugungen, den sozialen
Kontext, also durch unsere persönliche Biographie. Wir können uns zwar
dessen Einwirken auf unser Denken bewusst machen, aber ganz ausschal-
ten können wir es nicht. Doch allein schon von moralischen Prinzipien her,
denke man an die gefährliche Verführungsmacht einer Ideologie, sollten
wir uns verpflichtet fühlen, das Ideal der Wahrheit anzustreben, auch wenn
wir es nie ganz erreichen werden. Die Wahrheit wird ja nicht nur an der
Übereinstimmung mit Fakten gemessen, sondern sie hat auch eine sittliche
Qualität indem sie Wegbereiter einer wahren Humanität sein kann, im Ein-
stehen für Menschenrechte wie Gerechtigkeit und Freiheit oder Tugenden
wie Güte, Toleranz und Hilfsbereitschaft.
So liegt ein Wert des Erkennens in der Förderung des wahren Mensch-
seins. Für den Einzelnen ist es aber auch eine Bereicherung des Lebens;
denn ist die wachsende Einsicht in Zusammenhänge des Lebens nicht eine
Art Abenteuer des Geistes? Es ist doch gerade die Fähigkeit zum Denken,
das Bewusstsein seiner Selbst, das den Menschen vom Tier unterscheidet.
Verfehlen wir dann nicht unser Menschsein, wenn wir nicht Informatio-
nen und uns selbst kritisch hinterfragen? Nur dadurch realisieren wir doch
auch das in uns angelegte Potential, durch wachsende Selbsterkenntnis den
1. Wahrheit und Erkenntnisfindung 7
eigenen Geist zu erweitern. Sokrates fand, dass ein Leben, das sich nicht
selbst prüft, nicht wert wäre, gelebt zu werden. Das ist zwar in der Tendenz
richtig, aber in seiner Ausschließlichkeit geht es dann doch zu weit. Kon-
fuzius drückte es anders aus: „Lasst die Menschen nach objektivem Wissen
streben, und ihr Denken wird aufrichtig werden“. Goethe bezeichnete die
Liebe zur Wahrheit als eine Form der charakterlichen Selbsterziehung, die
auch die soziale Entwicklung begünstigt.
Wir wollen der Heiligen Schrift ohne Vorverurteilung, in der Haltung
eines suspendierten Glaubens begegnen. Unsere Vorgehensweise soll also
die des ‚methodischen Zweifels‘ sein, ein Begriff aus der Soziologie. Wir
werden dabei folgendermaßen vorgehen: Nach einer Einführung in die Bi-
bel werden wir sie schrittweise prüfen. Wir beginnen zunächst immer mit
einer Zusammenfassung eines bestimmten Abschnitts der Bibel, durchsetzt
mit Originalzitaten, was dem Text einen gewissen Anklang von Authentizi-
tät verleihen soll. Vorangestellt sei schon mal, dass die drei Evangelien des
Matthäus, Markus und Lukas in ein neues Evangelium umgeschrieben wer-
den, da sie sich vielfach überschneiden. Nach dem Text folgt der kritische
Kommentar. Kriterien der Kritik sind Übereinstimmung mit historischen
Fakten, logische Konsistenz und moralisch-sittliche Maßstäbe. Wert soll
vor allen auf den sozialen Kontext gelegt werden; denn vielfach erschließt
sich ein Bibeltext nur zufriedenstellend, wenn man zuvor den historischen
Hintergrund ausgeleuchtet hat.
Abschliessend präsentieren wir die Kernaussagen unserer eigenen
Überzeugung:
1. Der Wahrheit ist im Prinzip der höchste Wert zuzuerkennen.
2. Die Wahrheit lässt sich oft nur annäherungsweise bestimmen.
3. Die Suche nach der Wahrheit setzt Offenheit und Unvoreingenommen-
heit voraus. Wer sich weigert, seinen Standpunkt zu durchdenken oder
Kritik nicht zulässt, der hat im Grunde bereits seine Überzeugung, sei-
nen Glauben verfehlt.
4. Wer nicht die Wahrheit sucht, der wird sie auch nicht finden. Wer aber
die Wahrheit liebt, wem es um die wahre Religion, den wahren Glauben
geht, der fürchtet sich nicht vor neuen Erkenntnissen, sondern wird sie
begrüßen.
5. Es ist besser seinen Glauben zu verlieren als seine persönliche Integri-
tät.
Kapitel 2:
Die Bibel: Ihr Ursprung
seiner Flucht aus seines Vaters Hause bei seinen Verwandten in Mesopota-
mien eintraf, da kam er zuerst zu einem Brunnen auf dem Felde, mit einem
großen Stein davor, und es wurden gerade drei Herden Schafe zur Tränke
geführt (Gen. 29,3). Man vergegenwärtige sich, all das soll sich vor Tau-
senden von Jahren abgespielt haben, lange bevor man überhaupt die Schrift
in Israel kannte. Wenn überhaupt, müssen solche Berichte auf mündlichen
Überlieferungen beruhen und deren Zuverlässigkeit darf bezweifelt wer-
den.
In afrikanischen Kulturen gibt es fast unendlich viele Variationen ähn-
licher Erzählungen, deren Kern immer neu ausgedichtet wurde. Gäbe es
wirklich so was wie einen Urtext in der Bibel, dann wäre er heute wohl
verloren. Nach Auffassung von Robin Lane Fox (The unauthorized Ver-
sion) verringert sich der Informationsgehalt des in einer oralen Tradition
wiedergegebenen Geschehens schon drastisch innerhalb von nur zwei Ge-
nerationen und tendiert dann dazu, mythologisiert zu werden. Andererseits
ist das Erinnerungsvermögen in früheren Kulturen auch nicht zu unterschät-
zen; ihre Erzähler sollen über ein erstaunliches Gedächtnis verfügt haben.
So wird von dem Bänkelsänger und Dichter Homer (8. Jh. vor Chr.) gesagt,
dass er die über 40.000 Verse der Ilias und der Odyssee wortgetreu zitieren
konnte.
In der Bibel steht nicht der Name des Verfassers. Setzt man einmal
die Behauptung beiseite, es ist Gott, bleibt die Frage nach dem wirklichen
Verfasser offen. Nun beginnt die Bibel mit der Genesis, auch als das erste
Buch Mose bezeichnet. Es folgen Exodus, das zweite Buch Mose usw. Die
ersten fünf Bücher der Bibel werden in der Tat Mose zugeschrieben und
das Buch des Predigers einem Kohelet. Allerdings hält heute kaum jemand
Mose noch für den Autor. Fox meint, hinter der Tatsache, dass der wirkliche
Autor anonym bleibt, steckt System. Wenn eine Schrift einem bekannten
Namen wie Mose, David oder Salomo zugeordnet wird, dann besitzt sie
eine größere Autorität und damit bessere Aussicht, für wahr gehalten zu
werden.
Nun ist die Bibel, die ja außer Geschichtsbücher auch philosophische
Traktate, erotische Liebeslyrik, Weisheitssprüche und prophetische Visio-
nen umfasst, unter einem bestimmten Blickwinkel des Glaubens geschrie-
ben, nämlich des Glaubens an einen Gott, der das Volk Israel erwählt hat
und immer wieder helfend und strafend in den Lauf der Geschichte ein-
2.1. Die Frage nach dem Autor 11
sich an die hebräische Vorgabe hielt. Es sollte auch vermerkt sein, dass die
christliche Bibel eine andere Anordnung befolgt als das hebräische Ori-
ginal. Während der hebräische Kanon einem geschichtlichen Verständnis
folgt und dabei die Lehrschriften ans Ende stellt, stehen in der christlichen
Bibel die Propheten vor diesen Lehrschriften. Das soll den Brückenschlag
vom Alten zum Neuen Testament bezwecken.
Diese Unterschiede sollten eigentlich klar machen, dass man nicht so
ohne weiteres von der biblischen Wahrheit sprechen kann. Unbestreitbar
aber hat die Bibel eine enorm wichtige Rolle in der Entwicklung der west-
lichen Kultur gespielt. Verwiesen sei auf ihre Wirkmächtigkeit hinsichtlich
von Literatur, Kunst und Umgangssprache. Redewendungen wie ‚ein Dorn
im Auge‘, ‚ein Buch mit sieben Siegeln‘ oder ‚unrecht Gut gedeihet nicht‘
belegen wie sehr die Bibel unser Denken geprägt hat. Mit der Lutherbi-
bel entstand die deutsche Hochsprache. Die Bibel ist das meistgedruckte
und am weitesten verbreitete Buch in der Welt und ist in fast 400 Sprachen
übersetzt und teilweise verfügbar in 2.000 anderen. All dies ist unleugbar.
Trotzdem, wie verlässlich ist die Bibel als das Wort Gottes? Um das heraus-
zufinden, werden wir sie auf den Prüfstand setzen müssen. Zunächst aber
muss seine Entwicklungsgeschichte, soweit wie möglich, geklärt werden
bel. Der erste setzt mit dem Untergang des Nordreiches und dem Auftreten
von Propheten wie Amos und Hosea ein. Judäa trat aus dem Schatten sei-
nes großen Bruders Israel (das Nordreich) heraus und bildete zunehmend
Formen der Staatlichkeit aus wie ein Rechtswesen und eine Schreiberkas-
te, die protokollarisch Details der Regenten und ihrer Feldzüge festhiel-
ten. Judäa war ein Vasall Assyriens und musste Bündnisverpflichtungen
eingehen. Dessen Terminologie spiegelt sich in der Bundestheologie wie-
der, welche die vertragsähnlichen Beziehungen zwischen Jahwe und sei-
nem Volk regelt. Jahwe sichert dem Volk seine Verheißungen zu, solange
es seine Gebote achtet und ihm die Treue wahrt. Damit wurde klar, warum
das Nordreich von der Assyrern überrannt werden konnte. Es hatte seine
Bündnisverpflichtungen gebrochen, war von Jahwe abgefallen und somit
stellvertretend durch die Assyrer von Gott bestraft worden.
Aber dann erlitt Judäa etwa 125 Jahre später ein ähnliches Schicksal,
diesmal aber durch den Einfall der Babylonier. Die jüdische Oberschicht
musste ins Exil nach Babylon gehen. Die Erfahrung des Verlustes von
Staatlichkeit und des kulturellen Zentrums im Tempel zu Jerusalem war
außerordentlich traumatisch. In der Dialektik von Heil und Unheil, Gehor-
sam und Ungehorsam wurde die ganze Geschichte Israels neu erzählt und
dabei die vorliegende Quelle des Deuteronomiums, das etwa 700 v. Chr.
erschaffen wurde, mit integriert. Das Schicksal Judäas wurde als gerecht
empfunden. Jahwe hatte die Nation bestraft, weil sie die gleiche Ursün-
de wie das nördliche Brudervolk begangen hatte, nämlich den Abfall von
Jahwe. Die einzige Hoffnung für die Zukunft lag in der erneuten Zuwen-
dung zu ihrem Gott.
Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft sollte sich knapp hundert Jahre
später erfüllen als die neue Großmacht Persien die Rückkehr aus Babylo-
nien und den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem gestattete. Auf der
Grundlage der Theologie des Propheten Hesekiel entstand ein neuer Ent-
wurf zur Heilsgeschichte Israel. Die sachliche Mitte des revidierten Erzähl-
bogens ist die Einrichtung des Heiligtums am Sinai mit all den kultischen
Vorschriften. Auffallend sind die „Wiederholungen, formelhafte Sprache
und stereotype Formulierungen“. Auf die Priesterschaft geht auch der ers-
te Schöpfungsbericht zurück. Um 400 v. Chr. lag das Alte Testament im
Wesentlichen mit dem uns heute bekannten Inhalt vor.
2.2. Die Entstehung der Bibel 17
Die Patriarchen, die auf Noah folgten, hatten alle eine sehr lange Le-
bensspanne. Sogar Terach sollte noch 205 Jahre alt werden. Terach aber
war der Vater von Abram.
Kommentar
Man mag darüber erstaunt sein, dass ein Erzbischof Ussher aus dem Eng-
land des 17. Jahrhunderts den Beginn der Schöpfung auf das Jahr 4004 v.
Chr. zu berechnen vermochte und ihm sogar dessen Tag und Stunde bekannt
waren, aber vielleicht noch mehr sollte man sich verwundern, dass auch
heute noch fundamentalistisch eingestellte Christen an dieser Mär festhal-
ten. Sollen wir heutzutage noch daran glauben, dass Gott wie ein älterer
Herr im Garten Eden seinen Abendspaziergang machte, sich von Abraham
am Lagerfeuer bewirten ließ oder die Schlange eine Unterhaltung mit Eva
führte? Wer dies alles für historisch wahr hält, der möchte doch bitte die
folgenden Widersprüche erklären:
Schon mit der Schöpfungsgeschichte, von der es zwei Versionen gibt,
beginnen auch die Unstimmigkeiten. Im ersten Schöpfungsbericht wird die
Vegetation vor dem Menschen geschaffen, im zweiten kam sie erst später.
Wieso hat man das Paradies noch nicht ausfindig gemacht, muss es doch
gemäss der Bibel noch existieren? Wo kamen die Leute her, unter die sich
Kain nach dem Mord an seinem Bruder Abel gemischt hatte und die Frau,
mit der er Nachkommen zeugte? Sogar eine Stadt mit einer dann wohl auch
entsprechenden Bevölkerung soll Kain gegründet haben (Gen. 4,17). Wie
anders als eine Fiktion oder einen Mythos kann man eine derart mit Un-
wahrscheinlichkeiten gespickte Geschichte verstehen?
Einmal heisst es, dass Noah von allen Tieren je nur ein Paar in die
Arche nehmen solle, dann aber wird nachgebessert und nun dürfen es von
den reinen je sieben und den unreinen nur eins sein (Gen.6,19–20; 7,2).
Gott entschied, dass den Menschen nur noch eine Lebensspanne von 120
Jahren beschieden sein soll, doch Noah und die späteren Nachkommen des
Shem wurden alle wesentlich älter (Gen.6,3; 9,29 und 11,10–26). Hatte
Gott seinen Beschluss vergessen oder geändert?
Es können noch Einwände ganz anderer Art gegen die Darstellungen in
der Bibel gemacht werden. Lassen wir die ansonsten gut belegten Theori-
en der Kosmologie über die Entstehung des Universums zunächst beiseite.
Allein der gesunde Menschenverstand hilft uns, allerlei Ungereimtheiten
24 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
fluterzählung diesem Epos aber auffallend ähnelt. Der Held der Sage ist
der halbmythische sumerische König Gilgamesch, der sich nach dem tragi-
schen Tod seines Freundes auf die Suche nach dem ewigen Leben macht.
Auf der langen Suche stößt er auf den Urahnen Utnapischtim, der mit seiner
Familie die grosse Flut überlebt hat. Die Flut war von den Göttern geschickt
worden, da diese sich von dem Lärm der Menschen belästigt gefühlt hat-
ten. Ein mitfühlender Gott weihte den Ahnen, der babylonische Noah, in
die Pläne der Götter ein und dieser baute nach dessen Anweisung eine Ar-
che, auf die er allerlei Getier mitnahm. Ein gewaltiger Regen überflutete das
Land sieben Tage lang. Als ‚Noah‘ nacheinander Taube und Rabe aussand-
te, die nicht wieder zurückkamen, erkannte er, dass die Flut nachgelassen
hatte. Das Schiff aber war auf einem Berg gelandet und die Insassen konn-
ten heraustreten. Als die Götter das Ausmaß der Katastrophe erkannten,
weinten sie und die Göttin schalt den Hauptverantwortlichen mit den Wor-
ten: „Wie konntest du nur unbedachtsam eine Sturmflut erregen? Den, der
Sünde tut, lass seine Sünde tragen“. Hätte man eine solche Zurückhaltung
nicht auch von Jahwe erwarten können? Wie ist es moralisch zu rechtferti-
gen, dass gleich alles Leben vernichtet wird?
Es ist einigermassen plausibel nachzuvollziehen, wie diese Erzählung
ihren Weg nach Israel gefunden hatte und zwar durch Migration und Han-
del. Schon von Abraham wird in der Bibel berichtet, dass er und seine
Vorfahren von Ur, einer sumerischen Stadt, ausgewandert waren. Bereits
in dieser frühen Zeit waren die Länder in Vorderasien durch Handelswege
miteinander verbunden und so fanden Ideen, Erfindungen und Erzählungen
wie auch Waren durch Austausch Aufnahme in vielen Ländern. Nicht, dass
immer kulturelle Diffusion eine hinreichende Erklärung für die Entstehung
von Legenden ist, sondern gerade Erzählungen über die große Flut dürften
auch unabhängig voneinander entstanden sein. Man erzählte sich darüber
in Indien, in Griechenland und selbst in Britannien. Es existieren etwa 250
Flutsagen in allen Teilen der Welt. Hier standen wohl auch historische Er-
fahrungen dahinter.
Auch für die Kain und Abel Geschichte gibt es Parallelen anderswo, so
im germanischen Mythos das Paar Balder und Hoeder. Aus Ägypten ken-
nen wir Osiris und Seth und aus Kanaan Baal und Mot. Die grundlegende
Thematik ist die Tötung eines lichten, guten Gottes durch seinen neidi-
schen Widersacher. Sie verbindet sich mit einem Fruchtbarkeitskultus, der
26 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
für ihre Suppe daraus. Als eine alte Frau wiederholt mit ihrem Stößel an den
Himmel stiess, zog sich der Gott verärgert zurück. Um den Gott wieder zu
erreichen baute man einen Turm, indem man Stein auf Stein legte. Als der
Himmel fast erreicht war, fehlte nur noch ein Stein. So zog eines der Kinder
den untersten Stein heraus, um ihn oben drauf zu legen, mit der Folge, dass
der Turm zusammenbrach. Die Luya in Kenya hatten schon eine Art Kos-
mologie entwickelt. Sie glaubten an einen Schöpfergott, der Himmel, Erde,
Sonne und Mond erschuf und zum Schluss den Menschen als Mann und
Frau. Die geringere Leuchtkraft des Mondes erklärte man sich damit, dass
nach einem Streit zwischen Sonne und Mond letzterer im Dreck landete
und sich daher verdunkelte.
Die Germanen glaubten, dass in der Urzeit ein unergründlicher Ab-
grund klaffte, getrennt durch Eis im Norden und Feuer im Süden. Es setzte
die Eisschmelze ein. Aus dem Schweiss der Achselhöhlen des Eisriesen
wurden ein Riese und eine Riesin geboren. Diese zeugten die ersten Götter
wie Odin, den Schöpfer der Welt. Odin erschlug den Urzeitriesen und er-
schuf aus seinen Körperteilen Himmel und Erde. Die ersten Menschen wur-
den von Odin am Strand als leblose Baumstämme entdeckt. Ihnen hauchte
er mit seinem Odem das Leben ein. Menschen und Götter lebten zunächst
in friedlicher Eintracht zusammen bis durch das Begehren Neid, Hass und
Streit aufkam. Die Götter trennten sich von den Menschen, in deren Exis-
tenz der Tod einzog. Die Göttin Iduna waltet als Hüterin des paradiesischen
Gartens, insbesondere des Apfelbaums in der Mitte, deren Frucht das ewige
Leben verheisst.
Ägypten ist nebst Mesopotamien die älteste Zivilisation der Welt. Ihr
Jahrtausende alter Mythos stellt an den Anfang der Welt das Urmeer Nun,
aus dem der selbst-geborene Schöpfergott Amun-Re entsteigt und ein Be-
wusstsein herausbildet. Er erzeugt das erste Götterpaar, welches Luft und
Feuchtigkeit repräsentiert. Aus ihrer geschlechtlichen Vereinigung gehen
Himmel und Erde als auch alle anderen Götter hervor. Das Paar ging zeit-
weise verloren und als es wiedergefunden wurde, vergoss Amun-Re Freu-
dentränen, aus denen die ersten Menschen entstanden.
In Babylon wurde jährlich rituell die Urschlacht zwischen dem Götter-
sohn Marduk und der Schlange Tiamat, welche sich aus dem Chaosmeer
heraushob, gefeiert. Von der Einhaltung des von Priestern genau vorge-
schriebenen Ablauf der Riten hing, so war man überzeugt, die Ordnung
3.1. Die Urgeschichte 29
der Welt, ja ihre ganze Existenz ab. Jahr für Jahr, so glaubte man, würden
diese Zeremonien den Kosmos, welcher im Himmel die soziale Ordnung
auf Erden widerspiegelt, erneuern.
Der Götterhimmel in Griechenland war total übervölkert, ein Resul-
tat von Völkerwanderung und kultureller Diffusion. Der Literat Hesiod (8.
Jahrhundert vor Christus) war der erste, der etwas Ordnung in das Cha-
os parallel laufender und sich teilweise widersprechender Mythen brachte.
Ihm zufolge war der Kosmos anfangs eine gähnende Leere. Dann erschei-
nen wie aus dem Nichts die Götter der Urzeit. Zunächst gebiert Gaia (die
Erde) Uranos, den Himmel. Aus ihrer Vereinigung entstehen die Titanen,
u.a. Kronos. Kronos überwältigt und entmannt seinen Vater, den Uranos,
und übernimmt zeitweise die Macht. Er verschlingt seine Sprösslinge, da er
fürchtet, dass diese ihm seine Macht streitig machen könnten. Doch durch
die List seiner Gattin überlebt der Letztgeborene, Zeus. Dieser entthront
Kronos, wirft ihn in den Abgrund und richtet nun seine Herrschaft auf. Er
etabliert den Götterrat auf dem heiligen Berg Olymp und übernimmt selbst
den Vorsitz.
Über die Entstehung des Menschengeschlechts gibt es diverse Mythen.
Nach einer Version soll es aus der Vermischung der Asche der Titanen mit
der des sterbenden und wiederaufstehenden Gottes Dionysos hervorgegan-
gen sein. Nach einer anderen Version ist das Schicksal der Urahnen mit
dem verhängnisvollen Wirken des Gottes Prometheus und der Pandora ver-
bunden, welche das goldene Zeitalter als Folge von Neid und Zwietracht
beendete. Zuvor waren die Menschen, die dem Getreide entsprossen, ewig
jung geblieben. Götterwelt und Menschenwelt blieben aber eng verbunden.
So wurde der Abstieg in und der Aufstieg aus der Unterwelt der Göttin
Demeter und ihrer Tochter Persephone mit den Jahreszeiten assoziert. Sol-
cherlei Fruchtbarkeitskulte wurden in den sogenannten Mysterien gefeiert
von denen das bekannteste das zu Eleusis war.
Wenn man sich die Rolle der Mythen vergegenwärtigt, dann wird fest-
zustellen sein, dass sie durchaus eine positive soziale Rolle spielen. Indem
sie überzeugende Antworten auf Grundfragen der menschlichen Existenz
und der Beschaffenheit der Welt geben, fungieren sie als Orientierungshilfe
für das menschliche Verstehen und als Garant der sozialen Ordnung. Wenn
man denn auch weithin die Urgeschichten der Bibel als Mythos begreift,
dann soll sie dadurch nicht ins Lächerliche gezogen werden. Sie eröffnen
30 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
uns Einblick in die Kinderstube der Menschheit. Man täte der Bibel un-
recht, wenn man diese Geschichten ausschliesslich an Logik und Fakten
misst und sie als kurioses Sammelsurium von Aberglaube und Fantasie ab-
tut. Anscheinend archaische Symbole wie Paradies, Baum des Lebens oder
die Urwasser haben eine entscheidende Rolle in der menschlichen Entwick-
lung gespielt und können noch heute in neuer Form auf Vorgänge in unse-
rem Unterbewusstsein hinweisen.
Wir sind mit den Mythen und Märchen unserer Vorfahren stärker ver-
bunden als wir vielleicht wahrhaben wollen. Sie sind Teil einer Entwick-
lungslinie an deren Ende unsere heutige Zivilisation steht und das manche
Völker noch nicht erreicht haben. C G Jung setzt diesen Prozess in Ver-
gleich zu unserem Erwachsenwerden. So wie der Urmensch aus dem Däm-
merzustand des Bewusstwerdens aufgetaucht ist, so erwacht auch das Be-
wusstsein des Kleinkindes erst durch eine zunehmende Ichbezogenheit von
einer „insulären Diskontinuität“ hin zu einer voll entwickelten Kontinuität
des Denkens. Dieses Bewusstsein ist anfangs noch von einer „phantasieer-
füllten Apperzeption der Wirklichkeit gekennzeichnet“. Gleichsam ist das
Bewusstsein des ‚primitiven‘ Menschen, gerade aufgewacht aus den Ur-
wassern seiner Seele, noch einem magischen Weltbild verhaftet, das ihm
aber anfangs zufriedenstellende Lösungen für die Grundfragen seiner Exis-
tenz bietet. Wenn nun aber eine Diskontinuität überkommener Symbolik
mit der sozialen Wirklichkeit eintritt und dabei Symbole wörtlich verstan-
den werden, dann wird nach Paul Tillich ein Glaube zum Götzenglauben.
Authentizität heute bedeutet auch, die erfahrene Wirklichkeit in den Sym-
bolen eines reifen Bewusstseins zu deuten.
könnte ein Auge auf seine Frau werfen, gab er Sarah als seine Schwester
aus. Doch der Pharao kam hinter seine Täuschung und verwies ihn des Lan-
des.
Da die Weideplätze knapp waren, trennten sich Abraham und Lot, der
nach Sodom zog. Einige Zeit später bekämpfte Abraham ein Bündnis der
Könige des Landes, besiegte es und konnte Lot aus der Gefangenschaft be-
freien. Nach seinem Sieg wurde Abraham von Melchisedek, dem König
von Salem und „Priester Gottes des Höchsten“, gesegnet. In einer weiteren
Offenbarung wurde Abraham eine zahlreiche Nachkommenschaft verhei-
ßen und „Abram glaubte dem HERRN, und das rechnete er ihm zur Ge-
rechtigkeit“. „An diesem Tage schloss der HERR einen Bund mit Abram
und sprach: ‘Deinen Nachkommen will ich dies Land geben‘“.
Hagar, seine Nebenfrau, gebar Abraham einen Sohn, den er Ismael
nannte. Abraham war nun schon fast hundert Jahre alt, doch als Gott ihm
wieder erschien, erhielt er ein weiteres Mal die Zusicherung, dass ihm eine
zahlreiche Nachkommenschaft beschert werden würde. Zum Zeichen des
Bundes zwischen Gott und ihm als auch den ihm folgenden Generationen
sollen von nun an am achten Tage alle Knaben beschnitten werden.
Eines Tages suchte Gott mit zwei Begleitern Abraham persönlich auf.
Abraham bewirtete seine Besucher mit Speis und Trank und es wurde ihm
zugesagt, dass seine Frau Sara übers Jahr einen Sohn haben werde. Sara
überhörte es und sie musste heimlich lachen; denn schließlich war sie auch
bereits an die neunzig Jahre alt. Gott war darüber ungehalten und sagte:
„Warum lacht Sara? . . . Sollte dem HERRN etwas unmöglich sein?“
Die Besucher machten sich auf dem Wege nach Sodom, um die Men-
schen dort wegen ihrer Sünden zu bestrafen. Abraham feilschte mit Gott,
dass der Stadt Gnade gewährt werde und die Gerechten nicht mit den Gott-
losen umgebracht werden. Doch anscheinend fanden sich keine guten Men-
schen; denn der HERR wandte sich ab. So begab es sich, dass zwei Engel
Lot in seinem Haus in Sodom aufsuchten. Als die Männer der Stadt ihn
bedrängten, seine beiden Besucher herauszugeben, bot er ihnen stattdessen
seine beiden Töchter an, mit denen sie machen könnten, was sie wollten.
Auf Geheiss der Engel floh Lot schließlich mit seiner Familie aus der Stadt
und Gott ließ Feuer und Schwefel auf sie herabregnen. Lots Frau wurde in
eine Salzsäule verwandelt, da sie sich trotz des Verbotes der Engel umge-
dreht hatte, um das Unheil zu besehen. Lot und seine beiden Töchter aber
32 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
zogen sich in die Einsamkeit des Gebirges zurück. Die Mädchen sorgten
sich, dass sie nun keinen Mann mehr bekommen würden. So machten sie
ihren Vater betrunken und schliefen mit ihm. Sie wurden schwanger und
empfingen je einen Sohn, von denen die Moabiter und Ammoniter abstam-
men.
Auch Sara war schwanger geworden und gebar einen Sohn, genannt
Isaak. Auf Drängen seiner Frau vertrieb Abraham Hagar in die Wüste. Sie
und ihr Sohn Ismael wurden dort durch göttlichen Eingriff vor dem Ver-
dursten gerettet.
Mehrere Jahre vergingen bis Abraham wieder Gottes Rufen vernahm.
Abraham antwortete: „Hier bin ich“. Und Gott weiter: „Nimm Isaak, deinen
einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfe-
re ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde“. In
aller Frühe machte Abraham sich mit seinem Sohn und zwei Knechten auf
den Weg. Am dritten Tage sah er die Stätte in der Ferne. Da wies Abraham
die Knechte an, zurückzubleiben, und ging allein mit seinem Sohn wei-
ter. Isaak aber fragte: „Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich mein
Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf
zum Brandopfer? Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen
ein Schaf zum Brandopfer“. Und Abraham bereitete den Altar, band seinen
Sohn und legte ihn auf das Holz und erhob hoch die Hand mit dem Messer,
„dass er seinen Sohn schlachte“. Doch ein Engel des HERRN bot ihm Ein-
halt mit den Worten: „Nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines
einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen“. Da erschien ein Widder
und Abraham opferte diesen an seines Sohnes statt. Und Abraham wurde
gesegnet wegen seines Gehorsams gegen Gott.
Als Abraham schon hochbetagt war, schickte er einen Knecht nach Me-
sopotamien, der dort aus seiner Verwandtschaft eine Frau für seinen Sohn
Isaak finden sollte. Es war wohl Vorsehung, die den Knecht zu einem Brun-
nen führte, an dem er Rebekka traf, die ihn mit ihrer Familie bekannt mach-
te. Als er ihnen den Grund seines Kommens erklärt hatte, war es schon bald
beschlossene Sache, dass Rebekka die erwählte Braut des Isaak werde. Sie
zog bereitwillig mit und Isaak nahm sie sich zur Frau.
Rebekka gebar Zwillinge, Esau und Jakob. Rebekka hatte den Jüngeren,
Jakob, lieber während Isaak Esau bevorzugte. Als nun Isaak alt und blind
geworden war, da wollte er den Segen der Erstlingsgeburt über den Älte-
3.2. Die Erzväter: Von Abraham bis Josef 33
ren, Esau, aussprechen. Doch Rebekka ersann eine List und Jakob täuschte
seinen Vater, indem er sich als Esau ausgab während dieser das vom Vater
gewünschte Wildbret erjagte. Um der Rache seines Bruders zu entgehen,
ergriff Jakob die Flucht nach Haran, zu seinen Verwandten. Auf dem Weg
dorthin erschien ihm ein Engel in einem Traum und der HERR verhieß ihm
und seinen Nachkommen das Land, auf dem er ruhte. Als er in die Stadt
des Bruders seines Großvaters Abraham kam, begegnete er Rachel, die er
zur Frau begehrte. Jakob aber musste zunächst sieben Jahre dienen, erhielt
dann aber nur Rachel’s ältere Schwester zur Frau und wurde gezwungen,
noch weitere sieben Jahre zu arbeiten, um auch Rachel als Braut heimfüh-
ren zu können. Es schien, als ob der Vater sein Versprechen nicht einhalten
wolle und so entschied sich Jakob zusammen mit seinen beiden Frauen, den
ihm geborenen Kindern und dem Vieh zur Flucht. Der Vater Rachels setz-
te ihnen nach, insbesondere weil er seinen Hausgott vermisste. Den aber
hatte Rachel entwendet und als ihr Vater mit Jakob aufschloss und alle Zel-
te durchsuchte, vermochte Rachel ihren Vater zu überlisten, indem sie auf
dem Hausgott saß und vorgab, ihre Tage zu haben. Da die Suche ergebnis-
los verlief und Jakob seine Unschuld beteuerte beschloss man, durch einen
Bund dem Streit ein Ende zu setzen und sie schworen: „Der Gott Abrahams
und der Gott Nahors sei Richter zwischen uns“.
Jakob aber sah der Begegnung mit seinem Bruder Esau mit Bangen
entgegen. In der Nacht rang er mit einem Mann bis zur Morgenröte und
ließ diesen erst gehen, nachdem der ihn gesegnet hatte. Sein Kontrahent
sprach zu ihm: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn
du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen“. Esau
selber hegte keinen Groll mehr gegen seinen Bruder und hieß ihn herzlich
willkommen. Danach ließ sich Jakob in Sichem in Kanaan nieder.
Doch in dieser Stadt sollte ein großes Unglück geschehen. Eine von
Jakobs Töchtern war geschändet worden und Jakobs Söhne rächten ihre
Schwester, indem sie die friedliche Stadt überfielen, deren Bewohner sie
vorher mit einer Scheineinigung sich haben in Sicherheit wiegen lassen,
und sie töteten alles was männlich war. Nach Entdeckung dieser Bluttat
konnten Jakob und seine Familie ihr Leben nur durch eine schnelle Flucht
retten. Jakob verdammte die Tat und war überzeugt, dass die fremden Göt-
ter an allem schuld seien, und so ordnete er an, diese aus seinem Umfeld zu
entfernen.
34 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
mit Vollmachten ausgestattet, die ihn nur wenig geringer machten als den
Pharao. Der gab ihm auch die Tochter des Priesters zur Frau.
Als nun die Hungerjahre kamen und auch in Kanaan die Not groß war,
da schickte Jakob seine Söhne nach Ägypten, um dort Korn zu kaufen. Nur
der Jüngste, Benjamin, blieb zu Hause. In Ägypten wurden sie höchst de-
mütig bei Josef vorstellig, erkannten ihn aber nicht. Josef, der sehr wohl
wusste, wer diese waren, ließ sich von ihnen über ihre Familie berichten.
Sie durften zwar mit dem Korn wieder heimwärts ziehen, mussten aber
einen der Brüder als Geisel zurücklassen, der nur durch den Jüngsten aus-
gelöst werden konnte.
Da die Hungersnot anhielt, musste Jakob seine Söhne wieder nach
Ägypten schicken und schweren Herzens Benjamin, den Jüngsten, mit ih-
nen ziehen lassen. Josef war zutiefst gerührt als er sie wieder erkannte,
bewirtete sie und liess sie dann mit vollen Säcken gehen. Doch hatte er in
einen der Säcke einen silbernen Becher legen lassen. Er befahl, die Brüder
zu verfolgen und ihre Säcke zu durchsuchen. Der Becher fand sich in Ben-
jamins Sack und so kamen die Brüder zurück zu Josef. In ihrer Not und
Angst fielen sie nieder vor seinem Angesicht; denn Josef hatte entschieden,
dass derjenige, bei dem der Becher gefunden wurde, sein Sklave sein solle.
Da trat Juda vor, berichtete vom Herzensleid des Vaters und bot sich selber
an Benjamins statt als Sklave an. Josef aber konnte seine Tränen nicht mehr
zurückhalten und gab sich seinen Brüdern zu erkennen. Nach ihrer Rück-
kehr zu ihrem Vater berichteten die Söhne ihm alles, was sich zugetragen
hatte. Doch konnte der erst glauben, dass Josef tatsächlich noch am Leben
war, als er die Wagen sah, die dieser hatte mitschicken lassen.
In der Nacht kam der Geist Gottes über Jakob und sprach zu ihm: „Ich
bin Gott, der Gott deines Vaters, fürchte dich nicht, nach Ägypten hinabzu-
ziehen; denn daselbst will ich dich zum großen Volk machen.“ So machte
sich Jakob mit seiner ganzen Sippe, die sechsundsechzig Seelen umfasste,
auf nach Ägypten und der Pharaoh „gab ihnen Besitz am besten Ort des
Landes, im Lande Ramses“.
Als nun die Zeit kam, dass Jakob sterben sollte, ließ er Josef schwö-
ren, dass er ihn in seiner Väter Grab in Kanaan begraben werde. Er segnete
daraufhin Josefs’ Söhne und sprach dann ein persönliches Wort über einen
jeden seiner eigenen Söhne. Als Jakob verschieden war, zog das ganze Haus
Israel nach Kanaan, um ihn dort zu begraben. Seine Brüder, die sich sorg-
36 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
ten, dass Josef nun Rache an ihnen nehmen würde, beruhigte er mit den
Worten: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es
gut zu machen“. Fortan lebte Josef im Frieden mit seiner Familie in Ägyp-
ten und verstarb im reifen Alter von hundertundzehn Jahren.
Kommentar
Mit diesem Abschnitt beginnt der eigentliche geschichtliche Teil der Bi-
bel, etwa auf Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends festzuset-
zen. Wird man die Urgeschichte noch als Mythos zu verstehen haben, ha-
ben wir es jetzt mit Legenden zu tun, die ihren Ursprung in den Erzähl-
traditionen verschiedener Sippen haben und später, vielfach überarbeitet,
zu einer Familiengeschichte zusammengefügt worden waren. Dieser Pro-
zess hat zu Unstimmigkeiten und Brüchen geführt, so wenn die Geschichte
von Abrahams Frau, die als Schwester ausgegeben wird, dreimal erzählt
wird (Gen 12,12f; 20,2; 26,7). In Folge der Redaktion haben sich auch ei-
nige historische Fehler eingeschlichen. So soll Terach, Abrahams Vater,
von Ur in Chaldäa nach Haran ausgewandert sein, doch die Chaldäer sind
erst im ersten Jahrtausend vor Christus historisch nachzuweisen. Abraham
kann nicht Kamele als Reittiere besessen haben (Gen 24,11); denn diese
sind erst knapp tausend Jahre später domestiziert worden. Unmöglich ist
es, dass Isaak in Konflikt mit Philistern geraten war (Gen 26). Diese wa-
ren die Nachfahren der Seevölker, die sich um 1200 v. Chr. an der Küste
Kanaans angesiedelt hatten.
Solcherlei Ungereimtheiten sind gegen den Hintergrund des Entste-
hungsprozesses der Bibel verständlich. Die Erzählungen können kaum als
eine Art protokollarisch detailgetreue Wiedergabe tatsächlicher Gescheh-
nisse verstanden werden. Man hat sich wohl ursprünglich in Familienver-
bänden Geschichten über die Ahnen erzählt und sie dabei immer wieder
variiert und ergänzt. Inwieweit sich da ein historischer Kern erhalten hat,
wird im Einzelnen nicht mehr zu belegen sein. Die Geschichten haben aber
auch einen Wert an sich, indem sie uns Einblick in die Existenzweise des
vorstaatlichen, halb-nomadischen Lebens in Israel gewähren. Sie sind auch
geschickt konstruiert worden indem sie miteinander auf manchmal überra-
schende Weise verschachtelt sind. Da ist z.B. der manchmal arrogant auftre-
tende Joseph, vor dem auch ein Juda nur einen demütigen Kniefall machen
kann. Doch wenn Jakob an seinem Lebensende diesem Juda den herrscher-
3.2. Die Erzväter: Von Abraham bis Josef 37
lichen Stab und Zepter überreicht deutet sich bereits eine Änderung des
Status an. Und tatsächlich, aus dem Geschlecht des Juda entstammt König
David und es ist ein Shimei aus dem Hause Joseph, der vor David kriecht
(2 Sam 19,21).
Interessant sind die Erzählungen auch aufgrund der Charakterbeschrei-
bungen, die sie uns bieten. Sie stellen ihre Helden nicht wie damals in der
Antike üblich als strahlende und über alle Zweifel erhabene Sieger dar,
sondern zeichnen sie als wirkliche Menschen mit zuweilen recht krummen
Eigenschaften. Abraham schmuggelt seine Frau in Ägypten unter falschen
Vorwand ein. Er macht seine Profite aber Sara leidet. Jakob ist ein zwielich-
tiger Gauner, der lügt und betrügt. Esau wird als ein recht oberflächlicher
Mensch beschrieben, der nur um eines Linsengerichts wegen sein Erstge-
burtsrecht verschleudert. Joseph tritt vor seinen Brüdern mit kaum verhoh-
lener Arroganz auf, wenn er ihnen aufträgt, dem Vater bei ihrer Rückkehr
von seiner Herrlichkeit zu erzählen.
Man erkennt in den Erzählungen allerdings noch andere, weitaus we-
niger schmeichelhafte Züge. Da bietet Lot den Männern seine Töchter an,
dass sie ihre Lust an ihnen austoben können und die gleichen Töchter bege-
hen wenig später Inzest mit ihrem Vater. Die Söhne des Jakob nehmen eine
fürchterliche Blutrache an den Bewohnern der Stadt, die ihnen Gastrecht
gewährt hatte. Wegen der Tat eines Einzelnen wird die gesamte männliche
Bevölkerung dahingemordet. Diese Mörder aber sind die Söhne, auf die die
zwölf Stämme Israels zurückgeführt werden.
Man mag noch auf die naiven Darstellungen hinweisen, in denen sich
Gott als Person den Menschen offenbart, so wenn er als Gast bei Abra-
ham erscheint oder wenn er mit Abraham wie auf einem Marktplatz um
das Schicksal der Gerechten feilscht. Allerdings beschrieben die Griechen
ihre Götter auf noch viel phantastischere Art und Weise. Diese ritten auf
Pferden und saßen bei Tisch, logen und betrogen und hatten zahlreiche Af-
fären, insbesondere Vatergott Zeus, der immer mal wieder fremdging. Der
wirklich dramatische Höhepunkt dieser Episode aber ist die Versuchung
Abrahams.
Die Situation war wie folgend: Abraham war von Gott eine zahlrei-
che Nachkommenschaft als auch Land verheißen worden. Der Garant dafür
aber, dass diese Verheißungen auch in Erfüllung gehen konnten, war sein
einziger Sohn Isaak. Den aber forderte Gott Abraham auf, ihm zu opfern.
38 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
eingedrungen waren. Von der Agrarkultur heben sich die staatlich organi-
sierten Gesellschaften wie das spätere Israel, Ägypten und Mesopotamien
ab. Diese hatten bereits ein Gesetzwesen, ein Beamtentum und eine Art in-
stitutionalisierte Religion. Das Opferwesen variiert stark. Während z.B. die
Azteken in großer Zahl Menschen opferten, um ihrem Glauben gemäss den
Weitergang der Sonne zu sichern, gab es in Griechenland nur noch verein-
zelt Menschenopfer und aus Babylon sind sie nicht bekannt. Hier diente der
Kultus der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung.
Die blutigen Opferriten nun als moralisch schlecht zu verurteilen, ist
nicht gerechtfertigt; denn damit verkennt man den historischen Kontext.
Man ermordete ja nicht einen Menschen aus niedrigen Motiven sondern
glaubte, ein dem Gott wohlgefälliges Opfer zu bereiten, und so sollten wir
auch vorsichtig sein, den Opfergang Abrahams an unseren Maßstäben mes-
sen zu wollen. Während das Abraham-Geschehen nun in eine vorstaatliche
Zeit Israels projiziert worden ist, in der vielleicht Menschenopfer noch üb-
lich waren, ist die Geschichte selbst redaktionell im sechsten vorchristli-
chen Jahrhundert bearbeitet worden. Vielleicht wollten die Redaktoren da-
mit zwei Botschaften verbinden. Einerseits ist das Menschenopfer nun als
eine verabscheuungswürdige Praxis anzusehen, andererseits ist der Wille
Gottes, dem zu gehorchen ist, als absolut zu stellen. Somit wird Abraham
in der Tat zum Vorbild des Glaubens. Die Opferpraxis hingegen verschob
sich von der Hoffnung auf göttliche Daseinssicherung mehr und mehr auf
Sühne- und Dankopfer, die immer die Trennung von etwas Wertvollem
beinhalteten.
Kann man denn heute noch Abrahams Handlung als vorbildhaft für die
Gläubigen bezeichnen? Lässt man die Geschichte als solche auf sich wir-
ken, dann könnte einen schon das nackte Entsetzen packen; denn hier plante
ja ein Vater, seinen eigenen Sohn zu töten. Lässt sich eine solche Tötung
für ein höheres Ziel rechtfertigen? Die Tragödie des griechischen Dich-
ters Aischylos (Agamemnon) handelt von der verhängnisvollen Verkettung
menschlicher Schicksale. König Agamemnon opfert seine Tochter Iphige-
nie auf Rat seines Sehers, da sonst die griechische Flotte durch ungünstige
Winde verhindert sein würde, gen Troja zu segeln. Die Bibel erzählt die
Geschichte des Jephthah (Richter 11,30–31), der dem HERRN versprach,
ihm seine einzige Tochter zu opfern, wenn er einen Sieg erringen sollte. In
beiden Fällen ist der Ausgang tragisch, doch kann der Trost für die Betei-
40 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
ligten darin liegen, dass sie zum Wohle der Allgemeinheit gehandelt hatten
und ihre Handlung im Einvernehmen mit dem sittlichen Gebot stand. Dar-
auf kann sich Abraham nicht berufen. Keiner konnte ihn verstehen, nicht
einmal seine Frau. Was Gott ihm mitteilte, blieb privat und für andere un-
zugänglich.
Lässt sich eine solch einsame Entscheidung, wie sie Abraham traf,
überhaupt rechtfertigen? Kierkegaard (Furcht und Zittern) meint ja und
behauptet, dass auch ein Mord eine heilige Handlung sein kann. Im
Glauben kann Abraham „die ethische Verpflichtung dem Sohn gegen-
über . . . suspendieren“, weil hier der absolute Wille Gottes die menschliche
Ethik relativiert. In diesem Glauben handelt Abraham dank der Kraft des
Absurden, nämlich, „dass er als der Einzelne höher ist als das Allgemei-
ne“. Der Glauben, so Kierkegaard, fängt dort an, „wo das Denken aufhört“,
eine sehr fragwürdige Einstellung, die nun Tür und Tor öffnet für alle mög-
lichen Schandtaten, die im Namen eines Glaubens begangen werden kön-
nen, ohne dass sich der Mensch dafür moralisch zu rechtfertigen hätte. Aus
solcher Glaubensgewissheit heraus gab der Prophet Elisa dem Offizier Je-
hu die Anordnung, die ganze Dynastie des König Ahab auszurotten, was
der auch nur zu bereitwillig tat (2 Kön 9,6–8; 10,6–7). Fanatische Musli-
me vermögen die Tötung eines Ungläubigen als ein heiliges Werk zu sehen
und einige Evangelikale scheuten sich nicht, Abtreibungskliniken zu bom-
bardieren und ihr Personal zu ermorden.
Wir können daher heute keinen Glauben mehr akzeptieren, der es als
sittlich geboten hält, einen anderen Menschen zu töten. Es gibt keine ewi-
gen Wahrheiten und jegliche Ethik wird im Rahmen des zeitlichen und kul-
turellen Kontextes zu relativieren sein. So ist die Sklaverei abgeschafft wor-
den, wird heute Homosexualität weithin akzeptiert, ist die Gleichstellung
der Frau ein angestrebtes Ideal und ist der Schutz des Kindes gesetzlich
verankert worden.
Wer immer noch darauf besteht, Abraham als Vorkämpfer des Glaubens
glorifizieren zu wollen, sollte sich doch mal in die Situation des Kindes
versetzen. In dem Augenblick wo Abraham mit erhobener Hand und ge-
zücktem Messer sich über seinen Sohn beugte, da musste dieser in einem
Moment unendlichen Grauens erkennen, dass der eigene Vater ihn töten
wollte, der gleiche Vater, in den er als Kind sein vollstes Vertrauen gesetzt
hatte. Man kann diesen gewollten Kindesmord aus heutiger Sicht nur als
3.3. Mose und der Exodus 41
schändlich beurteilen. Ein Kind soll geopfert werden nur eines Glaubens-
testes wegen. Wie kann man eine solche Handlung nur positiv beurteilen,
auch wenn sie angeblich einem Gehorsam gegenüber einem höheren Befehl
entspringt?
Der Pharao liess sich nicht von den Worten des Mose beeindrucken und
bedrückte das Volk sogar noch mehr. Doch der HERR sprach, dass er dem
Pharao seine starke Hand zeigen werde. Und so schickte der HERR Plagen
über das Land. Mose ließ mit seinem Stab alle Wasser sich in Blut ver-
wandeln und danach Frösche über das Land kommen. Der HERR sandte
Mücken, Stechfliegen und eine Viehpest, schlug die Menschen mit bösen
Blattern, ließ Hagel fallen und Heuschrecken alles kahl fressen und schließ-
lich sich auch noch Finsternis über das Land senken. Doch jedesmal, wenn
eine Plage vorüber war, verhärtete sich wieder das Herz des Pharao und er
ließ das Volk nicht ziehen.
Erst als der Engel des HERRN alle Erstgeburt der Ägypter erschlug, da
wurden die Israeliten regelrecht aus dem Land geworfen. Israel aber war
vom Engel verschont geblieben, da es wie von Gott geheißen, seine Häuser
mit Blut bestrichen hatte. Dieser Tag der Errettung solle hinfort jährlich im
Passafest wieder in Erinnerung gebracht werden. Auch solle dem HERRN
alle Erstgeburt bei den Israeliten geheiligt, beim Menschen jedoch ausge-
löst werden. „Die Zeit aber, die die Israeliten in Ägypten gewohnt haben,
ist vierhundertdreißig Jahre“.
Der Herr begleitete nun das Volk bei seinem Zug durch die Wüste, am
Tag in einer Wolkensäule und bei Nacht in einer Feuersäule. Den Pharao
aber hatte es inzwischen gereut, dass er die Israeliten hatte ziehen lassen
und jagte ihnen hinterher. Als das Volk die Ägypter sahen, da verzagten
sie und sprachen zu Mose: „Warum hast du uns das angetan, dass du uns
aus Ägypten geführt hast?“ Mose entgegnete: „Fürchtet euch nicht . . . Der
HERR wird für euch streiten“. Als Mose seine Hand ausstreckte, da blies
ein starker Ostwind und teilte das Meer, so dass sie es trockenen Fusses
durchqueren konnten. Das Heer der Ägypter aber, das ihnen folgte, wurde
von den zusammenstürzenden Wassermassen begraben.
Nach dieser wundersamen Errettung pries das Volk Gott in einem Lob-
lied: „Der HERR ist meine Stärke und mein Heil . . . Der HERR ist der rech-
te Kriegsmann.“ Doch schon bald gab es Anlass zum Klagen; denn in der
nächsten Oase fand sich nur bitteres Wasser. Auf Geheiß des HERRN warf
Mose ein Stück Holz in das Wasser und da wurde es süß. Eine Weile später
hungerte dem Volk und es sehnte sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens.
Daraufhin sandte Gott Wachteln und Manna. Als es nichts mehr zu trinken
3.3. Mose und der Exodus 43
gab, da schlug Mose mit seinem Stab gegen den Felsen, wie es ihm von
Gott gesagt worden war, und heraus lief Wasser.
Auf ihrem Weiterzug trafen die Israeliten auf die Amelekiter und nach
einem lange hin und her wogenden Kampf konnten sie ihren Feind schließ-
lich besiegen. Der HERR wies Mose an, über diesen Sieg einen Bericht
anzufertigen und fuhr fort, dass sich Josua des HERRN Versprechen mer-
ken soll: „Ich will Amalek unter dem Himmel austilgen, dass man seiner
nicht mehr gedenke“.
Mose befolgte den Rat seines Schwiegervaters, der sich inzwischen
dem Lager der Israeliten angeschlossen hatte, und erwählte Leute seines
Vertrauens, sodass er sich nur noch mit schwierigeren rechtlichen Dingen
zu befassen hatte. Im dritten Monat ihres Auszugs aus Ägypten erreichten
die Israeliten die Ausläufer des Berg Sinai. Mose stieg auf den Berg, den
HERRN zu treffen und Gott sprach zu ihm: „Werdet ihr nun meiner Stimme
gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor al-
len Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich
von Priestern und ein heiliges Volk sein.“
Das Volk bereitete sich auf das Kommen des HERRN vor und reinigte
sich. Am dritten Tag stieg der HERR unter gewaltigem Getöse, Donner und
Blitzen den rauchenden Berg herab. Die Erscheinung versetzte das Volk in
Angst und Schrecken. Mose aber stieg wieder den Berg herauf und empfing
von Gott die Zehn Gebote. Ein weiteres Mal nahte sich Mose „dem Dun-
kel, darinnen Gott war“ und der HERR gab ihm diesmal Rechtsordnungen
und Opfervorschriften. Das Volk verpflichtete sich, alle Gebote Gottes zu
erhalten. Damit der Bund zwischen Gott und dem Volk auch rechtskräftig
wurde, hielt Mose eine Opferzeremonie ab während der er aus dem Buch,
in dem er alle Worte Gottes eingetragen hatte, dem Volk vorlas und das
Buch des Bundes und die Leute mit Opferblut bespritzte. Danach bestiegen
Mose und Aaron, zwei Begleiter und siebzig der Ältesten Israels den Berg
„und sahen den Gott Israels“. „Und als sie Gott geschaut hatten, aßen und
tranken sie“.
Mit seinem Begleiter Josua bestieg Mose wieder den Berg, um die Ge-
setzestafeln von Gott in Empfang zu nehmen. Auf dem Berg gab der HERR
Mose detaillierte Anweisungen zum Bau der Stiftshütte und dem Inventar.
Auch überreichte er ihm die zwei Gesetzestafeln, „beschrieben von dem
Finger Gottes“. Vierzig Tage und Nächte blieben die beiden auf dem Berg.
44 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
Das Volk aber wurde des langen Wartens überdrüssig und drängte Aaron,
ihnen ein goldenes Kalb als ihren Gott zu machen. Gott war so erbost über
das Verhalten des Volkes, dass er sie alle vertilgen wollte. Mose erbat Scho-
nung und erklärte, dass dann doch alles umsonst gewesen wäre und die
Ägypter einen falschen Eindruck von Gott gewinnen könnten. „Da gereute
es dem HERRN das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte.“ Mose
aber zerbrach in seinem Zorn die Tafeln Gottes, ließ das Kalb zerschmel-
zen und dem Volk mit Wasser verrührt zu trinken geben. Auch befahl er
den Söhnen des Levi, mit dem Schwerte den Abfall des Volkes zu strafen
„und erschlage seinen Bruder, Freund und Nächsten“. Es starben dreitau-
send Mann.
Gott sprach zu Mose: „Ich will den aus meinem Buch tilgen, der an mir
sündigt“. Mose wies er an, sich zwei neue Tafeln zu machen, „dass ich die
Worte darauf schreibe, die auf den ersten Tafeln standen.“ Als der HERR
in einer Wolke hernieder kam, da pries Mose den Gott der Barmherzigkeit
und Gnade, der aber „die Missetat der Väter heim(sucht) an Kindern und
Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied“. Gott erklärte sich bereit, den
Bund mit Israel zu erneuern und die fremden Völker vor ihnen auszustos-
sen. Er befahl ihnen: „Deren Altäre sollst du umstürzen und ihre Steinmale
zerbrechen und ihre heiligen Pfähle umhauen“.
Die Stiftshütte und alles was darin ist, wurde erbaut. Nachdem sie ein-
geweiht worden war, „da bedeckte die Wolke die Stiftshütte, und die Herr-
lichkeit des HERRN erfüllte die Wohnung“. In der Stiftshütte erhielt Mose
von Gott Verordnungen über das Opferwesen und er weihte Aaron und sei-
ne Söhne zum Priesteramt. Als zwei dieser Söhne die Ordnung missachte-
ten, da verbrannte sie Gott durch ein Feuer.
Als Mose wieder mit dem HERRN redete, da erhielt er weitere Be-
stimmungen und Gesetze, darunter solche über die Reinheit und die Feste,
als auch Regelungen für Bestrafung im Falle schwerer Übertretungen. Der
HERR ließ das Volk ermahnen, seine Gebote zu halten. Tun sie das, dann
wäre ihnen die Fülle des Lebens gewiss. Werden sie ihm aber ungehorsam,
dann würde sie sein voller Fluch treffen und sie werden seine Rache spüren.
Wilde Tiere werden ihre Kinder zerreissen, die Pest wird sie schlagen und
ihre Ernte vernichtet. Ihre Städte werden zerstört, das Volk zerstreut und
zuletzt „sollt (ihr) eurer Söhne und Töchter Fleisch essen“. Wenn sie sich
3.3. Mose und der Exodus 45
aber von ihren Missetaten abwenden, dann wird der HERR ihrer wieder
gedenken.
Anfang des zweiten Jahres seit dem Auszug aus Ägypten führte Mose
auf Anordnung des HERRN eine Zählung aller wehrfähigen Männer durch.
Die Zahl betrug 603 550, ausgenommen den Leviten, die für den Dienst an
den HERRN freigestellt waren. Auch gab er Anweisung, in welcher Ord-
nung die Stämme marschieren sollten. Wann immer sich nun die Wolken-
oder Feuersäule von der Stiftshütte erhob, brachen die Israeliten auf und
der HERR führte sie.
Als sich die Israeliten, angestachelt von Fremden unter ihnen, mal wie-
der über den Mangel an Fleisch beschwerten wandte sich Mose an Gott
und klagte bitterlich über die Last, die er wegen dieser Leute zu tragen hat-
te. Der HERR ordnete an, siebzig Älteste auszuwählen auf die er seinen
Geist ausgießen werde. Als aber der Geist über sie kam, da „gerieten sie
in Verzückung“. Auch sandte der HERR so viele Wachteln, dass das Volk
überreichlich mit Fleisch versorgt war. Doch als sie noch am Essen waren,
reizte es den HERRN zum Zorn und er schlug sie „mit einer großen Plage“.
Derweil hatte der HERR Mirjam, die Schwester des Aaron, mit Aussatz
geschlagen. Sie und Aaron hatten sich gegen Mose gestellt, weil der sich
eine Kuschiterin zur Frau genommen hatte, obwohl doch seine Familie mit
ihm im Lager war. Auch hatten sie seine Rolle als Mittelsmann zwischen
Gott und Volk in Frage gestellt. Da sich nun der Aufbruch der Israeliten
verzögerte, sandte Mose Männer aus, die das Land Kanaan erkunden soll-
ten. Nach vierzig Tagen kehrten sie mit einer Riesentraube zurück und be-
richteten, dass in der Tat dies ein Land wäre, wo Milch und Honig fließt.
Nur, so warnten sie, waren die Städte befestigt und es wohnten dort Riesen.
Diese Nachricht verstörte das Volk über alle Massen und es drängte, nach
Ägypten zurückzukehren. Nur Josua und Kaleb hielten dagegen, dass mit
Hilfe des HERRN man das Land in Besitz nehmen könne. Fast wären sie
gesteinigt worden, wäre da nicht plötzlich der HERR in seiner Herrlichkeit
erschienen. Er vernichtete die Kundschafter mit Ausnahme des Josua und
Kaleb und ließ das Volk wissen, dass keiner, der ihm nicht gehorsam gewe-
sen war, das gelobte Land sehen werde und sie vierzig Jahre die Wüste zu
durchwandern hätten.
Trotz der Warnung des Mose war das Volk so vermessen, ein Heer der
Amalekiter und Kanaaniter anzugreifen, musste jedoch eine vernichtende
46 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
„Nimm alle Oberen des Volkes und hänge sie vor dem HERRN auf im
Angesicht der Sonne“. Auf Befehl des Mose setzte ein grosses Schlachten
ein, und am Ende waren 24 000 Menschen tot. Der Sohn Aarons setzte den
Schlusspunkt, als er einen israelitischen Mann und seine midianitische Frau
mit dem Spiess durchbohrte.
Sodann sprach der HERR zu Mose: „Übe Rache für die Israeliten an
den Midianitern, und danach sollst du versammelt werden zu deinen Vä-
tern“. Also zogen die Israeliten in den Kampf, verbrannten ihre Städte,
raubten Frauen, Kinder, ihr Vieh und alle ihre Habe. Aber Mose wurde zor-
nig: „Warum habt ihr alle Frauen leben lassen? Siehe, haben nicht diese die
Israeliten durch Bileams Rat abwendig gemacht, dass sie sich versündigen
am HERRN durch Baal . . . So tötet nun alles, was männlich ist unter den
Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind“. Nachdem diese
Aufgabe erfüllt war, reinigten und entsühnten sich die siegreichen Kämpfer
wie es Mose befohlen hatte.
Die Söhne aber der Stämme Ruben, Gad und Manasse erbaten sich
schon jetzt das Ostjordanland als ihr künftiges Siedlungsgebiet. Mose wil-
ligte ein, nachdem die Männer zugesichert hatten, dass sie erst noch mit
den anderen in den Kampf gegen die Kanaaniter ziehen würden. Diese Zeit
war nun gekommen, und der HERR gab Anweisungen wie vorzugehen war:
„Wenn ihr über den Jordan gegangen seid in das Land Kanaan, so sollt ihr
alle Bewohner vertreiben vor Euch her und alle ihre Götzenbilder und alle
ihre gegossenen Bilder zerstören und alle ihre Opferhöhlen vertilgen und
sollt das Land einnehmen und darin wohnen; denn euch habe ich das Land
gegeben“. Ihr Land solle reichen vom Meer im Westen bis zum Jordan im
Osten, im Süden bis zum Ende des Salzmeeres und im Norden bis über
den Berg Hor hinaus. Der HERR gab Mose auch die Namen der Männer,
die das Land unter den Stämmen austeilen sollten. Die Leviten aber sollten
zu ihren Erbteilen Städte erhalten mit Weideland rings herum, sechs davon
als Freistädte bestimmt wohin sich diejenigen flüchten können, die einen
Totschlag begangen haben.
Der Tag des Abschieds für Mose war gekommen und er redete noch ein-
mal zu dem Volk Israel. Er zog dabei Rückblick über die Geschehnisse der
vergangenen vierzig Jahre und ermahnte die Israeliten, die Gebote Gottes
zu halten und seine Worte an die nachfolgenden Generationen weiterzuge-
ben. Obwohl Israel das kleinste unter den Völkern sei, hatte Gott es doch
48 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
erwählt, „weil er euch geliebt hat“. Die Heiden aber wird „Er, der HERR,
dein Gott . . . ausrotten vor dir, einzeln nacheinander . . . und du sollst ihren
Namen auslöschen unter dem Himmel“. Dem HERRN sollten sie in Demut
und Barmherzigkeit dienen. Sollten sie aber den mit Gott geschlossenen
Bund verlassen, dann werde es ihnen ergehen wie Sodom und Gomorra.
„Denn der HERR, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer und ein eifernder
Gott“. Und Mose endete: „Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch
vorgelegt, damit du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine
Nachkommen“.
Josua wird das Volk mit Gottes Hilfe nun weiter führen. Der HERR aber
prophezeite Mose, dass Israel nicht treu bleiben werde, obwohl Er ihnen al-
les für ein gutes Leben gegeben hatte. Verlassen sie ihn für andere Götter,
so verlässt Er auch sie. Verderben wird über sie kommen und dann wer-
den sie erkennen: „Hat mich nicht dies Übel alles getroffen, weil mein Gott
nicht mit mir ist?“ Als nun Mose das Buch des Gesetzes fertig geschrieben
hatte gebot er den Leviten, es in die Bundeslade zu legen. Dieses Buch wird
ein Zeuge gegen euch sein, sagte er, „denn ich kenne deinen Ungehorsam
und deine Halsstarrigkeit“. Mose rezitierte dem Volk sein Lied und redete
von der Größe des HERRN, davon, wie er sein Volk behütet hatte und wie
es ihn doch immer wieder zur Eifersucht gereizt hatte und er es verworfen
hätte wenn er „nicht den Spott der Feinde gescheut hätte“. Doch er wird
sich seines Volkes erbarmen und sich an seinen Feinden rächen; denn „die
Rache ist mein“. „Ich will meine Pfeile mit Blut trunken machen, und mein
Schwert soll Fleisch fressen, mit Blut von Erschlagenen und Gefangenen,
von den Köpfen streitbarer Feinde“, so sagte der HERR. Und darum „prei-
set, ihr Heiden, sein Volk: denn er wird das Blut seiner Knechte rächen“.
Mose, nun hundertundzwanzig Jahre alt, segnete die Stämme Israels
und stieg auf den Berg Nebo von wo aus ihm der HERR das gelobte Land
zeigte, dass er seinen Vorfahren geschworen hatte zu geben. Als Mose das
alles gesehen hatte starb er und wurde vom HERRN begraben. „Und es
stand hinfort kein Prophet in Israel auf wie Mose, den der HERR erkannt
hätte von Angesicht zu Angesicht“.
Kommentar
Das also ist das große Vorbild Mose und so erkannten die Israeliten ihren
Gott, eher ein jähzorniger Rachegott als ein Gott des Erbarmens und der
3.3. Mose und der Exodus 49
Liebe. Mose und Jahwe gelten aber auch als Befreier und Retter des Volkes
Israel. Bereits Akt eins dieser Befreiung, der Auszug aus Ägypten, war
mit Machtdemonstrationen des HERRN verbunden, die er ja auch gewollt
und provoziert hatte. Der Weg dann zum gelobten Land war mit Leichen
gepflastert und die Aussagen des HERRN, wie er bei der Ankunft gegen
die Heiden vorzugehen gedenke, lassen nichts Gutes ahnen.
Wie nun sind die Israeliten zu ihrem Gott Jahwe gekommen? Darüber
gibt es diverse Theorien. Auffallend ist zunächst einmal, dass es in der he-
bräischen Bibel verschiedene Gottesnamen gibt, wie El, Elohim, El Eljon
usw.. Übersetzt werden diese Namen allerdings alle mit ‚Gott‘, so dass ei-
nem deutschen Bibelleser diese Unterschiede gar nicht bewusst werden.
Exodus 6,2–3 würde sich z.B. so lesen: „Und Gott (Elohim) redete mit
Mose und sprach zu ihm. Ich bin der HERR (Jahwe) und bin erschienen
Abraham, Isaak und Jakob als der allmächtige Gott (El Shaddai), aber mit
meinem Namen ‚HERR‘ (Jahwe) habe ich mich ihnen nicht offenbart“.
Warum nun wurden Gott all diese verschiedenen Namen gegeben? Man
wird annehmen dürfen, dass hier der Einfluss des Stadtstaates Ugarit (im
heutigen Libanon) eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Dieser erleb-
te seine Blütezeit zwischen 1500 – 1200 v. Chr. und war die wirtschaft-
lich, politisch und kulturell dominierende regionale Macht. Seine religi-
ösen Vorstellungen hatten sich in ganz Kanaan durchgesetzt. Sprachlich
war das Ugaritische mit dem Hebräischen verwandt. Der Hochgott dieses
Staates hiess ‚El‘ und galt in der ugaritischen Mythologie, wie Bernhard
Lang (Jahwe, der biblische Gott) ausführt, als Eigentümer des Kosmos. Ihm
waren andere Gottheiten wie ‚Jahwe‘ oder ‚El Shaddai‘ untergeordnet. Ein
Gott ‚jw‘ wird auf ugaritischen Tafeln als Sohn des ‚El‘ genannt. Verständ-
lich, dass der Gott der dominierenden Macht auch den Gottheiten kleinerer
Mächte wie der des damaligen Israel überlegen sein musste. Nun heisst es
in der Bibel: „Als der Höchste (El EljonEl) den Völkern Land zuteilte
und der Menschen Kinder voneinander schied, da setzte er die Grenzen der
Völker nach der Zahl der Söhne Israels. Denn des HERRN (Jahwe) Teil
ist sein Volk, Jakob ist sein Erbe“ (Dtn 32,8–9). Mit anderen Worten, der
ugaritische Hochgott El hatte dem untergeordneten Gott Jahwe sein Ein-
flussgebiet zugeteilt. Später stieg Jahwe im biblischen Verständnis selber
zum Hochgott („Ich bin GottEl . . . “; Gen 46,3), Schöpfer und Eigentü-
50 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
mer der Erde (Ex 19,5) auf und konnte daher im Selbstverständnis dieser
Rolle Israel als neuen Erben des Landes Kanaan einsetzen.
Wenn man auch auf die Frage nach der Herkunft der verschiedenen
Gottesnamen eine zufriedenstellende Antwort gefunden hat, so ist der Ur-
sprung und die Bedeutung des Namen ‚Jahwe‘ bis heute nicht völlig ge-
klärt. Hinweise dazu aber gibt es in der Bibel selbst. So heisst es in Richter
5,4: „HERR (Jahwe), als du, von Seir auszogst und umhergingst vom Gefil-
de Edom . . . “ Seir ist eine Bergregion in Edom und die Edomiter sind ein
Brudervolk Israels (Stammvater von EdomEsau). Oder war Jahwe früher
eine midianitische Gottheit gewesen? Mose Schwiegervater, der auch Priest
war und Jahwe verehrte (Ex 18,9–12), stammte aus Midian. Die Midianiter
und Edomiter waren benachbarte Völker.
Mose und seine Anhänger könnten mit den Edomitern und Midianitern
in Ägypten in Kontakt gekommen sein. Doch hatte Mose je gelebt? Auf
jeden Fall ist sich die Fachwelt einig, dass der Exodus, so wie er in der
Bibel beschrieben ist, niemals stattgefunden hat. Schon die historische Zu-
ordnung in der Bibel ist widersprüchlich. Nach Kön. 6,1 verstrichen 480
Jahre zwischen dem Exodus und dem vierten Jahr der Herrschaft König
Salomos. Dann hätte der Exodus im späten 15. Jahrhundert v. Chr. statt-
gefunden, doch nach Ex. 1,11 wurden die Israeliten zum Frondienst in der
Vorratsstadt Ramses eingesetzt. In der Tat, Ramses II liess grosse Bauvor-
haben durchführen, regierte aber erst zwei Jahrhunderte später, von 1279–
1213 v. Chr. Auch die in der Bibel genannte Zahl von 600,000 wehrfähigen
Männern (Num. 26,51), was einer Gesamtbevölkerung von über zwei Mil-
lionen entspräche, gehört in das Reich der Fabel. Woher sollen wohl all die
Menschen in nur vier Generationen (Mose war der Urenkel des LeviEx.
6,16–20: Levi-Kohath-Amram-Mose; übrigens, nur vier Generationen in
400 Jahren?) bei einem Grundstock von nur 70 Menschen hergekommen
sein? Dann die logistischen Probleme: Die Marschkolonne, so hat man be-
rechnet, wäre dann 560 km lang gewesen. Und wie hätte man eine so grosse
Menschenmenge in der Wüste versorgen können? Gleichfalls ist es nicht
vorstellbar, dass in der Wüste eine Stiftshütte mit Inventar aus erlesenstem
Material gebaut und prachtvolle Gewänder für die Priester geschneidert hät-
ten werden können. Archäologisch ist jedenfalls eine Massenbewegung in
der Wüste nicht nachweisbar.
3.3. Mose und der Exodus 51
Das bedeutet aber noch lange nicht, dass es Mose nie gegeben hat.
Nachweisbar wurden Kriegsgefangene nach Ägypten verschleppt, die sich
‚Hapiri‘ nannten. Diese hatten sich zu Banden zusammengeschlossen, die
mit Raubzügen und Plünderungen ihr Unwesen trieben. Von ‚Hapiri‘ mag
der Begriff ‚Hebräer‘ abgeleitet sein. Daneben hielten sich sogenannte
‚Schasu‘ Leute zur Zeit Ramses II in Ägypten auf und unter ihnen gab
es eine Sippe, die auf Pharaonenlisten als ‚Schasu-jhw‘ benannt sind. Be-
legt ist auch der Ausbruch eines Hungerstreiks im Jahre 1156 v. Chr. wenn
auch sonst sich in den Annalen der Ägypter nirgendwo Hinweise auf einen
Exodus der Israeliten finden lässt. Vorstellbar aber ist es, dass unter den re-
pressiven Verhältnissen eine Rebellion entstand und es einer zahlenmäßig
kleinen, zusammengewürfelten Gruppe – nach Ex. 12,38 soll viel fremdes
Volk unter den ausziehenden Israeliten gewesen sein – von vielleicht hun-
dert Mann unter der Führung eines Mose die Flucht gelang. Dieser Mose
wird sich dann in das Siedlungsgebiet der Proto-Israeliten durchgeschlagen
und dort seinen Gott Jahwe eingebracht haben. Diesem Gott wurde das Ge-
lingen der Flucht zugeschrieben und fand daher wachsende Anerkennung
unter den Siedlern. Endgültig durchsetzen konnte sich Jahwe aber erst nach
einer Jahrhunderte dauernden Auseinandersetzung mit Göttern anderer Re-
ligionen, insbesondere dem Baal.
Mose aber dürfte aufgrund der erfolgreichen Flucht später als Gründer
und Gesetzgeber der Nation idealisiert worden sein, um dessen Person sich
dann auch Legenden zu ranken begannen, so wie es ja auch bei anderen reli-
giösen Stiftern wie Buddha oder Mohammed der Fall war. So erinnert Mose
wundersame Errettung aus dem Schilfmeer an die Geburtslegende des sa-
genumwobenden Gründers des altakkadischen Reiches, Sargon I (um 2250
v. Chr.), die uns aus assyrischen Quellen überliefert worden ist. Ähnlich wie
in der Bibel wird erzählt, wie Sargons Mutter ihn im Verborgenen zur Welt
gebracht hatte, in einem mit Pech verklebten Binsenkörbchen aussetzte, er
dann von einem gewissen Akki gerettet wurde, der ihn als seinen eigenen
Sohn aufzog. Die Götter waren dem Sargon wohlgesonnen und er stieg zu
einem großen Herrscher seines Volkes auf.
Diese Mose-Legenden wurden später umgearbeitet und mit anderen Er-
zählungen zu einer in sich geschlossenen biblischen Geschichte verknüpft.
Die Spuren dieser Bearbeitung lassen sich gerade in diesem Abschnitt der
Bibel identifizieren weil er viele Ungereimtheiten enthält. Diese sind wohl
52 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
gebracht werden (Num. 31,14–18). Und war er nicht bereits ein Mörder
gewesen bevor ihn Gott überhaupt berufen hatte? Doch sollte unsere Kritik
statt Mose und Jahwe nicht eher den Verfassern ihrer Geschichten gelten,
deren Kontext aber auch zu beachten ist? Der Niedergang Israels, die Zer-
störung von Jerusalem und Tempel, die Verschleppung in die babylonische
Gefangenschaft, all das hatte zu einem Neudenken der Jerusalemer Priester-
kreise im Exil während des 6. vorchristlichen Jahrhunderts geführt. Da bot
es sich an, die Moseerzählung ins rechte Licht zu rücken, so dass die Tat der
Befreiung und die Erwählung Israels durch Jahwe dem Volk neue Impulse
für Nationalstolz und Identität geben konnte. Der Zusammenbruch Israels
wurde als gerechte Strafe Jahwes wegen Abfalls vom wahren Glauben in-
terpretiert doch die Hoffnung genährt, dass bei Umkehr von der Abgötterei
sich auch Jahwe wieder den Menschen zuwenden wird.
Wenn denn auch die grausamen und blutrünstigen Details in einen
Erklärungsrahmen eingebettet werden können, schönreden sollte man sie
auch nicht. Man könnte höchstens noch auf die gleichsam barbarischen
Methoden der Assyrer und Perser hinweisen – alles muss eben aus sei-
ner Zeit heraus verstanden werden –, doch wie kann man die Planung
der Ausrottung ganzer Völker als eine operative Entfernung „bedrohlicher
Krankheitsherde“, so Mahnke (Kein Buch mit sieben Siegeln), beschrei-
ben? Der Bibelleser kann zu solch fragwürdigen Deutungen kommen, wenn
sein Glauben ihn diese Geschichten nicht anders als historische Geschehen
verstehen lässt und er so die Handlungen des Gottes, und seien sie noch so
grausam, als gerechtfertigt verteidigen muss.
1. „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein
Bildnis noch irgendein Gleichnis machen“.
2. „Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrau-
chen“.
54 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
Dann heisst es, dass du den Sabbattag heiligen und Vater und Mutter ehren
sollst. Weiter, du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht
falsch Zeugnis reden und nicht begehren deines Nächsten Weib als auch
sein Gut.
Strafbestimmungen: Die Todesstrafe gilt für folgende Vergehen:
– Wer einen anderen Menschen totschlägt;
– Wer seine Eltern schlägt oder verflucht;
– Wer der Zauberei für schuldig befunden wird;
– Wer Unzucht mit Tieren treibt;
– Wer geschlechtlichen Umgang mit Blutsverwandten hat;
– Wer den Sabbat nicht heiligt;
– Wer Sodomie treibt und Ehebruch begeht;
– Sterben soll der ungeratene und widerspenstige Sohn als auch der Pro-
phet oder Träumer, der auf den Abfall des Volkes hinwirkt: „Wenn dich
dein Bruder, deine Mutter Sohn, oder dein Sohn oder deine Tochter oder
deine Frau in deinen Armen oder dein Freund, der dir so lieb ist wie
dein Leben, heimlich überreden würde und sage ‚Lass uns hingehen und
anderen Göttern dienen‘, die du nicht kennst noch deine Väter . . . so wil-
lige nicht ein . . . Auch soll dein Auge ihn nicht verschonen, und du sollst
dich seiner nicht erbarmen und seine Schuld nicht verheimlichen, son-
dern sollst ihn zum Tod bringen. Deine Hand soll die erste wider ihn
sein, ihn zu töten“ (Dtn 13,6–9).
Übliche Formen der Todesstrafe sind Steinigung oder Verbrennen. Wer ge-
hängt worden ist, dessen Leichnam muss noch am selben Tag begraben wer-
den, denn „ein Aufgehängter ist verflucht bei Gott“. Um aber jemanden ei-
nes todeswürdigen Verbrechens zu überführen, braucht es mindestens zwei
Zeugen. Für mindere Vergehen wird eine Entschädigung verlangt, z.B. die
Erstattung des Arztgeldes bei einer Verwundung. Wer einer Jungfrau bei-
schläft, der muss dem Vater den Brautpreis zahlen und sie zur Frau nehmen.
Schutzbestimmungen: Wird ein Hebräer als Sklave verkauft, so soll er im
siebenten Jahr, dem Ablassjahr, freigelassen werden. Grundsätzlich soll ein
Sklave aber aus den umliegenden Völkern erworben werden. Durch den
Kauf wird er erbliches Eigentum des Käufers. Ein Fremdling soll nicht be-
drängt werden und dasselbe Recht haben; „denn ihr seid auch Fremdlinge
3.4. Gesetzgebung am Sinai 55
in Ägypten gewesen“. Auch für die Witwen, Armen und Waisen ist zu sor-
gen.
Wenn ein Bruder verstirbt, so soll der andere dessen Frau zu sich neh-
men und der erste Sohn aus dieser Ehe soll als Sohn des Verstorbenen gel-
ten. Gerechtigkeit soll für alle walten, sei er arm oder reich und keiner übe
Druck auf die Rechtsfindung durch Bestechlichkeit oder Lügen aus.
Wer unabsichtlich einen Totschlag begeht, der kann in einer der Frei-
städte Asyl suchen und sich vor dem Bluträcher retten, bis ein Gericht zu-
sammengekommen ist. Es gilt aber: „Das Land kann nicht entsühnt werden
vom Blut, das darin vergossen wird, ausser durch das Blut dessen, der es
vergossen hat“.
All fünfzig Jahre ist ein Erlassjahr angeordnet. In diesem Jahr soll der
Tagelöhner frei ausgehen und alle aus Not verkaufte Habe wird vom Käufer
als frei erlöst.
Reinheitsgebote: Jede Sache, jeder Organismus kann unrein sein, sei es we-
gen seiner Natur oder durch Kontakt, Übertragung und Ansteckung. Nur
reine Tiere sind zum Verzehr geeignet.
Wer einen Ausschlag hat und vom Priester als unrein erkannt wird, der
muss sich absondern, zerrissene Kleidung tragen und rufen: Unrein, unrein.
Gleichermassen gelten ein Mann mit einem Ausfluss und eine Frau mit
einem Blutfluss als unrein. Eine Frau gilt sieben Tage nach der Geburt eines
Knaben, aber zwei Wochen nach der Geburt eines Mädchen als unrein.
Der Genuss von Blut ist mit dem Tode zu bestrafen; „denn des Leibes
Leben ist im Blut“ und das Blut ist für die Entsühnung bestimmt.
Ehegesetze und Erbrecht: Wird bei einer jungen Frau nach ihrer Hochzeit
festgestellt, dass sie schon zuvor ihre Jungfräulichkeit verloren hatte, dann
soll sie zu Tode gesteinigt werden. Wird sie aber fälschlich von ihrem Gat-
ten beschuldigt, dann soll er von den Ältesten der Stadt gezüchtigt werden.
Wenn ein Mann zwei Frauen hat, dann wird der Sohn der ersten Frau,
auch wenn er sie weniger liebt, als der Erstgeborene gelten und in sein
Erbe treten. Wenn der Mann stirbt und er hatte keine Söhne, dann erbt die
Tochter. Eine erbberechtigte Tochter aber darf nur innerhalb des Stammes
ihres Vaters heiraten.
Kriegsgesetze: Ein junger Mann wird vom Kriegsdienst befreit wenn er
z.B. jung verheiratet ist oder gerade ein neues Haus gebaut hat. Zieht das
56 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
Volk gegen eine andere Stadt, dann ist dieser vorher der Frieden anzubieten.
Nimmt sie es an, sollen die Bewohner fronpflichtig werden. Lehnen sie
es ab, dann soll alles was männlich ist, erschlagen werden. Und „in den
Städten dieser Völker hier, die dir der HERR, dein Gott zum Erbe geben
wird, sollst du nichts leben lassen, was Odem hat, sondern sollst an ihnen
den Bann vollstrecken . . . damit sie euch nicht lehren, all die Greuel zu tun,
die sie im Dienst ihrer Götter treiben“.
Verschiedenes: Die Alten soll man ehren „und vor einem grauen Haupt
sollst du aufstehen“. In allem gilt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst“.
KULTISCHE ORDNUNGEN
Sabbat, Versöhnungstag und Jahresfeste: An sechs Tagen soll man arbeiten,
aber am siebenten Tag ruhen. Wer den Sabbat durch eine Arbeit entheiligt,
„der soll des Todes sterben“.
Einmal im Jahr findet der grosse Versöhnungstag zur allgemeinen Ent-
sühnung statt. Mit dem Blut eines Ziegenbockes wird der Altar besprengt
und auf den Kopf eines anderen Bockes wird der Hohepriester seine Hand
legen und über ihn all die Übertretungen des Volkes bekennen. Danach wird
der Bock in die Wüste getrieben, dass er die Missetaten hinwegträgt.
Israel soll hinfort drei grosse Jahresfeste begehen. Das Passafest zele-
briert die Erinnerung an die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten. An den
Passatag schließt sich das Fest der ungesäuerten Brote an. Sieben Tage lang
soll dieses zur Nahrung dienen; denn ein solches hat das Volk auch beim
Auszug aus Ägypten gegessen. Am Wochenfest sollen dem HERRN die
Erstlinge der Ernte geopfert werden und das Laubhüttenfest wird nach dem
Abschluss der Ernte gefeiert. Während der Festtage wohnen die Israeliten
in provisorisch gebauten Hütten. Alle sieben Jahre, zur Zeit des Erlassjahrs,
soll auf diesem Fest allen Israeliten, einschliesslich Frauen und Kindern,
das ganze Gesetz wieder verkündigt werden, damit sie Gottes Wort hören
und lernen, es zu halten und Gott zu fürchten.
An all diesen Jahresfesten sind dem HERRN Opfer in der vorgeschrie-
benen Form zu bringen, nebst den täglichen Brandopfern, zusätzlichen Op-
fern am Sabbattag und den Opfern zu jedem Monatsanfang, zum Neumond.
Von den Opferstätten und Opfern: Mose wurde von Jahwe angewiesen,
einen aus Stein behauenen Brandopferaltar und einen mit Gold verzierten
3.4. Gesetzgebung am Sinai 57
Kommentar
Es ist besonders schwierig, sich von der Rechtsordnung und den Zeremo-
nialgesetzen der Israeliten ein anschauliches Bild zu machen, sind sie doch
über die vier Bücher Mose verstreut (Exodus, Levitikus, Numeri und Deu-
ternonomium). Darüber hinaus kommen manche Bestimmungen mehrfach
in verschiedenen Kontexten vor. So wird zum Beispiel der Dekalog zwei-
mal wiederholt (Ex 20,2–7 und Dtn 5,6–21). Die Abweichungen sind zwar
geringfügig, so wenn in der zweiten Fassung das Gebot neun umgestellt
wird und damit die Frau nicht mehr unter die Sachgüter eingereiht wird,
doch wird zu fragen sein, inwieweit dies mit dem Anspruch der Unverän-
derlichkeit der göttlichen Gesetze zu vereinbaren ist.
In der Bibel lässt sich sonst kaum etwas über die Rechte der Frau fin-
den. Israel war eben wie die meisten anderen antiken Völker eine patriar-
chalische Gesellschaft. Die Frau war der Vormundschaft des Mannes un-
terworfen, erst dem Willen des Vaters und dann dem des Gatten. Sie wurde
vielfach wie eine Sache behandelt, so z.B. in der Feststellung des Brautprei-
58 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
ses oder in der Regelung ihrer Schändung, was als eine Art Wertminderung
der Frau begriffen wurde. Die Frau wurde für Untreue bestraft, der Mann
aber nicht (Num 5,12ff). Nur der Mann auch hatte das Recht zur Scheidung,
für die sich leicht Gründe finden ließen. Starb der Gatte, war die Situation
der Witwe oft erbärmlich, war sie doch von der Erbfolge ausgeschlossen.
Vorausgesetzt, sie war nicht zu alt, dann verblieb ihr die Prostitution, um
zu überleben, ansonsten nur das Betteln. Doch so ganz rechtlos wird die
Frau nicht gewesen sein. Immerhin ist da das Beispiel in der Bibel von ei-
ner Richterin Debora, die also Amtsgeschäfte durchführen konnte und die
sich durch ihre Führungsqualitäten Anerkennung in Israel verschaffte. Man
nannte sie ‚Mutter in Israel‘. Auch hing das Ansehen der Frau stark davon
ab, ob sie dem Manne Nachkommen gab. Dann sind da u.a. die Geschichten
von der treuen Moabiterin Ruth und Königin Ester, die Retterin ihres Vol-
kes Israel. Eher ambivalent ist die Rolle der ersten Frau der Bibel, Eva. Ihr
wurde die Hauptverantwortung für den Sündenfall aufgebürdet und damit
der Frauenfeindlichkeit insbesondere in der Kirche Tür und Tor geöffnet.
So bezeichnete Kirchenlehrer Tertullian (160–225) die Frau schon mal als
eine ‚Pforte des Teufels‘ und als einen ‚Tempel über der Kloake‘.
In anderen antiken Gesellschaften war die Stellung der Frau manch-
mal besser, manchmal aber auch schlechter. In Ägypten war die Frau dem
Manne rechtlich gleichgestellt. Die Eheschliessung beinhaltete auch eine
Zahlungsvereinbarung im Falle einer Scheidung. Die ägyptische Frau war
nicht auf häusliche Pflichten begrenzt sondern vielfach auch beruflich tätig,
sei es als Bäckerin oder als Weberin. Im alten Kreta (vor 1500 v. Chr.) hatte
sich noch eine mutterrechtliche Gesellschaft erhalten. Die Frau war hoch
geachtet und nahm an der ganzen Breite des öffentlichen Lebens teil. Auch
die keltische Frau konnte ihr eigenes Gut bewirtschaften. Sie war weder
Lustobjekt des Mannes – das sexuelle Leben war kaum Tabus unterwor-
fen – noch war sie ihm untergordnet. Sie war frei, ihren Gatten zu wählen
und konnte nach einer Scheidung den von ihr eingebrachten Anteil plus Zu-
wachs zurückfordern. Bei den Germanen besass die Frau eine ähnlich gute
Stellung. Freja war ihrem Gatten, dem höchsten Germanengott Odin, an
Weisheit und Wissen ebenbürtig. Die kriegerischen Walküren bestimmten
über den Ausgang von Kämpfen. Frauen waren allgemein von ihren Män-
nern geschätzt und geachtet. Der römische Literat Tacitus zeigte sich von
dem heldenhaften Einstehen der germanischen Frauen in Zeiten der Be-
3.4. Gesetzgebung am Sinai 59
te es seine Gebote missachten. Jahwe duldet eben keine Rivalen. Er ist ein
eifernder Gott. Hier wird deutlich, dass sich im Monotheismus ein weitaus
größeres Potential von Gewalt und Agression verbirgt als im Polytheismus.
Im Ausschliesslichkeitsanspruch liegt in der Tat eine Wurzel der Religions-
kriege.
Wenn auch die Mosaischen Gesetze vom Einfluss ausserbiblischer
Quellen zeugen, so sind sie doch den eigenen Bedürfnissen angepasst wor-
den und haben einen Jahrhunderte währenden Entwicklungsprozess durch-
schritten. Das Deuteronomium sollte dabei als seine Mitte eine Schlüs-
selrolle in der jüdischen Bibel spielen. Eine erste Fassung, eine Art Ur-
Deuteronomium, war wahrscheinlich bereits zu Zeiten des Königs Hiskaja
(725–697 v. Chr.) verfertigt worden, dies unter dem Eindruck des Zusam-
menbruchs des Nordreiches Israel 722 v. Chr. unter dem Ansturm der As-
syrer. Die wundersame Auffindung des Bundesbuches etwa hundert Jahre
später, wie sie in 2 Kön. 23,3 geschildert wird, ist in Wirklichkeit wohl von
dem Redaktor des Deuteronomiums unter Einbeziehung neuer Überzeu-
gungen eingefügt worden. Es begann sich zum Kristallisationspunkt theolo-
gischer Reflektionen zu entwickeln, wobei insbesondere im 6. Jahrhundert
in der Erfahrung von Zerstörung und Exil Themen wie Glaube und Unglau-
be, Gehorsam und Verheißung die biblische Neuausrichtung bestimmten.
Grundüberzeugung war, dass, weil die Israeliten die Gebote Gottes miss-
achtet hatten, Gott das Volk züchtigte, indem er die Babylonier als sein
Werkzeug benutzte. So fanden z.B. die Segens- und Fluchworte Eingang
in die Bibel. Dabei drehte sich alles um das rechte Verhältnis zu Jahwe
(Lev 26,1–2). War auch der Abfall von Jahwe unverzeihlich, konnten doch
zumindestens einzelne Verfehlungen durch angemessene Opferrituale ge-
sühnt werden.
Wie sind diese Gebote nun heute zu bewerten? Sind sie überhaupt noch
zeitgemäß? Dazu ein Auszug aus einem im Internet kursierenden Leser-
brief, der an die Moderatorin eines religiösen Radioprogramms in den USA
gerichtet war. Die Dame hatte die Homosexualität mit Hinweis auf Mose
verurteilt. Der Leser schrieb dazu u.a. wie folgend: „Mein Onkel hat einen
Bauernhof. Er verstößt gegen Vers 19 im 19. Kapitel des 3. Mose-Buches,
weil er zwei verschiedene Saaten auf ein- und demselben Feld anpflanzt.
Darüber hinaus trägt seine Frau Kleider, die aus zwei verschiedenen Stof-
fen gemacht sind (Baumwolle und Polyester). Er flucht und lästert außer-
3.4. Gesetzgebung am Sinai 61
dem recht oft. Meine Frage: Ist es wirklich notwendig, dass wir den ganzen
Aufwand betreiben, das komplette Dorf zusammenzuholen, um sie zu stei-
nigen (3. Buch Mose 24,10–16)? Genügt es nicht, wenn wir sie in einer
kleinen familiären Zeremonie verbrennen, wie man es ja auch mit Leuten
macht, die mit ihrer Schwiegermutter schlafen (3. Buch Mose 20,14)?“
Dieser Leserbrief entblößt die Absurdität, Gesetze und Verordnungen,
die vor tausenden von Jahren mal ihre Gültigkeit besessen haben, als auch
heute noch angemessen zu bezeichnen. Nicht anders ist auch der Versuch,
die Scharia in modernen Gesellschaften einzuführen, zu bewerten. Schon
Paulus hatte ja Abstand von dem Prinzip der ewigen Gültigkeit der Gesetze
genommen, schreibt er doch in Röm. 7,6: „Nun sind wir vom Gesetz frei
geworden und ihm abgestorben, das uns gefangen hielt, so dass wir dienen
im neuen Wesen des Geistes und nicht im alten Wesen des Buchstabens“.
Bis zum Kommen Christi sollte das Gesetz lediglich als eine Art Zucht-
meister fungieren (Gal 3,24). Nun aber hat es seine Erfüllung in der Liebe
gefunden (Röm. 13,8).
Zumindest die kultischen Bräuche sind seit der Zerstörung Jerusalems
70 n.Chr. erledigt und sind in Synagogen verlagert worden, wo die Opfer-
riten durch gottesdienstliche Konventionen wie Lesung und Gebet ersetzt
wurden. Was die Rechtsordnungen betrifft, sollte die Faustformel gelten: Je
spezifischer ein Gesetz an konkrete Lebensformen gebunden ist, umso eher
wird es durch die soziale Entwicklung, die auch ein Wachsen des morali-
schen Bewusstseins einschliesst, als überholt zu gelten haben und nur noch
von historischem Interesse sein. Erweist es sich doch am Wachsen der Bi-
bel, dass diese selbst wiederholt aktualisiert und an neue Verhältnisse ange-
passt worden ist. Einzig der Dekalog kann sich heute noch als gesellschaft-
lich tragfähig erweisen, so zumindest die Meinung von M. Schreiber (Die
Zehn Gebote), und gegen den Trend der kulturellen Beliebigkeit eines alles-
geht-Prinzips eine klare normative Grundrichtung setzen. Nur, zum einen
ist es höchst fragwürdig, Gott selber als eine absolute Leitinstanz in einer
multikulturalen Gesellschaft zu verordnen, in der manche atheistisch sind
und andere einer anderen Religion anhängen. Man wird ja wohl nicht allen
den gleichen Gott zu ihrer Verehrung vorschreiben wollen. Dann hätte man
bald wieder die Situation wie die im biblischen Israel mit seinem eifersüch-
tigen Gott. Auf der Ebene des Einzelnen zumindest wird jeder Gläubige
den Spagat zwischen Glaubensgewissheit und Toleranz zu machen haben.
62 3. Von der Schöpfung bis zu Mose
Doch der nächste Angriff auf die Stadt Ai schlug fehl. Es stellte sich
heraus, dass ihnen der Beistand Jahwes versagt worden war, weil sich je-
mand persönlich an der Beute in Jericho bereichert hatte. Der HERR würde
sich ihnen erst wieder zuwenden, wenn der Übeltäter aus ihrer Mitte ent-
fernt sei. Dieser wurde dann auch überführt „und ganz Israel steinigte ihn“
und verbrannte ihn mit seinen Angehörigen samt Eigentum. Nachdem die
Lage bereinigt worden war, gelang es auch mit Hilfe einer List, die Stadt
einzunehmen. Die Israeliten erschlugen alle Einwohner Ais, zwölftausend
Männer und Frauen, und teilten sich die Beute untereinander auf. Den Kö-
nig hängten sie auf und warfen den Leichnam abends zum Stadttor hinaus.
Die Gibeoniter entkamen ihrer Vernichtung durch eine List. Mit zer-
schlissener Kleidung und kümmerlichen Essensresten täuschten sie vor,
Fremdlinge auf langer Wanderschaft zu sein. Josua liess sich auf einen Frie-
densbund mit ihnen ein, doch als er später entdeckte, dass er einer List auf-
gesessen war, zwang er sie in den Dienst der Israeliten. Als Gibeon wenig
später von Feinden bedrängt wurde, kam er ihnen zu Hilfe und schlug das
gegnerische Heer in die Flucht. Auch ließ der HERR noch „große Steine
vom Himmel auf sie fallen“. Als nun Josua sprach: „Sonne, steh still zu Gi-
beon, und Mond, im Tal Ajalon . . . da stand die Sonne still, und der Mond
blieb stehen, bis sich das Volk an seinen Feinden gerächt hatte“.
Josua und sein Kriegsvolk eroberte nach und nach viele andere Städte.
Und er „vollstreckte den Bann an allem, was Odem hatte, wie der HERR,
der Gott Israels, geboten hatte“ und „er ließ niemand übrig“. So unterwarf
er „alle diese Könige mit ihrem Lande; denn der HERR . . . stritt für Israel“.
Mit dem HERRN an seiner Seite nahm er auch das Territorium der einund-
dreissig Könige ein und rottete ihre Bewohner aus. Nur Gaza und einige
andere Städte konnten Josua standhalten.
Als Josua schon alt war, blieb allerdings vom Lande „noch sehr viel
einzunehmen“, so die Gebiete der Philister und Sidonier, während andere
Fremde „mitten unter Israel bis auf diesen Tag“ wohnen blieben. Da der
HERR Josua aber beschieden hatte, dass er alle Bewohner vor ihnen ver-
treiben werde, wurde bereits jetzt das Los über die Verteilung des Landes
geworfen und die Stämme aufgefordert, das ihnen zugewiesene Land für
sich einzunehmen. Nachdem auch noch die Freistädte und die Wohnstätten
für die Leviten bestimmt worden waren, kehrte nun „Ruhe ringsumher“ im
Lande ein. Alles war so gekommen, wie „der HERR dem Hause Israel ver-
4.1. Eroberung und Besiedelung Kanaans (Die Bücher Josua und Richter) 65
kündet hatte“. Keiner ihrer Feinde hatte sich gegen die Israeliten behaupten
können; denn der HERR kämpfte für sie.
Josua, der nun sein Ende nahen fühlte, erinnerte das Volk noch einmal
daran, wie der HERR für sie gestritten hatte und ermahnte sie, sich nicht mit
den anderen Völkern zu vermischen; „denn sie werden euch zum Fallstrick
und Netz werden“. „Wenn ihr übertretet den Bund des HERRN . . . und an-
deren Göttern dient“, so redete Josua in eindringlichen Worten, dann „wird
der Zorn des HERRN über euch entbrennen und ihr werdet bald ausge-
rottet sein aus dem guten Land, das er euch gegeben hat“. Josua warnte,
der HERR „ist ein heiliger Gott, ein eifernder Gott, der eure Übertretun-
gen und Sünden nicht vergeben wird.“ Das ganze Volk war sich einig, nur
dem HERRN folgen zu wollen und alle Götter wegzutun. So schloß Josua
„einen Bund für das Volk . . . (und) schrieb dies alles ins Buch des Gesetzes
Gottes“.
Nach dem Tode des Josua beschloß man, die verbliebenen Landesteile
zu erobern. Doch dieses Ziel wurde verfehlt; denn einige Städte, darun-
ter Gaza, konnten sich behaupten. Es gelang dem Stamm Benjamin auch
nicht, die Jebusiter aus Jerusalem zu vertreiben und ebenso mussten ande-
re Stämme es zulassen, dass die Kanaaniter unter ihnen wohnen blieben.
So beschuldigte ein Engel das Volk, dem Gebot des HERRN nicht gehor-
sam gewesen zu sein. Folglich wird der HERR sie durch die Bewohner des
Landes einer harten Prüfung unterziehen.
Nachdem nun ein anderes Geschlecht aufgekommen war, „taten die Is-
raeliten, was dem HERRN missfiel“ und dienten den Baalen. Dies aber er-
zürnte den HERRN und er sandte ihnen Feinde zu ihrem Unheil. Wenn der
HERR ihnen nun Richter gab, um sie zu erretten weil ihr Wehklagen ihn
jammerte, taten sie sich wieder unter seine Gebote. War aber der Richter ge-
storben, „so fielen sie wieder ab und trieben es ärger als ihre Väter“. Da die
Israeliten unter den anderen Völkern lebten, „nahmen sie deren Töchter zu
Frauen und gaben ihre Töchter deren Söhnen und dienten deren Göttern“.
Unter Führung des Richters Otniel vermochten die Israeliten die Herr-
schaft des Königs von Mesopotamien abschütteln und in späterer Zeit ver-
half ein Richter Ehud ihnen zum Sieg über die Moabiter nachdem dieser
dessen König mit Hilfe einer List hatte erstechen können. Doch schon bald
wandten sich die Israeliten wieder den fremden Göttern zu und so kam es,
dass sie achtzig Jahre später unter die Gewalt des Königs von Kanaan ka-
66 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
men. Endlich wurde das Flehen der Israeliten zum HERRN erhört. „Zu der
Zeit war Richterin in Israel die Prophetin Debora . . . (die) ihren Sitz unter
der Palme hatte“. Ihre Entschlossenheit und ihr Mut stärkten die Kampfes-
kraft des israelitischen Heeres und nachdem der HERR noch seinen Schre-
cken unter das Heer der Kanaaniter gesandt hatte, zerstreute sich dieses und
ihr Anführer Sisera musste zu Fuß fliehen. Er fand Aufnahme im Zelt einer
Keniterin und ließ sich im Vertrauen auf den Frieden, der zwischen seinem
und ihrem Volk herrschte, zum Schlafe nieder. Doch ihr Volk war auch
mit Mose verschwägert. So nahm sie dann Pflock und Hammer, „zerschlug
Siseras Haupt und zermalmte und durchbohrte seine Schläfe“. Dieser Tri-
umph inspirierten Deborah und den Hauptmann zu einem Loblied auf den
HERRN. Doch die Mutter Siseras spähte vergeblich aus nach ihrem Sohn,
denn „so sollen umkommen, HERR, alle deine Feinde“.
Vierzig Jahre lang herrschte Ruhe in dem Lande, doch als die Israeli-
ten wieder die fremden Götter anbeteten ließ der HERR sie in die Hand
der Midianiter geben, welche Jahr auf Jahr ihre Ernte vernichteten. Auf
das Flehen der Israeliten hin sandte der HERR dem Gideon einen Engel,
der ihn aufforderte, Israel zu erretten. Der Geist des HERRN erfüllte Gi-
deon und nachdem Gott ihm noch ein Zeichen gegeben hatte, ließ er zum
Angriff blasen, doch begrenzte er die Zahl seiner Kämpfer auf dreihundert
Mann, damit sich nicht Israel des Sieges rühmen konnte, sondern dahinter
die Hand des HERRN erkennen musste. Mit Posaunen, Fackeln und Krü-
gen, die man zerschlug, wurde das feindliche Heer in die Flucht geschlagen
und auch der Rest völlig aufgerieben, nachdem bereits „hundertundzwan-
zigtausend“ gefallen waren.
Einer der Söhne Gideons namens Abimelech ließ sich zum König aus-
rufen, nachdem er seine Brüder getötet hatte. Nur der Jüngste entkam dem
Gemetzel. Nach drei Jahren der Herrschaft „sandte Gott einen bösen Geist
zwischen Abimelech und die Männer von Sichem“ und entzweite sie; denn
das Blut der Ermordeten forderte seine Rechenschaft. Zunächst aber setzte
sich Abimelech gegen die Aufrührer durch, tötete viel Volk und ließ einen
Tempel in Brand stecken, in dem sich etwas tausend Männer und Frauen
verschanzt hatten. Als er sich dann aber einer Burg näherte, in die sich Ein-
wohner der Nachbarstadt geflüchtet hatten, da warf eine Frau ihm einen
Mühlstein „auf den Kopf und zerschmetterte ihm den Schädel“. Sterbend
4.1. Eroberung und Besiedelung Kanaans (Die Bücher Josua und Richter) 67
bat er seinen Waffenträger, ihn zu töten, damit man nicht sagen könne, „ein
Weib hat ihn erschlagen“.
Ein anderes Mal, nachdem Israel sich wieder reumütig gegen Gott ge-
zeigt hatte, stieg Jeftah, der Sohn einer Hure, zum Hauptmann von Israel
auf. Er zog gegen die Ammoniter ins Feld und tat dem HERRN ein Ge-
lübde, dass er im Falle eines Sieges dasjenige als Brandopfer geben werde,
das ihm entgegenkommt. Er siegte und auf dem Weg nach Hause da kam
ihm seine einzige Tochter „mit Pauken und Reigen“ entgegen. Jeftah war
tief betrübt, aber das Gelübde konnte er nicht widerrufen. Nach Ablauf von
zwei Monaten, die er der Tochter als Aufschub gewährt hatte, damit sie ihre
„Jungfernschaft beweine“, tat er ihr dann, „wie er gelobt hatte“.
Dann musste er sich noch in einem harten Kampf gegen den Bruder-
stamm von Ephraim durchsetzen, der sich beklagt hatte, nicht zum Feldzug
gegen die Ammoniter hinzugezogen worden zu sein. Es fielen von Eph-
raim zweiundvierzigtausend Mann. Nach Jeftah standen dem Volk noch
drei weitere Richter vor. Wegen fortgesetzter Untreue gab der HERR Israel
schließlich in die Hände der Philister. In dieser Zeit des Unheils erschien ei-
ner unfruchtbaren Frau ein Engel, der ihr die Geburt eines Sohnes verhieß,
der als Geweihter Gottes bestimmt war. Und die Frau gebar einen Sohn, den
sie Simson nannte. Der Knabe aber wuchs unter dem Segen des HERRN
heran.
Simson erwählte sich zum Kummer seiner Eltern ein Mädchen der Phi-
lister zur Frau. Auf dem Weg zur Familie des Mädchens kam ihm ein Löwe
brüllend entgegen, doch „der Geist des HERRN geriet über ihn, und er zer-
riss ihn“. Während des Hochzeitsgelages versprach Simson den Geladenen
prachtvolle Gewänder, sollten sie sein Rätsel zu lösen vermögen. Unter dem
Druck der Gäste gab Simsons Frau schließlich die Lösung preis. Um sein
Versprechen halten zu können, besorgte sich Simson die versprochenen Ge-
wänder, indem er dreißig Männer erschlug. Von seiner Frau aber trennte er
sich.
Simson war den Philistern ein Stachel im Fleisch. Mal erschlug er tau-
send von ihnen. Ein anderes Mal schickte er dreihundert zusammen gebun-
dene Füchse mit Fackeln zwischen ihren Schwänzen auf ihre Felder, so dass
ihr Korn verbrannte. Dann verliebte sich Simson in Delila. Das sollte ihm
zum Verhängnis werden; denn Delila verriet den Philistern, dass Simsons‘
Kraft in seinen langen Haaren lag. Die wurden ihm während des Schlafes
68 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
abgeschnitten und er selbst wurde in Ketten gelegt. Doch ein letztes Mal
erbat er sich die Kraft von Gott und während eines Freudenfestes der Phi-
lister, bei dem er als Gefangener vorgeführt wurde, brachte er die Säulen
des Hauses zum Einsturz. Er selbst und dreitausend Philister kamen dabei
ums Leben.
Eine Kriegsschar des Stammes Dan entwendete aus einem Gotteshaus
den Hausgötzen und ging dann zusammen mit dem Priester des Hauses da-
von. Der Eigentümer war diesen Eindringlingen gegenüber wehrlos. Die
Daniter überfielen dann „ein Volk, das ruhig und sicher wohnte, und schlu-
gen es mit der Schärfe des Schwerts und verbrannten die Stadt mit Feuer“.
Später bauten sie die Stadt wieder auf und errichteten darin „für sich das
Schnitzbild“.
Ein Levit, der mit seiner Nebenfrau auf dem Rückweg zu seinem Haus
war, kehrte bei einem Fremdling ein, der auf dem Gebiet der Benjamiter
wohnte. Die Leute forderten den Mann auf, seinen Gast herauszugeben,
doch er bot stattdessen seine Tochter und die Nebenfrau des Leviten an.
„Die könnt ihr schänden und mit ihnen tun, was euch gefällt“. Die Männer
trieben es mit der Nebenfrau die ganze Nacht hindurch. Sie starb auf der
Schwelle des Hauses wo der Levit sie fand. Er zerstückelte den Leichnam
in zwölf Teile und sandte je eins an die Stämme Israels. Die Israeliten ent-
schieden sich für einen Rachefeldzug gegen die Benjamiter, da diese sich
weigerten, die Schuldigen herauszugeben. Anfangs lief es gar nicht gut für
die Israeliten, doch der HERR griff mal wieder ein. „So schlug der HERR
die Benjamiter vor den Männern von Israel, dass die Israeliten an dem Tag
umbrachten fünfundzwanzigtausendeinhundert Mann von Benjamin“.
Leider waren fast alle umgekommen, als man ihre Stadt in Brand ge-
steckt hatte und so fanden die wenigen überlebenden Männer von Benja-
min keine Frauen mehr für sich. Das tat den Israeliten nun auch wieder leid
und so überlegte man, wie diesem Mißstand abzuhelfen sei. Da verfiel man
auf die Idee, eine Gemeinde in Gilead zu überfallen, die dem Aufgebot
Israels gegen die Benjamiter ferngeblieben war. An den Einwohnern der
Stadt wurde der Bann vollstreckt und nur die Jungfrauen am Leben gelas-
sen, die man den Benjamitern gab. Ein weiterer Raubzug sorgte dafür, dass
die nötige Zahl von Mädchen zusammenkam. „Zu der Zeit war kein König
in Israel; jeder tat, was ihn recht dünkte“.
4.1. Eroberung und Besiedelung Kanaans (Die Bücher Josua und Richter) 69
Kommentar
Das Buch Josua schildert die Landeinnahme als einen grausamen, etwa
fünf Jahre dauernden Vernichtungsfeldzug (Jos 14,10) gegen die ansäs-
sigen Völker während das Buch Richter die Ereignisse der Zeit danach
schildert und den Eindruck einer eher friedlichen Koexistenz vermittelt, ge-
kennzeichnet von Mischehen und religiösen Synkretismus, nur gelegentlich
unterbrochen von kriegerischen Auseinandersetzungen. Es gibt allerdings
einige Überlappungen der beiden Bücher, die zu Widersprüchen geführt ha-
ben. So schlägt Josua nach Jos 10,42 den König von Jerusalem während es
in Ri 1,8 heißt, dass nur Juda Jerusalem erobert hatte.
Überhaupt muss die Historizität der in der Bibel geschilderten Ereig-
nisse stark bezweifelt werden. Dagegen sprechen schon mal die archäo-
logischen Befunde, die sich dank Radiokarbondatierung und kultureller
Zuweisung von Hinterlassenschaften wie Keramik und Gebrauchsgegen-
ständen zeitlich ziemlich genau einordnen lassen. So wurde Jericho bereits
1400 v. Chr. zerstört und war nach 1300 v. Chr. lange Zeit nicht mehr be-
wohnt gewesen. Josuas Überfall müsste aber um 1200 v. Chr. stattgefunden
haben. Die Stadt Ai war bereits ca. 2350 v. Chr. vernichtet worden wäh-
rend Lachisch anscheinend unbeschadet seine Zerstörung (Jos 10, 31–33)
überstanden hatte, existierte es doch noch während der Zeit des Ramses III
(1194–1163 v. Chr.).
Hinzu kommt der fabelhafte Charakter der Wundererzählungen von der
Aufdämmung des Jordan hin bis zum Stillstand von Sonne und Mond. Letz-
tere Legende ist der sog. ‚Ballade von Jascher‘ entnommen. In Gibeon, wo
die Bibel den Stillstand der Sonne verortet (Jos 10,12), wurde in früherer
Zeit der Sonnengott ‚Shamash‘ verehrt, dem diese Ballade gewidmet war.
Sie wurde dann später umgedeutet auf Jahwe, wohl um dessen Macht über
andere Götter herauszustreichen.
In die Welt der Fabel gehören auch die aufgebauschten Zahlen von z.B.
120 000 erschlagenen Midianitern (Ri 8,10) und 42 000 getöteten Kriegern
aus dem Stamme Ephraim (Ri 12,6). Die Gesamtbevölkerung Israels zu der
Zeit wird von Historikern auf gerade mal 40 000 Menschen geschätzt.
Wir können also von der Bibel keine zuverlässige Geschichtsschrei-
bung erwarten. Der einzige außerbiblische Hinweis auf die Existenz Is-
raels stammt vom Pharao Meriptah (1213–1204 v. Chr.), der auf einer Stele
seinen erfolgreichen Palästinafeldzug wie folgend vermerkte: „Israel liegt
70 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
wüst und hat keinen Namen“. Nimmt man nun an, dass Moses Rebellion in
die Regierungszeit des Ramses II (1279–1213 v. Chr.) fällt, so lässt sich die
Entstehung Israels in etwa auf den Zeitraum von 1250–1200 einkreisen.
Wenn auch die historische Datierung vage bleiben muss und Israels Be-
ginn weitgehend im geschichtlichen Dunkel verhüllt ist, so gibt es doch
einige Indizien, die einen plausiblen Werdegang des Volkes Israel nahele-
gen, den u.a. B. Schmitz (Geschichte Israels) und E. Zenger (Einleitung in
das Alte Testament) nachgezeichnet haben. Am Anfang der Entstehungsge-
schichte Israels stehen dabei vor allem drei ethnisch miteinander verwand-
te Gruppen. Die kanaanitischen Stadtstaaten beklagten sich in ihrer im 14.
vorchristlichen Jahrhundert geführten Korrespondenz mit dem ägyptischen
Pharao über die räuberischen Einfälle von ‚Hapiru‘ genannten Banden, die
aus der Berg- bzw. Wüstenregion Palästinas stammten. Zwischen Küste und
Bergland siedelten ferner semitisch-kanaanitische Bauern. Hinzu stießen
nun um Mitte des 13. Jahrhunderts die Anhänger Moses, die Träger der
Tradition von Befreiung und Verheißung waren und Jahwe verehrten. Aus
der Vermischung dieser drei Gruppen entwickelte sich allmählich ein Zu-
sammengehörigkeitsgefühl und eine Art vorstaatlicher, gesellschaftlicher
Identität, getragen von familiären Beziehungen, gemeinsamen Sitten, kulti-
schen Bräuchen und religiösen Überzeugungen, wobei Jahwe eine zentrale
Bedeutung zukam.
Die Entwicklung Israels wurde begünstigt durch ein Machtvakuum in
der Levante, das durch den Einfall der Seevölker um 1250 v. Chr. verur-
sacht worden war. Die Stadtstaaten erlebten einen kulturellen Niedergang
und Ägypten war trotz seines Sieges gegen die Seevölker, deren Reste sich
später in der südlichen Levante niederließen und von da an als Philister be-
zeichnet wurden, stark geschwächt worden. Rivalitäten zwischen den Stadt-
staaten und der Zusammenbruch des internationalen Handels führten zu
Verarmung und einem teilweisen Rückfall in die Subsistenzwirtschaft. So
verzeichnet man auch historisch ein Anwachsen vieler kleiner Siedlungen,
deren materielle Kultur sehr einfach war.
In diesem Prozess gesellschaftlicher Umschichtungen entstand Israel,
anfangs als ein lockerer Verbund von Sippen, die angeführt von Ältesten,
durch den Brauch exogamer Heirat vielfach miteinander verwandtschaft-
lich verknüpft waren. Durch wachsende Verpflichtungen und auf der Basis
einer gemeinsamen Kultur bildete sich langsam eine Art von Gruppensoli-
4.1. Eroberung und Besiedelung Kanaans (Die Bücher Josua und Richter) 71
darität heraus, ein Prozess, der schließlich im Aufbau einer Föderation von
Stämmen mündete, die sich besonders in Krisensituationen zur Abwehr ei-
ner gemeinsamen Gefahr enger zusammenschlossen. Diese bäuerliche Kul-
tur stand unter starkem Einfluss von kanaanäischen religiösen Praktiken,
die eng mit dem Feldanbau verbunden waren. Man huldigte dem Frucht-
barkeitskult und verschiedenen Sitten, weil man sich davon eine gute Ernte
erhoffte. In Kriegszeiten war es allerdings üblich, sich einem Hauptgott
zuzuwenden, von dem man sich am ehesten Hilfe versprach. War die Kri-
se vorüber, kehrte man von dieser zeitweisen Alleinverehrung wieder zur
allgemeinen Götterverehrung zurück. Im Buch Richter wird dieser Zyklus
theologisch als Abfall und Reue ausgedrückt. In solchen Zeiten der Be-
drängnis traten charismatische Einzelgänger als Führer Israels auf. Einer
von ihnen war der Kraftprotz Simson, der der griechischen Sagenfigur des
Herakles auffällig ähnelt. Ein anderer war Jeftah, der seine Tochter opfer-
te wie der Grieche Agamemnon die Iphigenie. Man fragt sich nur, warum
Jahwe nicht wie beim Opfergang Abrahams eingeschritten war. Ist diese
Erzählung ein Indiz dafür, dass auch im Israel dieser Zeit Menschenopfer
noch üblich waren?
Die Bibel gibt uns natürlich eine völlig andere Darstellung der Ge-
schichte Israels. Das liegt allein schon daran, dass sie die Beziehung zwi-
schen Jahwe und seinem Volk in den Mittelpunkt stellt. Was die Bibel mit
ihren Erzählungen bietet, ist in der Tat weitgehend Fiktion und doch las-
sen sich anhand ihrer Schilderungen bestimmte Rückschlüsse ziehen, z.B.
dass die Abwendung vom Götterglauben hin zur Alleinverehrung Jahwes
ein Jahrhunderte dauernder Prozess war. Erst mit der Kultreform des König
Josia im Jahre 622 v. Chr. setzte sich die Jahwe-allein Bewegung und damit
ein Vorläufer des Monotheismus schließlich durch, wenn auch die Exis-
tenz der anderen Götter nicht geleugnet wurde. Im Exil, in der Erfahrung
der Zerstörung von Jerusalem und Tempel 597/586 v. Chr. und dem damit
einhergehenden Verlust der Staatlichkeit, setzte eine Radikalisierung des
Denkens ein. Die Frage stellte sich, warum geschah das alles? War Jahwe
doch nicht so mächtig wie es geglaubt worden war und anderen Göttern
unterlegen? Die nach Babylon deportierte Oberschicht Israels, insbeson-
dere Priester und Propheten, suchten nach Antworten, um Gründe für das
Los Israels zu finden, um die demoralisierte Nation wieder aufzurichten
und ihr Hoffnung für die Zukunft zu geben, um die nationale Identität zu
72 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
– Gott absolut souverän handelt und wir seine Beweggründe oft nicht ver-
stehen können;
– das Gericht über Kanaan ein notwendiger Teil von Gottes Heilsgeschich-
te ist;
– anstatt die Toten zu beklagen wir doch Gott dankbar sein sollten, dass er
so viele am Leben gelassen hat.
Ein solch menschenverachtender Zynismus kann einem direkt die Sprache
verschlagen. So wird also Gewalt, Unrecht und Mord gerechtfertigt. Mit
dem Hinweis auf Jahwes souveränes Handeln lässt sich eben auch Land-
nahme, Vertreibung und Vernichtung als eine Art Gottesdienst beschöni-
gen, ist Jahwe doch der Eigentümer des Landes und kann somit rechtmäßig
das Land neu zuteilen. Auf diese Weise wird tausendfacher Mord als eine
gottbefohlene und somit gottgefällige Tat dargestellt.
Nun stelle man sich aber mal die Kanaaniter als Menschen wie du und
ich vor, als Frau und Mann mit ihren täglichen Sorgen, Nöten und Ängsten.
Man sehe das kleine Kind, das sich vertrauensvoll an die Mutter schmiegt.
Und diese, jung und alt, sollen bestialisch dahingemetzelt werden, weil es
eben Gottes Heilplan so erfordert. Da nun Gott Israel als heiliges Volk er-
wählt hat, damit es zum Segen der Menschheit wird, muss notwendigerwei-
se auch ein heiliges Land erobert und entsprechend gereinigt werden. Diese
euphemistische Sprechweise lässt angenehm das dahinter stehende Grauen
überdecken, die erbarmungslose, verabscheuungswürdige Logik, für die ein
Menschenleben, zumindest das des Feindes, nicht zählt.
Richtig allerdings ist die Einlassung Dittmanns, dass zu der Zeit die
Völker eben eine grausame Kriegsführung betrieben, insbesondere die As-
syrer, die ihre Gefangenen gern bei lebendigem Leibe häuteten. Und über
die Göttin Anat, der Gemahlin des Baal, wird folgendes berichtet (aus
Mahnke: Kein Buch mit sieben Siegeln): „Es kämpfte Anat in der Ebene,
sie metzelt nieder die Städter, sie zerschmettert die Bewohner der Küste,
sie vernichtet die Menschen des Sonnenaufgangs . . . Das Innere Anats ju-
belt, als sie ihre Knie eintaucht in das Blut der Soldaten . . . Bis sie satt ist,
mordet sie im Hause, metzelt sie zwischen den Tischen“. Hier ist also eine
Geistesverwandtschaft des Denkens festzustellen, doch das Ziel der Aus-
rottung eines ganzen Volkes hat schon einzigartigen Charakter, wenn man
von dem Holocaust absieht.
74 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
42). Somit lässt die Schilderung des fiktiven Genozids erkennen, wie Israel
unter priesterlicher Führerschaft gegen die Kanaaniten vorgegangen wäre,
hätten sie die Macht dazu gehabt.
Mit solchen Feinden ist ein Zusammenleben nicht möglich. Entweder
sie oder wir. Sie müssen ausgegrenzt und vernichtet werden. Die gnaden-
lose Ausrottung der Heiden ist angesagt (Dtn. 12,29; 18.12). Mit ihnen ha-
ben wir nichts gemein. Sie haben eine andere Kultur, eine andere Religion
und zudem besetzen sie das gelobte Land. Dieses Land muß von seinen
Feinden gesäubert werden, alles Leben ausgelöscht und ihre Städte müssen
zerstört werden (Dtn. 7,1.16; 20,16f). Man nannte es die Gottesweihe oder
den Bann, was soviel bedeutet wie Brandopfer oder Holocaust.
Es ist das Prinzip der Gleichheit, das ein weiteres Kriterium für den
Auslöser eines Völkermords ist. Die Israeliten bestimmten ihre Identität
durch Glauben und Abstammung, untermauert durch soziale Marker wie
Beschneidung und Speisegebote. Mischehen waren verboten bzw. wurden
zwangsweise aufgelöst (Esra 10, 10f). Die Reinheit der Rasse musste ge-
wahrt bleiben, das Fremde ausgeschieden werden. Diese Obsession mit
Reinheit ist auch aus den verschiedenen gesetzlichen Bestimmungen er-
kennbar (Lev. 11–15).
Auch für die Nazis war die Reinheit der Rasse oberstes Gebot. Die
Gleichheit der Deutschen, ihre Einheit unter einem Führer in einem Reich
war nur durch die Reinheit des Blutes, durch die arische Abstammung ge-
währleistet. Dieses Volk war von Hitler ausersehen, die Welt zu regieren,
ähnlich wie auch die Israeliten sich als ein erwähltes Volk betrachteten.
Es ist diese Art von Ideologie, die sich mit der Mentalität der Menschen
deckte, in Israel wie auch in Nazideutschland. Auf Linie gebracht wurden
die Leute durch eine Dauerbeschallung mit Propaganda, hier vorangetrie-
ben durch eine Priesterkaste, dort durch Göbbels und seine Helfershelfer.
Die Parallelen sind jedenfalls so auffallend, dass man mit einiger Recht-
fertigung von der biblischen Landnahme in Kanaan als einen wenn auch
fiktiven Vorläufer des Holocausts sprechen kann.
E. Zenger (Einführung in das Alte Testament) meint, dass „die Radi-
kalität der dabei geschilderten Kriege . . . ein narratives Symbol für die Ra-
dikalität des Gottvertrauens Israels“ ist. Gott fordert die Hinwendung des
ganzen Menschen, in seinem Denken als auch in seinem Handeln und for-
dert Gehorsam und Liebe, die durch Befolgung seiner Sozialordungen ver-
76 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
wollen den trojanischen Krieg sogar mit dem biblischen Exodus verglichen
haben und verweisen dabei auf die Armada von hunderten von Schiffen.
Sie sind überzeugt, dass der wahre Grund für den Angriff Landnahme und
nicht Rache wegen der Entführung der schönen Helena war.
Die Götter sind in der Ilias mit höchst menschlichen und nicht im-
mer angenehmen Zügen ausgestattet. Sie essen, trinken und schlafen. Sie
streiten sich, betrügen und begehen Ehebruch. Insofern erscheinen sie sehr
viel nahbarer als der allmächtige, unergründliche und Furcht einflössende
Jahwe. Sie mischen sich immer wieder in die Kämpfe ein, die Streiter an-
treibend und unter ihnen Zwietracht säend. Auch sind sie parteiisch was
sogar zum Kampf der Götter untereinander führt.
Nur an einer Stelle in der Ilias ist von der totalen Vernichtung des Fein-
des die Rede als Agamemnon spricht: „Keiner davon entfliehe nun grausen
Verderben, keiner nun unserm Arm! Auch nicht im Schosse das Knäblein,
welches die Schwangere trägt, auch das nicht. Alles zugleich nun sterbe,
was Ilios nährt, hinweggerafft und vernichtet“. Es ist dies aber die Stim-
me eines Einzelnen, der seinen Bruder Menelaos schilt, weil dieser einem
Feind Gnade gewähren will. Zwar werden immer wieder auch Wege des
Friedens und der Versöhnung gesucht, doch die Götter wollen den Kampf.
In diesem Kampf geht es oft grausam zu, so als wenn Peneleos den Tro-
er Ilioneus niedersticht: „Unter der Brau ihm stach der die hinterste Wurzel
des Auges, dass ihm der Stern ausfloss und der Speer, durchs Auge geboh-
ret, hinten den Schädel zerbrach; und er saß ausbreitend die Hände bei-
de. Peneleos drauf, das geschliffene Schwert sich entreißend, schwang es
grad auf den Nacken und schmetterte nieder zur Erde samt dem Helme das
Haupt“.
Die furchtbare Episode mit der Zerstückelung der Leiche der Nebenfrau
des Leviten hat ihre Parallele in der Tragödie ‚Agamemnon‘ des Aischylos.
Darin wird geschildert wie der Vater des Agamemnon aus Rache, weil sein
Bruder seine Frau verführt hatte, dessen Kinder tötet, sie zerstückelt, das
Fleisch zubereitet und es dem nichtsahnenden Bruder zum Mahl vorsetzt.
Damit wird eine unheilsvolle Verkettung von Mord und Rache in Gang
gesetzt.
Bei aller Grausamkeit dieser schrecklichen Schilderungen, die Sicht der
Griechen auf ihre Feinde ist eine andere als die der Bibel. In der Ilias tre-
ten namentlich genannte Zweikämpfer gegeneinander an während die Bi-
78 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
bel das Feindesheer als eine amorphe Masse zeichnet, die es wie eine Plage
auszumerzen gilt. Aus der biblischen Perspektive erscheinen die Kanaanä-
er als verabscheuungswürdige, widerwärtige, götzendienerische Kreaturen,
die es zu vernichten gilt, eine anonyme Verfügungsmasse, an denen der
Bann zu vollstrecken ist. Im Debora-Lied wird nur Häme über die Mutter
des erschlagenen Sisera ausgegossen. Ganz anders bei den Griechen. Im
‚Perser‘ des Aischylos wird das Leiden der persischen Königin mit viel
Sympathie erzählt, so wie die Sorge an ihrem Herzen nagt und wie sie
das Traumbild ihres erschlagenen Sohnes beklagt. Trauer und Schwermut
der Mutter werden hier ihren angemessenen Ausdruck gegeben. In der ‚Ili-
as‘ finden sich Triamos, der Vater des Hektor, und Achilleus, der dessen
Sohn im Kampf erschlagen hatte, zu einem versöhnlichen Gespräch zu-
sammen: „Aber nachdem sich gesättigt des Grams der edle Achilleus . . .
sprang er vom Sessel empor, bei der Hand den Alten erhebend, voll Mit-
leid mit dem grauenden Haupt und dem grauenden Barte. Und er begann zu
jenem und sprach die geflügelten Worte: Armer, fürwahr, viel hast du des
Wehs im Herzen erduldet.“ Gewalt und Leid werden durch die Erfahrung
des gemeinsam-menschlichen im Miteinander transzendiert. Einen derarti-
gen Sinn für einfache Mitmenschlichkeit und Empathie sucht man bisher
vergebens in der Bibel. Ist es vielleicht so, dass religiöser Hass die Sicht
auf den Anderen verstellt und so das Gemeinsame des Menschseins zur
Unkenntlichkeit verzerrt wird?
4.2. Die ersten drei Könige Israels (Saul, David und Salomo)
(Die Bücher 1 2 Samuel, 1 Könige 1–11, 1 2 Chronik 1–9)
Der HERR erhörte das Flehen einer kinderlosen Frau und sie gebar einen
Sohn, den sie Samuel nannte. Wie sie es gelobt hatte, übergab sie den
Knaben, nachdem er entwöhnt worden war, einem Priester, dass er dem
HERRN diene. Das Haus des Priesters aber sollte der Fluch des HERRN
treffen; denn seine Söhne waren ruchlose Menschen und der Vater wehrte
ihnen nicht. Auf Samuel jedoch lag der Segen des HERRN, und als er her-
anwuchs, da erkannte ganz Israel, dass der HERR ihn als Prophet erwählt
hatte. Als der Priester nun alt und schwach geworden war, offenbarte der
HERR Samuel, dass er nun sein Haus richten werde. Und so kam es denn
auch. Die Söhne verloren während einer Schlacht der Israeliten gegen die
4.2. Die ersten drei Könige Israels (Saul, David und Salomo) 79
Philister ihr Leben. Dem Vater brach es das Herz als er von ihrem Tod hörte
und er verschied.
In dieser kriegerischen Auseinandersetzung, die dreißigtausend Israe-
liten das Leben kostete, entwendeten die Philister auch die Bundeslade.
Doch die brachte ihnen nur Unglück und so entschieden sie sich, diese den
Israeliten zurückzugeben. Sie wurde zunächst einem Mann, der in der Nä-
he Jerusalems wohnte, anvertraut. Samuel übernahm das Amt des Richters
und gebot den Israeliten, all die fremden Götter wegzutun und nur noch
dem HERRN zu dienen. Mit Gottes Hilfe vermochten die Israeliten die
Philister zu besiegen und viel verlorenes Gebiet wieder zurück zu erobern.
Sein ganzes Leben lang richtete Samuel das Volk und „zog Jahr für Jahr
umher“.
Da er bereits im fortgeschrittenen Alter stand war es der Wunsch Sa-
muels, dass seine beiden Söhne die Nachfolge als Richter antraten, doch
diese waren nicht gut geraten, und die Ältesten des Volkes verlangten da-
her nach einem König, dass er über sie herrsche und Recht spreche. Der
HERR beschied Samuel, dass er Volkes Stimme gehorchen solle; „denn sie
haben nicht dich, sondern mich verworfen, dass ich nicht mehr König über
sie sein soll“. Doch er solle ihnen die Rechte des Königs verkünden und
ihnen deutlich machen, was für große Opfer sie dann zu ertragen hätten.
Würden sie später ihr Leid beklagen werde er sie nicht erhören. Doch das
Volk beharrte darauf, dass sie wie die Heiden auch einen König bekommen
sollten.
Nun trug es sich eines Tages zu, dass ein junger, stattlich anzusehener
Mann namens Saul auf der Suche nach seinen Eseln in das Gebiet des Sa-
muel kam und ihn in der Hoffnung aufsuchte, dass er ihm helfen könne,
seine Esel zu finden. Samuel war diese Begegnung bereits vom HERRN
offenbart worden und erhielt göttlichen Auftrag, Saul zum Fürsten über Is-
rael zu salben. Als Saul nun im Rahmen von Festlichkeiten von Samuel
gesalbt worden war und sich dann auf den Rückweg machte, da kam ihm
eine Prophetenschar entgegen und der Geist Gottes kam über ihn, „dass er
mit ihnen in Verzückung geriet“. Samuel aber berief das Volk zusammen,
dass sie sich für einen König entscheiden und das Los fiel auf Saul.
Saul widmete sich weiterhin der Feldarbeit bis ihn die Nachricht er-
reichte, dass Israel von den Ammonitern bedroht war. Da kam wieder der
Geist Gottes über ihn. Er zerriss zwei Ochsen und verteilte die Stücke im
80 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
Lande mit der Warnung, dass wer sich ihm nicht anschließe, dem blühe ein
ähnliches Schicksal wie den Tieren. Die Drohung fruchtete und Israel zog
aus „wie ein Mann“. Die Ammoniter wurden geschlagen und Saul wurde
als König bestätigt. Daraufhin legte Samuel sein Richteramt nieder.
Sauls Sohn Jonatan erschlug einen Hauptmann der Philister, die sich
daraufhin zu einem Rachefeldzug rüsteten. Die Israeliten waren verängstigt
und begannen, sich von Saul abzuwenden. So opferte dieser dem HERRN,
um dessen Gunst zu erhalten. Für Samuel aber, der später hinzukam, war
Sauls Handlung ein Bruch von Gottes Gebot und so prophezeite er ihm,
dass sein „Königtum nicht bestehen“ werde. Die Sache stand schlecht für
die Israeliten, hatten sie doch ausser Saul und dessen Sohn weder Schwert
noch Spiess, da die Philister den Israeliten keine Schmieden erlaubten. Der
Krieg nahm seinen Anfang als Jonatan eine Wache der Philister tötete. Es
kam zum Kampf und „da ging eines jeden Schwert gegen den andern“. Der
HERR war mit den Israeliten und so vermochten sie die Philister in die
Flucht schlagen. Jonatan aber kam unter den Fluch seines Vaters, weil er
gegen dessen Anordnung Nahrung zu sich genommen hatte. Da dies aber
unwissentlich geschah und das Volk Fürsprache für ihn einlegte, wurde sein
Leben verschont.
Saul fiel schon bald wieder in Ungnade bei Samuel, hatte er doch seinen
Auftrag, den Bann an den Amelekitern zu vollstrecken und dabei keinen zu
verschonen, weder „Mann und Frau, Kinder und Säuglinge“ noch das Vieh,
nur unvollständig ausgeführt und Agag, den König von Amelek gefangen
genommen. Dies war für Samuel Ungehorsam gegen den HERRN und er
sagte: „Widerstreben ist wie Abgötterei“. Den HERRN reute es, Saul zum
König gemacht zu haben; „denn er hat . . . meine Befehle nicht erfüllt“ und
so wird er ihn verwerfen. Samuel aber „hieb den Agag in Stücke vor dem
HERRN“ und blieb Saul fortan fern.
Samuel derweilen wurde vom HERRN zum Bethlehemiter Isai gesandt,
dessen jüngsten Sohn David er als künftigen König Israels salbte. Auf Saul
aber kam ein böser Geist, der ihn ängstigte. Auf Ratschlag einer der Männer
ließ er David an seinen Hof holen, da dieser sich mit seinem Harfespiel
einen Namen gemacht hatte. Die Musik vertrieb seinen bösen Geist und
Saul gewann David lieb.
Der Tag für Davids Bewährung sollte kommen, als die Philister wieder
einmal Israel bedrängten. Er wurde vom Vater zu seinen Brüdern ins La-
4.2. Die ersten drei Könige Israels (Saul, David und Salomo) 81
ger der Israeliten geschickt, um ihnen Essen zu bringen und vernahm dabei
die Herausforderung des Philisters Goliat, ein Riese von Gestalt, dass sich
ihm ein Israelit zum Zweikampf stelle. Trotz seiner Unerfahrenheit machte
David sich zum Kampf bereit, auch weil der König demjenigen, der den
Riesen erschlägt, seine Tochter zur Frau versprochen hatte. Der Riese mus-
terte ihn nur verächtlich. David aber nahm seine Steinschleuder und traf mit
einem Stein die Stirn des Philisters. Der fiel zu Boden und David hieb ihm
mit dessen eigenen Schwert den Kopf ab woraufhin die Philister in Panik
die Flucht ergriffen. Man brachte David vor Saul, der ihn fragte, wessen
Sohn er sei; denn keiner kannte ihn. Von dem Tag an blieb David im Hause
des Saul und befreundete seinen Sohn Jonatan.
David wurde von den Frauen bejubelt, die seine Heldentaten besangen.
Das regte den Argwohn des Saul und er begann, nach seinem Leben zu
trachten. Als es dann noch David gelang, zweihundert Philister zu erschla-
gen und deren Vorhäute als den von Saul geforderten Brautpreis darzubrin-
gen, fürchtete er ihn und wurde sein Feind.
Eines Tages konnte David nur knapp einem von Saul unter dem Ein-
fluss des bösen Geistes geworfenen Speeres ausweichen. Durch die List
seiner Frau Michal, der Tochter des Königs, gelang ihm die Flucht nach
Samuel. Saul wollte ihm nachsetzen aber schon auf dem Weg dorthin kam
ihm wie auch seinen Boten vor ihm der Geist Gottes über ihn. Er geriet in
Verzückung, „fiel hin und lag nackt den ganzen Tag und die ganze Nacht“.
David und Jonatan waren aber wie ein Herz und eine Seele, sehr zum
Verdruss des Saul, der seinen Sohn darob als „Sohn einer ehrlosen Mutter“
beschimpfte. Für ihn war David „ein Kind des Todes“, aber Jonatan warn-
te David über die Pläne seines Vaters. So nahmen sie weinend Abschied
voneinander und küssten und herzten sich.
Als David seines Weges ging, hungerte ihn und ein Priester gab ihm
von dem heiligen Brot aus dem Tempel. Als Saul davon erfuhr packte ihn
die Wut, ließ die Priester des Ortes holen und sie erschlagen. David hielt
sich eine Weile am Hof eines Königs der Philister auf. Da man ihn dort
erkannte, ergriff ihn Furcht und er „stellte sich (daher) wahnsinnig“. So
floh er weiter und fand Unterschlupf in einer Höhle. Hier sammelte er unter
sein Kommando seine Brüder und allerlei Männer, die in Not und verbittert
waren.
82 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
Saul verfolgte David weiter bis in die Berge der Wüste. Es war aber
David, der es in seinen Händen hielt, den anderen zu töten als er sich eines
Nachts unbemerkt an den schlafenden Saul heranschleichen konnte. Als
David sich bei Tagesanbruch ihm zu erkennen gab musste Saul weinend
eingestehen, dass dieser gerechter war als er. Nachdem David dem Saul
geschworen hatte, seinem Geschlechte Barmherzigkeit zu erweisen, wenn
er selbst König wird, gingen beide ihres Weges.
Samuel starb „und ganz Israel . . . hielt ihm die Totenklage“. Während
David sich nun in der Wüste aufhielt, befahl er einigen seiner Männer, Ver-
pflegung von einem reichen Viehzüchter zu erbitten. Doch dies wurde ih-
nen verweigert und David entschloss sich, für diese Schmach Vergeltung
zu üben. Die Frau des Reichen, Abigail, schaltete sich ein, brachte reich-
lich Wegzehrung und bat ihn um Verschonung. David versprach es ihr. Als
der Reiche kurz darauf verstarb, nahm er Abigail zu seiner Frau.
Ein zweites Mal ließ David eine Gelegenheit, Saul zu töten, der wieder
seine Verfolgung aufgenommen hatte, ungenutzt verstreichen. Kein Wun-
der, dass er dessen versöhnenden Worten nicht traute und wieder in das
Land der Philister zog. Der dortige König wies ihm einen Wohnsitz zu von
dem aus er regelmäßig Raubüberfälle gegen die Amalekiter machte und
dabei nichts am Leben ließ was Odem hatte. Dem König gegenüber gab
er vor, seine eigenen Landsleute zu berauben und so gewann er mit dieser
Lüge dessen Vertrauen.
Trotzdem trauten die Oberen der Philister David nicht und wollten ihn
bei einem neuerlichen Kriegszug gegen Israel nicht dabei haben. Saul war
verzagt ob deren Übermacht und da er auch vom HERRN keinen Rat er-
hielt, suchte er eine Geisterbeschwörerin auf und hieß sie, den Geist Samu-
els aus der Tiefe zu holen. Dieser aber beschied ihm, dass der HERR nicht
mehr mit ihm sei, weil er dessen Zorn an den Amelekitern nicht vollstreckt
hatte und prophezeite ihm und seinen Söhnen den baldigen Tod. „Da stürz-
te Saul zur Erde . . . und geriet in große Furcht über die Worte Samuels.“
In der Tat, Saul und drei seiner Söhne fanden am nächsten Tag den Tod im
Kampf gegen die Philister. Der tödlich verwundete Saul hatte sich dabei in
sein eigenes Schwert gestürzt.
David aber wurde von einem Söldner berichtet, dass dieser Saul auf
dessen Bitten hin getötet habe. David reagierte erzürnt: „Wie, du hast dich
nicht gefürchtet, deine Hand zu erheben gegen den Gesalbten des HERRN,
4.2. Die ersten drei Könige Israels (Saul, David und Salomo) 83
Während noch der Krieg mit den Ammonitern tobte erblickte eines Ta-
ges David, der in Jerusalem geblieben war, vom Dach seines Könighauses
eine schöne Frau bei ihrem Bad. Man sagte ihm, dies wäre Batseba, die
Frau eines Söldners. Er ließ sie zu sich holen und schwängerte sie. Um den
Ehebruch zu vertuschen, hieß er ihren Ehemann kommen, dass er bei sich
zu Hause einkehre. Als dieser Plan fehlschlug, ließ er ihn an die Spitze sei-
nes Heeres stellen, wo er den sicheren Tod finden würde. Auf die Nachricht,
dass der Söldner im Kampf erschlagen wurde, reagierte David mit Gleich-
mut während Batseba Totenklage hielt. Nach Ablauf der Trauerzeit machte
er sie zu seiner Frau. „Aber dem HERRN missfiel die Tat, die David getan
hatte“.
„Und der HERR sandte Nathan zu David“. Der Prophet erzählte ihm
die Fabel vom armen Mann dessen einziges Schaf von einem reichen Mann
weggenommen wurde. David machte diese Geschichte sehr zornig und
wünschte dem Manne, der das getan hatte, den Tod. Nathan aber sprach:
„Du bist der Mann“ und er hielt ihm seine eigene Schande vor Augen. So
wird nun Unheil über das Haus David kommen, prophezeite Nathan. Da-
vid gestand seine Sünde doch das Kind, das Batseba gebar, erkrankte und
starb. David, der gefastet hatte, nahm wieder Speise zu sich, tröstete seine
Frau und schlief mit ihr. Sie schenkte ihm Monate später einen Sohn, den
er Salomo nannte.
Und es begab sich, dass Amnon, der Sohn Davids, sich in seine Halb-
schwester Tamar verliebte. Er stellte sich krank und bat seinen Vater, dass
Tamar ihn pflegen möge. Als sie sich ihm näherte, ergriff er sie, zog sie auf
sein Bett und vergewaltigte sie trotz ihrer heftigen Gegenwehr. Schon kurze
Zeit später war er ihrer überdrüssig geworden und er schickte sie weg. Das
Mädchen war außer sich ob dieses doppelt erlittenen Unrechts und ihr Bru-
der Absalom plante heimlich, Rache dafür zu nehmen. Diese Gelegenheit
kam zwei Jahre später. Anläßlich eines Festes zu dem auch seine Brüder
eingeladen waren, ließ er Amnon erschlagen. Vater David „trug Leid um
seinen Sohn alle Tage“. Absalom aber flüchtete sich in eine Asylstadt. Drei
Jahre später durfte er nach Jerusalem zurückkehren, doch David weigerte
sich zunächst, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
In Jerusalem wusste Absalom schon bald sein Ansehen bei den Leuten
zu mehren indem er sich königliche Vorrechte anmaßte. Vier Jahre später
ging er mit dem Segen seines Vaters nach Hebron, doch plante er, sich dort
4.2. Die ersten drei Könige Israels (Saul, David und Salomo) 85
zum König ausrufen zu lassen. David erkannte wohl die Absicht seines
Sohnes, unternahm aber weiter nichts gegen ihn sondern ging wie ein Büßer
barfüssig und mit verhülltem Haupt auf den Ölberg, dort, „wo man Gott
anzubeten pflegte“. Auf seinem weiteren Weg kam ihm ein Mann namens
Schimi aus dem Hause Saul entgegen, der ihn mit Steinen und Schmutz
bewarf. Er ließ es geschehen. Absalom aber kehrte nach Jerusalem zurück
und vergnügte sich in aller Öffentlichkeit mit Davids Nebenfrauen.
Absalom rüstete sich für den Krieg, doch David erhielt davon Mittei-
lung und organisierte seine Streitmacht für einen Gegenschlag. Seine Män-
ner gewannen die Schlacht und Absalom musste fliehen. Doch verfing er
sich dabei mit seinem langen Haarschopf in den Zweigen eines Baumes
und der Heerführer Joab, entgegen der Bitte des Davids, den Absalom zu
verschonen, erstach ihn und warf die Leiche in eine Grube. David war un-
tröstlich doch Joab warf ihm vor, das Leben seiner eigenen Leute gering
zu achten weil er den, der ihn hasste, liebte. Sollte er sich nicht dem Volk
zeigen, so wird es sich von ihm abwenden. So ging der König zum Tor der
Stadt und es „kam alles Volk vor den König“.
Auf dem Weg zurück nach Jerusalem kam ihm wieder Schimi, der dem
Stamme Joseph angehörte, entgegen. Zuvor hatte er ihn noch wie Dreck
behandelt doch nun bettelte er unterwürfig um sein Leben. David zeigte
sich gnädig und gewährte ihm Verschonung. Nun aber wiegelte ein Benja-
miter namens Scheba seine Landsleute mit der Anschuldigung auf, David
bevorzuge Juda über Israel. Als nun Israel vom König abfiel, gab David
den Befehl, die Aufständischen zur Rechenschaft zu ziehen. Seinem Heer-
führer Joab gelang es, ihren Führer, der sich in eine Stadt geflüchtet hatte,
aufzuspüren. Auf die Zusicherung hin, die Stadt zu verschonen wenn sie
ihm den Rebellen herausgäben, wurde ihm dessen Kopf über die Mauer
zugeworfen.
Auf dem Lande lastete eine drei Jahre währende Hungersnot und Da-
vid befragte den HERRN nach dem Grund des Unheils. Der HERR ant-
wortete: „Auf Saul und auf seinem Hause liegt eine Blutschuld, weil er die
Gibeoniter getötet hat“. Nachdem den Gibeonitern Sühne getan war indem
man ihnen sieben Männer aus dem Hause Saul übergab, die sie aufhängen
konnten, „wurde Gott dem Lande wieder gnädig“.
„Und der Zorn des HERRN entbrannte abermals gegen Israel, und er
reizte David gegen das Volk und sprach: Geh hin, zähle Israel und Juda“.
86 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
Gegen die Bedenken des Joab ließ David eine Zählung aller wehrfähigen
Männer durchführen – es waren über eine Million –, bekannte danach aber
seine Schuld vor dem HERRN. Dieser forderte ihn auf, zwischen drei For-
men der Strafe zu wählen und ließ dann eine Pest über Israel kommen,
der siebzigtausend Menschen zum Opfer fielen. Da „reute den HERRN das
Übel, und er sprach zum Engel, der das Verderben anrichtete im Volk: Es
ist genug“. David aber wandte beim HERRN ein, dass er allein verantwort-
lich sei, wessen aber hatte sich das Volk schuldig gemacht? Nachdem nun
David auf der Höhe, die er einem Jebusiter abkaufte, einen Altar errichtet
und dem HERRN geopfert hatte, wich die Plage von dem Volk.
Als nun David alt geworden war, ließ sich sein Sohn Adonija, der nächst
in der Erbfolge stand, zum König ausrufen. Doch auf die Intervention des
Propheten Nathan und der Batseba hin, erneuerte David seine Zusage, dass
Salomo König sein solle. Der Prophet und der Priester Zadok salbten dar-
aufhin Salomo und ließen ausrufen: „Es lebe der König Salomo“. Das Ge-
schrei des Volkes alarmierte Adonija und seine Vertrauten. In seiner Furcht
flüchtete er sich zum Altar des HERRN. Dort wurde Adonija ergriffen, ihm
aber das Leben zugesichert.
David war nun dem Tode nahe. Er ließ Salomo zu sich rufen und er-
mahnte ihn noch einmal, dem HERRN zu dienen und seine Gebote zu hal-
ten, auf dass es ihm wohl ergehe. Er erinnerte ihn an die Bluttaten des Joab
und sprach: „Tu nach deiner Weisheit, dass du seine grauen Haare nicht
in Frieden hinunter zu den Toten bringst“. Auch Schimi solle wegen sei-
nes üblen Verhaltens nicht frei ausgehen. Nachdem David verstorben und
begraben worden war, hielt Adonija um die Hand der Jungfrau Abischag
an, die David in seinen letzten Tagen gewärmt hatte. Salomo, dem die Bitte
durch seine Mutter Batseba zugetragen worden war, reagierte höchst unwil-
lig; denn er vermutete dahinter wohl das Streben Adonijas, sich als recht-
mäßiger Erbe durchzusetzen. So ließ Salomo Adonija töten und Joab, den
Heerführer, als auch Schimi eine Zeit später ereilten das gleiche Schicksal.
Salomo nahm sich die Tochter des Pharaos zur Frau, um sich mit dem
Königshaus Ägyptens zu verbinden. Als er eines Tages auf den Höhen zu
Gibeon opferte hatte er einen Traum, in dem der HERR ihn aufforderte
zu sagen, was er sich erbitte. Salomo wünschte sich ein gehorsames Herz,
„damit er dein Volk richten könne und verstehen, was gut und böse ist.“
4.2. Die ersten drei Könige Israels (Saul, David und Salomo) 87
Den HERRN erfreute diese Antwort und sagte, dass, weil er so bescheiden
war, er ihm Verstand, Reichtum und Ehre geben werde.
Einige Zeit später kamen zwei Huren zu ihm. Die eine beschuldigte die
andere, ihr Neugeborenes gegen ihr totes Kind, das sie im Schlaf erdrückt
hatte, ausgetauscht zu haben. Da sich nun die Wahrheit nicht anders heraus-
finden ließ sprach Salomo: „Teilt das lebendige Kind in zwei Teile und gebt
dieser die Hälfte und jener die Hälfte.“ Da regte sich das mütterliche Herz
in der einen Frau und sie sagte, man solle der anderen das Kind geben. Dar-
aufhin entschied Salomo: „Gebt dieser das Kind lebendig und tötet’s nicht;
die ist seine Mutter“. Und das Volk fürchtete den König; denn es sah die
Weisheit Gottes in ihm.
„So war Salomo Herr über alle Königreiche, vom Euphratstrom bis zum
Philisterland und bis an die Grenze Ägyptens; die brachten ihm Geschen-
ke und dienten ihm sein Leben lang“. Und die Weisheit des Salomo wurde
über die Grenzen Israels hinaus bekannt. Nun, da Ruhe im Reich herrschte,
konnte Salomo dem HERRN ein Haus bauen. Der Tempel aber sollte auf
der Höhe gebaut werden, die bereits von David dem Jebusiter abgekauft
worden war. Auch hatte David dem Salomo einen Entwurf für den Tempel
gegeben und aus seiner Kriegsbeute „für das Haus des HERRN hundert-
tausend Zentner Gold und tausend mal tausend Zentner Silber“ und ande-
res mehr hinterlassen. Salomo erbat sich vom König von Tyrus Zedernholz
und ließ den Bau von dreißigtausend Fronarbeitern ausheben. Hinzu kamen
hundertfünfzigtausend Lastträger und Steinhauer, die aus den Fremdlingen
im Volk bestimmt worden waren. Verzierungen wie Gitterwerk und Stand-
bilder wurden unter der Anleitung eines Kupferschmieds aus Tyrus ange-
fertigt. Der Bau des Tempels dauerte sieben Jahre und der der Königshäuser
mit Thronhalle und Gerichtshäuser nahm dreizehn Jahre in Anspruch.
Zur Einweihung des Tempels wurde die Bundeslade feierlich von den
Priestern zu dem Haus des HERRN heraufgetragen und es wurde darauf-
hin von der Herrlichkeit des HERRN erfüllt. Der König wandte sich an
sein Volk: „Nun Gott Israels, lass dein Wort wahr werden, das du deinem
Knecht, meinem Vater David zugesagt hast. Aber sollte Gott wirklich auf
Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich
nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“ Und
Salomo erbat sich vom HERRN, dass, sollte das Volk von Unheil geschla-
gen werden, weil es gesündigt hat und Hungersnot oder Gefangenschaft er-
88 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
leide, dann, wenn es sich bekehrt „so wollest du hören im Himmel . . . und
gnädig sein.
Der HERR erschien Salomo und versprach, dass er wohl sein Gebet
und Flehen vernommen habe und wenn er seinen Geboten folge, dann wird
er ihm auch den Thron auf Ewigkeit bestätigen. Sollte er sich aber von
ihm abwenden und anderen Göttern dienen, dann „werde ich Israel ausrot-
ten . . . und dies Haus wird eingerissen werden“.
Es kam nun die Königin von Saba auf Besuch nach Jerusalem, um sich
selbst von der Weisheit und dem Reichtum des Salomo zu überzeugen. Zum
Abschied überhäufte er sie mit Geschenken. Alles im Hause Salomo war
aus feinstem Gold und der Thron aus Elfenbein. Er hatte zwölftausend Ge-
spanne und seine Kaufleute handelten mit Pferden aus Ägypten. Doch der
König Salomo liebte auch viele ausländische Frauen. Es waren an die tau-
send Frauen in seinem Harem und er baute ihnen Tempel, damit sie ihren
Göttern dienen konnten. Das erzürnte den HERRN, hatte sich Salomo doch
nicht an seine Gebote gehalten. So wurde ihm verheißen, dass nach seinem
Ableben sein Königtum geteilt werden würde.
Gegen ihn erhob sich ein ehemaliger Fronvogt namens Jeroboam, ein
Ephraimiter. Diesem begegnete ein Prophet, der seinen Mantel in zwölf
Stücke zerriss. Er sagte ihm von dem HERRN, dass ihm die Herrschaft über
zehn Stämme Israels gegeben werde weil Salomo der Abgötterei verfallen
war. Da Salomo ihm nach dem Leben trachtete floh Jeroboam nach Agypten
und blieb dort bis zu dessen Tod. Salomo starb „und sein Sohn Rehabeam
wurde König an seiner Statt.“
Kommentar
Der Beginn des Königtums, der auf das Jahr 1012 v. Chr. geschätzt wird,
bedeutet eine neue Phase in der Entwicklung Israels. Sie markiert den Über-
gang von Legende in das Licht der Geschichtlichkeit. Eher aber noch im
geschichtlichen Dunkel steht die Figur des Samuel. Samuel nimmt eine
Mittlerposition in dieser Zeit des Wandels ein. Er ist gleichzeitig der letzte
Richter, Gottesmann und der erste Prophet Israels. In seiner Person wird
diese Phase als eine Zeit der Zerrissenheit erkennbar, zwischen den Göt-
tern der Umwelt und Jahwe als auch zwischen dem Beharren auf Freiheit
und der Schutzsuche unter einem neuen Herrschaftssystem. Ein wachsen-
der Teil der Israeliten war bereit, mit den freiheitlichen Überzeugungen der
4.2. Die ersten drei Könige Israels (Saul, David und Salomo) 89
sahen bis hin zu den Bauern, die durch Abgaben vielfach in Armut getrie-
ben worden waren. Ein erster Aufstand wurde durch Davids Sohn Absalom
inszeniert, der die wachsende soziale Empörung, geschürt durch Hofintri-
gen und Rechtsbrüche Davids, geschickt für sich zu nutzen wusste. Der
Aufstand scheiterte zwar, sollte dann aber unter Scheba eine noch radika-
lere Fortsetzung finden. Mit ihm kündigten die Nordstämme ihre Gefolg-
schaft auf und das hätte zum Auseinanderbrechen des Königtums führen
können, doch auch diese Revolte wurde niedergeschlagen. Damit war nun
der Weg frei für die Einsetzung eines sakralen Königtums nach orientali-
schem Vorbild wie in Ägypten.
Die davidische Krönungsliturgie wie sie in Psalm 2 dargestellt wird, ist
eng an die ägyptische Krönungstheologie angelehnt. David ist der Gesalbte
des HERRN, eingesetzt von Jahwe auf „meinem heiligen Berg Zion“. Und
so wie der Pharao Sohn des Re ist, so ist es auch David unter Jahwe: „Du
bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt“. Der davidische König ist zur
Rechten Gottes eingesetzt (Psalm 110,1) und ist gleichfalls „Priester ewig-
lich nach der Weise Melchesideks“ (Psalm 110,4). Damit schwingt sich der
König zum Mittler zwischen Himmel und Erde auf und macht gleichsam
den „Herrschaftsbereich Jahwes auf Erden sichtbar“ (Zimmerli, W.: Grund-
riss der alttestamentlichen Theologie), ein Herrschaftsbereich, der sich nun
auf alle Völker erstreckt (Psalm 2,8). Deutlich wird dabei, dass der König
Israels wie andere orientalische Herrscher auch eine gottähnliche Stellung
einnimmt. Diese Vergöttlichung Davids ist durch Jahwes Zusage abgesi-
chert, dass sein „Thron beständig sei ewiglich“ (1 Chr. 17,14). Mit dieser
Zusicherung wird zum einen die Thronfolge von der Zustimmung des Vol-
kes abgekoppelt und zum anderen wird damit der Nährboden für die später
einsetzende messianische Erwartung gelegt.
Eigenartig quer dazu liegen die Berichte über Davids moralische Ver-
fehlungen, völlig ungewöhnlich für orientalische Verhältnisse. Erstaunlich
ist auch, wie direkt im Buche Samuel die bisexuelle Neigung Davids her-
ausgestellt wird – seine Liebesbeziehungen zu Jonatan und den Frauen.
Es ist bezeichnend, dass gerade diese Elemente menschlicher Schwächen
aus den Berichten des Chronisten, der die Bücher Samuel und Könige aus
einem anderen Blickwinkel wiedererzählt, herausgenommen worden sind;
denn solches konterkariert die Vorstellungen einer Theologie, die in David
den idealen irdischen König einer göttlichen Weltregierung sieht. In soweit
4.2. Die ersten drei Könige Israels (Saul, David und Salomo) 91
reiht sich der Chronist ein in die Reihe orientalischer Annalen, die die Ta-
ten und Erfolge der Könige lobhudelnd preisen und gleichzeitig damit die
Gottheit für das Gelingen königlicher Unternehmungen rühmen.
Unter Salomo kommt das sakrale Königtum zu seiner vollen Prachtent-
faltung. Mit der ostentativen Demonstration seines Reichtums, den ausge-
dehnten Palast- und Tempelanlagen, der zeremoniellen Aufmachung von
Staatsbesuchen, den diplomatischen Verbindungen, dem internationalen
Handel und einem aufwendigen Hofstaat einschliesslich eines Harems von
hunderten von Frauen ähnelt Salomo mehr und mehr einem orientalischen
Despoten. Dabei erscheint er uns janusköpfig: einerseits als Weiser, ande-
rerseits als Tyrann (1 Kön. 12,4). Der Aufstand von Jerobeam lässt kei-
nen Zweifel daran, dass dieser sich gegen Salomos Unterdrückungsmass-
nahmen richtet. Aufwendige Hoffführung und Baumaßnahmen verschlin-
gen viel Geld und erfordern somit hohe Abgaben. Hinzu kommt die Be-
drückung durch Fronarbeit. All dies entfacht insbesondere den Unmut der
Nordstämme, denn ihnen scheint die höhere Last aufgebürdet zu sein (1
Kön. 4,7–19).
Salomos Aufstieg zur Macht war eine taktische Meisterleistung, ge-
schickt durch ein von Nathan inszeniertes Rollenspiel in Absprache mit
Batseba eingefädelt, das David überzeugte, Salomo als seinen Nachfolger
einzusetzen und damit eine Dynastie des davidischen Hauses zu begründen,
die sich etwa vier Jahrhunderte im Südreich Juda halten konnte. Dabei war
Salomo aufgrund seines Alters eigentlich gar nicht erbberechtigt gewesen
und zum anderen entstammte er einer anrüchigen Beziehung. Dieser Makel
wurde vertuscht durch die nachträgliche Legitimation der Beziehung zwi-
schen David und Batseba und indem man das erste Kind der Sünde sterben
ließ. Eine weitere Legitimation für seine Machtergreifung erhielt Salomo
auf göttlichem Wege, indem Jahwe seine Erwählung ausdrücklich bestätig-
te; denn „der HERR liebte ihn“ (2. Sam 12,24).
Womit sich Salomo aber nachhaltigen Ruhm gesichert hat, ist der Bau
des Tempels. Schon die Wahl des Ortes auf dem Berg Morija (2 Chr. 3,1),
der Stelle, die David dem Jebusiter abgekauft hatte, lässt mythische Vor-
stellungen ahnen. Nach einem in der Völkerwelt weit verbreiteten Glauben
manifestiert der Tempel auf dem Berg den „Nabel der Welt“ (Ri 9,37), von
dem die Schöpfung ihren Ursprung nahm. Der ägyptischen Mythologie ist
zu entnehmen, dass der Urhügel mit dem Tempel den Schlammwassern der
92 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
Urflut entstieg. Der Tempel besetzt somit die Weltachse zwischen Himmel
und Erde.
Mit der Ernennung des Jebusiters Zadok zum Hauptpriester ist eine
Verknüpfung des ursprünglichen Jahweglaubens mit kanaanitischen Vor-
stellungen erreicht worden und damit zum Angelpunkt einer zunehmend
synkretistischen Theologie. Jahwe wird nun auch Herr Zebaoth (z.B. Psalm
24,10) genannt, Herr der Heerscharen, was sich auf den himmlischen Hof-
staat bezieht. In diesem Hofstaat ist Jahwe den Göttern anderer Völker vor-
gesetzt, sie sind praktisch in seinen Dienst getreten (Psalm 82,1; 89,7–8),
und somit herrscht Jahwe nun ähnlich wie Salomo.
Das biblische Portrait von Davids und Salomos Regentschaft entspricht
allerdings nicht den archäologischen Befunden. Danach bleibt wenig übrig
von Salomos legendärem Reichtum und prachtvollen Bauten. Der einzige
ausserbiblische Beleg von Davids Existenz ist eine Stele des aramäischen
Königs Hasael (ca 845–803 v. Chr.), in dem ein Hinweis auf das ‚Haus
David‘ zu finden ist. Aber auch wenn David und sein Nachfolger sich in
der politischen Szene einen Namen gemacht hatten, werden sie doch we-
nig mehr als Provinzfürsten gewesen sein. Der archäologischen Forschung
lässt sich entnehmen, dass das jüdische und samaritanische Hügelland dünn
besiedelt war und die materielle Kultur einen sehr bescheidenen Standard
aufwies. Wie B. Schmitz (Geschichte Israels) es beschreibt, war Jerusalem
zu der Zeit ein kleines Dorf von ca 4 ha Fläche mit geschätzten 1000 Ein-
wohnern. Auch Hinweise auf Schriftlichkeit lassen sich nicht finden und
somit ist es unwahrscheinlich, dass sich bereits ausdifferenzierte Staatsor-
gane gebildet hatten. Zwar sind in den in der Bibel genannten Orten wie
Megiddo Ruinen von Vorratshallen, Stallungen und Toranlagen gefunden
worden, doch werden diese in eine weitaus spätere Zeit als die Salomos
datiert.
Die biblischen Berichte von einem Großreich Davids und Salomos sind
nichts als Legende, bestenfalls kann man von einem weitergehenden, ein
über Juda hinausreichendes Einflussgebiet eines charismatischen Führers
wie David sprechen, und die erwähnten administrativen Provinzen könnten
eventuell die Einbindung von lokalen Eliten reflektieren. Auch aus histori-
scher Sicht ist der biblischen Darstellung von der Macht, dem Prunk und
der Glorie der Zeit der ersten israelitischen Könige zu widersprechen. Der
Besuch der Königin von Saba hat nie stattgefunden. In der Zeit wurde das
4.2. Die ersten drei Könige Israels (Saul, David und Salomo) 93
Sabatäerreich von Fürsten regiert. Es gab wohl später Könige, aber von ei-
ner Königin ist nichts bekannt (Urban, M.: Die Bibel. Eine Biographie).
Internationale Kontakte wird es kaum gegeben haben. Der Kupferhandel
wurde nicht von Salomo sondern von den Philistern kontrolliert und einen
Pferdehandel wie von der Bibel konstatiert gab es erst im späten 8. Jh v.
Chr., „jedoch ohne maßgebliche Beteiligung Palästinas“ (Zenger, E.). Das
Bild, welches die Bibel vom Königtum des Salomo entwirft, spiegelt die Si-
tuation im ausgehenden 7. Jahrhundert wieder, also mindestens 300 Jahre
später.
Offensichtlich also sind überlieferte Erzählungen im Exil unter den
Themen Gehorsam/Ungehorsam, Verheißung/Strafe zu einem zusammen-
hängenden Erzählbogen eingefasst worden. Dabei ist es verschiedentlich
zu Brüchen gekommen. So ist wohl z.B. der Widerspruch in 1 Sam. 16 und
17 zu erklären. Demnach hatte sich David bereits einen Namen im Königs-
haus des Saul gemacht, doch dann wenig später heißt es nach dem Kampf
Davids gegen Goliat, dass keiner den David kennt. Oder man nehme die
Episode des Kampfes gegen die Philister. Erst wird gesagt, dass die Israeli-
ten wegen des Eisenmonopols der Philister keine Schwerter hätten (1 Sam.
13,22), danach sind aber plötzlich alle mit Schwertern bewaffnet (1 Sam
14,20). Weitere grobe Fehler sind den Redakteuren unterlaufen. So wird
erst in 1 Sam. 17 geschildert, wie David den Goliat erschlägt, doch dann
soll es Elhanan gewesen sein (2 Sam, 21,19) oder hat dieser Lachmi, den
Bruder Goliats, erschlagen (1 Chr. 20,5)? Laut 1 Sam. 31,4 begeht Saul
Selbstmord, während es in 2 Sam. 1,10 heißt, ein Amalekiter hätte Saul
getötet. Und so geht es weiter.
Vergewissert man sich Bibeltexte wie 1 Sam. 15, in dem der von Jahwe
angeordnete Vernichtungsfeldzug gegen die Amalekiter beschrieben wird,
oder 2 Sam. 24, wonach der von Jahwe selbst befohlene Zensus den Tod
von 70 000 Israeliten nach sich zog – eine der üblichen Übertreibungen in
der Bibel wie auch die Zahl der angeblich 1.3 Millionen wehrfähigen Män-
ner oder die 100 000 Zentner Gold, die in den Bau des Tempels gesteckt
sein sollen (1 Chr. 22,14) – so steht einem wieder das Bild eines nach Rache
dürstenden, jähzornigen und blutrünstigen Gottes vor Augen. Aber war es
bei anderen Völkern besser? Was wir aus dem orientalischem Umfeld wie
z.B. Assyrien oder Kanaan (man erinnere sich an die Göttin Anat) wissen,
94 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
lassen da Zweifel aufkommen. Werfen wir daher einen Blick auf das antike
Griechenland.
Die Griechen hatten mit den Israeliten die Sehnsucht nach Freiheit und
das Streben nach Selbstbestimmung gemeinsam. Die Erringung der Frei-
heit, wie im Exodus beschrieben, ist geradezu ein konstituierendes Ele-
ment des israelitischen Nationalbewusstseins. Doch ein Teil dieser Errun-
genschaften ging verloren, als die reale Macht von den Stämmen an das
Königtum überging. In Griechenland sammelten sich die Stämme unter der
Führerschaft von Häuptlingen, die sich Könige nannten, in Stadtstaaten; ei-
ne geschlossene Nation bildete sich nicht. Die Macht dieser Könige war
von vornherein begrenzt, was sich z.B. aus dem Epos des Homer herausle-
sen lässt. So konnten die Könige in den Volksversammlungen überstimmt
werden. Infolge von Auflösungserscheinungen im Königstum trat später
die Aristokratie an die Spitze des Gemeinwesens, aus der sich wiederum
eine Clique herauslöste, welche die Alleinherrschaft an sich riss was so
zur Oligarchie führte. Die weitere Entwicklung war dann von hier über die
Tyrannis hin bis zur voll entfalteten Demokratie.
In dieser Zeit des frühen Griechenlands tat sich insbesondere Solon –
einer der sieben Weisen der Antike –, der im Jahre 594 v. Chr. als Archon
oder Führer Athens gewählt wurde, hervor. Er milderte die harschen Ge-
setzesbestimmungen des Drakon, führte weitgehende Reformen durch und
hob die Schuldknechtschaft auf. Solon blieb bescheiden. Nie hatte er be-
hauptet, dass ein Gott ihm die Gesetze eingegeben hatte. Geradezu revolu-
tionär erscheint seine Einsicht in den kausalen Beziehungskomplex, indem
er soziale Wirren nicht als göttliche Strafen versteht sondern als Folge kol-
lektiven menschlichen Fehlverhaltens. Seine Gesetzgebung führte zu einer
Art Wirtschaftswunder. Handel, Handwerk, Kunst und die Wissenschaften
blühten auf.
Die Griechen sahen die Nationen überall noch in Despotie und dump-
fen Aberglauben verfangen. Was diesen Völkern fehlte war gerade das, was
sie so überaus zu schätzen wussten, die Freiheit zu denken, sagen und zu
handeln. Sie nannten die anderen deshalb ‚barbaroi‘ was bedeutet: „Ein
Mann, der sich mit einem Glauben ohne Vernunft und einem Leben oh-
ne Freiheit zufrieden gibt“ (Durant, W.: Der ferne Osten und der Aufstieg
Griechenlands). Doch pflegten die Griechen einen Aberglauben besonderer
4.2. Die ersten drei Könige Israels (Saul, David und Salomo) 95
Doch dieses Freiheitsstreben der Griechen und ihr Hang, sich immerzu
messen zu müssen, hatte auch ihre Schattenseiten. Anstatt auch dem Ande-
ren seine Freiheit zum Emporstreben zu gönnen, herrschten eher Mißgunst,
Neid, ja Hass. Die griechischen Poleis waren im Verlauf ihrer Geschichte
in immer verbisseneren Auseinandersetzungen um Macht und Ehre verwi-
ckelt. Insbesondere Sparta und Athen rangen jahrhundertelang bis zu ihrer
völligen Ausblutung in unversöhnlicher Feindschaft um Einfluß miteinan-
der. Der Haß der Hellenen richtete sich gegen den Landsmann, Jahwe haßte
die Abgötterei; denn er ist ein eifersüchtiger Gott. So war es nur folge-
richtig, dass die Träger des fremden Glaubens, die Kanaaniten, ausgerottet
werden mussten. Der Haß der Griechen führte auch zu Mord und Totschlag,
Krieg und Verwüstung, doch verneinte er nicht kategorisch das Lebensrecht
des anderen.
Anders bei den Israeliten. Hier zielte der Haß auf die Auslöschung der
Kanaaniten da ihre bloße Existenz eine Bedrohung des wahren Glaubens
darstellte. Doch so ein Haß stellt sich nicht automatisch ein; er muss erst
geschürt werden. Die Massen lebten ja zumeist – wie aus der Bibel er-
sichtlich – in friedlicher Koexistenz mit den anderen Völkern und eigneten
sich deren Sitten, Gebräuche und religiösen Überzeugungen an. Nun ge-
lingt es führenden Kräften oftmals relativ leicht, mit ihrer Haßpropaganda
die wenig gebildeten Schichten zu überzeugen und zu mobilisieren. Auf
diese Weise wurden die Serben gegen die Bosnier, die Hutus gegen die
Tutsis und die Deutschen gegen ihre jüdischen Mitbürger aufgehetzt. Und
so geschieht es auch heute wieder, wenn islamistische Fundamentalisten
die Naivität der noch ungefestigten jungen Persönlichkeiten und ihre Ver-
führungsanfälligkeit aus Gründen ungesicherter Existenz oder sozialer Iso-
lierung für ihr mörderisches Treiben ausnutzen. Gehören dann nicht etwa
auch Jahwes Aufrufe zur Rache an den Heiden und deren Ausrottung in die
Kategorie ‚hatespeech‘?
Es steckt aber wohl mehr dahinter als blindwütiger Haß. Zumindest
die angestrebte Vernichtung der Kanaaniten erscheint wie ein wohl organi-
sierter und von langer Hand vorbereiteter Feldzug. Und vom sprachlichen
Gebrauch her und gemessen an seiner emotionalen Tiefe könnte genau-
so gut auch von der Ausmerzung von Ungeziefer auf dem Ackerfeld die
Rede sein. Das erweckt schon Assoziationen an die gefühlslose Arbeits-
durchführung von Schreibtischtätern wie Eichmann. Allerdings, während
98 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
4.3. Von der Reichsteilung bis zum Exil (1 Kön. 12–22 – 2 Kön.
und 2,10–36 Chr.)
Das Nordreich Israel
Nach Salomos Tod wollte sich sein Sohn Rehabeam als König bestätigen
lassen. Die Ältesten Israels beklagten sich bei Rehabeam über den schwe-
ren Frondienst, doch anstatt das Volk schonend zu behandeln wie ihm seine
eigenen Berater empfohlen hatten, ließ er es nur noch ärger drangsalieren.
Daraufhin fiel Israel mit seinen Nordstämmen vom Hause David ab. So re-
gierte Rehabeam nur noch über Juda.
Der ehemalige Fronvogt Salomos, Jerobeam, war von Ägypten, wohin
er sich geflüchtet hatte, zurückgekehrt und wurde von seinen Landsleuten
zum König über Israel berufen. Er richtete zwei Heiligtümer mit je einem
goldenen Kalb ein, damit das Volk nicht nach Jerusalem zum Tempel zu
pilgern hatte. Der HERR aber beschuldigte ihn der Abgötterei und stellte
seinem Haus großes Unheil in Aussicht. Nach einer langen Regierungszeit,
die von kriegerischen Auseinandersetzungen mit Juda geprägt war, verstarb
Jerobeam, doch sein Sohn fiel bereits kurz darauf einer Verschwörung zum
Opfer. Dessen Mörder Basha erschlug „das ganze Haus Jerobeam; er ließ
auch nicht einen übrig vom Hause Jerobeam, bis er ganz vertilgt hatte nach
dem Wort des HERRN . . . um der Sünden Jerobeams willen“.
Wie schon seine Vorgänger, tat auch Basha „was dem HERRN mißfiel“
und also beschloß der HERR auch Basha und sein Haus auszurotten. Basha
selbst verstarb zwar viele Jahre später eines natürlichen Todes doch wurde
4.3. Von der Reichsteilung bis zum Exil 99
sein Sohn schon kurz nach seiner Amtseinführung als König von einem sei-
ner Obersten erschlagen, und mit ihm sämtliche Verwandten des Hauses als
auch die Freunde. Dies geschah, um das Wort des HERRN zu erfüllen. Der
Oberst blieb nur ein paar Tage an der Macht, als er, von dem Feldhaupt-
mann Omri in die Enge getrieben, Selbstmord beging. Auch er starb „um
seiner Sünden willen . . . , dadurch, dass er tat, was dem HERRN mißfiel“.
Nachdem Omri sich gegen seine Widersacher durchgesetzt hatte, erbaute
er eine neue Stadt und nannte sie Samaria. Doch sehr zum Mißfallen des
HERRN war auch er den fremden Göttern zugeneigt. Als er verstarb, über-
nahm sein Sohn Ahab die Königsherrschaft.
Ahab trieb es noch ärger mit der Abgötterei als alle anderen, die vor
ihm gewesen waren. Er nahm die Heidin Isebel zur Frau und bekannte sich
zu Baal, dem er einen Tempel in Samaria einrichtete. Zudem verehrte er die
Göttin Aschera. Es erhob sich aber in Israel ein Prophet namens Elia. Der
weissagte, dass Israel von einer Dürre verheert werden würde. Auf Anraten
des HERRN verbarg Elia sich eine Weile in der Einöde im Osten wo er
morgens und abends von einem Raben mit Nahrung versorgt wurde. Im
Hause einer armen Witwe wirkte er sein erstes Wunder. Nicht nur, dass ihr
Mehl und Öl von nun an nie mehr zur Neige ging, auch rief er ihren Sohn
ins Leben zurück.
Als die Hungersnot in Israel wütete, suchte Elia König Ahab auf. Als
der ihn als einen Unheilbringer bezichtigte, entgegnete Elia, dass das Un-
glück über das Land gekommen sei, weil er sich vom HERRN abgewandt
habe. Wer war der rechte Gott? Elia wollte allein gegen achthundertfünfzig
Propheten des Baal in einer Feuerprobe beweisen, dass die wahre Macht
bei Jahwe liegt. In der Tat, die Propheten des Baal versagten aber als Elia
den HERRN anrief, „da fiel das Feuer des HERRN herab“ und vertilgte
alles auf seinem Altar. Auf Geheiß des Elia ergriff man nun die anderen
Propheten und Elia „tötete sie daselbst“.
Als Isebel von dem Geschehen hörte, schwor sie Rache und so entzog
sich Elia ihren Nachstellungen durch die Flucht. In der Wüste war ihm ster-
benselend zumute, doch ein Engel ermutigte ihn und wieder wurde er auf
wundersame Weise mit Brot und Wasser versorgt. Als er abermals verzagen
wollte, da richtete der HERR ihn durch Zeichen seiner großen Macht auf,
indem er nacheinander einen starken Wind, „der die Berge zerriß“, ein Erd-
beben und Feuer schickte, dem ein „sanftes Sausen“ folgte. Auf ein Wort
100 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
des HERRN ging er nun nach Damaskus, um dort Hasael zum König über
Aram zu salben, Jehu zum König über Israel und Elisa zu seinem Nach-
folger. Durch diese drei wird sich die Rache des HERRN vollziehen. „Und
ich will übriglassen siebentausend in Israel, alle Knie, die sich nicht ge-
beugt haben vor Baal“. Auf seinem Weg traf er Elisa beim Pflügen an. Er
warf ihm seinen Mantel über und Elisa „folgte Elia nach und diente ihm“.
Isebel war auch die treibende Kraft, die ihren Gatten Ahab in Besitz
des von ihm gewünschten Weinbergs brachte als sie angesichts der Unent-
schlosssenheit ihres Mannes den Besitzer Nabot durch bestochene Männer
wegen Gotteslästerung anklagen ließ und dieser daraufhin gesteinigt wur-
de. Elia aber klagte Ahab des Raubes und Mordes an. Dafür werden er und
seine Frau mit ihrem Leben zahlen und „wo Hunde das Blut Nabots geleckt
haben, sollen Hunde auch dein Blut lecken“. Als sich Ahab auf diese Worte
hin demütigte wurde der HERR ihm gnädig und sicherte ihm zu, dass er
dieses Unheil erst zur Zeit der Regentschaft seines Sohnes eintreffen lassen
werde.
Israel und Juda verbündeten sich für einen Feldzug gegen den König
von Aram. Während Ahabs Propheten einen großen Sieg weissagten, sah
der Prophet Micha voraus, dass sich Israel zerstreuen werde. Ja, er hätte den
HERRN zu seinem himmlischen Heer sprechen hören: „Wer will Ahab be-
tören, dass er hinaufzieht und vor Ramot in Gilead fällt?“ Ein Geist trat her-
vor, willens der Lügengeist im Munde aller Propheten zu sein, und Jahwe
sprach: „Du sollst ihn betören“. Voller Zorn ob dieser Rede ließ Ahab den
Micha in den Kerker werfen und zog in die Schlacht. Doch auf dem Kampf-
feld wurde er tödlich verwundet und das von ihm abtropfende Blut leckten
die Hunde. Neuer König in Israel wurde Ahasja.
Nach dem Tode Ahabs fielen die Moabiter von Israel ab. Ahasja, der
wie schon sein Vater den Baalen diente, starb schon bald an den Folgen
eines Unfalls. An seiner statt wurde nun Joram König. Es war um diese
Zeit, als der HERR Elia gebot, an den Jordan zu gehen; denn er wollte ihn
in den Himmel holen. Als er mit seinem Jünger Elisa an den Fluss kam,
schlug er die Wasser mit seinem Mantel, so dass sie trockenen Fusses ans
andere Ufer gelangen konnten. Sie redeten noch miteinander, da kam ein
feuriger Wagen, mit feurigen Rossen, die schieden die beiden voneinander.
„Und Elia fuhr im Wetter gen Himmel“.
4.3. Von der Reichsteilung bis zum Exil 101
Elisa erwies sich schon bald als ein wahrer Wundermacher. Wie schon
Elia vor ihm vermochte er die Wasser des Jordan zu teilen und schlechtes
Wasser in gutes zu verwandeln. Kleine Knaben, die ihn als Kahlkopf ver-
spotteten wurden daraufhin von zwei Bären zerrissen. Auch half er König
Joram einen Krieg gegen die abtrünnigen Moabiter zu gewinnen. Er legte
beim HERRN ein gutes Wort für ihn ein, allerdings hauptsächlich, weil er
dessen Bundesgenossen, den König von Juda, achtete. Der HERR täuschte
die Moabiter, so dass sie ein leichtes Opfer für die Krieger von Israel und
Juda wurden, die sie besiegten und ihr Land verwüsteten.
Elisa vollbrachte Wunder auf Wunder. So ließ er das Öl einer Witwe
mehren und rief ihren Sohn ins Leben zurück. Er vermochte, Brot zu ver-
mehren, so dass über hundert Mann gesättigt werden konnten. Er heilte
einen Feldhauptmann der Aramäer von Aussatz und ließ Eisen auf dem
Fluss schwimmen. Auf ein Wort des Elisa hin schlug der HERR das Heer
der Aramäer mit Blindheit und der Prophet selber führte die Aramäer in die
Irre.
Als die Aramäer wieder einmal Samaria belagerten, da war die Hun-
gersnot groß. In ihrer Verzweiflung aßen die Menschen sogar ihre eigenen
Kinder. Der König, dem eine Frau ihre Not klagte, zerriss seine Kleider
und wandte sich an Elisa: „Dies Übel kommt von dem HERRN“. Elisa
aber erwiderte, der HERR werde am folgenden Tage das Volk aus seiner
Bedrängnis befreien. In der Tat, er spiegelte den Aramäern das Kommen
einer großen Heeresmacht vor und sie ergriffen in ihrer Furcht die Flucht.
Im Auftrag Elisas salbte einer der Prophetenjünger den Hauptmann Je-
hu zum neuen König von Israel und ließ ihm im Namen des HERRN bestel-
len: „Du sollst das Haus Ahabs, deines Herrn schlagen, dass ich das Blut
meiner Knechte, der Propheten, und das Blut aller Knechte des HERRN
räche, das die Hand Isebels vergossen hat“. So begann eine Verschwörung
des Jehu gegen den König Joram. Jehu tötete zunächst den Joram, der ihm
im Frieden entgegenkam; gleichfalls seinen Bundesgenossen, den König
von Juda, Ahasja, der zu der Zeit in Israel weilte. Isebel wurde auf seinen
Befehl hin aus dem Fenster gestürzt und ihr Leichnam den Hunden zum
Frass überlassen.
Und das Töten ging weiter. Auf einen Brief des Jehu hin schlugen die
Oberen in Samaria den siebzig Söhnen des Ahab den Kopf ab und sie
schickten die Köpfe in einem Korb an Jehu. Daraufhin trat Jehu an das Volk
102 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
und er sprach: „So erkennt denn, dass kein Wort des HERRN auf die Erde
gefallen ist, das der HERR geredet hat gegen das Haus Ahab. Der HERR hat
getan, wie er geredet hat durch seinen Knecht Elia“. Jehu ließ nicht locker
bis er in Samaria alle aus dem Hause Ahab erschlagen hatte. Die Prophe-
ten des Baal wurden von seiner Leibwache getötet und alles zerstört, was
der Verehrung der fremden Götter diente. Nach vollbrachter Tat sprach der
HERR zu Jehu: „Weil du willig gewesen bist, zu tun, was mir gefallen hat,
und am Hause Ahab alles getan hast, was in meinem Herzen war, sollen dir
auf dem Thron Israels sitzen deine Söhne bis ins vierte Glied“. Aber auch
Jehu verfiel den Sünden seiner Vorgänger und so ermächtigte der HERR die
Aramäer, grosse Teile Israels zu besetzen. Als Jehu nach achtundzwanzig
Jahren verstarb, wurde sein Sohn Joahas König an seiner Statt.
Auch Joahas tat, „was dem HERRN missfiel“. So entbrannte der Zorn
des HERRN und er ließ Israel in die Hand des Königs von Aram geben,
erhörte dann aber das Flehen des Joahas und verschaffte dem Volk Rettung.
Doch Joahas sündigte weiter. Auch Joasch, der nach dem Tod seines Vaters
das Königtum geerbt hatte, war dem HERRN untreu.
Der Prophet Elisa derweil vermochte noch in seinem Tod weiter Wun-
der wirken. Ein von den Moabitern getöteter Mann, der in sein Grab ge-
worfen wurde, kam wieder ins Leben zurück „als er die Gebeine Elisas
berührte“.
Die Regierungszeit von Joasch gestaltete sich recht erfolgreich. Nicht
nur konnte er verloren gegangene Städte wieder zurück erobern, er ver-
mochte auch Juda zu schlagen, dessen König ihn keck herausgefordert
hatte, sich mit ihm zu messen. Er nahm Judas König Amazja gefangen,
riss die Mauer Jerusalems ein, plünderte Tempel und Königshaus und zog
dann wieder ab nach Samaria. Als er nach sechzehn Jahren Regierungszeit
verstarb, folgte ihm sein Sohn Jerobeam nach.
Auf Jerobeam folgte in kurzen Zeitabständen eine Reihe von Königen,
die fast allesamt einer Verschwörung zum Opfer fielen. Zunächst konnte
sich Israel nur durch Tributzahlung an den König von Assyrien seine Unab-
hängigkeit bewahren, doch es verlor nach und nach weite Teile seines Lan-
des an Assyrien. Mit Hoschea kam der letzte König Israels an die Macht.
Unter ihm wurde Israel zum Vasall Assyriens. Als sich Hoschea noch ein-
mal gegen dessen Vorherrschaft auflehnte und sogar versuchte, ein Bündnis
mit Ägypten zu schmieden, wurde er von Assyriens König gefangenge-
4.3. Von der Reichsteilung bis zum Exil 103
Seine Macht wuchs, und er konnte sich auf ein Heer von über einer Million
streitbarer Männer stützen. Doch dann geriet er auf Abwege. Er verschwä-
gerte sich mit Ahab, dem König Israels, und ließ sich von diesem bereden,
gegen die Aramäer zu ziehen. Der Kriegsausgang war unglücklich. Ahab
verlor sein Leben und Joschafat musste unverrichteterdinge nach Jerusalem
zurückkehren. Zudem hatte er durch seine Hilfeleistung für den gottlosen
Ahab die Gunst des HERRN verloren. Nur weil er zuvor die Götzenbilder
hatte entfernen lassen, sollte seine Strafe milder ausfallen.
Joschafat ordnete die Rechtsprechung und bestellte Richter. Priestern
fiel die Aufgabe zu, Streitfälle am Gericht des HERRN zu schlichten. Fünf-
undzwanzig Jahre später und nach Erfolgen auf dem Kampffeld starb er
und sein Sohn Joram kam auf den Thron. Der aber geriet schon bald
beim HERRN in Misskredit; denn „er erschlug alle seine Brüder mit dem
Schwert . . . Aber der HERR wollte das Haus David nicht verderben um des
Bundes willen, den er mit David geschlossen hatte“. Es kam aber schlimm
für Joram. Die Edomiter wurden abtrünnig und die Philister als auch Ara-
ber überfielen Jerusalem, plünderten sein Haus und entführten ausser einem
alle seine Söhne wie auch die Frauen. Er selbst wurde vom HERRN mit ei-
ner üblen Krankheit geschlagen woran er starb. Sein Sohn Ahasja folgte
ihm nach.
Ahasja wurde schon kurz nach seiner Thronbesteigung vom Verräter
Jehu ermordet. Daraufhin brachte seine Mutter Atalja „alle aus dem kö-
niglichen Geschlecht um“. Nur der Jüngste, Joasch, konnte dem Gemet-
zel entkommen und wurde jahrelang von einem Priester versteckt gehalten.
Schließlich fand der Priester Verbündete unter den Soldaten. Joasch wurde
in aller Öffentlichkeit gesalbt und zum König gekrönt während seine Mut-
ter von den Männern des Priesters getötet wurde. Daraufhin zerstörte das
Volk die Altäre des Baal und die Götzenbilder.
Joasch kam im zarten Alter von acht Jahren an die Macht. Solange der
Priester lebte, tat er recht vor dem HERRN und organisierte sogar Ausbes-
serungsarbeiten am Tempel. Nach dem Tode des Priesters dienten Joasch
und seine Oberen wieder den Baalen. Da ergriff der Geist Gottes den Sohn
des Priesters und er sprach die warnenden Worte Gottes, dass wenn sie den
HERRN verlassen, dann wird er auch sie verlassen. Joasch wurde von sei-
nen empörten Oberen erschlagen, als er sich mit Gaben aus Tempel und
Palast den Abzug des König von Aram erkaufte.
4.3. Von der Reichsteilung bis zum Exil 105
Sein Sohn Amazja zog gegen die Männer von Seir und erschlug viele
von ihnen. Doch brachte er die Götter von Seir mit, „betete sie an und
opferte ihnen“. So entbrannte der Zorn des HERRN gegen ihn und er fiel
einer Verschwörung zum Opfer.
Das Volk machte seinen Sohn Asarja zum neuen König. Er erfreute
sich zwar eines langen Lebens doch da er an Aussatz litt – eine Strafe des
HERRN, da er am Altar den Priestern vorbehaltene Handlungen vollzogen
hatte – übernahm sein Sohn Jotam für ihn die Regentschaft. Ihm folgte
dessen Sohn Ahas auf den Thron.
Dem Ahas war der HERR wegen seiner Abgötterei nicht wohlgeson-
nen. Juda wurde von Aram und Israel belagert und musste Gebietsverluste
hinnehmen. In seiner Not wandte sich Ahas an den assyrischen König und
erwarb mit Geschenken dessen Gunst. Der besetzte Aram und tötete den
König des Landes. Auch sonst tat Ahas vieles, um die gute Beziehung zum
König der Assyrer zu pflegen. Im Jahre 725 v. Chr. verstarb er und sein
Sohn Hiskia wurde König.
Hiskia war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Er „vertraute dem
HERRN“, „hielt seine Gebote“ und unterband alle Formen der Abgötte-
rei im Lande. Des HERRN Heiligtümer wurden gereinigt und neu geweiht,
der Opferdienst wieder aufgenommen und das Passafest erneuert. Als er
aber die Vasallenschaft zum assyrischen König aufkündigte, reagierte die-
ser augenblicklich und zog gegen Jerusalem. König Sanherib stellte ihm
seine aussichtslose Lage vor Augen, bot aber Juda seine Freundschaft an.
Er wandte sich an das Volk und rief es auf, sich nicht länger von Hiskia
betrügen zu lassen. „Das Volk aber schwieg“. Der Prophet Jesaja sprach
Hiskia Mut zu und prophezeite, dass der assyrische König sich durch die In-
tervention des HERRN zurückziehen werde. Hiskias Flehen zum HERRN
wurde erhört. „In dieser Nacht fuhr aus der Engel des HERRN und schlug
im Lager von Assyrien hundertfünfundachtzigtausend Mann’ . . . Sanherib
zog sich daraufhin zurück nach Ninive.
Nachdem Hiskia durch den HERRN von einer ernsthaften Krankheit
geheilt worden war, empfing er eine Gesandtschaft aus Babel. Da sah der
Prophet Jesaja sich veranlasst zu weissagen: „Siehe, es kommt die Zeit,
dass alles nach Babel weggeführt werden wird, was in deinem Haus ist“.
Doch zu Hiskias Zeiten blühte das Land auf. Grosser Reichtum wurde im
Könighaus angesammelt, Vorratshäuser für die Ernte gebaut und die obere
Wasserquelle nach Jerusalem umgeleitet.
106 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
Als Zedekia dem König von Babel abtrünnig wurde, da zog dieser ge-
gen Jerusalem, plünderte die Stadt aus und riss seine Mauern nieder. Zede-
kia, der geflohen war, wurde gefasst, seine Söhne vor seinen Augen getötet
und er selbst danach geblendet. Noch mehr Einwohner gerieten in Gefan-
genschaft, nur die Geringen ließ man zurück. Ein Statthalter wurde in Juda
eingesetzt, doch wurde der schon bald von Aufrührern erschlagen, die sich
daraufhin aus Furcht vor der Rache der Chaldäer nach Ägypten absetzten.
Joachin aber wurde nach langer Kerkerhaft begnadigt, und der König von
Babel ließ ihm eine bevorzugte Behandlung angedeihen. Siebzig Jahre lang
wird Juda nun wüst liegen, bis Kyrus, der König von Persien, durch den
HERRN dem Volk die Rückkehr nach Jerusalem gestatten sollte.
Kommentar
Es mehren sich nun außerbiblische Belege, die der biblischen Geschichte
eine gewisse Historizität verbürgen. So wird z.B. König Jehu auf dem sog.
‚Schwarzen Obelisk von Kalah‘ in unterwürfiger Haltung gegenüber dem
assyrischen König gezeigt. Omri und sein Sohn Ahab werden auf der 840
v. Chr. datierten Mescha-Stele genannt und die aramäische Steleninschrift
kennt Joram als König von Israel.
Wiederum werden im Alten Testament ins Phantastische aufgebläh-
te Zahlen von Toten und Kriegern genannt. Historiker schätzen die Ein-
wohnerzahl Judas im 7. Jahrhundert v. Chr. auf etwa 70 000, der Chronist
kommt auf über eine Million wehrfähiger Männer (2 Chr 17,14ff). Ähnlich
stark soll die Armee der Kuschiter gewesen sein (2 Chr 14,9).
Die Angaben über die Zahl der aus Jerusalem nach Babylon Deportier-
ten schwanken. Der Prophet Jeremia beziffert sie mit 3023 bzw. 832 (Jer
52,28f), das Buch der Könige hingegen zunächst mit 10.000 und schließt
dann das ganze übrige Volk (2 Kön. 24,14; 25,11f) ein. Schwerwiegender
sind die Diskrepanzen in der Darstellung der Beziehung zwischen König
Ahas von Juda und dem König von Assyrien. Folgt man dem Buch der Kö-
nige, so tat der assyrische König dem Ahas den Gefallen, gegen Damaskus
zu ziehen (2 Kön. 16,9). Der Chronist stellt es umgekehrt dar. Ihm zufolge
wandte sich der assyrische König gegen Ahas (2 Chr. 28,20). Das ist nicht
weniger als Geschichtsklitterung und der Chronist liefert selbst die Gründe
dafür. König Ahas hatte sich gegen Jahwe gestellt und den Göttern in Da-
maskus geopfert (2 Chr. 28,19.22f). Weil er sich so versündigt hatte, musste
108 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
Von nun an ging es bergab mit Israel. Es folgte eine politisch instabile
Phase mit Monarchen, die fast allesamt mörderischen Intrigen zum Opfer
fielen. Dann, 722 v. Chr., war es soweit. Weite Teile seines Territoriums wa-
ren bereits nach und nach in Assyrien eingegliedert worden und nun folg-
te quasi der Todesstoß und der Untergang des Nordreiches war besiegelt.
Ein großer Teil der Bevölkerung wurde deportiert und durch neue Siedler
ersetzt, die mit ihren eigenen Bräuchen kamen. So entstand eine Misch-
bevölkerung, Samaritaner, die aus Judas Sicht Fremde waren obwohl dem
Jahwekult noch weitgehend gehuldigt wurde.
Viele Israeliten flüchteten sich nach Juda und dessen Kenntnisse und
Fähigkeiten trugen wesentlich dazu bei, dass sich von nun an auch der Süd-
staat wirtschaftlich und kulturell entwickelte. Schon am Ausgang des 8.
Jahrhunderts besaß Jerusalem eine Bevölkerung von etwa 15.000 Einwoh-
nern und seine Fläche hatte sich gegenüber dem 10. Jahrhundert verzehn-
facht. Hiskias (725–697 v. Chr.) Regentschaft läutete zunächst eine Zeit all-
gemeiner Prosperität ein was sich schon anhand seiner Nachlassenschaft in
Form von Keramikwaren nachweisen lässt. Doch dann griff der assyrische
König Sanherib an. Er belagerte Jerusalem, zog aber 701 v. Chr. überra-
schend ab, was die Bibel auf die Intervention Jahwes zurückführt. Doch
der Einflußbereich des Königs war nun auf lediglich Jerusalem beschränkt
und er wurde gegenüber dem assyrischen König tributpflichtig.
Der von der Bibel arg zerrupfte Manasse betrieb den Wiederaufbau des
Landes und bescherte den Menschen viele Jahre des Friedens und Wohl-
stands, auch wenn er weiterhin Vasall der Assyrer blieb und erwartungsge-
mäß das Eindringen fremder Kulte und Götter zuließ. Jedoch nahm unter
ihm der internationale Handel an Bedeutung zu, und er konnte verloren ge-
gangene Gebiete zurückgewinnen.
Ab Mitte des 7. Jahrhunderts schwächelte das assyrische Reich was
Ägyptens Machtstellung in Palästina stärkte und dem König von Juda, Jo-
sia, Freiräume verschaffte, um seinen Einfluss zum Norden hin auszudeh-
nen. Schon träumte man wieder von einem davidischen Großreich. Kein
Wunder, dass deswegen und wegen der von ihm eingeleiteten Reformen
er für die Bibel als idealer König gilt. Unter ihm vermochte die Jahwe-
allein-Bewegung ihren entscheidenden Durchbruch erreichen. Nach der Bi-
bel gab die Auffindung des mosaiischen Gesetzbuches den Anstoß für die
Reformen, doch ist es eher plausibel, dass nach dem Untergang des Nord-
4.3. Von der Reichsteilung bis zum Exil 111
sondern auch dem des Jerobeam, Bascha und Amazja. Ahab verhielt sich
human, als er das Leben seines syrischen Gegners verschonte, doch Jahwe
war darob erzürnt: „Weil du den Mann, auf dem mein Bann lag, von dir
gelassen hast, so soll dein Leben für sein Leben einstehen“ (1 Kön. 20,42).
Der blutrünstigste aller Könige aber, Jehu, wird ausdrücklich vom HERRN
für seine mörderischen Taten gelobt, hatte der HERR diese doch selbst an-
geordnet.
Es ist dies eine unbarmherzige Logik, mit der sich die Jahwe-allein-
Bewegung in der Bibel eingeschrieben hat. Ihre Spur ist nur allzu deutlich,
so z.B. in 1 Kön. 9,6: „Werdet ihr euch aber von mir abwenden . . . und an-
deren Göttern dienen und sie anbeten, so werde ich Israel ausrotten“. In 2
Kön. 17,7–23 wird eine ähnliche Begründung für die Verwerfung Israels
noch einmal nachgeliefert. Ganz allgemein sind die Bücher ‚Könige‘ nach
dem Deutungsschema Abfall und Verwerfung strukturiert. Da hat alles sei-
ne gefühllose, grausame und kalte Folgerichtigkeit, dessen Nährboden In-
toleranz ist. Man findet nicht die Spur von Humor. Der Prophet Elisa konnte
den Spott zweier Knaben nicht ertragen und so „verfluchte er sie im Namen
des HERRN“ (2 Kön. 2,24), der daraufhin Bären auf die Kinder jagte und
sie zerfleischen ließ. Eine solche Gesinnung ist ein Charakterzug totalitär-
er Denkweise wie sie sich wieder bei den christlichen Inquisitoren finden
lässt, die Häresie mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bestrafen ließen.
Die josianische Reform findet ihren vollsten Ausdruck im Deuterono-
mium, dem ‚Gesetz Mose‘. Das Vergeltungsprinzip ist sein ideeller Über-
bau, reflektiert in der Maxime ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ als Grund-
lage der Rechtsprechung. Die Ankündigung von Segen- und Fluchworten
bildet den krönenden Abschluss. Gehorsam wird gesegnet, wer aber nicht
gehorcht, den werden „alle diese Flüche . . . verfolgen und treffen, bis du
vertilgt bist“ (Dtn. 28,45). Der jahweverfügte Befehl zur Ausrottung der
Kanaaniter ist eine Sonderform des Vergeltungsgedankens, ist es doch die
Präsenz und Verführungskraft deren Götter und Rituale, die Israel immer
wieder von Jahwe abfallen lässt, aber „ihre Trauben sind Gift“ und „ihr
Wein ist Drachengift“ (Dtn. 32,32f). Doch „die Rache ist mein, ich will
vergelten zur Zeit, da ihr Fuss gleitet; denn die Zeit ihres Unglücks ist
nahe . . . denn der HERR wird seinem Volk Recht schaffen . . . und er
wird sagen‘Wo sind ihre Götter, ihr Fels, auf den sie trauten‘“ (Dtn. 32,35–
37). Nun war diese Aufforderung zur Rache, zum Genozid eines Volkes
4.3. Von der Reichsteilung bis zum Exil 113
rationalen und objektiven Beobachtung und Analyse, die uns mehr Ver-
trauen in die Erklärung kultureller Phänomene gibt als die leidenschaftliche
Stimme des Romantikers oder die visionäre Verkündigung des Propheten,
für den die Wahrheit von vornherein gottgesetzt ist.
Die romantisch verklärte Sicht passt am ehesten noch auf das frühe
Griechenland, eine zumeist friedliche Zeit. Doch ab dem ausgehenden 6.
Jahrhundert gab es fast unablässig Kriege, zum einen geschürt durch den
Haß der Poleis aufeinander und zum anderen von außen hereingetragen
durch die Expansionspolitik der Perser. Den Griechen gelang das fast Un-
mögliche, der Sieg 490 v. Chr. zu Lande und einige Jahre später auf See
gegen eine zahlenmäßig weit überlegene persische Streitmacht. Ausnahms-
weise standen hier Athen und Sparta zusammen. Es war ein Sieg der frei-
heitlichen Griechen über eine orientalische Despotie. Hier nahm Europa
seinen Anfang. Doch mit diesen militärischen Erfolgen wurde auch der
Keim zum Konflikt zwischen Athen und Sparta um die Vormacht in Grie-
chenland gelegt. Insbesondere der Machtzuwachs verführte Athen, nach
Hegemonie im 478 v. Chr. gegründeten Attischen Seebund gegen kleine-
re Inselpoleis zu streben. So forcierte z.B. Athen den Beitritt von Melos
zum Seebund und begründete seinen Druck mit dem Recht des Stärkeren.
Nachdem der Widerstand der Melier 415/6 gebrochen war ließen die Athe-
ner alle erwachsenen Männer töten und Frauen und Kinder in die Sklaverei
führen.
Nach dem äußerst verlustreich und bis zur Erschöpfung der beiden
Kriegsparteien geführten sog. Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.)
zwischen Athen und Sparta verschlechterte sich die Situation in Griechen-
land immer weiter. Kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den grie-
chischen Poleis waren praktisch an der Tagesordnung. Neid und Mißgunst
vergiftete die Stimmung nach innen und aussen. In offener Feindschaft
und Haß fiel man übereinander her. In Mytelene (Lesbos) ermordeten die
Schuldner ihre Gläubiger, in Argos brachte man über tausend Reiche um
und konfizierte ihr Vermögen. Ab Mitte des 4. Jahrhunderts mischte sich
der makedonische König Philipp II vermehrt in die Geschicke des griechi-
schen Festlandes ein und vermochte 338 v. Chr. ein von Athen gegen ihn
geschmiedetes Bündnis entscheidend schlagen. Zwei Jahre später wurde er
ermordet und auf den Thron folgte ihm sein Sohn Alexander. Eine neue Ära
begann, die des Hellenismus.
4.3. Von der Reichsteilung bis zum Exil 115
Bis ins 5. Jahrhundert hinein hatte sich die Demokratie in Athen konti-
nuierlich entwickelt und erreichte wohl im Goldenen Zeitalter unter dem
Staatsführer Perikles (461–429) ihre Vollendung. Zum erstenmal in der
Menschheitsgeschichte wurde das Volk an der politischen Willensbildung
beteiligt. Unter Perikles reifte auch die Kunst zu Schönheit und Vollkom-
menheit. Das Parthenon in Athen ist eine meisterhafte Konstruktion, die
noch im 21. Jahrhundert Rätsel aufgibt. In ausgeklügelter Weise wurden
optische Illusion, Präzision und klassische Einfachheit zu einem Gesamt-
kunstwerk vereint. Weitere berühmte Kunstwerke waren der Artemistempel
zu Ephesos und der 20 m hoch sitzende Zeus in Olympia. Beide zählten zu
den sieben antiken Weltwundern. Malerei und Bildhauerei gingen zur Por-
trätierung über. In den Tragödien behandelten Aischylos und Sophokles den
Konflikt zwischen Religion, Sitte und staatlicher Ordnung während ein Eu-
ripides den Konflikt ins Innere des Menschen verlagerte. Medeia ist in tiefer
Seelenqual, hin und her gerissen zwischen ihrem Verlangen nach Vergel-
tung und der Liebe für ihre Kinder. Euripides macht den Menschen, nicht
mehr die Götter für Gewalttaten verantwortlich. Er wendet sich gegen die
Sklaverei und setzt sich für Frauenrechte ein.
In der Philosphie stritten sich Verfechter des Idealismus, die eine spiri-
tuelle Basis des Universums postulieren, mit denen des Materialismus, die
alle Existenz auf Materie reduzieren. Es bildeten sich Schulen der Rhetorik
aus, die sich dem Streben nach logischen und klaren Denken verschrieben
hatten. Die Sophisten, die von der Relativität allen Seins überzeugt waren
und davon, dass Moral letztlich auf gesellschaftlicher Konvention beruht,
sollten sich später einen üblen Ruf von Spitzfindigkeit und Käuflichkeit
zuziehen. Ein Sokrates machte Ethik zum Kernpunkt aller Philosophie. Er
führte ein einfaches Leben und glaubte an das inhärent Gute. Platon (428–
347) gründete die Staatslehre auf seiner Theorie der Formen nach der alles
den Sinnen Zugängliche nur ein schwaches Abbild der wirklichen Idee ist.
Nur der Philosoph kann durch zielgerichtete Wissensmehrung wahre Weis-
heit erlangen und ist daher der ideale Staatsführer.
Im 4. Jahrhundert waren die Zeichen des Niedergangs offensichtlich. In
der Literatur sank das Niveau ab. Menschen strebten nach teilweise vulgä-
rer Unterhaltung in den Komödien auch wenn ein Aristophanes durchaus
noch Witz und untergründige Kritik zu verbinden wusste. In seinem „Die
Vögel“ wurden die Götter der Lächerlichkeit preisgegeben. Indem die Vö-
116 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
Die Priester, Leviten und einige weitere ließen sich in Jerusalem nie-
der, die übrigen in anderen Städten Israels. Man richtete den Altar wieder
her, brachte die vorgeschriebenen Opfer und hielt das Laubhüttenfest. Die
Errichtung des Tempels wurde im zweiten Jahr nach ihrer Ankunft unter
priesterlicher Leitung begonnen, doch musste wegen Widerstands einiger
im Lande und nachdem auch noch der neue König Xerxes einer Klage ge-
gen sie stattgegeben hatte, der Bau abgebrochen werden. Die Arbeiten am
Tempel sollten „bis ins zweite Jahr des Darius, des Königs von Persien,“
liegenbleiben.
Es war dann zur Zeit des Serubabbel und Jeschua, dass man, gestärkt
durch die Propheten, anfing, den Bau fortzusetzen. Einwände des hiesigen
Statthalters wurden diesmal abgewiesen, nachdem König Darius selbst an-
hand einer Schriftrolle vom ursprünglichen Auftrag des König Kyrus hat-
te Einsicht nehmen können. Darius unterstützte nun selber die Arbeit am
Tempel, die vier Jahre später beendet werden konnten. Ein Einweihungsfest
wurde begangen, das Passafest von den Exilanten gefeiert und die Leviten
für den Dienst im Tempel eingewiesen.
Im siebenten Jahr des König Artaxerxes zog Esra mit anderen Israeliten
von Babel herauf. Esra, ein Schriftgelehrter und in der Nachfolge von Ah-
nen wie Aaron und Zadok, war von Artaxerxes beauftragt worden, „nach-
zuforschen, wie es in Juda und Jerusalem steht“. Weiterhin sollte er nach
eigenem Ermessen, handelnd in der Weisheit Gottes, Richter und Rechts-
pfleger einsetzen, die über die Einhaltung der Gesetze Gottes und des Kö-
nigs zu wachen und zu urteilen haben. Für seinen Bedarf wurde er mit Gold
und Silber aus der Schatzkammer des Königs versorgt.
Als Esra nun zusammen mit Sippenhäuptern aus Israel in Jerusalem an-
gekommen war, wurde er von Oberen aufgesucht, die sprachen: „Das Volk
Israel und die Priester und die Leviten haben sich nicht abgesondert von den
Völkern des Landes mit ihren Greueln“. Esra war tief bestürzt „wegen des
Treuebruchs derer, die aus der Gefangenschaft gekommen waren“. Er brei-
tete seine innere Not vor Gott aus, aber einige Gefolgsleute sprachen ihm
Mut zu und meinten, dass trotz dieses Treuebruchs weiterhin Hoffnung be-
stünde, wenn man nur die fremden Frauen aus ihrer Mitte entfernen würde.
Und Esra nahm von ganz Israel den Eid ab, „dass sie nach diesem Wort tun
sollten“. Auch wenn nicht alle diesen Beschluss befürworteten, entschied
man doch, die fremden Frauen und ihre Kinder zu entlassen.
4.4. Vom Exil bis zur Zeitenwende (Esra, Nehemia, 1 2 Makkabäer) 119
Nehemia
Nehemia war der Mundschenk des persischen Königs. Im zwanzigsten Jahr
des König Artaxerxes besuchten ihn Männer aus Juda, die ihm Bericht über
die Situation in Jerusalem gaben. Immer noch lag die Stadt in Trümmern.
Im Gebet an den HERRN bekannte er die Schuld des Volkes, für die es im
Exil zu büßen hatte, erinnerte aber auch an das Versprechen des HERRN,
im Falle ihrer Reue sich ihnen gnädig zu erweisen. Der König, dem die
Traurigkeit des Nehemia aufgefallen war, bewilligte ihm seinen Wunsch,
sich dem Aufbau der Stadtmauer zu widmen. In Jerusalem ging er dann
auch gleich zu Werke, ließ einen Teil der Arbeiter aber Waffen tragen und
andere Wache stehen; denn Widersacher planten, sein Werk zu sabotieren.
Einige im Volk erhoben Klage über die Ungerechtigkeit, die sie von
ihren eigenen Brüdern erlitten hatten, waren doch etliche gezwungen, aus
schierer Not ihre Söhne, Töchter und Häuser zu verpfänden. Nehemia re-
dete den Oberen ins Gewissen und diese versprachen, das Eigentum den
Leuten zurückzugeben und ihre Schuld zu erlassen. Nehemia selbst hatte
auf seinen Anspruch auf Zahlung für seinen Dienst als Statthalter verzich-
tet und sogar viele Leute aus seinem eigenen Vermögen täglich beköstigen
lassen.
Er ließ sich auch von weiteren Anschuldigungen und Gerüchten nicht
beeindrucken und vermochte den Bau der Mauer in zweiundfünfzig Tagen
fertigstellen. Dieser Tag wurde festlich begangen, mit Speis und Trank und
einer Lesung aus dem Gesetz Mose durch Esra, den Schriftgelehrten.
„Am vierundzwanzigsten Tag dieses Monats kamen die Israeliten zu
einem Fasten zusammen, in Säcke gehüllt und mit Erde auf ihren Häup-
tern.“ Sie bekannten ihre Sünden und hörten eine Lesung aus dem Gesetz
Mose. Die Leviten priesen Gott und erinnerten an Israels Erlösung aus der
Sklaverei in Ägypten und wie Gott ihnen ein Leben in Fülle geschenkt hat-
te. Doch Israels wiederholter Ungehorsam führte schließlich dazu, dass es
„in die Hand der Völker“ gegeben wurde bis der HERR in seiner großen
Barmherzigkeit sein Flehen wieder erhört hatte. Und nun sollten sie sich
eidlich verpflichten, „alle Gebote, Rechte und Satzungen des HERRN . . .
zu halten und zu tun“. Vor allem sollten sie den Sabbat ehren, sich nicht mit
fremden Völkern mischen und auf Schuldforderungen in jedem siebenten
Jahr verzichten.
120 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
Der Tempel war entheiligt worden und nun dem Zeus Olympios gewid-
met. Prostitution war gang und gäbe. Der greise Eleasar wählte lieber den
Freitod als sich den fremden Sitten zu unterwerfen. Sieben Brüder und ihre
Mutter wurden unter entsetzlichen Qualen hingerichtet, da sie sich weiger-
ten, Schweinefleisch zu essen. Sie gingen in den Tod, im Glauben, dass
der HERR sie „wieder erwecken (wird) in der Auferstehung zum ewigen
Leben“.
Diejenigen, die sich in die Wüste geflüchtet hatten, wurden verfolgt und
aufgespürt. Auch das Versprechen, dass sie ihr Leben retten könnten, wenn
sie sich nur des Königs Gesetzen beugen würden, änderte nicht ihre Ein-
stellung. Es war aber ein Sabbat und so wehrten sie sich nicht. Sie alle samt
Frauen und Kindern wurden von ihren Feinden niedergemacht. Mattatias
und seine Freunde aber beschlossen, auch am Sabbat zu kämpfen. Sie sam-
melten ein Heer und erschlugen viele derjenigen, die abtrünnig geworden
waren. Die Führung über die Aufständischen übernahm nun der Sohn des
bereits betagten Mattatias, Judas.
Judas gewann großes Ansehen im Volk; denn er konnte viele Schlach-
ten gegen das Heer des Königs gewinnen. Auch konnte er Galiläa und das
Ostjordanland befreien und sich gegen die Idumäer, Ammoniter und Phi-
lister in mehreren Kämpfen durchsetzen. Er tötete viele Feinde, zerstörte,
plünderte und brannte ihre Städte nieder.
Antiochus IV Epiphanes erlitt auch in Persien eine demütigende Nie-
derlage und verstarb kurz darauf an einer schrecklichen Krankheit. Sein
Nachfolger stellte ein riesiges Heer, verstärkt mit Söldnern und Kriegsele-
fanten, zusammen und zog nach Juda. Vor dieser Übermacht mussten Judas
Männer zunächst weichen, doch das königliche Heer war gezwungen, ohne
dass es sich hatte entscheidend durchsetzen können, sich schon bald wie-
der zurückzuziehen, da die Regierung anderswo im Lande bedroht war. Der
König zog es daher vor, mit den Juden Frieden zu schließen und ihnen Re-
ligionsfreiheit zu gewähren.
Als ein anderer König auf den Thron der Hellenen folgte, setzte neuer-
liche Bedrückung der Juden ein. Noch einmal konnten sich Judas und seine
Streiter gegen das königliche Heer durchsetzen. Ferner schloss er mit den
Römern ein Bündnis. Doch dann ereilte ihn selbst das Schicksal. Er und
seine Männer unterlagen schließlich einer feindlichen Übermacht. Judas
wurde getötet und sein Bruder Jonatan als neuer Anführer gewählt. Jonatan
122 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
verlustreichen Krieg während dessen weite Teile des Landes verheert wur-
den, konnte er schließlich den Feind in die Flucht schlagen.
Im Jahre 135 v. Chr. wurde Simon von seinem eigenen Schwiegersohn
dahin gemeuchelt und mit ihm auch zwei seiner Söhne. Der überlebende
Sohn, Johannes, konnte dem Mordanschlag gegen ihn entkommen und den
Attentäter zur Rechenschaft ziehen. Er selbst übernahm nun das Amt des
Hohenpriesters.
Kommentar
Esra und Nehemia (Aufbau von Tempel und Stadtmauer in Jerusalem)
Es wird angenommen, dass die Bücher Esra und Nehemia im 4. Jahrhundert
v. Chr. von dem Chronisten, der Zugriff auf königliche Dokumente, Listen
und persönliche Eintragungen des Nehemia hatte, geschrieben worden wa-
ren. Allerdings ist dem Schreiber dabei einiges durcheinander geraten. So
ist z.B. die innere Chronologie konfus. Esra 4,6–23 gehört zu Nehemia 6
und Nehemia 8–9 gehört zu Esra. Außerdem ist die Abfolge von Artaxerxes
(Esra 4,7) und Darius (6,1) historisch inkorrekt. Wegen dieser und anderer
Schwierigkeiten ordnet die historische Forschung die beiden Bücher anders
ein. Gegenwärtig favorisiert man das Jahr 445 v. Chr. für Nehemias Ein-
treffen und das Jahr 398 v. Chr. für Esras Kommen, d.h. Nehemia traf vor
Esra ein, der eine während der Regierungszeit von Artaxerxes I, der andere
während der von Artaxerxes II.
Stark bezweifelt wird auch, ob das Kyrus-Edikt authentisch ist. In der
Tat erließ Kyrus II nach seinem Sieg über die Babylonier ein Edikt, welches
die Rückkehr von deportierten Völkern anordnete, doch auf Juda lässt sich
dieses nicht beziehen. Ferner unterscheiden sich die beiden Fassungen des
Ediktes in Esra 1,2–4 und 6,3–5 so sehr, als dass man von dem gleichen
Dokument sprechen könnte.
Die Deportierten wurden ab 597 v. Chr. gruppenweise in Babylon ange-
siedelt, was somit ihr Gemeinschaftsgefühl bewahren half. Sie durften ihren
Glauben praktizieren und einer Tätigkeit nachgehen. Einige waren mit der
Zeit zu Wohlstand gekommen und zeigten daher kein Interesse mehr an
einer Rückkehr nach Juda.
124 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
Ob sich die Gelegenheit zur Rückkehr bereits 539 v. Chr. ergab, als den
Persern kampflos Babylonien in die Hände fiel, ist historisch unsicher. Zwar
wird in Esra 1 Kyrus als derjenige hochgejubelt, der im Auftrage Jahwes die
Rückführung der Exulanten und den Bau des Tempels in Jerusalem anord-
nete, doch in Wirklichkeit fanden gar keine Bauarbeiten statt (Esra 4,24). Es
hat wohl erst unter Darius I, der sich tolerant zeigte und lokale Bräuche und
Kulte förderte, signifikante Rückkehrbewegungen gegeben. Dafür spricht
auch, dass in 2 Chr. 36,21 die Länge des Exils mit 70 Jahren angegeben
wird und 597/587–70 würde die Jahre 527/517 bedeuten. Der Tempelbau
wurde sodann im Jahre 522 v. Chr. in Angriff genommen und 515 v. Chr.
beendet. Der Prophet Haggai, der die Arbeiten propagandistisch unterstützt
hatte, fand jedoch den fertiggestellten Tempel enttäuschend (Hag 2,3).
Es bestanden erhebliche Spannungen zwischen den Judäern und den
Samaritanern, eine Mischbevölkerung aus Israeliten und anderen Volks-
gruppen. Letztere suchten Tempel- und Mauerbau zu behindern, wohl auch
weil sie eine Schmälerung ihres politischen Einflusses befürchteten. Die
Feindschaft vertiefte sich und um 300 v. Chr. kam es zum endgültigen
Bruch woraufhin die Samaritaner ihr eigenes Heiligtum auf dem Berg Ge-
razim bauten, das während der Regentschaft der Makkabäer zerstört wur-
de. Auch noch zu Jesu Zeiten war die Animosität zwischen diesen beiden
Volksgemeinschaften sehr stark.
Ein anderes Problem erwuchs aus dem Verhältnis zwischen den Zu-
rückgebliebenen und den Rückkehrern. Man war sich in der langen Zeit
der Trennung einander fremd geworden. Die einen, praktisch führerlos, da
die Oberen ins Exil verschleppt worden waren, hatten eine zumeist küm-
merliche Existenz gefristet. Den anderen war es nicht unbedingt schlecht
in Babylon ergangen und nun forderten sie auch noch ihre früheren Häu-
ser von den jetzigen Besitzern zurück. Somit herrschte eine Mischung von
Argwohn und Neugier.
Die im Lande Verbliebenen hatten ihre vertrauten Traditionen und
Bräuche fortgesetzt was auch die Anbetung fremder Götter einschloss. Die
Exulanten dagegen hatten in der Diaspora eine radikale Erneuerung ih-
rer Theologie erarbeitet und zudem soziale Identitätsmarker wie Beschnei-
dung, Sabbat- und Speisegebote eingeführt. Sie konnten ihre Neuerungen
nur mit Mühe durchsetzen und auch nach dem Bau des Tempels kam es im-
4.4. Vom Exil bis zur Zeitenwende (Esra, Nehemia, 1 2 Makkabäer) 125
mer wieder zu Rückfällen, die Nehemia und Esra nötigten, in Judäa nach
dem Rechten zu sehen.
Nehemia war ab 445 v. Chr. 12 Jahre lang der erste Statthalter der
persischen Provinz Juda/Jehud. Er beaufsichtigte den Wiederaufbau der
Stadtmauer und führte eine Art Sozialfürsorge ein, um der Verelendung
der Massen entgegenzuwirken. Die Reformmaßnahmen des Esra, des ers-
ten Schriftgelehrten Israels, zielten auf die Rückgewinnung der Kontrolle
über den Tempel und die Durchsetzung der Gottesordnung.
Der Provinz Jehuda war weitgehende Autonomie gewährt worden. Die
Macht in der Region war auf drei Institutionen verteilt: Statthalter, Ältesten-
rat und Priesterschaft. Der Tempel, der auch als Schatzkammer fungierte,
wurde zum sozio-politischen und religiösen Mittelpunkt des Lebens und
das mosaiische Gesetz das zentrale Regelungswerk der gesellschaftlichen
Existenz. Israel wurde somit eine Glaubensgemeinschaft.
Priester erlangten umfassende Autorität. Der Hohenpriester, ausgestat-
tet mit religiösen und weltlichen Aufgaben, leitete auch den Ältestenrat
(Sanhedrin), genannt das ‚Hohe Haus‘. Mit der Tora als Fundament der
Gemeinschaft war es erforderlich geworden, Kundige in diesem Gesetz, al-
so Schriftgelehrte, zu bestellen. Diese lehrten in der aus der Diaspora in
Juda eingeführten Synagogen.
Die Diaspora war wohl die fruchtbarste Phase in der Entwicklung der
israelitischen Theologie gewesen und bereitete die Geburtsstunde des Ju-
dentums vor, wobei Nehemia und Esra als ihre Geburtshelfer bezeichnet
werden können. Wenn im Buch Nehemia die Mitglieder des Volkes als
‚Brüder‘ (Neh 5,1) bezeichnet werden, dann soll dies eine Exklusivität aus-
drücken, die durch eine gemeinsame Sprache, Gesetz, Geschichte und kul-
turelle Praxis vergewissert wird.
In der Diaspora hatte man das Schicksal des Volkes und die Ursachen
für den Untergang des Staates neu durchdacht. Die meisten waren der Auf-
fassung, dass Jahwe das Volk wegen seiner Abgötterei gestraft hatte. Es
gab jedoch auch andere Stimmen, die meinten, dass gerade die Abwen-
dung von den alten Göttern deren Zorn hervorgerufen hatte (Jer. 44,17).
Auf jeden Fall war es ein langer Lernprozess gewesen wobei verschiede-
ne Fraktionen um die Deutungshoheit rangen. Die Reformpartei konnte auf
die Propheten als ihre Verbündeten zählen und ihre Argumente konnten
sich schließlich durchsetzen. In dieser Zeit erst brach sich die revolutionäre
126 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
Vorstellung Bahn, dass es gar keine anderen Götter gibt, sondern nur Jahwe
allein (Jes. 44,6; 45,5). Aus der Einsicht, dass Gott der alleinige Herr des
Kosmos ist, folgt daher, dass die Götter anderer Völker nur Götzen ohne
jegliche Realität sein können (Jes. 45,6–8; 41,29). Israel aber wurde vom
HERRN erwählt nicht zu herrschen, sondern zu dienen. Es soll im Auftra-
ge Jahwes bezeugen, dass der HERR der einzige, wahre, erlösende Gott ist
(Jes. 43,9).
Im Lichte dieser Erkenntnis wird nun in einem längeren Zeitraum
„schöpferischer Glaubensbesinnung“ (Mahnke) das vorliegende Material
über Israels religiöse und weltliche Geschichte unter Leitgedanken wie
Schuld und Sühne, Untreue Israels und Treue Jahwes, Segen und Fluch
usw. neu gedeutet und überarbeitet und es ist in dieser Phase, in der die
jüdische Bibel wie wir sie kennen Gestalt annahm.
Esra, setzte das ‚Gesetz Mose‘, gleichsam die Gründungsurkunde Is-
raels, mit der Kompromißlosigkeit eines bigotten Schriftgelehrten durch,
indem er zum Beispiel die Scheidung von Mischehen befahl, etwas, worauf
Nehemia selbst nicht insistiert hatte. Diese Verordnung steht im Zusam-
menhang mit der Absonderungspolitik, die aus Gründen der Identitätswah-
rung rigoros betrieben wurde. Aus der Perspektive eines kleinen Volkes wie
Israel, immer bedroht von Großmächten, ist die Notwendigkeit einer Ab-
grenzung durchaus verständlich. Doch das Verstoßen von Frauen und Kin-
dern erscheint als die unbarmherzige Tat eines religiösen Eiferers. Bedenk-
lich ist auch, dass eine derartige Ausgrenzung später als Vorbild für andere
Völker diente wie das der Buren in Südafrika mit ihrer Apartheidspolitik.
Hinter dieser Politik steckte allerdings nicht nur der Wunsch, seine eigene
Kultur zu fördern und zu pflegen, sondern sie wurde überlagert von Ras-
sedünkel und der Abwertung von Menschen anderer Hautfarbe. Auch der
Erwählungsgedanke war von den Apartheidsideologen mißbraucht worden;
denn Israel war zum Dienen bestimmt (Jes. 41,8–9). Das erforderte Demut,
nicht hochmütige Anmaßung, die als Möglichkeit jedoch immer schon in
der Idee der Erwählung bestand; denn Hochmut entspringt dem Gefühl,
etwas Besonderes zu sein.
1 2 Makkabaeer: Kampf um die Freiheit
Die beiden Makkabäer Bücher sind von der katholischen Kirche erst 1546
auf dem Trienter Konzil als kanonisch erklärt worden, während Martin Lu-
ther sie lediglich als Anhang benutzte. Sie reflektieren eine unverhohlene
4.4. Vom Exil bis zur Zeitenwende (Esra, Nehemia, 1 2 Makkabäer) 127
der hellenistische Kulturdruck nahm zu als Antiochus III etwa 200 v. Chr.
die Vorherrschaft über Syrien-Palästina gewann. In der Folge brachen im
Judentum mehr oder weniger offene Gegensätze aus. Der pro-ägyptischen
Partei stand eine pro-seleukidische Partei gegenüber und liberale Kreise
befanden sich im Konflikt mit religiös-konservativen. Das Amt des Ho-
henpriesters war nun käuflich vom Seleukidenkönig zu erwerben; denn der
brauchte Geld. Die finanziellen Nöte des Antiochus hatten sich nach meh-
reren verlorenen Schlachten, die auch Gebietsverluste nach sich zogen, ver-
tieft.
Das Hohenpriesteramt wurde nun in einen Strudel von Bestechlichkeit
und Verleumdung hineingezogen. Der dem konservativen Onias nachfol-
gende korrupte Hohenpriester Jason trieb, unterstützt von der wirtschaftli-
chen Elite, die Hellenisierung voran. Ein großer Teil der Jerusalemer Pries-
terschaft zeigte sich dem Hellenismus gegenüber aufgeschlossen und ins-
besondere die sadduzäischen Priester gaben sich griechischer Lebensweise
hin. Die Priester auf dem Lande hingegen hielten an ihren überlieferten
Traditionen fest und sonderten sich zunehmend ab; viele von ihnen zogen
sich in die Wüste zurück. Zu der kulturellen Spaltung kam die soziale. Dem
Reichtum der wenigen stand die Armut und Schuldknechtschaft der vielen
gegenüber. „Palästina wurde Exportland für den großen Sklavenbedarf in
der hellenistischen Welt“ (Halbfas, Hubertus.: Die Bibel).
Die Spannungen verschärften sich und führten zu gelegentlichen Unru-
hen. Nach einem gescheiterten Putschversuch des früheren Hohenpriesters
Jason herrschten in Jerusalem bürgerkriegsähnliche Zustände. Dies nahm
der seleukidische König Antiochus IV Epiphanes zum Vorwand, in Jeru-
salem einzumarschieren, die Bevölkerung zu massakrieren und den Tem-
pel zu plündern. Im Jahr darauf erließ der König ein Religionsedikt, wel-
ches den Juden die Befolgung ihrer Traditionen (z.B. Beschneidung, Sab-
bat, Reinheit- und Speisegebote) unter Todesstrafe untersagte. Damit sollte
der vollständigen Hellenisierung Judäas der Weg geebnet werden. Jerusa-
lem wurde besetzt, die Stadtmauer geschleift und eine Zwingsburg (Akra)
mit hellenistischer Besatzung gebaut.
Als dann auch noch der König das Allerheiligste des Tempels entweih-
te, war das Fass voll und der makkabäische Aufstand (168 v. Chr.) begann.
Er wurde von der Priesterbewegung der Hasidäer (die Frommen), von der
sich später die Pharisäer und Essener abspalten sollten, unterstützt. Judas
130 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
Als auch Salome verstirbt, versinkt die Dynastie in Mord und Terror.
Der römische Prokonsul Pompejus schreitet ein, löst das Königtum auf und
macht Judäa im Jahre 63 v. Chr. zu einer römischen Provinz. In den Fol-
gejahren kommt es zu weiteren Unruhen und Aufständen, an denen auch
die Söhne des letzten Hasmonäerkönigs beteiligt sind. Der Haß gegen die
römischen Besatzer wächst und so auch die Hoffnung auf den kommenden
Messias. Nun steigt aus dem von den Hasmonäern gewaltsam judaisierten
Volk der Idumäer ein gewisser Antipater in der Gunst der Römer auf. Für
seine Loyalität im Kampf gegen die Aufständischen wird er mit dem Rang
des Prokurators belohnt während sein Sohn Herodes zum Strategen von
Galiläa ernannt wird. Im Jahre 37 v. Chr. wird Herodes vom römischen Se-
nat der Königstitel verliehen. Herodes, genannt der Große, (37–4 v. Chr.),
betreibt die Hellenisierung des Landes insbesondere durch Bauten wie Am-
phitheater, Gymnasion und Hippodrom voran. Zu seinen beeindruckends-
ten Hinterlassenschaften gehört der Jerusalemer Tempel, den er erneuern
und vergrößern ließ. Herodes wird als Halbjude im Lande nicht wirklich
akzeptiert obwohl er sich als gläubiger Jude zeigt und die jüdischen Tra-
ditionen befolgt. Er gilt gleichzeitig als fähiger Politiker und als brutaler
Despot, der mehrere Familienmorde zu verantworten hat. Als Herodes 4 v.
Chr. stirbt, wird seine Macht, die doch von Rom abhängt, auf seine vier
Söhne aufgeteilt.
Eine neue Zeit bricht an. Ein Kind namens Jesus wird geboren. Zu die-
ser Zeit haben sich bereits drei verschiedene religiöse Parteiungen gebildet.
Die Essener zogen sich in die Wüste zurück, wo sie eine Gemeinschaft na-
mens Qumran gründeten. Die Pharisäer zeichneten sich durch eine strikte
und gesetzestreue Lebensführung aus. Ihre religiösen Gegner, die Saddu-
zäer, waren liberal, dem Hellenismus zugeneigt und lehnten den Glauben
an die Auferstehung ab.
Das 2. Makkabäerbuch ist ein frühes Zeugnis des Auferstehungsglau-
bens. Der Glaube an eine Auferstehung der Toten ist eng mit einer apo-
kalyptischen Vision verbunden, d.h. die Gläubigen erwarten eine von Gott
herbeigeführte Zerstörung der Welt nach der von Ihm ein ewiges Heil von
Frieden und Glück geschaffen wird. Gerade das Buch des Propheten Da-
niel, dessen Entstehung in diesen Zeitraum fällt, bezieht sich erkennbar auf
die Ereignisse im Jahre 168/7 v. Chr. In dem Buch werden die Vorstellungen
einer kommenden katastrophalen Zeit „großer Trübsal“ am Ende der Tage,
132 4. Von der Eroberung Kanaans bis zur Zeitenwende
Wenn wir die Evangelien oder die Briefe des Neuen Testaments lesen, dann
sollten wir uns klar machen, dass deren Autoren Kinder ihrer Zeit gewesen
waren. Somit erschließt sich ein Verständnis der Schrift auch erst, wenn
man Kenntnis von der damaligen Umwelt nimmt, d.h. von der Politik, Kul-
tur und Sozialstruktur als auch der Gedankenwelt der Menschen in dieser
Zeit. Ein summarischer Überblick über die gesellschaftliche Dynamik des
ersten Jahrhunderts soll im folgenden Kapitel gegeben werden.
gegenüber den Fehlern anderer übt, verbunden mit einer Überzeugung des
Lebens nach dem Tode, beeindruckte auch Christen und Kirchenlehrer Au-
gustin urteilte über ihn: „Was könnte ein Christ noch sagen, was dieser
schon gesagt hätte“.
Besonders aber in der späten Stoa, mit der Lehre des Epiktet (50 – 138
n. Chr.) kommen sich griechisch-römische Philosophie und Christentum
sehr nahe. Epiktet, ein ehemaliger Sklave, schöpfte aus dem Gedankengut
Platons und Sokrates und sah in dem Kyniker Diogenes von Sinope ein
praktisches Vorbild für das Ideal eines einfachen Lebens. Wenn er auch
nicht an ein individuelles Weiterleben nach dem Tode glaubte, so nahm
er die Existenz einer unsterblichen Seele an, in dem sich ein Funke der
göttlichen Existenz manifestiert. Schon aufgrund dieses göttlichen Kerns
in jedem von uns ergibt sich seiner Meinung nach die Verpflichtung zur
Nächsten- und Feindesliebe. Epiktet glaubte an das schöpferische und ver-
nunftgemäße lenkende Wesen Gottes, den er zuweilen mit Zeus gleichsetz-
te. Die nur dem Menschen eigene Vernunft ermöglicht ihm innere Freiheit
und moralische Autonomie, die ihn verpflichtet, ein Leben in Selbstverant-
wortung zu führen. Die Anklänge an die Ethik Jesu sind so offensichtlich,
dass so mancher in Epiktet eine Art verborgenen Christen vermutet hat.
Wie schon Literatur und Philosophie so stand auch die römische Kunst
unter starkem griechischem Einfluss und hatte wenig Eigenständiges her-
vorgebracht. Aber in der Baukunst, in der Konstruktion seiner Thermen,
Aquädukte, Brücken und Theater schufen die Römer Hervorragendes. Das
Kolosseum (fertiggestellt 80 n. Chr.) umfasste 50 000 Sitzplätze und der
Circus Maximus bot sogar 180 000 Zuschauern Platz. Einzigartig ist auch
das gepflasterte römische Straßennetz, welches eine Gesamtlänge von 100
000 Km aufwies. Während die Römer in den Naturwissenschaften wenig
Fortschritte machten, leisteten sie Vorbildliches in der Gesundheitspflege.
Die römische Ärzteschaft wies bereits einen hohen Grad der Spezialisie-
rung in Gynäkologen, Zahnärzte, Ophthalmologen, Urologen usw. auf und
sie verfügte über eine breite Palette von chirurgischen Instrumenten.
Der größte Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche war Weideland und
in der Hand von Großgrundbesitzern. Es wurde zumeist von Sklaven zur
Aufzucht von Rindern, Schweinen und Schafen bewirtschaftet. Der Stan-
dard der Technisierung in größeren Fabriken der Töpfer- und Metallindus-
trie sollte in Europa erst wieder nach Einsetzung der Industrialisierung im
140 5. Jesu Zeit im historischen Kontext
le mit ihrer diakonischen Praxis und ihrem sittlich ernstem Auftreten. Sie
konkurrierten insbesondere mit Anhängern des Mithraskultes und konnten
sich nach anfänglichen Rückschlägen durchsetzen. Als die Kirche gesiegt
hatte, erklärte sie den Geburtstag des Mithras, den 25. Dezember, als den
Geburtstag ihres Herrn und Erlösers Jesus Christus. Das erste Weihnachts-
fest wurde im Jahre 360 n. Chr. gefeiert.
Einer von ihnen war Pontius Pilatus (26 – 36 n. Chr.). Als Präfekt hatte
Pilatus die oberste Gerichtsgewalt bei Kapitalverbrechen und die Befugnis,
den Hohenpriester zu ernennen und zu erlassen. Pontius Pilatus, dem man
Judenhass nachsagte, galt als grausam und habgierig. Er provozierte die Ju-
den, indem er in Jerusalem Feldzeichen mit dem Kaiserbildnis aufstellen
ließ. Er entwendete Geld aus dem Tempelschatz um eine Wasserleitung zu
bauen und die aufgebrachte Menge wurde auf seinem Befehl hin niederge-
knüppelt. Etwa 30 n. Chr. ließ er, wohl auf Drängen der jüdischen Autori-
täten, Jesus, den man den Christus nannte, hinrichten. Als sich sechs Jahre
später in Samaria eine von einem Propheten angefachte Aufregung immer
weiter steigerte, griff Pilatus brutal ein und richtete ein Blutbad unter der
Menge an. Er wurde schließlich von Rom abgesetzt.
In der Zeit nach Jesu Kreuzigung war die Stimmungslage im Lande äu-
ßerst gespannt. Überall erhoben sich nationalistische und messianische Be-
wegungen, wobei der Unterschied zwischen ihnen oft nicht auszumachen
war. Der Hass auf die Römer hatte sich mit der Zeit immer mehr gesteigert
und das nicht nur wegen der drückenden Steuerlast. Für die Juden waren
die Römer gottlose Heiden, denen man sexuelle Perversion und allgemei-
ne sittliche Unmoral nachsagte. Ihrer Überzeugung nach machte jeglicher
Kontakt mit ihnen sie unrein. Gerade aber diejenigen, die ihren Glauben
am fanatischsten vertraten und das Gesetz am strengsten auslegten, fanden
sich auch Seite an Seite mit den nationalistischen Rebellen. So hatte sich
am äußersten Flügel der Pharisäer die Gruppe der Zeloten gebildet, von de-
nen sich eine noch extremere, terroristische Vereinigung, die der Sikarier
(Dolchmänner), abspaltete. Diese mischten sich unter die Menschen und
erdolchten diejenigen, die sie für Verräter hielten.
Caligula hatte bereits Öl ins Feuer der nationalistisch-religiösen Bewe-
gung gegossen als er 41 n. Chr. anordnete, eine Statue mit seinem Bildnis
im Jerusalemer Tempel aufzustellen. Das Land war in Aufruhr und auch
wenn sein Befehl nicht mehr zur Ausführung kam, da er einem Mordan-
schlag zum Opfer fiel, war die Erregung in der Bevölkerung nicht mehr
zu zügeln. Es reihte sich in den nächsten Jahren Aufstand an Aufstand.
Routinemäßig erschien ein neuer Messias und routinemäßig wurde dieser
hingerichtet, zumeist ans Kreuz geschlagen. Ein Prophet hatte seinen An-
hängern erklärt, dass er wie Elia den Jordan teilen werde. Ein anderer woll-
te nach dem biblischem Vorbild von Jericho Jerusalems Mauern zu Fall
144 5. Jesu Zeit im historischen Kontext
Ein Galiläer, der mit seinen Anhängern die Festung Antonia in Jerusalem
erobert hatte, erklärte sich selbst zum König, wurde aber kurz darauf von
Zeloten getötet. Ein Prophet namens Jesus, den der Prokurator für verrückt
erklärt und freigelassen hatte, stieß unablässig Tag und Nacht Weherufe
über die Stadt aus. Viele griechische Städte wurden geplündert und nie-
dergebrannt während in anderen die Griechen über die Juden herfielen. Es
war eine Stimmung wie im Tollhaus, in die sich die düstere Ahnung ei-
nes heraufziehenden Weltuntergangs mischte. Auch der syrische Statthalter
konnte nicht mehr Herr der Lage werden. Seine Truppen wurden in einen
Hinterhalt gelockt, Tausende römischer Soldaten abgeschlachtet während
die jüdischen Widerständler sich deren Waffen bemächtigte. Rom war nun
herausgefordert und Rom reagierte.
Rom konnte allein schon deshalb nicht tatenlos bleiben weil eine Ver-
treibung aus Palästina den Zusammenbruch des gesamten östlichen Teils
des Reiches, der durch die Parther bedroht war, zur Folge haben konnte. Ne-
ro ernannte Vespasian zum Oberbefehlshaber des Militärs und dieser setzte
im Jahre 66/67 nach Syrien über und bereitete sich dort auf den Krieg vor.
In Jerusalem liefen zur gleichen Zeit die Vorbereitungen für den erwar-
teten Abwehrkampf. Josephus, der spätere Historiker und Priester aus vor-
nehmen Haus, war einer derjenigen, der die Dorfbewohner auf militärische
Disziplin einübte, dabei aber fast einem Mordanschlag durch Radikale zum
Opfer gefallen wäre. Vespasian marschierte zunächst in Galiläa ein, brannte
Städte, die sich nicht ergaben, nieder und tötete ihre Einwohner. Ihm fiel Jo-
sephus, der sich mit seiner Truppe heldenhaft gewehrt hatte, in die Hände,
begnadigte ihn aber. Nachdem jeglicher Widerstand in Galiläa erloschen
war, wandte sich Vespasian 68 n. Chr. in Richtung Jerusalem.
In Jerusalem, wohin sich viele Widerstandskämpfer geflüchtet hatten,
herrschte das Chaos. Verschiedene Fraktionen hatten sich gebildet, die sich
gegenseitig bekämpften und eine wahre Schreckenskampagne entfachten
und die Stadt verwüsteten. Führende Bürger wurden hingerichtet, von allen
Fraktionen ausgeraubt. Der Hohenpriester und sein Gefolge wurden un-
barmherzig niedergemetzelt und man suchte die gegnerische Seite wo man
konnte, zu schädigen, z.B. indem man deren Nahrungsvorräte verbrannte.
Am Ende, als Vespasians Armee vor den Toren Jerusalems stand, versöhn-
ten sich die beiden übriggebliebenen Fraktionen zum gemeinsamen Ab-
wehrkampf gegen die Römer.
146 5. Jesu Zeit im historischen Kontext
Vespasian aber musste auf die Nachricht vom Tode Neros hin erst ein-
mal den Feldzug abbrechen und er selbst nach Rom eilen, wo er sich den
Kaiserthron erkämpfen sollte. Den Oberbefehl über die Truppen übertrug er
seinem Sohn Titus. Im Jahre 70 n. Chr. rüstete man sich zum Endkampf. Ti-
tus ließ Belagerungstürme bauen, setzte Rammböcke ein, versuchte es mit
psychologischer Kriegsführung, die auf der akuten Hungersnot in Jerusa-
lem aufbaute – dort hatte man ja vorher gegenseitig seine Nahrungsvorräte
vernichtet – und als die Juden immer noch nicht auf Friedensangebote der
Römer eingehen wollten, und nachdem viele ihrer eigenen Taktiken fehl-
schlugen, ließ Titus eine 8 Km lange Ringmauer um Jerusalem bauen, wel-
che die Stadt vollkommen umschloss. Endlich gelang es den Angreifern,
den Widerstand zu brechen und die Stadt zu erstürmen. Der Tempel, in den
sich Tausende geflüchtet hatten, wurde Stück für Stück in Brand gesetzt,
das Dach stürzte ein und die Eingeschlossenen fanden ihren Tod.
Nun gab es kein Halten mehr, und die römischen Soldaten ließen ihrem
Hass freien Lauf. Überall wurde gemetzelt und geplündert. Viele wurden zu
Tode getrampelt und das Schreien und Stöhnen der sterbenden Menschen
erfüllte die engen, blutbesudelten Gassen. Wer nicht getötet wurde, endete
entweder als Sklave oder Gladiator in einer römischen Arena. Den Überle-
benden hielt Titus noch eine Rede und warf ihnen vor, ihre Vergünstigungen
ausgenutzt und den Frieden gebrochen zu haben.
Die Stadt wurde vollständig zerstört. Von ihrer Mauer blieb nur ein Rest
erhalten, die sogenannte Klagemauer. Zwei Jahre später war auch die Fes-
tung Masada eingenommen, auf die sich die Sikarier zurückgezogen hatten.
Die fast tausend Verteidiger begingen kollektiven Selbstmord, um der Ver-
sklavung zu entgehen. Jerusalem lag öde und als ein neuer Messias 132 n.
Chr. noch einmal zu einem Aufstand aufrief, der innerhalb von drei Jahren
niedergeschlagen wurde, da wurde den Juden auf Todesstrafe verboten, Je-
rusalem, welches die Römer jetzt wieder aufbauten, zu betreten. Ihr altes
Reichsgebiet nannte man nach ihren vormaligen Erbfeinden, den Philistern,
Palästina. Die Juden waren heimatlos geworden.
es nicht der fanatische, intolerante und doktrinäre Glaube, der, nicht unähn-
lich wie im heutigen Nahostkonflikt, Gräben der Unversöhnlichkeit und des
Hasses gezogen hatte?
Die Gesellschaft zu Jesu Zeiten war gespalten gewesen. Vereinfacht ge-
sprochen, den moderaten Sadduzäern standen die zum religiösen Fanatis-
mus neigenden Pharisäer gegenüber. Im Gegensatz zu den Pharisäern lehn-
ten die Sadduzäer den Glauben an die Wiederaufstehung der Toten als auch
den Engel- und Dämonenglauben ab. Sie beharrten allein auf die Gültigkeit
der Tora und den Mosaischen Gesetzen. Sie beherrschten das öffentliche
Leben und die Politik, sahen sich als Bewahrer von Recht und Ordnung
und pflegten den Tempelkult. Im Umgang mit den Heiden erwiesen sie sich
als pragmatisch und flexibel und pflegten zuweilen selbst einen hellenisti-
schen Lebensstil.
Anders die Pharisäer. Sie teilten die Welt praktisch in rein und unrein
ein. So hielten sie denn auch die Heiden als moralisch durch und durch ver-
dorben. In ihren Augen waren das verabscheuungswürdige Kreaturen von
denen man sich fernhalten musste. Ihre Auffassung von Absonderung trieb
sie dazu, ihre Frömmigkeit in den kleinsten Details des Alltags zu prak-
tizieren und sie machten es sich zur Aufgabe, die Erfordernisse der 613
mosaischen Gesetze durch ihren Lebensstil zu verwirklichen. Ihre religiöse
Überzeugung, nach welcher das tägliche Leben dem Diktat der Religion un-
terworfen werden musste, resultierte in einem stetig wuchernden Gestrüpp
von Vorschriften, deren spitzfindige Kasuistik den religiösen Sinn zuweilen
schwer zu erkennen ließ. So gab es eine Reihe von Regeln, wie das Sab-
batgebot auszulegen sei. Es war verboten, am Sabbat zu arbeiten. Was aber
war Arbeit? Darunter fielen z.B. alle Tätigkeiten im Haushalt wie Kochen
und Wasserholen. Die Länge der Wege, die man gehen durfte, waren vorge-
schrieben. Das Schlachten eines Tieres war nicht gestattet, durfte man aber
einen Floh töten? Ein großzügigere Auslegung erlaubte, „dass man dem
Floh die Beine abschnitt“. Religion artete mit solch einer Auffassung von
Praxis in Formalismus und Ritualismus aus.
Andererseits kann man den Pharisäern eine gewisse Flexibilität im Um-
gang mit den überlieferten Gesetzen auch nicht absprechen; denn die im-
mer neuen Vorschriften dienten ja auch dazu, die Tora den Erfordernissen
der Zeit anzupassen. Allerdings, ihr messianischer Fanatismus, der Glau-
be an ein endliches Gericht und an die Aufrichtung der Gottesherrschaft
148 5. Jesu Zeit im historischen Kontext
mit Israel als dem erwählten Volk barg auch den Keim eines gefährlichen
Nationalismus in sich. Die Zeloten stellten mit ihren Forderungen, durch
Gewalt das Kommen des Messias zu beschleunigen, den extremen Flügel
des Pharisäertums dar. Die Essener hingegen, die wie die Pharisäer aus den
Chassidim (die Frommen) in der Makkabäerzeit hervorgegangen waren,
hatten sich nach Qumran in der Wüste zurückgezogen, um sich hier als
verschworene Gemeinschaft auf den Endkampf gegen die Söhne der Fins-
ternis vorzubereiten. Sie widmeten sich dem Studium der Tora und lebten
nach strengen Regeln, die auf den Gehorsam gegen Jahwes Gebote gebaut
waren.
Überhaupt war die Religion bestimmend in der Lebensführung der
Menschen. So besuchten die Söhne ab dem fünften Lebensjahr eine der
Synagoge angegliederte Grundschule, wo praktisch nur die Tora gelehrt
wurde. Mädchen wurden zumeist nur in häuslichen Tätigkeiten unterwie-
sen. Der Unterricht der Jungen endete mit 13 Jahren, wenn er das Man-
nesalter erreicht hatte. Seine Volljährigkeit wurde festlich begangen (Bar
Mitzvah). Danach konnte er sich um Aufnahme in der Höheren Schule be-
mühen und sich zum Schriftgelehrten ausbilden lassen. Ansonsten erlernte
er ein Handwerk von seinem Vater.
Wenn sich sogar in der Erziehung alles um Religion drehte, wen sollte
es da verwundern, dass die Juden weder in der Literatur, noch in der Kunst
oder der Wissenschaft Nennenswertes leisteten. Krankheit galt als gottge-
sandt und als Ausdruck einer verdorbenen Seele. Das medizinische Wissen
dieser Zeit könnte eher als eine Sonderform von Aberglauben gelten und
war von Dämonenfurcht bestimmt. Die medizinische Praxis erschöpfte sich
zumeist auf Gebete und Geisteraustreibung. Krankheiten wie Malaria, Tu-
berkulose und Lepra grassierten und in Folge erreichten die meisten kaum
ein Lebensalter von mehr als 40 Jahren. Das Vakuum, das durch das of-
fensichtliche Versagen der herkömmlichen Medizin entstand, füllten viele
Wunderheiler, die das Land tourten und göttliche Heilkräfte beschworen.
Die Geisteshaltung der Juden war jeglicher wissenschaftlicher Erfor-
schung wie sie die Griechen betrieben, entgegengesetzt. Gelehrte waren für
sie die Kenner der Tora, der Quell der Weisheit. Das Wesen der Welt war
aus der Heiligen Schrift zu erlernen. Logische Gedanken- und Beweisfüh-
rung war unvereinbar mit einem doktrinären Glauben. Daran erweist sich,
dass sich Dogmatismus lähmend auf den menschlichen Geist legt, dass er
5. Jesu Zeit im historischen Kontext 149
die natürliche Neugierde des Menschen erstickt und somit den kulturellen
Fortschritt behindert. Das hat Folgen. So war Palästina wirtschaftlich rück-
ständig und konnte nur wenig Produktives in den Handel einbringen und
ihre Händler hatten es schwer gegen die griechische Konkurrenz.
Das Rückgrat der jüdischen Wirtschaft war der Ackerbau. Körperliche
Arbeit war bei den Juden im Gegensatz zu den Griechen hoch geehrt, Faul-
heit wurde verachtet. Der überwiegende Teil der männlichen Bevölkerung
war entweder als Bauer, Hirte oder Handwerker tätig. Auf dem Feld ar-
beitete man nach wie vor nach uralter Tradition mit Holzpflug und Sichel.
Viele Erzeugnisse wurden noch im Hause angefertigt aber daneben hatten
sich auch Berufe wie Gerber, Töpfer, Schmied und Zimmermann heraus-
gebildet, doch ihre Produktivität blieb bescheiden. Es waren praktisch nur
landwirtschaftliche Erzeugnisse, die ihren Weg zum Markt fanden, aufge-
kauft en gros zumeist von griechischen Händlern oder wenigen hellenisier-
ten Juden.
Wer unter den Juden wirtschaftlich reüssieren wollte, musste sich der
hellenischen Kultur anpassen, die Regeln des Handels beherrschen, der
griechischen Sprache mächtig sein und Kontaktpflege mit ausländischen
Partnern betreiben. Kein Wunder, dass Juden wie die Sadduzäer sich mit
der Zeit an die hellenistische Lebensführung gewöhnten. Da nun der von
den Juden erreichte Standard auf allen Gebieten weit unter dem der Römer
und Griechen lag und sie daher in allen Belangen unterlegen waren, konnte
das Judentum dem Druck der griechischen Kultur nur durch Absonderung
widerstehen, ein Weg, den die Pharisäer forderten. Es waren also nicht nur
religiöse Differenzen sondern auch deren Verhältnis zur Kultur der Besat-
zer, welche Sadduzäer und Pharisäer einander zu Gegnern machte.
Die Sadduzäer und Pharisäer erlitten über die Jahre ein wechselndes
Geschick, abzulesen an ihrem Einfluss in der Gesellschaft, zumal dem San-
hedrin oder Ältestenrat. Mal beherrschten die Sadduzäer den Sanhedrin,
mal waren es die Pharisäer. Zur Zeit Jesu waren es die den Pharisäern na-
hestehenden Schriftgelehrten oder Rechtskundigen, die zusammen mit den
oberen Priestern und Angehörigen der Reichen, also Vertretern der saddu-
zäischen Strömung, die 70 Mitglieder des Rates stellten. Im Hohen Rat zu
Jerusalem versammelte sich die politische, richterliche und die gesetzge-
bende Gewalt, die letzlich der Religion untergeordnet war. Der Rat, gleich-
zeitig auch Appellationsgericht, urteilte über Mord und Verstöße gegen die
150 5. Jesu Zeit im historischen Kontext
Einführung
Während das Alte Testament jüdischen Ursprungs ist, gilt das Neue Testa-
ment als die Bibel der Christenheit. Es enthält 27 Schriften, darunter vier
Evangelien, die Apostelgeschichte, 21 Briefe und die Offenbarung des Jo-
hannes. Verfasst wurden diese Schriften in einem Zeitraum von weniger als
hundert Jahren, von ca. 50 n. Chr. bis etwa 140 n. Chr., doch erst im spä-
ten 4. Jahrhundert war der Entstehungsprozess des Neuen Testaments als
einheitlicher Kanon oder Richtschnur für die Christen abgeschlossen.
Als die christlichen Überzeugungen Konturen anzunehmen begannen,
verstärkte sich das Bewusstsein einer vom Judentum unabhängigen Glau-
bensgemeinschaft was wiederum einen Prozess der Entfremdung von den
Juden einleitete. Wie konnte man noch am Gottesdienst in den jüdischen
Synagogen teilnehmen, wenn zentrale Positionen des Judentums in Frage
gestellt wurden und die Verehrung Jesu Christi, seine Passion und Aufer-
weckung, die Mitte der Verkündigung einnahm? So nahmen die Konflikte
mit der Umwelt an Schärfe zu und die Erfahrung jüdischer Feindschaft fand
dann auch seinen Niederschlag in den Schriften.
Die vier Evangelien, die man auch als Biographie Jesu Christi einschät-
zen kann, sind zwar an den Anfang des Neuen Testaments gesetzt, doch
die sieben als echt qualifizierten Briefe des Paulus sind älteren Datums,
geschrieben zwischen 40 und 60 n. Chr.. Aufgrund von Paulus herausra-
gender Stellung in der sich formenden Kirche erlangten seine Briefe eine
besonders hohe Wertschätzung. In der Apostelgeschichte wird ausführlich
über seine Missionsreisen berichtet. Zweck der Briefe allgemein war theo-
logische Anleitung, Gemeindeführung, Seelsorge und Ermahnung zu einem
christlichen Lebenswandel, generell die Stärkung der christlichen Identität.
Den Schluss des Neuen Testaments bildet die Offenbarung des Johannes,
eine visionäre Schau auf das erwartete Weltende.
So waren Anfang des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts verschie-
dene Schriften im Umlauf, die nach und nach die mündliche Tradition ver-
154 6. Das Neue Testament
drängten. Noch hatten keine von ihnen – sieht man einmal von der beson-
deren Rolle der paulinischen Briefe ab – eine dominante Stellung erlangt.
Gemeinden wählten für ihren Gebrauch je nach Bedürfnis diejenigen unter
ihnen aus, die ihnen besonders zusagten. Durch ihre Entscheidung zuguns-
ten bestimmter Schriften bestärkten sie somit einen Trend zur Entwicklung
einer inneren Autonomie. Aber noch existierte nebeneinander eine Viel-
zahl von Schriften, von denen so manche wie das Thomasevangelium später
als heterodox verworfen wurden. Einige waren derartig phantastisch ausge-
schmückt, dass allein das Kriterium der Glaubwürdigkeit ein Sichten und
Aussieben der sich im Umlauf befindlichen Literatur erforderte.
Das Jahr 144 n. Chr. gilt allgemein als der Anfang zur Kanonbildung
(Kanon Richtschnur), d.h. der Beginn eines Prozesses des Ausschluss-
und Fixierverfahrens, am Ende dessen eine Reihe von Schriften stehen
wird, die von der Kirche als verbindlich und orthodox erklärt werden, sich
also in Übereinstimmung mit dem rechten Glauben befinden und von daher
Zulassung zum Gottesdienst erhalten. In diesem Jahr erfolgt der Bruch der
römischen Gemeinde mit dem einflussreichen Theologen und Kaufmann
Markion wegen dessen theologischer Auffassung. Er vertrat eine Sonder-
lehre, Gnosis ( Erkenntnis) genannt, die auf der dualistischen Lehre von
einem guten Schöpfergott, dem Vater Jesu Christi, und dem bösen alttesta-
mentlichen Gott Jahwe beruht. Erlösung wird durch die rechte Erkenntnis
zuteil, die der Seele, der göttliche Lichtfunken im Menschen, zur Befreiung
aus seinem leiblichen Kerker verhilft. Also wurde das Alte Testament von
Markion zusammen mit dem als grausam bezeichneten Jahwe verworfen.
Gelten ließ er nur das Lukasevangelium und die zehn dem Paulus zugerech-
neten Briefe. Wäre nun die Kirche aber Markion gefolgt, so hätte dies das
Christentum von seinen jüdischen Wurzeln abgeschnitten.
Um 180 n. Chr. erhielt die Verfestigung des Kanons einen weiteren
Schub. In diesem Jahr begründet der Bischof Irenäus von Lyon die Vierzahl
der Evangelien mit einer biblischen und kosmologischen Analogie und ver-
weist auf die vier himmlischen Wesen nach Hes. 1,10, dem wiederum der
babylonische Mythos zugrunde liegt, die vier Bundesschlüsse von Adam
bis Jesus und die vier Himmelsrichtungen. Nach der sog. Konstantinischen
Wende 313 n. Chr. und im Zuge von Bestrebungen nach Vereinheitlichung
in Reich und Kirche einigte man sich auf dem Konzil in Nicäa im Jahre
325 n. Chr. unter dem Druck kaiserlicher Autorität auf einen verbindlichen
6. Das Neue Testament 155
Kanon, und in seinem Osterbrief des Jahres 367 n. Chr. legt der Bischof
Athanasius Reihenfolge und Zahl der als rechtsgültig zählenden Schriften
des Neuen Testaments fest.
Theologen bewerten die Authentizität der Aussagen des Neuen Testa-
ments unterschiedlich. Aufgrund der Art und Weise der tradierten münd-
lichen Überlieferung, die auf der die Gedächtnisleistung stärkende Art der
Wissensvermittlung von Rabbi zu Jünger beruhte, ist man grundsätzlich ge-
neigt anzunehmen, dass z.B. in den Evangelien die wahre Stimme Jesu zu
vernehmen ist. Allerdings ist in Rechnung zu tragen, dass die Evangeli-
en aus einer bestimmten Glaubensperspektive heraus geschrieben worden
sind. Ein weiteres Problem ist die Überlieferung der Schriften. Als der Be-
darf nach Abschriften wuchs, wurden Kopien in eigens dafür eingerichteten
Skriptorien (Schreibstuben) praktisch wie am Fließband produziert und so
konnte es nicht ausbleiben, dass sich Fehler durch falsches Lesen oder Hö-
ren einschlichen. Aus den uns zur Verfügung stehenden Handschriften geht
hervor, dass sie teilweise stark voneinander abweichen.
Schwerer aber noch wiegt der Vorwurf der Fälschung. Schon in ei-
nem Paulusbrief wird von gefälschten Briefen (2. Thess. 2,2) gewarnt. Die
historisch-kritische Forschung ist in ihrer Mehrheit davon überzeugt, dass
z. B. mehrere Paulusbriefe gefälscht sind. Einerseits liegt manchen Fäl-
schungen der Versuch der Herstellung einer Kontinuität in dem Sinne ‚Was
hätte wohl Paulus in dieser Situation gesagt?‘ zugrunde und wenn Autoren
dann unter dem Namen einer bekannten Persönlichkeit schrieben, gab dies
ihrer Schrift die nötige Autorität. Aber auch wenn man annimmt, dass die
meisten christlichen Fälschungen aus ehrrührigem Grund angefertigt wor-
den waren, erscheinen einige der von ihnen verbreiteten Behauptungen wie
z.B. die der Augenzeugenschaft (2.Petr. 1,16f) doch schon als eher grenz-
wertig. Ein Autor schreibt regelrecht unverfroren: „Ich sage die Wahrheit
und lüge nicht“ (1 Tim. 2,7).
Ein anderes Problem resultiert aus dem Umgang mit der jüdischen Bi-
bel. Im Verständnis von Paulus und anderen weist diese über sich hinaus
hin auf das Kommen Jesu Christi und man ging so weit zu behaupten,
dass das Alte Testament „für uns Christen geschrieben worden ist“ (1. Kor.
9,10). Folgerichtig interpretierte Paulus das Neue Testament als Vollendung
des alten Bundes (2. Kor. 3,14–16). Aber in seiner Neuausdeutung ging so
mancher Verfasser zum Teil weit über den ursprünglichen Sinn des Textes
156 6. Das Neue Testament
derprediger, die sich Jesu radikalen Ethos unter Aufgabe von Besitz und Fa-
milienbindung verpflichtet fühlten und seine Lehre im galiläischen Raum
in Form einer Art Hausmission verkündigten. Mit wachsender Anhänger-
schaft breitete sich die Bewegung weiter überregional aus. Es bildeten sich
dann wohl Stützpunkte von Sympathisanten, die sich um die materielle
Versorgung der Wanderradikalen kümmerten. Ortsansässige Dorfschreiber
könnten den Prozess zur Verschriftlichung angestoßen haben, indem sie
erste Berichte von Jesu Worten und seinem Wirken, angereichert mit Wun-
dergeschichten aus der Volksfrömmigkeit, sammelten.
Jesus selbst hatte nichts Schriftliches hinterlassen. Um nun das Ver-
mächtnis seines Lebens und Wirkens auch für künftige Generationen zu
sichern und gleichzeitig die christliche Identität zur jüdischen und heid-
nischen Umwelt abzugrenzen, musste man dem Bedürfnis nach Strukturie-
rung und Orientierung an Jesu Worten im Übergang von der mündlichen
zur schriftlichen Tradition Rechnung tragen. Das war umso notwendiger
als zum einen das erwartete Ende der Welt ausblieb und zum anderen die
Augenzeugen der ersten Generation auszusterben begannen.
In der Urgemeinde zu Jerusalem hatten sich nach Jesu Tod am Kreuz
und nach Überwindung einer anfänglichen Phase der Niedergeschlagen-
heit und Zweifel seine Anhänger zu einer neuen Gemeinschaft zusammen-
gefunden. Man wird leidenschaftlich über die Bedeutung von Jesu Exis-
tenz gestritten haben und als Niederschlag dieser Debatten dürfte wohl zu-
nächst Jesu Passion, sein Leiden und Tod am Kreuz, als zusammenhängen-
de Geschichte dargestellt worden sein, von der aus, sozusagen rückwärts
arbeitend, die Erzählung des Jesus-Geschehens durch Auszüge aus ande-
ren Sammlungen ergänzt worden wurde.
In der kirchlichen Tradition galt Matthäus lange Zeit als der erste Evan-
gelist. Doch beginnend mit G.E. Lessing (1729 – 1781) wurde diese Auffas-
sung zunehmend in Zweifel gezogen. Die auffällige Ähnlichkeit der Evan-
gelien des Matthäus, Markus und Lukas ließen zunächst vermuten, dass
sich alle drei auf ein angenommenes, aber verschollenes Urevangelium be-
zogen hatten. Aber weitere Untersuchungen über das Abhängigkeitsver-
hältnis dieser Evangelien, nun auch als die synoptischen bezeichnet (Syn-
opis Zusammenschau), ergaben, dass das Markusevangelium das älteste
ist und dass sich die anderen beiden auf dieses als eine ihre Quellen ge-
stützt hatten. Daneben hatten beide noch eine andere Quelle gemeinsam,
158 6. Das Neue Testament
die Markus unbekannt gewesen sein muss, auch Logienquelle oder Q ge-
nannt. Damit war die Zwei-Quellen-Theorie geboren.
Nun hatten Matthäus (Mt) und Lukas (Lk) später nicht nur einfach von
Markus abgeschrieben. Sie hatten das ihnen vorliegende Material jeder auf
seine Weise aktualisiert und somit den veränderten Rahmenbedingungen
angepasst. Auch griffen sie auf Sondergut zu, das sich nur bei ihnen fin-
det, so z.B. die Erzählung des Matthäus von den Weisen aus dem Mor-
genland und die anrührende Weihnachtsgeschichte des Lukas. Die soge-
nannte Logienquelle wurde hypothetisch als der gemeinsam von Mt und
Lk bezeugte Stoff erschlossen. Q beginnt mit Taufe und Versuchung Jesu,
setzt sich fort mit den Seligpreisungen, der Aussendung und Ermahnung
der Jünger vor materiellen Streben, den Konfliktszenen mit Pharisäern und
Schriftgelehrten und schließt mit der Endzeitrede ab, in der sich das Kom-
men des Menschensohns andeutet. Die scharfen Gerichtsdrohungen kön-
nen wohl Reaktionen auf erfahrende Ablehnung gewesen sein, was noch
zusätzlich das missionarische Sendungsbewusstsein gestärkt haben dürfte.
Trägerkreis von Q sind wohl die charismatischen Wanderprediger, Männer
als auch Frauen, gewesen. Sie hatten noch nicht die Vorstellung einer gött-
lichen Erlöserfigur entwickelt. Ihr Bild von Jesus war das eines ethischen
Lehrers und Propheten gewesen, der in Wort und Tat sich den gesellschaft-
lich verachteten Schichten zuwandte und Gottes hereinbrechende Königs-
herrschaft verkündigte.
Das Johannesevangelium hebt sich in Stil und seiner Theologie erheb-
lich von den Synoptikern ab und scheint stark von hellenistischem Gedan-
kengut beeinflusst sein. Aber wie auch die Synoptiker zielte dessen Autor
wohl darauf ab, einem größeren Leserkreis ein Bild von Jesu Leben und
Wirken zu vermitteln und damit einem Bedürfnis der Gläubigen nach kon-
kretem Anschauungsmaterial nachzukommen. Schon der Begriff ‚Evange-
lium‘ (griech. euangelion), was so viel wie ‚frohe Botschaft‘ bedeutet,
lässt erkennen, dass mit diesen Erzählungen eine Art Biographie des Le-
bens Jesu angestrebt worden war. Damit stehen die Evangelien in der Tradi-
tion einer bestimmten literarischen Form antiker Viten von Kaisern, Staats-
männern und Feldherrn, heben sich aber von diesen darin ab, dass mit der
Person Jesu ein Glauben zu weckendes Heilsgeschehen verbunden ist. In
ihrem Bemühen, schriftlich Zeugnis über Herkunft, Wirken und Tod Jesu
abzulegen, hatte jeder Evangelist auch sein ihm eigenes Profil entwickelt.
6. Das Neue Testament 159
Markus
Es wird vielfach von Theologen die Auffassung vertreten, dass das Markus
zugeschriebene Evangelium uns noch am ehesten Zugang zu dem histori-
schen Jesus verschafft, da es das älteste von allen ist. Demgegenüber ist zu
bedenken, dass Markus das ihm vorliegende Material in einer ihm selbst
als plausibel erscheinenden Weise bearbeitet und Einzelreden, Lehrsprüche
Jesu und verschiedene Ereignisse, angereichert mit Wundergeschichten aus
der Volksfrömmigkeit, chronologisch so geordnet und in ein erdichtetes Ge-
schehen mit Hörern und Orten gestellt hatte, um damit das letzte Jahr Jesu
zeitlich zu markieren. Doch trotz aller redaktioneller Eingriffe, die nicht zu-
letzt auch aus der Perspektive des Glaubens gemacht worden waren, ist es
denkbar, dass dieses Evangelium uns tatsächlich eine einigermaßen glaub-
würdige Kunde vom Wesen und Wirken Jesu zu vermitteln vermag.
Aber wer war nun dieser Markus? Ist er identisch mit dem Johannes
Markus aus der Apostelgeschichte (Apg 12,2)? War er der Dolmetscher
des Petrus gewesen, wie es 1 Petr. 5,13 nahe legt? Sollte aber Markus tat-
sächlich dieser Jerusalemer Judenchrist gewesen sein, dann muss es erstau-
nen, dass seine Ortskenntnisse so schlecht waren und er z. B. nicht einmal
wusste, dass man nach Jerusalem von Betanien über Betfage kommt und
nicht umgekehrt (Mk 11,1). Hinzu kommt, dass der Verfasser auf griechisch
schrieb was darauf hindeutet, dass er doch wohl eher einem heidenchrist-
lichen Milieu entstammte. Wir verfügen also lediglich über mehr oder we-
niger überzeugende Vermutungen hinsichtlich der Identität des Verfassers.
Ebenso muss auch die historische Einordnung der Entstehung der Schrift
als unsicher gelten, auch wenn sich die meisten Theologen auf den Zeit-
punkt um das Jahr 70 n. Chr., also den der Zerstörung Jerusalems, festgelegt
haben.
Der Kern des Evangeliums nach Markus, wie er auch von den ihm fol-
genden Evangelisten übernommen worden ist, ist die Passion Jesu, also sein
Leiden und Sterben, und seine Auferstehung. So verstanden, ist alles andere
nur Vorspann, gewissermaßen vom Ausgangspunkt der Passionsgeschichte
in der Zeit nach rückwärts geschrieben. Markus beginnt mit den Worten:
„Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Got-
tes“. Damit setzt der Verfasser bereits das Leitthema seiner Darstellung des
Jesus-Geschehens im Prolog, nämlich die Gottesherrschaft. Sie beginnt mit
dem Auftreten des in der Taufe als Sohn Gottes proklamierten Jesus, des
Messias (griech. Christos). Die später geschilderte Verklärung Jesu (9,7)
160 6. Das Neue Testament
4,11) wird Jesu jungfräuliche Geburt als eine Erfüllung dessen verstanden,
wovon der Prophet Jesaja gesprochen hatte. In stereotypen Redewendungen
werden Zitate aus dem Alten Testament verwendet und ihrem Zusammen-
hang entrissen, um das Geschehen als Erfüllung prophetischer Aussagen zu
belegen, so auch Jesu Heilungen und Zuwendungen zu den Schwachen und
die sich ankündigende Mission zu den Heiden (8,17; 12,17f). Jesu Leidens-
weg hin zum Kreuz wird als unausweichlich dargestellt (20,17–19) und sein
Einzug in Jerusalem ist genauso als eine Erfüllung der Schrift zu sehen wie
der anschließende Verrat und seine Verurteilung (21,4; 27,9).
Matthäus beschreibt Jesus als eine Art zweiter Mose, der als der wahre
Repräsentant des jüdischen Erbes zu verstehen ist wenn auch im heilsge-
schichtlichen Verständnis nun auch die Heiden mit einbezogen sind. So wie
das noch junge Volk Israel so ist auch Jesus gleich zu Beginn seiner irdi-
schen Existenz Gefährdungen ausgesetzt, denen sich seine Familie durch
die Flucht nach Ägypten entzieht, eine deutliche Anspielung auf den Ex-
odus. Und wie der Gesetzgeber Mose, so verkündet auch Jesus – in der
Lehrerpose sitzend – seine Botschaft von einem Berg während sich bei Lu-
kas diese Episode auf einer Ebene abspielt.
Bereits Markus hatte Jesus in Anlehnung an Psalm 2,7 als einen in der
Taufe von Gott adoptierten Sohn bezeugt. Matthäus geht in der Vergöttli-
chung Jesu noch einen Schritt weiter. So betont er, dass bereits Jesu Ge-
burt ein Ereignis übernatürlicher Natur gewesen war. Nach Matthäus war
Jesu Mutter noch Jungfrau als sie ihn durch den Heiligen Geist empfing.
Hier wird das Fundament zur dogmatischen Christologie gelegt. Jesus ist
der von Jesaja angekündigte Immanuel, der Gott mit uns (1,23). Überhaupt
tendiert Matthäus dahin, die göttliche Seite Jesu zu betonen. So demons-
triert dieser seine Macht bei der Heilung von zwei Besessenen und zwei
Blinden während es bei Markus jeweils nur einer ist (Mt. 8, 28–34; 20,
29–34; vgl. Mk 5, 1–29; 10, 46–52. Und so ist es nur folgerichtig wenn
Matthäus den Passus in Mk 3,20f wo Jesu Familie ihn für verrückt erklärt
streicht; denn dieser passt nicht in seine Vorstellungen von einem auf Er-
den wandelnden Gott. Jesus, so will uns Matthäus zeigen, ist der von den
Propheten angekündigte Messias, der Erlöser Israels. Und als Judenchrist
ist es ihm wichtig, den Beweis anzutreten, dass Jesus tatsächlich formal
durch den väterlichen Stammbaum, der auf der Davidnachfolge gründet,
dazu legitimiert ist. Wenn auch Josef nicht der leibliche Vater Jesu ist, so
6. Das Neue Testament 163
ist er es doch in rechtlicher Sicht. Und in der Auferstehung wird er als Wel-
tenherrscher erhöht, dem „alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ (28,18)
gegeben ist, ein Herrscher aber nicht nach der Art irdischer Könige, son-
dern ein Friedensfürst (5,9), einer, der mit Sanftmut des Menschen Lasten
trägt, dass ihre verstörten Seelen Ruhe finden mögen (11,28–30). Schon in
Jesus selbst ist Gott in seiner Zuwendung zu den Schwachen und Bedrück-
ten heilvoll und rettend gegenwärtig.
Doch es droht auch das Gericht. Adressaten der Gerichtsdrohungen
(24,3; 25,31–46) sind aber gerade die Jünger und damit indirekt die Ge-
meinde. Drohungen erzeugen Angst, eine wohlfeile Praxis, der sich die
Kirche später bedienen wird, um ihre Schäfchen bei der Stange zu halten.
Für Matthäus ist allerdings nicht der Glaube an Jesus der entscheidende
Faktor, der die Scheidung zwischen Gerechten und Ungerechten und damit
die Aufnahme in das Himmelreich oder Verwerfung bestimmt, sondern al-
lein das rechte Tun (25,31ff). Die Gemeinde wird aufgefordert, sich durch
gute Werke als das Salz der Erde und das Licht der Welt (5,13–16) aus-
zuzeichnen. Das Matthäus Evangelium zielt also darauf hin, eine an Jesus
orientierte Ethik zu generieren und zu vermitteln, die sich im Doppelgebot
der Liebe, der Goldenen Regel (7,12) und der Trias Barmherzigkeit, Ge-
rechtigkeit und Treue kristallisiert. Mit den Schlüsseln zum Himmelreich
überträgt Jesus dem Petrus nun die Vollmacht, diese ethischen Weisungen
als verbindlich erklären zu können (16, 18–19). Auf diesen Passus hat die
amtliche Kirche ihre Macht gebaut und das Papsttum begründet.
Die zahlreichen Drohworte sowie der dramatisch ausgemalte Ablauf
der Kindermorde stellen die dunkle Seite dieses Evangeliums dar. Verwun-
dern mag es, dass sich anfangs Jesu Wirken ganz auf Israel beschränkt, ob-
wohl es doch die heidnischen Weisen aus dem Morgenland waren, die Jesus
huldigten. Und um so rätselhafter muss es erscheinen, dass dieses Volk auf
solche Zuwendung mit sich steigernder Ablehnung, ja Hass, reagiert, der
in dem furchtbaren Blutwort während des Verhörs bei Pilatus gipfelt: „Sein
Blut komme über uns und unsere Kinder“ (27,25). Hier wird ein ganzes
Volk in Sippenhaft genommen. Die Kreuzigung Jesu wird dann in ein düs-
teres apokalyptisches Szenario mit hereinbrechender Finsternis, dem Riss
des Tempelvorhangs und dem Aufbrechen der Gräber getaucht (27,45–52).
Damit wird deutlich gemacht, jetzt setzt ein Umbruch ein. Gott hat die Ju-
den verworfen, der Ruf geht nun aus zu den Heiden während den Juden
164 6. Das Neue Testament
die gerechte Strafe für die Ermordung des Gottessohnes zuteil werden wird
(22,7). Schon die Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. wurde dementsprechend
interpretiert. Es ist ein ungeheuerlicher theologischer Entwurf, der einen er-
schauern lassen müsste. Er hat dem Anti-Semitismus Bahn verschafft und
historisch eine Blutspur hinterlassen, die bis hin zu Auschwitz reicht.
Und doch würde man Matthäus unrecht tun, wollte man ihm unterschie-
ben, dass er gleich das ganze Judentum auf die Anklagebank setzen woll-
te. Hatte Jesus nicht gerade seine treuesten Anhänger unter den ‚Kleinen‘
(vgl. Mt 4,25) und sollte die Tora nicht auch weiterhin bestimmend für
das ethische Fundament seiner Nachfolger bleiben? Waren es nicht viel-
mehr nur die Oberen, die ihm verhasst waren und denen er Scheinheilig-
keit und moralischen Bankrott vorwarf? Auch sollte man berücksichtigen,
dass Matthäus aus einer Situation akuter Bedrängnis und Verfolgung heraus
schrieb und dementsprechend negative Gefühle gegenüber seinen Gegnern
entwickelt hatte. Festzuhalten bleibt, dass den schroffen antijüdischen Tex-
ten auch solche wie die Bergpredigt gegenüberstehen, die neue ethische
Maßstäbe gesetzt haben.
Das Lukas Evangelium
Traditionell wurde der Verfasser dieses Evangeliums wie auch der von der
Apostelgeschichte mit Lukas, dem Arzt und Begleiter des Paulus identifi-
ziert (Phlm. 24; Kol. 4,14; 2 Tim. 4,11). Gegen diese Annahme sprechen
allerdings gewichtige Gründe. Zwar suggerieren die sog. ‚Wir-Stellen‘ ab
Apg. 16,10ff eine Teilnahme des Verfassers an den Missionsreisen des Pau-
lus, doch gibt es andererseits erhebliche Differenzen zwischen Apostelge-
schichte und den paulinischen Briefen. So widersprechen sich die Angaben
über die Beschlussfassung am Apostelkonvent (vgl. Apg. 15,1–29 und Gal.
2,1–10) und während sich Paulus laut Apostelgeschichte zweimal in Jeru-
salem aufgehalten haben soll gibt Paulus selbst nur einen Besuch an (vgl.
Apg. 9,23ff; 11,30 und Gal. 1,17ff). Außerdem sprechen theologische Dif-
ferenzen wie z.B. in der Rechtfertigungslehre dagegen, den Verfasser mit
Lukas den Arzt zu identifizieren. So bleibt weiterhin umstritten, wer nun
der wirkliche Verfasser des Doppelwerks gewesen war. Auch wann es ge-
schrieben wurde, ist nicht mit letzter Sicherheit zu bestimmen. Die meisten
Exegeten favorisieren den Zeitraum 80–95 n. Chr..
Einig ist man sich zumindest, dass sowohl das Lukas Evangelium als
auch die Apostelgeschichte auf den gleichen Verfasser zurückgehen. Ge-
6. Das Neue Testament 165
(4,17f). Noch im Sterben befiehlt Jesus den Heiligen Geist zurück an seinen
Vater (23,46).
Bei Lukas dominiert ein optimistisches Menschenbild und so treten die
gerichtlichen Drohungen in den Hintergrund. Jesu Zeit ist eine gnaden-
erfüllte Zeit in der Menschen durch seine frohe Botschaft den Weg zur
Umkehr finden. Nicht die Angst vor dem Gericht sondern die Freude im
Himmel über jeden bußfertigen Sünder überwiegt. Die Einladung an die
Verlorenen, Mitleid mit den Armen und Vergebungsbereitschaft sind Aus-
druck von Jesu Menschenfreundlichkeit. Die christliche Gemeinschaft ist
aufgefordert, Jesu Anliegen in anteilnehmender Liebe und in Form einer
geschwisterlichen Gütergemeinschaft im täglichen Leben durchzusetzen.
Auch sollen sich seine Jünger durch die Verzögerung seiner Wiederkunft
nicht irremachen lassen, sondern in ständiger Bereitschaft für das Wieder-
kommen ihres Herrn leben. Diese Stunde ist zwar ungewiss aber sie könne
jederzeit hereinbrechen (z. B. 12,35–48), und man dürfe sich nicht durch
tägliche Sorgen oder Sinnesfreuden von seiner Wachsamkeit ablenken las-
sen, ansonsten könne man sein Heil verwirken.
Das Johannes Evangelium
Das Johannes-Evangelium unterscheidet sich wesentlich in Aufbau,
Sprachstil, Inhalt und in der theologischen Perspektive von den Synopti-
kern. Sein Leitmotiv ist der vom Himmel herabgestiegene Gottessohn Jesus
Christus, der in der Begegnung mit ihm den Menschen im Hier und Jetzt ei-
ne Glaubensentscheidung für oder gegen ihn abfordert, die dann entweder
Heil oder Unheil nach sich zieht.
Schematisch ist dieses Evangelium in der Abfolge von Präexistenz –
Erniedrigung – Erhöhung gegliedert. Im Prolog wird das Wesen des Got-
tessohnes als präexistentes, mitschöpfendes Wort Gottes definiert, dessen
Kommen in die Welt sich in der Form einer Selbsterniedrigung vollzieht.
Der Hauptteil thematisiert die Offenbarung des menschgewordenen Wortes,
Jesus Christus, durch seine Worte und Werke. Dieses Wirken des Gottmen-
schen führt notwendigerweise zu seinem Tod am Kreuz. In seinem Sterben
für die Welt im Gehorsam zum göttlichen Auftrag erfährt er die Erhöhung
durch seinen Vater und damit den Wiederaufstieg in den Himmel.
Im Johannes-Evangelium stechen die vielen Jesusreden (Ich bin das
Leben/das Licht/der gute Hirte/der Weinstock), die hier die Funktion von
Gleichnissen einnehmen, hervor. Die sieben Wunder, von denen einige sich
168 6. Das Neue Testament
nur bei Johannes finden, sind mit den Reden und Gesprächen integriert. Dä-
monenaustreibungen aber gibt es bei ihm nicht. Auch im Zeitschema weicht
das JohEv stark von den anderen ab. Während jene nur von einem Weg Jesu
nach Jerusalem berichten und sein Wirken auf etwa ein Jahr beschränken,
wandert der johanneische Jesus in einem Zeitraum von über zwei Jahren
mehrere Male zwischen Galiläa und Jerusalem hin und her. Gemäß den
Synoptikern wird Jesus am Passafest gekreuzigt, doch bei Johannes stirbt
Jesus den Tag vor dem Passa. Auch gibt es bei ihm kein Abendmahl mit
Einsetzung der Eucharistie sondern nur ein Abendessen mit Fußwaschung.
Das JohEv wendet sich insbesondere an Leser im engsten Gemeinde-
kreis und verfolgt den Zweck der Glaubensaufrichtung in einer Situation
von Verfolgung und Kontroversen, eine Gemeinde, die sich religiös und so-
zial an den Rand gedrängt fühlte und ganz auf sich selbst zurückgeworfen
war. Eine missionarische Ausrichtung ist nicht beabsichtigt. Seine christo-
logischen Aussagen tendieren ins Mythische, insbesondere was den Logos
betrifft. Diese hohe Christologie mit seiner Betonung auf die Einheit von
Gott, Vater und Sohn wurde von der jüdischen Umwelt als einen Abfall
vom Monotheismus interpretiert und dementsprechend mit scharfer Kritik
überzogen bis dann der Bruch mit dem Judentum schließlich als Folge des
Ausstoßes aus den Synagogen vollzogen wurde.
Die Auseinandersetzungen mit dem Pharisäertum dürften nach der Zer-
störung des Tempels 70 n. Chr. noch an Schärfe zugenommen haben. Da
nun der Tempel als Kristallisationspunkt national-religiösen Bewusstseins
ausfiel verblieb nur noch der von den Vätern überlieferte und von der
Schrift bezeugte Glaube sowie davon inspirierte Rituale als identitätsstif-
tendes, einigendes Band. Und in einer solch prekären Situation war es nicht
verwunderlich, wenn die Pharisäer häretische Elemente wie die johannei-
sche Inkarnationslehre, die ihnen als eine Form der Abgötterei erschien,
auszusondern begannen, um die Reinheit dieses Glaubens zu bewahren.
Hinzu kam, dass die christliche Anbetung Jesu als den einzigen Offenba-
rer des Willens Gottes eine Abwertung Mose, dem Verkünder des göttli-
chen Gesetzes, implizierte. So kann es nicht verwundern, dass die Pharisäer
zu drastischen Maßnahmen griffen und die Christen aus ihren Synagogen
stießen. Christen und Juden waren zu Feinden geworden. Für die Christen
gehörte das Judentum fortan zur fleischlichen Welt, da es sich durch die
Verleugnung Christi aus der Gemeinschaft mit Gott und seinem Heilswir-
6. Das Neue Testament 169
Furcht vor sozialer Ächtung nicht wagten, sich offen zu dem christlichen
Glauben zu bekennen (12,42).
Erkennbar hatte die johanneische Gemeinde ein wechselvolles Schick-
sal erlitten, das ihr auch in einer Art stufenweisen Entstehung eingeschrie-
ben erscheint. Die meisten Ausleger nehmen an, dass sie ursprünglich in
Transjordanien beheimatet gewesen war und ihre Gründung auf charisma-
tische Wanderprediger zurückgeht. Ferner legt die Sprache und Gedanken-
welt des JohEv es nahe, dass die johanneischen Christen überwiegend hel-
lenistische, also griechisch sprechende Juden waren, vereinzelt aber auch
Heidenchristen, denen die Sitten und Gebräuche der Juden in Palästina er-
läutert werden mussten (Joh 1,38.41, 19,13.17). Der Fakt, dass die Saddu-
zäer nicht mehr als selbstständige Gruppierung erwähnt werden, lässt ver-
muten, dass eine erste Grundschrift des Evangeliums erst nach 70 n. Chr.
verfasst worden war, zu einem Zeitpunkt also, als die Pharisäer die unbe-
strittene Führerschaft im Judentum an sich gerissen hatten.
Man vermutet, dass die Gemeinde aufgrund des zunehmenden Drucks
des Pharisäertums ihre angestammte Heimat verließ und wohl nach Ephe-
sus in Kleinasien auswanderte, in ein Kirchengebiet, das allerdings stark
petrinisch geprägt war. In der überarbeiteten Grundschrift wird daher der
Vorrang des Petrus als Führer der christlichen Gemeinde betont, dem Je-
sus selbst das Hirtenamt übertragen hatte (21,15ff) während dem von Je-
sus geliebten Jünger, mit dem sich gerade die johanneische Kerngemeinde
identifiziert hatte, nur noch eine Glaubensüberlegenheit zugestanden wird.
Die Rolle der Frauen wurde im Zuge einer sich verfestigenden patriarcha-
lischen Kirchenstruktur zurückgestuft. So wird in Joh 21,14 die von Maria
Magdalena erfahrende Offenbarung Jesu glatt unterschlagen. Die Redakti-
on des uns jetzt vorliegenden Textes war wohl um die Jahrhundertwende
abgeschlossen. Wer aber war ihr Autor gewesen?
Wer zum Beispiel steht hinter dem ‚Wir‘ in Joh 21,24‘? Eine Autoren-
schaft oder vielleicht doch die ganze Gemeinde? Unvermittelt aber wech-
selt im nachfolgenden Vers das ‚Wir‘ in ein ‚Ich‘. Lässt sich in diesem ‚Ich‘
vielleicht der wahre Autor, wohl der Redaktor, vermuten? Während noch
die frühkirchliche Tradition in dem Apostel Johannes den Verfasser des Jo-
hEv vermutete, bleibt deren Beweisführung, die aus Quellen aus zweiter
und dritter Hand belegt wird, mehr als fragwürdig. Könnte der Autor viel-
leicht der ‚geliebte Jünger‘ gewesen sein? War dies der Grund, warum er
6. Das Neue Testament 171
in der Schrift anonym bleibt? Jedenfalls hat das Geheimnis um die Identi-
tät des geliebten Jüngers zahlreiche Theologen angeregt, dieses Rätsel zu
lösen.
Der geliebte Jünger, falls er denn wirklich existiert haben sollte, scheint
aufgrund seiner Nähe zu Jesus eine herausragende Stellung in der Gemein-
de gehabt zu haben. Er lag an Jesu Brust und erhielt von Jesus besonders
vertrauliche Informationen wie die über die Identität des Verräters Judas
(13,23–28) während die anderen Jünger im Ungewissen blieben. Als ein-
ziger Jünger hatte er anscheinend seine Furcht überwunden und erlebte Je-
su Kreuzigung und Sterben (19,26.33–35), war am Ostermorgen am Grab
(20,2) und war derjenige, der Jesus als den Auferstandenen am See Tiberias
erkannte (21,7). Dieser Jünger hatte sich sein Ansehen durch eine besonde-
re Treue und Glaubensstärke verdient. Diese Achtung und seine Autorität
führten dazu, dass sich die Gemeinde um ihn gruppierte und seine Anwe-
senheit ihr das Gefühl gab, mit dem Jesusgeschehen verbunden zu sein.
Vorstellbar ist es, dass das JohEv in seinen Grundzügen auf den mündli-
chen und schriftlichen Hinterlassenschaften dieses Jüngers fußt. Der wirk-
liche Verfasser, der auch für den theologischen Überbau sorgte, könnte da-
mit ein Schüler des geliebten Jüngers gewesen sein, vielleicht der ‚Älteste‘
des Johannesbriefes (1 Joh 1,1); denn es gibt sprachliche und theologische
Übereinstimmungen zwischen den Briefen und dem Evangelium. Nachdem
der von Jesus geliebte Jünger an entscheidenden Stellen des Evangeliums
redaktionell eingeschrieben worden war, blieb er so der Gemeinde auch
noch nach seinem Tode präsent, womit sein Zeugnis und Einfluss vielleicht
in der Form einer johanneischen Schule weiterwirkte.
Einige Exegeten sehen in der Gestalt des geliebten Jüngers einen idea-
lisierten Repräsentanten aller Jünger, also eine fiktive Figur, die dann der
jungen Kirche als Vorbild angedient wurde. Wieder andere wollen ihn mit
Johannes, den Zebedäus-Jünger, identifizieren. Dann stellt sich aber die
Frage, warum die Söhne des Zebedäus nur beiläufig erwähnt werden (21,2).
Und ist es wahrscheinlich, dass Jesus einen seiner Jünger den anderen vor-
gezogen hatte während er doch in 13,1 betont, sie alle unterschiedslos zu
lieben? War dieser Jünger überhaupt ein Mitglied des Zwölferkreises gewe-
sen? Nirgendwo im Evangelium wird er damit in Verbindung gebracht. So
ist jeder von Auslegern vorgebrachte Vorschlag wieder in Zweifel gezogen
worden. Uns selbst erscheint es als glaubhaft, dass der geliebte Jünger kein
172 6. Das Neue Testament
anderer als Maria Magdalena selbst war, die Jesus besonders nahe stand.
Eine solche Nähe musste grundsätzlich anderer Natur sein als die Bezie-
hung zu den männlichen Jüngern. In einem späteren Kommentar werden
wir unsere Überzeugung von der Identität dieses geliebten Jüngers noch
näher begründen.
Die vorangehende Diskussion hat bereits signifikante Unterschiede des
Johannes-Evangeliums zu den Synoptikern aufgezeigt. Gerade auch im
theologischen Diskurs ist es seinen eigenen Weg gegangen. In ihm führt
der Handlungsstrang, dominiert von der Entwicklung von Glauben und
Unglauben, unausweichlich zum Kreuz. Unausweichlich, weil zum einen
die Ablehnung Jesu durch die Juden schicksalsbedingt vorgezeichnet ist;
denn er entspricht nicht ihrer messianischen Erwartung und seine Lehre
liegt quer zum traditionellen jüdischen Gottesbild. Zum anderen, weil die-
ser Weg eines stellvertretenden Sühnetodes dem Willen Gottes entspricht
(1,29). Am Kreuz findet Jesu Auftrag seine Erfüllung und gleichzeitig er-
fährt er damit seine Erhöhung. Dass gemäss der johanneischen Konzeption
der schmachvolle Kreuzestod paradoxerweise auch der Verherrlichung Jesu
dienen soll, lässt sich begreiflicherweise dem jüdischen Denken nur schwer
vermitteln.
Während bei den Synoptikern das Reich Gottes, das sich im Wirken
Jesu manifestiert, den theologischen Mittelpunkt darstellt, ist Jesus im
Johannes-Evangelium selbst wesentlicher Inhalt und Botschaft. Er ist der
himmlische Bote, der sein Einssein mit Gott als präexistenter Logos ver-
lässt, um als Mensch gewordener Sohn Gottes der Welt im Auftrag sei-
nes Vaters die Erlösung zu bringen. Er legitimiert sich durch seine Worte
und Werke und durch die Schrift (5,31ff; 8,13ff), hat den Auftrag, die Ver-
heißung des ewigen Lebens zu offenbaren (12,50), legt Rechenschaft über
seinen Auftrag ab (17,4) und kehrt schließlich nach erfolgreich abgeschlos-
sener Mission zu seinem Vater zurück (20,17).
Jesu Kommen polarisiert die Welt. Seine Lehre führt zur Spaltung so-
gar in seiner Gemeinde. Er trifft auf Hass und Ablehnung gerade bei den
Oberen der Gesellschaft (11,46ff). Auch führen seine Worte immer wieder
zu Missverständnissen, bei Anhängern als auch bei seinen Gegnern (2,18–
21; 6,41f; 7,33–36; 11,11–13; 14,8–11). In der Haltung zu ihm entscheidet
sich aber Heil oder Unheil (3,36). Dem Ungläubigen wird der Zorn Gottes
in seinem Gericht angedroht, dem Gläubigen aber das ewige Leben ver-
6. Das Neue Testament 173
heißen. Somit verschiebt sich die Heilserwartung, die traditionell mit der
Wiederkunft Christi verbunden war, zumindest teilweise bereits in die Ge-
genwart (3,15–19; 5,24) wenn auch noch am Jüngsten Tag Gericht gehalten
werden wird (12,48). Diese eigentümliche Spannung zwischen Gegenwart
und Zukunft drückt sich in der Redewendung „es kommt die Stunde und ist
schon jetzt“ (6,39) aus.
Es ist dies nicht die einzige Spannung im Johannes-Evangelium. So
tauft Jesus und dann doch wieder nicht (3,22; 4,2). Bestimmte Themen
werden wiederholt aufgegriffen und von neuem interpretiert. Es gibt zwei
Buchabschlüsse (20,30f; 21,25) und zwei Abschiedsreden Jesu (13,1ff;
15,1ff). An diesen Brüchen ist erkennbar, dass das JohEv nicht aus einem
Guss ist und im Laufe der Zeit mehrfach überarbeitet worden war. Als si-
cher ist anzunehmen, dass Kapitel 21 ein späterer Nachtrag ist.
Diese Spannungen und Brüche mögen aus theologischer Sicht Schwie-
rigkeiten geben, doch als wirklich problematisch muss die Wirkungsge-
schichte dieses Evangeliums gelten. Einerseits hat es entscheidende Impul-
se für die Entwicklung der Kirchendogmatik in Bezug auf die Trinitäts-
lehre, die Konzeption des stellvertretenden Opfertodes Jesu und das Dog-
ma der Inkarnation geliefert. Andererseits hat es gerade auch dem Anti-
Judaismus Aufwind gegeben. Die Juden werden pauschal als Repräsentan-
ten der gottfeindlichen Welt abqualifiziert. Im Evangelium werden sie als
Söhne des Teufels (8,44), Verdammte (9,39–41), Knechte der Sünde (8,34),
ja – was besonders abstoßend erscheinen muss – als Gottesmörder (5,18;
7,19) gebrandmarkt. Der Theologe Drewermann bezeichnet das JohEv als
eine „Urkunde des Judenhasses“, das mit dem Gebot der Liebe nicht ver-
einbar ist. Doch wird man dem Verfasser mit einer einseitigen Negativsicht
auch nicht gerecht; denn das Evangelium wurde in einem historischen Kon-
text von Verfolgung aufgesetzt. Auch werden die Juden nicht grundsätzlich
als böse dargestellt; denn „das Heil kommt von den Juden“ (1,47). Johannes
unterscheidet die ‚rechten Israeliten‘ (1,47) von denen, die ihn ablehnen.
Weiterhin sind da die positiven Beispiele eines Nikodemus und des Josef
von Arimathäa als auch die Reihe der heimlichen Sympathisanten unter den
Oberen (12,.42).
Zugegebenermaßen sind diese Beispiele aber eher Einzelfälle. Verur-
teilt wird immer noch der Jude (und implizit der Heide), auch wenn dieser
mustergültig der Tradition seiner Väter nachfolgt, dabei aber Jesus verwirft.
174 6. Das Neue Testament
Die Evangelien stellen so etwas wie eine Biographie des Lebens Jesu dar.
Sie beschreiben seine Herkunft, sein Wirken und seine Passion je aus ih-
rer eigenen Perspektive. Dieses Kapitel ist unter Verwendung vieler Zitate
aus der Schrift eine Art gekürzte Nacherzählung in eigenen Worten, wobei
die drei synoptischen Evangelien zu einer Erzählung harmonisiert worden
sind, da sie sich vielfach überschneiden. Auf wesentliche Abweichungen
voneinander soll aber immer wieder hingewiesen werden.
„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Au-
gustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war
die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war“
(Lk). Da Josef aus dem Geschlecht David war, machte er sich mit seiner
schwangeren Frau auf den Weg nach Bethlehem, doch fand er dort kei-
ne Unterkunft. Als Maria nun ihren ersten Sohn gebar, wickelte sie ihn in
Windeln und legte ihn in eine Krippe. Hirten, die des nachts ihre Herde hü-
teten, erschien ein Engel und der sprach: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich
verkündige euch große Freude . . . denn euch ist heute der Heiland gebo-
ren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids“ (Lk). Die Hirten
suchten Maria, Josef und das Kind auf und verbreiteten die Kunde über das
was sie erfahren und gesehen hatten. „Maria aber behielt alle diese Worte
und bewegte sie in ihrem Herzen“ (Lk).
Auch Weise aus dem Morgenland kamen nach Bethlehem, um das Kind
zu sehen. Ihnen war der Weg durch einen Stern gewiesen worden. Als sie
das Kind fanden, huldigten sie ihm und „schenkten ihm Gold, Weihrauch
und Myrrhe“ (Mt). König Herodes, dem von den Weisen Kunde über die-
sen „neugeborene(n) König der Juden“ (Mt) gegeben worden war, hatte sie
ersucht, auf dem Rückweg bei ihm einzukehren und ihm mitzuteilen wo er
zu finden sei, damit auch er ihn anbeten könne. Doch „Gott befahl ihnen im
Traum, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren“ (Mt) und einen anderen
Weg einzuschlagen.
Nach acht Tagen wurde das Kind gemäß der Tradition beschnitten, und
man gab ihm den Namen Jesus. Nachdem die der Frau gesetzlich vorge-
schriebenen Tage der Reinigung um waren, begaben sich Maria und Josef
nach Jerusalem, um im Tempel, wie angeordnet durch das Gesetz Mose,
ihr Kind dem Herrn vorzustellen. Dort begegnete ihnen ein alter, frommer
Mann namens Simeon, der freudig erregt das Kind auf seine Arme nahm
und sprach: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du
gesagt hast: denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen“ (Lk). Auch
eine Prophetin namens Hanna pries das Kind als den von ganz Israel erwar-
teten Erlöser. „Und sein Vater und seine Mutter wunderten sich über das,
was von ihm gesagt wurde“ (Lk).
Alarmiert durch einen Traum flüchteten sich die Eltern Jesu mit Kind
nach Ägypten, um der Verfolgung durch Herodes zu entgehen. Dieser ließ
alle Kinder in Bethlehem im Alter von bis zu zwei Jahren töten. Damit
178 7. Der biblische Jesus
wollte er sicherstellen, dass auch Jesus den Tod finden würde. „Als aber
Herodes gestorben war, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef
im Traum in Ägypten“ (Mt) und ließ ihn wissen, dass sie nun wieder in
ihre Heimat zurückkehren könnten. Maria und Josef zogen daraufhin ins
galiläische Land und wohnten fortan in Nazareth. „Das Kind aber wuchs
und wurde stark, voller Weisheit, und Gottes Gnade war bei ihm“ (Lk).
Als Jesus zwölf Jahre alt war gingen er und seine Eltern wie es der
Brauch war nach Jerusalem, um dort das Passafest zu feiern. Als sie nach
dem Fest wieder nach Hause zurückgingen blieb Jesus in Jerusalem zu-
rück ohne dass die Eltern seine Abwesenheit zunächst bemerkt hatten. Erst
nach einer längeren Suche fanden sie ihn schließlich im Tempel, vertieft im
Gespräch mit Gelehrten. „Alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über
seinen Verstand“ (Lk) aber seine Mutter sprach vorwurfsvoll: „Mein Sohn,
warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit
Schmerzen gesucht“ (Lk). Ihnen antwortete Jesus: „Warum habt ihr mich
gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“
(Lk). Doch sie verstanden ihn nicht. Jesus aber zog mit ihnen zurück und
blieb ihnen gehorsam während er an „Weisheit, Alter und Gnade bei Gott“
(Lk) zunahm.
„Im fünfzehnten Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius, als Pontius
Pilatus Statthalter in Judäa war und Herodes Landesfürst von Galiläa . . .
da geschah das Wort Gottes zu Johannes, dem Sohn des Zacharias, in der
Wüste“ (Lk) und er predigte: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe
gekommen“ (Mt). Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaaren und ernähr-
te sich von Heuschrecken und wildem Honig. Er belehrte das Volk, das sich
von ihm taufen ließ, mit harten Worten und forderte von ihnen als Beweis
ihrer Umkehr gute Taten. Und er sprach: „Es kommt einer nach mir, der ist
stärker als ich; und ich bin nicht wert, dass ich mich vor ihm bücke und die
Riemen seiner Schuhe löse. Ich taufe euch mit Wasser, aber er wird euch
mit dem heiligen Geist taufen“ (Mk).
Auch Jesus ließ sich von Johannes taufen. Der wollte ihm zunächst
wehren doch Jesus sprach: „Lass es jetzt geschehen“ (Mt) um der Gerech-
tigkeit willen. „Und alsbald, als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass sich
der Himmel auftat und der Geist wie eine Taube herabkam auf ihn. Und da
geschah eine Stimme vom Himmel: Du bist mein lieber Sohn, an dir habe
ich Wohlgefallen“ (Mk).
7.1. Jesu Herkunft und Rüstung 179
„Und alsbald trieb ihn der Geist in die Wüste“ (Mk). Er verweilte dort
vierzig Tage lang und wurde daselbst von dem Satan versucht. Der Versu-
cher forderte ihn auf, aus Steinen Brot zu machen und sich dadurch als Sohn
Gottes auszuweisen, doch Jesus widerstand ihm und sprach: „Der Mensch
lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem
Mund Gottes geht“ (Mt). Wieder versuchte ihn der Teufel und sagte, er sol-
le sich von der Zinne des Tempels stürzen, auf den er ihn geführt hatte, denn
ist er Gottes Sohn, so würden ihn die Engel auf Händen tragen. Jesus hielt
dem entgegen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“ (Mt).
Schließlich zeigte ihm der Teufel noch von einem hohen Berg aus all die
Herrlichkeit der Welt und versprach ihm dies alles, wenn er ihn nur anbe-
ten würde. Doch Jesus zitierte ein weiteres Mal aus der Schrift und sprach:
„Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen“ (Mt).
Daraufhin wich der Teufel von ihm eine Zeitlang und die Engel dienten
ihm.
„Und Jesus war, als er auftrat, etwa dreißig Jahre alt und wurde gehalten
für einen Sohn Josefs“ (Lk). Zu seinen Vorfahren zählten unter anderem
König David, Jakob, Abraham, ja letztlich auch Adam, der von Gott war.
Kommentar
Zum Johannes-Evangelium
keit aus, die in innigster Gemeinschaft bei dem Gott existiert und doch ihm
untergeordnet ist, und die als der wahre Autor des Schöpfungsgeschehen
zu gelten hat, wenn sie auch alles aus der göttlichen Fülle entnimmt. Die
Welt empfing durch das Wort die lebendig machenden Kräfte, die erst die
Entfaltung des Daseins ermöglichte. Aus diesem Quell des Lebens strömt
das Licht, welches als eine Art göttlicher Mitgift jeden Menschen erleuch-
tet und ihm Erkenntnis für das sittlich gebotene Verhalten verschafft. Doch
die Menschen hatten sich dieser Erkenntnis verweigert und dem moralisch
Verwerflichen hingegeben. Somit leben sie in der Finsternis, eine entartete
Menschheit, so wie sie nach dem Sündenfall gegeben war.
V 6–10: Johannes der Täufer ist nicht der Messias, das Licht, sondern
nur ein von Gott gesandter Bote und Zeuge dieses Lichtes. Ihm folgt ein
Höherer, das wahre Licht, nämlich Jesus Christus als das inkarnierte Wort.
Nun sollte man annehmen, da das Wort als Licht schon immer in der Welt
gewesen war, die Menschen ihn, als er nun persönlich in irdischer Gestalt
erschien, erkennen würden. Doch nichts dergleichen, die Welt nahm ihn
nicht an.
V 11–13: Das Wort in der Gestalt Jesus Christus kam nicht etwa in
etwas Wesensfremdes, sondern in das von ihm Geschaffene und doch traf es
überwiegend auf Ablehnung. Nur ein kleiner Rest, Gottes Kinder, erkannte
Jesu einzigartige Verbundenheit mit Gott und kam zum Glauben an ihn.
Dieser Glaube ist nicht natürlichen Ursprungs sondern eine Gabe von Gott.
V 14: Die Inkarnation, also das im Körperlichen Gestalt annehmen-
de Geistliche, ist eine Bewegung vom Verborgenen hin zum Öffentlichen,
hinein in die geschichtliche Wirklichkeit, welches die sinnliche Wahrneh-
mung ermöglicht. Anders ausgedrückt, das Wort hat sich vorübergehend
freiwillig seiner göttlichen Natur entkleidet, um der Menschheit auf dessen
irdischen Ebene zu begegnen, damit sie seine wahre Natur als Gottes Sohn
zu erkennen vermögen. In seiner Ausstrahlung, seinem Wesen und Wirken
wird seine göttliche Natur sichtbar. Er erschien voller ‚Gnade und Wahr-
heit‘ (siehe Ex 34,6), das heißt, er reflektierte die göttliche Liebe und die
wahre Wirklichkeit, die Heiligkeit Gottes.
V 15–18: Johannes der Täufer war der Zeuge, der Bote, von dem der
Prophet Malachi bereits geredet hatte (Mal. 3,1). Aus der Fülle der Liebe
Jesu dürfen alle Gläubigen, die waren und sein werden, schöpfen. Mose
7.1. Jesu Herkunft und Rüstung 181
hingegen tritt in den zweiten Rang zurück. Er war lediglich der Verkünder
des Gesetzes, die wahre Heilsgabe kommt erst durch Jesus.
Die Ähnlichkeiten des Prologs mit Genesis als auch der alttestamentli-
chen Weisheitsliteratur sind offensichtlich. Außerdem verwendet der Autor
Gedankengut aus der griechischen Philosophie. Schon der in Ephesus ge-
borene griechische Philosoph Herakleitos (geb. ca. 530 v. Chr.) sprach von
dem Logos als der letzten Wirklichkeit des Seins. Platon postulierte in sei-
ner Formenlehre die Idee des Guten als das Höchste welches sich nur dem
wirklich Weisen erschließt. Aristoteles setzte den Logos mit der Weltver-
nunft gleich und die Stoiker behaupteten, dass der Logos als Weltgesetz
den ganzen Kosmos durchdringe und der Logos-Gott Ursprung allen Seins
ist. Der späte Stoizismus neigte dazu, den Logos zu personifizieren und
der Neu-Platonismus lehrte, dass Gott den Geist/Intellekt hervorbringt, aus
dem wiederum die Weltseele entspringt. Hier ist bereits der trinitarische
Gedanke erkennbar.
Über die mystisch-spekulativen Höhenflüge des Johannes sollte man
sich nicht verwundern, war es doch gerade Ephesus, wohin die johannei-
sche Gemeinde ausgewandert war, ein veritabler Marktplatz konkurrieren-
der religiöser Ideen aus Griechenland, Ägypten und Persien, der immer
wieder die synkretistische Verschmelzung dieser Ideen anheizte und Phan-
tasien beflügelten, die einen schnöden Realismus hinter sich ließen. Kann
man sich denn eine wirklichkeitsnahe Vorstellung von der Inkarnation ma-
chen, dem Übergang vom Göttlichen zum Menschlichen hin? Johannes
stellt es als eine Tatsache hin, über den Vorgang hüllt er sich in Schwei-
gen. Bei Matthäus und Lukas stellt es sich als eine Art göttlichen Zeu-
gungsakt dar. War der heilige Geist vermittelnder Spender der Wesenheit
des Wortes? Oder war im Gegensatz zu den Synoptikern das Wort selbst
die lebensspendende Kraft gewesen, die analog dem männlichen Samen ir-
gendwie die Übertragung einer genetischen Erbstruktur auf das weibliche
Ei veranlasst hatte?
Trug Jesus das göttliche Bewusstsein verkapselt in sich bis es zum Zeit-
punkt der Taufe in ihm geweckt wurde? Wenn ja, in welcher Beziehung
standen dann irdisches und göttliches Bewusstsein? Auf jeden Fall dürfte
seine göttliche Natur eingeschränkt gewesen sein, war er doch nicht all-
wissend gewesen. So hatte er zum Beispiel seine Wiederkunft irrtümlich in
naher Zukunft erwartet (Mk 13,26.30). Der johanneische Jesus allerdings
182 7. Der biblische Jesus
hatte ein erstaunliches Vorherwissen. Nicht nur wusste er, was im Men-
schen war (2,25), er wusste im voraus um den Tod des Lazarus (11,14),
kannte natürlich seinen Verräter und wusste bei seiner Gefangennahme al-
les, „was ihm begegnen sollte“ (18,4). Woher hatte er nun all dieses Wissen
bekommen? War es aufgrund seiner besonderen Verbindung zur Gottheit
und damit dank eines privilegierten Zugangs zur göttlichen Quelle der All-
weisheit?
Diese Problematik von der Beziehung zwischen Jesu göttlicher und ir-
discher Natur hat Hundertschaften von Theologen beschäftigt und der Bil-
dung von kirchlichen Dogmen Vorschub geleistet. In neuerer Zeit hat de
Birans Philosophie des Geistes einen weiteren Beitrag dazu geleistet, eine
geglaubte transzendente Wirklichkeit anschaulich zu machen indem er Par-
allelen zu dem intrasubjektivem Bewusstsein des Menschen zieht. Für ihn
ist die Beziehung zwischen den zwei Naturen Jesu analog zu dem Verhält-
nis von Ich und Seele im Menschen. Nur schafft er es nicht, die lediglich
behauptete Existenz einer Seele plausibel zu machen. Daran war wie man
weiß, ja bereits Descartes gescheitert. Man soll doch bitte erst einmal er-
klären, wie eine immaterielle Substanz wie die Seele mit Materie wie dem
menschlichen Körper in Verbindung treten kann? Was immer sich in Raum
und Zeit befindet muss eine gewisse Ausdehnung haben und damit eine
bestimmte Position in diesem Raum besetzen und dies kann nur Materie
sein. Jegliche Materie aber ist teilbar und was teilbar ist, kann daher nicht
unsterblich sein wie man es von der Seele behauptet.
Abschließend sei vermerkt, dass gerade beim Johannes-Evangelium die
Vergöttlichung Jesu deutlich wird. Kritiker haben dem Christentum schon
immer vorgeworfen, dass mit dieser Vergottung der Boden des Monotheis-
mus verlassen worden ist.
Zu den synoptischen Evangelien
Es fällt zunächst einmal auf, dass nur Matthäus und Lukas aus der Kindheit
Jesu erzählen während das ältere Evangelium des Markus gleich mit Je-
su Taufe einsetzt. Das deutet darauf hin, dass man praktisch nichts über
Jesu frühen Jahre wusste und die Erzählungen der beiden Autoren eher
fiktiv sind. Für diese Annahme spricht auch die Tatsache, dass sich bei-
de Kindheitsgeschichten ganz und gar voneinander unterscheiden. Wenn
Jesu Leben wirklich durch Herodes gefährdet gewesen war und sich die El-
tern dieser Gefahr durch die Flucht nach Ägypten entzogen hatten, warum
7.1. Jesu Herkunft und Rüstung 183
berichtet uns Lukas nichts darüber? Man hat den Eindruck, dass diese Ge-
schichten gewählt wurden, weil sie in die Perspektive des jeweiligen Autors
passten, hier die ständige Bedrohung Jesu Leben von Anfang an, dort seine
mit pulsierenden Jubel und Freude begrüßte Geburt.
Man wird diese Geschichten wohl als fromme Legenden begreifen
müssen. Weder können der Zeitpunkt von Jesu Geburt historisch sicher ein-
geordnet noch die in der Bibel erwähnten Ereignisse glaubwürdig bezeugt
werden. Wir wissen einfach nichts darüber, außer was in der Bibel steht
und die bietet keine objektive Geschichtsschreibung. Das zeigt sich bereits
beim Versuch einer Datierung von Jesu Geburt. Matthäus berichtet, dass Je-
sus während der Regentschaft des Herodes geboren wurde. Herodes starb
4 v. Chr.. Lukas hingegen setzt seine Geburt zum Zeitpunkt an als Quiri-
nius Statthalter war. Der wurde aber erst im Jahre 6 n. Chr. eingesetzt. So
sind beide Kindheitsgeschichten nicht miteinander zu harmonisieren. Auch
Lukas Erwähnung der von Augustus angeordneten Schätzung stimmt nicht
ganz mit den historischen Fakten überein. Die Schätzung wurde anberaumt
weil Judäa im Jahre 6 n. Chr. römische Provinz wurde, doch basierte die
Steuer nicht auf einer Ahnenliste sondern auf dem Grundvermögen. So gab
es für Jesu Eltern überhaupt keine Verpflichtung, nach Judäa zu kommen;
denn für Galiläa, das von Herod Antipas regiert wurde, galt die Anordnung
nicht. Warum also sollten sich Maria und Josef nach Bethlehem bemühen,
wo Maria zudem hochschwanger und kaum reisetüchtig war, wenn es nicht
gerade ein Anliegen des Autors war, die Reise in den Dienst einer prophe-
tischen Erfüllung zu stellen? Diese sah ja voraus, dass Israels Erlöser aus
dem Hause David und daher aus Bethlehem kommen würde.
Auch die Erzählung des Matthäus entbehrt jeglicher historischen
Grundlage. Den Stern hat man vergeblich versucht, mit Halleys Kometen
zu identifizieren. Sollte man ihn sich wohl als eine Art kosmische Lampe
vorstellen, die aus den Weiten des Universums gerade die Hütte in Beth-
lehem angestrahlt hatte, damit die Weisen auch den richtigen Weg finden?
War er denn für andere nicht sichtbar? So erklärt es sich doch wohl, warum
Herodes die Weisen bitten muss, ihm den Ort der Geburt Jesu mitzutei-
len. Sonst hätte er ja auch seine Soldaten losschicken können, diesen zu
suchen, indem sie dem Leuchten des Sterns folgen. Es spricht viel dafür,
dass Matthäus, für den gerade die Erfüllungszitate so wichtig sind, eine al-
te Weissagung des Sehers Bileam in seine Erzählung eingebaut hatte, die
184 7. Der biblische Jesus
da lautet: „Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel
aufkommen“ (Num. 24,17).
Der Stammbaum Jesu hat lediglich symbolische Bedeutung. Eigentlich
ist dies ja auch nicht sein Stammbaum sondern der des Josef, der besten-
falls als der rechtliche aber nicht als der biologische Vater Jesu gelten kann.
Vergleicht man die Ahnenlisten von Matthäus (1,1–17) und Lukas (3,23–
28), so wird klar, dass sie völlig inkompatibel miteinander sind. Sie haben
nur wenige Namen wie Josef, David, Isai, Obed, Boa, Juda, Jakob, Isaak
und Abraham gemeinsam während Lukas Ahnenreihe bis ganz zu Adam
zurückreicht. Bei Matthäus ist die symbolische Zahl 7 der Schlüssel zum
Verständnis der Gliederung der Ahnenliste; denn es sind 14 (2x7) Gene-
rationen von Abraham bis David, wieder 14 Generationen von David bis
zur babylonischen Gefangenschaft und von da noch einmal 14 Glieder bis
zu Jesus (1,17). Wichtig ist natürlich, dass David Teil dieser Ahnenreihe
ist, legitimiert dies doch Jesus als den messianischen Erlöser mit dem die
prophetischen Weissagungen erfüllt sind.
Die Erzählung des Lukas vom zwölfjährigen Jesus im Tempel ist eigen-
tümlich. Maria reagiert auf das Fernbleiben Jesu wie es wohl jede irdische
Mutter tun würde und macht ihm darob Vorwürfe. Hatte Maria momentan
vergessen, dass sie doch in Jesus einen göttlichen Sohn hatte? Und warum
wunderten sich seine Eltern über das was der fromme Simeon über ihren
Sohn sagte (Lk 2,33)? Waren die Erinnerungen an die himmlische Drama-
turgie bei seiner Geburt, die verschiedenen Auftritte des Engels des Herrn,
die Begegnung mit Elisabeth usw. irgendwie aus ihrem Gedächtnis ent-
schwunden?
Solcherlei Zweifel waren der offiziellen Kirche aber nicht gekommen
und so war Marias Aufstieg zur Gottesmutter und die damit verbundene
Marienfrömmigkeit unaufhaltsam. Schließlich wurde Maria auch noch zur
ewigen Jungfrau erklärt, die in den Himmel aufgenommen wurde. Aller-
dings weiß die Bibel nichts von einer bleibenden Jungfräulichkeit, hatte
Jesus doch leibliche Geschwister (Mt 12,46f; 13,55f). Für die Idee der gött-
lichen Mutter finden sich auch reichlich antike Vorbilder, so wie in der
ägyptischen Mythologie das heilige Paar Isis und Osiris mit dem Horus-
knaben. Entwicklungsgeschichtlich mag man in diesem Marienglauben ei-
ne Art Wiederkunft der aus der patriarchalischen Gesellschaft verdrängten
ursprünglichen Mutter-Göttin sehen.
7.1. Jesu Herkunft und Rüstung 185
bei der Taufe lässt auf einen Einschnitt vermuten. Jetzt wird die göttliche
Berufung in Gestalt einer Taube, dem Symbol des Friedens, offensichtlich.
Nicht die Angst vor dem drohenden Gericht soll die Menschen zu Gott
führen, sondern sie sollen sich ihm in vertrauensvoller Hoffnung auf Ver-
gebung und Barmherzigkeit zuwenden. Nicht die Bestrafung durch Gott
sondern die Versöhnung mit ihm treten in den Vordergrund.
Im Rückzug in die Einsamkeit der Wüste wird Jesus noch einmal ganz
auf sich selbst zurückgeworfen, um in Reflektion sich seiner tiefsten Ge-
fühle zu vergewissern und zu einer inneren Einheit und Selbstgewissheit
zu gelangen. Erreicht wird dies durch eine gelungene Integration von Geist
und Trieb wobei nicht das Streben nach Macht, Besitz und Status das Den-
ken und Handeln beherrscht sondern spirituelle Werte wie Liebe und Glau-
be als auch ein Gottvertrauen vorrangig sind, die den Menschen durch die
Sorgen des Alltags tragen. Dies ist der Ort der Bewährung und Erprobung,
nicht unähnlich den Prüfungen, die sich der alttestamentliche Hiob unter-
ziehen musste, um seine Gottestreue unter Beweis zu stellen. Die symbo-
lische Zahl von 40 Tagen in der Wüste soll an die 40 Jahre Wüstenwan-
derung des Volkes Israels erinnern, eine Zeit, die sich durch die besondere
Nähe Gottes heraushebt. Damals wurde der Charakter der Nation durch
viele schmerzhafte Erfahrungen getestet und geformt. Jesus, nach bestan-
dener Prüfung, ist nun befähigt und bereit, sich den Anforderungen seiner
Berufung zu stellen.
1.19 ff Abgesandte der Pharisäer und Priester wollten von Johannes den
Täufer wissen, wer er denn sei? Er sei weder der Christus, noch Elia, noch
ein Prophet, antwortete er ihnen, nur die „Stimme eines Predigers in der
Wüste“, der den Weg des Herrn ebnen solle. Sie fragten ihn weiter, warum
er denn taufe wenn er doch gar kein Prophet wäre. Er antwortete ihnen,
dass er wohl mit Wasser taufe, aber demjenigen, der bereits in ihrer Mitte
sei, wäre er es nicht einmal wert, ihm die Schuhriemen zu lösen.
Am nächsten Tag sah Johannes Jesus auf sich zukommen und sprach:
„Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“ von dem ich gesagt
habe, „er war eher als ich“. Er taufte Jesus und bezeugte, den Geist wie eine
7.2. Jesu Wirken durch Verkündigung, Lehre und Heilen 187
Gott mit ihm wäre. Jesus sprach zu ihm: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir:
Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich
Gottes nicht sehen“. Nikodemus verwunderte sich; denn er verstand nicht,
dass jemand zweimal geboren werden könne. Jesus aber gab ihm zu ver-
stehen, dass diese zweite Geburt „aus Wasser und Geist“ sei und nur so
jemand „in das Reich Gottes kommen“ kann. Er verglich diese Geburt mit
dem Sausen des Windes, der kommt und bläst wohin er will. Da Nikode-
mus weiterhin unverständig blieb schalt ihn Jesus: „Bist du Israels Lehrer
und weißt das nicht?“ Wenn ihm schon irdische Dinge ein Rätsel seien wie
soll er dann erst an solche von himmlischer Natur glauben können.
So „wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat“, so wird auch der
Menschensohn erhöht werden und gen Himmel auffahren, „damit alle, die
an ihn glauben, das ewige Leben haben. Denn also hat Gott die Welt geliebt,
dass er seinen eingeborenen Sohn gab“. Seinen Sohn hat Gott „nicht in
die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn
gerettet werde. Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht
glaubt, der ist schon gerichtet“. Dieser ist das Licht durch den die Wahrheit
und das Gott wohlgefällige Tun offenbar wird. Wer aber Böses tut hasst
und scheut das Licht.
Während Johannes weiterhin hoch im Norden taufte, kam Jesus mit
seinen Jüngern nach Judäa und taufte dort. An Jesu wachsender Popularität
entzündete sich ein Streit zwischen den Jüngern der beiden, doch Johannes
wollte sich daran nicht stören, und es erfreute ihn sogar; „denn er muss
wachsen, ich aber muss abnehmen“, ist dieser doch von Gott.
4. Auch den Pharisäern war Jesu wachsende Anhängerschaft aufgefal-
len, doch selber taufte er nicht, „sondern seine Jünger“. Er wanderte weiter
und kam zu einer Stadt in Samarien, in der sich Josefs Grab befand. Wäh-
rend seine Jünger in den Ort gingen, um Essen zu kaufen, setzte er sich,
müde und durstig von der langen Reise, an Jakobs Brunnen und bat ei-
ne Frau um Wasser. Die Frau verwunderte sich ob dieser Bitte, herrschte
doch Feindschaft zwischen den Juden und Samaritern. Wenn sie nur wüss-
te, wen sie vor sich habe, sprach Jesus, dann würde sie ihn selbst um le-
bendiges Wasser bitten. Die erstaunte Frau fragte ihn, woher er denn ein
solches Wasser nähme und ob er sich wohl als größer erachte als Vater Ja-
kob. Jesus antwortete: Das Wasser aus dem Brunnen löscht den Durst nur
vorübergehend, sein Wasser aber ist die Quelle des ewigen Lebens. Die Ver-
7.2. Jesu Wirken durch Verkündigung, Lehre und Heilen 189
Als Jesus wieder nach Kapernaum am See Genezareth kam trat ihm ein
römischer Hauptmann entgegen und ersuchte ihn um die Heilung seines
Knechtes, doch sei er es nicht wert, dass Jesus in sein Haus eintrete. Nur
um ein Wort bat er ihn, dass sein Knecht wieder gesund werde. Auch ich,
so sagte der Hauptmann, habe Vollmacht über meine Soldaten und was ich
ihnen befehle, das tun sie. Jesus aber wunderte sich und sagte: „Wahrlich,
ich sage euch. Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden“
(Mt). Es werden viele aus dem Osten und Westen mit Abraham, Isaak und
Jakob im Himmelreich Aufnahme finden, aber die „Kinder des Reichs“
werden in die Finsternis gestoßen. Jesus wandte sich an den Hauptmann
und sagte: Es geschehe wie du gebeten hast und von der Stunde an wurde
der Knecht wieder gesund.
Jesus ging hinein nach Kapernaum und lehrte in der Synagoge. Die
Menschen, die ihn hörten, waren bestürzt; denn er lehrte mit Vollmacht,
nicht wie die Schriftgelehrten. In der Synagoge befand sich auch ein
Mensch mit einem „unreinen Geist“ (Mk) und Jesus bedrohte ihn, sodass
er ausfuhr. Und alle waren entsetzt, dass sogar die Geister ihm gehorchten.
Von der Synagoge gingen Jesus und seine Jünger in das Haus des Petrus,
dessen Schwiegermutter mit Fieber darniederlag. Jesus fasste sie bei der
Hand und das Fieber verließ sie. Sogleich stand sie auf und diente ihnen.
Das Volk brachte ihre Kranken zu ihm und er heilte viele von ihnen, trieb
auch böse Geister aus. Das Gedränge war so stark, „dass sie nicht einmal
essen konnten. Und als die Seinen hörten, machten sie sich auf und wollten
ihn festhalten; denn sie sprachen: Er ist von Sinnen“ (Mk). Am nächsten
Tag aber zog Jesus weiter; denn er wollte auch anderswo lehren und heilen.
Es kam dann zu ihm ein Aussätziger, der ihn kniefällig bat: „Willst du,
so kannst du mich reinigen“ (Mk). Der Mann jammerte ihn und so streckte
Jesus seine Hand aus, rührte ihn an und sprach: Ich will, sei rein. „Und
sogleich wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein“ (Mk). Jesus schärfte
ihm ein, niemanden etwas von der Heilung zu sagen, aber dem Gebot Mose
zu folgen, sich dem Priester zum Zeugnis zu zeigen und dem Herrn ein
Opfer zu bringen.
„Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum, und es wur-
de bekannt, dass er im Hause war“ (Mk). Es kamen auch einige, die brach-
ten auf einer Bahre einen Gelähmten. Wegen des Andrangs der Menge er-
stiegen sie das Dach, öffneten es und ließen die Bahre zu Jesus herab. „Als
7.2. Jesu Wirken durch Verkündigung, Lehre und Heilen 191
nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn,
deine Sünden sind dir vergeben“ (Mk). Einige Schriftgelehrte, die auch an-
wesend waren, empörten sich und sagten: Er lästert Gott, denn keiner kann
Sünden vergeben als Gott allein. Jesus, der ihre Gedanken erkannte, sagte:
Warum denkt ihr Böses? Was ist leichter zu sagen, deine Sünden sind dir
vergeben oder stehe auf und geh? Damit ihr aber erkennt, dass der Men-
schensohn Vollmacht hat auf Erden befehle ich diesem Gelähmten: Steh
auf und geh! Sprachs‘ und der Mann richtete sich auf, nahm seine Bahre
und ging heim. Alles Volk aber fürchtete sich und pries Gott für die Macht,
die er einem Menschen gegeben hatte.
Als Jesus wieder hinausging zum See, kam er am Zollhaus vorbei und
erblickte Levi. Er forderte ihn zur Nachfolge auf und Levi folgte ihm. Ein
Gastmahl wurde anberaumt und Jesus speiste, sehr zum Verdruss der Pha-
risäer, mit den Zöllnern und anderen, die als Sünder galten. Jesus, der ihren
Tadel vernahm, sagte: Die Gesunden bedürfen nicht des Arztes, sondern
die Kranken. Ich wurde nicht zu denen gesandt, die gerecht vor Gott leben
sondern zu den Sündern, um sie zu rufen.
Es kamen auch die Jünger des Johannes zu Jesus und fragten ihn,
warum er und seine Jünger nicht fasten. Er aber antwortete ihnen: Warum
sollen die Hochzeitsgäste fasten wenn doch ihr Bräutigam anwesend ist.
Wenn er aber von ihnen genommen wird, dann werden sie fasten. Es ist
doch so: niemand flickt einen alten Lappen auf ein neues Tuch und nie-
mand gießt neuen Wein in alte Schläuche. Tut er es doch, so zerreißt es den
Lappen und den Schlauch.
„Und es begab sich, dass er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und
seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen“ (Mk). Die
Pharisäer sagten, dies sei nicht erlaubt am Sabbat. Jesus aber erwiderte, in
der Schrift steht, dass auch David und seine Gefährten in der Not sich über
das Gebot hinweggesetzt und die Brote des Tempels verzehrt hatten. Und er
sprach weiter: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht
der Mensch um des Sabbat willen. So ist der Menschensohn ein Herr auch
über den Sabbat“ (Mk).
An einem anderen Sabbat ging Jesus wieder in die Synagoge und dort
war jemand mit einer verkrüppelten Hand. Jesus forderte ihn auf: „Tritt
hervor“ (Mk). Die Pharisäer aber lauerten darauf, was er nun tun werde.
Jesus fragte sie: „Soll man am Sabbat Gutes tun oder Böses tun, Leben
192 7. Der biblische Jesus
erhalten oder töten?“ (Mk). Als sie schwiegen, setzte er hinzu: Wenn einem
von euch ein Schaf am Sabbat in eine Grube fällt, zieht ihr es nicht wieder
heraus? Jesus wurde zornig und sagte zu dem Menschen: „Strecke deine
Hand aus!“(Mk) und als er sie ausgestreckt hatte, wurde sie wieder gesund.
Die Pharisäer aber hielten Rat, wie sie Jesus umbringen könnten.
Jesus lehrte weiter in den Synagogen und heilte dort auch andere Kran-
ke am Sabbat, so eine Frau, die schon seit achtzehn Jahren mit einem ver-
krümmten Rücken leben musste als auch einen Menschen, der wassersüch-
tig war. Die Pharisäer aber wurden ihm zunehmend feindseliger.
Als Jesus durch die Städte und Dörfer in Galiläa zog, lehrte und heilte
er viele Gebrechen. Ihn jammerte das Elend der Menschen und er klagte
seinen Jüngern: „Die Ernte ist groß, aber wenige sind die Arbeiter“ (Mt).
So rief er seine Jünger zusammen, gab ihnen Vollmacht zu heilen und un-
reine Geister auszutreiben. „Geht aber und predigt und sprecht: Das Him-
melreich ist nahe herbeigekommen“ (Mt). Es waren aber Zwölf, die er aus-
sandte, unter ihnen Simon und Andreas, Johannes und Jakobus, Matthäus,
Thomas und Judas Iskariot. Er gebot ihnen, auf ihrem Wege nichts weiter
mitzunehmen, „als allein einen Stab, kein Brot, keine Tasche, kein Geld
im Gürtel“ (Mk), nur Schuhe und Hemden zum Wechseln. Wenn ihr in ein
Haus kommt und es nimmt euch auf, so bietet ihm den Gruß des Friedens
und bleibt dort bis ihr weiterzieht. Lehnt euch jedoch ein Haus oder eine
Stadt ab, dann geht hinaus und schüttelt den Staub von euren Füßen. So-
gar Sodom und Gomorra wird es am Tage des Gerichts besser ergehen als
solch einer Stadt. „Siehe, ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe. Dar-
um seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben“ (Mt).
Um meinetwillen wird man euch den Autoritäten überantworten und euch
geißeln. Wenn ihr Rede zu stehen habt, sorgt euch nicht; denn in rechter
Zeit wird euch der heilige Geist eingeben was ihr sprechen sollt. Ihr werdet
aber gehasst werden, um meines Namens willen und in der Familie werden
sich die Kinder gegen ihre Eltern erheben und „ein Bruder den andern dem
Tod preisgeben“ (Mt). „Wer aber bis an das Ende beharrt, der wird selig
werden“ (Mt).
Eines Tages wurde ein Besessener zu Jesus gebracht und er heilte ihn.
Die Schriftgelehrten aber behaupteten, er treibe die bösen Geister durch
den Beelzebub aus. Jesus aber entgegnete ihnen, wie denn ein Haus, das
in sich uneins ist, bestehen kann und wie das Reich Satans Bestand haben
7.2. Jesu Wirken durch Verkündigung, Lehre und Heilen 193
könne, wenn er sich nun gegen sich selbst stellt. Und wenn ich mit Hilfe
Satans die unreinen Geister austreibe, mit wessen Hilfe tun es dann eure
Söhne? Ich aber sage euch: Alle Sünden werden den Menschen vergeben,
auch dem, der gegen den Menschensohn redet. Wer aber den heiligen Geist
lästert, dem kann nicht vergeben werden. „Ihr Schlangenbrut, wie könnt ihr
Gutes reden, die ihr böse seid?“ (Mt). So wie ein guter Baum gute Früchte
hervorbringt, ein fauler aber schlechte, so erkennt man auch den Menschen
an seinen Früchten. Es wird der Tag kommen, da ihr vor Gott für all eure
falschen Worte Rechenschaft abzulegen habt.
„Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen,
schickten zu ihm und ließen ihn rufen“ (Mk). Jesus fragte: Wer sind meine
Mutter und meine Brüder? Er deutete auf die, welche mit ihm im Kreise
saßen und sagte: „Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!
Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und
meine Mutter“ (Mk).
Am Abend ließ sich Jesus im Boot ans andere Ufer fahren. Als sie nun
im Boot saßen, da erhob sich ein gewaltiger Wirbelsturm. Die Jünger weck-
ten Jesus, der hinten im Boot schlief, da sie um ihr Leben bangten. Jesus
erhob sich, bedrohte den Wind und sofort herrschte eine große Stille. Er
schalt die Jünger ob ihres kleinmütigen Glaubens; sie aber sagten zueinan-
der: Wer ist der, dem sogar Wind und Wasser gehorchen?
„Und sie kamen ans andere Ufer des Sees in die Gegend der Gerasener“
(Mk). Aus den Grabhöhlen kam ihnen ein Mann mit einem unreinen Geist
entgegen. Niemand war in der Lage, ihn zu bändigen, auch Ketten und Fes-
seln konnten ihn nicht halten. Er fiel vor Jesus nieder und beschwörte ihn,
ihn nicht zu quälen; denn Jesus hatte dem Geist befohlen, auszufahren. So
fragte ihn Jesus: „Wie heißt du? Und er sprach: Legion heiße ich; denn wir
sind viele“ (Mk). Und die unreinen Geister baten Jesus, er möge sie in die
Säue fahren lassen. So geschah es. Als aber die Geister in die Säue fuhren,
da geriet die Herde in Aufruhr, stürmte den Abhang hinunter und ersoff in
der See. Der Besessene war nun verständig, bekleidet und saß bei Jesus,
der ihm anbefahl, in sein eigenes Heim zurückzukehren und die ihm wider-
fahrene Wohltat in seinem Kreis zu verkündigen. Die Leute aber, die dieses
Geschehen beobachtet hatten, baten Jesus, er möge ihr Gebiet verlassen.
Am anderen Ufer erwartete ihn bereits eine große Menge. Der Vorste-
her einer Synagoge kam zu Jesus, fiel ihm zu Füßen und bat ihn inständig,
194 7. Der biblische Jesus
sein Haus aufzusuchen und seiner Tochter zu helfen, die im Sterben liege.
Als sich Jesus auf den Weg machte, näherte sich ihm von hinten unbemerkt
eine Frau, die schon seit zwölf Jahren an Blutfluss litt und der kein Arzt
helfen konnte. Als sie den Saum seines Gewandes berührte, spürte sie, dass
sie geheilt war. Jesus aber hatte gemerkt, dass eine Kraft von ihm ausge-
gangen war und sprach: „Wer hat meine Kleider berührt?“ (Mk). Zitternd
bekannte sich die Frau dazu. Jesus aber sprach: „Meine Tochter, dein Glau-
be hat dich gesund gemacht; geh hin in Frieden“ (Mk). Als sich nun Jesus
dem Haus des Vorstehers näherte, teilten ihm Leute mit, dass die Hilfe zu
spät käme; denn die Tochter war bereits verstorben. Er aber sagte, sie ist
nicht tot sondern sie schläft. Die Menschen verlachten ihn, doch Jesus ließ
sich nicht beirren und trieb sie davon. Nur zusammen mit den Eltern und
engsten Jüngern betrat er das Zimmer des Mädchens, ergriff sie bei der
Hand und sagte: „Mädchen, ich sage dir, steh auf!“ (Mk). Sogleich rührte
sich das Kind, stand auf und ging umher. Es war zwölf Jahre alt. Die Leute
entsetzten sich über alle Maßen. Jesus „gebot ihnen streng, dass es niemand
wissen sollte“.
„Und als Jesus von dort weiterging, folgten ihm zwei Blinde, die schrie-
en: Ach, du Sohn Davids, erbarme dich unser“ (Mt). „Da berührte er ihre
Augen und sprach: Euch geschehe nach eurem Glauben! Und ihre Augen
wurden geöffnet“ (Mk). Als sich die Kunde von seinem Wirken im Lande
verbreitete, kamen immer mehr Kranke in der Hoffnung geheilt zu werden
zu Jesus und er heilte sie: „Gelähmte, Verkrüppelte, Blinde, Stumme und
viele andere“ (Mt). So heilte er im Gebiet der Zehn Städte einen Taubstum-
men, dem er seine Finger in die Ohren tat und seine Zunge mit Speichel
berührte. Ein andermal machte er einen Blinden wieder sehend, indem er
ihm Speichel auf die Augen strich.
Jesus kam wieder in seine Heimatstadt und lehrte in der Synagoge. Er
öffnete das Buch, das ihm gereicht wurde und las aus der Schrift des Pro-
pheten Jesaja (61,1f): „Der Geist des HERRN ist auf mir, weil er mich ge-
salbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt,
zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden,
dass sie sehen sollen.“ Er tat das Buch zu, setzte sich und sagte in die er-
wartungsvolle Stille hinein: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor
euren Ohren“ (Lk). Seine Hörer aber verwunderten sich ob seiner Weisheit
und sagten: „Ist er nicht der Zimmermann, Marias Sohn, und der Bruder
7.2. Jesu Wirken durch Verkündigung, Lehre und Heilen 195
des Jakobus . . . Sind nicht auch seine Schwestern hier bei uns? Und sie
ärgerten sich an ihm“ (Mt). „Jesus aber sprach zu ihnen: Ein Prophet gilt
nirgends weniger als in seinem Vaterland und bei seinen Verwandten und in
seinem Hause“ (Mk). So konnte Jesus wegen ihres Unglaubens nur wenige
Menschen heilen.
Als Johannes der Täufer von Jesu Wirken berichtet wurde, sandte er
zwei seiner Jünger zu Jesus, ihn zu fragen, ob er derjenige sei, den Israel
erwarte. Jesus sprach zu ihnen: Berichtet Johannes was ihr seht und hört:
„Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören,
Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist,
wer sich nicht an mir ärgert“ (Mt). Jesus richtete sich hernach an das Volk
und fragte es, was sie von Johannes erwartet hatten. Er ist ein Prophet, ja
mehr als das. Zwar ist er nicht königlich gekleidet, doch ist er derjenige
von dem geschrieben steht, dass er den Weg bereiten soll. „Und wenn ihr’s
annehmen wollt: er ist Elia, der da kommen soll“ (Mt). Das Volk ließ sich
von ihm taufen, nicht aber so die Pharisäer; denn diese verachteten den Rat-
schluss Gottes. Was soll man von diesem Menschengeschlecht halten, fuhr
Jesus fort: „Johannes der Täufer ist gekommen und aß kein Brot und trank
keinen Wein; so sagt ihr: Er ist besessen. Der Menschensohn ist gekom-
men, isst und trinkt, so sagt ihr: Siehe, dieser Mensch ist ein Fresser und
Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder“ (Lk).
Einer der Pharisäer lud Jesus zum Essen ein. Auch eine Sünderin trat
in das Haus, setzte sich zu Jesu Füßen und benetzte sie weinend mit ihren
Tränen. Gleichfalls nahm sie das mitgebrachte Salböl, küsste seine Füße
und salbte sie. Sein Gastgeber aber empörte sich darüber, dass Jesus sich
mit einer Sünderin eingelassen hatte. Jesus aber wies ihn mit diesen Worten
zurecht: „Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für
meine Füße gegeben, diese aber hat meine Füße mit ihren Tränen benetzt
und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben, diese
aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu
küssen . . . Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn
sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig“
(Lk).
Als Jesus weiterzog, da begleiteten ihn auch viele Frauen, die er geheilt
hatte, unter ihnen Maria Magdalena, „von der sieben böse Geister ausge-
fahren waren“ (Lk). Er aber fing an, Weherufe über Kapernaum und Bet-
196 7. Der biblische Jesus
saida auszustoßen, da sie sich nicht zur Umkehr bereit gezeigt hatten und
prophezeite ihnen ein schweres Los im letzen Gericht.
Da kamen einige Pharisäer zu Jesus, „versuchten ihn und forderten von
ihm ein Zeichen vom Himmel“ (Mk). Er aber sagte: Ihr Heuchler, das Wet-
ter wisst ihr zu deuten und auch über das Aussehen von Himmel und Erde
zu urteilen, „warum aber könnt ihr über diese Zeit nicht urteilen?“ (Lk).
Euch wird nur das Zeichen des Propheten Ninive gegeben. „Denn wie Jona
drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird der Men-
schensohn drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein“ (Mt). Über
euch aber wird das Gericht urteilen.
„Und es kam dem König Herodes zu Ohren; denn der Name Jesus war
nun bekannt. Und die Leute sprachen: Johannes der Täufer ist von den To-
ten auferstanden, darum tut er solche Taten. Einige aber sprachen: Er ist
Elia, andere aber: Er ist ein Prophet wie einer der Propheten“ (Mk). Nun
hatte Herodes Johannes gefangen nehmen lassen, da dieser ihn wegen sei-
ner ungesetzlichen Heirat mit Herodias, der Frau seines Bruders Philippus,
gerügt hatte. Nur wagte er es nicht, ihn zu töten, da Johannes vom Volk als
Prophet verehrt wurde. Es kam aber der Geburtstag des Herodes zu dem die
Großen seines Landes eingeladen waren. Salome, die Tochter der Herodi-
as, tanzte vor den Gästen und Herodes war über die Maßen von ihr beein-
druckt. So versprach er unter Eid, ihr jede Bitte zu erfüllen, „bis zur Hälfte
meines Königreichs“ (Mk). Die Mutter aber stiftete ihre Tochter dazu an,
von ihm das Haupt des Johannes auf einer Schale zu fordern. Der König
war betrübt, aber wegen seiner Gäste und des Eides, den er dem Mädchen
gegeben hatte, musste er ihrem Wunsch nachgeben. So befahl er, Johan-
nes zu enthaupten. Wie von ihr verlangt, wurde sein Haupt dem Mädchen
auf einer Schale übergeben. Sein Leichnam wurde später von den Jüngern
begraben.
Jesus zog sich mit den Zwölfen an eine einsame Stätte zurück, doch die
Menge folgte ihm. „Und sie jammerten ihn, denn sie waren wie Schafe, die
keinen Hirten haben“ (Mk). Er heilte ihre Kranken und predigte ihnen. Als
es spät wurde, wollten die Jünger die Leute entlassen, damit sie sich in den
Dörfern versorgen konnten. Jesus aber antwortete: „Es ist nicht nötig; gebt
ihr ihnen zu essen“ (Mt). Und er gebot den Menschen, sich gruppenweise
zu lagern. Dann nahm er zwei Brote und fünf Fische, dankte, brach das
Brot und ließ es und die Fische unter ihnen aufteilen. Alle wurden satt und
7.2. Jesu Wirken durch Verkündigung, Lehre und Heilen 197
man füllte noch zwölf Körbe von dem was übrig geblieben war. Es waren
fünftausend Männer, die gegessen hatten, nicht eingerechnet die Frauen und
Kinder.
Alsbald trieb Jesus seine Jünger an, ihm auf dem Boot voraus zu fahren,
während er noch einen Berg erstieg, um dort zu beten. Sie kamen nur müh-
sam voran, da Wind und Wellengang gegen sie stand. Es war schon spät in
der Nacht als sie Jesus erblickten, der ihnen auf dem Wasser entgegenkam.
Sie hielten ihn für ein Gespenst und schrieen. Er aber redete mit ihnen und
sagte: „Seid getrost, ich bin’s. Fürchtet euch nicht“ (Mk). Da fasste Petrus
Mut und wollte zu Jesus auf dem Wasser gehen. Doch als der Wind an Stär-
ke zunahm, da begann er zu sinken und rief Jesus um Hilfe. Jesus ergriff
ihn bei der Hand und schalt seinen Kleinmut. Der Wind legte sich. Die Jün-
ger im Boot „fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes
Sohn!“ (Mt).
Einige Schriftgelehrte und Pharisäer nahmen Anstoß daran, dass Jesus
und seine Jünger sich vor dem Essen nicht gemäß der Sitte die Hände wu-
schen. Jesus aber wies sie zurecht: Ihr Heuchler. Ihr ehrt mich mit euren
Lippen aber euer Herz ist hart. Ihr biegt Gottes Gesetze nach eurem Gut-
dünken. Es ist geboten, dass man Vater und Mutter ehre. Ihr aber, ihr stiftet
die Söhne an, dem Tempel eine Weihegabe zu geben, damit sie sich so ih-
rer Verpflichtung entledigen können, für ihre Eltern sorgen zu müssen. Und
Jesus rief das Volk zusammen und sprach: Nichts ist unrein, was in den
Menschen hineingeht, das aber, was aus ihm herauskommt, das macht ihn
unrein; denn von innen, aus dem Herzen der Menschen kommen heraus bö-
se Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Arg-
list, Ausschweifung, Missgunst, Lästerung, Hochmut, Unvernunft“ (Mk).
Jesus ging von hier in das Gebiet von Tyrus und Sidon. Dort begegne-
te ihm eine Griechin, die ihn bat, sich ihrer Tochter, die von einem bösen
Geist besessen war, zu erbarmen. Jesus wies sie ab, wusste er sich doch nur
zu den „verlorenen Schafen Israels“ (Mt) gesandt. Auf ihr weiteres instän-
diges Bitten reagierte er schroff: „Es ist nicht recht, dass man den Kindern
ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr, aber doch
fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.
Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir ge-
schehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde“
(Mt).
198 7. Der biblische Jesus
Und es geschah zu einer anderen Zeit als Jesus das Volk lehrte, dass er
wiederum auf wundersame Weise das Brot vermehrte und sich so viertau-
send Männer sättigen konnten. Als Jesus und seine Jünger daraufhin nach
Cäsarea Philippi kamen, nahm er die Jünger beiseite und fragte sie, was die
Leute von ihm sagen. Sie erwiderten, einige glauben, er sei Johannes der
Täufer, andere hielten ihn für Elia oder einen der Propheten. Ihr aber, so
fragte er, für wen haltet ihr mich? „Da antwortete Simon Petrus und sprach:
Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!“ (Mt). Daraufhin sagte Je-
sus: „Selig bist du, Simon . . . Und ich sage dir auch: Du bist Petrus und
auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen“ (Mt). Jesus gebot ihnen,
dass sie niemand davon etwas sagen sollten.
„Und er fing an zu lehren“ (Mk), dass der Menschensohn verworfen
werde und viel leiden müsse. Er werde dem Gericht überantwortet, getötet
und nach drei Tagen wieder auferstehen. Petrus wandte ein: Gott bewahre
es. Doch Jesus bedrohte ihn mit den Worten: „Geh weg von mir, Satan!
Du bist mir ein Ärgernis; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was
menschlich ist“ (Mt).
„Und nach sechs Tagen nahm Jesus mit sich Petrus, Jakobus und Johan-
nes und führte sie auf einen hohen Berg“ (Mk). Vor ihren Augen wurde er
verklärt. Sein Antlitz strahlte und sein Gewand wurde weiß. Da erschienen
auch Elia und Mose und redeten mit Jesus. „Und eine Stimme geschah aus
der Wolke: Das ist mein lieber Sohn; den sollt ihr hören“ (Mk). Die Jünger
aber bewahrten Stillschweigen über das was sie gesehen und gehört hatten
bis zu der Zeit als der Menschensohn in seine Herrlichkeit gekommen war.
Als sie vom Berg heruntergekommen waren, fanden sie die anderen
Jünger im Streit mit Schriftgelehrten und einer großen Menge. Ein Mann
war zu den Jüngern mit seinem Sohn in der Hoffnung gekommen, dass sie
ihm helfen könnten; denn der Sohn wurde schon seit seiner Kindheit von
einem bösen Geist geplagt, der ihn immer wieder ins Feuer und Wasser
warf. Doch sie vermochten nicht, ihn zu heilen. Jesus seufzte: „O du un-
gläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein . . . Bringt ihn her
zu mir“ (Mk). Jesus fragte den Mann, ob sein Glaube stark genug wäre,
dass sein Sohn geheilt werde. „Sogleich schrie der Vater des Kindes: ich
glaube, hilf meinem Unglauben“ (Mk). Jesus bedrohte den unreinen Geist
und er fuhr aus dem Knaben aus. Die Jünger fragten ihn später, warum sie
7.2. Jesu Wirken durch Verkündigung, Lehre und Heilen 199
sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein“
(Mt). Wenn ihr dann bittet, so soll es euch von meinem Vater geschehen.
„Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich
mitten unter ihnen“ (Mt).
Petrus aber drängte weiter und fragte, wie oft er wohl seinem Bruder zu
vergeben habe. Wohl bis zu sieben mal? Jesus antwortete ihm: „Ich sage dir:
nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal. Darum gleicht das Him-
melreich einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte“ (Mt).
Einem, der ihm einen großen Betrag schuldete, erließ er die Schuld. Doch
jener Knecht ging daraufhin zu einem anderen, der ihm einen geringen Be-
trag schuldete. Als sein Mitknecht ihm nicht sogleich zahlen konnte ließ er
ihn ins Gefängnis werfen. Sein Herr hörte davon und wurde sehr zornig.
Er hielt ihm vor: Ich habe deine Schuld erlassen. Hättest du da nicht auch
deinem Mitknecht gegenüber Erbarmen zeigen können? So aber überant-
wortete der Herr den Knecht seinen Peinigern. Jesus schloss: „So wird auch
mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen
vergibt“ (Mt).
Kommentar
Zum Johannes-Evangelium
1.19ff Johannes großes Ansehen im Volk erregte bei den Pharisäern wohl
Unsicherheit und Misstrauen, und so sandten sie amtlich bestellte Vertreter,
um mehr über ihn zu erfahren. Da sich Johannes weder als der erwartete
Messias noch als einen Propheten ausgibt fragen diese ihn, wer ihm denn
die Vollmacht gäbe, die Taufe der Reinigung durchzuführen. Johannes er-
widert in einem Rätselsatz, dass die messianische Zeit durch die Ankunft
von jemanden, den sie nicht kennen, bereits angebrochen sei. Wer dieser
nun sei scheint die pharisäische Abordnung gar nicht wissen zu wollen.
Jesu Identifikation als ‚Lamm Gottes‘ erinnert natürlich an den Gottes-
knecht in Jes. 53, der „wie ein Lamm . . . zur Schlachtbank geführt wird“.
Das Passalamm hat eine versöhnende Funktion (Lev. 4,32ff) und diese wird
auf Christus als das Opferlamm übertragen.
Johannes bezeugt, selbst den Geist wie eine Taube auf Jesus hat her-
abfahren sehen. Bei den Synoptikern wird diese Szene als eine innere Er-
fahrung nur für Jesus geschildert. Auch die Berufung der Jünger spielt sich
ganz anders ab als bei den Synoptikern, denen zumal ein Jünger namens
7.2. Jesu Wirken durch Verkündigung, Lehre und Heilen 201
Nathanael nicht bekannt war. Die Jünger bezeichnen Jesus als Rabbi, Meis-
ter oder Lehrer und Philippus spricht ganz offen von Jesus als dem Sohn
Josefs. Jesus selber bezeichnet sich als Menschensohn, aber der Bezug zu
Dan. 7 bleibt offen. Der Begriff mag einerseits seine menschliche Natur
herausstreichen, andererseits in Verbindung mit dem Artikel ‚dem‘ auch
seine Einzigartigkeit und messianische Würde betonen sollen.
2. Eher abstoßend erscheint einem die schroffe Abfuhr, die Jesus sei-
ner Mutter während der Hochzeit in Kana erteilt. Die Stunde von der er
spricht ist die Stunde seiner Erhöhung am Kreuz aber der Satz passt ir-
gendwie nicht in den Kontext. Was er wohl ausdrücken soll, ist, dass Jesus
sich von keinem Menschen, auch nicht seiner eigenen Mutter, sein Han-
deln vorschreiben lassen will, da er ganz dem Willen Gottes ergeben ist.
Obwohl er das Ansinnen der Mutter zunächst zurückweist, hilft er dann
doch aus und bewirkt das Wunder der Verwandlung von Wasser in Wein.
Auch scheint seine Taktlosigkeit das Verhältnis zu seiner Mutter nicht son-
derlich gestört zu haben, kehren doch alle gemeinsam nach Kapernaum
zurück. Jesu Wunder symbolisiert die Fülle des Lebens und den Beginn der
Heilszeit. Parallelen zu diesem Wunderwirken finden sich z.B. in der grie-
chischen Mythologie. Danach füllten sich alljährlich zum Fest des Gottes
des Weines, Dionysos, auf wundersame Weise drei leere Krüge im Tempel
zu Elis.
Die Tempelreinigung findet bei Johannes bereits am Anfang von Je-
su Wirken statt, bei den Synoptikern erst am Ende. Bei Johannes fällt
die Handlung allerdings weitaus dramatischer aus. Der johanneische Jesus
nimmt eine Geißel aus Stricken und treibt Mensch wie Tier hinaus. Markus
Schilderung dieser Szene gibt eher den Eindruck, dass sich Jesus lediglich
am Kommerz gestört hatte während der joh Jesus durch die Vertreibung
sämtlicher Opfertiere anscheinend dem Kult selbst ein Ende setzen woll-
te. Hintergrund ist wohl, dass zu Johannes‘ Zeit bereits die Vertreibung der
Christen aus den Synagogen eingesetzt hatte und die Christen von nun an
ihr eigenes Osterfest begingen.
3. Ein angesehener aber etwas begriffsstutziger Pharisäer namens Ni-
kodemus suchte Jesus im Geheimen auf. Da ihm der Zusammenhang zwi-
schen wahrem Glauben und einer zweiten Geburt nicht klar war, erklärte
sich ihm Jesus relativ ausführlich. Danach setzt diese Geburt aus dem Geist
einen Bewusstseinswandel und die Unterwerfung unter den göttlichen Wil-
202 7. Der biblische Jesus
len voraus wodurch sich ein bisher nicht gekannter Zugang zum eigenen
Inneren erschließt. Mit der so gewonnenen Erkenntnis beginnt ein neues
Sehen und damit auch ein neues Leben. Woher diese Veränderung des Be-
wusstseins kommt weiß der Mensch so wenig wie woher der Wind kommt
und wohin er weht.
Jesus spricht weiterhin von der Notwendigkeit seiner Erhöhung, gleich-
sam ein Aufstrecken am Kreuz, damit alle, die an ihn glauben, das ewige
Leben gewinnen. Gott hat die Welt so geliebt, dass er seinen eigenen Sohn
als Opfer hingab, um die Welt zu retten. Wer sich aber dem Glauben ver-
weigert, fällt unter das Gericht. Lässt sich eine solche Opfertheologie mit
dem Gott der Liebe vereinbaren? Warum braucht Gott das Spektakel ei-
nes grausamen und blutigen Opfertodes, um die Welt mit sich zu versöh-
nen? Ginge es nicht auch anders? Ist vielleicht die hier gegebene Anschau-
ung nicht eher noch ein Nachklang der alttestamentlichen Sühnetheologie?
Überhaupt, wieso handelt Gott mit der Hingabe seines Sohnes ‚selbstlos‘,
kommt dieser doch wieder zu ihm zurück? Und warum sollte Unglaube
mit Verdammung bestraft werden? Ist der entscheidende Faktor nicht das
Streben eines jeden Menschen nach Wahrheit und dem Guten? Wer trotz al-
len ehrlichen Bemühens nicht einen partikularen Glauben annehmen kann,
warum soll das so verdammenswert sein? Der Ungläubige mag nicht wie
der Gläubige zu einem bestimmten Gefühl der Geborgenheit und Sinner-
füllung finden, schließt dies aber aus, dass er trotzdem Freude am Dasein
haben kann?
Die Jünger des Johannes und Jesus geraten in Streit miteinander, da
erstere sich daran reiben, dass Jesus so viel erfolgreicher ist als ihr Meis-
ter. Sie sind schlichtweg neidisch. Das deutet auf eine Konkurrenzsituation
zwischen den beiden Parteien hin, über die auch Johannes‘ salbungsvolle
Worte nicht hinwegtäuschen können.
4. Bei der Episode in Samarien fällt besonders auf, wie der Verfasser ge-
sprächstechnisch Missverständnisse nutzt, um Jesus Gelegenheit zu geben,
auf symbolischer Ebene eine Vision von den göttlichen Gaben zu entwi-
ckeln. Das Schöpfen des Quellwassers aus dem Brunnen gibt ihm Anlass,
die Bedeutung des lebendigen Wassers zu erläutern und die Fehldeutung
der Jünger über das Essen nutzt er, sie zu belehren, dass seine Speise das
Tun des göttlichen Willens ist, d.h. er lebt von Gott her. Die traditionel-
le Sicht der gläubigen Samariterin rückt er zurecht, indem er darauf hin-
7.2. Jesu Wirken durch Verkündigung, Lehre und Heilen 203
weist, dass Gott als Geist unverfügbar und nicht an einen Ort gebunden ist.
Obwohl Jesus nun auch die Formen der traditionellen Gottesverehrung als
überholt erklärt, so bekennt er sich doch zum kulturellen Erbe der Juden;
denn von ihnen, so sagt er, kommt das Heil.
Bedeutungsvoll in dem Gespräch zwischen Jesus und der Samarite-
rin ist auch, dass Jesus in zweifacher Hinsicht Grenzen überschreitet, zum
einen die Trennlinie zwischen Mann und Frau und zum anderen die zwi-
schen den Juden und den Samaritern. Jesu Handeln deutet an, dass der
Bruch zwischen den beiden Völkern, der Hass und die Feindschaft, ei-
nes Tages durch die Gemeinschaft eines geeinten Gottesvolkes überwunden
werden wird.
Zu den synoptischen Evangelien
Die von den Evangelisten geschilderten Ereignisse dürften sich so in der
Realität kaum abgespielt haben. Wer hätte denn auch das Geschehene und
die Reden nach Jahrzehnten wirklichkeitsgetreu abbilden sollen? Schließ-
lich hatte Jesus weder einen Stenographen noch ein Aufzeichnungsgerät
mit sich gehabt. Schon allein die Differenzen zwischen den Evangelisten
müssten uns skeptisch machen. Zwar stimmen sie zuweilen fast Wort für
Wort überein was den Eindruck gibt, dass hier einer vom anderen abge-
schrieben hat, aber in anderen Fällen unterscheiden sie sich auch wesent-
lich. So hatte in Lukas Version des Hauptmann von Kapernaum der Haupt-
mann die Ältesten der Juden zu Jesus geschickt, und er selbst kam nie in
Kontakt mit Jesus. In Matthäus Fassung tritt der Hauptmann Jesus mit der
Bitte um Heilung seines Knechtes direkt entgegen. Übrigens, Johannes bie-
tet uns eine ähnliche Fassung an, nur wird bei ihm der Sohn eines könig-
lichen Beamten geheilt. In der Perikope über Jesus und die bösen Geister
sind es bei Markus die Schriftgelehrten (3,22), die Jesus vorwerfen, er trei-
be die bösen Geister mit Hilfe Satans aus, bei Matthäus (12,24) aber sind
es die Pharisäer. Und während es bei Markus (9,40) heißt: „Wer nicht ge-
gen uns ist, der ist für uns“ so liest es sich bei Matthäus (12,30) und Lu-
kas (11,23): „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich“. Die Speisung der
Fünftausend findet laut Lukas in Betsaida statt (9,10), vermerkt aber: „wir
sind hier in der Wüste“ (9,12), während bei Markus Jesus erst nach dem
Mahl mit dem Boot nach Betsaida (6,45) übersetzt. Und sollen wir wirk-
lich für glaubhaft halten, dass quasi wie aus dem Nichts eine große Menge
Brot materialisierte? Schon die Zahl der Körbe von eingesammelten Bro-
204 7. Der biblische Jesus
tresten belegt die Symbolik der Schilderung; denn die Zwölf steht für die
zwölf Stämme Israels. Weiterhin kann man die Brotvermehrung auch als
eine symbolische Anspielung auf Mose wundersame Speisung des in der
Wüste wandernden Volkes Israel durch das Manna interpretieren. Jesus ist
nun der neue Mose, der das erneuerte Israel führt und seinen spirituellen
Hunger stillt.
So sollten wir also die vielen Wundergeschichten nicht für bare Münze
nehmen. Jesu Zeitgenossen waren nur allzu bereit, an die Realität von Wun-
dern zu glauben. Charismatiker konnten mit ihrer angeblichen Fähigkeit,
Wunder zu bewirken, immer wieder eine große Anhängerschaft um sich
sammeln. So wurde der griechische Wundertäter Apollonius von Tyana,
über den zahlreiche, mit Wunderberichten ausgeschmückte Legenden kur-
sierten, oftmals als eine pagane Gegenfigur zu Jesus wahrgenommen. So-
gar dem römischen Feldherrn Vespasian wurde nachgesagt, in Alexandria
lediglich durch Berührung Blinde und Lahme geheilt zu haben. Wir Heu-
tigen, die wir Naturphänomene nicht mehr dem Wirken göttlicher Mächte
zuschreiben und in rational-logischen Kategorien zu denken gewohnt sind,
ein Denken, das wir praktisch mit der Muttermilch aufgesogen haben, wir
neigen eher dazu, natürliche Erklärungen für diese angeblichen Wunder zu
finden, wenn wir sie nicht von vornherein als reine Erfindung abtun. Vie-
le Heilungswunder können aber auch symbolisch verstanden oder wie es
der Theologe Drewermann tut, im Rahmen der Tiefenpsychologie interpre-
tiert werden. Für Drewermann versagt die historisch-kritische Methode im
Kleide der wissenschaftlichen Erkenntnisfindung und er behauptet: „Wer
das Neue Testament ‚historisch‘ liest statt typologisch, äußerlich statt in-
nerlich, soziologisch statt psychologisch, kommt nicht umhin, Theologie
als Ideologie zu betreiben“ (Das Markus-Evangelium, Erster Teil). Aller-
dings gesteht er ihr zu, zum Verständnis der Schrift beigetragen zu haben
während eher konservative Theologen diese Methode als den Glauben zer-
setzend empfinden. Drewermann ist andererseits vorgeworfen worden, dass
er sich zuweilen in bloßer Innerlichkeit verliere und durch die unkritische
Übernahme des Jungschen Modells der archetypischen Symbole dem Text
Gewalt antue und in ihn zuweilen zuviel hineinliest. Man sollte sich daher
immer wieder vor Augen halten, wie die Zeitgenossen Jesu, ja auch die
Evangelisten, die Jesus zugeschriebenen Wunder verstanden hatten, doch
wohl zumeist als tatsächliches Geschehen.
7.2. Jesu Wirken durch Verkündigung, Lehre und Heilen 205
finden können. Voraussetzung für diese Rettung aus Gefahr und die Be-
ruhigung unserer tiefsten Ängste ist allerdings Glauben und Vertrauen in
Jesu Macht über die Stürme unseres Lebens. Eine ähnliche Symbolik ist
mit Jesu Wandel auf dem See verbunden. Jesus hilft dem sinkenden Petrus
als diesen der Mut verlässt. Dem Leser soll wohl vermittelt werden, dass
nur das glaubende Vertrauen in Jesus verhindert, dass wir den Boden unter
den Füssen verlieren und in den Abgründen unserer Seele versinken. Aus
Indien gibt es die Legende von einem Wandermönch, der im Glauben an
die tragende Kraft des Buddha zu Fuß einen Fluss überquerte. Doch der
Anblick der Wellen erzeugte in ihm ein Gefühl der Unsicherheit und erst
als er wieder seine völlige Konzentration auf den Gedanken des Buddha
zurückgewann, vermochte er weiter auf dem Wasser zu gehen.
Der Ablauf der Erzählung über ‚Die Heilung eines Gelähmten‘ ist aller-
dings eigenartig. Warum sollte Jesus dessen Wunsch nach Heilung sozusa-
gen erst im zweiten Anlauf erfüllen? Wollte er bewusst die Schriftgelehrten
mit seiner Zusage der Vergebung der Sünden, die sonst nie mit Heilungen in
Verbindung gebracht wird, provozieren, galt dies doch als Blasphemie weil
nur Gott Sünden vergeben konnte? Wollte er seine göttliche Macht demons-
trieren? Nach antikem Verständnis hingen Sünde und Krankheit ursächlich
zusammen. Jesus scheint diese Überzeugung nicht geteilt zu haben; denn in
den anderen Heilungen hatte der Glaube allein geholfen. In diesem beson-
deren Fall haben wir die Reihenfolge Vergebung der Sünden und danach
den Heilungsakt. Aber auch der Glaube fehlte nicht, den wird man dem
Gelähmten und seinen Trägern, die keine Mühe gescheut hatten, zu Jesus
zu kommen, nicht absprechen können. Seltsam erscheint auch Jesu Frage
nach dem was leichter ist, Vergebung der Sünde oder Heilung vom Gebre-
chen. Sie ist doppeldeutig, könnte aber in dem Sinne beantwortet werden,
dass das eine nachprüfbar ist, das andere aber nicht. Vergebung der Sünden
bedeutet eine innere Heilung, die Wiederherstellung einer gestörten Bezie-
hung zu Gott.
Dass Jesus nicht an einer Demonstration seiner göttlichen Macht inter-
essiert war, wollen die Evangelisten an seiner ablehnenden Haltung gegen-
über der Zeichenforderung der Pharisäer belegen. Jedenfalls konnte oder
wollte er nicht den geforderten Nachweis seiner göttlichen Bevollmächti-
gung durch ein Schauwunder wie ein Magier im Zirkus erbringen. Man ver-
dächtigte ihn wohl, dass er seine Popularität durch Zaubertricks erworben
7.2. Jesu Wirken durch Verkündigung, Lehre und Heilen 207
hatte aber für Jesus wäre es entwürdigend gewesen, sich auf das Niveau der
religiösen Autoritäten herabzulassen. Stattdessen stellt er den Erweis sei-
ner Identität mit seiner Auferstehung in Aussicht. Aber denkt so mancher
heute nicht in ähnlichen Kategorien wie die Zeitgenossen Jesu wenn sie auf
ein wundersames Wirken Gottes hoffen welches die allgemeine Gültigkeit
der Naturgesetze durchbrechen würde? Da danken zum Beispiel die Eltern
Gott, dass ihr Kind einen Unfall überlebt hat und verlieren kaum einen Ge-
danken daran, dass ein anderes leider umgekommen ist. Kommt eine solche
Haltung, die von Gott Wunderzeichen erwartet, nicht einer Forderung nach
einem „nachprüfbaren Gott“ gleich? Die Wahrheit konkretisiert sich nicht
durch ein feststellbares Eingreifen Gottes sondern in unseren mitmensch-
lichen Beziehungen. Wer anstatt dieser existentiellen Bezüge seinen Blick
auf Gottesbeweise richtet, der denkt und handelt im Grunde genau wie die-
se Pharisäer, denen die wirklichen Nöte der Menschen fremd waren.
So ist es nicht verwunderlich, dass Jesu Wirken dem Denken der Obe-
ren in der Gesellschaft entgegengesetzt war und zur Konfrontationen führen
musste. Seine Lehre war so ganz anders als diejenige der traditionellen reli-
giösen Autoritäten. „Er lehrte mit Vollmacht“, lässt Markus feststellen. Gibt
es da nicht gewisse Parallelen zur heutigen Theologenschaft, insbesondere
zu denen, die glauben, die kirchlichen Dogmen verifizieren zu müssen? Wie
erschöpft sich deren Gelehrsamkeit in ausgekauten Worthülsen und abge-
droschenen Phrasen, die immer wieder gebetsmühlenartig abgeleiert wer-
den! Ihre Frömmigkeit wird mit einem wissenschaftlich-objektivierenden
Sprachstil untermauert, dem ein Bezug zum durchschnittlichen Gläubigen
längst verlorengegangen ist. Diese formelhafte und routinierte Vermittlung
von vorgestanzten Glaubenssätzen erzeugt ein Gefühl der Entfremdung und
reduziert Religion auf ein veräußerlichtes Frömmigkeitsgehabe, in der jede
Leidenschaft erkaltet ist. Ein ähnliches Bild entmündigter Gläubigen, de-
nen kirchlich autorisierte Deutungsmodelle vorgegeben sind, die ihnen da-
mit ein eigenes Denken ersparen, zeichnet Dostojewski im Bild des Großin-
quisitors in seinem ‚Die Brüder Karamazov‘.
Ähnlich wie seinerzeit Aussätzige oder Prostituierte in die soziale Iso-
lation getrieben wurden, so betreibt auch heute noch die katholische Kirche
den Ausschluss von Wiederverheirateten, von Frauen, die abgetrieben ha-
ben und Homosexuellen, anstatt ihnen in ihren existentiellen Nöten zu be-
gegnen. An der kirchlichen Basis rumort es kräftig und in der Öffentlichkeit
208 7. Der biblische Jesus
steht die Amtskirche zunehmend am Pranger wenn man sie überhaupt noch
wahrnimmt. Auch Jesus war in heftigste Auseinandersetzungen mit seinen
pharisäischen Widersachern verwickelt. Das ist zumindest aus den Schilde-
rungen der Evangelisten zu schließen. Wie die Perikope vom Ährenraufen
am Sabbat aufzeigt, ging es bei dem Konflikt um zwei Formen religiöser
Haltung, auf der einen Seite die gesetzlich verordnete und autoritäre Reli-
gion und auf der anderen eine Ausrichtung, die auf der Freiheit des Men-
schen baut. Der Sabbat hatte ursprünglich eine durchaus positive Bedeu-
tung, indem einer Zeit des Arbeitens eine Zeit des Ausruhens folgte. Doch
für die sozial Schwachen wie die Tagelöhner, die am Rande des Existenz-
minimums lebten, dürfte es eher ein Hunger- als ein Freudentag gewesen
sein. Zudem durchschauten nur noch religiöse Experten das immer weiter
wuchernde Gestrüpp von Verordnungen, mit denen das Sabbatgebot ausge-
baut wurde. Jesus sah in dem absurden Gehorsam gegen solcherlei Gesetze
unter die auch das Verbot des Ährenraufens fiel eine Einschränkung des Le-
bensrechtes, wollte aber nicht der Willkür Tür und Tor öffnen sondern den
Menschen eine gelebte Verantwortlichkeit zurückgeben. Allerdings ist sei-
ne Frage: Soll man am Sabbat „Leben erhalten oder töten“ (Mk 3,4) viel zu
plakativ und dichtet dem Rabbinertum unmenschliches Verhalten an, was
so nicht zutrifft. Rabbinische Regelungen sahen durchaus lebenserhaltende
Maßnahmen als vereinbar mit dem Sabbatgesetz an, doch die Heilung einer
gelähmten Hand (Mk 3,1–6) hätte durchaus noch auf den nächsten Tag war-
ten können. Es ging dem Evangelisten wohl darum, herauszustreichen, wie
jesuanische Barmherzigkeit sich von pharisäischer Gesetzlichkeit abhebt.
Auch Matthäus verdeutlicht Jesu gelebte Mitmenschlichkeit mit einem Zi-
tat von Hosea 6,6: „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am
Opfer“ (Mt 12,7).
Jesus eckte immer wieder an. So mokierten sich seine Gegner darüber,
dass er dem aus hygienischen Gründen eigentlich sinnvollen Händewa-
schen vor dem Essen keine Bedeutung zumaß. Für ihn war es schlicht nicht
mehr als traditionelle Etikette, die man getrost übergehen konnte. Statt-
dessen tadelt er die innere Unreinheit seiner Widersacher und wirft ihnen
Heuchelei und Selbstherrlichkeit vor. Man mag solcherlei Zurückweisung
als überzogen empfinden und Jesus wurden wohl Worte in den Mund ge-
legt, welche die wachsende Feindschaft zwischen christlicher Gemeinde
und jüdischer Synagoge widerspiegeln. Auch in der Episode von ‚Jesu Sal-
7.2. Jesu Wirken durch Verkündigung, Lehre und Heilen 209
bung durch die Sünderin‘ wird die Haltung des Pharisäers in ein denkbar
schlechtes Licht gerückt. Merkwürdig aber ist es, dass die Dirne mit der
sich ja Unreinheit verbindet, überhaupt in das Haus des Pharisäers einge-
lassen und ihr Gastrecht gewährt wurde. Und wieso hat er überhaupt Jesus
eingeladen, wenn er und die Pharisäer sich doch angeblich spinnefeind wa-
ren? Diese Ungereimtheiten beiseite, die Moral der Erzählung ist klar. Die
abweisende und kühle Haltung des Pharisäers wird mit dem liebevollen,
fast erotischen Tun der Frau in Kontrast gebracht. Was also letztlich zählt
ist nicht sozialer Status sondern Liebe und gläubige Hingabe.
Anscheinend hatte sich Jesus auch mit seiner eigenen Familie überwor-
fen. Und wer sollte es ihr verdenken, zog er doch in ihrer Sicht als eine
Art Barfußprediger mit einer abgerissenen und zusammengewürfelten An-
hängerschaft durch die Lande, verkehrte mit dem Lumpenproletariat und
verbreitete eine Botschaft, die die tradierte Ordnung in Frage stellte und
die Spitzen der Gesellschaft herausforderte. So hielten seine Angehörigen
ihn sogar für verrückt (Mk 3,21) und wollten ihn einhegen und damit unter
ihre Kontrolle bringen. Er aber verweigerte sich ihnen. Seine neue Familie
waren seine Vertrauten, die Apostel, die die unsichere Existenz eines Wan-
derlebens mit ihm teilten. Diese hatten ja auch wie er die Bindung an ihre
Familie aufgegeben und waren mit ihrer wohl gefühlsbetonten Entschei-
dung das Wagnis einer unsicheren Existenz eingegangen. Sie glaubten an
Jesus und erhofften sich durch ihn die Erfüllung ihrer Sehnsüchte und einen
neuen Sinn im Leben. Jesu Familie konnte das nicht nachvollziehen. Man
stelle sich vor, jemand hätte ihnen gesagt, Jesus ist der von Gott gesandte
Heiland, wie glaubwürdig wäre das wohl für sie gewesen? Jesus wurde von
keiner göttlichen Aura umschwebt und seine Familie sah in ihn wohl eher
einen Renegaten. Hätten sie ihn für den Gottessohn gehalten, dann hätten
sie ihn sicherlich anders behandelt.
Jesus hatte die Vision von einer alternativen Gemeinschaft, in der die
Beziehungen zwischen den Menschen der gewohnten Gesellschaftsord-
nung konträr entgegenlaufen. Zu aller Zeit war die Herrschaft des Men-
schen über den Menschen mit Gewalt, durch Ausbeutung und elitäre Ab-
grenzung aufrecht erhalten worden. Nein, „so soll es nicht unter euch sein“
(Mt 20,26), fordert Jesus und weiter: „Werdet wie die Kinder“ (Mt 18,3)
und „wer groß sein will, der sei euer Diener“ (Mt 20,26). Dabei meinte er
nicht die Art des Gehorsams einer in Ehrerbietung erstarrten, gekrümmten
210 7. Der biblische Jesus
gewollt, gesehen hat, kann aber bezweifelt werden. Die Schilderung des
Evangelisten nach dem Muster von Leiden, Tod und Auferstehung ist wohl
auf dem Boden der nachösterlichen Erfahrung der Gemeinde entstanden.
Eine Ahnung aber der ihm drohenden Gefahr dürfte ihm spätestens mit
der Nachricht vom Tode Johannes des Täufers gewachsen sein. In Johan-
nes Geschick deutete sich auch bereits sein eigenes Ende an. Wie es nun zur
Ermordung des Johannes kam schildert uns der Evangelist in beispielloser
Dramatik. Nach Girard (The Scapegoat) wird sie, geschickt von dem Evan-
gelisten in Szene gesetzt, als Teil einer komplexen Kette von Ereignissen
erzählt, die in Jesu Kreuzigung gipfelt was im Grunde nur auf die Demas-
kierung des Bösen und der Offenbarung von Jesu Unschuld hinausläuft.
Die Erzählungen sind somit seiner Meinung nach so verzahnt und aufge-
baut, dass sie die Mechanismen, die zu seiner Opferung als Sündenbock
führen, bloß zu legen vermögen.
Man kann die Erzählung aber auch als eine typologische Legende se-
hen, in der die Korruption der menschlichen Seele verhandelt wird. Auf
jeden Fall wird ihre historische Glaubwürdigkeit stark bezweifelt. In dem
wohl legendären Narrativ wird dieser Interpretation zufolge die Dekadenz
der Macht aufgezeigt, die dämonische Seite des Menschen in seiner Gier,
Lust und seinem mörderischen Gehorsam, dem die asketische Reinheit und
moralische Integrität des Propheten gegenübergestellt wird. Der geheime
Wunsch nach Reinheit und Unschuld erweckt in Herodes eine gewisse
Sympathie für den Täufer, degeneriert dann aber in das lüsterne Verlangen
nach der Unschuld der frühreifen Salome, die gerade in ihrer naiven Weib-
lichkeit seine Begierden entfacht. Doch seine Lüsternheit schwächt auch
seinen nüchternen Verstand und dies nutzt Herodias aus, indem sie der ihr
hündisch ergebenen Tochter Salome den Auftrag gibt, in Antwort auf das
Versprechen des Herodes, ihr jeden Wunsch zu erfüllen, das Haupt des Jo-
hannes zu fordern. Salome wird aus Gehorsam zu einem Werkzeug des
Mordes, Herodias aber treibt zum Mord, um ihr Liebesglück zu schützen
und den rigiden Moralismus des Johannes auszuschalten. Während Herodes
nur ein schwankendes Schilfrohr war, dem die Einhaltung der Ehre eines
Versprechens eine höhere Tugend als das Verhindern eines Mordes war, so
war Herodias die von Hass zerfressene und kaltblütig planende Mörderin,
die an gleichsam mörderische Frauengestalten der griechischen Tragödi-
en erinnert wie Medeia oder Klymnestra. Gleichzeitig zeigt die Erzählung
212 7. Der biblische Jesus
beispielhaft auf, wie durch die Verknüpfung von Gehorsam und Macht sich
ein tödliches Schicksal entwickelt und darüber hinaus kann man von ihr
lernen, wie durch gedankenlosen oder angstbesetzten Opportunismus oder
aber Indoktrination ein willenloser Gehorsam erzeugt wird, der Menschen
zu einer Art lebenden Zombies oder Marionetten degradiert und der so zum
Nährboden des Bösen wird, wie es die Erfahrung in Nazi-Deutschland oder
heute wieder der Terrorismus der IS belegt.
Jesus also war gewarnt. Doch er setzte seinen Blick auf Jerusalem. Dort
lag das Ziel seines Weges, der Tempel. Dort musste seine Botschaft verkün-
digt werden.
7.3. Die Bergpredigt, Lehren über die Nachfolge und Jesu Rede
vom Reich Gottes
Die synoptischen Evangelien
Eine große Menge des Volkes war gekommen, Jesus „zu hören und von ih-
ren Krankheiten geheilt zu werden“ (Lk) und sie suchten, „ihn anzurühren;
denn es ging eine Kraft von ihm aus“ (Lk). Jesus aber ging auf einen Berg,
„setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf,
lehrte sie und sprach:
Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie sollen das Erdreich besitzen.
Selig sind die, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit; denn
sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlan-
gen.
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn
ihrer ist das Himmelreich.
Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen
und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch und damit
lügen.
Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt
werden.
7.3. Die Bergpredigt, Lehren über die Nachfolge 213
Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen
sind“ (Mt).
„Aber dagegen: Weh euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost schon
gehabt“
(Lk). Weh euch, die ihr jetzt satt seid und lacht und von denen man
wohl redet.
„Denn das gleiche haben ihre Väter den falschen Propheten getan“
(Lk).
Ihr aber seid das Salz der Erde und euer Licht soll scheinen „vor den
Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel prei-
sen“ (Mt). Glaubt nicht, ich bin gekommen, die Gesetze aufzulösen. Ich bin
gekommen, sie zu erfüllen. Und nicht das geringste Häkchen wird wegfal-
len „bis Himmel und Erde vergehen“ (Mt).
Euch ist überliefert worden: Du sollst nicht töten. „Ich aber sage euch:
Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig“ (Mt). Und
wenn du mit deinem Bruder in Streit gerätst, dann suche dich erst mit ihm
zu versöhnen bevor du deine Opfergabe am Altar gibst. Vertrage dich mit
deinem Gegner, dass du nicht etwa dem Richter überantwortet werdest und
du ins Gefängnis geworfen wirst.
Das Gesetz Mose gebietet: Du sollst nicht ehebrechen! „Ich aber sage
euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die
Ehe gebrochen in seinem Herzen“ (Mt). Wenn dich dein Auge zum Abfall
verführt, dann reiße es heraus; denn es ist besser eines deiner Glieder zu
verlieren als ewiges Verderben in der Hölle zu erleiden. „Es ist unmöglich,
dass keine Verführungen kommen; aber weh dem, durch den sie kommen!
Es wäre besser für ihn, dass man einen Mühlstein an seinen Hals hängte und
würfe ihn ins Meer, als dass er einen dieser Kleinen zum Abfall verführt“
(Lk).
Das Gesetz erlaubt dem Mann, dass wenn er sich von seiner Frau schei-
den lassen will, er ihr einen Scheidebrief geben kann. „Ich aber sage euch:
Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Ehebruchs, der macht,
dass sie die Ehe bricht, und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die
Ehe“ (Mt). Mose hat euch den Scheidebrief nur wegen der Härte eures Her-
zens gestattet. Aber von Anbeginn der Schöpfung hat Gott den Menschen
als Mann und Frau geschaffen. „Darum wird ein Mann seinen Vater und
seine Mutter verlassen und wird an seiner Frau hängen, und die zwei wer-
214 7. Der biblische Jesus
den ein Fleisch sein“ (Mk). „Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der
Mensch nicht scheiden“ (Mk).
Den Alten wurde auch gesagt: Du sollst keinen falschen Eid schwören.
„Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt“ (Mt), weder
beim Himmel noch bei der Erde. Eure Rede sei ein einfaches Ja oder Nein,
alles weitere ist vom Übel.
Auch habt ihr sagen gehört: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber
sage euch: Widersteht nicht dem Übel, „sondern, wenn dich jemand auf
deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar“ (Mt). Und wenn
dich einer wegen deines Rockes vor das Gericht ziehen will, dann gib ihm
auch noch den Mantel, und wenn dich einer nötigt, mit ihm eine Meile zu
gehen, dann gehe mit ihm zwei. „Gib dem, der dich bittet, und wende dich
nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will“ (Mt).
Euch wurde auch gesagt: Du sollst deinen Nächsten lieben aber den
Feind sollst du hassen. „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet
für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.
Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen
über Gerechte und Ungerechte“ (Mt). Wenn ihr nur die liebt, die auch euch
lieben, dann seid ihr nicht besser als die Zöllner oder die Heiden. „Dar-
um sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“
(Mt).
Wenn ihr fastet, schaut nicht leidend aus sondern reinigt und salbt
Haupt und Gesicht sodass die Leute euer Fasten nicht erkennen. Spielt euch
vor den Leuten nicht als besonders fromm auf und gebt eure Almosen im
Verborgenen. Betet im Stillen und macht nicht so viel Worte wie es die
Heiden tun.
„Darum sollt ihr so beten:
Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf
Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld,
so auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bö-
sen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewig-
keit. Amen“
7.3. Die Bergpredigt, Lehren über die Nachfolge 215
(Mt). Denn wenn ihr den Menschen vergebt, so wird euch auch euer
Vater im Himmel vergeben, doch wenn ihr nicht vergebt, so wird auch euch
nicht vergeben werden.
Und macht es nicht wie der reiche Kornbauer, der sich einen großen
Vorrat ansammelte und nun glaubte, sein Leben in Muße genießen zu kön-
nen. „Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele
von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?“ (Lk).
Sammelt euch nicht Schätze auf Erden, die vergänglich sind sondern einen
Schatz im Himmel. „Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz“ (Mt).
„Niemand kann zwei Herren dienen: . . . er wird an dem einen hängen
und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“
(Mt).
Sorgt euch nicht um den morgigen Tag. „Seht die Vögel unter dem
Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheu-
nen; und euer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?“
(Mt). „Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen . . .
(oder) womit werden wir uns kleiden“(Mt). Euer Vater weiß was ihr be-
dürft. Ihr aber, „trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, und nach seiner
Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen“ (Mt).
„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ (Mt). Messt nicht nach
zweierlei Maß. Warum siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, nicht
aber den Balken in deinem eigenen? „Du Heuchler, zieh zuerst den Balken
aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders
Auge ziehst“ (Mt). „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen,
das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten“ (Mt).
„Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden, klopfet an,
so wird euch aufgetan“ (Mt). Wenn euch eure Kinder um Brot oder Fisch
bitten gebt ihr ihnen vielleicht einen Stein? „Wenn ihr nun, die ihr doch
böse seid, dennoch euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr
wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten“ (Mt). Nehmt
euch ein Beispiel an der Witwe, die dem ungerechten Richter so lange zu-
gesetzt hatte, bis er ihre Bitte schließlich erhörte. „Sollte Gott nicht auch
Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen?“
(Lk).
„Geht hinein durch die enge Pforte“ (Mt). Die Pforte, die zur Verdamm-
nis führt, ist weit, die aber, die ins Leben führt, ist eng und nur wenige wer-
216 7. Der biblische Jesus
den sie finden; denn in das Himmelreich kommen nur die, „die den Willen
tun meines Vaters im Himmel“ (Mt). „Seht euch vor vor den falschen Pro-
pheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie rei-
ßende Wölfe“ (Mt). Erkennt sie an ihren Früchten, so wie man auch einen
guten Baum von einem schlechten durch seine Früchte unterscheidet.
„Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klu-
gen Mann, der sein Haus auf Fels baute“ (Mt). Wenn der Regen kommt und
der Wind weht, so widersteht das Haus; denn es ist auf Fels gebaut. „Und
wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten
Mann, der sein Haus auf Sand baute“ (Mt). Kommen nun Regen und Wind,
dann fällt das Haus zusammen und sein Fall wird groß sein.
Jesus sagte weiter: „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich
selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben
erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinet-
willen, der wird’s finden“ (Mt). Was hülfe es dem Menschen, wenn er die
Welt gewänne aber seine Seele verliert.
„Wer Vater oder Mutter . . . Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der
ist meiner nicht wert“ (Mt). Glaubt nicht, „dass ich gekommen bin, Frie-
den zu bringen auf die Erde, sondern das Schwert“ (Mt). Um meinetwillen
werden Familien zerbrechen „und des Menschen Feinde werden seine eige-
nen Hausgenossen sein“ (Mt). Doch fürchtet euch nicht vor denen, die den
Leib töten, aber der Seele keinen Schaden zufügen können. Nichts bleibt
vor Gott verborgen und nichts wird vergessen. Nicht ein Sperling fällt zu
Boden als dass der Herr nicht darum wüsste. „Darum fürchtet euch nicht;
ihr seid besser als viele Sperlinge. Wer nun mich bekennt vor den Men-
schen, den will auch ich bekennen vor meinem himmlischen Vater“ (Mt).
Wer sich aber meiner schämt, den werde auch ich vor meinem Vater ver-
leugnen.
Jesus sprach: Mit wem aber kann ich diese Generation vergleichen?
„Hört zu! Siehe es ging ein Sämann aus zu säen“ (Mt). Als er säte, fiel eini-
ge Saat auf den Weg, aber die Vögel kamen und fraßen sie auf. Einiges fiel
auf felsigen Boden, doch als es aufging, verdorrte es schnell. Anderes fiel
unter die Dornen und wurde bald erstickt. Einiges aber fiel auf gutes Land
und brachte gute Früchte und der Ertrag war dreißigfach, manches sogar
hundertfach. „Und er sprach: Wer Ohren hat zu hören, der höre“ (Mk).
7.3. Die Bergpredigt, Lehren über die Nachfolge 217
damit er die Hände auf sie legte“ (Mt). Die Jünger wollten ihnen wehren
doch Jesus sprach: „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen
nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer
das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkom-
men. Und er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie“ (Mk).
„Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen
ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen“ (Mt). Bald schon
war er sich mit den ersten Arbeitern einig und versprach ihnen einen Silber-
groschen als Tageslohn. Während des Tages stellte er weitere Arbeiter ein
und versicherte, ihnen zu geben was recht sei. Noch zu später Stunde fand
er einige Müßiggänger und auch denen gab er Arbeit in seinem Weinberg.
Als es nun Abend war, ließ er denjenigen, die zuletzt eingestellt worden
waren, einen Silbergroschen zahlen. Nun empfing jeder den gleichen Lohn,
doch diejenigen, die des ganzen Tages Last getragen hatten waren unzu-
frieden. Der Hausherr aber sagte „zu einem von ihnen: Mein Freund, ich
tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Sil-
bergroschen?“ (Mt). Habe ich nicht das Recht, mit meinem Gut zu tun was
ich will und mich gütig dem erweisen, den ich erwähle? Und Jesus schloss:
„So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein“ (Mt).
Als Jesus seine Rede geendet hatte, „da erhob eine Frau im Volk ihre
Stimme und sprach zu ihm: Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und
die Brüste, an denen du gesogen hast. Er aber sprach: Ja, selig sind, die das
Wort Gottes hören und bewahren“ (Lk).
Kommentar
Für Matthäus ist ‚Gerechtigkeit‘ der Leitbegriff, Lukas legt den Akzent auf
die materielle Not. Folglich betont der eine mehr die spirituellen, der andere
eher die lebensnotwendigen Bedürfnisse des Daseins. Die Seligpreisungen
sind wohl aus einzelnen Aussprüchen Jesu gesammelt und in einer fiktiven
Rede verdichtet worden. Sie wird bei Lukas auf einer Ebene, bei Matthä-
us aber auf dem Gottesberg gehalten. Offensichtlich wollte Matthäus damit
den Bezug zu Mose und den Gesetzesempfang auf dem Berg Sinai heraus-
streichen.
Die Seligpreisungen hatten durchaus antike Vorbilder. So wurde in
Griechenland derjenige als glücklich gepriesen, der die Geheimnisse der
Mysterien geschaut hatte. Im biblischen Sinne könnte man denjenigen als
7.3. Die Bergpredigt, Lehren über die Nachfolge 219
selig bezeichnen, dem durch die rechte Beziehung zu Gott ein erfülltes Le-
ben gelingt. Kritiker wie Karl Marx haben oft darauf hingewiesen, dass
die Religion eine solche Erfüllung auf das Jenseits vertagt und die herr-
schenden ungerechten Verhältnisse als gottgegeben hinnimmt. Es ist wohl
richtig, dass die Seligpreisungen einerseits Trost für die Bedrückten dieser
Welt im Himmelreich versprechen, doch andere mögen sich durch sie be-
kräftigt fühlen, sich aktiv für eine bessere, menschlichere Welt einzusetzen.
Es ist bezeichnend, dass gerade Mahatma Gandhi sich für seine Politik des
passiven Widerstandes von den Seligpreisungen hat inspirieren lassen.
Gandhi repräsentiert die Haltung des Sanftmütigen, der sich einer
Denkweise des ‚Sozialdarwinismus‘ widersetzt, welche in immer neuen
Formen der Wehrhaftigkeit, von Manipulation bis hin zur offenen Kriegs-
führung reichend, ihren Anspruch durchzusetzen sucht. Diesen Ausprägun-
gen von Aggressivität stellen die Seligpreisungen ein konstruktives, posi-
tives Wollen der Friedfertigkeit und Barmherzigkeit entgegen, das Streben
nach einem reinen Herzen, das sich an andere verschenken will und Erfül-
lung in einem existentiellen Bedürfnis nach Ganzheit sucht. Drewermann
interpretiert dieses Streben als eine „Form der Erlösung“, die einer Rück-
kehr ins Paradies gleicht, in einem Feld der Liebe, in dem wir „nackt“ sein
dürfen, ohne uns unserer Schwächen schämen zu müssen und uns nicht
mehr zu verstellen brauchen, um angenommen zu werden. Problematisch
erscheint uns aber die Aufforderung zur Freude in Reaktion auf die per-
sönliche Erfahrung von Verfolgung und Hassreden, denn dies scheint ja
geradezu einer Märtyrerideologie den Boden zu bereiten.
Die Seligpreisungen lassen das Bild einer Kontrastgesellschaft auf-
leuchten, konkretisiert durch weitere Aussprüche Jesu. Mitglieder dieser
von Jesus angestrebten alternativen Gemeinschaft sollen sich in ihrem Le-
benswandel als solche erweisen, die dem Willen Gottes bereits auf Erden
Gestalt verschaffen. Wie das Salz der Nahrung einen besseren Geschmack
verleiht, so sollen sie Veränderungen zum Guten in der Gesellschaft bewir-
ken und in ihrer Lebensführung wie ein Licht auch anderen den Weg zu
einem gedeihlicheren Dasein weisen.
Jesu Stellung zum Gesetz, wie es Matthäus beschreibt, offenbart ein
Dilemma. Im Judentum dieser Zeit waren, ähnlich wie es die islamische
Scharia anstrebt, Staat und Religion miteinander verzahnt. Gesetze sind
zwar erforderlich zur Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung, können
220 7. Der biblische Jesus
aber auch zu einer Form der Gesetzlichkeit pervertieren, die jeden Lebens-
vollzug in ein Zwangskorsett von Ordnungen und Regelungen einzuengen
sucht und damit dem Menschen die Freiheit zu seiner persönlichen Exis-
tenzgestaltung raubt. Diese Tendenz einer bürokratischen Gesinnung kri-
tisierte Jesus an den Pharisäern. Sie manifestiert sich, wie es am Beispiel
der katholischen Kirche deutlich wird, in Klerikalisierung, Ämterhierar-
chie und Dogmatismus. Sicherlich hatte Jesus sich seine Gemeinschaft von
Jüngern anders vorgestellt. Seine eigene Einstellung zur Tora erscheint al-
lerdings widersprüchlich. Einerseits lassen sein ‚Ich aber sage euch‘ auf
eine eher distanzierte Haltung schließen, die aber wohl auf eine Vertiefung
des Gesetzes hin zu ihrer wahren Erfüllung im Paradigma gelebter Mit-
menschlichkeit hinauslief. Andererseits soll er die Unabänderlichkeit eines
jeden Häkchens und Jotas propagiert haben. Das ist schwerlich glaubhaft;
denn allein seine Stellung zum Sabbatgebot und zu den Forderungen äuße-
rer Reinheit sprechen dagegen.
Jesus stuft bereits jedes böse Wort als gesetzwidrig ein und zieht ei-
ne Parallele zum Mord. In seiner Vorstellung kann Zorn zu unversöhnli-
chem Hass degenerieren, der dann in Gewalt, Mord oder Totschlag, Ter-
ror oder Krieg umschlagen kann. Hass, Rachsucht, Gefühlskälte und Miss-
gunst schaukeln sich auf und setzen die Hemmschwelle herab, die einen
Menschen dazu treiben kann, zu töten. So beginnt der Mord bereits in der
Seele des Menschen. Damit sich nun diese verhängnisvolle Entwicklung
gar nicht erst in Gang setzt, ruft Jesus zur Beilegung des Streits und somit
zu Versöhnung und Vergebung auf.
Der Begriff ‚Verführung‘ wird zumeist als sexuelles Vergehen definiert
und so hat man es ja auch in der Kirche gehalten. In deren Sicht wurde
die Frau für den Verstoß aus dem Paradies verantwortlich gemacht und als
ständig lauernder Hort der Versuchung und Sündenpfuhl herabgesetzt. So
wurde eine Sexualmoral ersonnen, die jeglichen geschlechtlichen Umgang
mit Schmutz, Ekel und Schuld etikettierte. Jesus aber hatte die Sünde derje-
nigen im Blick, die die Kleinen, also die Geringen und Verachteten der Ge-
sellschaft, vom Glauben an die von ihm verkörperte rettende Lebenswirk-
lichkeit abbringen wollen. So heißt es denn auch in Lk 17,5 im Anschluss
an die Warnung vor dem Ärgernis der Sünde: „Stärke uns den Glauben“.
Die drastischen Bilder von dem Feuer in der Hölle als Strafe für die Verlei-
tung zur Sünde als auch die Selbstverstümmelung als präventive Maßnah-
7.3. Die Bergpredigt, Lehren über die Nachfolge 221
me, die übrigens der Kirchenlehrer Origenes an sich selbst vollzog, können
wir heute nur noch symbolisch verstehen, in dem Sinne, dass persönliche
Integrität höher einzuschätzen ist als körperliche Unversehrtheit.
Nun aber versteigt sich der mt Jesus zu der Behauptung, dass bereits
„wer eine Frau ansieht, sie zu begehren“ (Mt 5,28) Ehebruch begangen hat
und die folgenden Drohworte belegen, dass er dies als todeswürdigen Fre-
vel ansieht. Hier ist doch wohl jeder Maßstab verloren gegangen. Man mag
zwar argumentieren, dass dem Begehren des Mannes ein Besitzstreben zu-
grunde liegen kann, welches die Frau zu einem bloßen Objekt degradiert
und was auch die eigene Frau als anscheinend nicht mehr attraktiv erschei-
nen lässt. Aber ist mit dem Blick auf eine schöne Frau immer gleich auch
damit ein sie besitzen wollen verbunden? Ist jegliche Bewunderung des an-
deren Geschlechts zu zensieren und zu verdammen? Eine solche Haltung
lässt sich eher mit einer rigiden Sexualmoral verbinden, liegt aber kaum
auf der jesuanischen Linie, pflegte doch gerade Jesus einen unverkrampf-
ten Umgang mit dem anderen Geschlecht.
Den Ehebruch aber verurteilte Jesus, da er dies als nicht vereinbar mit
dem Schöpfungswillen Gottes sah. Sein entschiedenes Eintreten für den
Bestand der Ehe war aber auch als Schutz für die Frau gedacht, für die
Scheidung oftmals Absturz in materielle Not bedeutete. Was aber, wenn die
Liebe nicht mehr trägt und die Ehe zu einem ‚Gefängnis‘ für beide Partner
wird? Scheitert eine Ehe, muss sie trotzdem, wie es die katholische Kirche
verlangt, unter allen Umständen aufrecht erhalten werden? Führt das nicht
zu einer Situation an der Menschen zerbrechen können wenn die Beziehung
in Hass und Gewalt abzugleiten droht? Was vor 2.000 Jahren einmal Sinn
machte, muss doch nicht für alle Zeiten gelten.
Während sich die katholische Kirche buchstabengetreu an das bibli-
sche Verbot der Scheidung hält, bemisst sie dem Verbot des Schwörens
keine Bedeutung bei. Wer heute ein öffentliches Amt, zumal in der Kirche,
antritt, muss auf die Bibel schwören. Dies im Gegensatz zu Jesu Aufforde-
rung, sich im Vertrauen nur auf ein Ja und ein Nein zu verlassen; denn was
darüber hinausgeht, „das ist vom Übel“ (Mt 5,37).
Die Aufforderung zum absoluten Gewaltverzicht bekräftigt das Kli-
schee einer unrealistischen jesuanischen Ethik. In der Tat, dem steht ent-
gegen, dass der Staat die Pflicht hat, seine Bürger zu schützen und dass
dem Einzelnen das Recht zur Notwehr zugestanden werden muss. Sicher-
222 7. Der biblische Jesus
Jesus wandte sich auch gegen die Art pharisäischer Frömmigkeit, die
sich in der Öffentlichkeit suhlt. Nicht die vorschriftgemäße Einhaltung von
Gebeten oder das Abplappern eines Rosenkranzes zählen, sondern allein
das vertrauliche sich öffnen gegenüber Gott. Die Anrede mit Abba (Vater)
im Vaterunser betont ein solch familiäres Verhältnis zu Gott, mit der auch
Gedanken väterlicher Fürsorge und Liebe assoziiert werden sollen. Die Bit-
te um das Kommen des Gottesreiches als Verwirklichung seines Willens
auf Erden zielt darauf ab, sich von Gottes heilvollen Wollen leiten zu las-
sen, sodass ein Teil seines Wesens bereits jetzt auf Erden konkret Gestalt
annehmen kann. Im zweiten Teil des Vaterunser werden die Nöte des Men-
schen direkt angesprochen. Die Bitte um das tägliche Brot richtet sich auf
die elementaren Grundlagen unseres Lebens. Vergebung beruht auf dem
Gegenseitigkeitsprinzip, nur so ist echte Versöhnung möglich. Die Bitte,
nicht in Versuchung geführt zu werden, klingt absurd. Warum sollte Gott
das tun? Es erinnert an die Versuchung Jesu in der Wüste und des Hiob
durch Satan, dem Gott freie Bahn ließ. Gemeint ist wohl eine Verführung
hin zum Bösen, wodurch sich der Mensch in der existentiellen Wirklichkeit
verliert, was wiederum den Abfall von Gott nach sich zieht. Aber soll sie
von Gott ausgehen?
In den nächsten beiden Abschnitten dreht es sich um materielle Sor-
gen. In der Parabel vom Kornbauer wird uns dessen Habgier vorgeführt.
Einerseits glaubt sich der Bauer mit dem Anhäufen von Besitz gegen die
Wechselfälle des Lebens abgesichert, andererseits verführt es ihn zu einem
Leben der reinen Sinnesfreuden. Dadurch aber verfehlt er das Wahre und
Gute, nämlich Liebe, Geborgenheit und Lebenssinn. Eine Existenz, die auf
reine Daseinssicherung gründet, verengt die Perspektive auf materielle Gü-
ter; denn woran man sein Herz hängt, bestimmt das Denken und Handeln.
Mit Besitz und Geld kann man sich wohl Status und gesellschaftliche An-
erkennung verschaffen aber nicht die Leere der Seele füllen. Im Gegenteil,
das Streben nach immer mehr Geld nimmt seine eigene Dynamik an, es
gesellt sich dazu die Angst vor Verlust und Fall. Neid und Missgunst –
als eine Verfinsterung des Auges symbolisiert – verdunkeln das eigene Da-
sein. Jesus will uns aus dieser falschen Lebenseinstellung befreien, indem
wir stattdessen auf Vertrauen zu Gott setzen. Schön und gut, aber das setzt
einen starken Glauben voraus. Eine vernünftige Absicherung dürfte einem
224 7. Der biblische Jesus
Grundvertrauen doch nicht entgegen stehen, kann sie doch den Absturz un-
serer Existenz verhindern.
Eine andere Art der persönlichen Absicherung ist das Richten anderer.
Da kann man sich im Vergleichen an die eigene Brust klopfen und sich als
besser wähnen. Wie sehr ist es doch üblich, jemanden, der nicht anwesend
ist, zu schmähen um sich dann in seiner eigenen Meinung im Kreis Gleich-
gesinnter bestätigt zu fühlen. Doch indem wir mit dem Finger von uns weg
auf andere zeigen, so Jesus, fallen wir in einen Zustand der Selbstverblen-
dung. Es ist ja gerade auch im Leiden an uns selbst, dass wir lernen, mehr
Verständnis für die Verfehlungen anderer aufzubringen.
Viele verbinden noch heute mit dem Gebet die Erfüllung von Wünschen
oder sie beten um die Verhinderung von Unglück. In Afrika insbesondere
ist es gang und gäbe, um Regen und Reichtum zu beten als ob Gott so
eine Art Bestellautomat wäre. Hier sind noch Reste magischen Denkens
vorhanden. Allerdings hat Jesus mit der Metapher vom Glauben, der ‚Berge
versetzen kann‘ selbst so einer Vorstellung Vorschub geleistet. Und auch
das Bild vom ungerechten Richter und der beharrlichen Witwe kann in dem
Sinne missgedeutet werden, dass wenn man nur lange genug betet, sich
der Erfolg schon einstellen wird. Überhaupt ist der Vergleich Gottes mit
dem ungerechten Richter schon etwas befremdlich. Worauf wohl angespielt
wird, ist, dass Jesu Jünger sich nicht durch Misserfolge entmutigen lassen
sollen, geduldig ihre Situation ertragen lernen und sich im Gebet mit ihren
Nöten und Sorgen vertrauensvoll an Gott wenden sollen. Ein ‚Erfolg‘ des
Betens lässt sich nicht im objektiven Sinne beweisen, allerdings vermag es
zu einer Beruhigung des Selbst und einer inneren Klärung führen.
Das rechte Tun fasst Jesus in der Goldenen Regel zusammen, die auch
aus anderen Religionen bekannt ist: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die
Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“ (Mt 7,12). Dies erfordert Empathie,
die Fähigkeit, uns die Nöte der anderen zu eigen zu machen. Es sind wohl
solche Menschen, die Jesus meinte und denen er zutraute, die enge Pforte
zum wahren Leben in Gott zu erreichen. Dieser Weg ist eine Nagelprobe,
der nur wenige gewachsen sind weil sie doch eh die bequemere Alternative
wählen. Dass Matthäus ‚Weg‘ im ethischen Sinne verstanden haben will,
lässt zum einen die Zusammenstellung der Verse 7,12–14 vermuten und
sich zum anderen aus dem Vorrang schließen, der bei ihm der Begriff ‚Ge-
rechtigkeit‘ hat. Die Metapher ‚Weg‘ könnte man aber auch als ein Festhal-
7.3. Die Bergpredigt, Lehren über die Nachfolge 225
7.4. Jesus und die Jünger auf dem Weg nach Jerusalem
Das Johannes-Evangelium (Kapitel 5–6)
5. An einem Festtag der Juden zog Jesus wieder nach Jerusalem hinauf. In
einer Halle bei einem Teich genannt Betesda sah er einen Menschen liegen,
der bereits seit 38 Jahren krank war und fragte ihn, ob er gesund werden
wolle. Der Kranke erwiderte, dass er auf sich allein gestellt wäre und ihn
niemand zu dem Wasser bringe wenn es sich bewegt. So ist er immer zu
spät dran. Jesus forderte ihn auf: „Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!
Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin“.
Die Juden aber waren erzürnt, weil er sein Bett trug; denn es war ein Sab-
bat. Der Mann suchte sich zu rechtfertigen und erzählte ihnen von seiner
Heilung, doch wer ihn geheilt hatte, wusste er nicht. Später begegnete er
wieder Jesus und wurde von ihm ermahnt, hinfort nicht mehr zu sündigen,
damit ihm nicht noch „etwas Schlimmeres widerfahre“. Der Mann berichte-
te daraufhin den Juden, dass es Jesus gewesen sei, „der ihn gesund gemacht
habe“. Weil Jesus am Sabbat geheilt hatte wurde er von nun an von den Ju-
den verfolgt. Er aber sagte zu ihnen: „Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag,
und ich wirke auch“. Das reizte die Juden noch viel mehr, hatte er sich doch
Gott gleich gemacht weil er gesagt hatte, Gott sei sein Vater.
Jesus sprach: Der Vater liebt den Sohn und der Sohn tut wie auch der
Vater tut. Wie der Vater Tote lebendig machen kann, so auch der Sohn. Der
Vater hat dem Sohn zu seiner Ehre das Gericht übergeben. Und Jesus sagte
weiter: „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat
das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht“. Wahrlich, „es kommt die
Stunde und ist schon jetzt“, dass die Toten in den Gräbern meine Stimme
hören werden und die, welche Gutes getan haben, zum Leben auferstehen,
die Bösen aber kommen ins Gericht. Das Gericht ist gerecht; denn es richtet
nach dem Willen Gottes.
Und Jesus sagte: Mich hat Johannes bezeugt, doch habe ich ein größe-
res Zeugnis, das von meinem Vater, der mich gesandt hat und dessen Werke
228 7. Der biblische Jesus
ich tue. Den Vater habt ihr nie gesehen und seine Worte nicht in euch aufge-
nommen. „Ich bin gekommen in meines Vaters Namen und ihr nehmt mich
nicht an“. Wenn ihr Mose glaubt, so glaubt doch auch mir; denn die Schrift
zeugt von mir. Wenn ihr aber nicht glaubt, was er von mir geschrieben hat,
wie könnt ihr dann meinen Worten glauben?
6. Kurz vor dem Passafest zog Jesus weiter und fuhr über das Galiläi-
sche Meer. Viel Volk folgte ihm, und um ihn zu prüfen, fragte Jesus Phil-
ippus, wo sie Brot kaufen könnten. Das brachte Philippus in Verlegenheit,
weil nicht genug Geld da war. Ein Kind aber hatte ein wenig Brot und
Fisch. Jesus ordnete an, dass die Leute sich lagern sollten, dankte und ließ
von dem was sie hatten austeilen. So wurden fünftausend Menschen gesät-
tigt und es blieben sogar noch zwölf Körbe mit Brot übrig. Die Menschen
aber hielten Jesus für einen Propheten und wollten ihn zum König machen,
doch Jesus zog sich auf einen Berg zurück.
Seine Jünger bestiegen abends ein Boot, um über den See nach Kaper-
naum zurückzukehren, doch wurden sie von starken Winden behindert. Sie
erblickten Jesus, der auf dem See ging und fürchteten sich. Jesus aber be-
ruhigte sie und als sie ihn an Bord nehmen wollten, war „sogleich . . . das
Boot am Land“.
Die Menge suchte Jesus und fand ihn schließlich in Kapernaum, wun-
derte sich aber, wie er dahingekommen sei. Jesus sprach zu ihnen, dass sie
ihn wegen seiner Zeichen suchten. Sie interessierte nur vergängliche Spei-
se, er aber könne ihnen Speise geben, die zum ewigen Leben führt, wenn
sie ihm nur glaubten, dass Gott selbst ihn gesandt hat. Die Menge verlang-
te nach einem Zeichen, so wie Mose dem wandernden Volk in der Wüs-
te Manna, das Brot vom Himmel, gegeben hatte. Doch Jesus sagte: Nicht
Mose hat euch das himmlische Brot gegeben, sondern mein Vater gibt das
wahre Brot. Als sie Jesus um dieses Brot baten, sagte er: „Ich bin das Brot
des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich
glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“
„Ich bin vom Himmel herabgestiegen“, um den Willen meines Vaters zu
erfüllen und wer an mich glaubt, den werde ich „auferwecken am Jüngsten
Tage“. „Da murrten die Juden über ihn, weil er sagte: ich bin das Brot,
das vom Himmel gekommen ist“. Sie kannten ihn und seine Familie doch.
Wieso könne er also behaupten, er käme vom Himmel. Jesus sprach: „Es
kann niemand zu mir kommen, es sei denn, ihn ziehe der Vater, der mich
7.4. Jesus und die Jünger auf dem Weg nach Jerusalem 229
gesandt hat“. Ich bin das Brot des ewigen Lebens und wer von diesem Brot
isst, wird nicht sterben. „Dieses Brot ist mein Fleisch, das ich geben werde
für das Leben der Welt . . . Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohnes
esst und sein Blut trinkt, so habt ihr kein Leben in euch . . . Wer mein
Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm.“
Diese Worte, die er in der Synagoge in Kapernaum redete, entzweiten
seine Jünger und viele befanden, dies wäre eine harte Rede. Jesus merkte,
dass sie sich über ihn ärgerten und sprach: „Wie, wenn ihr nun sehen werdet
den Menschensohn auffahren dahin wo er zuvor war? Der Geist ist’s der
lebendig macht, das Fleisch ist nichts nütze.“ Nach diesen Worten wandten
sich viele seiner Jünger von ihm ab. Daraufhin fragte Jesus die Zwölf, ob sie
auch weggehen wollten. Simon Petrus aber erwiderte: „Herr, wohin sollen
wir gehen? Du hast Worte des Lebens, und wir haben geglaubt und erkannt:
Du bist der Heilige Gottes.“ Doch Jesus wusste, dass einer von den Zwölfen
ihn verraten würde.
Die synoptischen Evangelien
„Es begab sich aber, als die Zeit erfüllt war, dass er hinweggenommen wer-
den sollte, da wandte er sein Angesicht stracks nach Jerusalem zu wandern“
(Lk). Sie kamen zunächst in ein Dorf der Samariter, doch hier wurden sie
abgewiesen. Die Jünger wollten die Bewohner mit Feuer vom Himmel be-
straft haben, doch Jesus wies sie zurecht und so gingen sie weiter.
Als sie nun durch Samaria und Galiläa weiterwanderten, begab es sich,
dass ihnen zehn aussätzige Männer begegneten, die fernab standen. Jesus
erbarmte sich ihrer und heilte sie. Einer von ihnen, dem der Priester seine
Reinheit bestätigt hatte, kehrte um, fiel nieder vor Jesus „und dankte ihm.
Und das war ein Samariter“ (Lk). Jesus fragte: Wo sind die anderen? Hatte
sich sonst keiner zur Umkehr gefunden, „um Gott die Ehre zu geben, als
nur dieser Fremde? Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube
hat dir geholfen“ (Lk).
Unterwegs wollte sich ihnen jemand anschließen. Jesus sagte: „Die
Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber
der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Mt). Ein ande-
rer war bereit, Jesus nachzufolgen nachdem er seinen Vater begraben hatte
doch Jesus sprach zu ihm: „Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber
geh hin und verkündige das Reich Gottes“ (Lk). Einem anderen, der vorher
noch seinen Abschied von seinem Haus nehmen wollte beschied er: „Wer
230 7. Der biblische Jesus
seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für
das Reich Gottes“ (Lk).
Nun hatte Jesus 72 andere Jünger zu je zweien ausgeschickt, dass sie
durch die Dörfer und Städte gehen, den Menschen das Wort Gottes zu pre-
digen und die Kranken zu heilen. Diese 72 kamen nun zurück und berich-
teten Jesus, dass sie sogar die bösen Geister hatten austreiben können. „Er
aber sprach zu ihnen: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“
(Lk). Jesus pries seinen Vater im Himmel, der ihm Vollmacht gegeben hat-
te. Nur er, der Sohn, kennt den Vater und „wem es der Sohn offenbaren
will“ (Mt). Dieses Wissen ist den Weisen und Klugen verhüllt, den Kleinen
und Unmündigen aber aufgetan. An diese richtete Jesus sein Wort: „Kommt
her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.
Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und
von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein
Joch ist sanft und meine Last ist leicht“ (Mt).
Es trat ein Schriftgelehrter zu Jesus und fragte ihn, welches das höchste
Gebot sei. „Jesus aber antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lie-
ben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist
das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst dei-
nen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt). Der Schriftgelehrte aber wollte
sich rechtfertigen und fragte: „Wer ist denn mein Nächster?“ (Lk).
Jesus antwortete: Es begab sich, dass ein Mensch unter die Räuber fiel,
von ihnen ausgeraubt, geschlagen und halbtot liegengelassen wurde. Ein
Priester, der desselben Weges hinabzog, ging vorüber, desgleichen ein Le-
vit. Einem Samariter aber, der ihn sah, jammerte es. Er ging hin zu ihm,
„goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband ihn, hob ihn auf sein
Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn“ (Lk). Am nächsten
Tag gab er dem Wirt eine Vorauszahlung für die Kosten der weiteren Pfle-
ge und sprach: „Wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich
wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen
dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit
an ihm tat. Da sprach Jesus: So geh hin und tu desgleichen“ (Lk).
Und siehe, es trat einer zu ihm und „fragte ihn: Guter Meister, was
soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Aber Jesus sprach zu ihm:
Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein. Du kennst die
Gebote“ (Mk). Der Jüngling beteuerte, dass er diese alle von seiner Jugend
7.4. Jesus und die Jünger auf dem Weg nach Jerusalem 231
an gehalten habe. „Und Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb und sprach
zu ihm: Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den
Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben und komm und folge
mir nach“ (Mk). Die Antwort verdross den Jüngling und er „ging traurig
davon; denn er hatte viele Güter. Und Jesus sah sich um und sprach zu
seinen Jüngern: Wie schwer haben es die Reichen, in das Reich Gottes zu
kommen!“ (Mk). Die Jünger waren entsetzt und fragten: „Wer kann denn
selig werden? Jesus aber sah sie an und sprach: Bei den Menschen ist’s
unmöglich, aber nicht bei Gott“ (Mk).
„Da fing Petrus an und sprach zu ihm: Siehe, wir haben alles verlas-
sen und sind dir nachgefolgt, was wird uns dafür gegeben?“ (Mt). Jesus
sprach: Wer alles hinter sich gelassen hat, auch Vater und Mutter, Bruder
und Schwester, und mir nachfolgt, dem wird dafür hundertfach gelohnt wer-
den und im Himmel das ewige Leben erben.
Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, baten, dass ihnen Jesus
in seiner kommenden Herrlichkeit ein Platz zu seiner Linken und zu seiner
Rechten gewähre. Jesus antwortete ihnen: Wahrlich, ihr werdet auch aus
dem Kelch trinken den ich zu leeren habe, aber es steht mir nicht zu, euch
den Platz zu gewähren, um den ihr mich gebeten habt. Die anderen zehn
waren entrüstet als sie von der Bitte der beiden Brüder erfuhren. Jesus aber
rief alle zu sich und belehrte sie: Wer von euch groß sein will, der soll aller
Diener sein, „denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er
sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld
für viele“ (Mk).
Einer aus dem Volk bat Jesus, sich für ihn in einem Erbfall einzusetzen.
Jesus aber sprach: Wer hat mich zum Richter oder Erbschlichter bestellt?
Und zu den Jüngern sagte er: „Hütet euch vor aller Habgier; denn niemand
lebt davon dass er viele Güter hat“ (Lk). Weiter sprach er: Ein reicher Guts-
herr hatte seinen Verwalter entlassen, weil der seinen Besitz veruntreut hat-
te. Der Verwalter überlegte, wie er für seine Zukunft sorgen könne, rief
die Schuldner seines Herrn zu sich und erließ einem jeden einen Teil ihrer
Schulden. Als der Gutsherr davon hörte, lobte er den ungetreuen Verwalter
seiner Klugheit wegen. Jesus aber sagte: Die Kinder dieser Welt handeln
oftmals klüger als die Kinder des Lichts. Macht euch deshalb „Freunde mit
dem ungerechten Mammon“, damit ihr am Ende Eingang beim Höchsten
findet; denn „wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu“ (Lk).
232 7. Der biblische Jesus
Seid ihr nicht treu mit dem ungerechten Mammon, das euch anvertraut ist,
„wer wird euch das wahre Gut anvertrauen?“ (Lk). Ihr könnt nicht zwei
Herren dienen, entweder entscheidet ihr euch für Gott oder den Mammon.
„Das alles hörten die Pharisäer. Die waren geldgierig und spotteten über
ihn“ (Lk). Jesus sprach zu ihnen: Ihr rechtfertigt euch vor den Menschen,
Gott aber kennt eure Herzen. „Was hoch ist bei den Menschen, das ist ein
Gräuel vor Gott“ (Lk).
Als sie nun Jerusalem näher kamen, erzählte er ihnen ein weiteres
Gleichnis. Ein Fürst, der in ein fernes Land zog, um sich dort ein König-
tum zu erwerben, vertraute seinen Knechten sein Vermögen an, so dass sie
während seiner Anwesenheit damit handelten. Als er nun wieder zurück-
kam, lobte er einen jeden von ihnen, die sein Gut hatten vermehren können:
„Recht so, du tüchtiger und treuer Knecht, du bist über wenigem treu ge-
wesen, ich will dich über viel setzen“ (Mt). Einer aber unter ihnen gestand,
dass er das ihm Anvertraute aus Furcht vor dem Herrn vergraben hätte und
es so nichts zusätzlich hatte verdienen können. „Sein Herr aber antwortete
und sprach: Du böser und fauler Knecht! Wusstest du, dass ich ernte, wo
ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe?“ (Mt).
Hättest du nicht wenigstens mein Geld zur Bank bringen können, dass es
Zinsen bringe? So nimmt ihm das Geld ab und gibt’s dem ersten Knecht.
Die anderen sagten daraufhin: „Herr, er doch schon zehn Pfund. Ich sage
euch aber, der nicht hat, wird auch das genommen werden, was er hat“ (Lk).
Jesus erläuterte seinen Jüngern die Fangnetze des Reichtums mit dem
folgenden Gleichnis: Ein reicher Mann lebte alle Tage in Freuden und Über-
fluss. Vor seiner Tür lag ein Armer namens Lazarus. Der wollte sich nur
sättigen von dem, was von des Reichen Tisch fiel, doch die Hunde dräng-
ten sich um ihn und leckten obendrein seine Geschwüre. Der Arme starb
und wurde in den Himmel gehoben, wo er nun von Abraham aufgenom-
men wurde. Auch der Reiche starb und kam in die Hölle. Dort musste er
die Qualen des Feuers ertragen und bat Abraham, sich seiner zu erbarmen
und Lazarus zu schicken, dass er sein Leiden lindere und ihm die Zunge mit
Wasser kühle. Doch Abraham sprach: „Gedenke, Sohn, dass du dein Gutes
empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen;
nun wird er hier getröstet, und du wirst gepeinigt. Und überdies besteht
zwischen uns eine große Kluft“ (Lk) so dass niemand von der einen zur
anderen Seite kommen kann. Auf die Bitten des Reichen hin, den Lazarus
7.4. Jesus und die Jünger auf dem Weg nach Jerusalem 233
de teilen konnte. Der ältere Sohn, der vom Felde kam, hörte das Singen
und Tanzen und erfuhr von einem Knechte was sich zugetragen hatte. Er
war verärgert und wollte dem Fest fernbleiben. Dem Vater, der herbeige-
eilt war, sagte er: Mir ist nie eine solche Ehre widerfahren und doch habe
ich mich die ganze Zeit treu und redlich bemüht während mein Bruder ein
liederliches Leben geführt hat. Der Vater aber sprach zu ihm: „Mein Sohn,
du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest
aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist
wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden“ (Lk).
Jesus erzählte den Jüngern auch ein Gleichnis über die wahre Gottes-
furcht: Es gingen ein Pharisäer und ein Zöllner zum Tempel hinauf, um zu
beten. Der Pharisäer sonderte sich ab, „und betete so: Ich danke dir Gott,
dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Einbrecher oder
auch wie dieser Zöllner hier“ (Lk). Ich faste regelmäßig und gebe den Zehn-
ten von dem, was ich einnehme. „Der Zöllner aber stand von ferne, woll-
te auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine
Brust und sprach: Gott sei mir Sünder gnädig!. Ich sage euch: Dieser ging
gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht,
der wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht
werden“ (Lk).
Als die Jünger nun hinauf nach Jerusalem gingen, da sprach Jesus wie-
der davon, dass er unter den Oberen des Volkes und den Heiden noch viel
leiden müsse und dass er getötet werde, doch am dritten Tage wieder auf-
erstehen werde. Die Jünger aber verstanden ihn nicht.
Sie kamen nahe Jericho. Am Wegesrand saß ein blinder Bettler namens
Bartimäus. Als er hörte, dass Jesus vorbeiging, da schrie er laut aus und
flehte ihn um Erbarmen an. Die Menge wollte ihn zum Schweigen nötigen,
er aber schrie nur um so lauter bis Jesus ihn zu sich rufen ließ. „Da warf er
seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus“ (Mk). „Was willst
du was ich für dich tun soll“ fragte Jesus und Bartimäus sprach: „Rabbuni,
dass ich sehend werde. Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat
dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem
Wege“ (Mk).
„Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch“ (Lk). Ein Mann
namens Zachäus, der ein Oberer der Zöllner war, begehrte ihn zu sehen.
Da er aber klein war, kletterte er auf einen Baum an einer Stelle, wo Jesus
7.4. Jesus und die Jünger auf dem Weg nach Jerusalem 235
Kommentar
Zum Johannes-Evangelium
Zeichen gäbe wie seinerzeit Mose mit dem Manna, dann würden sie ihm
Glauben schenken. Jesus entgegnete, dass was ihnen Mose gab war doch
eine Gabe von Gott. Er selbst aber ist das wahre Brot des Lebens, das vom
Himmel herabgestiegen ist und denen, die an ihn glauben, das ewige Leben
schenken kann.
Mit dem Murren der Juden deutet sich bereits der kommende Bruch an.
Wieso kann dieser Jesus, dessen Vater und Mutter sie doch kennen, so ein-
fach behaupten, er käme vom Himmel. Man stelle sich vor, jemand würde
heute so etwas von sich behaupten. Ihm wäre ein Platz in der Psychiatrie
sicher. Ist es also gerecht, den Juden ihre Zweifel als hartnäckige Ungläu-
bigkeit anzulasten? Der joh Jesus wirft ihnen Glaubensunfähigkeit vor: „Ihr
habt mich gesehen und glaubt doch nicht“. Es kommt noch ärger. Jesus ver-
langt von denen, die an ihn glauben, sein Blut zu trinken und sein Fleisch zu
essen und bezieht sich wohl dabei auf seinen bevorstehenden Opfertod am
Kreuz. Vielfach wird dieser Text auch als Vorwegnahme der Eucharistie in-
terpretiert. Ein Text wie dieser hat aber auch das Christentum in der Antike
in Verruf gebracht und man warf den Christen vor, Kannibalismus zu be-
treiben. Zu einer solchen Fehlinterpretation kann man beim oberflächlichen
Lesen gelangen. Aus Jesu Worten geht jedoch hervor, dass er hier von einer
symbolischen Mahlzeit zur Würdigung seines Gedächtnisses gesprochen
hatte. Übrigens, Fleisch und Blut waren auch Elemente der griechischen
Mysterienfeiern wie der Dionysoskult.
Das Fleisch von Menschen zu essen und sein Blut zu trinken ist wahr-
lich ein absonderlicher und abstoßender Gedanke. Für die meisten Jünger
führte das zu weit. Vielleicht hielten einige ihn sogar für verrückt. Jesus
machte noch einen letzten Erklärungsversuch. Wenn die Jünger seinen Auf-
stieg zum Himmel erleben werden, dann werden sie ihm glauben. Doch die
meisten trennten sich nun von ihm und nur die kleine Gruppe der Zwölf
blieb übrig. Gut möglich, dass in diesem Abschnitt die traumatischen Er-
fahrungen der Spaltung in der johanneischen Gemeinde verarbeitet worden
sind, die dann auf das Jesus-Geschehen zurückprojiziert wurden.
Zu den synoptischen Evangelien
Jesus machte sich nun entschlossen auf den Weg nach Jerusalem, das re-
ligiöse Herz Israels. Er durchquerte mit seinen Jüngern Samaria, das als
Feindesland galt. Im Grenzgebiet zu Galiläa bewirkte er eine Fernheilung
von Männern, die wegen ihrer Hautkrankheit ausgestoßen und geächtet wa-
238 7. Der biblische Jesus
ren. Aber nur der Fremdling, ein Samariter, zeigte sich dankbar und wurde
von Jesus entsprechend gewürdigt. Wiederholt erweist es sich, dass Jesus
sich nicht in ein Freund-Feind-Schema pressen lassen will. Entscheidend
ist für ihn das Verhalten eines Menschen.
Die nächste Episode, in der es um den Ernst der Nachfolge geht, stellt
Matthäus in den Zusammenhang von Jesu Wirken in Galiläa, Lukas aber an
den Beginn des Weges nach Jerusalem was mehr Sinn macht; denn von nun
an gilt es, sich im Wagnis der Nachfolge zu bewähren. Jesus ist radikal und
kompromisslos wenn es um die Entscheidung für seine Sache geht. Einen
Aufschub lehnt er ab. Weder zählen da die pietätvollen Verpflichtungen der
Familie, noch kann man sich einen Blick zurück gestatten. Wer sich seiner
Botschaft verpflichtet, der muss mit den gesellschaftlichen Konventionen
brechen und mit ihm Armut, Heimatlosigkeit und Unsicherheit teilen. Ins-
besondere Jesu schroffer Ausspruch „lass die Toten ihre Toten begraben“
(Mt 8,22) ist schockierend; denn das Gebot, die Eltern zu ehren, erforder-
te auch, für ein anständiges Begräbnis für sie zu sorgen. In einem tieferen
Sinn könnte man diesen Ausspruch als eine Zurückweisung des verkrus-
teten religiösen Traditionalismus deuten, eine tote Religion, die im Haften
an ihren Ritualen nur noch um sich selbst kreist und von der wirklichen
Lebenswelt abgeschottet ist.
Die Aussendung der 72 Jünger hat eher symbolische Bedeutung. Die
Zahl 72 steht für die Völkertafel in Gen. 10 wo 72 heidnische Völker auf-
gelistet sind. Ihnen gilt der Missionsauftrag der nachösterlichen Gemein-
de. Die ursprüngliche jesuanische Mission beschränkte sich auf Israel und
wurde von herumziehenden Wanderradikalen betrieben, die ähnlich wie die
griechischen Kyniker, nur mit dem Nötigsten versehen, ihre Botschaft zu
verbreiten suchten. Der Friedensgruß als Zusage des Heils war wohl Teil
einer Hausregel wie es wahrscheinlich auch Regeln für das Verhalten in
einer Stadt gab. Das Staubabschütteln nach Ablehnung des Boten symboli-
sierte die Gerichtsansage für die Endzeit.
Die zurückkehrenden Boten berichteten Jesus über den Erfolg ihrer
Mission. Dieser Triumph erfüllte Jesus mit großer Freude und in einer
Vision sah er den Satan vom Himmel fallen, eine Umschreibung für sei-
ne Überzeugung, dass nun die Gottesherrschaft anbrach. Jubelnd und Gott
preisend verkündigte er, dass diese Zeichen der Zeit nur den Unmündigen,
also den Kleinen und Geringen der Gesellschaft, offenbart werde, den Klu-
7.4. Jesus und die Jünger auf dem Weg nach Jerusalem 239
Im Gespräch mit dem Jüngling (bei Lukas einer der Oberen), der wissen
will, wie man das ewige Leben erben kann, macht Jesus noch einmal klar,
dass Gesetzesgehorsam allein nicht genügt. Was zählt ist allein das Vertrau-
en in die allumfassende Liebe Gottes. Ein solches Vertrauen gleicht einem
Wagnis des Glaubens, ein Sprung über den Abgrund, wie es Kierkegaard
einmal ausdrückte, und dieser Schritt verlangt, dass man sein bisheriges
Leben und damit alle Sicherheiten hinter sich lassen muss und damit auch
seinen Besitz. Jesus scheint hier eine unmögliche Ethik zu vertreten und
hat sie auch nicht konsequent durchgehalten; denn er hat zum Beispiel dem
Zöllner Zachäus, der nur die Hälfte seines Besitzes abgeben wollte, sein
Heil zugesprochen. Mit der überzogenen Forderung der Aufgabe von allem
was einem bisher lieb und teuer war, soll wohl auf die Gefahr des Besitz-
strebens hingewiesen werden, das eine trügerische Quelle des Glücks ist,
weil sie nie befriedigen kann und einen die wahren Dinge des Lebens ver-
fehlen lässt, ist es doch nur Kompensation für den eigenen Mangel an Sinn
und Sein.
Jesus lehnte es ab, gut genannt zu werden (Mk 10,17). Gut ist nur Gott,
so sagte er. Hielt er denn auch sich selbst für einen sündigen Menschen
obwohl sich doch in seinem Wirken Gottes Willen verkörperte? Doch nur
einer kann Gott sein; denn Gott ist einzigartig wie Jesus ja auch an anderer
Stelle betont (Mk 12,29). Das lässt doch entgegen der hohen Christologie
des Johannes nur den Schluss zu, dass auch Jesus sich lediglich als Mensch
sah.
In der fiktiven Kontroverse um die Bitte zweier Jünger an Jesus – in
der matthäischen Version ist es deren Mutter –, dass Jesus ihnen Ehrenplät-
ze in seiner zukünftigen himmlischen Herrschaft gewähren möge, spielen
nachösterliche Reflektionen hinein. Es geht hier um die Art von Gemein-
schaft wie sie Jesus nach dem Verständnis seiner Nachfolger wohl gewollt
hatte. Nachfolge im Sinne Jesu bedeutet auch Bereitschaft, sein Schicksal
zu teilen und unter Umständen für ihn bis in den Tod zu gehen. Man solle
aber sein Tun nicht von der Erwartung besonderer Privilegien im Himmel
leiten lassen. Allerdings hatte der mt Jesus seinen Jüngern als Lohn für ih-
re treue Nachfolge richterliche Gewalt bei der Wiedergeburt in Aussicht
gestellt (Mt 19,28). In diesem Kontext erscheint die Bitte der beiden Zebe-
däus Söhne also nicht so absurd und anstößig. Doch auf Erden sollen sich
die wirklich Großen in der Gemeinde durch eine dienende Haltung im Geist
7.4. Jesus und die Jünger auf dem Weg nach Jerusalem 241
Folge, dass Archelaus abgesetzt wurde. Dass dieser Despot, wenn auch nur
symbolisch, nun mit Christus als der Herr gleichgesetzt wird, kann einem
ja wohl nicht recht einleuchten. Die Aufforderung, mit seinen Pfunden, d.h.
seinen Gaben, verantwortungsvoll umzugehen, ist zwar verständlich, aber
setzt dies nicht auch ein Klima des Vertrauens voraus, dass bei einem hart-
herzigen Herrscher gerade nicht zu erwarten ist? Die beiden Knechte, die
in der Parabel als tüchtig und treu charakterisiert werden, erscheinen da
eher als solche, die im typischen Untertanengeist sich einem despotischen
Machthaber andienern wollen. Weil somit der Vergleich des wiederkom-
menden Jesus als Herr der Welt mit einem willkürlich herrschenden Kö-
nig wie Archelaus unstimmig ist, ist auch die beabsichtigte Botschaft nur
schwer zu vermitteln. Es dreht sich doch gerade auch darum, einen durch
Angst gebeutelten und von Minderwertigkeitskomplexen niedergedrückten
Menschen wieder aufzurichten. Die Tendenz eines solchen Menschen, auf
Sicherheit zu bauen und jegliches Risiko zu scheuen, ist von daher nur all-
zu verständlich. Da wird die Aussicht auf einen strafenden Gott wohl kaum
den Mut zurückgeben, sich auf die Suche nach einer sinnerfüllten Existenz
zu begeben. Alles in allem erscheint diese Parabel also als wenig überzeu-
gend.
Auch die folgende Parabel vom reichen Mann und dem armen Lazarus
kann nicht kritiklos akzeptiert werden, insbesondere die Warnung vor der
Hölle, aber man wird auch einräumen müssen, dass solcherlei Vorstellun-
gen das zeitgenössische jüdische Denken beherrschten und es somit eher
ungerechtfertigt erscheint, dem Autor daraus einen Vorwurf zu machen.
Heutzutage wird man die Idee, dass ein Mensch für Verfehlungen während
seiner kurzen irdischen Existenz mit ewigen Höllenqualen bestraft werden
soll, als abstoßend und unserem Gerechtigkeitsempfinden als gegenläufig
empfinden. Der Hinweis auf die Verrechnung der jetzigen Qual des Rei-
chens mit dem früheren Leben des Genusses entspringt der damaligen jüdi-
schen Vergeltungslehre. Gemäss diesem Tun-Ergehen-Schema werden die
irdischen Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Weil es der Reiche im Leben
an Barmherzigkeit hat fehlen lassen, werden ihm nun Werke der Barm-
herzigkeit vorenthalten. Ja, sie sind – symbolisiert durch den Abgrund –
unmöglich geworden. Lazarus aber (hebr.: Gott kommt zu Hilfe) erfreut
sich nun der Liebe Gottes, versinnbildlicht durch den Schoss Abrahams.
Möglich, dass in dieser Parabel auch griechisches Gedankengut verarbei-
7.4. Jesus und die Jünger auf dem Weg nach Jerusalem 243
tet worden ist; denn die Freuden in Abrahams Schoss gleichen auffallend
denen, die mit der Insel der Seligen verbunden sind.
Jesus setzte seinen Weg nach Jerusalem fort. Unterwegs kehrte er bei
den beiden Schwestern Maria und Marta ein. Während Marta den Haushalt
versorgte, verbrachte Maria ihre Zeit damit, Jesu Lehre zu lauschen. Marta
verdross es, dass nun die ganze Last der Arbeit auf ihren Schultern ruhte,
doch Jesus ließ ihre Klage nicht gelten und erklärte ihr, dass Maria sich für
das Wichtigere entschieden hatte, nämlich von ihm in das Wesen von Got-
tes Reich eingeführt zu werden. Ist diese Zurechtweisung gerecht? Wenn
nicht sie, wer denn könnte sich um Haushalt und Versorgung der Gäste
kümmern? Jesus aber setzt andere Prioritäten als die Erledigung von Haus-
haltspflichten. Hier wird wohl kritisch die Gefahr unter die Lupe genom-
men, dass man unter den Sorgen des Alltags das Wahre im Leben verkennt
und sich im routinierten Betrieb von Pflichterfüllung erschöpft.
Die Warnung der Pharisäer an Jesus, dass Herodes ihn zu töten sucht,
verdeutlicht, dass Jesus durchaus Sympathisanten unter ihnen gehabt haben
dürfte. Doch er hat eben auch seine Widersacher gehabt, wie aus der Kritik
der Pharisäer an seinem Umgang mit Zöllnern und Sündern hervorgeht. In
einer Reihe von Gleichnissen, die das Thema Verlorengehen-Wiederfinden-
Freude variieren hebt Jesus hervor, dass die Umkehr und Rückkehr in die
Gemeinschaft nur eines Sünders mehr an Gewicht besitzt als die als blei-
bend vorausgesetzte Treue und Loyalität der Gerechten. Auch die Kleinen
und Geringen sollen nicht aus Gottes Güte ausgeschlossen werden. Verlo-
ren gegangene Menschen sind auch solche, die an der Gesellschaft geschei-
tert sind, in Alkohol- oder Drogensucht abgeglitten oder sogar kriminell
geworden sind. Doch aus Jesu Sicht kann kein Fall als hoffnungslos gelten.
Die Parabel vom verlorenen Sohn ist nicht nur eine der bekanntesten,
sondern wird auch als die wohl schönste bezeichnet. Sie ist u.a. von R.M.
Rilke, F. Kafka und A. Walser weiter ausgedichtet worden. In drei Per-
spektivenwechseln zwischen den Söhnen und dem Vater wird Umkehr und
Vergebung thematisiert. Der jüngere Sohn verschleudert den ihm ausge-
zahlten Erbteil, doch die Not einer trostlosen Existenz und Einsicht in eige-
nes Fehlverhalten nötigen ihn zur Rückkehr und Bekenntnis seiner Sünde
vor dem Vater, der ihn freudig wieder aufnimmt und ihm Vergebung ge-
währt. An dieser aus seiner Sicht unverdienten Annahme des Bruders, der
so unverantwortlich handelte, stößt sich das Gerechtigkeitsempfinden des
244 7. Der biblische Jesus
sich selbst anzunehmen und einen eigenen Willen zu entwickeln. Dem ent-
spricht in der biblischen Erzählung der Hilferuf des Blinden und die Frage
Jesu nach dem was er selbst will. Erst der vertrauende Glaube in die hei-
lende Macht Jesu, durch die er aus seiner Selbsterniedrigung zurückfindet,
wird ihn wieder auf seine eigenen Füße helfen und sein Existenz neu auf-
richten lassen.
Jesus zog durch Jericho hindurch und trifft auf den Oberzöllner Zachä-
us, der, weil er klein war, auf einen Maulbeerbaum geklettert war, um Jesus
zu sehen. Als Jesus ihn erblickte, spricht er ihn mit Namen an, als ob sie be-
reits miteinander vertraut waren und lässt sich von ihm zu sich nach Hause
einladen. Das Volk aber – und die Betonung liegt auf ‚alle‘ – war ungehal-
ten darüber, dass Jesus sich mit einem verhassten Zöllner einließ. Doch für
Jesus zählte nur Zachäus‘ Bereitschaft zur Umkehr, die sich in der Wieder-
gutmachung der von ihm erpressten Gelder ausdrückte. In seiner Sicht war
Zachäus einer der Verlorenen und nun Wiedergefundenen.
Jesus stand jetzt vor den Toren Jerusalems. Hier wird sich sein Schick-
sal entscheiden.
lassen auch am Sabbat Beschneidungen zu. Das Volk aber dachte, er sei
besessen und sie verwunderten sich, dass er frei sprechen konnte. Suchten
die Oberen nicht, Jesus habhaft zu werden oder hatten sie ihn nun als den
wahren Christus anerkannt? Doch wie könnte das sein. Jesu Herkunft war
bekannt aber woher der Christus ist, das könne niemand wissen.
Jesus rief aus: Ihr kennt mich zwar, aber nicht den Wahrhaftigen, der
mich gesandt hat. Viele glaubten an ihn wegen der Zeichen, die er tat. Jesus
sprach: Meine Zeit ist bald um und ich werde zu dem gehen, der mich ge-
sandt hat. „Ihr werdet mich suchen und nicht finden; und wo ich bin, könnt
ihr nicht hinkommen“. Die Juden waren verwirrt und manche glaubten, er
plane das Land zu verlassen und sich zu den Griechen zu flüchten. Am letz-
ten Tag des Festes trat Jesus noch einmal auf und rief: „Wer da dürstet, der
komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von
dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“ Die Leute waren
mehr denn je uneins, was sie von ihm halten sollten. Einige meinten, er sei
ein Prophet, manche glaubten, er sei der Christus. Doch andere widerspra-
chen; denn der Schrift nach wird der Christus nicht aus Galiläa, sondern
aus Bethlehem und dem Geschlecht Davids kommen.
Die Hohepriester und Pharisäer hatten von Jesus öffentlichen Auftreten
erfahren und eine Truppe Knechte ausgesandt, dass sie ihn ergreifen. Doch
diese kehrten unverrichteter Dinge wieder zurück und entschuldigten sich:
„Noch nie hat ein Mensch so geredet wie dieser“. Die Pharisäer waren wü-
tend und fluchten über das Volk wegen seiner Ignoranz. Nikodemus aber
wies sie mit den Worten zurück, dass nach dem Gesetz ein Mensch nicht zu
verurteilen sei bevor man ihn angehört hat. Da forderten sie ihn auf, doch
selbst nachzuforschen, ob aus Galiläa ein Prophet komme.
8. Als Jesus am folgenden Morgen wieder im Tempel lehrte, kamen ei-
nige Schriftgelehrte und Pharisäer zu ihm. Sie brachten eine Frau, die beim
Ehebruch ertappt worden war, forderten ihn auf, den Fall zu beurteilen und
wiesen darauf hin, dass nach dem Gesetz die Frau zu steinigen wäre. „Jesus
aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun fort-
fuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter
euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“. Daraufhin verlie-
ßen die Juden, die Ältesten zuerst, den Platz und ließen Jesus allein mit der
Frau. Jesus fragte sie: „Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt?
7.5. In Jerusalem: Streit und Lehrgespräche 247
Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich
auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr“.
Abermals redete Jesus: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt,
der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des ewigen
Lebens haben.“ Die Pharisäer bezweifelten das Zeugnis, dass er von sich
gegeben hatte, doch er beharrte darauf und verwies obendrein auf seinen
Vater. Den allerdings würden sie nur kennen, wenn sie auch ihn kennen
würden. Dann sagte er, dass er bald hinweggehen werde, dorthin wo sie
ihm nicht folgen könnten. Die Leute rätselten, ob er sich wohl töten wolle.
Er aber sagte ihnen: „Ihr seid von dieser Welt“, ich aber bin von oben her.
Wenn ihr das nicht glaubt, dann werdet ihr in eurer Sünde sterben. „Wenn
ihr aber den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass
ich es bin“ und ich den Willen meines Vaters tue, der mich gesandt hat.
Zu den Juden aber, die an ihn glaubten, sprach er: „Wenn ihr bleiben
werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die
Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Sie antwor-
teten ihm, dass sie Abrahams Kinder und niemandes Knechtes seien. Jesus
aber sprach: Nur ich kann euch frei machen. Wärt ihr wirklich Abrahams
Kinder so tätet ihr auch seine Werke. Ihr aber wollt mich töten, obwohl ich
die Wahrheit sage, die ich von meinem Vater habe. Als die Juden behaup-
teten, sie hätten Gott als ihren Vater, sagte Jesus: Wäre Gott wirklich euer
Vater, dann würdet ihr mich lieben; denn ich bin von ihm ausgegangen. Ihr
wollt mich aber nicht verstehen. In Wirklichkeit ist euer Vater der Teufel.
Der ist ein Mörder und der „Vater der Lüge“.
„Wer von euch kann mich einer Sünde zeihen“, setzte Jesus seine Rede
fort. Ihr hört mich nicht, weil ihr nicht von Gott seid. Da wurden die Juden
zornig und sie bezichtigten ihn, einen bösen Geist zu haben. Jesus erwi-
derte: Für mich suche ich keine Ehre, nur für meinen Vater. Diejenigen,
die mein Wort halten, die werden den Tod nicht sehen. Wie kannst du so
etwas sagen, sprachen die Juden. „Bist du mehr als unser Vater Abraham,
der gestorben ist?“ Mich ehrt mein Vater, den ihr für euren Gott haltet, aber
doch nicht kennt, sagte Jesus. Abraham sah mit Freuden meinen Tag vor-
aus. „Da sprachen die Juden zu ihm: Du bist noch nicht fünfzig Jahre alt
und hast Abraham gesehen? Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich
sage euch: Ehe Abraham wurde, bin ich.“ Einige Juden wollten ihn dar-
248 7. Der biblische Jesus
aufhin mit Steinen bewerfen, er aber „verbarg sich und ging zum Tempel
hinaus“.
9. Es begab sich nun, dass Jesus einem Menschen begegnete, der blind
geboren war. Die Jünger fragten ihn, ob es seine oder die Sünde der Eltern
wäre, dass er blind sei. Er aber antwortete: Keiner hat gesündigt, „sondern
es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm“. Nach diesen Worten
machte er einen Brei aus Erde und Speichel, strich ihn auf die Augen des
Blinden und sagte ihm, dass er sich seine Augen im Teich auswaschen solle.
Er tat es und wurde sehend. Seine Nachbarn wunderten sich, dass der ihnen
bekannte Bettler nun sehen konnte. Der aber sagte ihnen, dass Jesus seine
Augen aufgetan hätte.
Der Mann wurde zu den Pharisäern geführt, die ihn befragten, wie er
sehend geworden war und er erzählte es ihnen. Die Pharisäer aber stritten
sich. Einige behaupteten, dass Jesus kein gottesfürchtiger Mensch sei, da
er den Sabbat gebrochen hatte. Andere hielten dagegen, dass ein sündiger
Mensch doch nicht solche Zeichen tun könne. Die Eltern bestätigten den
Juden, dass ihr Sohn in der Tat blind geboren war. Doch weiter sagten sie
nichts; denn es hieß: „wenn jemand ihn als den Christus bekenne, der solle
aus der Synagoge ausgestoßen werden.“ Die Pharisäer drängten den Mann
nun, Jesus einen Sünder zu nennen, doch der verweigerte sich und spottete:
Soll ich euch noch einmal erzählen was passierte? „Wollt ihr auch seine
Jünger werden?“ Die erbosten Pharisäer antworteten: Wir sind Mose Jün-
ger, aber woher dieser Mensch kommt, das wissen wir nicht. Der Mann
sagte: „Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts tun“. Sie aber stießen
ihn hinaus und sprachen: „Du bist ganz in Sünden geboren und lehrst uns?“
Als Jesus den Mann wieder traf, fragte er ihn: „Glaubst du an den Men-
schensohn?“ „Herr, wer ist’s? dass ich an ihn glaube“, sprach der Mann.
Jesus: „Der mit dir redet, der ist’s“. Er sprach: Ich glaube, und er betete ihn
an. Jesus sprach weiter: „Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, da-
mit die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden“. Wer nun
wie diese Pharisäer behaupten, sehend zu sein, der wird in seiner Sünde
bleiben.
10. Wer nicht durch die Tür in den Schafstall geht, so Jesus, der ist
ein Dieb und ein Räuber. „Der aber zur Tür hineingeht, der ist der Hirte
der Schafe.“ Wenn er sie ruft, dann folgen sie ihm, denn sie kennen seine
Stimme. Die vor mir waren, das waren Fremde, aber die Schafe gehorchten
7.5. In Jerusalem: Streit und Lehrgespräche 249
ihnen nicht. Ich bin die Tür zu den Schafen. „Wenn jemand durch mich
hineingeht, wird er selig werden“. Der Dieb trachtet nach dem Bösen, ich
aber „bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe“,
der Mietling aber flieht wenn er den Wolf kommen sieht. Ich „kenne die
Meinen und die Meinen kennen mich“. „Und ich habe noch andere Schafe,
die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und . . . es
wird eine Herde und ein Hirte sein.“
Mein Vater liebt mich, denn ich bin bereit, mein Leben zu lassen. Nie-
mand kann mich dazu zwingen, „sondern ich selber lasse es. Ich habe
Macht, es zu lassen, und ich habe Macht, es wiederzunehmen.“ Abermals
entstand Zwietracht unter den Juden wegen dieser Worte. Einige hielten Je-
sus für besessen, andere aber sagten, ob ein böser Geist wohl einen Blinden
heilen könne.
Zum Fest der Tempelweihe im Winter war Jesus wieder nach Jerusalem
gekommen. Da umstellten ihn die Juden und forderten ihn auf, endlich zu
sagen, ob er wirklich der Christus sei. „Jesus antwortete ihnen: Ich habe es
euch gesagt und ihr glaubt nicht“. Meine Werke zeugen von mir. Wer meine
Stimme kennt, der folgt mir und erlangt das ewige Leben. Ihr aber gehört
nicht dazu. Wer zu mir gehört, den kann niemand mir oder meinem Vater
entreißen. „Ich und der Vater sind eins.“
Da wollten die Juden ihn abermals steinigen aber „Jesus sprach zu ih-
nen: Viele gute Werke habe ich euch erzeigt vom Vater, um welches dieser
Werke willen wollt ihr mich steinigen?“ Die Juden aber beschuldigten ihn
der Gotteslästerung. Jesus belehrte sie aus der Schrift und sprach: Warum
sagt ihr zu dem, der von Gott geheiligt wurde: Du lästerst Gott? Wenn ihr
mir schon nicht glaubt, weil ich sage, ich bin Gottes Sohn, dann glaubt
doch wenigstens meinen Werken! Abermals versuchten sie ihn zu steini-
gen, doch er entging ihnen und zog hinweg. Jesus hielt sich von nun an am
Jordan auf und viele kamen dort zum Glauben an ihn.
11. Lazarus, der Bruder der Marta und Maria, war erkrankt und die
beiden Schwestern benachrichtigten Jesus. Er sprach: An dieser Krankheit
sollen Gott und sein Sohn verherrlicht werden. Zwei Tage später machte
er sich auf den Weg. Die Jünger warnten ihn vor den Juden, doch er sagte:
„Wer bei Tag umhergeht, der stößt sich nicht; denn er sieht das Licht dieser
Welt“. Lazarus schläft, „aber ich gehe hin, ihn aufzuwecken.“ Die Jünger
aber glaubten, er redete vom Schlaf. So fügte er hinzu: „Lazarus ist gestor-
250 7. Der biblische Jesus
ben; und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht dagewesen bin, damit
ihr glaubt. Aber lasst uns zu ihm gehen!“ Thomas sprach: „Lasst uns mit
ihm gehen, dass wir mit ihm sterben!“
Als Jesus den Ort Betanien erreichte, da war Lazarus bereits vier Ta-
ge tot und viele waren gekommen, um die Schwestern zu trösten. Marta
ging Jesus entgegen und sagte zu ihm: „Herr, wärest du hier gewesen, mein
Bruder wäre nicht gestorben. Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von
Gott, das wird dir Gott geben.“ Jesus sprach: „Dein Bruder wird auferste-
hen“. Und er sagte weiter: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer
an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt.“ Glaubst du das? Sie
spricht zu ihm: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn
Gottes, der in die Welt gekommen ist.“
Maria kam hinzu, fiel Jesus zu Füßen und sagte weinend: Ach, wärest
du nur hier gewesen, dann würde mein Bruder noch leben. Jesus war tief
bewegt und zu Tränen gerührt. Die Juden sagten zu einander: Seht, wie
er ihn geliebt hat, aber hätte er ihm nicht helfen können wie dem Blinden?
Jesus kam zur Grabhöhle und befahl, den Stein am Eingang der Höhle weg-
zutun. Marta wandte ein, dass der Leichnam nach so einer langen Zeit doch
bereits stinke, aber Jesus sprach: Erinnere dich meiner Worte und glaube!
Dann erhob Jesus seine Augen, dankte Gott für seine Erhörung und rief mit
lauter Stimme: „Lazarus, komm heraus!“ Und der Verstorbene, der noch in
seinen Leichentüchern eingebunden war, kam heraus. Viele aber, die das
gesehen hatten, kamen zum Glauben.
Die Pharisäer und Hohenpriester, denen man von dem Geschehen be-
richtete, hielten Rat. Sie befürchteten, dass Jesus immer mehr Anhänger
gewinnen werde, was die Römer alarmieren würde. So gab der Hoherpries-
ter Kaiphas zu bedenken: „Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für
das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.“ So beschlossen sie, Jesus zu
töten und gaben den Befehl aus, dass jeder Jesus anzuzeigen habe, der sei-
nen Aufenthaltsort kenne. Jesus aber zog sich in eine abgelegene Gegend
zurück.
12. “Sechs Tage vor dem Passafest kam Jesus“ zum Haus des Lazarus
in Betanien. Marta bediente ihn und auch Lazarus war anwesend. Maria
salbte die Füße Jesu mit einem kostbaren Öl und trocknete sie hernach mit
ihrem Haar. Judas Iskariot aber sagte, dass man das Öl doch besser verkauft
und den Erlös den Armen gegeben hätte. Die Armen aber bedeuteten ihm in
7.5. In Jerusalem: Streit und Lehrgespräche 251
Wirklichkeit nichts. Er war ein Dieb, der für sich immer aus dem Geldbeutel
nahm. Da sprach Jesus: Maria tat dies für mein Begräbnis, für die Armen
könnt ihr allezeit sorgen.
Am nächsten Tag zog Jesus, reitend auf einem Esel, in Jerusalem ein
und wurde von einer großen Menge mit Hosianna-Rufen begrüßt. „Die
Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet;
siehe, alle Welt läuft ihm nach.“
Als einige Griechen begehrten, Jesus zu sehen, sagte er: „Die Zeit ist
gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. Ein Weizenkorn
bringt nur Frucht, wenn es in die Erde fällt und erstirbt“. So ist es auch, dass
wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird ins ewige Leben eingehen.
„Jetzt ist meine Seele betrübt. Soll ich aber sagen: „Vater, hilf mir aus dieser
Stunde!“ Doch dazu bin ich nicht gekommen. „Vater, verherrliche deinen
Namen!“
Da ertönte eine Stimme vom Himmel, die sagte: „Ich habe ihn ver-
herrlicht und werde ihn abermals verherrlichen.“ Einige der Umstehenden
vermeinten, einen Donner gehört zu haben, andere glaubten, Jesus hätte
mit einem Engel geredet. Jesus aber sagte: Diese Stimme gilt euch. „Jetzt
ergeht das Gericht über diese Welt; nun wird der Fürst dieser Welt ausge-
stoßen werden. Und ich, wenn ich erhöht werde von dieser Erde, so will ich
alle zu mir ziehen.“ Das Volk verstand nicht, wovon er redete. Jesus sprach:
Das Licht wird nur noch eine kleine Weile bei euch bleiben. Nutzt die Zeit
und glaubt an das Licht, sodass ihr seine Kinder werdet. Nach diesen Wor-
ten ging Jesus weg „und verbarg sich vor ihnen.“
Die Leute aber glaubten nicht an ihn, obwohl er doch so viele Zeichen
tat. So ging in Erfüllung was der Prophet Jesaja über die Verstockung der
Menschen geweissagt hatte. Doch unter den Oberen waren einige, die an
ihn glaubten, wollten sich aber nicht öffentlich zu ihm bekennen.
Jesus aber rief: Wer an mich glaubt, der glaubt auch an Gott und wer
mich sieht, der sieht auch Gott. „Ich bin in die Welt gekommen als ein
Licht, damit, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe.“ Ich bin
nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um sie zu retten. Wer
mich aber nicht annimmt, der hat bereits seinen Richter. Mein Wort wird
ihn am Jüngsten Tag richten.
252 7. Der biblische Jesus
deine Füße lege‘. Wieso kann denn der, welchen David seinen Herrn nennt,
sein Sohn sein? Und sie hatten keine Antwort darauf.
Jesus warnte seine Jünger vor den Schriftgelehrten und Pharisäern und
sagte: Sie gehen gern in langen Gewändern und lassen sich grüßen, ver-
richten zum Schein lange Gebete und besetzen die besten Plätze, aber sie
verzehren die Häuser der Witwen. Auch wollen sie Rabbi genannt werden.
Ihr aber „sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister;
ihr aber seid alle Brüder. Und ihr sollt niemand unter euch Vater nennen auf
Erden; denn einer ist euer Vater, der im Himmel ist“ (Mt). Ich sage euch,
richtet euch nach ihren Worten aber nicht nach ihren Taten; denn was sie
sagen, das tun sie nicht. Sie legen den Menschen schwere Lasten auf, selbst
aber rühren sie keinen Finger: „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer,
die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen“ (Mt). Ihr Heuch-
ler, ihr setzt Himmel und Hölle in Bewegung, einen für euch zu gewinnen,
aber wenn er sich dann hat überzeugen lassen, dann ist er noch schlimmer
als ihr. Weh ihr, die ihr nur gelten lasst, wer bei dem Gold des Tempels
schwört. „Ihr Narren und Blinden! Was ist mehr: das Gold oder der Tem-
pel, der das Gold heilig macht?“ (Mt). Weh euch, die ihr den Zehnten gibt,
aber das Wichtigste beiseite lasst, „nämlich das Recht, die Barmherzigkeit
und den Glauben!“ (Mt). „Ihr verblendeten Führer, die ihr Mücken aussiebt,
aber Kamele verschluckt! . . . die ihr die Becher und Schüsseln außen rei-
nigt, innen aber sind sie voller Raub und Gier“ (Mt). Ihr Heuchler, ihr gebt
euch fromm, doch innen seid ihr voller Unrat und Unrecht. Seid ihr nicht
die Kinder derer, die die Propheten getötet haben, nun ihre Gräber pflegt
und behauptet, hättet ihr dann gelebt, so wärt ihr nicht schuldig geworden?
Ihr Heuchler. „Ihr Schlangen und Otterbrut! Wie wollt ihr der höllischen
Verdammnis entrinnen“ (Mt).
Und Jesus beobachtete im Tempel, wie die Leute ihre Gaben in den
Opferstock einlegten. Die Reichen warfen viel ein, eine arme Witwe gab
lediglich zwei Scherflein. Doch Jesus sagte: Sie hat mehr als alle anderen
in den Gotteskasten gelegt; denn die anderen haben aus ihrem Überfluss
heraus gegeben, diese „aber hat von ihrer Armut alles eingelegt, was sie
zum Leben hatte“ (Lk).
„Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich
Gottes? antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so,
256 7. Der biblische Jesus
dass man’s beobachten kann, man wird auch nicht sagen: Siehe hier ist es!
Oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“ (Lk).
Und als die Jünger sich über den gewaltigen Bau des Tempels erstaun-
ten, da sagte er: „Nicht ein Stein wird auf dem andern bleiben, der nicht
zerbrochen werde“ (Mk). Sie fragten ihn, wann das geschehen wird und er
antwortete ihnen: Es werden viele in meinem Namen kommen und suchen,
euch zu verführen. Ihr werdet verfolgt werden, verraten von euren eige-
nen Angehörigen, ja gehasst meines Namens wegen. Doch „seid standhaft,
und ihr werdet euer Leben gewinnen“ (Lk). Es werden Kriege ausbrechen
und Völker sich gegen Völker erheben, es werden Erdbeben geschehen und
große Hungersnöte kommen. „Das muss so geschehen“ (Mt) aber das ist
erst „der Anfang der Wehen“ (Mt). Wenn dann das Gräuelbild der Ver-
wüstung aufgestellt wird, ist es Zeit zu fliehen und wehe den Schwangeren
in jener Zeit. Jerusalem wird belagert und dann von den Heiden zertreten
werden; denn das „sind die Tage der Vergeltung“ (Lk), weil sich das Volk
gegen den Herrn versündigt hat. „Und wenn der Herr diese Tage nicht ver-
kürzt hätte, würde kein Mensch selig; aber um der Auserwählten willen, die
er auserwählt hat, hat er diese Tage verkürzt“ (Mk). Viele werden auch sa-
gen, sie seien der Christus und werden sich durch Wunder bezeugen wollen.
Doch hört nicht auf sie. Zu jener Zeit aber wird es Zeichen im Himmel ge-
ben, Sonne und Mond ihren Schein verlieren. „Und dann werden sie sehen
den Menschensohn kommen in den Wolken mit großer Kraft und Herrlich-
keit“ (Mk). „Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und
erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht“ (Lk).
Dann wird der Menschensohn alle Völker versammeln und im großen
Gericht die Schafe von den Böcken trennen. Denen zu seiner Rechten wird
er sagen: „Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das
euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen,
und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt
mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich
aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin
krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen,
und ihr seid zu mir gekommen“ (Mt). Denen aber zu seiner Linken wird er
sagen: Hinweg mit euch „ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet
ist dem Teufel und seinen Engeln!“ (Mt); denn ihr habt mir keine Barmher-
zigkeit erwiesen.
7.5. In Jerusalem: Streit und Lehrgespräche 257
Seid aber allezeit bereit; denn ihr wisst nicht, wann der Menschensohn
kommt. Es ist so wie mit dem treuen und klugen Knecht, den der Herr über
seine Leute gesetzt hat und ihm dessen Versorgung anvertraute. Der bö-
se Knecht aber, der glaubt, sein Herr kommt noch lange nicht und seine
Mitknechte schlägt und sich dem Trunk ergibt, den wird der Herr zu einer
unerwarteten Stunde überraschen. „Und er wird ihn in Stücke hauen las-
sen und ihm sein Teil geben bei den Heuchlern; da wird sein Heulen und
Zähneklappern“ (Mt).
Oder es ergeht euch wie den törichten Jungfrauen: Es waren fünf kluge
und fünf törichte Jungfrauen, die gingen mit ihren Lampen dem Bräutigam
entgegen. Die törichten aber hatten sich nicht ausreichend mit Öl versorgt,
sodass als der Bräutigam erst zu später Stunde kam, ihre Lampen bereits
verloschen waren. Sie baten die klugen Jungfrauen um etwas Öl, doch die
antworteten ihnen, dass sie sich Öl vom Kaufmann im Dorf besorgen soll-
ten, da sie nur genug für sich selbst hatten. Als die törichten Jungfrauen
endlich das Haus des Bräutigams erreichten, die Tür verschlossen fanden
und Einlass begehrten, da antwortete er: „Wahrlich, ich sage euch: Ich ken-
ne euch nicht“ (Mt).
An dem Feigenbaum lernt: Wenn er ausschlägt, so wisst ihr, dass der
Sommer nahe ist. Gleichfalls, wenn all dieses geschieht von dem ich euch
gesagt habe, dann ist die Zeit des Endes gekommen. „Wahrlich ich sage
euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht, Him-
mel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen.
Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Him-
mel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater. Seht euch vor,
wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist“ (Mk).
Kommentar
Zum Johannes-Evangelium
7. Das Laubhüttenfest war das populärste Fest der Juden. Sie erneuerten
damit das Andenken an die vierzig Jahre des Exodus während dessen die
Vorfahren in Zelten gelebt hatten. Es war ein Fest der Freude, der Lichter,
des Tanzes und des Gesangs. Jesu Brüder wollten ihn dazu bewegen, sich
auf diesem Fest zu zeigen. Ihr Anliegen klingt scheinheilig, mussten sie
doch um die Gefahr, der Jesus ausgesetzt sein würde, wissen. Es scheint als
ob sich Jesus und seine Familie bereits entfremdet hatten. Jesus verweigerte
258 7. Der biblische Jesus
sich ihrem Vorschlag mit dem kryptischen Ausspruch: „Meine Zeit ist noch
nicht erfüllt“. Dann ging er aber trotzdem heimlich hin. Sein Verhalten er-
scheint merkwürdig. Ist seine Zeit nun erfüllt oder nicht?
Jesu Buchwissen fällt auf, hat er doch keine rabbinische Unterweisung
erhalten oder so sagte man jedenfalls von ihm. Jesus erklärt sich, dass er
die Lehre direkt von Gott empfangen habe. Das klingt eher so, als ob ihm
diese Worte vom Verfasser, der ja auch sonst zum theologisieren neigt, in
den Mund gelegt worden sind. So viel lässt sich jedenfalls sagen: Die Art
und Weise wie der biblische Jesus die Schrift auslegt und Streitgespräche
mit den religiösen Autoritäten führt, beweisen eine profunde Kenntnis der
Schrift. So zum Beispiel wenn er die Pharisäer des Sabbatbruchs beschul-
digt; denn fiel der 8. Tag auf einen Sabbat, wurde der Knabe trotzdem be-
schnitten. Dann kann man eben argumentieren, dass das Beschneidungsge-
bot der Sabbatruhe übergeordnet ist. Wenn das so ist, warum sollte Jesus
dann nicht jemanden am Sabbat heilen dürfen?
Am letzten Tag des Festes tritt Jesus noch einmal auf und spricht wie-
der einmal mit hoher theologischer Symbolik. Indem sie unter dem Jubel
des Volkes das heilige Wasser der Quelle Siloha ausgießen, wiederholen
die Priester rituell das Ausströmen des Wassers aus dem von Mose in der
Wüste angeschlagenen Felsen (Num 20,11). Diese Handlung bezieht Jesus
nun symbolisch auf sich wenn er von Strömen lebendigen Wassers spricht
(7,38).
8. Die Episode von der Ehebrecherin, eine der schönsten Geschichten
des Neuen Testaments, gehört nicht in dieses Evangelium. Nach Inhalt und
Form ähnelt es eher den synoptischen Erzählungen. Deshalb vermuten ei-
nige Ausleger, dass ihr richtiger Platz hinter Lukas 21,38 ist. Sie fehlt in
manchen Urkunden und in anderen ist sie versetzt. Manche Kirchenlehrer
wie Tertullian und Origenes erwähnen sie überhaupt nicht. Es wird vermu-
tet, dass sie ausgelassen wurde, weil Jesus ihrer Überzeugung nach zuviel
Milde gegenüber einem Ehebruch gezeigt hatte und diese Geschichte ein
unsittliches Verhalten hätte fördern können.
In dieser Erzählung wird Jesus vor ein praktisch unlösbares Dilemma
gestellt. Stimmt er der Steinigung zu, dann erweist er sich zwar als gesetze-
streu, verstößt aber gegen seine eigenen Grundsätze. Lehnt er sie ab, bleibt
er sich zwar selbst treu, kann aber als Gesetzesbrecher angeklagt werden.
Jesus reagiert in einer für ihn typisch unerwarteten Weise und schreibt et-
7.5. In Jerusalem: Streit und Lehrgespräche 259
was in den Sand. Was er geschrieben hat, darüber ist viel spekuliert worden.
So vermuten manche Exegeten, dass es sich dabei um den Text in Jer 17,13
handelt, der in dem Sinne ausgelegt wird, dass vor Gott alle Menschen Sün-
der sind. So sagt denn auch Jesus: Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten
Stein. Natürlich ist keiner ohne Sünde und so verziehen sich seine Gegner
wieder. Den Anfang machen die Ältesten, die wohl das längste Sündenre-
gister haben. Jesus aber hat seine eigene Linie eingehalten ohne dabei das
mosaische Gesetz gebrochen zu haben. Gegenüber der Frau erweist er sich
als ein Mensch der Güte und Barmherzigkeit. Er richtet nicht, allerdings ist
auch von einer Vergebung keine Rede. Er schenkt ihr aber ein befreiendes
Wort und gibt ihr damit den Mut zu einem Neuanfang.
Jesu Selbstbezeichnung als Licht des Lebens parallelisiert die Aussa-
ge vom Logos als das Licht welches in der Finsternis scheint, das wahre
Licht, das „alle Menschen erleuchtet“. Das Licht lässt sich auch mit dem
Laubhüttenfest assoziieren. An den Tagen des Festes werden Fackeln an-
gezündet, welche die Erinnerung an Gottes wandernde Feuersäule in der
Wüste in das kollektive Gedächtnis zurückrufen sollen. Und Jesaja (42,6)
sprach vom Gottesknecht als dem Licht für die Heiden.
Jesus warf den Juden vor, dass sie nach dem Fleisch richten, da sie ihn
nicht annehmen. Ihr Unglaube wird dazu führen, dass sie in ihrer Sünde
sterben. Damit meint er einen Zustand innerer Verderbnis, der zum Tode
führt. Er bezichtigte sie, von dieser Welt zu sein und damit antigöttliche
Mächte zu verkörpern. Ein solcher Vorwurf fügt sich in eine Reihe weiterer
anti-jüdischer Aussagen dieses Evangeliums ein und der Ton verschärft sich
noch einmal. So bezeichnet Jesus seine Hörer als Knechte der Sünde, gar
als Teufelskinder. Damit führt Jesus ihre Abstammung auf Kain, letztlich
auf den Teufel zurück; denn dieser galt nach jüdischer Tradition als Kains
Vater. Schließlich war Kain ja ein Mörder und Lügner gewesen. Nachdem
Jesus seine Hörer gründlich verunglimpft hatte, stellt er sich selbst als der
ewige Gott vor. Soll man da den Juden ihren Zorn verdenken?
9. Die Geschichte über die Heilung des Blinden fügt sich nahtlos an das
vorherige Kapitel über Jesus als das Licht der Welt ein. Sie steht ganz im
Zeichen des Gegensatzes von Licht und Finsternis. Jesus schenkt dem Blin-
den die äußere und innere Sehkraft, d.h. den Glauben an ihn als den Men-
schensohn. Der Blinde kommt zum Sehen während die Pharisäer als die
eigentlich Sehenden blind werden. Die Ursache der Krankheit ist für Jesus
260 7. Der biblische Jesus
nicht eine Sünde und sie ist damit auch keine Strafe Gottes, die Pharisäer
aber verharren noch in alten Denkschablonen und behaupten, der geheilte
Mann wäre „in Sünden geboren“. Nun wandelt sich Jesus vom Angeklagten
zum Richter und bezeichnet die Pharisäer als die eigentlich Blinden, über
die er Gericht halten wird.
10. Die Allegorie von dem guten Hirten baut auf dem typischen Bild der
pastoralen Existenz im damaligen Palästina auf. Abends wurden die Schafe
von ihren Hirten in eine Einfriedung getrieben wo sie einem gemeinsamen
Türhüter zur nächtlichen Wache übergeben wurden. Am folgenden Morgen
kommen die Hirten zurück, klopfen an die Tür des verriegelten Schafstalls,
sondern ihre Herden ab und führen sie wieder auf die Weide hinaus. Jesus
ist nun der gute Hirte, der über die Seinen wacht und bereit ist, sein Leben
für sie zu lassen – ein Vorgriff auf seinen Kreuzestod. Aus dieser Fürsorge
erwächst ein vertrauensvolles Verhältnis. Jesus ist als die Tür versinnbild-
licht, als der einzige rechtmäßige Eingang und der mit dem Durchgang die
Gläubigen zur Teilnahme am Überfluss des Lebens einlädt. Die Pharisäer
aber gleichen Dieben und Räubern; denn sie haben sich unrechtmäßig Zu-
gang zum Schafstall verschafft. Die Tür ist somit ein Symbol für das Heil,
welches Jesus allen verspricht, die an ihn glauben, die Heiden eingeschlos-
sen.
Beim Fest der Tempelweihe in Jerusalem – ein Lichterfest, eingeführt
von den Makkabäern zur Erinnerung an die Reinigung des Tempels nach
seiner Entweihung 168 v. Chr. durch Antiochus Epiphanes IV – bahnte sich
nun eine weitere Zuspitzung des Konflikts zwischen Jesus und den Phari-
säern an. Schon die Umringung Jesu durch die Juden verrät Spannung und
Aggressionspotential. Ihre Wut steigerte sich noch, als Jesus sagte, er wä-
re eins mit dem Vater. Für die Juden war die Gleichstellung mit Gott eine
unerhörte Blasphemie auf die die Todesstrafe stand. Jesus rechtfertigte sich
mit einer eigenwilligen Interpretation des Psalm 82 aber die Juden drohten,
handgreiflich zu werden. Doch Jesus entwich ihnen.
Die ganze Kontroverse hat wohl weniger mit Jesus als der aktuellen
politischen Situation in der sich die Gemeinde des Verfassers befand, zu
tun. Gegner sind nur noch die Juden bzw. die Pharisäer während nirgendwo
die Sadduzäer erwähnt werden. Das aber ist die Lage der Dinge nach der
Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. als die Pharisäer die gesell-
schaftliche Führung übernommen und die Partei der Sadduzäer sich aufge-
7.5. In Jerusalem: Streit und Lehrgespräche 261
löst hatte. Somit legt der Verfasser Jesus Worte in den Mund, die er nach
seiner Überzeugung so gesprochen haben könnte. Aber das ist nicht mehr
der Freund und Feind einschließende Jesus der Liebe. Hätte vielleicht So-
krates je so gesprochen? Oder Gandhi? Hier beschimpft der joh Jesus die
Menschen auf das Übelste als Teufelsbrut und Sündenknechte, vergleicht
sie mit Räubern und Dieben über die er dann auch noch als Gottessohn zu
Gericht sitzen will. Selbst sieht er sich als den göttlich legitimierten Ver-
künder der einzig selig machenden Wahrheit. Wer ihm da nicht folgen will,
der wird als Teil der widergöttlichen Mächte diffamiert. Wie würden wir
heute auf ein solches Auftreten reagieren? Oder war sein Wunderwirken
so offensichtlich, dass eine Verleugnung ein Gottesurteil nach sich ziehen
musste?
11. Als Jesus größtes Wunder wird die Erweckung des Lazarus gehal-
ten. Aber hat es sich wirklich so zugetragen? Zweifel sind angebracht. Auf-
fallend ist, dass der Name Lazarus mit sehr verschiedenen Persönlichkeiten
assoziiert wird. Bei Lukas ist es der arme Bettler, der nach seinem Tode in
den Himmel aufgehoben wird, bei Johannes der Bruder der beiden Schwes-
tern Marta und Maria, den Jesus aus dem Tode in das irdische Dasein zu-
rückbringt. Könnte es vielleicht sein, dass die Verfasser ähnliches Material
ganz unterschiedlich verarbeitet haben? Skepsis scheint auch aufgrund der
antiken Wundergläubigkeit angebracht zu sein, die in einer Zeit herrschte,
als man nur eine vage Vorstellung vom Ordnungsprinzip von Ursache und
Wirkung, das den sinnlich wahrnehmbaren Naturvorgängen unterliegt, hat-
te. So wurde auch dem griechischen Wanderprediger Apollonius von Tyana
nachgesagt, dass er ein Mädchen vom Tode zum Leben erweckt hatte. Der
Verfasser mag eine überlieferte Legende in ein fiktives Geschehen eingebet-
tet und trotzdem geglaubt haben, dass es sich so abgespielt haben könnte.
Jedenfalls ist die Erzählung bewusst so gestaltet worden, um den größt-
möglichen Effekt zu erzielen, sodass die Menschen zum Glauben an Jesus
Gottessohnschaft kommen. Dazu zählt die uns befremdende Verzögerung
Jesu bevor er sich auf den Weg nach Betanien macht was zur Folge hat,
dass er längst nach dem Tod des Lazarus eintrifft. Da war Lazarus bereits
vier Tage tot gewesen; die Verwesung hatte also bereits eingesetzt und nach
damaliger Vorstellung hatte sich die Seele endgültig vom Körper getrennt.
All dies sind Steigerungsformen, die nur dazu dienen, den Wundercharakter
und die Wirkmächtigkeit Jesu herauszustreichen.
262 7. Der biblische Jesus
12. Die Salbung in Betanien wird ähnlich von Markus (14,3–9) und
Matthäus (26,6–13) beschrieben, nur dass bei ihnen von einer ungenannten
Frau im Hause des Simon die Rede ist. In Lukas Erzählung (7,36–50) hin-
gegen ist es die Sünderin, in der viele Ausleger Maria Magdalena vermuten,
die Jesus im Hause des Pharisäers gesalbt hatte. Johannes berichtet sogar
von einer zweimaligen Salbung durch Maria (11,2; 12,3). Da ist wohl ei-
niges durcheinander geraten. Wahrscheinlich ist, dass mehrere Variationen
der gleichen Geschichte kursierten.
Das Grundthema in diesem Kapitel ist das Sterben. Das beginnt mit
der Salbung Jesu durch Maria zu seinem Begräbnis, setzt sich fort mit der
Erwähnung der Tötungspläne der Hohenpriester, weiter mit dem allegori-
schen Sterben des Weizenkorns und mit der Betrübnis Jesu angesichts sei-
nes bevorstehenden Todes. Das Weizenkorn repräsentierte das jahreszeit-
liche Sterben und Gedeihen in den Fruchtbarkeitskulten und spielte eine
tragende Rolle in den griechischen Mysterien, insbesondere dem Demeter-
und-Kore Kult. Jesus bereitet sich auf seinen Tod vor und gesteht öffentlich
seine Furcht. Doch er überwindet sie im Gehorsam zu seinem Vater; denn
sein Tod ist quasi Teil seines Auftrags und dessen Erfüllung in der Form
eines Aufstreckens am Kreuz wird dann mit seiner Erhöhung zurück zum
Himmel belohnt werden.
Auch der Unglaube des Volkes wird dem Wollen Gottes zugeschrie-
ben und als eine Erfüllung der Prophezeiung des Jesaja gedeutet (12,37–
41). Dazu schreibt Godet (Kommentar zu dem Evangelium des Johannes,
2.Buch): „Gott will sie nicht heilen; das stimmt nicht zu seinen wirklichen
Absichten gegen sie. Eben darum will er nicht, dass sie glauben, was ihn nö-
tigen würde, ihnen zu verzeihen und sie zu heilen . . . Gott gestattet nicht
nur diese Entwicklung des Bösen, er will sie und wirkt dazu mit“. Es ist
kaum begreiflich, dass ein vernünftig denkender Theologe so ein hirnver-
branntes Geschwätz abliefert. Godet gibt dann auch noch eine Erklärung
warum Gott angeblich so handelt: In seinem Herzen war Israel noch nicht
bereit für die Aufnahme von Jesus und so hätte eine nur „verstandesmäßige
Zustimmung“ die weitere Ausbreitung der Botschaft Christi in der Heiden-
welt und die folgende Entwicklung der Kirche gehemmt. Logischerweise
kommt man nach dieser Denkweise zu dem Schluss, dass Gott die Juden
absichtlich in das Gericht und damit in die Verdammnis geführt hatte, in-
dem er sie in ihrem Herzen verstockte. Wenn ein solches Denken nicht zu
264 7. Der biblische Jesus
einem moralischen Abgrund führt und eine Karikatur aus dem Gott der
Liebe macht!
Zu den synoptischen Evangelien
Jesus zieht mit Jüngern und anderen Anhängern, die auch nach Jerusalem
pilgern, in die Stadt ein. Dies ist der Ort, wo sich sein Schicksal entscheiden
wird, und es scheint als ob Jesus diese Entscheidung bewusst herbeizufüh-
ren sucht. Er setzt alles auf eine Karte: Sein Leben gegen die Hoffnung,
die religiösen Autoritäten für seine Sache gewinnen zu können, zu einem
Show-down für oder gegen ihn. Gewinnt er, dann könnte es der Beginn der
Gottesherrschaft in Jerusalem sein; verliert er, dann bedeutet es möglicher-
weise seinen Tod. Schon die Herbeischaffung des Reittieres scheint eine
abgekartete Sache zu sein; denn woher sollte Jesus so ein präzises Vor-
herwissen gehabt haben? Es lebten allerdings in Betfage und Betanien –
Vororte Jerusalems – Galiläer und damit Landsleute von Jesus. Nun setzt
sich Jesus auf eine Eselin (bei Matthäus 21,7 ist es eine Eselin und ein Fül-
len wodurch der etwas lächerliche Eindruck entsteht, Jesus reite auf zwei
Eseln gleichzeitig) und reitet voran.
Ob sich die ganze Szene tatsächlich so oder so ähnlich abgespielt hat, ist
natürlich historisch nicht zu beweisen und gewisse Unstimmigkeiten in den
Darstellungen der Evangelisten geben durchaus Grund zum Zweifel. Aber
wenn auch die Details wohl Fiktion sind, so kann es doch als plausibel gel-
ten, dass Jesus in der Tat einen grandiosen Auftritt in Jerusalem gehabt hat,
und Erinnerungen daran sind in diesen Texten festgehalten worden. Doch
ein wirklich triumphaler Einzug sieht anders aus. Der bejubelte Impera-
tor würde ja nicht auf einem Esel über die von der Menge ausgebreiteten
Kleider und Zweige reiten, sondern darüber schreiten. Die Menschen aber
identifizieren Jesus mit einem König und schreien: „Hosianna dem Sohn
Davids“ (Mt 21,9) und „Gelobt sei das Reich unseres Vaters David“ (Mk
11,10). Die Menge jubelt ihm zu und huldigt ihn als den prophezeiten Mes-
sias, der ihr Land von der Knechtschaft befreien und ein erneuertes Israel
begründen wird (Jes. 11), doch tragischerweise erliegt sie einem Missver-
ständnis.
Jesus will ja gerade nicht Israels neuer König sein und erhebt daher kei-
nen politisch-messianischen Anspruch. Sein Verständnis von Gottes Reich
ist nicht das einer weltlichen Herrschaft und so wird er zwangsläufig die
Menschen enttäuschen müssen und aus der Enttäuschung heraus wächst
7.5. In Jerusalem: Streit und Lehrgespräche 265
dann Ablehnung. Jesus wählt bewusst einen Esel, das Reittier der Armen,
um sich ihnen als einen demütigen und sanftmütigen Friedenskönig zu prä-
sentieren, so wie es Sacharja prophezeite: „Siehe, dein König kommt zu
dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel . . . er
wird Frieden gebieten den Völkern“ (9,9f). Bei den Oberen Israels musste
aber sein Einzug den Eindruck verstärkt haben, hier komme jemand, der
ihre religiös-politische Autorität in Frage stellt. Auch könnte die von ihm
verursachte Erregung im Volk von den Römern als Aufruhr gedeutet wer-
den und sie zum Eingreifen herausfordern. Hatte Jesus diese Stimmung
bewusst schüren wollen um die Oberen damit zu provozieren oder war die
überschwängliche Begeisterung der Massen ihm über den Kopf gewach-
sen? Schwer zu sagen. Er kam als Friedensfürst, dem nichts an politischer
Macht lag, aber er wollte auch eine Entscheidung erzwingen.
Die Ansicht Jerusalems erfüllte Jesus mit tiefer Niedergeschlagenheit.
Spricht daraus die pessimistische Vorausschau, dass seine Mission fehl-
schlagen und in einer Katastrophe für ihn aber auch Jerusalem enden wird?
Ist es diese Einsicht, die aus den Worten spricht: „ihr habt nicht gewollt“
(Mt 23,37)? Wie steht doch diese bittere und düstere, ja melancholische
Stimmung in Kontrast zum Jubel seiner Jünger. Ob Jesus allerdings tat-
sächlich die Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. vorausgesehen hat, darüber
kann man nur spekulieren, doch spricht der Bezug auf ein ‚wüst und öde‘
dar liegendes Jerusalem eher dafür, dass in diesem Abschnitt die Erfahrung
der nachösterlichen Gemeinde verarbeitet worden ist.
Die Vorfälle im Tempel mussten die Autoritäten nur in ihrem Verdacht
bestärken, dass Jesus in der Tat einen politischen Umsturz plant. Die Sze-
ne seines Zornesausbruchs, während dessen er sich sogar zu Handgreif-
lichkeiten hinreißen lässt, klingt historisch durchaus glaubwürdig. War ihm
bereits beim Besuch am Vortag die Aussichtslosigkeit des Unterfangens,
seine religiösen Widersacher für seine Sache zu gewinnen, klar geworden
und seine Stimmung dementsprechend eingetrübt? Jedenfalls verflucht er
den harmlosen Feigenbaum, obwohl der doch zu dieser Jahreszeit noch gar
keine Frucht tragen kann. Vielleicht soll der Fluch ja eigentlich die Oberen
treffen, denen er vorwirft, keine Frucht im Sinne Gottes zu bringen. Da-
zu passt die Vorstellung einer im Traditionalismus erstarrten und sich im
Dahinmurmeln von routinierten Glaubensformeln erschöpfenden Religion,
in der jegliche Lebendigkeit versiegt ist, symbolisiert durch den verdorrten
266 7. Der biblische Jesus
Baum. Oder meint er gar das Israel, das sich seiner Botschaft widersetzt?
Schon der Prophet Jeremia verglich Israel mit einem Feigenbaum, dem er
die Lese des Herrn androhte (Jer 8,13) und der Prophet Micha beklagte
die Verderbnis des Volkes, die er mit dem Ausbleiben der Frucht verglich
(Mich 7,1f). Wenn in der Tat Jesu wütender Ausspruch „Nun wachse auf dir
niemals mehr Frucht!“ (Mt 21,19) sich symbolisch auf das ganze Volk be-
ziehen sollte und dessen Verdammung einschließt, dann müsste man seine
Aussage als antisemitisch kritisieren. Es ist doch aber eher vorstellbar, dass
diese Episode wiederum eine spätere Einfügung ist und die zunehmende
Feindschaft zwischen jüdischer Synagoge und christlicher Gemeinde wi-
derspiegelt.
Jesus wird kaum das ganze Volk in Sippenhaft hat nehmen und ihm
mit einer Kollektivstrafe drohen wollen. Das geht schon aus der Episode
von der Tempelreinigung hervor, in der Jesu Gegnerschaft ausdrücklich auf
die Hohenpriester und Schriftgelehrten begrenzt wird, die danach trach-
teten, „wie sie ihn umbrächten“ (Mk 11,18). Deren Haupteinnahmequelle
war der Opferdienst im Tempel und sie mussten daher ihre Pfründe durch
Jesu Handlungen als bedroht sehen, ähnlich wie im Mittelalter Martin Lu-
thers Kritik am Ablasshandel das Geschäft der katholischen Kirche in Frage
stellte. Mit dieser Abzockerei werden die nachfolgenden Heilungen Jesu an
Lahmen und Blinden kontrastiert, die als eine freie Gnade Gottes zu verste-
hen sind. Wenn man Jesu Torafrömmigkeit berücksichtigt, dann ist es doch
wohl eher unwahrscheinlich, dass er den Tempelkult als solchen beenden
wollte, wie es bei Johannes Version darauf hinausläuft. Eher war ihm die
Vermarktung der Religion zuwider aber gerade dieses Anliegen musste ihn
in Konflikt mit den Oberen bringen, weil es ihre Geschäftsgrundlage in Fra-
ge stellte, und so waren sie bestrebt, diesen Störenfried, der darüber hinaus
auch politisch eine potentielle Gefahr darstellte, aus den Weg zu räumen.
Die offene Konfrontation lässt nicht lange auf sich warten. Die religi-
ösen Autoritäten zusammen mit den Ältesten stellen Jesus die Frage nach
der Vollmacht für sein Tun und so entwickelt sich ein typisch rabbinischer
Disput, in der sich die Oberen durch Jesu Gegenfrage nach der Vollmacht
des Täufers in ein Dilemma gedrängt fühlen; denn sollten sie die himmli-
sche Vollmacht des Johannes bestätigen, dann müssten sie sich durch ihr
Fernbleiben von seiner Taufe dem Vorwurf des Unglaubens aussetzen. Ge-
ben sie aber Johannes Autorität als lediglich menschlichen Ursprungs aus,
7.5. In Jerusalem: Streit und Lehrgespräche 267
dann würden sie sich den Zorn des Volkes zuziehen. Indem sie ihr Nicht-
wissen zugeben offenbaren sie ihren Mangel an Kompetenz. Jesus aber
würdigt sie keiner weiteren Antwort.
Auch in dem Gleichnis von den beiden ungleichen Söhnen wird der
Unglaube der Oberen bloßgestellt. Wahrer Glaube und rechtes Tun sind
miteinander verschränkt, will Jesus uns wissen lassen. Einer, der bloß redet
ist wie ein leeres Gefäß, es kommt darauf an, was man tut. Die Führer der
Juden sind aber wie der zweite Sohn. Sie geben zwar vor, den Willen Gottes
zu tun, schenken ihm dann jedoch kein Gehör, wenn er durch Johannes und
Jesus verkündigt wird. Die Zöllner und Huren aber glaubten Johannes, und
so werden diese vor ihnen in das Reich Gottes kommen.
Wieder attackiert Jesus die Oberen, diesmal indirekt in der Allegorie
von den bösen Winzern. Als Vorbild diente dem Verfasser Jesajas Lied
vom unfruchtbaren Weinberg (Jes 5,1ff). Offensichtlich ist mit dem Herrn
des Weinbergs Gott gemeint, mit den geschmähten Knechten die Prophe-
ten und mit dem geliebten Sohn Jesus selbst, dessen Schicksal hier also
bereits vorweggenommen worden ist. Der Sohn wird von den Pächtern,
umschrieben für die Führer Israels, getötet. Doch als Gottesmord lässt sich
Jesu Hinrichtung nicht konstruieren, hatten die Oberen doch gerade Jesus
Gleichsetzung mit Gott als Blasphemie verstanden. In ihrer Sicht töteten
sie einen Aufrührer, keinen Gott. Sie begriffen durchaus, dass Jesus „von
ihnen redete“, doch musste auf sie die Rede vom ‚geliebten Sohn‘ als Erbe
des Herrn irritierend wirken. Gleichwohl dürfte ihnen klar gewesen sein,
dass Jesus hier eine verschlüsselte Drohung gegen sie aussprach, nämlich
dass sie selbst für den Mord an dem Sohn büßen werden und ihnen das
Erbrecht auf das Reich Gottes entzogen werden wird. Erbe des von Gott
verworfenen Volkes aber wird die neue Kirche Christi sein. Damit wurden
wohl Jesus Worte in den Mund gelegt, die den Konflikt zwischen Synago-
ge und Christentum widerspiegeln, und so war ein weiterer Keim für einen
verderbenbringenden Antisemitismus gelegt.
Auch von der Erzählung ‚Die königliche Hochzeit‘ (Lukas das große
Abendmahl) ist kaum anzunehmen, dass sie auf Jesus selbst zurückgeht
oder aber sie ist in der Folgezeit stark redigiert worden. Das lässt sich schon
aus den erheblichen Abweichungen zwischen den Versionen des Matthäus
und des Lukas schließen. So ist es bei Matthäus ein König, der für seinen
Sohn eine Hochzeit ausrichten lässt. Nicht nur, dass die Leute seine Ein-
268 7. Der biblische Jesus
ladung verachten, sondern sie verspotten und töten auch noch die Knechte
des Königs, der daraufhin voller Zorn die Mörder umbringen und ihre Stadt
anzünden lässt – eine deutliche Anspielung auf den Untergang Jerusalems
70 n. Chr.. Der König lässt dann die Knechte alle, die sie finden, an sei-
ne Tafel bringen, Gute wie Böse, verstößt aber einen der Gäste, der nicht
festlich gekleidet ist. Bei Lukas läuft alles weitaus undramatischer zu. Ein
Mensch lädt zu einem großen Abendmahl ein. Die Geladenen erklären sich
aber wegen anderweitiger Verpflichtungen als leider verhindert woraufhin
der Herr all die Ausgestoßenen zum Mahl einlädt, ja sie nötigt, herein-
zukommen, während den vormals Geladenen in Zukunft das Abendmahl
vorenthalten werden wird.
Es findet sich im Neuen Testament kein Gleichnis, das so voller Wider-
sprüche steckt wie das von der königlichen Hochzeit im Matthäus Evan-
gelium. Wo sind Braut und Bräutigam? Welches Motiv hätten die Bürger,
die einladenden Knechte des Königs zu ermorden? Und warum sollte der
König mit solchem Zorn reagieren und gleich ihre ganze Stadt in Schutt
und Asche legen wollen und dabei Übeltäter zusammen mit den Unschul-
digen bestrafen? Trotz des Kriegszuges aber wird die Hochzeitsparty nicht
abgeblasen. Und ist es realistisch anzunehmen, dass kein Einziger der Ein-
ladung gefolgt war? Einer der späteren Gäste hatte kein Hochzeitsgewand
an – woher hatten die anderen es sich auf die Schnelle besorgt und warum
wurde er wegen eines Lapsus so streng bestraft? Wegen all dieser Unge-
reimtheiten wirkt das Gleichnis gekünstelt und wenig überzeugend wenn
auch der Kern der Botschaft durchaus klar ist. Ein König, allegorisch um-
schrieben für Gott, arrangiert ein Bankett zu Ehren seines Sohnes, d.h. Je-
sus, zur Vermählung mit seiner Braut, dem Volk Gottes. Doch die Hochzeit
artet zu einer Mord- und Horrorstory aus. Das Volk, also Israel, verschmäht
die Einladung, reagiert mit Hohn und Totschlag und zieht sich damit die
tödliche Rache des Königs, d.h. Gott, zu. Es ist eine dunkle Geschichte,
in der sich nichts von der Freude und Verheißung findet, die Jesus ansons-
ten metaphorisch mit dem Reich Gottes verbindet. Sie steht insofern auch
für die sich vertiefende Feindschaft zwischen Juden und Christen. Aus der
Sicht der jungen Kirche hat Gott das jüdische Volk verworfen und sich an
seiner Statt die Heiden als das wahre Israel erwählt. Der alte Bund ist von
einem neuen Bund abgelöst worden. Mit der Metapher vom Hochzeitsge-
wand, die auf Jes.61,10 (Kleider des Heils für den Bräutigam) zurückgeht,
7.5. In Jerusalem: Streit und Lehrgespräche 269
te den Boden für das Märtyrertum vor in dem Sinne, dass der, der für eine
gute Sache stirbt, mit dem Aufstieg in den Himmel belohnt wird. Formal
aber ist Jesu Logik, dass nur weil Gott sich in seiner Selbstvorstellung in
der Begegnung mit Mose auf die Patriarchen bezieht, sie deshalb auch zu
den Lebenden gezählt werden müssen, nicht schlüssig, das eine folgt nicht
zwingend aus dem anderen. Aber die Vorstellung, dass sich die Patriarchen
bereits aufgehoben bei Gott befinden, war unter den Pharisäern verbreitet.
Sie unterliegt auch dem Gleichnis vom reichen Mann und Lazarus.
Jetzt ergreift Jesus selbst die Initiative und eröffnet das letzte Streit-
gespräch. Im Psalm 110,1 heißt es: „Der HERR sprach zu meinem Herrn“.
Daraus geht hervor, dass mit dem ersten ‚HERR‘ (Großbuchstabe) Gott und
mit dem zweiten ‚Herr‘ der Messias gemeint ist. Liest man diesen Psalm
weiter, dann enthüllt sich, wie sich die alten Israelis den Herrschaftsantritt
ihres Messias vorgestellt hatten: „Der HERR wird das Zepter deiner Macht
ausstrecken aus Zion. Herrsche mitten unter deinen Feinden . . . Der Herr
zu deiner Rechten wird zerschmettern die Könige am Tage seines Zorns.
Er wird richten unter den Heiden, wird viele erschlagen, wird Häupter zer-
schmettern auf weitem Gefilde“. Grausig. Kann man heute noch so einen
Text als Wort Gottes adeln? Warum aber hatte Jesus sich einen solch blut-
triefenden Psalm ausgesucht, um seine Identität zu klären, wenn er doch
nicht als Kriegsfürst sondern als Friedenskönig auftreten wollte?
Der tendenziöse und diffamierende Stil der nachfolgenden Rede Jesu
rückt die Beziehung zwischen ihm und den Pharisäern in ein schiefes Licht.
Hier hat Matthäus wohl zu dick aufgetragen und karikiert damit Jesu Lie-
besbotschaft. Seine Worte hier gleichen einer einzigen Hetz- und Hassrede,
die man heutzutage auf den Index stellen würde. Eine solch überzogene
Schmährede ist weder fair gegenüber den Pharisäern noch ist sie glaubhaft.
Jesus hatte unter ihnen viele Anhänger, wurde von ihnen bewirtet und vor
den Nachstellungen des Herodes gewarnt. Damit ist nicht auszuschließen,
dass sich Jesus zuweilen an dem aufdringlichen Frömmigkeitsgehabe der
Pharisäer ärgerte und die kasuistische Spitzfindigkeit der Schriftgelehrten
kritisierte aber es ist doch wohl eher so, dass dieser Text die Stimmungslage
der verfolgten und unterdrückten nachösterlichen Gemeinden reflektiert.
Die Endzeitrede Jesu richtet sich direkt an seine Jünger. Darin greift
er Themen wie die Zeichen des kommenden Weltendes, das seiner eigenen
Wiederkehr (Parusie) und des zukünftigen Gottesreiches auf, das bereits
7.5. In Jerusalem: Streit und Lehrgespräche 271
reits von Anfang an vorbereitet, doch seine Bewohner werden am Tage des
Gerichtes auserwählt? Der Text ist zweideutig.
Jesus beschließt seine lange Rede zur Endzeit mit Mahnungen zur
Wachsamkeit; denn keiner weiß die Stunde seines Kommens, auch er nicht,
zumindest in seiner irdischen Gestalt. Sicher aber ist er sich, dass das von
ihm prophezeite Geschehen schon bald eintreten wird und zwar noch vor
dem Ableben der jetzigen Generation. Hatte Jesus das so gesagt, dann hat-
te er sich geirrt. Der mt Jesus betonte schon zuvor, dass einige „den Tod
nicht schmecken (werden), bis sie den Menschensohn kommen sehen“ (Mt
16,28).
Die Aufforderung, ständig auf der Hut und für Jesu Kommen bereit zu
sein, wird auch in den folgenden zwei Gleichnissen thematisiert. Im Grun-
de genommen bedeutet ‚Wachsamkeit‘ in diesem Kontext, sich in seinem
Verhalten an Jesus zu orientieren, also Nächstenliebe zu üben und das oh-
ne Aufschub. Die Vorstellung der Zerstückelung des bösen Knechtes ist für
unser Empfinden grauenhaft. Solch ein Schicksal wurde allerdings in der
Antike zuweilen Sklaven zuteil, wie aus zuverlässigen Notizen des griechi-
schen Philosophen Epiktet hervorgeht.
Die törichten Jungfrauen haben es ihrer eigenen Dummheit zuzuschrei-
ben, dass sie die Ankunft des Bräutigams, gemeint ist Jesu Wiederkehr,
verpasst haben. Ihr Fehler war nicht, dass sie eingeschlafen, sondern dass
sie nicht vorbereitet waren. Der Sinn des Gleichnisses ist wohl, dass es auf
jeden selbst ankommt, sich durch ein Bemühen um innere Wahrhaftigkeit
bereit für die Begegnung mit Gott zu zeigen.
Verräter kannte. Und nach der Fußwaschung sprach er: So wie ich euch
getan habe, so tut es auch untereinander; denn „der Knecht ist nicht größer
als der Herr“. Wenn ihr dies wisst und tut, dann werdet ihr selig werden.
„Als Jesus das gesagt hatte, wurde er betrübt im Geist“ und sprach:
„Einer unter euch wird mich verraten“. Die Jünger sahen sich an und ihnen
wurde bange. Petrus aber winkte dem Jünger, den Jesus lieb hatte und der
an seiner Brust lag und bat ihn, „dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem
er redete“. So fragte der Jünger Jesus und dieser sagte: Es ist der, „dem ich
den Bissen eintauche und gebe“. Als nun Simon Iskariot den Bissen nahm,
da „fuhr der Satan in ihn“ und Jesus sprach: „Was du tust, das tue bald.“
Niemand verstand was Jesus damit meinte. Judas aber ging hinaus „und es
war Nacht.“
Jesus bereitete seine Jünger auf den Abschied vor. Er sagte ihnen, dass
sie ihm zwar auf seinem Weg noch nicht folgen könnten, doch ein Gebot
wolle er ihnen geben, nämlich, dass sie einander lieben sollten, wie er sie
geliebt hatte. Petrus spricht: „Warum kann ich dir diesmal nicht folgen? Ich
will mein Leben für dich lassen.“ Daraufhin antwortete Jesus: „Wahrlich,
wahrlich, ich sage dir: Der Hahn wird nicht krähen, bis du mich dreimal
verleugnet hast.“
14. Jesus sprach: Habt keine Furcht. „Glaubt an Gott und glaubt an
mich!“ Ich werde euch eine Stätte bei meinem Vater bereiten und wenn ich
wiederkomme, werde ich „euch zu mir nehmen“. Ihr wisst den Weg wo ich
hingehe. Es sprach Thomas: „Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; wie
können wir den Weg“ finden? Und Jesus antwortete: „Ich bin der Weg und
die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“.
Und „wer mich sieht, der sieht den Vater! Glaubt doch, dass ich im Vater
bin und der Vater in mir oder glaubt wenigstens meinen Werken. Wer an
mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue“ und noch größere als
diese.
Ich aber, so sprach Jesus weiter, werde den Vater bitten, dass er euch
den Tröster sende, „den Geist der Wahrheit“, so werdet ihr keine Waisen
sein. Wenn auch die Welt mich nicht mehr sehen wird, so sollt ihr „mich
sehen, denn ich lebe, und ihr sollt auch leben“ und dann werdet ihr erken-
nen, „dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch.“ „Wer
mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und
wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ Der Tröster
274 7. Der biblische Jesus
aber, der heilige Geist, der wird euch alles lehren. „Den Frieden lasse ich
euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch wie die Welt gibt.
Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht“. „Hättet ihr mich lieb, so
würdet ihr euch freuen, dass ich zum Vater gehe; denn der Vater ist größer
als ich.“ Doch nun „kommt der Fürst dieser Welt“, aber „er hat keine Macht
über mich . . . Steht auf und lasst uns von hier weggehen.“
15. “Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater der Weingärtner“,
„ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht;
denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Eine Rebe, die Frucht bringt, wird
der Vater „reinigen, dass sie mehr Frucht bringe“. „Wer aber nicht in mir ist
und keine Frucht bringt, der wird weggeworfen werden wie eine Rebe und
verdorrt“ und kommt ins Feuer. So bleibt denn in meiner Liebe und liebt
einander „wie ich euch liebe . . . Niemand hat größere Liebe als die, dass
er sein Leben lässt für seine Freunde“, und ihr seid meine Freunde solange
ihr das tut, was ich euch gebiete.
Die Welt wird euch hassen und verfolgen um meines Namens willen
aber wisset, dass sie auch mich gehasst und verfolgt hat. Da gibt es nichts
was ihre Sünde entschuldigen könnte; denn ich hatte es ihnen gesagt und
sie haben meine Werke gesehen. „Doch wer mich hasst, „der hasst auch
meinen Vater“.
16. Ich rede all dies, damit ihr nicht abfallt. Sie werden euch aus den
Synagogen stoßen und wer euch tötet wird meinen, er diene damit Gott. Ich
gehe zu meinem Vater und ihr seid voll Trauer, doch würde ich nicht wegge-
hen, dann käme der Tröster nicht zu euch. Dieser wird der Welt ihre Sünde,
dass sie nicht an mich geglaubt hat, aufzeigen, und ihr die Augen auftun.
„Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen.“
Der Tröster wird euch in die Wahrheit leiten und mich verherrlichen.
„Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und
abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.“ Die Jünger aber
verstanden Jesu Rede nicht. So sprach er: „Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr wer-
det traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden.“
Wie wenn eine Frau ein Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr zurück an
die Schmerzen ihrer Geburt. So wird sich auch euer Herz freuen, wenn ihr
mich wiedersehen werdet. Es kommt die Zeit da ich nicht mehr in Bildern
zu euch reden werde, „sondern euch frei heraus verkündigen von meinem
7.6. Jesu letzte Worte und seine Passion 275
Vater.“ Ich verlasse jetzt die Welt um zu meinem Vater zurückzukehren von
dem ich ausgegangen bin. Es sprachen die Jünger: „Siehe, nun redest du
frei heraus und nicht mehr in Bildern.“ Wir wissen, dass du alles weißt und
glauben, dass du von Gott bist. Und „Jesus antwortete ihnen: Jetzt glaubt
ihr? Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut
werdet, ein jeder in das Seine und mich allein lasst.“ Der Vater aber wird
mich nicht verlassen und auch ihr sollt euren Frieden in euch finden: „In
der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“
Also redete Jesus und hob die Augen zum Himmel: „Vater, die Stunde
ist da: verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche; denn
du hast ihm Macht gegeben, damit er das ewige Leben gebe allen, die du
ihm gegeben hast. Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein
wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.“ Mein
Werk ist vollendet und ich habe dich denen offenbart, die du mir gegeben
hast. Nun haben sie „wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin,
und sie glauben, dass du mich gesandt hast.“ Ich bitte dich, „Heiliger Vater,
erhalte sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, dass sie eins seien
wie wir.“ Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin.“
Bewahre sie vor dem Bösen und „heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist
die Wahrheit.“ Wie du mich gesandt hast in die Welt, so sende ich sie in die
Welt.“
18. “Als Jesus das geredet hatte, ging er hinaus mit seinen Jüngern über
den Bach Kidron“ und begab sich dort in einen Garten. Auch Judas, der
diesen Ort kannte, kam dahin mit einer bewaffneten Schar Soldaten und
Knechten der Oberen. Jesus, der „alles wusste, was ihm begegnen sollte“,
ging ihnen entgegen und sprach: „Wen sucht ihr? . . . Sie antworteten ihm:
Jesus von Nazareth. Er spricht zu ihnen: Ich bin’s“ Als er dies sprach „wi-
chen sie zurück und fielen zu Boden“. Er wiederholte seine Frage und als
sie ihm die gleiche Antwort gaben sprach er: „Sucht ihr mich, so lasst diese
gehen“ Simon Petrus aber hieb mit seinem Schwert Malchus, dem Knecht
des Hohenpriesters, sein rechtes Ohr ab. Jesus wies Petrus zurecht und sag-
te: „Steck dein Schwert in die Scheide! Soll ich den Kelch nicht trinken,
den mir mein Vater gegeben hat?“
Man führte Jesus zunächst in das Haus des Hannas, Schwiegervater des
Hoherpriesters Kaiphas. Simon Petrus und ein anderer Jünger folgten Jesus.
Der andere Jünger, der mit dem Hohenpriester bekannt war, verschaffte Pe-
276 7. Der biblische Jesus
trus Eintritt. Petrus wärmte sich mit den anderen an einem Kohlenfeuer. Als
er von einer Magd gefragt wurde, ob er nicht ein Jünger Jesu sei, leugnete
er dies ab.
Jesus wurde derweilen von dem Hohenpriester über seine Lehre be-
fragt. Als Jesus ihm antwortete, dass er immer frei und offen geredet habe
und diejenigen, die ihn gehört haben darüber Auskunft geben könnten, wur-
de er von einem der Knechte ins Gesicht geschlagen; denn seine Antwort
wurde als ungehörig erachtet. Er wurde gebunden und zu einem neuerli-
chen Verhör zu Kaiphas geschickt. Mittlerweile hatte Petrus noch zweimal
abgeleugnet, dass er ein Jünger Jesu sei „und alsbald krähte der Hahn.“
Früh am Morgen wurde Jesus ins Prätorium geführt und Pilatus über-
antwortet. Man sagte ihm, dieser wäre ein Übeltäter aber Pilatus wollte,
dass sie ihn selbst nach ihrem Gesetz richten sollen. Sie aber antworteten:
„Wir dürfen niemand töten.“ Pilatus befragte Jesus ob er ein König sei und
wollte weiter wissen, was er getan hatte. „Jesus antwortete: Mein Reich ist
nicht von dieser Welt“, wäre es, dann würden meine Diener für mich kämp-
fen. So bist du also ein König, fragte ihn Pilatus und Jesus bestätigte: „Ich
bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich
die Wahrheit bezeugen soll . . . Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?“
Pilatus ging wieder hinaus zu den Juden und sagte ihnen, dass er keine
Schuld an Jesus finden könne. Er bot an, Jesus aus Anlass des Passafests
freizulassen, die Juden aber verlangten nach Barabbas.
19. Pilatus ließ daraufhin Jesus geißeln, und die Soldaten trieben ihren
Spott mit ihm, setzten ihm eine Dornenkrone auf, kleideten ihn in ein Pur-
purgewand, schlugen ihm ins Gesicht und sprachen: „Sei gegrüßt, König
der Juden!“ Und Pilatus führte ihn den Juden vor und er sprach zu ihnen:
„Seht, welch ein Mensch!“ Pilatus aber hoffte, man werde erkennen, dass er
Jesus für unschuldig befinde. Doch die Hohenpriester und Knechte schrie-
en weiterhin: Kreuzige! Da übergab Pilatus ihnen Jesus mit den Worten:
„Nehmt ihr ihn hin und kreuzigt ihn, denn ich finde keine Schuld an ihm.“
Die Juden aber antworteten: Er hat unser Gesetz gebrochen; denn er hat
sich zu Gottes Sohn gemacht und so muss er sterben. Als Pilatus dies hörte
fürchtete er sich und er fragte Jesus: „Woher bist du?“ Doch Jesus schwieg.
Pilatus war verstimmt und sagte: Weißt du nicht, dass ich Macht über dich
habe? Jesus aber antwortete: Du hast nur Macht weil sie dir von oben ge-
geben worden ist. „Darum, der mich dir überantwortet hat, der hat größere
7.6. Jesu letzte Worte und seine Passion 277
Sünde.“ Pilatus bemühte sich weiterhin um eine Freilassung Jesu doch die
Juden sagten ihm, dass wenn er Jesus frei ließe, er nicht länger ein Freund
des Kaisers wäre; „denn wer sich zum König macht, der ist gegen den Kai-
ser.“ Wir aber, so die Hohenpriester, haben keinen König als den Kaiser.“
Da übergab Pilatus „ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde.“
Sie führten Jesus zu einer Stätte namens Golgatha und er trug sein
Kreuz selber. Dort wurde er zwischen zwei anderen gekreuzigt und über
ihn eine Aufschrift mit der Inschrift ‚Jesus von Nazareth, der König der Ju-
den‘ aufgesetzt. Die Soldaten, die ihn gekreuzigt hatten, teilten seine Klei-
der zwischen sich auf, aber um das Gewand ließen sie ein Los entscheiden.
Bei dem Kreuz standen seine Mutter, seine Tante Maria und Maria von
Magdala. Als Jesus den Jünger, den er lieb hatte, bei seiner Mutter stehen
sah, sprach er zu ihm: „Siehe, das ist deine Mutter“ und der Jünger nahm
sich von dieser Stunde ihrer an. Ihm wurde Essig gereicht, da ihn dürstete.
Nachdem er „den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und
neigte das Haupt und verschied.“ Da nun aber die Leichname am Rüsttag
und den Sabbat nicht am Kreuz bleiben durften, baten die Juden, dass man
ihnen die Beine breche. Jesus aber war bereits tot und deshalb stieß ihm
einer der Soldaten nur den Speer in die Seite „und es kam Blut und Wasser
heraus.“
Josef von Arimathäa, der ein heimlicher Jünger Jesu war, holte sich von
Pilatus die Erlaubnis, den Leichnam Jesu vom Kreuz nehmen zu dürfen.
Nikodemus kam auch hinzu und brachte Myrrhe, gemischt mit Aloe mit.
Gemeinsam nahmen sie den Leichnam ab, banden ihn in Leichentücher
und legten ihn in ein neues Grab nahe der Stätte wo er gekreuzigt worden
war.
20. Früh am Morgen kam Maria von Magdala zum Grab und sie sah,
dass der Stein weggerollt war. Sie teilte dies sofort Simon Petrus und dem
anderen Jünger mit, den Jesus lieb hatte, und die beiden machten sich auf
den Weg zum Grab. Der andere Jünger erreichte das Grab zuerst, ging aber
nicht hinein. Simon Petrus betrat das Grab und erblickte die Grabtücher.
Nun folgte ihm auch der andere Jünger; er sah und er glaubte.
Als Maria draußen weinend vor dem Grab stand und hineinblickte, sah
sie darin zwei Engel sitzen und auf deren Frage warum sie weine, antwor-
tete sie, dass man ihren Herrn weggenommen habe. Als sie sich umwandte
sah sie Jesus stehen, erkannte ihn aber nicht und hielt ihn für den Gärtner.
278 7. Der biblische Jesus
„Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht auf hebrä-
isch: Rabbuni!, das heißt: Meister!“ Jesus sagte zu ihr: „Rühre mich nicht
an! denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater.“ Gehe aber zu meinen
Brüdern und sage ihnen, dass ich zu meinem und eurem Vater auffahren
werde. Und Maria verkündigte alles den Jüngern.
Am Abend dieses ersten Tages, als die Jünger hinter verschlossenen Tü-
ren saßen, denn sie fürchteten sich, da „kam Jesus und trat mitten unter sie
und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch!“ Er zeigte ihnen Hände und Seite
und sprach: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“. Daraufhin
blies er sie an und sagte: „Nehmt hin den heiligen Geist! Welchen ihr die
Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen
sind sie behalten.“ Thomas war nicht anwesend gewesen und bezweifelte,
was die anderen Brüder ihm berichteten und sagte: Ich kann nur glauben,
wenn ich seine Wundmale sehe. Acht Tage später trat Jesus wiederum in ih-
re Mitte und forderte Thomas auf, seine Hände in seine Seite zu legen und
nicht länger ungläubig zu sein. „Thomas antwortete und sprach zu ihm:
Mein Herr und mein Gott!“ Jesus redete zu ihm: „Weil du mich gesehen
hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind die, die nicht sehen und doch
glauben.“ Jesus tat noch viele Zeichen mehr. Diese aber sind geschrieben,
damit man glaube, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist.
21. Zu einer späteren Zeit offenbarte sich Jesus seinen Jüngern am See
Tiberias. Die Jünger waren fischen gegangen, hatten aber nichts gefangen.
Am Morgen stand Jesus am Ufer, doch die Jünger erkannten ihn nicht. Er
sprach: „Kinder, habt ihr nichts zu essen? Sie antworteten ihm: Nein.“ Jesus
sagte: „Werft das Netz aus zur Rechten des Bootes.“ Sie warfen es aus und
als sie es einzogen fanden sie es brechend voll mit Fischen. Da sprach der
Jünger, den Jesus lieb hatte, zu Petrus: „Es ist der Herr!“ Petrus gürtete sich
mit dem Obergewand und warf sich ins Wasser. Die anderen Jünger folgten
mit dem Netz. Am Land „sahen sie ein Kohlenfeuer und Fische darauf und
Brot.“ Jesus bat, dass man ihm Fisch bringe, woraufhin Petrus das Netz an
Land zog. Darin befanden sich 153 Fische. Sodann sprach Jesus: Kommt
zum Mahl. Und er teilte Fisch und Brot aus. Die Jünger aber wagten nicht
zu fragen: „Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war.“
Nach dem Mahl sprach Jesus zu Petrus: „Simon, Sohn des Johannes,
hast du mich lieber, als mich diese haben?“ Als Petrus bejahte sprach Jesus:
„Weide meine Lämmer!“. Auf dieselbe Weise fragte ihn Jesus noch ein
7.6. Jesu letzte Worte und seine Passion 279
zweites und drittes Mal. Petrus wurde traurig und sprach: „Herr, du weißt
alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide
meine Schafe!“ Als Petrus nun den Jünger sah, den Jesus liebte, fragte er:
„Herr, was wird aber mit diesem?“ Und Jesus antwortete ihm: Es ist nicht
deine Sache zu wissen ob er bleibt bis ich komme. Folge mir nach. Einige
Brüder glaubten irrtümlich, dass dieser Jünger nicht sterben werde, doch so
hatte es Jesus nicht gemeint. „Dies ist der Jünger, der dies alles bezeugt und
aufgeschrieben hat, und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.“
Die synoptischen Evangelien
„Es waren noch zwei Tage bis zum Passafest und den Tagen der Ungesäu-
erten Brote. Und die Hohenpriester und Schriftgelehrten suchten, wie sie
ihn mit List ergreifen und töten könnten“ (Mk), doch nicht am Fest, um
Aufruhr zu vermeiden.
Jesus war zu Gast bei Simeon, dem Aussätzigen, in Betanien. Und es
näherte sich ihm eine Frau, die goss kostbares Salböl auf sein Haupt. Die
Jünger waren ungehalten, da sie es für eine Vergeudung hielten und sagten,
dass man das Öl hätte verkaufen und das Geld den Armen geben können.
Jesus aber sprach: „Was betrübt ihr die Frau? Sie hat ein gutes Werk an
mir getan. Denn Arme habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht
allezeit“ (Mk). Sie hat meinen Leib für mein Begräbnis gesalbt und wo
immer das Evangelium gepredigt wird, da wird man ihrer Tat gedenken.
Einer der Zwölf aber, Judas Iskariot, bot den Hohenpriestern an, Jesus
an sie zu verraten. Sie ließen sich gerne darauf ein und versprachen ihm
viel Geld. So suchte Judas nach einer guten Gelegenheit, wie er Jesus an
sie ausliefern konnte.
Und am ersten Tag der Ungesäuerten Brote bereiteten die Jünger al-
les für das Passamahl zu wie ihnen Jesus aufgetragen hatte. Als sie alle zu
Tisch saßen, da sagte Jesus zu ihnen: „Wahrlich, ich sage euch. Einer unter
euch, der mit mir isst, wird mich verraten. Und sie wurden traurig und frag-
ten ihn, einer nach dem andern: Bin ich’s. Er aber sprach zu ihnen: Einer
von den Zwölfen, der mit mir seinen Bissen in die Schüssel taucht“ (Mk).
Der Menschensohn geht dahin wie es geschrieben steht, aber wehe dem,
der ihn verraten wird. Es wäre besser für ihn, er wäre nie geboren. „Und
als sie aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach’s und gab’s ihnen und
sprach: Nehmet, das ist mein Leib. Und er nahm den Kelch, dankte und gab
ihnen den; und sie tranken alle daraus. Und er sprach zu ihnen: Das ist mein
280 7. Der biblische Jesus
Blut des Bundes, das für viele vergossen wird“ (Mk). „Wahrlich, ich sage
euch, dass ich“ davon nicht mehr trinken werde bis zum Tag, wenn sich das
Reich Gottes erfüllt.
Sie gingen zum Ölberg hinaus und Jesus sagte ihnen: Noch heute wer-
det ihr „alle Ärgernis nehmen“ (Mk). „Wenn ich aber auferstanden bin,
will ich vor euch hingehen nach Galiläa“ (Mk). Petrus versicherte, dass er
standhaft bleiben werde, doch Jesus sprach: „Wahrlich, ich sage dir. Heute,
in dieser Nacht, ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal ver-
leugnen“ (Mk). Petrus aber sagte, dass er lieber sterben werde als ihn zu
verleugnen und so sagten auch alle Jünger. Jesus sprach: „Nun, wer einen
Geldbeutel hat, der nehme ihn, desgleichen auch die Tasche, und wer’s
nicht hat, verkaufe seinen Mantel und kaufe ein Schwert. Denn ich sage
euch: Es muss das an mir vollendet werden, was geschrieben steht“ (Lk).
„Sie sprachen aber: Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter. Er aber sprach zu
ihnen: Es ist genug“ (Lk).
„Und sie kamen zu einem Garten mit Namen Gethsemane. Und er
sprach zu seinen Jüngern: Setzt euch hierher, bis ich gebetet habe“ (Mk).
„Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an
zu trauern und zu zagen. Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt
bis an den Tod, bleibt hier und wacht mit mir! Und er ging ein wenig wei-
ter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s
möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, son-
dern wie du willst!“ (Mt). Als er zurückkam fand er die Jünger schlafend.
Er sagte zu Petrus: „Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wa-
chet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig, aber
das Fleisch ist schwach“ (Mt). Er ging ein zweites Mal beten „und rang
mit dem Tode und betete heftiger. Und sein Schweiß wurde wie Blutstrop-
fen, die auf die Erde fielen“ (Lk). Ein weiteres Mal ging er, um zu beten
und wieder fand er bei seiner Rückkehr die Jünger schlafend. So sprach
er: „Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Es ist genug; die Stunde ist
gekommen. Siehe, der Menschensohn wird überantwortet in die Hände der
Sünder“ (Mk).
„Und als er noch redete, siehe, da kam Judas, einer von den Zwölfen,
und mit ihm eine große Schar mit Schwertern und mit Stangen, von den Ho-
henpriestern und Ältesten des Volkes. Und der Verräter hatte ihnen ein Zei-
chen genannt und gesagt: Welchen ich küsse werde, der ist’s, den ergreift.
7.6. Jesu letzte Worte und seine Passion 281
Und alsbald trat er zu Jesus und sprach: Sei gegrüßt, Rabbi! und küsste ihn.
Jesus aber sprach zu ihm: Mein Freund, dazu bist du gekommen?“ (Mt).
Als sie nun Hand an ihn legen wollten, da schlug einer, der dabeistand,
einem Knecht des Hohenpriesters das Ohr ab. Jesus aber sprach: „Stecke
dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs
Schwert umkommen“ (Mt). Und er sagte weiter: „Ihr seid ausgezogen wie
gegen einen Räuber mit Schwertern und Stangen, mich zu fangen. Habe ich
doch täglich im Tempel gesessen und gelehrt, und ihr habt mich nicht er-
griffen“ (Mt). Da verließen ihn alle Jünger und flohen. Einen jungen Mann,
der ihnen auch gefolgt war und nur mit einem Leinenwand bekleidet war,
wollte man auch ergreifen. „Er aber ließ das Gewand fahren und floh nackt
davon“ (Mk).
„Und sie führten Jesus zu dem Hohenpriester; und es versammelten
sich alle Hohenpriester und Ältesten und Schriftgelehrten. Petrus aber folg-
te ihm nach von ferne, bis hinein in den Palast des Hohenpriesters, und saß
da bei den Knechten und wärmte sich am Feuer“ (Mk). Der Hohe Rat such-
te Zeugnis gegen Jesus zu bringen, dass sie ihn zu Tode verurteilen konn-
ten. Doch die Zeugen widersprachen einander. Einige hatten von Jesus ge-
hört, dass er den Tempel abbrechen wollte und in drei Tagen „einen andern
bauen, der nicht mit Händen gemacht ist“ (Mk). Doch auch ihr Zeugnis
stimmte nicht überein und Jesus schwieg zu all dem, was man gegen ihn
vorbrachte. Schließlich sprach der Hohenpriester Kaiphas zu ihm: „Bist du
der Christus, der Sohn des Hochgelobten? Jesus aber sprach: Ich bin’s; und
ihr werdet sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kom-
men mit den Wolken des Himmels“ (Mk). Da zerriss der Hohenpriester
seine Robe und sprach: Er hat Gott gelästert, was brauchen wir weitere
Zeugen. Und sie verurteilten ihn zum Tode. Die Knechte aber schlugen ihn
und spieen ihm ins Angesicht und sprachen: „Weissage uns, Christus, wer
ist’s der dich schlug“ (Mt).
„Und Petrus war unten im Hof“ (Mk). Eine Magd ging auf ihn zu und
sagte: Du warst auch mit Jesus von Nazareth. Er aber leugnete es ab. Und es
krähte ein Hahn. Nach einer Weile sagte die Magd wiederum, dass er einer
der Jünger Jesu sei. Wieder stritt Petrus es ab. Dann kamen andere hinzu
und sagten: Er ist einer von denen, seine Sprache verrät ihn. „Er aber fing
an, sich zu verfluchen und zu schwören: Ich kenne den Menschen nicht, von
282 7. Der biblische Jesus
dem ihr redet. Und alsbald krähte der Hahn zum zweiten Mal. Da gedachte
Petrus Jesu Worte und er weinte bitterlich.
Am Morgen berieten sich die Mitglieder des Hohen Rates und beschlos-
sen, Jesus zu töten. Sie überantworteten ihn dem Statthalter Pilatus und be-
schuldigten Jesus, er wiegele das Volk auf, verweigere die Steuerzahlung
und sage, „er sei Christus, ein König“ (Lk). Als Judas von Jesus Verurtei-
lung hörte, reute es ihn. Er brachte das Geld zurück und sagte: Ich habe un-
recht getan und unschuldiges Blut verraten. Die Hohenpriester aber wiesen
ihn ab. „Judas warf die Silberlinge in den Tempel, ging fort und erhängte
sich“ (Mt).
„Jesus aber stand vor dem Statthalter; und der Statthalter fragte ihn und
sprach: Bist du der König der Juden? Jesus aber sprach: Du sagst es“ (Mt).
Er schwieg aber zu allen weiteren Anklagen der Hohenpriester und Pilatus
verwunderte es. Nun weilte gerade Herodes in der Stadt und da Jesus sein
Untertan war sandte er ihn zu ihm. Herodes hoffte auf ein Zeichen von
Jesus. Als er nichts von Jesus erfahren konnte, verachtete er ihn und ließ
ihn wieder zu Pilatus zurückbringen. Pilatus aber rief das Volk zusammen
und sagte, er habe keine Schuld an dem Mann gefunden. Das Volk aber,
aufgewiegelt von den Hohenpriestern, schrie: Hinweg mit ihm, wir wollen
Barabbas. Dieser aber war ein Aufrührer und wegen Mordes festgesetzt.
Nun war es Brauch unter Pilatus, dass er während des Festes einen Ge-
fangenen frei ließ. Seine Frau aber richtete ihm aus: „Habe du nichts zu
schaffen mit diesem Gerechten; denn ich habe heute viel erlitten im Traum
um seinetwillen“ (Mt). So sprach Pilatus wieder zu dem Volk: „Was wollt
ihr denn, das ich tue mit dem, den ihr den König der Juden nennt“ (Mk).
Sie schrieen: Kreuzige ihn und als Pilatus ihnen sagte, dass er nichts Böses
an dem Gefangenen finden könne, „schrieen sie noch viel mehr: Kreuzige
ihn“ (Mk). Als Pilatus sah, dass er nichts weiter ausrichten konnte, nahm
er eine Schüssel und wusch seine Hände und sprach: „Ich bin unschuldig
an seinem Blut; seht ihr zu! Da antwortete das ganze Volk und sprach: Sein
Blut komme über uns und unsere Kinder! Da gab er ihnen Barabbas los,
aber Jesus ließ er geißeln und überantwortete ihn, dass er gekreuzigt wer-
de“ (Mt).
Nachdem die Soldaten ihren Spott mit Jesus getrieben hatten, führten
sie ihn hinaus, dass sie ihn kreuzigten und zwangen einen Simon von Ky-
rene, dass er das Kreuz trage. An einer Stätte, die nannte man Golgatha,
7.6. Jesu letzte Worte und seine Passion 283
bestachen die Soldaten mit Geld und sprachen: „Sagt, seine Jünger sind
in der Nacht gekommen und haben ihn gestohlen, während wir schliefen“
(Mt). Um eure Sicherheit braucht ihr euch nicht zu sorgen, dass werden wir
schon regeln.
Zwei der Jünger, der eine mit Namen Kleopas, gingen zu der Zeit nach
Emmaus, das etwa zwei Wegstunden von Jerusalem entfernt liegt. Und als
sie miteinander redeten, da kam Jesus zu ihnen, doch sie erkannten ihn
nicht. Jesus befragte sie nach dem, was ihre Herzen bewegte und da sie
in ihm einen Fremden vermuteten, erzählten sie ihm alles, was sich in den
letzten Tagen in Jerusalem zugetragen hatte und dass man Jesus gekreuzigt
hätte, von dem sie sich ihre Erlösung erhofft hatten. Er aber sagte ihnen:
„Musste nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen?“
(Lk) und er legte ihnen die Schrift aus. Als sie nun in das Dorf kamen,
nötigten sie ihn, bei ihnen zu bleiben. „Und es geschah, als er mit ihnen zu
Tische saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen. Da wurden
ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen“
(Lk). Und so kehrten sie sofort zurück nach Jerusalem und berichteten den
elf Jüngern, dass ihnen der Herr erschienen war. Auch Maria von Magdala
war der auferstandene Jesus erschienen, doch als sie es den Elf verkündigte,
glaubten diese ihr nicht. Als die Jünger nun zu Tische saßen, „offenbarte
er sich ihnen und schalt ihren Unglauben“ (Mk) und sprach: „Seht meine
Hände und meine Füße, ich bin’s selber. Fasst mich an und seht: denn ein
Geist hat nicht Fleisch und Knochen“ (Lk).
Er legte ihnen die Schrift aus und öffnete ihnen das Verständnis. Und er
sprach zu ihnen: „Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller
Kreatur. Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber
nicht glaubt, der wird verdammt werden“ (Mk). „Er führte sie aber hinaus
bis nach Betanien und hob die Hände auf und segnete sie. Und es geschah,
als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel. Sie aber
beteten ihn an und kehrten zurück nach Jerusalem mit großer Freude“ (Lk).
Kommentar
Zum Johannes-Evangelium
der. Was aber nicht dazu gehört, soll entfernt werden während diejenigen,
die bereits Frucht tragen noch einer weiteren Reinigung bedürfen, damit sie
im Glauben wachsen. Den Jüngern aber konstatiert Jesus bereits jetzt eine
vollendete Reinheit, tragen sie doch schon Gottes Wort und seine Wahr-
heit in sich. Nach einer anderen Sicht ist es allerdings erst das mit Gott
versöhnende Blut Jesu, dass vollständig reinigt; denn es nimmt die Sünde
hinweg. Die Rede von ‚abschneiden‘ und ‚ins Feuer werfen‘ ist kritisch zu
bewerten; denn sie scheint ja geradezu eine Rechtfertigung für die spätere
Inquisition zu liefern, die mit Strafandrohung und dem Schüren der Angst
vor den angeblichen Qualen der Hölle Zustimmung zu den Dogmen und
Lehren der Kirche erzwingen wollte. Der von der Kirche verordnete Glau-
bensgehorsam ist im Grunde eine Perversion der von Jesus eingeforderten
Liebe.
Die wahre Hölle sind die Zwangsstrukturen in der Welt, die Kriege,
Ausbeutung und Unterdrückung produzieren. Sie generieren Hass und sind
Nährboden für seelisches Leiden, Neurosen und Psychosen. Mit dieser Welt
steht die alternative Perspektive des Jesus Christus in einem tödlichen Kon-
flikt, der in seiner Kreuzigung gipfelt. Er selbst konfrontiert diese Welt mit
seinem Gebot der Liebe, das in der einander gebenden Gemeinschaft von
Brüdern und Schwestern seine konkrete Ausformung findet. Man wird da-
bei auch an Epikurs Philosophie und an Platons Gastmahle erinnert, in de-
nen ebenso die Liebe eine zentrale Stelle einnimmt. In der Tat ist die Jesus-
Gemeinde ähnlich wie bei den griechischen philosophischen Schulen stark
an die Stifter Figur gebunden. In gemeinsamen Aktivitäten von lehren und
lernen, essen und miteinander diskutieren wird die Erinnerung an den Tod
Jesu wach gehalten, vielleicht in diesem besonderen Fall angeleitet durch
den geliebten Jünger.
16. Jesus nimmt Abschied, aber er wird wiederkommen, verspricht er.
Er redet hier nicht von der Auferstehung sondern vom Kommen des Para-
klets oder Heiligen Geistes, der die Jünger in eine nur innerlich erfahrbare
Wahrheit einführen wird. Es wird also ein geistiges Wiedersehen geben,
wenn sich ihre Traurigkeit in Freude verwandeln wird. Bis dahin werden
sie Schmerzen erleiden und Angst haben, doch sollen sie getrost sein. Jesus
hat ihnen vorgelebt, was es bedeutet, sein Vertrauen auf Gott zu setzen und
diese Erfahrung soll ihnen Mut und innere Stärkung verleihen. Der Geist
7.6. Jesu letzte Worte und seine Passion 287
Gottes wird ihnen Geborgenheit schenken und sie über alle Angst hinweg-
tragen. Sie werden ihre Anfechtungen nicht mehr allein auszutragen haben.
17. Im Gebet erbittet Jesus seine Verherrlichung und die des Vaters.
Mose erschaut die Herrlichkeit des HERRN (Ex 33,18ff) in der Form einer
Erscheinung von strahlender, göttlicher Majestät, die der Vision Jesajas äh-
nelt (Jes 6,1ff) und in der sich Gottes Heiligkeit manifestiert. Johannes gibt
diesem Begriff eine etwas andere Bedeutung. Für ihn verbindet sich der
Begriff ‚Verherrlichung‘ mit der Rückführung Jesu in den göttlichen Stand
und der Gabe des ewigen Lebens. Gott zu verherrlichen bedeutet somit im
übertragenen Sinne, im Vertrauen auf diesen Gott so zu leben lernen, dass
die Angst vor dem Tod überwunden wird.
Ob die Jünger allerdings nun ‚wissen‘, ‚erkannt haben‘, an ihn ‚ge-
glaubt haben‘ und Jesu Worte ‚angenommen‘ haben (Joh 17,7f), das kann
man den Gesprächen nicht unbedingt entnehmen. Dass ihr Glauben eher
noch schwankend ist, wird sich denn letzthin auch an ihrem Versagen bei
Jesu Verhaftung erweisen. Weil an ihrem Glauben immer noch der Zwei-
fel nagt, bittet Jesus den Vater, sie vor dem Bösen zu bewahren und ihren
Glauben zu stärken. In dem Glauben an ihn und den Vater sollen sie wach-
sen, dies steckt in dem Begriff ‚heiligen‘. Dies aber können sie nur wenn
sie einander in Liebe und gegenseitiger Fürsorge verbunden bleiben und
in dieser reifenden Liebe zu einer sich immer mehr erweiternden Kenntnis
der Wahrheit gelangen. Diese Wahrheit ist kein intellektuell zu begreifendes
Wissen sondern ein Gefühl der existentiellen Geborgenheit im Glauben an
Jesus. Es ist kein Glauben, der sich an Formeln und Dogmen festmachen
lässt, sondern ein Glauben, der in einer tief in sich ruhenden Gewissheit
sich im Leben selbst entfaltet. Und diese glaubende Zuversicht soll auch
andere berühren, „damit sie alle eins seien“ (Joh 17,21). Dieser Glaube be-
rührt den Menschen eher wie Poesie oder Musik, und er bindet sie einander
wie sich ja auch die johanneische Gemeinde angesichts erfahrener Bedro-
hungen als eine verschworene Gemeinschaft empfand, in der einer für den
anderen eintrat.
Über die Passion Jesu schreibt Johannes ähnlich wie die Synoptiker wenn er
sich auch in signifikanten Details von ihnen unterscheidet, wie ja auch die
Darstellungen der Synoptiker selbst von einander abweichen. Bei Johannes
288 7. Der biblische Jesus
Würdevoll verhält sich Jesus auch während des Verhörs beim Hohen-
priester. Johannes erzählt von zwei Verhören, eine vor Hannas und das an-
dere vor Kaiphas während die Synoptiker nur eins erwähnen. Man hat die-
se Unstimmigkeit damit erklärt, dass Johannes die Lücke bei den anderen
Evangelisten schließen wollte, dabei das nachfolgende Verhör vor Kaiphas
als bekannt voraussetzte und es so auch nicht weiter ausführt.
Auch im anschließenden Verhör im Prätorium durch den Statthalter Pi-
latus zeigt sich Jesus jederzeit als Herr der Situation, ja bewirkt mit sei-
ner Haltung und seinen Worten, dass Pilatus in seiner Entschlusskraft ge-
lähmt scheint und ins Schwanken gerät. Folgt man Johannes, spielt Pilatus
als Vertreter des römischen Staates den vernünftigen Part, immer bemüht
um Gerechtigkeit und darum, einen Justizmord zu verhindern. Diese Li-
nie haben traditionell auch die meisten Theologen vertreten. So verteidigt
z.B. Godet was ihm grundsätzlich als „eine edle Regung“ des Pilatus in
dessen Verhörtaktik erscheint, beschreibt ihn als „tief ergriffen“ von Jesu
Hoheit, „mit dem weitherzigen Gefühl für Gerechtigkeit und Staatskunst.“
Ihm war bekannt, dass Pilatus „in allen Regierungshandlungen (sich) . . .
als ein guter Beamter“ erwies. Nun, da steht der verehrte Herr Theologe
aber mit seinen Geschichtskenntnissen nicht auf gutem Fuß. In Wirklich-
keit war Pilatus ein Judenhasser ersten Ranges, ein brutaler Machtmensch
gewesen, dessen willkürliche Hinrichtungen und Bluttaten schließlich so-
gar dem Kaiser zu viel wurden dass er ihn 36 n. Chr. absetzte. Johannes
aber erweckt den Eindruck, als ob dieser Brutalo und Bluthund sich regel-
recht durch die Juden hat nötigen lassen, indem man ihm mit dem Entzug
der Freundschaft des Kaisers drohte. So ist es für Godet denn nur allzu klar,
dass für die Hinrichtung Jesu nur die Verlogenheit und „Niederträchtigkeit“
der Juden verantwortlich zu machen ist, deren wahres Motiv „Neid“ war.
Und nun lässt sich dieser ‚edle‘ Staatsmann Pilatus auf ein philosophi-
sches Gespräch über die Identität Jesu und die Wahrheit ein. Dabei ist den
meisten Theologen gar nicht aufgefallen, dass dieses Gespräch wie auch
andere rein fiktiv ist, was allein daran zu erkennen ist, dass die von den
Evangelien überlieferten Versionen so wenig übereinstimmen. Woher hät-
ten die Evangelisten auch von seinem Inhalt erfahren können, fand es doch
im privaten Bereich des Pilatus statt. Anscheinend hatte Pilatus nichts wei-
ter über den Begriff ‚Wahrheit‘ zu sagen. Wie Johannes nahe legt, zählte
für ihn einzig die politische Wirklichkeit des römischen Staatsapparates
290 7. Der biblische Jesus
mit dem gottgleichen Kaiser an seiner Spitze. Jesus hingegen lehrte den
Glauben an den wahren Gott der Liebe. Da mussten sie wohl aneinander
vorbeireden.
19. Auf dem Weg zu seiner Hinrichtungsstätte musste Jesus selbst sein
Kreuz tragen während das dem synoptischen Jesus von Simon von Kyrene
abgenommen wurde. Scheinbar unberührt von den Qualen des Todeskamp-
fes vermag er noch, seine Familienangelegenheiten zu ordnen; denn der
jüdischen Tradition nach hatte der Erstgeborene die Pflicht, für die Wohl-
fahrt der Eltern zu sorgen. Unter dem Kreuz finden Jesu Mutter und der
Jünger, den Jesus liebte, zusammen. Damit ist seine letzte Pflicht erfüllt
und er kann sich nun von dieser Welt trennen: „Es ist vollbracht“, so sprach
er. Was für ein Gegensatz zu dem herausgeschrieenen Ruf der Verzweiflung
und Ohnmacht des synoptischen Jesus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast
du mich verlassen“ (Mk 15,34).
Jesus stirbt am Rüsttag vor dem Passa, dem Tag, an dem die Passaläm-
mer geschlachtet werden. Der synoptische Jesus stirbt einen Tag später. Es
mag sein, dass Johannes historisch richtig lag (religiöse Gründe sprechen
gegen die Kreuzigung am Passatag); zudem hat der Rüsttag auch hohe sym-
bolische Bedeutung; denn so wie an diesem Tage die Passalämmer zur Op-
ferung vorbereitet werden, so stirbt Jesus als das Lamm Gottes, als Sühne-
opfer, das die Sünden der Menschheit hinwegnehmen soll. Die Leichname
mussten, wie gesetzlich vorgeschrieben, vom Kreuz abgenommen werden.
Das Brechen der Beine war eine Sicherheitsmaßnahme, dass der Gekreu-
zigte nicht wieder zum Leben zurückkehren konnte. Da Jesus bereits tot
war, war es bei ihm nicht mehr notwendig.
Wegen des Rüsttags der Juden wurde Jesu Leichnam in ein Grab gelegt,
das sich nahe bei der Hinrichtungsstätte befand. Dies macht Sinn; denn der
Abend leitete einen doppelten Sabbat ein, da das Passa auf einen Sonnabend
fiel und die Überführung einer Leiche nicht gestattet gewesen wäre. Was
aber geschah dann am Grab? Ist die Rede vom leeren Grab lediglich eine
Legende oder steckt mehr dahinter? Nun war es häufige Praxis, dass der Ka-
daver des Hingerichteten einfach in Abfallgruben außerhalb der Stadtmauer
zum Fraß für die Hunde geworfen wurde. Wie aber hätte sich ein Auferste-
hungsglaube mit dem Bild einer verwesenden Leiche verfestigen können?
Das war eher möglich wenn man den Leichnam verschwunden glaubte. So
konnte man auch die körperlichen Erscheinungen Jesu erklären, dem noch
7.6. Jesu letzte Worte und seine Passion 291
seine Wundmale anzusehen waren. Ist der Mythos vom leeren Grab also
eine theologische Fiktion?
Es gibt viele Erklärungsversuche zum verschwundenen Leichnam Jesu.
Schon die Pharisäer hatten laut Matthäus befürchtet, dass die Leiche von
den Jüngern beiseite geschafft werden könnte und ordneten deshalb eine
Bewachung des Grabes an. Aber vielleicht gibt es ja auch eine ganz natür-
liche Erklärung. Zwischen Jesus und seiner Familie war es zuvor anschei-
nend zum Bruch gekommen, wie insbesondere Markus deutlich macht, aber
spätestens am Kreuz hat dann wohl eine Art Versöhnung stattgefunden;
denn Jesu Mutter war anwesend und sein Jünger würde sich ihrer hinfort
annehmen. Warum sollten auch über den Tod hinaus die alten Wunden ge-
pflegt werden? So ist es denkbar, dass aus Gründen von Familienehre und
Pietät Jesu Leichnam eine angemessene Beisetzung in seinem Heimatort
Nazareth gegeben werden sollte. Allerdings hätte die Überführung der Lei-
che auf den Tag nach dem Sabbat verschoben werden müssen und so war
es opportun, sie zunächst im Privatgrab eines Freundes nahe bei Golgatha
abzulegen. Das Grab war also wirklich leer und auf dieser Tatsache fußte
die spätere Legendenbildung, die vielleicht absichtlich gefördert wurde.
20. Was nun am Grab passierte, wird sich nie mit Sicherheit feststellen
lassen. Da hat jeder Evangelist seine eigene Version und alle beschreiben
ein Geschehen von tiefer theologischer Symbolik. Maria Magdalena aber
spielt eine entscheidende Rolle. In der johanneischen Version ist sie allein
am Grab. Es ist der Anbruch des Tages und die Sonne wird sich jeden Mo-
ment am Horizont zeigen. Religiös gesprochen ist das eine Situation der
Wiedergeburt, wie sie sich in vielen Mythen widerspiegelt. Maria findet
das Grab leer, sieht Jesus und trägt diese Nachricht weiter an die Jünger
woraufhin Simon Petrus und der geliebte Jünger zum Grab laufen und sich
selbst überzeugen, dass es leer ist. Doch sie sehen nicht was Maria kurz
darauf erblickt, nämlich zwei Engel, die den Platz besetzt halten, wo das
Haupt und die Füße Jesu waren. Ein ähnliches Bild kennen wir aus Ägyp-
ten. Dort sind es die beiden Schwestern Nephthus und Isis, die am Sarg
ihres geliebten Bruders, dem Gott Osiris, stehen. Warum sehen nun die bei-
den Jünger nicht was Maria sieht? Waren sie überhaupt da? Ist es nur ein
Einschub, um dem Zeugnis einer Frau mehr Gewicht zu verleihen; denn der
Status der Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft glich eher dem eines
Minderjährigen?
292 7. Der biblische Jesus
Drewermann deutet die Visionen der Maria als einen Vorgang in ihr
selbst. Psychologisch gedeutet verkörpern die beiden Jünger die männliche
und spirituelle Seite ergänzt durch weibliche Intuition, der Prototyp einer
idealen Glaubenshaltung. Dies ist sicherlich nur eine mögliche Interpretati-
on des geschilderten Geschehens. Auf jeden Fall schwindet die Zahl derer,
die daran glauben, dass die Auferstehung ein sich in Raum und Zeit abspie-
lendes, sinnlich wahrnehmbares Ereignis gewesen war.
Jesus ist zwar irgendwie derselbe, lässt sich anfassen, ja wird später
noch ein Mahl mit den Jüngern teilen, andererseits durchdringt er wie ein
Geist Tür und Wände. Er hat also eine Verwandlung, eine Verklärung an
sich erfahren. Die Vorstellung davon ist nur in dem Idiom des Paradoxen
zu verdeutlichen: Maria darf Jesus noch nicht anrühren, da er noch nicht
zum Himmel aufgefahren ist, andererseits fordert er Thomas auf, ihn zu
betasten.
In seiner ersten Erscheinung vor den versammelten Jüngern erteilt Je-
sus ihnen seinen Frieden und bläst ihnen den Heiligen Geist ein, der dann
Pfingsten noch einmal über sie kommen wird. Damit verbindet sich auch
die Vollmacht, Sünden zu vergeben. Die Kirche konnte aufgrund dieses
Textes die Übertragung der Befähigung zur Sündenvergebung auf die von
ihr bestallten Amtsträger begründen, eine für sie erfreuliche Entwicklung.
Die Gnade der Vergebung reduziert sich damit auf einen Akt der Verwal-
tung. Doch ein wirkliches Vergeben erfordert ein heilwerdendes Erinnern
und Durcharbeiten des Erlebten.
Mit der paradigmatischen Figur des Thomas führt Johannes die Rolle
des Zweiflers ein. Auch der Zweifel, das ehrliche Ringen um die Wahr-
heit, muss respektiert werden. Gerade das in Formelhaftigkeit und Dogmen
gefrorene Glaubensbekenntnis verkommt oft zu einem entsinnten Leerlauf
von Worthülsen und kann so in der ‚Seele‘ keine Wurzeln schlagen. Anstatt
das Ostergeschehen als ein Faktum zu erklären versuchen, sollte doch statt-
dessen eine Sinngebung in Form von der Bejahung und der Zelebrierung
des Lebens im Vordergrund stehen. Ein in intuitiver Tiefe verankerter Glau-
be ist nicht notwendigerweise für seine Bestätigung auf Wundererscheinun-
gen angewiesen. Ein Verlangen danach mag gar, wie an dem zweifelnden
Thomas aufgezeigt, als Schwäche ausgelegt werden.
21. Das letzte Kapitel 21 ist ein späterer Nachtrag. Sein Schluss ist
praktisch identisch mit dem Schluss des vorhergehenden Kapitels. Hier
7.6. Jesu letzte Worte und seine Passion 293
wird uns eine Geschichte voller seltsamer Ereignisse geschildert. Die vie-
len logischen Brüche der Erzählung vom Fischfang, die sich so ähnlich bei
Lukas findet (Lk 5,1ff), vermitteln den Eindruck einer aus legendären Frag-
menten neu zusammengesetzten Geschichte. Die Jünger kommen zurück
von ihrem erfolglosen Fischfang und erblicken einen Mann am Ufer, doch
niemand weiß, dass es sich um Jesus handelt. Seltsam dann die präzise An-
weisung Jesu, das Netz nach rechts auszuwerfen und der dann so überaus
erfolgreiche Fischzug. Dies öffnet die Augen zunächst des geliebten Jün-
gers, der Jesus als erster erkennt. Aber Petrus reagiert mit seiner typischen
Spontaneität. Er war nackt und muss sich erst ankleiden; denn wie könnte er
auch nackt Jesus unter die Augen treten. Dann wirft er sich ins Wasser, um
Jesus als erster zu erreichen. Jetzt wird es richtig wundersam. Wie aus dem
Nichts erscheint plötzlich ein am Ufer angelegtes Feuer mit Grill, Brot und
Fisch. Hat Jesus es selbst vorbereitet? Als Jesus nach Fischen verlangt, da
zieht Petrus nun ganz allein das prall gefüllte Netz mit dem sich vorher die
ganze Jüngerschar abgemüht hatte. Und dann hatte sich jemand die Mühe
gemacht, die Fische zu zählen, es waren genau 153. Die dahinterstehende
Symbolik ist nicht zu erschließen.
Im zweiten Teil des Kapitels dreht es sich um die Klärung der Rollen
von Petrus und des geliebten Jüngers. Es ist wohl eine chiffrierte Darstel-
lung einer innergemeindlichen Klärung, welchen Platz Petrus und dieser
Jünger einnehmen sollten. Während Petrus zum Hirten der Gemeinde be-
stallt wird, behält der geliebte Jünger seine zentrale Stellung aufgrund ei-
ner charismatischen Glaubensüberlegenheit. Aber wer war dieser geliebte
Jünger eigentlich? Er muss Jesus sehr nahe gestanden haben und im Prin-
zip kommen dafür nur die drei im engsten Jüngerkreis in Frage, nämlich
Petrus und die beiden Zebedäussöhne. Doch eine Prüfung des Johannes-
Evangeliums ergibt, dass gerade diese drei ausscheiden. Wer also kann es
gewesen sein? Vielleicht existierte der geliebte Jünger tatsächlich, nur war
er kein Jünger sondern eine Jüngerin. Es war Maria Magdalena, so unsere
Deutung.
Gerade in der johanneischen Gemeinde haben, wie bereits dargelegt,
Frauen eine bedeutende Rolle gespielt, so auch im Leben Jesu. Insbesonde-
re Maria Magdalena scheint dabei eine Schlüsselstellung einzunehmen. Um
weiterer Verfolgung zu entgehen, siedelte die Gemeinde nun nach Ephesus
um, ein petrinischer Kirchenkreis, und hier, unter dem Druck patriarchali-
294 7. Der biblische Jesus
scher Strukturen, musste die Rolle der Frauen neu verhandelt werden. Ein
Indiz ist zum Beispiel die Nichterwähnung der Erscheinung Jesu vor Maria
am Grabe (Joh 21,14). Es zählen nur noch die beiden früheren Offenbarun-
gen Jesu vor den männlichen Jüngern.
In der Schrift erscheint die Bedeutung der Frauen bereits erheblich her-
abgesetzt. Sie sind in der Tendenz nur noch eher zufällige Begleitpersonen
und ihrer Rolle als Sympathisanten und Stützen von Jesu Wirken werden
nur wenige Zeilen gewidmet. Damit einher geht eine implizite Abwertung
der Geschlechtlichkeit. Jedenfalls lässt dies die Vorstellung einer jungfräu-
lichen Zeugung durch den Heiligen Geist, die daher den Geschlechtsakt
ausschaltet, vermuten. Wie auch könnte die Erhabenheit des Gottessohnes
mit jeglicher Andeutung geschlechtlicher Lust bei seinem Eintritt in die
Welt verbunden sein. Warum aber sollte die sinnliche Liebe in der Religi-
on weiter so negativ besetzt sein? Dass es anders geht beweisen ja schon
mal die poetisch-anmutigen, erotischen Liebeslieder des Salomo. Und war
nicht auch Jesus ein Mann mit starken Gefühlen gewesen, der oft sehr emo-
tional reagierte? Warum sollte er sich dann der Liebe einer Frau entsagt ha-
ben wollen? Er lebte doch noch nicht im Zölibat. Hätte in seinen Kreisen
der Genuss sinnlicher Lust seiner spirituellen Authentizität geschadet? Je-
sus war höchst unkonventionell gewesen und das Auskosten der weiblichen
Zuneigung dürfte für ihn keine große Hemmschwelle bedeutet haben.
Das Bild des an Jesu Brust liegenden geliebten Jüngers drängt jeden-
falls geradezu den Eindruck einer erotischen Nähe und die einer besonderen
Beziehung auf. In anderen Übersetzungen heißt es gar: „er lag im Schoß Je-
su“. Wäre hier die Rede von einem griechischen Symposium, dann dürfte
man schon einen Mann im ‚Schoß Jesu‘ vermuten, doch die Männerliebe
galt in Israel als verpönt. Ist es daher so absurd anzunehmen, dass Jesus
eine Geliebte zu sich genommen hatte, Maria Magdalena?
Da nun in einigen Situationen Maria Magdalena und der geliebte Jün-
ger gemeinsam auftreten scheint es sich zu verbieten, die beiden als iden-
tisch anzunehmen, doch für dieses Problem lassen sich Lösungen finden.
So wird vermutet, dass die Erzählung vom Wettlauf des Petrus und des ge-
liebten Jüngers zum Grab nur ein fiktiver Einschub ist. Am Kreuz finden
sich Maria Magdalena als auch der geliebte Jünger. Die Synoptiker berich-
ten aber nur von Frauen, die anwesend waren, die männlichen Jünger hatten
samt und sonders die Flucht ergriffen, da sie um ihr Leben fürchteten. Hätte
7.6. Jesu letzte Worte und seine Passion 295
wirklich einer der Jünger den Mut bewiesen, bei Jesu Hinrichtung zugegen
zu sein, dann hätten sie es sicherlich erwähnt. So ist anzunehmen, dass
Maria Magdalena und der anwesende Jünger ein und dieselbe Person sind.
Und ist es nicht überzeugend, dass Jesus seine Mutter gerade seiner Gelieb-
ten anvertraut, in die Fürsorge einer anderen Frau anstatt der eines unstet
lebenden Wandercharismatikers? In Joh 18, 15f heißt es, dass ein „ande-
rer Jünger“, der „dem Hohenpriester bekannt“ war, Petrus den Eingang zu
dessen Palast ermöglicht hatte. Ist dieser andere Jünger identisch mit dem
‚geliebten Jünger‘? War es also Maria gewesen, die vormalige Sünderin,
die eine Liebschaft mit dem Priester gehabt hatte und der die Vertrautheit
mit ihm gewisse Privilegien verschafft hatte?
Wenn diese Vermutungen zutreffen, dürfte auch klar sein, warum der
Name des geliebten Jüngers anonym gehalten wurde. Einerseits, weil die
herausragende Rolle einer Frau nicht mehr in das patriarchalische Konzept
passte, andererseits weil eine Liebschaft Jesu in der petrinischen Gemeinde
als anstößig empfunden worden wäre. Maria Magdalena qua ‚der geliebte
Jünger‘ wurde lediglich eine Glaubensüberlegenheit zugestanden und die
hatte sie ja auch bewiesen, so in den Szenen als sie Jesus mit Öl salbte, ihn
mit ihren Tränen benetzte oder ihm zu Füßen seiner Rede lauschte.
Auch einigen apokryphen Evangelien lässt sich die besondere Stellung
Marias entnehmen. Diese Evangelien sind von der Kirche unterdrückt wor-
den, teils wegen ihrer als häretisch empfundenen gnostischen Tendenzen,
teils wegen ihres übertriebenen legendären Charakters. So geht z.B. aus
dem Maria Evangelium hervor, dass Jesus Maria mehr als die anderen Jün-
ger liebte und dass er mit ihr Geheimnisse teilte, zu denen die anderen
Jünger keinen Zugang hatten – man denkt in diesem Zusammenhang un-
willkürlich auch an die Szene des letzten Mahls. Petrus macht in diesem
Evangelium eine eher schlechte Figur. Maria Magdalena aber steigt zum
Apostel der Apostel auf, wird geradezu als Nachfolger Jesu verhandelt.
Über die Beziehungen von Jesus, Maria und Petrus liest es sich so:
Philippus-Evangelium: „Der Herr liebte Maria mehr als alle Jünger,
und er küsste sie oft auf den Mund. Als die anderen Jünger sahen, wie er
Maria liebte, sprachen sie zu ihm: Warum liebst du sie mehr als uns alle?
Der Heiland antwortete und sprach‘ Wie könnte es sein, dass ich euch nicht
ebenso liebe wie sie?“
296 7. Der biblische Jesus
er seine eigene Tochter verdammt hatte, weil ihre Schönheit einen Skandal
verursachte. So war es völlig undenkbar, dass ein Mensch mit solch einer
Einstellung sich hätte von einer Frau belehren lassen wollen.
Verständlich, dass eine Kirche, die sich auf Petrus gründet, die Rolle der
Frau, zumal der von Maria, herabwürdigen würde. Doch hatte Jesus laut der
Schrift selbst gefordert: „Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt,
da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt getan hat“
(Mk 14,9). Was sie getan hat einschließlich ihrer Vision am Grab machte
sie sogar in den Augen des Kirchenlehrers Augustinus zum ‚Apostel der
Apostel‘. Die Kirche aber war weitgehend der petrinischen Ausrichtung
gefolgt, was dann zu Leibfeindlichkeit, einer verqueren Sexuallehre und
der Verfestigung von patriarchalischen Strukturen führte.
Wenn Maria Magdalena nun tatsächlich die Geliebte des Herrn gewe-
sen war, könnte dies auch erklären, warum Maria als Erste eine Vision von
Jesus hatte, vielleicht aus einem übersteigerten Gefühl heraus von Tren-
nung und Sehnsucht nach Vereinigung, der in ihrer Imagination ‚den wah-
ren Geliebten‘ erschuf. Wie lässt sich überhaupt diese Art ‚Wahrheit‘ be-
greifen ohne dass wir auf komplexe Erklärungsmodelle wie das Jungsche
Schema der Archetypen zurückzugreifen haben? Wie lässt sich eine tiefge-
hende, aufopferungsvolle Liebesbeziehung, die in dem tragischen Verlust
des Geliebten endet, verstehen? Könnte man es analog zu der Ergriffenheit
beim Hören schöner Musik oder Poesie begreifen oder dem erhebenden
Anblick majestätischer Natur, der einen träumerisch in sich verlieren lässt?
Der Wahrheit kommen wir doch nicht näher, wenn wir diese Schwingun-
gen der ‚Seele‘ auf das Flimmern von Nervenzellen reduzieren wollen. Der
Verstand wägt und misst, er berechnet und verwirft, doch gibt er uns wahre
Erkenntnis von Gefühlen wie Liebe, Trauer und Freude? Wie können wir
uns die Art seelischer Gestimmtheit, die unserer Vorstellung nach Maria er-
fahren hatte, verständlich machen? Der libanesische Dichter Khalil Gibran
(Jesus Menschensohn) versucht, diese Art Wahrheit in poetische Sprache
zu kleiden:
„Oft frage ich mich, ob Jesus ein Wesen aus Fleisch und Blut war wie
wir oder nur ein Bild unserer Phantasie, eine Idee unserer Einbildungs-
kraft. Dann kommt mir der Gedanke, dass Er vielleicht nur ein Traum war,
den zahlreiche Männer und Frauen gleichzeitig träumten in einem Schlaf,
der tiefer ist als jeder andere Schlaf, oder ein Morgenrot, heiterer als je-
298 7. Der biblische Jesus
des andere Morgenrot. Als wir uns diesen Traum erzählten, begannen wir
vielleicht, ihn für eine Wirklichkeit zu halten; unsere Phantasie verlieh ihm
einen Körper und unsere Wünsche eine Stimme. Und so formten wir aus
ihm ein Wesen gleich unserem Wesen.
Aber in Wahrheit war Jesus kein Traum! Drei Jahre lang haben wir ihn
gekannt und staunend beobachtet im hellen Mittagslicht . . . Nein, Jesus
war weder ein Schatten noch die Vorstellung eines Dichters oder ein Bild
unserer Träume. Er war ein Mensch wie du und ich. Doch das bezieht sich
nur auf Gehör, Gefühl und Gesicht. Sonst war Er anders als alle Menschen.
Er war ein Mensch der Freude. Aus Kummer und Leid führte Er uns auf
den Weg der Freude. Und selbst vom hohen Dach Seiner Leiden blickte Er
auf die Freude der Menschen . . .
Wenn ich vor Ihm stand und mit Ihm sprach, dann war Er ein Mann
mit seinem ausdrucksvollen, wissenden Gesicht, und Er fragte mich: ‚Was
willst du, Miriam?‘ Ich antwortete ihm nicht, doch die Schwingen meines
Herzens umschlossen und hüteten mein Geheimnis und mir wurde warm
ums Herz . . .
Er schaute mich an, und der Mittag Seiner Augen ruhte auf mir. Und
Er sprach: ‚Du hast viele Liebhaber, Miriam! Aber nur ich liebe dich. Die
anderen Männer suchen sich selbst, indem sie dich lieben. Ich liebe dich um
deinetwillen. Die anderen sehen in dir eine Schönheit, die schneller vergeht
als ihre Jahre. Ich aber sehe in dir eine Schönheit, die niemals welken wird.
Und noch im Herbst ihrer Jahre wird sie sich nicht zu fürchten brauchen,
in den Spiegel zu sehen, denn sie wird nicht gedemütigt werden. Ich allein
liebe, was in dir ist und was man nicht sieht.‘ An diesem Tag tötete der
Sonnenaufgang in Seinen Augen den Drachen in mir. Ich wurde eine Frau;
ich wurde Miriam, Maria von Magdala.“
vor Pilatus ihre Anklagepunkte wie folgend: a) Jesus hetzt das Volk auf;
b) er verbietet die Steuerzahlung an den König und c), er spricht von sich
selbst als den Christus. Nur Lukas erwähnt die zwischenzeitliche Befra-
gung durch Herodes, doch die Misshandlung durch die römischen Soldaten
fehlt bei ihm.
Jesu Kreuzigung und Tod: Lukas hat diese Szene in einigen Details
umgestaltet. Bei ihm gibt es keinen Simon von Kyrene als Kreuzträger für
Jesus und während Matthäus beide Räuber Jesus schmähen lässt erfuhr bei
Lukas einer von ihnen eine innere Umkehr. Er wies den anderen der Übel-
täter wegen dessen Lästerungen zurecht und bat Jesus seiner zu gedenken,
wenn er in sein Reich komme worauf dieser ihm antwortete: „Wahrlich, ich
sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein“. Und auch nur der lukani-
sche Jesus spricht diese Worte: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht
was sie tun!“ Und während dieser Jesus kurz vor seinem Tod sagt: „Vater,
ich befehle meinen Geist in deine Hände“ sagt Jesus in den beiden anderen
Versionen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Mat-
thäus steigert die Dramatik der Ereignisse nach Jesu Dahinscheiden. Er
schildert auch noch ein Erdbeben und das Öffnen der Gräber der Heiligen.
Der Hauptmann ist so von diesem Geschehen beeindruckt, dass er ausruft:
„Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“ (ebenso schildert es Markus).
Lukas hingegen lässt den Hauptmann nur sagen: „Fürwahr, dieser ist ein
frommer Mensch gewesen!“ Er spricht nur von Frauen, die aus der Ferne
die Vorgänge beobachteten, Matthäus aber zählt sie auf: „Maria von Mag-
dala und Maria, die Mutter des Jakobus und Josef, und die Mutter der Söhne
des Zebedäus.“ Markus zählt Salome zu den anwesenden Frauen statt der
Mutter der Söhne des Zebedäus.
Die Szene am Grab: Nur Matthäus schildert die Anordnung des Pi-
latus, wie von den Hohenpriestern erbeten, das Grab zu bewachen. Auch
fallen die Ereignisse am Grab bei ihm erheblich dramatischer aus. Nach
dem Sabbat „kamen Maria von Magdala und die andere Maria, um nach
dem Grab zu sehen“. In diesem Moment setzte ein großes Erdbeben ein,
der Engel des Herrn stieg vom Himmel herab, „wälzte den Stein weg und
setzte sich darauf“. Er war schneeweiß gewandet und die Frauen ergriff To-
desfurcht. Der Engel aber sprach zu den Frauen, dass sie sich nicht fürchten
sollten und forderte sie auf, das leere Grab zu besehen und den Jüngern Jesu
300 7. Der biblische Jesus
Nach dem Ende seiner Rede wurde Jesus vor ihren Augen in den Himmel
aufgehoben.
Lukas berichtet, dass Petrus selbst zum Grab lief und sich überzeugte,
dass es in der Tat leer war wie die Frauen es gesagt hatten. Zwei von Jesu
anderen Jüngern begegneten Jesus auf dem Weg nach Emmaus, doch sie
erkannten ihn erst, nachdem sie in einer Herberge eingekehrt waren und er
das Brot vor ihnen brach. Dann erschien Jesus auch den Elfen, die sich in
Jerusalem versammelt hatten. Um ihnen zu beweisen, dass er es tatsächlich
war, ein Mensch aus „Fleisch und Knochen“, forderte Jesus sie auf, seinen
Leib anzufassen. Zudem verzehrte er auch noch einen Fisch vor ihnen. Da-
nach führte er sie nach Betanien, segnete sie und „fuhr auf gen Himmel“.
Die Differenzen zwischen den verschiedenen Versionen (und die des
Johannes) sind offensichtlich so eklatant, dass sie nicht miteinander zu har-
monisieren sind. Matthäus neigt zu dramatischen Übersteigerungen und
Lukas nimmt die kurze Notiz des Markus über die Zweien, denen Jesus
sich offenbart, zum Anlass, diese zu einer längeren, theologisch angerei-
cherten Episode auszubauen. Auffallend ist auch die Tendenz der Evange-
listen, sich bei der Gestaltung ihrer Erzählungen reichlich beim Alten Tes-
tament zu bedienen. So werden dem sterbenden Jesus Worte aus Psalm 22
(„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“) in den Mund ge-
legt und aus dem gleichen Psalm der Spruch „sie werfen das Los um mein
Gewand“ zitiert während aus Psalm 69 die Textstelle „sie geben mir Galle
zu essen und Essig zu trinken“ entnommen ist. Und Worte des Propheten
Jeremia (51,35): „mein Blut komme über die Bewohner von Chaldäa“ oder
des Sacharja (11,13): „ich nahm die dreißig Silberstücke und warf sie in
das Haus des Herrn“ werden in einen neuen Kontext gestellt.
Dass die Mitglieder des Hohen Rates planten, Jesus aus dem Weg zu
räumen, ist eher wahrscheinlich, wenn man sich allein den Aufruhr bei sei-
nem Einzug in Jerusalem und seine Provokationen im Tempel vergegen-
wärtigt. Eher unwahrscheinlich ist aber das in der Schrift dem Judas vor-
geworfene Motiv des Verrats Jesu. Er ist dadurch wohl zu einer der meist-
gehassten Figuren der Religionsgeschichte geworden. Nehmen wir einmal
an, es handelt sich bei ihm um eine historische Person, hat er eine solche
Charakterdiffamierung verdient?
Matthäus (26,15) und Johannes (12,6) werfen Judas Geldgier vor. Aber
wäre es ihm wirklich nur auf das Geld angekommen, hätte es Judas, der
302 7. Der biblische Jesus
ja eine Art Schatzmeister war, da nicht einfacher haben können und wäre
mit dem Geld durchgebrannt? Warum überhaupt sollten die Oberen den
Verrat eingekauft haben, hätten sie den Aufenthalt Jesu doch ebenso gut
mit ihren eigenen Leuten ausfindig machen können? Wenn Judas aber Reue
zeigte, ist das nicht ein Hinweis, dass er ein anderes Motiv hatte und sich
die Hoffnungen, die sich damit verbanden, nicht erfüllt hatten?
Drewermann erwägt ein politisches Motiv des Judas. Unter Jesu Jün-
gern befand sich auch ein Simon, der Zelot (Lk 6,15), also ein Anhänger des
politischen Messiastums. Judas nannte sich Iskariot. Dieser Name könnte
entweder von dem einer Stadt abgeleitet worden sein oder aber Judas war
ein Anhänger der Sikarier, der sogenannten Dolchmänner, die Leute um-
brachten, die sich als römerfreundlich verdächtig gemacht hatten. Sollte
Letzteres der Fall sein, wirft das natürlich die Frage auf, warum Jesus sol-
che Leute in seinen engsten Kreis überhaupt aufgenommen hatte. Hatte er
sich in seiner Menschenkenntnis geirrt oder glaubte er einfach an das Gu-
te in jedem Menschen und erhoffte sich von Simon und Judas eine innere
Umkehr? Oder hatte er sie wissentlich aufgenommen, um seinem Geschick
die gewünschte Richtung in Einvernehmen mit dem geglaubten Heilsplan
Gottes zu bringen? War Judas also nur ein Werkzeug Gottes? Stand Jesus
damit gar in Judas Schuld, indem er ihn zum Verrat an ihn verleitete und
sich so an ihm versündigte? Und doch sagt der mt Jesus: „Es wäre für die-
sen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre“ (Mt 26,24). Welch eine
furchtbare Aussage, die, angenommen alles verlief gemäß Gottes Plan, mo-
ralisch höchst anstößig ist. Andere argumentieren, dass Judas Jesus in eine
lebensbedrohliche Situation bringen wollte, damit dieser endlich seine herr-
schaftliche Macht demonstriert. Noch abstruser erscheint die Behauptung,
Jesus plante zusammen mit Judas einen Aufstand gegen die Römer. Einer
solchen Gesinnung steht Jesu gesamtes Wirken und seine ausdrücklichen
Forderungen nach Friedfertigkeit entgegen.
Alles in allem überzeugt das politische Motiv nicht. Wenden wir uns
dem religiösen Motiv zu. Dieses gründet auf der Annahme, dass Judas der
glühendste Verehrer Jesu gewesen war und fest an seine Gottessohnschaft
glaubte. Hatte Judas somit aus der fanatischen Überzeugung heraus gehan-
delt, dass Jesus durch den Verrat gezwungen sein würde, seine ganze göttli-
che Herrlichkeit und Macht zu offenbaren und das messianische Königtum
oder Reich Gottes bereits jetzt schon auf Erden zu verwirklichen? War die
7.6. Jesu letzte Worte und seine Passion 303
Stunde nicht gerade günstig für ein derartiges Auftreten Jesu, da die Volks-
menge seine Führerschaft erhoffte und an ihn glaubte? Andererseits hatte
Jesus immer der Demonstration von Schauwundern eine Absage erteilt.
Vielfach wird das Motiv der Gesetzestreue vertreten. Es war die reli-
gionsgesetzliche Pflicht eines jeden Juden, einen Gotteslästerer an die Au-
toritäten auszuliefern. Hatte Judas also nur dem Gesetz Genüge getan und
sich damit als vorbildlicher Staatsbürger verhalten? Dies aber würde einen
inneren Bruch mit Jesus voraussetzen und sein Verrat hätte ihn daher mit
einer gewissen Befriedigung erfüllen müssen. Das aber ist gerade nicht der
Fall, denn es reute ihn ja der Verrat. Oder hatte er vielleicht gehofft, dass
der Hohe Rat die Anklagepunkte gegen Jesus prüfen würde und schließlich
zu einem Freispruch gelangen müsste? In dem Fall hatte er sich jedenfalls
getäuscht. Ganz von der Hand zu weisen lässt sich dieses Motiv also nicht.
Doch erwägen wir noch ein erweitertes religiöses Motiv. Nehmen wir
an, Judas fühlte sich einerseits zu der mosaischen Religion der Väter hinge-
zogen, wie sie von den religiösen Autoritäten tradiert wurde, andererseits
war er aber auch ein überzeugter Anhänger Jesu. Welche Seite nun stand
der Wahrheit näher? Im Gefühl einer inneren Zerrissenheit und entschlos-
sen, eine Entscheidung über die Wahrheitsfrage herbeizuführen, beging Ju-
das den Verrat, in der Hoffnung, dass die beiden Parteien im Dialog zu
einer neuen Gemeinsamkeit finden würden. Doch die Vertreter der alten
Religion ließen sich nicht auf ein faires Hearing für Jesus ein. Warum auch
sollten sie ihre Überzeugungen in Zweifel stellen lassen wollen? Ein ähn-
liches Beharrungsstreben findet man ja auch heute insbesondere auf Seiten
der katholischen Kirche, die nichts so sehr fürchtet wie das Erschüttern der
Fundamente des überlieferten wahren Glaubens. Judas mag naiv gewesen
sein, ein treuer Anhänger Jesu blieb er allemal. Das erklärt dann auch die
Verzweiflung, die ihn ergriffen hatte, und letztlich zum Selbstmord trieb.
Judas, eine tragische Gestalt der Religionsgeschichte und nicht das Mons-
ter, für das er zumeist gehalten wird. Er hatte vielleicht mehr für seinen
Meister gelitten als alle anderen Jünger.
Der Judaskuss gilt als Ausdruck einer perfiden, heuchlerischen Gesin-
nung oder war er nicht eher Zeichen einer andauernden Freundschaft zwi-
schen Judas und Jesus? Wollte er damit vielleicht ausdrücken, das was ich
da mache, das tue ich doch für dich? Auf jeden Fall wollte Judas doch gar
304 7. Der biblische Jesus
nicht den Tod Jesu. Zum Schluss hatte er sich mit seinen Selbstvorwürfen
selbst irre gemacht und seine eigene innere Hölle durchlebt.
Erstaunlich ist, dass Jesus trotz seines des von ihm vermuteten Vorwis-
sens mit Judas die Gemeinschaft des letzten Passamahls teilte. Nur bei Jo-
hannes verlässt Judas vorzeitig das Abendessen, das die Synoptiker als ein
Abendmahl erzählen. Sie unterscheiden sich aber in den Abendmahlswor-
ten. Während der mt Jesus spricht: „Nehmet; esset, das ist mein Leib“ und
es so fast identisch bei Markus heißt, überliefert uns Lukas stattdessen die
folgenden Worte: „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird, das tut zu
meinem Gedächtnis“. Auch wenn man das Geschehen als historisch glaub-
würdig annimmt, können wir die wirklichen Worte Jesu doch nicht mehr
wissen. Die meisten Ausleger glauben jedenfalls, dass Jesus zwar solch
ähnliche Mahlgemeinschaften zu halten pflegte, doch diese Worte sich erst
als Teil einer Liturgie der frühen Christengemeinden herausgebildet hat-
ten und dann auf Jesus zurück projiziert wurden. Man beachte auch, dass
in den Ablauf dieses Abendmahls heidnische Elemente eingebaut worden
sind. Das Essen einer Gottheit und das Trinken seines Blutes waren auch
Teil der im hellenistischen Raum populären Mysterienkulte wie der des
Dionysos von dem man glaubte, er gab damit sein Leben zum Heil der Teil-
nehmer hin. Insbesondere die Riten des Mithraskultes mit Brot und Wasser,
über die von den Priestern Formeln gesprochen wurden, besaßen so große
Übereinstimmung mit der christlichen Eucharistie, dass Kirchenlehrer wie
Justin vermuteten, dass Dämonen den Mithraskult zur Nachahmung ange-
leitet hätten. Das aber ist ein Irrglauben, nicht nur was die Dämonen betrifft;
denn der Mithraskult ist wesentlich älteren Ursprungs. Allerdings bleibt die
Beziehung zwischen Mithraskult und Christentum unter Forschern weiter-
hin umstritten.
Das Segnen von Brot und Wein durch Jesus, der wie ein fürsorglicher
Hausvater handelt, ist aber auch eine Fortführung der alten jüdischen Riten
des Passafests, das zur Erinnerung an die Befreiung aus der Sklaverei in
Ägypten gefeiert wurde. Die christliche Form des Abendmahls wird ähn-
lich als eine Feier zum Gedächtnis an Jesus Christus gehalten. Besondere
Bedeutung kommt dabei dem Zusatz „zur Vergebung der Sünden“, der sich
nur bei Matthäus findet, zu und der ausdrücklich mit dem neuen Bund in
Verbindung gebracht wird. Im alten Bund, der laut Ex. 24 zwischen Gott
und Israel am Sinai geschlossen wurde, hatte das Blut von Opfertieren sün-
7.6. Jesu letzte Worte und seine Passion 305
sen zu sterben, nach dem Tode wie Aas auf ein Feld geworfen zu werden,
zum Fraß für die Hunde und Geier. Aber es sind ja nicht nur die Freunde,
von denen er sich verlassen glaubte. Schlimmer noch war das schmerzhafte
Gefühl, auch von Gott verlassen zu sein, das seinen Glauben der größtmög-
lichen Versuchung aussetzte. Wie er seine Situation innerlich bewältigte
werden wir nie wissen können, zumal Jesu Reaktion völlig entgegengesetzt
geschildert wird, als verzweifelt bei den Synoptikern während Johannes ihn
als zuversichtlich und gelassen beschreibt. Bei den Synoptikern gewinnt
man den Eindruck, dass Jesus seinen Tod nie gewollt hatte, doch bereit war
wenn es sein musste, diesen Weg bis zum bitteren Ende zu gehen, damit er
sein Lebensziel nicht verfehle. Der Jesus des Johannes hatte ja bereits das
Vorwissen darüber, was ihm bevorstand und akzeptierte seinen Tod als not-
wendigen Beitrag für die durch seinen Opfergang zu erwirkende Erlösung
der Menschheit.
Nachdem Jesus verhaftet worden war, folgte das Verhör vor dem Ho-
hen Rat, entweder noch in der gleichen Nacht (Markus und Matthäus) oder
aber erst in den frühen Morgenstunden (Lukas). Bei Lukas tritt der Hohe-
priester Kaiphas nicht persönlich auf, das Verhör wird von allen geführt.
Die entscheidende Frage wird wie folgend variiert: 1. „Ich beschwöre dich
bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagst, ob du der Christus bist, der
Sohn Gottes“ (Matthäus); 2. „Bist du Christus, der Sohn des Hochgelob-
ten?“ (Markus); 3. „Bist du denn Gottes Sohn“ (Lukas). Während aber der
mk Jesus mit Bestimmtheit antwortet: „Ich bin’s“ antwortet er in den an-
deren beiden Versionen eher zweideutig mit „Du sagst es“ (Matthäus) bzw.
„Ihr sagt es, ich bin’s“ (Lukas). Ausgenommen bei Lukas setzt Jesus noch
hinzu, dass sie den „Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kom-
mend mit den Wolken des Himmels“ sehen werden. Jedenfalls reicht den
Anklägern Jesu Antwort aus, um ihn der Gotteslästerung zu beschuldigen.
In den Augen der Juden hatte er sich damit Gott gleich gesetzt, eine uner-
hörte Blasphemie. Nicht eindeutig ist auch, wie die Hoheitstitel ‚Christus‘
und ‚Sohn Gottes‘ in diesem Kontext auszulegen sind. Die Ankläger dürf-
ten unter der Sohnschaft eine Adoption im Sinne von Psalm 2,7 verstanden
haben während die Christen Jesu Einssein mit Gott betonen. Mit dem Titel
Christus/Messias verbanden sich traditionell politische Ambitionen, aber
nicht für Jesus. War es daher, um mögliche Missverständnisse zu vermei-
den, dass Jesu Antwort mit „Du sagst es“ so unverbindlich ausfiel? Jeden-
7.6. Jesu letzte Worte und seine Passion 307
falls dürften die Oberen ihn verdächtigt haben, nach politischer Macht zu
streben. Alarmiert wegen der Vorkommnisse im Tempel und seinen kon-
troversen religiösen Auffassungen waren sie bereits genug gewesen. Und
so gebot es die Staatsraison, diesen Mann zu verurteilen, dass er von der
Bildfläche verschwinde.
Aber hat das Verhör überhaupt stattgefunden? Viele Ausleger bezwei-
feln es und weisen u. a. auf die Differenzen in den Darstellungen hin. Wie
hätten die Evangelisten sich auch Detailwissen von dem Verlauf des Ver-
hörs beschaffen können. Es gibt noch weitere Unstimmigkeiten. So hätte
man eine Sitzung des Sanhedrin niemals während der Nachtstunden an-
beraumt. Die Wendung ‚Sohn des Hochgelobten‘ war im Judentum unbe-
kannt, sie ist auf spätere christliche Reflexion zurückzuführen. Weiter ist
darauf hingewiesen worden, dass der Ablauf des Verhörs nicht mit der in
der Mischna festgelegten Prozessordnung übereinstimmt. Die Wahrschein-
lichkeit spricht also eher dafür, dass nicht ein offizielles Verhör sondern –
wenn überhaupt – nur eine informelle Anhörung Jesu und nachfolgende
Beratung des Hohen Rats stattgefunden hat. Was sich im Einzelnen da ab-
gespielt hat, haben die Evangelisten nach Gesichtspunkten der Plausibilität
unter der Perspektive des Glaubens rekonstruiert.
Sodann wird Jesus dem römischen Statthalter Pilatus überstellt. Die
ganze nachfolgende Schilderung des Verhörs vor Pilatus ist ein ‚antijudais-
tisches Dokument ersten Ranges‘, dessen Wirkungsgeschichte bis zum Ho-
locaust reicht. Außerdem dürfte sie weitgehend Fiktion sein. Als historisch
gesichert gelten nur die Verurteilung Jesu durch Pilatus und die anschlie-
ßende Kreuzigung. Die Szene um die Freilassung – ein Brauch, der his-
torisch nicht nachzuweisen ist – des berüchtigten Barabbas verstärkt nur
den Eindruck einer einseitigen Schuldzuweisung von Jesu Tod an die Ju-
den. Der Kontrast zwischen dem Mörder einerseits und dem unschuldigen
Gottessohn Jesus andererseits soll das Vorurteil einer jüdischen Kompli-
zenschaft weiter schüren. Das Volk entscheidet sich für das Böse und ver-
wirft das Gute. Auch die mehreren Unschuldsaussagen des zögerlichen Pi-
latus vertiefen den Eindruck einer jüdischen Verderbtheit. Und dann dieser
scheußliche Blutspruch (Mt 27,25), der die unsägliche verzerrte Beschrei-
bung des Verhörs vor Pilatus, krönt. In historischen Quellen wird Pilatus
als brutal, korrupt und perfide beschrieben. Und dieser Mann soll Gewis-
sensbisse bekommen haben, einen als Rebell verdächtigten Mann, der sich
308 7. Der biblische Jesus
auch noch als König bezeichnet, hinrichten zu lassen? Zwar wurde Pilatus
nachgesagt, dass er ein gewiefter Taktiker gewesen sei – wie sonst hätte er
sich so lange im Amt halten können –, aber er war eben auch ein grausamer
Machtmensch gewesen. Kaum glaubhaft, dass so einer von einem empfind-
samen Gewissen geplagt worden war. Auch irgendwelche Unschuldsver-
mutungen, die ihm gekommen sein mögen, dürften ihn kaum beeindruckt
haben. Als Erklärung oder mögliches Motiv für sein angeblich zögerliches
Verhalten käme eigentlich nur abergläubische Furcht in Frage; denn hier
hielt sich ja immerhin jemand für Gottes Sohn. Doch mehr spricht für die
Annahme, dass die Szene des Verhörs vor Pilatus im Wesentlichen frei er-
funden und aus der Glaubensperspektive der Evangelisten gestaltet worden
ist.
Wer war denn „das ganze Volk“ (Mt 27,25), das sich angeblich selbst
mit einem Blutfluch belegte? Ist es nicht eher plausibel, dass die Oberen ih-
nen ergebene Anhänger zusammentrommeln ließen, die dann auch pflicht-
schuldigst in die offizielle Linie der Anklage einschwenkten während die
eingeschüchterten Jesus-Anhänger schweigend im Hintergrund verblieben
wenn sie nicht sowieso das Weite gesucht hatten? Trifft diese Sicht zu, dann
kann man der Menge auch nicht mehr Wankelmütigkeit in dem Sinne ‚Heu-
te Hosianna und morgen kreuzige ihn‘ unterstellen. Es sah alles eher nach
einer abgekarteten Sache aus. Wenn wir nun den Evangelisten eine Art Ge-
schichtsfälschung bescheinigen, dann sollte man gerechterweise auch ihren
Kontext beleuchten. Als sie die Jesus-Geschichte nacherzählten, war Jeru-
salem bereits zerstört und die Christen sahen sich Verfolgung durch die
Juden und dem Argwohn der Römer ausgesetzt. Mit den Juden hatte man
sich aus religiösen Gründen überworfen, aber man wollte nun nicht noch
zusätzlich den Verdacht der Römer schüren, dass die Christen eine staats-
gefährdende Truppe waren, wie es ihnen bereits einige wie der Historiker
Tacitus vorwarfen. Also bloß nicht den Römern auch noch die Schuld am
Tode ihrer Gründungsfigur in die Schuld schieben sondern die römische
Urteilsfindung in ein positives Licht stellen. Zieht man dann noch in Be-
tracht, dass Jesus ja selbst sein Reich als nicht von dieser Welt bezeichnet
hatte, dann brauchten sich die Römer doch eigentlich keine Sorgen über
die Loyalität der Christen zu machen. Sicherlich intendierten die Verfasser
aber nicht, das ganze Volk in Sippenhaft für das Verbrechen an Jesus zu
nehmen. Es geht ja auch deutlich aus den Schilderungen hervor, dass die
7.6. Jesu letzte Worte und seine Passion 309
Hohenpriester die treibende Kraft gewesen waren. Was für eine furchtbare
Wirkung in Form von Judenpogromen ihre Erzählung einmal entfalten soll-
te, das konnten die Evangelisten doch nicht ahnen. Wenn überhaupt, dann
trifft die Schuld daran hauptsächlich die Kirche, die die Schuldzuweisung
an die Juden ungefragt übernommen und daraus den Vorwurf des Gottes-
mordes konstruiert hatte.
Vor seinem Weg zur Kreuzigungsstätte in Golgatha muss Jesus nicht
nur weitere Verspottung ertragen wobei die Verhöhnung durch Herodes
(die sich nur bei Lukas findet, der aber dafür die Verspottungsszene durch
die Soldaten auslässt, vielleicht aus Rücksicht gegenüber seinen römischen
Gönnern), der ihm einen Prunkmantel überwirft, den Eindruck der Ernied-
rigung noch vertieft. Auf ähnliche Weise wird er von seinen Schindern mit
den Insignien eines hellenistischen Herrschers ausgestattet, was den rö-
mischen Soldaten wohl Genugtuung bereitet haben musste, denn dadurch
konnte nicht nur Jesu Anspruch auf ein Königtum karikiert werden son-
dern auch stellvertretend durch ihn das jüdische Volk gedemütigt werden.
Er muss vor allem auch noch die Tortur der Geißelung erleiden, ausge-
führt durch eine mit Metallsplittern bestückten Rute. Die Schläge reißen die
Haut auf und führen zu starken Blutungen. So wird Jesus bereits vor seiner
Hinrichtung stark geschwächt gewesen sein. Warum tut der Mensch so et-
was? Warum war Abu Ghurabi möglich? Warum die sadistische Quälerei
in Nazicamps? Warum rächt sich im Krieg der Sieger fast regelmäßig mit
Vergewaltigungen an den Frauen der Besiegten? Warum ließen die Somali-
er den getöteten amerikanischen Soldaten nackt durch die Stadt schleifen?
Was geht in den Menschen vor, die sich zu solcher Art Bestialitäten und
Schändungen hinreißen lassen?
Wie die Erfahrung aus Kriegen immer wieder zeigt, führt die ständige
Gewaltausübung zu einer inneren Verrohung und zu Hass auf den Frem-
den, der als Ungläubiger, als bedrohender Untermensch oder Mitglied einer
minderwertigen Rasse, Angehöriger einer anderen Ethnie oder als Klassen-
feind bekämpft werden muss, wobei moralische Regeln außer Kraft gesetzt
werden. Unsere eigene Geschichte lehrt, wie unter Befehlszwang entweder
aus Opportunismus oder aber weil sie sich als Teil einer höheren Ordnung
verstehen, Menschen lernen, ihren eigenen Willen und ihr Gewissen und
somit das natürlich gegebene Gefühl der Empathie zu unterdrücken und
so fähig werden, gnadenlos die abscheulichsten Taten zu begehen. Die In-
310 7. Der biblische Jesus
So ist daher für die einen das Kreuz ein Zeichen der Schmach, für die
Christen aber ein Zeichen des Heils, ist doch aus theologischer Sicht Jesu
Lebenshingabe stellvertretende Sühne für die Sünden der Menschen und
damit eine Wegbereitung für ihre Erlösung. Doch die Sühnethese greift zu
kurz. Jesus Christus musste sterben, weil er eine Bedrohung für die herr-
schenden Mächte darstellte. Mit seiner unkonventionellen Auslegung über-
lieferter religiöser Gesetze und Bräuche unterhöhlte er die Autorität der
tradierten Religion und deren Vertreter während er durch seine Kritik am
Opferwesen an den Pfründen der führenden Schicht rüttelte.
Jesus stirbt und die Erde bebt, die Gräber öffnen sich, der Tempel
im Vorhang zerreißt und eine Finsternis legt sich über die Erde. So be-
schreibt es Matthäus. Es ist alles Symbolik. So hat es eine Sonnenfinsternis
nachweislich nicht gegeben. All diese Vorgänge sind plastische Umsetzung
christlich-symbolischer Bilder, die zeichenhaft über sich hinausweisen in
dem Sinne, dass sich Gott nun vom Tempel abgewendet und allen Men-
schen geöffnet hat.
Das jüdische Gesetz schrieb vor, dass ein am Pfahl Gehängter nicht
über Nacht am Holz bleiben darf, da er als verflucht galt (Dt 21,22f). So
tat der angesehene Ratsherr Josef von Arimathäa, was eigentlich die Pflicht
eines jeden frommen Juden war, nämlich dafür Sorge zu tragen, dass dieses
Gesetz eingehalten wird. Er ließ den Leichnam Jesu sogar in sein eigenes
Grab legen (Mt 27,60), als ob es sich bei ihm um ein verstorbenes Familien-
mitglied handelte. Erst jetzt trat er aus seinem Schatten heraus und erweist
sich als ein Jünger Jesu, vorher trug ihn wohl der Mut nicht.
Die Schilderungen über die Auferstehung fügen sich zu dem Eindruck
einer besonderen Präsenz Jesu, die nur im Paradoxen zu erfassen ist. Einer-
seits wird seine Leiblichkeit betont, andererseits durchdringt er Wände, er-
scheint und verschwindet er spontan. Gesehen wird er nur durch die Augen
des Glaubens, wie es insbesondere in der Emmaus-Erzählung deutlich wird.
Die anfängliche Blindheit der Jünger verhinderte es, ihn zu sehen. Wirklich
erkennen konnten sie ihn erst im Glauben. Es bedurfte seiner Schriftaus-
legung und bestimmter Zeichen bevor die Jünger ihre Zweifel überwin-
den konnten. Die Frauen werden als glaubensstärker geschildert. Gerade
auch in der Mythologie kommt dieser von der Liebe getragene Glaube der
Frauen an die Überwindung des Todes zum Ausdruck, so im Falle der ba-
bylonischen Ischtar, die in der Trauer um ihren geliebten Dumuzi ihm in
312 7. Der biblische Jesus
die Unterwelt folgt, ihn dort zu retten. So rettet auch die ägyptische Isis
ihren getöteten Gatten Osiris und ihre hartnäckige Liebe verhilft ihm zur
Wiederauferstehung. Der griechische Tragödiendichter Euripides schildert,
wie Alkestis in unverbrüchlicher Treue und Liebe sich bereit erklärt, im
Austausch für ihren Gatten in den Tod zu gehen.
Bevor Jesus nun ein letztes Mal Abschied von seinen Jüngern nimmt,
instruiert er sie noch einmal und verleiht ihnen Vollmacht, in seinem Namen
zu lehren und zu taufen. Diese Verse aber, die sich in Mk 16,9–20 finden,
sind ein späterer Nachtrag und dienten wohl der Abrundung des Buches.
In den ältesten Textzeugen fehlt dieser Abschnitt, der wahrscheinlich erst
im 2. Jahrhundert hinzugefügt worden ist. Matthäus stellt diesen Missions-
befehl noch ausführlicher heraus und ergänzt ihn mit dem Taufbefehl im
Namen von Vater, Sohn und Heiligen Geist. Es sind dies nicht die Worte
Jesu sondern sie reflektieren das Glaubensbild der sich formenden frühen
Kirche. Damals hatte bereits dogmatische Verhärtung eingesetzt. In dieser
Sicht führte das Heil einzig und allein über den von der Kirche als recht-
mäßig anerkannten Glauben. Wer davon abwich wurde mit Verdammung
belegt (Mk 16,16). So aber hatte Jesus nie gelehrt.
Der Missionsbefehl wurde laut Matthäus den Jüngern auf einem Berg
in Galiläa gegeben (Mt 28,16). Danach bricht die Erzählung ab. Von einer
Himmelfahrt keine Rede, wie übrigens auch bei Johannes nicht. Bei Mar-
kus, wohlgemerkt erst im Nachtrag, findet sich nur die lapidare Bemerkung,
dass Jesus nach seiner Rede mit den Jüngern in Jerusalem gen Himmel auf-
gehoben wurde (Mk 16,19). Matthäus aber hatte diese Rede nach Galiläa
verlegt, was allein schon beweist, dass sie reine Fiktion ist. Das Evangeli-
um nach Markus schloss ursprünglich mit der Beschreibung des Entsetzens,
welches die Frauen angesichts des leeren Grabes ergriffen hatte. Nur Lukas
hat das Himmelfahrtgeschehen weiter ausgeführt. Während sein Evangeli-
um den Eindruck vermittelt, es habe sich unmittelbar nach der Auferste-
hung abgespielt (Lk 24,36–53) vergingen laut Apostelgeschichte noch 40
Tage bis zur Himmelfahrt (Apg 1,3).
Zusammenfassend ist also zu sagen, dass erstens zwei der Evangelisten
die Himmelfahrt überhaupt nicht erwähnen und dass zweitens die Beschrei-
bungen der Evangelisten von Jesus letzten Tagen widersprüchlich sind. Das
lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass sich das Dogma von Jesu Himmel-
fahrt anscheinend erst sehr viel später gebildet hat. Das Dogma wurde wohl
7.6. Jesu letzte Worte und seine Passion 313
„Und Jesus ging fort mit seinen Jüngern in die Dörfer bei Caesarea Phil-
ippi. Und auf dem Wege fragte er seine Jünger und sprach zu ihnen: Wer
sagen die Leute, dass ich sei? Sie antworteten ihm: Einige sagen, du seist
Johannes der Täufer, einige sagen, du seist Elia, andere du seist einer der
Propheten. Und er fragte sie: Ihr aber, wer sagt ihr, dass ich sei? Da antwor-
tete Petrus und sprach zu ihm: Du bist der Christus! Und er gebot ihnen,
dass sie niemanden von ihm sagen sollten.“ (Mk 8, 27–30)
Es scheint, dass bereits zu Jesu Lebzeiten sich die Leute darüber un-
eins waren wer er denn nun wirklich war und dies trifft heutzutage mehr
denn je zu. Da wird Jesus als Charismatiker und Apokalyptiker, als So-
zialreformer und Revolutionär, als romantischer Träumer und Dichter, als
Philosoph und Lehrer, als Prophet und Wundertäter, als Arzt und Magier
verhandelt. Für viele Gläubige ist er der Messias und Sohn Gottes. Jeder,
der sich ihm zu nähern versucht hat, scheint ein anderes Bild von ihm ge-
wonnen zu haben. Für Karl Barth ist Jesus „das letzte und entscheidende
Wort Gottes“ während er für Paul Tillich der „symbolische Ausdruck eines
neuen Seins“ ist. Dietrich Bonhöffer war überzeugt, dass Jesus ein „Dasein
für andere“ repräsentiert. Jürgen Moltmann erkennt in Jesus den gekreuzig-
ten Gott als Ausdruck von Gottes Solidarisierung mit den Leidenden und
H.M. Kuitert versteht Jesus als eine „Metapher für die Treue Gottes“. An-
dere sehen in ihm einen „Mittler zwischen Gott und den Menschen“ bzw.
einen „Sachwalter Gottes und der Menschen“. L. Boff schließlich erblickt
in Jesus einen Befreier.
Aus den obigen Aussagen lässt sich unschwer erkennen, dass es zwei
grundsätzlich verschiedene Perspektiven auf Jesus gibt. Eine zielt auf den
historischen, die andere auf den Jesus des Glaubens. Wie hängen diese bei-
den Blickwinkel zusammen und was kann man über den historischen Jesus
wissen? Während noch bis ins 18. Jahrhundert hinein alles was in der Bi-
bel steht als gesicherte Erkenntnis galt, machte sich mit dem Einzug der
Aufklärung eine wachsende Skepsis breit. Beginnend mit Spinoza (1632–
316 8. Der historische Jesus
1677), über Lessing (1729–1781) und J.G. Herder (1744–1803) wurden vor
allem die Wundergeschichten als nicht-historische Vorgänge begriffen. Al-
bert Schweitzer (1875–1965) konstatierte schließlich als Ergebnis seiner
Jesu-Leben-Forschung sein ‚Irrewerden‘ am historischen Jesus und der Ex-
eget Käsemann (1906–1998) erklärte alle Bemühungen, das Leben des Je-
sus von Nazareth zu rekonstruieren, als gescheitert. Wenn dem so ist, was
hat dann der historische Jesus noch mit dem Jesus des Glaubens zu tun?
Sollten sich die theologischen Bemühungen wie Bultmann vorschlug, nur
noch auf den letzteren konzentrieren oder sollte unser Interesse hauptsäch-
lich dem Menschen von Fleisch und Blut gelten? Im ersteren Fall hätten
wir nach Meinung von Dupuis lediglich einen Mythos, im letzteren einen
leeren Jesus, dem die persönliche Identität fehlt. Die vorrangige Aufgabe
ist seiner Meinung nach, eine Brücke zwischen den beiden zu finden.
Nun wissen wir aber über den historischen Jesus herzlich wenig. Seine
Existenz und Hinrichtung wird zwar in außerbiblischen Quellen bezeugt,
so u.a. vom jüdischen Historiker Flavius Josephus (um 94 n. Chr.) als auch
von römischen Chronisten wie Tacitus und Sueton, aber das hilft uns auch
nicht viel weiter. Jesus hat wie auch Sokrates nichts Schriftliches hinter-
lassen. Nachricht über ihn haben wir von den Evangelisten, die ihn aber
selbst wohl nicht gekannt haben und über ihn erst Jahrzehnte nach seinem
Tod geschrieben hatten. Ihre Schriften, wie wir gesehen haben, enthalten
viel Widersprüchliches, Legenden und Reden, die Jesus so nie gehalten
hatte. Es sind dies Glaubenszeugnisse, die man nicht als historisch zuver-
lässige Berichte über Jesu Herkunft und Wirken gelten lassen kann. Allein
der Fakt, dass Lukas und Matthäus die Geburt Jesu zu ganz verschiedenen
Zeitpunkten festsetzen oder die gravierenden Differenzen in ihren Schilde-
rungen vom Ostergeschehen sollten uns Grund genug zum Zweifel geben.
Wie sehr die Evangelisten von subjektiven Gedankengut beeinflusst wor-
den waren, ersieht man auch daran, wie unterschiedlich ihr jeweiliges Bild
von Jesus ist. So betont Markus die verborgene Identität Jesu während Mat-
thäus in ihm eine Art zweiten Mose sieht, diesen aber weit überragend. Bei
Lukas steht der irdische Jesus mit seiner Parteinahme für die Schwachen
und Ausgegrenzten der Gesellschaft im Vordergrund. Johannes wiederum
präsentiert uns den vom Himmel herabgestiegenen Sohn Gottes.
Aufgrund der dürftigen Quellenlage liest sich auch eine Biographie Je-
su als enttäuschend knapp. Geboren wurde er wohl zwischen 6–4 v. Chr.
8. Der historische Jesus 317
in Nazareth als Sohn eines Zimmermanns namens Josef und einer Mutter
namens Maria. Er hatte mehrere Brüder und Schwestern (Mk 6,3) und ei-
ner von ihnen, Jakobus, wurde nach Jesu Tod Leiter der ersten christlichen
Gemeinde in Jerusalem. Jesus schloss sich Johannes dem Täufer an und
wurde von diesem auch getauft. Sein öffentliches Wirken begann er etwa
28/29 n. Chr., zumeist in der Umgebung des See Genezareth, und er hielt
sich oft an seinem Wohnort in Kapernaum auf. Wahrscheinlich wurde er im
April des Jahres 30 n. Chr. gekreuzigt, entweder am Tag vor dem Passafest
(Johannes) oder, weniger wahrscheinlich, am Passafest (die Synoptiker).
Darüber hinaus lassen sich aus den Evangelien noch gewisse Indizien
gewinnen. Viele Ausleger vermuten, dass die Hinweise in der Schrift auf
eine unerwartete Schwangerschaft Marias und die damit verbundene mög-
liche Schande (Mt 1,18f) auf Gerüchte, dass Jesus ein illegitimes Kind war,
hindeuten. Immer wieder lassen die Evangelisten auch die Leute ihr Er-
staunen über Jesu Gelehrsamkeit ausdrücken (z.B. Lk 4,22; Joh 7,15). In
der Tat stellt sich die Frage, woher Jesus dieses Schriftverständnis hatte,
setzte es doch Kenntnisse in Hebräisch und der rabbinischen Dialektik vor-
aus, die er so sicherlich nicht in der Schule oder der Familie hat erwerben
können. Johannes lässt Jesus bedeutungsvoll antworten, dass er diese Lehre
von Gott hatte (Joh 7,16), eine Antwort, die mehr über Johannes als über
Jesus aussagt. Realistischer erscheint die Vermutung, dass Jesus eine Aus-
bildung zum Schriftgelehrten gehabt hat. Diese Vermutung erschließt sich
aus einer Reihe von Bibelstellen. So soll der zwölfjährige Jesus im Tem-
pel Gespräche mit Lehrern geführt haben (Lk 2,41ff). Markiert diese Text-
stelle vielleicht in Wirklichkeit den Beginn seiner Lehrzeit in Jerusalem?
Sodann hielt er eine Antrittspredigt in seiner Heimatsynagoge zu Nazareth.
Es heißt, ihm wurde „das Buch des Propheten Jesaja gereicht“ (Lk 4,17).
War dies der Tag seiner Einführung als Schriftgelehrter? Er kleidete sich
auch wie ein Schriftgelehrter. Das lässt sich aus Lk 8,44 entnehmen: Die
blutflüssige Frau „berührte den Saum seines Gewandes“. Der Saum aber
sind die Quasten oder Troddeln am Umhang eines Schriftgelehrten. In der
Kreuzigungsszene wird berichtet, dass die Soldaten um Jesu Gewand los-
ten (Joh 19,24). Es muss sich um ein kostbares Kleidungsstück gehandelt
haben; denn sie wollten es nicht zerteilen. Auch war es ungenäht, in ei-
nem Stück gewebt so wie es ein priesterliches Gewand war. Jesus war nicht
jemand, der sich mit fremdem Federn geschmückt hätte. Zudem wurde er
318 8. Der historische Jesus
immer wieder als Rabbi, Meister oder Lehrer angeredet (z.B. Joh 1,38.49;
3,2; 4,31; Lk 10,25; Mk 10,17). Hätte man so zu ihm gesprochen, wenn
Jesus nur ein einfacher Zimmermann gewesen war?
Ein bedeutsames Schlaglicht auf Jesu Verhältnis zu seiner Familie wer-
fen zwei Passagen im dritten Kapitel des Markus. Da kann man lesen, dass
seine eigene Familie ihn für verrückt hielt und dass seine Mutter und Brü-
der ihn zu sich nach Hause zurückholen wollten, wohl um die Kontrolle
über ihn zurückzugewinnen. Da Josef nicht mehr erwähnt wird, sollte man
annehmen, dass er inzwischen verstorben war. Was aber hatte zu diesem
Bruch in der Familie geführt und wann geschah er? War es eher ein Prozess
schleichender Entfremdung gewesen oder hatte ein grundsätzlicher Streit
die Familie auseinandergerissen? Hatte Jesus aufgrund solch schwerer Que-
relen die Familie verlassen um dann ein unstetes Wanderleben zu führen
oder war es gerade dies Wanderleben sowie Form und Inhalt seiner Verkün-
digung, die ihn und seine Familie entzweite? Mit Sicherheit lässt sich diese
Frage nicht entscheiden. Der Verlauf des Gesprächs, das Jesus und seine
Mutter während der Hochzeit zu Kana gehalten haben soll, spricht eher für
zunehmende Spannungen. Hier brüskiert Jesus seine Mutter in einer regel-
recht groben und verletzenden Tonweise, doch immerhin, man bleibt noch
zusammen.
Der wohl entscheidende Abschnitt in Jesu Leben beginnt, als er auf
Johannes den Täufer trifft und er sich ihm zunächst als seinen Jünger an-
schließt. Johannes der Täufer war im ganzen Lande bekannt und deshalb
zog es wahrscheinlich auch Jesus zu ihm. Für Johannes war die Welt an
einem Scheidepunkt gelangt, das Ende und damit das drohende göttliche
Gericht stand bevor. Jetzt war die letzte Möglichkeit für den Einzelnen,
Gottes Strafe zu entgehen, indem man sich einer radikalen inneren Umkehr
unterzog. Johannes rigorose Ethik der Gerechtigkeit, die von den Menschen
zum Beweis der Wahrhaftigkeit ihres Wandels Rechtschaffenheit in Form
von guten Taten einforderte, sein rigoroser Ernst und seine fanatische Un-
bedingtheit in der Forderung nach Buße mussten einen tiefen Eindruck auf
Jesus gemacht haben. Die Evangelisten wollen uns glauben lassen, dass
sich Jesus geradezu zufällig auf seiner Wanderung, als ob es gerade mal ein
Stopover gewesen wäre, bei Johannes einfand. So wird es kaum gewesen
sein. Reinigungsriten – und die Taufe des Johannes war ja eine Reinigung
von den Sünden – geht für gewöhnlich eine längere Unterweisungsphase
8. Der historische Jesus 319
voraus. Es wäre ja eine billige Form der Vergebung, wenn sie sozusagen im
Vorübergehen gewährt wird. Das bedeutet aber, dass Jesus für eine längere
Zeit den Weisungen und der Lehre seines ‚Meisters‘ gelauscht haben muss
bevor er dann als ‚Siegel‘ seiner Umkehr von ihm getauft wurde. Diese
Version dürfte den Evangelisten wohl eher peinlich gewesen sein. Bedurfte
auch der Sohn Gottes einer inneren Wandlung? War er vielleicht gar nicht
sündlos gewesen? Da fiel ihnen zur Erklärung gerade mal ein blutleerer
Satz wie „Lass es jetzt geschehen . . . (um) alle Gerechtigkeit zu erfüllen“
(Mt 3,15) ein. Wie großmütig das klingt! Markus und Lukas überspringen
jeglichen Kommentar und lassen – nur gesehen von Jesus -eine Taube her-
abschweben und eine himmlische Stimme erklingen. Bei Johannes hatte
der Täufer die Taube sogar selbst erblickt.
Jesus wird sich schon bald nach der Taufe von Johannes getrennt haben.
Gut vorstellbar, dass sich im Laufe der Zeit Reibungen zwischen den bei-
den entwickelt hatten, vielleicht weil Jesus mehr und mehr von Johannes
drastischer Gerichtsbotschaft abrückte und seine eigenen Überzeugungen
entwarf, die einen gütigen Gott der Liebe und Barmherzigkeit betonten.
Dass die Konflikte zwischen den beiden anscheinend auch noch nach ih-
rer Trennung anhielten, ist aus Joh 3,22–26 ersichtlich, auch wenn dort nur
von einer Art Konkurrenzdenken der beiden Parteien die Rede ist. Jeden-
falls geht Jesus jetzt seinen eigenen Weg, wenn ihn auch die Umstände
der Trennung noch eine längere Zeit belastet haben dürften. Er sieht sich
ja geradezu genötigt, sich zu rechtfertigen, als Johannes ihm eine Botschaft
schicken lässt, doch seine Identität zu klären (Mt, 11,2–6). Hatte Jesus viel-
leicht die Schmerzen der Trennung immer noch nicht überwunden?
Dies sind also die wenigen Eckpunkte, die sich aus den Evangelien
destillieren lassen und gewisse Anhaltspunkte geben, aus denen sich ein
Gerüst für einen möglichen Lebenslauf Jesu konstruieren lässt. Bevor wir
aber das tun, soll noch versucht werden, sich eine ungefähre Vorstellung
von Jesu Wirken und seiner Botschaft zu machen und dann folgend, die
ihm verliehenen Hoheitstitel einer Klärung unterzogen werden. Ganz zum
Schluss soll noch ein Kontrast zwischen den beiden wohl einflussreichsten
Weisheitslehrern des Abendlandes, Jesus und Sokrates, gezeichnet werden,
um so zu einem abgerundeten Bild zu gelangen.
320 8. Der historische Jesus
Wenn sich auch die praktizierte Lebensform des Jesus nicht ganz in die
des Elia einordnen lässt, so tun sich bei näherem Hinsehen doch weitere
Parallelen zwischen den beiden auf. Anfang und Ende ihrer Existenz auf
Erden werden ähnlich beschrieben. Beide wurden zum Schluss gen Him-
mel aufgehoben und beiden wurde eine Geburtslegende angedichtet. So
schreibt Bernhard Lang (Jesus der Hund), dass bereits vor der Geburt des
Elia sein Vater eine Vision von Engeln hatte, die den Säugling in Feuerflam-
men einwickelten. Der erschrockene Vater teilte Priestern in Jerusalem sei-
nen Traum mit und erhielt von ihnen den folgenden Orakelspruch: „Fürchte
dich nicht, denn seine Wirkung wird Licht sein und sein Wort Urteil und Is-
rael wird er richten“. Elias Fellmantel soll magische Kraft besessen haben
(2 Kön 2,14). Jesu Gewand vermochte nur durch Berührung eine blutflüs-
sige Frau zu heilen (Mk 5,30–34). So wie Elia 40 Tage und Nächte in der
Wüste verbrachte und dort von Engeln versorgt wurde (1 Kön 19,5–8), so
ähnlich erlebte auch Jesus die Zeit seiner Versuchung (Mt 4,1f.11). Da stellt
sich natürlich die Frage, inwiefern sich in ihrer Schilderung von Jesu Le-
ben die Evangelisten von den Legenden der Volksfrömmigkeit haben leiten
lassen.
Die von Jesus propagierte Existenz von Sorglosigkeit und Bedürfnis-
losigkeit erinnert auch stark an das Armutsideal der griechisch-kynischen
Wanderphilosophen. Es ist nicht auszuschließen, dass Jesus vormals als rei-
sender Handwerker in der hellenistisch geprägten Stadt Sepphoris, die na-
he Nazareth lag, mit Vertretern des Kynismus zusammengetroffen und von
deren Lebensweise und Philosophie beeindruckt gewesen war. Im östlich
des Jordan gelegenen Gadara, wo die Bibel über eine Dämonenaustreibung
Jesu berichtet, wird sogar die einstige Existenz einer kynischen Philoso-
phenschule vermutet.
Jedenfalls sind die Ähnlichkeiten zwischen Kynismus und Jesu Exis-
tenz und Botschaft frappierend. So wie auch Jesus auf Gottes väterlicher
Fürsorge vertraute, so klingt es auch bei dem Kyniker Dion von Prusa (40–
112 n. Chr.): „Sieh doch, wie viel sorgloser als die Menschen die Tiere und
Vögel hier leben, wie viel glücklicher“. Die kynischen Wanderphilosophen
lebten ganz nach dem Motto des Rabbiner Hillel (1 Jh. v. Chr.): „Ausdau-
er, Armut, niedere Arbeit, sittliche Anstrengung und völlige Sorglosigkeit“.
Ausgerüstet mit Bettelsack, Wanderstab und Sandalen und bekleidet mit ei-
nem zerschlissenen Philosophenmantel verbreiteten sie wandernd ihre Bot-
322 8. Der historische Jesus
schaft. Der Kyniker Krates von Theben (365–285 v. Chr.), ein als liebens-
würdig beschriebener Mensch, verkaufte all sein Hab und Gut und verteilte
den Erlös, um dem kynischen Armutsideal gerecht zu werden. Der echte
Kyniker blieb ehelos und entsagte jeder Familienbindung wie auch Dioge-
nes von Sinope (etwa 400–323 v. Chr.),der am hellichten Tage nach dem
wahren Menschen suchte und der gesagt haben soll: „Den guten Menschen
soll man mehr lieben als den Blutsverwandten“. Jesus sagte: „Wer Gottes
Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“
(Mk 3,35). Der Kyniker war überzeugt: Ein guter Mensch wird man durch
Umkehr und Änderung des Lebens. Ähnlich hatte es auch Jesus gesehen.
Auch sprach Jesus: „Ringt darum, dass ihr durch die enge Pforte hineingeht
(um selig zu werden)“ (Lk 13,23f). Antisthenes (445–365 v. Chr.) lehrte,
dass „wer wirklich Kyniker werden will, hat den kurzen, steilen Weg zu
lösen“, der beschwerlich ist und Verzicht einfordert. Epiktet (etwa 50–138
n. Chr.) sagte: „Entweder arbeitest du für deine Seele oder für die äußeren
Dinge“ und Jesus drückte sich ähnlich aus: „Ihr könnt nicht Gott dienen
und dem Mammon“ (Lk 16,13).
Jesus wie auch die Kyniker hatten eine eher frauenfreundliche Einstel-
lung. So sagte Krates einmal: „Frauen sind von Natur aus nicht schlechter
als Männer“. Jesus verkehrte mit Frauen auf Augenhöhe. Die Schrift be-
richtet von seinen Begegnungen mit Frauen, u.a. der Sünderin, der syro-
phönizischen und samaritischen Frau und Maria und Marta aus dem Hause
des Lazarus. Durch seine liebevolle Hinwendung gab er den Frauen das
Gefühl der Selbstachtung zurück und verschaffte ihnen damit gesellschaft-
liche Aufwertung. Kein Wunder, dass ihn eine größere Schar von Jüngerin-
nen unterstützte und verehrte. Wesentlich unterschied sich Jesus hingegen
von den Kynikern durch seinen starken Glauben an Gott während jene in
der Regel der Religion eher skeptisch gegenüberstanden wenn auch jemand
wie Epiktet sogar glaubte, von Vater Zeus berufen zu sein. Die Kyniker
strebten danach, des Menschen kranke Seele zu Moral und Sittlichkeit zu
erziehen, Jesus sah sein Wirken zum Guten hin im Dienste der Aufrichtung
des Gottesreiches. Er verband den Anbruch der Heilszeit mit seiner Ver-
kündigung der frohen Botschaft vom Reich Gottes und seinem heilvollen
Wirken. Während sich der Kyniker eher als Ratgeber und unparteiischer
Richter verstand, identifizierte sich Jesus in weitaus größerem Maße mit
den Ausgestoßenen, Verlorenen und Ausgebeuteten der Gesellschaft. Ihn
8. Der historische Jesus 323
jammerte das Elend der Menschen (Mk 1,41; Mt 9,36). Er kannte keine
Berührungsängste im Umgang mit den Kranken und ließ sich nicht durch
Kritik davon abhalten, sogar das Mahl mit verachteten Außenseitern zu tei-
len (Lk 19,1–10).
Die Einzigartigkeit Jesu liegt darin, dass er seine Heilungen und sein
Wunderwirken mit dem Kommen des Reiches Gottes verknüpfte und die-
sem Wirken somit – theologisch gesprochen – endzeitliche Bedeutung zu-
kommen ließ. In dem was er tat, so war er überzeugt, lag bereits der Ab-
glanz des kommenden Gottesreiches. Es lassen sich viele Beispiele von
Wundertätern und Heilern in der Antike anführen. So soll sich ein gewis-
ser Hanina ben Dosa (geb 20 v. Chr. nicht weit von Nazareth) einen Ruf
als Regenmacher gemacht haben. Nicht nur dass er Kranke heilte, auch ein
Speisewunder ist von ihm überliefert. Angeblich, in der Gegenwart einer
Nachbarin, fand sich im Ofen der armen Frau des Hanina unerklärlicher-
weise plötzlich eine Menge Brot. Man sagte auch von Hanina, dass er in
der Gegenwart von Dämonen eine Vision hatte, in der ihn eine himmlische
Stimme als Sohn Gottes verkündete. Und der Historiker Flavius Josephus
war, wie er schreibt, Augenzeuge einer Dämonenaustreibung durch den jü-
dischen Heiler namens Eleazar gewesen. .
Auch Jesus wird ja eine Reihe von Wundern nachgesagt. Vorbilder da-
für gab es genug, außerbiblische als auch die durch die Schrift bezeug-
ten Beispiele des Elia und des Elisa. Legenden aus der jüdischen Volks-
frömmigkeit und Überlieferungen aus der hellenistischen Tradition wie das
Weinwunder des Dionysos dürften darüber hinaus reichlich an Material ge-
boten haben, um auch Jesus mit dem Image eines Wunderwirkers und Hei-
lers etikettieren zu können. Eine andere Theorie, wie Wundergeschichten
auch entstehen könnten, findet sich bei A.N. Wilson (Jesus), der sich wie-
derum auf einen Morton Smith beruft. Es handelt sich dabei um die Erwe-
ckung des Lazarus, eine Erzählung, die sich nur bei Johannes findet, ob-
wohl es doch als Jesus größtes Wunder gilt. Lukas erzählt lediglich in einer
Parabel vom armen Lazarus, der am Tisch eines Reichen dahinvegetierte.
Die Theorie des M. Smith beruht zum einen auf seiner Interpretation des
sog. geheimen Markus-Evangeliums und zum anderen auf den Eindruck,
den Jesus als Exorzist gemacht haben muss. Er stuft somit Jesus als einen
Magier in der Tradition der Schamanen ein, der eine bizarre Form von Mys-
terienkult betrieben haben soll, in der die Taufe mit dem heiligen Geist die
324 8. Der historische Jesus
entscheidende Rolle spielte (Mk 1,8). In diesem Kult trug der Katechu-
mene Grabkleider und unterzog sich einer Zeremonie, die in einer Höhle
stattfand, um den symbolischen Tod zu markieren. Die Geisttaufe und der
Austritt aus der Höhle markierten dann den Eingang in ein neues Leben.
Ein Nachhall dieses Rituals, glaubt Smith, finde sich in den Erwähnungen
von einem jungen Mann in Leinen- bzw. Grabtüchern, einmal während der
Verhaftung Jesu und das andere Mal im Grab Jesu selbst. Man mag diese
Theorie abstrus finden, doch würde sie durchaus in den Rahmen antiker
Vorstellungen und dem zu der Zeit grassierenden Aberglauben passen.
Es wäre aber verfehlt, die Berichte über Jesus heilendes Wirken ledig-
lich als eine Form des Aberglaubens abtun zu wollen. Ist es so abwegig zu
vermuten, dass eine psychosomatische Erkrankung durch vertrauensbilden-
de Maßnahmen einer charismatischen Persönlichkeit geheilt werden kann?
Vielleicht fühlte sich Maria von Magdala durch die Weise, in der Jesus sich
ihr zuwandte, verstanden und so aufgerichtet, dass es ihren Zustand innerer
Zerrissenheit zu lösen half. Durch das Handauflegen oder dem Bestreichen
mit Speichel, wie es Jesus auch praktizierte, dürfte sich der Kranke ange-
nommen und irgendwie geborgen gefühlt haben, was ihn aus Mutlosigkeit
und Selbstzweifel herausgeholfen hat. Immer wieder weist die Schrift dar-
auf hin, dass es der Glaube war, der die entscheidende Wende zum Bes-
seren ermöglicht hatte. So mag der Blinde von Betsaida an sozialer Angst
gelitten und sich von anderen unterdrückt gefühlt haben. Jesu einfache Ges-
ten wie das Speichel auftragen verhalfen ihm, seine Kompetenz zu einem
selbstständig geführten Leben zurückzugewinnen. Der Gelähmte von Ka-
pernaum war vielleicht in persönlicher Schuld verstrickt gewesen, die seine
innere Motorik blockierte. Jesus löste seine inneren Konflikte, indem er ihm
Vergebung zusprach und damit Mut zu einem neuen Anfang gab.
Jesus war nicht wie einer der vielen anderen Heiler, die das Land durch-
wanderten und die naive Gläubigkeit der Menschen zu ihrem persönlichem
Vorteil ausnutzten. Wenn er überhaupt etwas von ihnen erwartete, dann,
dass durch ihn der Menschen Glauben an einen gütigen Gott gestärkt wer-
de und damit das kommende Gottesreich ein kleines Stück mehr Wirklich-
keit werden würde. Jesus hatte ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein und
war zutiefst überzeugt von seiner Botschaft an die Menschen. Da gibt es
gewiss Überschneidungen mit den klassischen Propheten, die sowohl Heil
als auch Unheil weissagten. Jesaja prophezeite einen Eingriff Jahwes, der
8. Der historische Jesus 325
würden Aufnahme finden, die den Willen des Vaters tun (Mt 18,21). Jesus
aber war derjenige, der den Willen des Vaters kannte und ihn in seinem Tun
verkörperte.
Jesu Verkündigung, seine Lehre und seine Heilungen, all das war die-
sem Ziel untergeordnet, nämlich das Wachsen der Gottesherrschaft zu för-
dern. So war er auch ein begnadeter Lehrer gewesen, jemand, der durch sei-
ne persönliche Ausstrahlung und die Kraft seiner Rede Menschen überzeu-
gen konnte; „denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftge-
lehrten“ (Mt, 7,29). Die Bergpredigt gibt ein anschauliches Bild von Jesus,
wie er im Kreis seiner Jünger sitzend, seine Botschaft verbreitete und wie
seine Anhänger, an seinen Lippen hängend und jedes Wort aufsaugend, von
ihm angerührt worden sein mussten. Er sprach vorwiegend in Gleichnissen,
von denen viele wohl älteren Ursprungs waren, deren Inhalt er aber frei va-
riierte und der jeweiligen Situation anpasste. Zuweilen tendierte seine Rede
zu grotesker Parodie wie mit der Allegorie vom Kamel und dem Nadelöhr
(Mk 10,25). Dann wieder klingt es fast elegisch-poetisch so wie in seiner
Erzählung von den Vögeln und den Lilien. Wie ein Dichter vermochte er
die Imagination seiner Hörer stimulieren. Was und wie er es erzählte klang
lebendig, war situationsbezogen, den Erwartungen und dem Wissenshori-
zont der Hörer angepasst, unterhaltsam und doch fundiert, so dass es die
Leute in ihren täglichen Sorgen, Nöten und Ängsten und ihrer Sehnsucht
nach Lebenssinn ansprach. Er vermochte tiefgründiges Denken in einfache
Worte zu kleiden. Sein Stil war knapp und markant, faszinierend mit einem
Touch von Ironie. Wenn überhaupt, dann vermitteln gerade diese Gleichnis-
se den Eindruck von Authentizität und geben etwas Einblick in das Wesen
Jesu.
Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft und seine Ethik sind aufein-
ander bezogen und die Liebe ist ihr Kern. Im Prinzip ist sie bereits in der
Goldenen Regel zusammengefasst: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst“ (Lev 19,18). Sie ist universal und ist, ob unabhängig voneinan-
der oder nicht, in vielen Kulturen ersonnen worden. Gautama Buddha als
auch Konfuzius kannte sie wie auch der Grieche Pittakos (651–570 v. Chr.),
der sie wie folgend formuliert hatte: „Worüber du beim Nächsten unwillig
bist, das tue selbst nicht“. Aber auch hier hatte Jesus seine eigenen Akzente
gesetzt. So hatte er das Gebot der Nächstenliebe durch das der Feindesliebe
erweitert. Damit aber gewann das Liebesgebot das Potential, alle Schranken
328 8. Der historische Jesus
nicht vergeben. Heutzutage werden die meisten wohl die Vorstellung einer
Hölle als unerträglich empfinden, aber es ginge doch wohl zu weit, jeman-
den, der daran glaubt, gleich als lieblos verurteilen zu wollen. Ein solcher
wird wohl so einen Begriff eher gedankenlos benutzen ohne dass er/sie des-
sen Tragweite überhaupt in ihrer Tiefe erfasst hat. Es wäre ja geradezu ab-
surd, Jesus, der die Liebe predigte und praktizierte, auch noch der Lieblo-
sigkeit zu bezichtigen, wenn einerseits nicht klar ist, ob er den Begriff der
Hölle nicht selbst eher symbolisch als einen Zustand der Entfremdung von
Gott verstand und andererseits es umstritten bleibt, in wiefern Jesu Worte
in diesem Kontext authentisch sind. Hinzu kommt noch, dass Jesus in einer
ganz anderen Gedankenwelt existierte und von ihr beeinflusst war.
Wenn man also nur tief genug bohrt, dann findet sich überall ein
Wurm. Aber machen gewisse Einschränkungen Jesus in unserer Sicht nicht
menschlicher? Sind gewisse Schwächen vielleicht nur die eine Seite der
Medaille aber sie werden überstrahlt von dem Anspruch Jesu, den Men-
schen mit sich selber zu versöhnen, ihm die Freiheit von inneren und äu-
ßeren Zwängen zurückzugeben, persönliches Glück in Gemeinschaft mit
anderen und im Glauben an einen liebenden Gott zu finden. In seinem Wir-
ken sprach Jesus die Menschen in ihrer Ganzheit an, wollte ihnen, getragen
von dem Prinzip der Liebe, in ihrer Not und Orientierungslosigkeit neue
Hoffnung geben. Güte und Barmherzigkeit sprechen aus diesen Zeilen:
„Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch
erquicken.
Nehmt auf euch mein Joch; denn ich bin sanftmütig und von Herzen
demütig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.
Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht“ (Mt 11,28–30).
Kapitel 9:
Der Jesus des Glaubens
großer Zerstörung den Erdkreis heimsuchen (Jes 13). Der Friede wird al-
so durch Krieg erkauft. Dann wird Jahwe unter ihnen wohnen und sein
Knecht David wird für ewige Gerechtigkeit sorgen (Hes. 37,24–28). Unter
dem Einfluss dieser und anderer prophetischen Weissagungen entwickelte
sich die Vorstellung vom Messias als eines irdischen Königs aus dem Hause
David, der eines Tages die Fremdherrschaft überwerfen würde. Erst dann
könne Frieden herrschen, aber an den Händen des Friedenbringers würde
Blut kleben.
Jesus aber verabscheute Gewalt und der Griff nach der Macht war für
ihn eine satanische Versuchung (Mt 4,8–11). Den Gedanken eines politisch-
messianischen Königtums verwarf er somit. Plausibel erscheint es, dass er
mit zunehmender Bedrohung die Visionen des Jesaja (Kap. 53) vom lei-
denden Gottesknecht mit der des Daniel vom auf den Wolken kommen-
den Menschensohn kombiniert und auf sich bezogen hat. Dass er einen im-
pliziten Messiasanspruch geltend gemacht hat, geht aus seinem triumpha-
len Einzug in Jerusalem und der Tempelreinigung hervor. Tragischerweise
wurde er von seinen eigenen Anhängern missverstanden, die aus ihm einen
politischen Führer, einen König nach der Art David machen wollten. Jesus
aber kam als Friedensfürst und endete als politischer Aufrührer, der in der
Perspektive der Römer es sich angemaßt hatte, König der Juden zu sein. Er
wurde das Opfer einer Kollaboration zwischen den Spitzen der jüdischen
Priesterschaft und dem von Pilatus repräsentierten römischen Staat.
Im Gedächtnis der nachösterlichen Gemeinde schritt die Identifizierung
Jesu mit dem Christus voran. Nun machte Jesu Tod Sinn, nämlich, dass
er wie der mythische Osiris aus Ägypten oder der kanaanitische Adonis
erst durch den Tod schreiten musste, um dann als Himmelskönig wieder
aufzuerstehen (Lk 24,26). Im Fortgang der Dogma-Entwicklung entfernte
sich der christliche Glaube zunehmend von der Lebenswelt Jesu. Schon für
Paulus war der irdische Jesus irrelevant. Er interessierte sich nur noch für
den göttlichen Jesus, der sich seiner göttlichen Gestalt entäußert hatte, um
im Gehorsam den Weg bis zum Kreuz zu gehen, auf dass er von Gott erhöht
werde zum Herrscher über Himmel und Erde (Phil 2,6–11).
Unmittelbar nach seinem Tode jedoch schienen seine Jünger Jesus noch
für eine Art irdischer Messias gehalten zu haben; denn sie fragten den Auf-
erstandenen: „Herr, wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich für
Israel“ (Apg 1,6) und auch die Emmasjünger hatten sich von Jesus die Be-
334 9. Der Jesus des Glaubens
freiung Israels erhofft (Lk 24,21) wie es traditionell den Vorstellungen vom
Messias entsprach. Der Begriff eines göttlichen Himmelswesens war dem
jüdischen Denken eher fremd. Wie hätte Jakobus, der spätere Leiter der
christlichen Urgemeinde in Jerusalem, es wohl aufgenommen, wenn sein
eigener Bruder zum Sohn Gottes erklärt worden wäre? Sicherlich, auch
Elia war in den Himmel aufgestiegen, aber keiner war je auf die Idee ge-
kommen, ihn zu einer Art Nebengott zu deklarieren und auch David dachte
man sich zwar in einer besonderen Beziehung zu Gott, aber er war doch
gestorben und im Grab verblieben. Keiner hatte je die Verheißung Gottes
an David „Ich will sein Vater sein, und er soll mein Sohn sein“ (2 Sam 7,14)
für wörtlich genommen. Sogar das Verhältnis Jahwe zu seinem Volk Israel
wurde von den Propheten ja gelegentlich symbolisch analog wie das eines
Vaters zu seinem Sohne gesehen (Jer 31,9; Hos 11,1), doch einen Menschen
für den einzigartigen Sohn Gottes, ihm im Wesen gleich, zu halten, das war
eine unerhört provokante Idee für das Judentum.
Doch die Weichen für ein anderes Denken waren bereits vom Propheten
Daniel mit seiner Konzeption des überirdischen Menschensohnes gestellt
worden, der, mit göttlicher Kraft ausgestattet, die irdischen Mächte über-
werfen und Israel befreien würde. Von daher war es nur ein relativ kleiner
Schritt, diesen Menschensohn über die Davidsohnschaft mit dem Gedanken
des Messias als auch dem des Gottessohnes zu verknüpfen. So finden sich
diese Fortschritte im Denken bereits in den Evangelien, die ja Jahrzehnte
nach Jesu Tod geschrieben worden waren. Die Ahnentafel Josephs soll Je-
sus als einen Nachfahre David ausweisen, obgleich ihn doch eigentlich der
Heilige Geist gezeugt hat und er somit logischerweise keinen irdischen Va-
ter hat. In der Rede des Engels, der Maria die Geburt Jesu ankündigte, wird
Jesus bereits Sohn des Höchsten genannt, dem der „Thron seines Vaters Da-
vid“ gegeben wird (Lk 1,32), mit anderen Worten, Jesus ist nun gleichzeitig
Davidsohn und Gottessohn. Dies war nun auch schon dem Bettler bekannt
gewesen, der sich hilfesuchend an Jesus wandte: „Jesus, du Sohn David, er-
barme dich meiner!“ (Lk 18,38). Da durften die Jünger noch eins zulegen,
die Jesus, nachdem der die Winde gestillt hatte, anbeteten: „Du bist wahr-
haftig Gottes Sohn!“ (Mt 14,33). Hinfort würde der Sohn Davids/Gottes
sein Reich auch nicht mehr mit kriegerischen Mitteln errichten wollen, son-
dern dem Gottesreich als Friedensfürst zuarbeiten. Das Wirken Jesu stand
ganz im Zeichen der Versöhnung, der Liebe und der Barmherzigkeit.
9. Der Jesus des Glaubens 335
Die weitere Ausarbeitung der Idee des Gottessohnes wird wohl in Krei-
sen hellenistischer Christen vorangetrieben worden sein. Ob Jesus selbst
sich je mit dem Gottessohn identifiziert hatte, ist höchst zweifelhaft. Mit
Gott wollte er sich nicht vergleichen; denn „niemand ist gut als Gott allein“
(Mk 10,18). In seiner Rede über die Endzeit spricht er zwar von sich als
den Sohn, aber gesteht selber irdische Begrenztheit zu, bleibt ihm doch das
Wissen über das Ende der Welt verschlossen (Mk 13,32). Allerdings soll
Jesus wiederum gesagt haben: „Niemand kennt den Sohn als nur der Vater;
und niemand kennt den Vater als der Sohn“ (Mt 11,27). In diesem Satz wird
Jesus also als eins mit Gott gesehen, dann sollte er aber doch gewusst ha-
ben was sein Vater weiß. Erklärlich ist dieser Widerspruch nur, wenn man
ihn als spätere Einfügung durch den Evangelisten annimmt. Was als relativ
gesichert gelten kann, ist, dass Jesus sich selbst in einer engen Beziehung
zu Gott sah. Seine Anrede ‚Abba‘ (z.B. Mk 14,36), vergleichbar mit dem
deutschen ‚Papa‘, spricht für sein Gefühl einer tief empfundenen Vertrau-
lichkeit.
Allerdings, die Idee eines präexistenten Logos, des eines göttlichen
Himmelwesens, das dürfte ihm fremd gewesen sein. Dieser Begriff ent-
stammt dem hellenistischen Kulturbereich wie wohl auch der von der Jung-
fraugeburt, der an die Zeugung von Göttersöhnen erinnert. Letzterer Begriff
beruht zudem auf einer falschen Übersetzung von Jesaja 7,14 aus dem he-
bräischen ‚junge Frau‘ zu ‚Jungfrau‘. Im griechischen Mythos gibt es in
Aklepios, dem göttlichen Heiler und Helfer, eine Jesus ähnliche Gestalt,
was schon mit den Geburtslegenden beginnt. So wird der neugeborene As-
klepios, gezeugt von dem Gott Apollon mit einer irdischen Mutter, von
einem Hirten aufgesucht und eine Himmelsstimme verkündigt, dass dieses
Kind zum Retter der Menschheit erwählt worden ist und sie von Krankheit
und Tod erlösen wird. Wie auch Jesus so stirbt Asklepios für seine Sache
und wird nun als Gott vom Himmel aufgenommen. Der Pharao wurde im
altägyptischen Mythos als Sohn des Sonnengottes Amun-Re gesehen. Seine
Erwählung als Gottessohn wird durch den Götterboten Thot (vergleichbar
mit dem Erzengel Gabriel) der Mutter angekündigt und ihr die Botschaft
gegeben, dass dieser von Amun-Re gezeugte Sohn ein Wahrer der Gerech-
tigkeit und des Friedens sein wird. Nach seinem Tode steigt der göttliche
Pharao zum Himmel auf, um dort an der rechten Seite des Gottes Platz zu
nehmen.
336 9. Der Jesus des Glaubens
Wann wurde Jesus zum Sohn Gottes? Lukas und Matthäus setzten den
Zeitpunkt mit der Zeugung durch den Heiligen Geist fest. Nach Markus,
der nichts von einer göttlichen Zeugung weiß, markiert wohl der Moment
wo sich der Geist Gottes in Gestalt einer Taube auf Jesus herabsenkt, be-
gleitet von der Himmelsstimme „Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich
Wohlgefallen“ (Mk 1,11), als den Augenblick der Erwählung Jesu als Sohn
Gottes. Paulus hingegen schreibt: Jesus ist eingesetzt „als Sohn Gottes in
Kraft durch die Auferstehung von den Toten“ (Röm 1,4). Gemäß dieser
Sicht ist der Beginn von Jesu Gottessohnschaft also mit seiner Auferste-
hung gleichgesetzt. Daraus dürfte zu schließen sein, dass die christliche
Gemeinde erst nach Jesu Tode begonnen hatte, sich den Auferstandenen
als Sohn Gottes zu denken. Demzufolge dürften alle oder die meisten Hin-
weise auf die Gottessohnschaft Jesu in den Evangelien, wie zum Beispiel
der Ausruf des römischen Hauptmannes, dieser sei wahrlich Gottes Sohn
gewesen (Mk 15,39 vgl. aber Lk 23,47), eine Rückprojektion auf die Zeit
Jesu sein. Nicht glaubhaft auch ist, dass der Hohenpriester Jesus gefragt
haben soll, ob er der „Christus, der Sohn des Hochgelobten“ (Mk 14,61f)
sei. Diese Frage hat wohl der Evangelist selbst formuliert.
Hatte sich aber erst einmal in der späteren christlichen Gemeinde die
Vorstellung von Jesus als dem einzigartigen, im Himmel residierenden
Sohn Gottes, festgesetzt, dann lag der Gedanke nicht mehr ferne, dass er
das wohl schon immer gewesen sein muss. So ist es nur folgerichtig, dass
der letzte Evangelist, Johannes, Jesus nun als den präexistenten Logos prä-
sentiert. Damit ist der Übergang aus der jüdischen Gedankenwelt in den
hellenistischen Kulturkreis abgeschlossen. Die altjüdische Idee eines end-
zeitlichen Einbruchs durch einen recht irdischen Messias ist jetzt durch
die Vorstellung eines göttlichen Retters abgelöst worden. Was von der ur-
sprünglichen jüdischen Idee verbleibt ist nebst der Erlösungshoffnung der
Gedanke des Gehorsams im Sinne des Gottesknechtes bei Jesaja. Jesus ist
nicht jemand wie der griechische Göttersohn Herakles, der anscheinend
willkürlich mit seiner Kraft protzt. Eher schon wie Asklepios setzt er seine
Macht nur zum Wohle der Menschen ein, dabei völlig auf das Vertrauen in
Gott setzend. Von nun an schreitet die Dogmabildung voran. Sie sollte in
der Trinitätslehre vom dreieinigen Gott gipfeln, wie sie das Konzil zu Nicäa
325 n. Chr. angenommen hatte.
Kapitel 10:
Jesus von Nazareth
Für eine Darstellung, wer nun Jesus wirklich war und wie sein Leben ver-
lief, werden wir immer auf Vermutungen angewiesen bleiben, doch es gibt
Anhaltspunkte in der Bibel anhand derer sich eine mögliche Biographie Je-
sus konstruieren lässt und eine solche stellen wir nachfolgend vor. Ergänzt
wird sie dann abschliessend mit einer Gegenüberstellung von Jesus und So-
krates.
zugehen. Immerhin, Maria und Josefs Eltern genießen einen guten Ruf in
Nazareth und haben selbst einigen Einfluss.
Das Kind kommt zur Welt und der Vater gibt ihm den Namen Jeschua
(Gott hilft). Das Ereignis wird gebührend gefeiert wie es so Sitte ist, und
das Kind wird zunächst in die Obhut der Mutter gegeben. Es sollte eine
unbeschwerte Kindheit werden. Wie jeder Junge schließt sich auch Jeshua
andern Kindern seines Alters an, spielt und rauft sich. So manches Mal
muss er Schläge einstecken, weiß sich aber zu wehren und teilt selbst aus.
Doch er ist nicht der Typ Bully, der andere einschüchtern will und vorsätz-
lich Streit anfängt. Im Gegenteil, manchmal kommt er den Schwachen zu
Hilfe, die sich nicht wehren können. Schon früh entwickelt er einen Sinn
dafür, was fair und was unfair ist.
Als er gerade mal fünf Jahre alt ist, wird er von den Eltern in die hie-
sige Grundschule, die von dem Priester des Dorfes geleitet wird, einge-
schult. Auf dem Stundenplan stehen eigentlich nur Lesen und Schreiben
und vor allem die Tora. Einige Abschnitte der Tora müssen sich die Schüler
regelrecht einpauken. Immer wieder werden sie vom Priester vorgetragen
und abgefragt und bald beschäftigt sich der kleine Jeschua mit der Tora
auch noch zu Hause. Er ist ein aufgeweckter, frühreifer Junge geworden,
der vor Lerneifer nur so sprüht und seine Altersgenossen schon bald hin-
ter sich lässt. Aber auch die praktische und ernste Seite des Lebens wird
nicht vernachlässigt. Da jetzt der Junge heranwächst, nimmt ihn Josef zu-
nehmend unter seine Fittiche und bringt ihm das ABC des Bauhandwerks
bei. Schließlich soll der Junge ja mal in die Fußstapfen seines Vaters treten,
ist er doch der Erstgeborene.
Und so reift Jeschua heran, eine Freude für die Eltern als auch für seinen
Lehrer, der große Stücke auf ihn hält. Es ist kurz vor Jeschuas 13. Geburts-
tag und die Entlassung aus der Grundschule steht bevor. Da nimmt Josef
seine Frau zur Seite und spricht zu ihr: „Maria, du weißt ja, wie schwer wir
es am Anfang hatten. Keiner wollte es uns so recht sagen, aber wir spürten
doch, wie die Leute über uns und unser Kind dachten. Wir haben es ja über
fünf Ecken gehört. Die Sache ist zwar eingeschlafen aber noch längst nicht
ausgeräumt. Es braucht nur irgendeinen Vorwurf und sie steht sofort wie-
der im Raum. Menschen sind nun mal so. Vielleicht lauern ja sogar einige
nur darauf, dass sie uns eins auswischen können. Dazu sollten wir es gar
nicht erst kommen lassen. Ich denke, es ist am besten, dass Jeschua erst mal
10. Jesus von Nazareth 339
hier rauskommt. Wenn die Leute ihn nicht ständig vor Augen haben, dann
kommen sie auch nicht so leicht auf dumme Gedanken, uns und unserem
Sohn was ans Zeug flicken zu wollen. Hör mich aus, ich will Jeschua nicht
aus dem Haus werfen. Im Gegenteil, ich will ihm die Gelegenheit geben,
dass er mehr aus sich macht als nur Zimmermann zu sein. Vielleicht wird
er uns dann eines Tages sogar mal große Ehre machen, wer weiß. Ich will
ihm also die best mögliche Erziehung geben und ich glaube er hat das Zeug
zum Lernen. Dann werden auch die Leute sehen, dass ich zu meinem Erst-
geborenen stehe. Also kurz gefasst, ich möchte, dass unser Sohn auf die
höhere Schule nach Jerusalem geht und sich dort als Schriftgelehrter aus-
bilden lässt. Das nötige Geld dafür werden wir schon zusammenkratzen,
wir haben ja auch bereits einiges auf die hohe Kante gelegt.“
Maria: „Du hast recht, mein Mann. Auch ich habe gesehen, wo seine
wahren Interessen liegen. Er lebt ja praktisch nur noch die Tora. Und er
ist so wissbegierig. Immer wieder diese Fragen, das höre ich ja auch von
seinem Lehrer. Aber ich bin mir nicht so sicher, ob wir dem Gerede der
Leute damit ein Ende bereiten, wenn er außer Hauses ist. Ich wundere mich
übrigens, dass er davon bisher noch nichts mitbekommen hat. Ich stelle mir
vor, seine Schulkameraden haben irgendwas über Jeschua von ihren Eltern
aufgeschnappt und das ihm an den Kopf geworfen. Wir können es nicht
wissen und ich wage nicht, danach zu fragen. Aber ich glaube, eines Tages
wird er erfahren, welche Art Gerüchte die Leute über ihn verbreitet haben.
Wenn er dann aber erst einmal ein Schriftgelehrter ist, dann werden die
meisten es sich schon dreimal überlegen, bevor sie wieder die alten Sachen
herauskramen. Und sollten sie es wagen, da wird er schon die nötige Kraft
haben, denen in die Augen zu blicken und sich nicht so leicht unterkriegen
lassen. Die werden ihm dann nur noch dumm vorkommen, nicht einmal
wert, dass er sich mit ihnen auseinandersetzt. Ja, noch mal, dein Vorschlag
klingt gut und ich glaube auch, dass Jeschua dafür Feuer und Flamme sein
wird.“
Aus dem Knaben ist ein Jüngling geworden. Das neue Lebensjahr wird
einschneidende Veränderungen für ihn bringen. Er wird mündig und das
bedeutet mehr Rechte wie auch Pflichten. So feiert man im Hause Josef, wie
es der Tradition entspricht, Jeschuas Eintritt ins Mannesalter mit der Bar
Mitzwa. Zum ersten Mal, beim nächsten Sabbat, ist es ihm gestattet, selbst
die Lesung in der Synagoge zu halten. Im Anschluss daran hat die Familie
340 10. Jesus von Nazareth
zu sich eingeladen und das halbe Dorf findet sich ein. Es wird gelacht und
getanzt, gesungen und kräftig dem Wein zugesprochen.
Einige Wochen später bringen die Eltern ihren Sohn nach Jerusalem,
um ihn dort in der Höheren Schule einzuschreiben. Um seine Geschwister
zu Hause kümmern sich derweilen Verwandte. Jeschua bringt ausgezeich-
nete Referenzen mit und er wird angenommen. Für ihn ist ein Traum wahr
geworden, und so stürzt er sich mit Feuereifer in das Studium der Schrift
und vertieft derweilen seine Sprachkenntnisse im Hebräischen. Zu Hause
sprach man ja nur Aramäisch, die Umgangssprache, und in der Schule ver-
mittelte man den Jungen auch nur Grundkenntnisse des Hebräischen. Stu-
dium bedeutet nicht nur Einpauken und Memorieren der Schrift. Der Schü-
ler soll sich ja auch die Zusammenhänge bewusst machen und mit Hilfe
der Schrift argumentieren können. So wird er in die rabbinische Kasuistik
eingeführt und lernt, die verborgenen spirituellen Bedeutungen hinter ge-
wissen Textstellen zu erkennen. Die Auslegungen können dabei durchaus –
in Grenzen – variieren und so gibt es Schulen, die eine eher konservative
und andere, die eine eher liberale Ausrichtung verfolgen.
Zum nächsten Passafest finden sich Maria und Josef wieder in Jeru-
salem ein und Jeschua führt sie im Tempel mit seinem alten Lehrer, ge-
nannt Simeon, zusammen. Simeon ist voll des Lobes auf seinen Schüler
und meint: Aus dem wird mal ein ganz Großer. Das hören die Eltern gerne
und füllt sie mit Stolz. Sie sind überzeugt, dass Gott sie und ihre Familie
gesegnet hat. Die Familienkasse ist zwar knapp aber sie fühlen es recht und
angemessen, Gott im Tempel ein Dankopfer zu bringen.
Auch Jeschua ist davon überzeugt, dass Gott mit ihm ist und eine Be-
stimmung für ihn hat. Die wird ihm sicherlich im Laufe der Zeit klarer
werden aber erst einmal muss er die Schule meistern. Der anfängliche Stolz
über dieses Privileg und die Anerkennung, die damit verbunden ist, weicht
schon bald der ernüchternden Erkenntnis, dass er die Aufnahme in die
Schule doch vor allen seinen Eltern zu verdanken hat, die es ihm in Mü-
he und durch Entbehrung hindurch ermöglicht haben. Und in seine Freude
mischt sich hier und da auch ein leiser Wehmut über die Trennung von der
Familie, von Freunden und Verwandten. Zudem vermisst Jeschua das einfa-
che Landleben. Wie oft hatte er doch als Kind sich von den anderen entfernt
und unter einem schattigen Baum liegend verträumt den sonnendurchglüh-
ten Wolken nachgeschaut, dem Gezwitscher der Vögel gelauscht und vor
10. Jesus von Nazareth 341
allem sich mit Fragen über Gott und die Welt beschäftigt. Er vermisst sein
von Gott reichlich gesegnetes, von Dörfern und Bäumen bekränztes Land,
mit seinen vielen Hügeln und den Ebenen, die von mäandernden Bächen
bewässert werden. Er vermisst die Zeit, wenn der Frühlingsregen die Land-
schaft verzaubert und hunderterlei Arten von Hyazinthen, Narzissen und
Lilien sprießen lässt. Wehmütig denkt er manchmal an das Leben zu Hau-
se, das im Umkreis der Feuerstelle im Innenhof, wo die Mutter backt und
kocht, sein Zentrum hat. An das bescheidene, strohgedeckte und aus Lehm
gebaute Haus, schließt sich ein kleiner, von der Mutter gehegter Gemüse-
garten an, in dem sie Linsen, Erbsen, Bohnen und Kürbisse zieht. Auch hält
die Familie auf ihrem Hof ein paar Ziegen und Schafe, dazu Hühner und
Enten. Ein kleiner Weinberg ist angelegt worden während in der Nachbar-
schaft Maulbeerbäume, Öl- und Feigenbäume wachsen und auf den frucht-
baren Feldern der Weizen gedeiht. Es ist ein einfaches, aber friedliches Le-
ben. Galiläa, davon ist Jeschua überzeugt, ist das herrlichste Land auf der
Welt. Und nun dieses Jerusalem!
Jeschua hat Quartier bei einer galiläischen Familie in Betanien bezogen.
Auf seinem morgendlichen Weg nach Jerusalem herauf, da leuchtet vor sei-
nen Augen im Glanz der Sonne in schimmernder Weiße der gewaltige Bau
des Tempels, an dem übrigens immer noch gearbeitet wird. Wie eine stei-
nerne, drohende und hochgereckte Faust des allgewaltigen Gottes kommt
er ihm manchmal vor, wahrlich einschüchternd vor allem für jemanden wie
ihn, der aus so einem kleinen, unbedeutenden Nest wie Nazareth kommt.
Jerusalem hat eine geschätzte Einwohnerzahl von 100 000 Menschen wäh-
rend in Nazareth gerade mal um die 500 Seelen leben. Schon vor den Toren
der Stadt riecht er den infernalischen Gestank der riesigen Müllhalde, der
sich mit dem beißenden Geruch der vielen Gerbereien und dem Rauch aus
den Töpferöfen mischt. Wenn man Jerusalem betritt dann erreicht man zu-
nächst die Unterstadt, ein verwinkeltes Labyrinth kleiner und kleinster Gas-
sen, durch die man sich oft regelrecht zwängen muss. Hier kleben dicht an
dicht die armseligen Häuser der Handwerker wie der Schmiede, der Weber
und der Schuhmacher, neben solchen der Bäcker, der Ärzte und Metzger.
Überall verworrener Lärm der Händler, der Wasserträger und dazwischen
das vielfältige Blöken und Muhen der Tiere. Von der Unterschicht, die hier
lebt, grenzt sich der vornehme Adel ab, hoch oben wohnend in eleganten
und umzäunten Villen in der Oberstadt, die die Unterstadt weit überragt.
342 10. Jesus von Nazareth
Hier befinden sich das von Herodes nach hellenistischem Stil errichtete
Theater und der königliche Palast, der jetzt dem römischen Statthalter als
Residenz dient. Es gibt zahlreiche Synagogen, den Markt für die Reichen
und nahe bei steht der fast alles überragende Tempel, den man von hier
aus bequem erreichen kann ohne sich unter die Plebs mischen zu müssen.
Höher ist nur noch die angrenzende Burg Antonia, in der sich die Römer
einkaserniert haben.
Auf der breiten Treppe, die zum Haupteingang führt, sitzen die Lehrer
mit ihren Schülern und Propheten verbreiten ihre Botschaft. Das Tempel-
gelände ist ein von Kolonnaden umfasstes Rechteck, etwa 500 x 300 Meter
groß. Drinnen, im äußeren und größten Bezirk befindet sich der Vorhof der
Heiden, zu dem jedermann Zutritt hat. Er ist bevölkert von Pilgern, Händ-
lern, Geldwechslern und Opfertieren. In seiner Mitte, zugänglich durch
mehrere Tore, befindet sich das Tempelzentrum mit seinen Innenhöfen für
die Frauen und die Israeliten, der große Altar, der Tempel selbst mit dem
durch einen Vorhang abgegrenzten Heiligtum und dem Allerheiligsten, das
der Hohepriester nur einmal im Jahr, am Versöhnungstag, betritt. Zugang
zum Inneren des Tempels ist Fremden auf Todesstrafe verboten.
Jeschua fühlt sich in Jerusalem oftmals wie ein Fremdkörper. Ihm ist
das arrogante Gehabe der Reichen, ihre protzige Aufmachung zuwider. Lie-
ber hält er es mit den einfachen Menschen und am wohlsten fühlt er sich in
Betanien selbst, erinnert es ihn doch ein wenig an sein Heimatdorf. Auch
so mancher Schriftgelehrte mit dem er in Kontakt kommt, erscheint ihm
hochnäsig und wichtigtuerisch. Das vorgeblich bessere Wissen des anderen
tut aber seinem Selbstbewusstsein keinen Abbruch, im Gegenteil, er fasst
es als eine Herausforderung auf. So scheut er sich auch nicht, seinen Lehrer
zur Rede zu stellen, wenn ihm irgendetwas fragwürdig erscheint. Zum Bei-
spiel wollen ihm die vielen Verordnungen zum Sabbat nicht einleuchten.
„Die stehen doch nicht in der Schrift. Wenn wir uns vor ihnen verbeugen,
dann erheben wir sie doch in den Rang eines Götzen“, pflegt er zu sagen.
Und wenn der Lehrer einwendet, dass diese uns doch von unseren Vätern
überliefert worden sind, entgegnet er, eben, es ist nur Menschenwerk. Wor-
auf es wirklich ankommt ist ein Gott wohlgefälliges Tun. Darauf hat der
Lehrer dann keine Antwort mehr.
Die Jahre in Jerusalem verlaufen ohne nennenswerte Zwischenfälle. Er
ist nun herangewachsen und sieht seinem 18. Geburtstag entgegen. Man
10. Jesus von Nazareth 343
Für die Lesung hatte sich Jeschua den Text in Jesaja 61,1–2 ausge-
sucht, der von der frohen Botschaft für die Bedrückten im Lande handelt.
Nachdem er den Text gelesen hat, legt er die Schriftrolle nieder, hebt seine
Augen auf und sagt in das erwartungsvolle Schweigen der Leute hinein:
„Freuet euch; denn heute kann ich euch verkündigen, dass euer und mein
Vater es mir ins Herz und meinen Verstand gelegt hat, diesen Worten ihre
Erfüllung zu geben.“ Die meisten Hörer reagieren erbost oder schütteln ihre
Köpfe. Einer sagt: „Was bildet sich dieser großmäulige Schnösel eigentlich
ein, kennen wir ihn doch. Hält er sich was für Besseres, nur weil er ein
paar Jahre mehr auf die Schule gegangen ist und hat sie doch noch nicht
mal richtig abgeschlossen? Dem ist wohl sein bisschen Wissen in den Kopf
gestiegen.“ Ein anderer sagt: „Wenn er mit uns auch in Zukunft ein Aus-
kommen haben will, dann soll er man sich in Acht nehmen und nicht mehr
so großkotzig daherreden“. Und so kam es, dass Jeschua der größte Zwei-
fel ausgerechnet in seinem eigenen Heimatdorf begegnete. Es kann auch
nicht ausbleiben, dass jetzt, da Jesus selbst durch seine Rede ein öffentli-
chen Ärgernis verursacht hat, sich einige vorwagen und die alten Gerüchte
um Jesu Vater wieder aufwärmen. Schließlich kommt das auch Jeschua zu
Ohren. Ein alter Schulkamerad teilt ihm in aller Freundschaft mit, was man
sich im Dorf über ihn erzählt. Jeschua stellt seine Mutter zur Rede, doch
die bleibt ausweichend. Sie sagt ihm, dass es doch im Grunde nur der Neid
der Leute ist, der sie so etwas sagen lässt. Wir sollten nicht in der Vergan-
genheit herumwühlen und das Gedenken an unseren Vater und seine Ehre
beschmutzen. Doch der Zweifel nagt an ihm. Entsprang vielleicht die Gabe
des Gewandes einem schlechten Gewissen? War all das Wohlwollen sei-
nes Vaters, dem er ja letztlich auch die Möglichkeit seiner Weiterbildung
verdankte, in Wirklichkeit nur vorgetäuscht worden?
Wenn er nun noch einmal über seine Worte in der Synagoge nachdachte
und sich die Reaktion seiner Hörer ins Gedächtnis zurückrief, da konnte er
durchaus Verständnis für sie finden. Wie sollte er wohl auch diesem An-
spruch gerecht werden können? War es nicht eher der Übermut und der
jugendliche Eifer, der ihn zu diesen Worten verführt hatte. Hatte er sich et-
was vorgemacht, war er einer bloßen Eingebung gefolgt, dass er zu etwas
Höherem berufen war? Jetzt aber schaute die Familie auf ihn, dass er sich
mit seiner Hände Arbeit bewähre.
10. Jesus von Nazareth 345
Jeschua will sich durchaus als der gute Sohn beweisen und so über-
nimmt er bereitwillig die Bürde der Sorge für die Familie. Wo sich Gele-
genheit bietet, nimmt er Arbeit an und es gibt viel Arbeit für einen wie ihn,
der ja nicht nur geschickt mit den Worten sondern auch mit seinen Händen
ist. Zumeist arbeitet er im näheren jüdischen Umfeld von Nazareth, dann
aber auch in der hellenistischen Stadt Sepphoris, die man von seinem Hei-
matort aus nach einem Fußweg von nur 1–2 Stunden erreichen kann. Sepp-
horis ist so gänzlich anders; hier treffen jüdische und griechische Kultur
aufeinander. Die Stadt war mal von König Herod Antipas zu seiner Haupt-
stadt ausgebaut worden, mit Palast, Theater und Tempel, doch inzwischen
hatte er seinen Sitz zum neu erbauten Tiberias am See Genezareth verlegt.
Doch Leute wie er, die Kenntnisse in Stein- und Holzarbeiten besitzen, sind
hier immer gefragt. Hier hatten er und sein Vater früher oft zusammen ge-
arbeitet und hier ereilte seinen Vater auch der Tod als er von der Plattform
einer Baustelle gestürzt war. Kein Wunder, dass Jeschua gerade hier noch
den Schatten seines Vaters spürt.
Viel Zeit für das Studium der Tora bleibt nicht. Die Arbeit ist hart und
die Stunden sind lang. Aber den Ruhetag, den Sabbat, nutzt er, um sich
an Gottes Wort zu erquicken. Zuweilen bietet man ihm an, die Lesung in
einer Synagoge zu halten und mit der Zeit erwirbt sich Jeschua den Ruf
eines gelehrten Mannes. Er kennt die Nöte des kleinen Mannes aus eigener
Erfahrung, weiß um ihre Sorgen, das tägliche Brot auf den Tisch bringen
zu können. Der Bauer, der im Schweiße seines Angesichts das Feld be-
stellt, steht ihm näher als der besserwisserische Schriftgelehrte, der mehr
auf Schein als auf Sein achtet. Nicht in gestelzten Worten spricht er zu den
Leuten, sondern wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Die Menschen fühlen
sich von ihm angesprochen und verstanden, und man spricht voller Hoch-
achtung von ihm.
Nur in Nazareth, da will man nicht viel von ihm wissen. Die Erinne-
rung an seine erste Lesung in der Synagoge sitzt noch tief. Sogar im Kreis
seiner eigenen Familie hat er es schwer. Maria zwar, seine Mutter, lauscht
gerne seinen Worten, doch seine Brüder machen sich nicht viel daraus. Ih-
nen hängt all das Gerede über die Tora und Gott bis zum Hals heraus. So
brüskieren sie Jeschua zuweilen und schneiden ihm das Wort ab, wenn er
sie wieder einmal belehren will. Doch Jeschua trägt all das noch mit Ge-
duld, wenn auch in ihm der Stachel des Ärgers sitzt. Soll das alles gewesen
346 10. Jesus von Nazareth
sein? Soll er sich hier für die Familie aufopfern, die ihm doch so wenig
Dankbarkeit entgegenbringt? Hat er nicht was Besseres verdient?
Jeschua frisst den Frust in sich hinein aber er empfindet die Enge seines
Elternhauses zusehends als bedrückend. Zehn lange Jahre hat er die Familie
mit seiner Hände Arbeit ernährt. Jetzt ist er 28 Jahre alt und ist doch seinem
Traum eines Lebens für Gott nicht näher gekommen. Er muss da raus. Er
fühlt, dass er zu etwas Größerem berufen ist. Und eines Tages ist es soweit.
Er hat seine Entscheidung getroffen, die Familie zu verlassen und teilt diese
seiner Mutter mit. Maria: „Mein Sohn, du tust recht. Ich habe doch schon
längst gemerkt, dass du hier unglücklich bist und dich wohl auch nicht recht
verstanden fühlst. Deine Brüder sind durchaus alt genug, nun für uns alle
zu sorgen. Wir werden schon zurechtkommen. Mach du deinen Weg und
zeige wozu du fähig bist. Ich weiß es in meinem Herzen, du wirst mich
einmal stolz machen.“
Jeschuas erster Weg führt ihn an den Jordan. Dort, so hatte er gehört,
wirkt ein gewisser Johannes der Täufer. Überall im Lande spricht man von
ihm, dass er ein gewaltiger Prediger sei. Und in der Tat, als Jeschua ihn ver-
künden hört, über Buße und Gericht, da machen seine Worte einen großen
Eindruck auf ihn. Er beschließt, sein Jünger zu werden. Das Leben hier in
der Wüste ist allerdings wahrlich kein Zuckerschlecken. Man nagt prak-
tisch immer am Hungertuch. Die Wüste gibt nicht viel her und nur weil die
Leute hier und da was mitbringen, reicht es gerade mal zum Überleben.
Jeschua hat nun gewissermaßen seine Probezeit. Johannes will sicher-
gehen, dass die Leute, die er tauft, auch wirklich mit Herz und Verstand be-
reit sind, Gottes Ruf zu folgen. Schon nach wenigen Wochen ist Jeschuas
Taufe angesetzt. In diesem Moment, wo das Wasser des Jordan ihn um-
spült, da fühlt er mit nie gekannter Intensität den Ruf Gottes. Er ist bereit,
dass weiß er. Dies ist der Augenblick seiner Lebenswende. Aber so sehr er
Johannes auch schätzt und verehrt, sie denken nicht auf der gleichen Wel-
lenlänge. Das wird ihm zunehmend klarer. Jeschua vermisst an Johannes
Botschaft die versöhnenden Worte. Er ist ihm zu streng, ja zuweilen uner-
bittlich. Es fehlt ihm, so denkt er, an menschlicher Wärme. Da scheint kein
Platz zu sein für Liebe und Barmherzigkeit. Die Spannungen zwischen Je-
schua und Johannes wachsen, da Jeschua auch kein Blatt vor den Mund
nimmt, aber um einen völligen Bruch zu vermeiden, entschließt sich Je-
schua, die Jüngerschaft zu verlassen und seinen eigenen Weg zu gehen.
10. Jesus von Nazareth 347
benetzt. Du hast mir keinen Kuss gegeben, sie aber hat unablässig meine
Füße geküsst. Sie mag gesündigt haben, aber sie hat viel Liebe gezeigt.“
Und zu Maria: „Sei guten Mutes, Gott wird dir deine Sünden vergeben.
Geh nun hin in Frieden. Dir hat dein Glaube geholfen.“
Simeon ist beschämt und findet keine Worte. Maria aber ist von die-
sem Tag an die glühendste Verehrerin Jeschuas und folgt ihm fortan als ei-
ne seiner Jünger/innen. Die Schar seiner Anhänger wächst, es wächst aber
auch die Zahl derer, die ihm feindlich gesinnt sind und dazu zählen vie-
le Pharisäer und insbesondere die Schriftgelehrten, die ihn wohl als eine
Art Nestbeschmutzer betrachten. So langsam schaukelt sich die gegensei-
tige Abneigung hoch. Jeschua beginnt seine Widersacher als Heuchler und
Schmarotzer zu beschimpfen während seine Gegner ihn einen Wichtigtuer,
Lügner und Scharlatan nennen. Sie beschuldigen ihn, den Sabbat zu bre-
chen, weil er mal erwischt wurde, als er mit seinen Jüngern ein Weizenfeld
durchschritt und von den Ähren aß. Sie halten ihm vor, die Tradition zu
missachten und sich nicht um die Reinheitsgebote zu scheren. Ja, er kom-
me sogar mit seinen eigenen Auslegungen daher, welche die Tora auf den
Kopf stellen. Belege allerdings finden sich nicht dafür, aber es spricht für
die Stimmung, die sich da über Jeshuas Kopf zusammenbraut. Viele seiner
Anhänger beginnen, sich von ihm abzuwenden, da er sich nun mehr und
mehr als der Erlöser Israels zu stilisieren sucht, gesandt von Gott, den er
als seinen Vater bezeichnet.
Es wird langsam kritisch für Jeschua. Auch seine Familie ist in Sorge,
hat sie doch auch Informationen darüber erreicht, was man sich über Je-
schua erzählt. Als Jeschua eines Tages wieder mal in Kapernaum weilt, um
sich einige Tage im Kreise seiner Jünger zu erholen, ergreifen seine Mutter
und Brüder die Gelegenheit beim Schopf und suchen ihn zu sich heimzuho-
len. Sie sind überzeugt, er hat den Verstand verloren und muss unter ihrer
Obhut erst wieder zur Vernunft kommen. Schon einige Wochen früher hatte
Maria ihren Sohn zur Rede gestellt und gesagt: „Mein Sohn, warum tust du
uns das an? Haben dein Vater und ich nicht alles getan, damit du es mal
besser haben wirst wie wir? Und nun wirfst du alles weg, was dir Respekt
und Anerkennung bringen könnte.“ Mit solchen Worten konnte sie Jeschua
aber nicht mehr erreichen. Man hatte sich einander entfremdet. Und auch
ihr jetziges Anliegen, ihn wieder in den Schoß der Familie zurückzubrin-
10. Jesus von Nazareth 349
gen, schlägt fehl. Jeschua lässt seiner Familie ausrichten, dass jetzt die, die
mit ihm sein Leben teilen, seine neuen Brüder und Schwestern seien.
Die Passazeit naht und Jeschua mit seinen Jüngern macht sich wie vie-
le Tausende andere auch auf den Weg nach Jerusalem. Beim Eingang in
Jerusalem bereiten seine Anhänger ihm einen triumphalen Empfang, doch
das kaschiert nur die Realität der Situation. Die Streitgespräche, die er mit
den Oberen führt, verdeutlichen, dass ihre feindselige Haltung sich so sehr
verschärft hat, dass nicht mehr auszuschließen ist, dass sein Leben als sol-
ches in Gefahr ist. Als er dann auch noch die Händler aus dem Tempel jagt
und damit die Geschäftsgrundlage der führenden Leute in Frage stellt, ist
für viele das Maß voll. Jeschua soll unter Anklage gestellt werden und die
Bürger sind aufgerufen, den Behörden seinen Aufenthaltsort mitzuteilen.
Derweilen sitzen Jeschua und seine Jünger zu einem Abendessen zu-
sammen. Man ahnt, dass sie vielleicht das letzte Mal Gemeinschaft mit-
einander haben werden und dementsprechend ist die Stimmung gedrückt.
Maria, die geliebte Jüngerin, liegt auf Jeschuas Schoß während aufgetischt
wird. Jedem war klar, dass die beiden eine besondere Beziehung miteinan-
der haben. Wiederholt hatte Jeschua Maria in seine Arme genommen und
sie geherzt. Einige wollen sogar beobachtet haben, dass Jeschua die Maria
geküsst hätte. Petrus war dies alles sehr sauer aufgestoßen, hatte Maria ihm
doch den Rang abgelaufen. Ihn schmerzte es umso mehr, da sie doch nur
eine Frau ist und Frauen sollten doch eigentlich wissen, wo ihr Platz in der
Gesellschaft zu finden ist. Sie können sich doch nicht als dem Manne eben-
bürtig aufführen. Da hält er es doch lieber mit den Pharisäern, die es noch
nicht einmal wagen, sich zusammen mit einer Frau öffentlich zu zeigen.
Aber vielleicht findet sich ja noch mal die Chance, Jeschua zu zeigen, wie
er zu ihm steht.
Judas verlässt vorzeitig das Abendessen. Keiner der Jünger kann sich
einen Reim darauf machen, warum. Wenn sie sich nur daran erinnern könn-
ten, was Judas mal gesagt hatte, als sie in ihrer Runde zusammensaßen.
Sieht man einmal von Maria ab, dann ist Judas der größte Bewunderer von
Jeschua und das mit einer Leidenschaft, die sich nur aus seiner Vergangen-
heit als früherer Anhänger der fanatischen Sekte der Sikarier erklären lässt.
Er glaubte mit Inbrunst, dass Jeschua der Messias Israels ist, auf den alle
warten, und wie sehnsüchtig sieht er dem Augenblick entgegen, wenn Je-
schua seine volle Macht und Herrlichkeit allen demonstrieren wird; denn
350 10. Jesus von Nazareth
ist er der Messias, dann wird mit Gottes Hilfe ihn keiner aufhalten kön-
nen. Und nun ist die Gelegenheit günstig, etwas nachzuhelfen und diesen
Zeitpunkt jetzt herbeizubringen, hatte er doch erlebt, wie die Menschen
Jeschua bei seinem Einzug in Jerusalem zugejubelt hatten. Auch die Auto-
ritäten werden ihn letztlich als den wahren Erlöser erkennen und sich ihm
beugen und ein jeder wird Jeschua Gefolgschaft leisten. Und dann werden
sich die Worte der Propheten erfüllen, Israel befreit und eine Zeit des end-
losen Friedens dem Land beschert sein.
Judas informiert folglich die Behörden, wo sie noch heute abend Jeshua
und seine Jünger finden können. Jeschua bleiben nur noch wenige Stunden.
Sie befinden sich im Garten Gethsemane und Jeschua ist voll düsterer Ah-
nung. Sein Herz ist schwer und ihm ist bange. Er sucht sich einen Platz
allein und betet und als er betet geht sein Atem schwer und der Schweiß
tropft ihm wie Blut herab. „Vater, wenn möglich, lass diesen Kelch an mir
vorübergehen, aber nicht wie ich sondern wie du willst.“ Da aber sind schon
die Häscher, mit Judas an der Spitze. Judas küsst seinen Meister; denn dies
sollte für die Soldaten das Erkennungszeichen sein. Judas flüstert ihm zu:
„Du weißt, ich habe dies für dich getan.“ Jeschua sieht ihm in die Augen
und sagt: „Ja, ich glaube dir.“ Doch Judas Hoffnungen, dass die Oberen und
Jesus nach einer Aussprache kooperieren werden, sollten sich nicht erfül-
len. Als er dies erkennt, da nimmt er sich sein eigenes Leben.
Jeschua wird zunächst im Hause des Hohenpriesters Kaiphas festge-
halten bis dieser ihn am frühen Morgen verhören wird. Die Jünger waren
geflohen, nur Petrus hatte sich mit Marias Hilfe, die aufgrund ihrer früheren
Liebesdienste dem Kreise um Kaiphas bekannt war, Zugang zum Hof des
Hauses verschafft. Als es aber darauf ankommt, sich zu Jeschua zu beken-
nen, da verlässt ihn der Mut und er verleugnet ihn. Er hatte sich Jeschua
beweisen wollen und versagt nun doch.
Jeschua wird dem Hohenpriester vorgeführt und verhört. Wie mit ihm
zu verfahren sei, war längst beschlossene Sache gewesen. So kramt man
eine Reihe Anklagepunkte zusammen und verurteilt ihn wegen Volksauf-
wiegelung und Verhöhnung der Religion zum Tode. Danach wird er dem
Statthalter Pilatus überstellt. Ihm gegenüber beschuldigt man Jeschua des
Aufruhrs und dass er sich als König der Juden aufspiele und sich dafür
göttlich bevollmächtigt glaube. Pilatus hat keine Lust, sich groß in die An-
gelegenheiten der Juden einzumischen, aber wenn jemand des Aufruhrs
10. Jesus von Nazareth 351
beschuldigt wird, dann spitzt er doch die Ohren; denn so was könnte der
römischen Besatzung gefährlich werden. Mit der Religion der Juden hat er
nichts am Hut; das ist deren Sache. Und so kommt er nach kurzer Rück-
sprache mit den Hohenpriestern zu dem Schluss, dass dieser Mensch den
Tod verdient.
Jeschua wird von den römischen Soldaten gegeißelt und verspottet. Die
mit Metallsplittern versehene Rute reißt seine Haut auf und führt zu star-
ken Blutungen. So ist er derart geschwächt, dass er sich kaum noch auf den
Beinen halten kann, geschweige denn in der Lage ist, das Kreuz zur Hin-
richtungsstätte zu tragen. Auf dem Weg nach Golgatha sinkt er immer wie-
der auf die Knie und taumelt dann weiter, durch Schläge vorangetrieben.
Am Ort der Hinrichtung wird er dann an das Kreuz geschlagen, mit Me-
tallnägeln, die sich durch Fleisch und Fußknochen bohren. Die Schmerzen,
die jetzt durch seinen Körper jagen, lassen ihn kaum noch bei Bewusstsein
bleiben. Nackt, einsam und verlassen hängt er nun am Kreuz, dem Tode
näher als dem Leben. Eine tiefe Verzweiflung ergreift ihn und durchschüt-
tert sein Innerstes. „Vater“, so sind seine letzten Gedanken, „warum hast
du mich verlassen? War denn all mein Leiden umsonst gewesen? Nun st-
erbe ich und auch die, die noch an mich glauben, werden von mir abfallen
und meine Botschaft wird vom Winde verweht so wie sich meine Jünger
zerstreut haben. Es war alles vergeblich gewesen. Alles umsonst, alles um-
sonst.“ Und Jeschua starb.
Doch er sollte sich geirrt haben. Nach anfänglichen Zweifeln und ei-
nem Stadium der Angst und Mutlosigkeit, hatten die Jünger wieder neue
Zuversicht gefunden. Einige waren davon überzeugt, Jeschua in einer Visi-
on begegnet zu sein. Das sprach sich herum. So fingen sie an, Jeschuas Bot-
schaft weiter zu verbreiten und sie ließen sich auch nicht durch Bedrückung
und Verfolgung einschüchtern. Die Anhängerschaft, die sich später Chris-
ten nannte, wuchs und war schon bald um ein Vielfaches größer als es zur
Zeit Jeschuas gewesen war. Jeschuas Tod war nicht vergeblich gewesen. Es
fing gerade erst alles an.
Jesus und Sokrates
Wer also war dieser Jesus von Nazareth wirklich gewesen? Diese Frage
lässt sich nicht definitiv beantworten; denn es fehlt an tragbaren Fakten.
Indizien lassen lediglich eine Antwort mehr plausibel erscheinen als eine
andere, aber sie sollte zumindest mit dem aus diesen Indizien gewonnenen
352 10. Jesus von Nazareth
„Meine Ankläger . . . so bestechend sprachen sie. Indes die Wahrheit haben sie
eigentlich keinen Augenblick gesagt . . .
Ich werde euch nichts als die Wahrheit sagen. Ich bin nämlich, ihr Männer von
Athen, aus keinem anderen Grunde als wegen einer bestimmten Art von Weisheit
zu diesem Ruf gekommen . . .
Gehorchen werde ich eher dem Gotte als euch und, solange ich atme und dazu
imstande bin, nimmer aufhören, zu philosophieren und auf euch einzureden und
jedem von euch, den ich treffe, ins Gewissen zu reden . . .
Glaube ich, hat mich Gott dieser Stadt beigegeben; als jemanden, der euch unent-
wegt aufrüttelt und mahnt und schilt . . .
Ich bringe ja, meine ich, einen hinlänglichen Zeugen dafür bei, dass ich die Wahr-
heit sage: meine Armut . . .
Wenn ich jedoch sage, dies sei das größte Glück für einen Menschen, Tag für
Tag über den sittlichen Wert Gespräche zu führen und . . . indem ich mich selbst
und andere einer Prüfung unterziehe, und dass ein Leben ohne Prüfung für den
Menschen nicht lebenswert sei . . .
10. Jesus von Nazareth 353
Ich halte es vielmehr für weit besser, mit dieser Art von Verteidigung den Tod zu
erwirken als mit jener das Leben . . .
Und so gehen wir jetzt von dannen: ich von euch des Todes, sie aber von der
Wahrheit der Niedertracht und Ungerechtigkeit für schuldig befunden . . .
Wenn ihr nämlich glaubt, ihr könntet, indem ihr Menschen tötet, verhindern, dass
man euch Vorwürfe macht, weil ihr nicht richtig lebt, dann urteilt ihr verkehrt . . .
Wenn jedoch der Tod eine Art Reise von hier an einen anderen Ort ist . . . gibt es
dann wohl ein Gut, das größer wäre als dies, ihr Richter? Wenn man nämlich im
Hades eintrifft und nunmehr, befreit von den Richtern, die sich hier so nennen, auf
die wahren Richter trifft, die dort, wie es heißt, Recht sprechen.“
Aus diesen Worten spricht die Gewissheit einer Berufung, nämlich der, den
Menschen die Augen für die Wahrheit zu öffnen. Ähnlich glaubte sich ja
auch Jesus berufen, den Menschen die Wirklichkeit des Gottesreiches zu
verkündigen und sie zu einer inneren Umkehr zu bewegen. Sokrates war
wegen Gottlosigkeit und dem Ausüben eines schlechten Einflusses auf die
Jugend zum Tode verurteilt worden, die Möglichkeit einer Flucht schloss
er aus. Er kümmerte sich weder um Gelderwerb noch um seine Familie;
denn nur so, glaubte er, könne er die Freiheit haben, nach Selbsterkennt-
nis zu streben. Doch persönliche Selbstfindung reichte ihm nicht. Er wollte
die Menschen durch wiederholtes Fragen zur Einsicht in die Wahrheit brin-
gen, eine Methode, die er mit der Tätigkeit einer Hebamme verglich. Sei-
ne eigentlichen Gegner waren die Sophisten, die mit Spitzfindigkeit jeden
Standpunkt verdrehen konnten so wie es ihnen passte. Sie verkauften ihre
Fähigkeiten an den Meistbietenden und verdarben mit ihrer Heuchelei die
Moral. Moral und Gesetz wurden durch skrupellose Machtpolitiker seiner
Zeit wie Alkibiades und Kleon zerrüttet und relativiert und dagegen kämpf-
te Sokrates. Athen hatte seinen politischen und wirtschaftlichen Höhepunkt
überschritten, betrieb eine imperiale Politik der Aufrüstung, beutete scham-
los wehrlose Gemeinden aus, ließ Tausende von Menschen wie die Melier,
die sich ihnen widersetzten, töten und rechtfertigte diese Morde damit, dass
ja Macht vor Recht gehe. Athen verstrickte sich bald in einen Hegemoni-
alkrieg mit Sparta, der schließlich beide ruinieren sollte. In einem solchen
Umfeld, wo nur der schöne Schein zählte, musste sich Sokrates im Kampf
gegen die Verlogenheit der Menschen, gegen Ignoranz und Arroganz, die
Feindschaft der gesellschaftlich führenden Schicht zuziehen. Was konnte
er auch schon dem darwinistischen Überlebensprinzip, wo Begierden, Hab-
354 10. Jesus von Nazareth
sucht, Ruhmstreben und Machtwillen das Rad im Kampf ums Dasein dre-
hen, entgegensetzen, er, dem es um Glaubwürdigkeit und Wahrheitsliebe
ging, er, der für die alten griechischen Tugenden wie Besonnenheit, Tapfer-
keit und Gerechtigkeit einstand und nach Werten wie das Schöne und das
Gute strebte. Es waren die bigotten Athener, die Sokrates umbrachten.
Und es waren vor allem die um ihre Pfründe fürchtenden bigotten Sad-
duzäer, die Jesus umbrachten. Es waren jene Priester, die scheinheilig von
Gott redeten und doch nur ihre eigenen Privilegien im Sinn hatten. Für
beide, Jesus als auch Sokrates, galt: „Die Wahrheit wird euch frei machen“
(Joh 8,32). Beide begriffen sich als Kämpfer gegen Unwahrheit, Scheinwis-
sen, Heuchelei und frömmelnde Engstirnigkeit. Beide gewährten der Mo-
ral einen hohen Stellenwert wobei insbesondere Jesus mit seiner Forderung
nach einem dienenden Füreinander-Dasein eine auf Solidarität aufgebau-
te alternative Gemeinschaft anstrebte. Sicherlich liebte Jesus das Gesetz,
fühlte sich aber nicht sklavisch daran gebunden, sondern ordnete es wie es
seine Einstellung zum Sabbat zeigte dem Gebot der Mitmenschlichkeit un-
ter. Wie auch Sokrates betonte Jesus eine Haltung des Nichtrichtens und
beide zogen lieber einen ehrenvollen Tod vor als ihre Ideale verraten zu
müssen.
Wenn Sokrates eine innere Umkehr von seinen Mitmenschen einfor-
derte, dann zielte dies vor allem auf Wiederherstellung von Anstand und
Sittlichkeit im Dienste des gesellschaftlich Guten. Jesus wandte sich pri-
mär gegen Missstände auf dem religiösen Gebiet, gegen die Instrumenta-
lisierung der Religion für persönliche Zwecke. Sozialreformen strebte er
nicht an. Eher erhoffte er die Wiederherstellung einer echten Gläubigkeit,
symbolisch umschrieben als die Rettung der ‚verlorenen Schafe‘.
Sokrates stellte immer wieder den Einzelnen mit seinen Fragen zur Re-
de, Jesus bevorzugte Gleichnisse als Erzählform, die seine Hörer gleich-
zeitig lehrte und unterhielt. Sein Wirken durch Verkündigung, Lehre und
Heilen war ganzheitlich ausgerichtet. Sokrates wollte die alten Tugenden
wieder aufrichten, Jesus lehrte über das Reich Gottes und glaubte an das
Gute im Menschen, das sich durch Hingabe an den Willen Gottes fördern
ließ. Sokrates erscheint abgeklärt und ironisch gelassen wie ein weiser al-
ter Mann. Jesus agierte eher impulsiv wie ein jugendlicher Rebell und mit
großer Leidenschaft. Aber nicht nur das Alter erklärt diese Unterschiede in
10. Jesus von Nazareth 355
ihrem Wesen, sondern auch der Gegensatz von Philosophie und Religion,
Verstand und Glaube.
Im antiken Griechenland dominierte die Philosophie, in Israel die Re-
ligion mit ihrem Glauben an den einen Gott als Garant ihrer Identität. Ge-
sellschaftlich hatte das zur Folge, dass es in Griechenland keine durch eine
Priesterschaft organisierte Religion gab während in Israel eine Art Theokra-
tie herrschte, angeführt von einer starken Priesterkaste. Wer sich der Philo-
sophie wie Sokrates widmete, dem lag an Selbsterkenntnis. Für Jesus war
die Liebe der zentrale Inhalt seiner Botschaft und formte den Kern seiner
Ethik. Sokrates war als vormaliger Ratsherr politisch engagiert gewesen,
Jesus zeigte keinerlei politisches Interesse. Sein Wirken war gefühlsbetont
während Sokrates an die Vernunft appellierte. Eine solch einseitige Ori-
entierung birgt allerdings auch Gefahren. Der Verstand tendiert zum Auf-
bau von Regeln und Systemen, führt hin zu Verkrustung und Erstarrung
in Formalismus und Dogmen, bevorzugt kalte Logik und beschränkt sich
zuweilen auf reine Äußerlichkeit. Der Affekt hingegen mag in Radikalität
umschlagen, fordert den Umsturz bestehender Werte ohne dabei die Kos-
ten zu berechnen. Liebe und ein eng geführter Glaube kann zu Verblendung
führen, den Menschen blind für andere Werte wie Toleranz und Kompro-
missfähigkeit machen. Was also nötig tut, ist ein ausgewogenes Verhältnis
von Verstand und Gefühl.
Bei Sokrates hat man den Eindruck, als ob in der Art und Weise wie
er auf den Menschen zuging, nie der Funke einer herzlichen Mitmensch-
lichkeit übersprang. Bei Jesus zeigt sich die Radikalität seiner Ethik in
der Überforderung des Einzelnen, sei es in seinem Aufruf zur absoluten
Wehrlosigkeit oder zum bedingungslosen Teilen miteinander. Bedenklich
ist auch seine kompromisslose Forderung nach Aufgabe aller Familienbin-
dungen, um dem Anspruch einer unbedingten Gefolgschaft Genüge tun zu
können.
Jesus demonstrierte Barmherzigkeit, Mitgefühl und Güte. Er verstrahlte
Liebe, die einem überströmenden Herzen entsprang. Da erscheint es nicht
abwegig, dass dieser Mensch Jesus, in dem sich das ganze Spektrum von
Emotionen zeigte, von überschäumender Freude bis hin zu tiefer Trauer,
von mitleidiger Warmherzigkeit bis hin zu aufbrausendem Zorn, dass die-
ser auch der sinnlichen Liebe aufgeschlossen war. Ist dies nicht gerade der
Gipfel unserer Menschlichkeit, wenn zwei Herzen im Einklang zueinander
356 10. Jesus von Nazareth
„Jesus verkündete das Kommen des Gottesreiches, was aber kam war die
Kirche“ (Alfred Loisy). Jesus war der Gedanke an den Aufbau einer Kirche
fremd gewesen; denn er glaubte, in den letzten Tagen zu leben. Da schien
die Vorstellung, eine Organisation zu gründen, völlig fehl am Platze. Statt-
dessen ermahnte er die Jünger immer wieder, sich auf das nahe Ende vor-
zubereiten. Der auferstandene Jesus aber, so berichten es die Evangelisten,
beauftragte seine Jünger, das Zeugnis über ihn als den Christus, den gekreu-
zigten und erhöhten Sohn Gottes, in alle Welt zu tragen. Und so begann die
Apostelgeschichte.
Haupthandelsträger in dieser Geschichte sind zunächst Petrus und dann
Paulus, der vom Verfasser allerdings nicht zum eigentlichen Kreis der Apo-
stel gezählt wird. Paulus hingegen, wie aus seinen Briefen hervorgeht, fühl-
te sich durch seine Vision des auferstandenen Jesus als dessen Zeugen und
somit als vollwertiger Apostel beglaubigt. Die eigentlich treibende Kraft
in dieser Apostelgeschichte ist allerdings der Heilige Geist, der geschichts-
mächtig und souverän die Entfaltung des christlichen Glaubens bis hin nach
Kleinasien und Europa vorantreibt. Er arrangiert das Treffen zwischen Pe-
trus und dem römischen Hauptmann, interveniert, als Petrus gefangen ge-
nommen wird, bestimmt die Reiseroute des Paulus, warnt ihn vor Gefahren
und gibt Zuspruch in Zeiten der Not. Zwar sind die christlichen Zeugen
vielfach Verfolgungen ausgesetzt und Stephanus muss sogar den Märty-
rertod erleiden, doch verhindert das nicht die Ausbreitung des Glaubens.
Im Gegenteil, solcherlei Leiden im Namen Christi befördert sie sogar noch
und wird Anlass, Christus nun auch den Heiden zu verkünden, zunächst im
Kerngebiet Israels, dann in Samarien und darüber hinaus.
Dem Verfasser ist es ein besonderes Anliegen, zu schildern, wie es zu
dem Bruch zwischen Christen und Juden kam und wer die Hauptverant-
wortung dafür trägt. Die Apostelgeschichte ist somit einerseits eine Tren-
nungsgeschichte, andererseits eine Heilsgeschichte, die Gott mit Abraham
begann, sich mit Jesus fortsetzte und dann mit der Ausgießung des Heili-
358 11. Die Apostelgeschichte
sprachen einer zu dem anderen: Was will das werden? Andere aber hatten
ihren Spott und sprachen: Sie sind voll von süßen Wein.“
Petrus aber redete zu ihnen und wies die Unterstellung, dass die Jünger
betrunken seien, zurück. Es war Gott selber, der die Weissagung des Pro-
pheten Joel (3, 1–5) hat in Erfüllung gehen lassen, indem er seinen Geist
über diese ausgegossen hat. An diesem Tag der Offenbarung werde Gott
Zeichen und Wunder im Himmel und auf Erden tun. Jesus von Nazareth
selbst hat sich als ein von Gott Erwählter durch Zeichen und Wunder aus-
gewiesen. Er wurde „ans Kreuz geschlagen und umgebracht“ doch Gott hat
ihn aufgeweckt. Er ist es, von dem David spricht (Psalm 16, 8–11): „Ich
habe den Herrn allezeit vor Augen“. David hoffte, dass er die Verwesung
nicht sehe, doch ist er gestorben und begraben. So spricht dieser Psalm vor-
ausschauend in Wirklichkeit von der Auferstehung Christi; denn sein Leib
wurde nicht der Verwesung überlassen sondern von Gott auferweckt.
Sie waren aber tief betroffen und fragten: „Was sollen wir tun?“ Petrus
antwortete ihnen: „Tut Buße, und jeder von euch lasse sich taufen auf den
Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen
die Gabe des heiligen Geistes“. Es waren etwa dreitausend Menschen, die
das Wort annahmen und sich taufen ließen. Sie folgten der Lehre, beteten
und brachen das Brot in der Gemeinschaft der Jünger. Auch verkauften sie
ihr Hab und Gut und „hatten alle Dinge gemeinsam . . . Der Herr aber fügte
täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.“
3. Eines Tages gingen Petrus und Johannes zur Gebetszeit zum Tem-
pel. Dort bettelte sie ein gelähmter Mann um ein Almosen an. „Petrus aber
blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an!“ Der Mann sah er-
wartungsvoll zu ihnen auf, doch Petrus sprach: Geld habe ich nicht, doch
ich kann dir etwas anderes geben. „Im Namen Jesu Christi von Nazareth,
steh auf und geh umher!“ Der Mann richtete sich auf, „ging mit ihnen in
den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott.“ Die Menschen aber,
die das alles sahen, waren von Entsetzen und Verwunderung erfüllt. Petrus
sagte ihnen, dass dieser Mensch nicht aus seiner Kraft sondern durch den
Glauben an den auferstandenen Jesus geheilt worden war. Bisher habt ihr
in Unwissenheit gehandelt, sagte er zu ihnen, doch nun ist es Zeit, dass ihr
euch bekehrt und Buße tut. Dann wird die Zeit des Heils kommen und Gott
wird uns Jesus wiederbringen.
11.1. Nach der Auferstehung Jesu. Die Anfänge der Urgemeinde 361
4. Die Priester und Sadduzäer aber verdross die Lehre der Apostel über
die Auferstehung Jesu von den Toten und ließen sie gefangen setzen. Doch
viele glaubten Petrus und die Zahl der gläubigen Männer stieg auf etwa
fünftausend. Am nächsten Morgen wurden die beiden Apostel vor der Ver-
sammlung der Oberen und Ältesten verhört und befragt: „Aus welcher
Kraft oder in welchem Namen habt ihr das getan?“ Petrus antwortete ih-
nen, dass dem Kranken seine Gesundheit durch den Namen Jesu Christi,
der gekreuzigt aber von Gott wieder auferweckt worden war, zurückgege-
ben worden war. Unter keinem anderen Namen ist den Menschen das Heil
gegeben. Die Ankläger wunderten sich über die selbstbewusste Rede der
beiden, waren sie doch „ungelehrte und einfache Leute“. Man beschloss,
sie gehen zu lassen aber es wurde ihnen aufgetragen, nicht weiter in dem
Namen Jesu zu reden. Sie aber antworteten: „Urteilt selbst, ob es vor Gott
recht ist, dass wir euch mehr gehorchen als Gott. Wir können’s ja nicht
lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben.“
Als die Ihren von Petrus und Johannes hörten, was sich zugetragen hat-
te, „erhoben sie ihre Stimme einmütig zu Gott“ und sprachen, sollen die
Fürsten der Erde drohen und sich gegen den „Knecht Jesus“ stellen, so
wollen sie doch „mit allem Freimut“ sein Wort reden. „Und als sie gebetet
hatten, erbebte die Stätte, wo sie versammelt waren; und sie wurden alle
vom heiligen Geist erfüllt“ und redeten offen das Wort Gottes. „Die Men-
ge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele“ und man hatte alles
gemeinsam. Wer etwas hatte, unter ihnen Barnabas, der brachte den Ver-
kaufserlös „und legte es den Aposteln zu Füssen und man gab einem jeden,
was er nötig hatte“.
5. Ein Mann namens Hananias verkaufte seinen Acker, behielt aber mit
Wissen seiner Frau Saphira einen Teil des Verkauferlöses heimlich für sich
und legte den anderen Teil den Aposteln zu Füßen. Petrus aber durchschau-
te ihn und bezichtigte ihn, den heiligen Geist belogen zu haben. Es war ihm
ja freigestellt gewesen, wie er über sein Gut verfüge, nur dürfe man nicht
falsche Tatsachen vorspiegeln. Nach den Worten des Petrus sank Hanani-
as wie vom Schlag getroffen zu Boden und starb. Als seine nichtsahnende
Frau wenig später hereinkam und wie auch ihr Mann falsche Angaben über
den Preis des Ackers machte, da fiel auch sie sogleich zu Boden „und gab
den Geist auf“. Sie wurde neben ihrem Mann begraben.
362 11. Die Apostelgeschichte
„Es geschahen aber viele Zeichen und Wunder im Volk durch die Hän-
de der Apostel“. Viele glaubten und brachten sogar ihre Kranken auf die
Strassen, dass der Schatten des Petrus, wenn er vorbeikäme, auf sie fiele
und sie gesund werden. Die Sadduzäer aber erfüllte Eifersucht und ließen
die Apostel in das Gefängnis werfen. Doch der Engel des Herrn befreite sie
während der Nacht und als die Wächter am Morgen kamen, fanden sie zwar
die Türen verschlossen aber niemand war in der Zelle. Die Apostel lehrten
währenddessen im Tempel was die Hohenpriester, denen davon berichtet
wurde, vollends ratlos machte. Die Apostel wurden zu ihnen gebracht und
sie sprachen zu ihnen: „Haben wir euch nicht streng geboten, in diesem Na-
men nicht zu lehren? Und seht, ihr habt Jerusalem erfüllt mit eurer Lehre
und wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen“. Petrus aber betonte
ihnen gegenüber, dass sie Zeuge von Jesu Auferweckung seien und dass
ihnen der Heilige Geist gegeben wäre, dem sie nun Gehorsam leisten; denn
„man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“.
Die Mitglieder des Hohen Rates zogen sich zur Beschlussfassung zu-
rück. Ein Pharisäer namens Gamaliel riet ihnen, diese Leute gehen zu las-
sen. Er erinnerte sie an das Schicksal früherer Messias-Prätendenten und
sagte: Ist diese Bewegung von Menschen getragen, dann wird sie unterge-
hen, ist sie aber von Gott, dann können wir sowieso nichts ausrichten. Ga-
maliels‘ Ratschlag wurde angenommen. Man ließ die Apostel geißeln und
gebot ihnen noch einmal, nicht im Namen Jesu zu reden. Sie aber waren
stolz, im Namen Jesu Schmach erlitten zu haben und lehrten und predigten
weiter.
6. Die griechischen Juden warfen den hebräischen Juden vor, dass man
ihre Witwen bei der täglichen Versorgung vernachlässige. Die Zwölf schal-
teten sich in den Streit ein und schlugen eine Aufgabenteilung vor. Sie wür-
den sich fortan nur der Verkündigung widmen während andere die Armen-
pflege übernehmen sollten. Die Menge nahm diesen Vorschlag einmütig an
und so wählte man „Stephanus, einen Mann voll Glaubens und heiligen
Geistes“, dazu noch Philippus und fünf andere. Die Gemeinde wuchs und
sogar viele Priester kamen zum Glauben.
„Stephanus aber, voll Gnade und Kraft, tat Wunder und große Zeichen
unter dem Volk“. Einige in der Synagoge der Libertiner und Alexandriner,
die sich im Streitgespräch mit Stephanus nicht behaupten konnten, wiegel-
ten das Volk gegen ihn auf. Er wurde ergriffen und vor den Hohen Rat ge-
11.1. Nach der Auferstehung Jesu. Die Anfänge der Urgemeinde 363
führt. Falsche Zeugen behaupteten, ihn reden gehört zu haben, dass „dieser
Jesus von Nazareth . . . diese Stätte zerstören und die Ordnungen ändern
(wird),die uns Mose gegeben hat. Und alle, die im Rat saßen, blickten auf
ihn und sahen sein Angesicht wie eines Engels Angesicht.“
7. Als Stephanus vom Hohepriester aufgefordert wurde, zu diesen An-
schuldigungen Stellung zu nehmen, redete er zu ihnen und erinnerte sie an
die Geschichte ihres Volkes. Er sprach über Abraham, der dem Ruf Got-
tes nach Mesopotamien gefolgt war und weiter von der Fremdherrschaft in
Ägypten aus der sie durch Gott unter der Führung Moses befreit worden
waren. Dies ist der Mose, der zu den Israeliten gesagt hatte (Dtn 18,15):
„Einen Propheten wie mich wird euch der Herr, euer Gott erwecken aus
euren Brüdern“. Diesem Mose aber war das Volk nicht gehorsam gewesen
und so wurden sie von Gott in die Hand Babylons gegeben, so wie es Amos
geschrieben hatte (Am 5,25–27).
Josua übernahm die Führung von Mose und er „fand Gnade bei Gott“,
der die Heiden aus dem Land vertrieb, in dem sie sich niederließen. Salomo
baute Gott ein Haus, auch wenn er wusste, dass der Allerhöchste nicht in
einem von Händen gemachten Tempel wohnt. Es waren nun eure Väter,
welche die Propheten verfolgen und einige von denen getötet haben, die das
„Kommen des Gerechten“ weissagten. Ihr aber widerstrebt dem heiligen
Geist wie eure Väter; denn ihr seid halsstarrig, „mit verstockten Herzen
und tauben Ohren“. „Ihr habt das Gesetz empfangen durch Weisung von
Engeln und habt’s nicht gehalten“.
Sie hörten diese Rede voller Zorn. Stephanus aber, „voll heiligen Geis-
tes“, sah auf zum Himmel „und sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen
und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen“. Sie schrieen laut auf,
„stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn“. Stephanus rief den Herrn
an und sprach: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! . . . Rechne ihnen die-
se Sünde nicht an“. Daraufhin verschied er. Saulus aber stand dabei und
„hatte Gefallen an seinem Tode“. Nun setzte eine große Verfolgung der
Gemeinden ein und alle außer den Aposteln zerstreuten sich „in die Länder
Judäa und Samarien“. „Saulus aber suchte die Gemeinde zu zerstören“ und
ließ die, denen er habhaft werden konnte, ins Gefängnis werfen.
364 11. Die Apostelgeschichte
Kommentar
Zu 1. Der auferstandene Jesus zeigte sich, so der Verfasser, seinen auser-
wählten Jüngern 40 Tage lang und lehrte während der Zeit über das Reich
Gottes. Paulus schreibt jedoch, dass er nicht nur von den Zwölfen sondern
auch von 500 Brüdern und danach von Jakobus, Jesu Bruder, gesehen wor-
den sei (1 Kor 15,5ff). Die Zahl 40 ist symbolisch zu verstehen und soll
in diesem Kontext an die Offenbarung Mose auf dem Sinai erinnern (Ex
24,18). Aus der Frage der Jünger an Jesus, wann er dann wohl das König-
tum in Israel errichten wird, geht ihr Unverständnis hervor, denken sie doch
noch in Kategorien der jüdisch-messianischen Erwartung. Jesus weist sie
zurecht und betont, dass der Zeitpunkt seiner Wiederkehr allein in Gottes
Hand liegt. Diese Erklärung mit ihrem Gewicht auf der souveränen Ent-
scheidungsfreiheit Gottes zielt eigentlich auf die Zeitgenossen des Autors,
die durch die Verzögerung der Wiederkehr Jesu in Glaubensnot geraten wa-
ren und denen der Grund dafür einsichtig gemacht werden sollte. Mit dem
Abflachen der Naherwartung richtete man sich zunehmend auf Bestandssi-
cherung und den Ausbau von Organisationsstrukturen ein. Die Wiederkehr
Jesu war auf unbestimmte Zeit verschoben.
Nach der Himmelfahrt Jesu kehrten die Zwölf nach Jerusalem zurück
wo sie bereits von der versammelten Gemeinde, unter ihnen Jesu Mutter
und seine Brüder, erwartet wurden. Es scheint, dass Jesu Familie, die sich
vormals mit Jesus zerstritten hatte, nun die neue Bewegung nicht nur voll
unterstützte sondern auch eine wichtige Rolle in ihr spielte. So wird z.B.
Jesu Bruder Jakobus schon bald zum Leiter der Jerusalemer Urgemeinde
gewählt, der aber zum jetzigen Zeitpunkt noch Petrus vorsteht.
Petrus ist es auch, der die Wahl eines Nachfolgers für Judas durch ein
Losverfahren arrangiert. Das Werfen des Loses entsprach alttestamentli-
chen Brauch (z.B. Lev 16,8–10) und sollte nach diesem Verständnis Gott
selber die Entscheidung einräumen. Der Verfasser schildert kurz Ursache
und Umstände von Judas Tod als Folge eines Sturzes auf seinem durch das
Blutgeld erworbenen Gehöft. Matthäus stellt es völlig anders dar. Ihm zu-
folge soll sich Judas erhängt und das Blutgeld zurückgegeben haben (Mt
27,3–10). Auch der Bericht des Verfassers über den Ablauf der Nachwahl
weist Unstimmigkeiten auf; denn genau genommen erfüllte keiner der Kan-
didaten die Voraussetzungen für das Apostelamt. Sie waren nämlich weder
Zeugen von Jesu Taufe noch seiner Himmelfahrt gewesen.
11.1. Nach der Auferstehung Jesu. Die Anfänge der Urgemeinde 365
Heiligen redet, den der Herr nicht der Verwesung überlassen werde. Das
kann sich nur auf Jesus beziehen, der ja nach drei Tagen auferstanden war
während Davids Körper im Grab blieb. Ursprünglich aber bezog sich dieser
Text auf die Bewahrung vor der Macht des Todes, was nach altjüdischem
Verständnis bereits gegeben ist, wenn Gott seinen Frommen nicht vorzei-
tig sterben lässt. Petrus erhärtet nun noch seine Auslegung anhand von drei
weiteren alttestamentlichen Zitaten. Aus Psalm 132,11f und 2 Sam 7,12f
entnimmt er Gottes eidliche Versicherung, dass Davids Nachkommen auf
ewig seinen Thron erben werden und dieser Nachkomme ist Jesus. Gera-
de diese Textstelle verdeutlicht übrigens auch, warum sich der Verfasser,
also Lukas, so sehr um den Nachweis von Jesu davidischer Abstammung
bemüht hatte (Lk 3,23ff). Und um seine Schlussfolgerungen noch einmal
zu bestätigen, zitiert Petrus nun Psalm 110,1 aus dem unumstößlich her-
vorgehe, dass hier David bereits Jesus als den erhöhten Herrn vor Augen
gehabt hat; denn nicht er, sondern Jesus war gen Himmel aufgefahren. Die
Himmelfahrt ist gleichsam die Inthronisation Jesu zum göttlichen Welten-
herrscher. Den von Gott erhaltenen Geist, so folgert Petrus, hat er nun an die
ihn nachfolgenden Apostel weitergeleitet, wovon die Umstehenden Zeugen
waren.
Die Schuld der Juden steht also fest; denn sie haben ja den Messias hin-
richten lassen. Diese Erkenntnis durchbohrt denn auch das Herz der Hörer
und sie fragen: „Was sollen wir tun?“ Petrus ruft zur innerlichen Umkehr
vom bisherigen Leben und zur Taufe auf. Tun sie das, empfangen sie den
Heiligen Geist und die Sünden werden ihnen vergeben. Gleichzeitig sichert
es ihnen Aufnahme in der endzeitlichen Heilsgemeinde zu. Viele folgen
Petrus Aufruf und lassen sich taufen. In ihrem Fall ging also die Wasser-
taufe der Empfang des Heiligen Geists voraus. Man stelle sich aber vor,
dass an einem Tag angeblich dreitausend Menschen getauft wurden. Wie
hätte das man wohl organisatorisch bewerkstelligen sollen, insbesondere
wenn man noch das Erfordernis einer zumindest rudimentären Einweisung
hinzurechnet? Auf jeden Fall bietet sich in der Vorstellung vom gemein-
samen Beten und Brechen von Brot und dem des miteinander Teilens ein
Bild der Einmütigkeit. Allerdings darf man dies nicht einer Gütergemein-
schaft im kommunistischen Sinne gleichsetzen; denn das Privatvermögen
blieb ja bestehen und wurde nur nach Bedarf verkauft. Auffallend ist auch,
dass man weiterhin den Tempel besuchte, woraus zu folgern ist, dass ur-
11.1. Nach der Auferstehung Jesu. Die Anfänge der Urgemeinde 367
sprünglich gar kein Bruch mit dem Judentum beabsichtigt war, der aber
langfristig auf Grund der unterschiedlichen Glaubenspraxis mit dem Fokus
der Christen auf Jesus unvermeidlich war.
Zu 3. Petrus heilt einen seit Geburt gelähmten Bettler und ruft damit
Verwunderung und Entsetzen unter den Zeugen der Wundertat hervor. Er
weist allerdings darauf hin, dass letztlich nur der Glaube geholfen hatte
und Jesus der wahre Urheber der Heilung ist. In seiner Rede, nicht un-
ähnlich der Pfingstrede, hebt er wieder die Schuld der Juden am Tod Jesu
hervor, obwohl sie zugegebenermaßen aus Unwissenheit gehandelt hatten.
Im Johannes-Evangelium wird im Gegensatz dazu jedoch immer wieder
die Verstocktheit der Juden betont, die sich der Erkenntnis von Jesu gött-
licher Herkunft bewusst verschlossen hatten, denn anhand seiner Zeichen
und Wunder hätten sie es doch besser wissen müssen. Wieder ruft Petrus
seine Hörer zur Umkehr auf. Eigentlich sollte ja den Juden zunächst das
mit Jesus bereitliegende Heil gelten. Mit Blick auf Mose aber warnt er sie
auch vor ihrem Verderben, sollten sie seinem Ruf nicht Folge leisten. Ein-
zig in Jesus liegt das Heil, der christliche Alleinvertretungsanspruch nimmt
Formen an.
Zu 4. Vielleicht wegen eines Menschenauflaufs, der durch Petrus Wir-
ken hervorgerufen worden war, lässt man ihn und Johannes verhaften und
abführen. Dass die Sadduzäer Petrus Lehre von Jesu Auferstehung zum
Anlass der Verhaftung nahmen, erscheint nicht einleuchtend; denn dann
hätte man eigentlich auch die Gesamtheit der Pharisäer, die an die Aufer-
stehung glaubten, verhaften müssen. Jedenfalls werden sie von Mitgliedern
des Hohen Rats gefragt, aus welcher Kraft sie ihre Tat getan hätten. Pe-
trus gibt ironisch zurück, ob sie wohl wegen einer Wohltat verhört werden,
und führt weiter aus, dass all dies im Namen des von ihnen verworfenen
Jesus Christus geschah. Die Oberen konnten wohl wenig mit Petrus Aus-
legung anfangen und ließen die beiden Jünger wieder laufen, warnten sie
aber, nicht weiter im Namen Jesu zu predigen.
Die Jünger fühlten sich als die wahren Sieger in dieser ersten Konfron-
tation mit ihren Gegnern, was dann auch durch das Beben im Anschluss
des Gebetes im Kreise der Gemeinde eine Bestätigung fand. Nach antikem
Verständnis symbolisiert es das Erhören durch die Gottheit. Die Gemeinde
fühlte sich gestärkt und ihre Mitglieder waren wie ein Herz und eine See-
le. Barnabas geht mit der Übergabe vom Verkauferlös seines Besitzes als
368 11. Die Apostelgeschichte
Apostel peinlich und man fühlt sich durch ihr Predigen in aller Offenheit
brüskiert. Um ja nicht das Volk zu reizen, das sich wohl auf die Seite der
Apostel geschlagen hatte, ordnet man ihr Verhör vor dem Rat an, vermeidet
dabei aber jegliche Gewaltanwendung. Sprecher des Hohen Rats werfen
den Aposteln Missachtung des Redeverbots vor und dass sie göttliche Ver-
geltung über sie bringen wollen. Petrus, als Sprecher der Zwölf, erwidert
ganz im Wortlaut, wie sich Sokrates bei seinem Prozess geäußert hatte, dass
sie Gott mehr gehorchen müssten als den Menschen. Er beschuldigt seine
Ankläger weiter, dass sie den von Gott zum Herrn der Welt erhöhten Jesus
getötet hatten. Diese Worte reizen die Ratsmitglieder derart, dass viele ihre
Hinrichtung fordern, doch nehmen sie davon Abstand nachdem Gamaliel
mit Hinweis auf das bekannte Schicksal von zwei schwärmerischen Wider-
ständlern sie davon überzeugen konnte, dass man am besten den Dingen
ihren Lauf lässt. Allerdings unterlief dem Verfasser hier ein Fehler (Apg
5,36); denn von der Bewegung des Theudas hätte man zu der Zeit noch gar
nichts wissen können. Sie ist auf die Jahre 44–46 n. Chr. datiert, also mehr
als zehn Jahre nach dieser Verhandlung. Man lässt die Apostel noch einmal
unter Erneuerung des Redeverbots gehen. Die aber setzen ihr Engagement
von Lehre und Verkündigung mit erneuerter Zuversicht fort und begreifen
die Schmach ihrer Geißelung als Auszeichnung im Dienste ihres Herrn.
Zu 6. Der Vorfall um Hananias und seine Frau beschädigt ein wenig
das Bild vom Zusammenleben in Eintracht und Brüderlichkeit. Weitere Zei-
chen der Zwietracht sind am „Murren unter den griechischen Juden“, die
sich über die Benachteiligung ihrer Witwen bei der Armenpflege beschwe-
ren, erkennbar. Es scheint, dass sich in der Gemeinde zwei Gruppen her-
ausgebildet hatten, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Sozialisierung
voneinander abgrenzten. Damit zeichnet sich schon früh eine Spaltung ab
und zwar zwischen den sog. Hellenisten, also den aus der Diaspora heim-
gekehrten und neu ansässig gewordenen griechisch-sprechenden Juden und
den alt eingesessenen palästinischen, aramäisch sprechenden Juden. Das
Los der jüdischen Witwen war schon immer trostlos gewesen, aber die Si-
tuation der hellenistischen Frauen war besonders beklagenswert; denn nach
dem Tod ihrer Männer standen sie isoliert und mittellos da. Wenn nun diese
bei der Gemeindefürsorge übersehen wurden, dann musste es tiefe Verbit-
terung ausgelöst haben und mit der Zeit wuchs sich diese Benachteiligung
zu einer Krise in der Gemeinde aus. Das Problem suchte man durch ei-
370 11. Die Apostelgeschichte
ne Aufteilung der Aufgaben zu lösen wobei man für den Tischdienst, also
der Vorläufer der späteren Diakonie, gerade unter den Hellenisten sieben
gut beleumundete Armenpfleger aussuchte. Wenn der Verfasser praktisch
im selben Atemzug die Bekehrung vieler Priester erwähnt, dann soll damit
wohl der Eindruck von Spannungen in der Gemeinde gemildert werden.
Viele der etwa 8 000 Priester in Judäa, wenn sie nicht gerade der aristokra-
tischen Oberschicht angehörten, lebten oft in erbärmlichen Verhältnissen
und einige von ihnen sollen sogar, wie der Historiker Josephus berichtet,
den Hungertod erlitten haben, bezeichnend für die tiefe soziale Kluft in der
damaligen Gesellschaft.
Es verwundert nun aber, dass die Armenpfleger sich nicht nur um die
Versorgung der Notleidenden kümmerten sondern darüber hinaus auch in
Lehre und Verkündigung tätig waren. Das lässt eher darauf schließen, dass
die Entfremdung zwischen den beiden Parteien mit dem Entschluss zur
Aufgabenteilung nicht beseitigt worden war. Insbesondere Stephanus wur-
de zudem ein außergewöhnliches Wunderwirken nachgesagt. Er war an das
eher liberale hellenistische Denken gewöhnt und hatte sich wohl einige
Freiheit bei der Auslegung des Gesetzes genommen was auf Befremden
bei den hebräischen Judenchristen gestoßen sein mag und die Juden provo-
zierte. Anstoß dürfte insbesondere seine Lehre gegeben haben, dass es in
Jesus eine neue Offenbarung gibt, die jene des Mose übersteigt und dass
dies daher Konsequenzen für die Geltung des Gesetzes hat. Es würde ja be-
deuten, dass, wenn nur im Namen Jesu eine Vergebung der Sünden möglich
ist, der ganze Tempelkult obsolet geworden ist. Aus dieser Überlegung her-
aus werden wohl die Männer aus der Synagoge der Libertiner (Nachfahren
freigelassener ehemaliger Sklaven) ihre Anklage formuliert und dem Ho-
hen Rat vorgebracht haben.
Zu 7. So wird Stephanus vor den Hohen Rat gezerrt, dass er sich recht-
fertige. Aber anstatt nun auf die Punkte der Anklage einzugehen, setzt er
zu einer langen Verteidigungsrede an, mit der er die Geschichte Israels mit
Gott aufrollt. Es ist unglaubwürdig, dass der Hohe Rat die ganze Zeit seiner
Darlegung schweigend zugehört haben soll. An dem Beispiel der Rede des
Stephanus wird die literarische Absicht des Verfassers besonders deutlich.
Diese Reden, die immer wieder den Handlungsablauf unterbrechen, fol-
gen zumeist einem bestimmten Schema und zwar dem des Ungehorsams
und der Schuld der Juden mit der das heilvolle Handeln Gottes kontrastiert
11.1. Nach der Auferstehung Jesu. Die Anfänge der Urgemeinde 371
breitung des Glaubens über die Grenzen von Jerusalem hinweg. Christliche
Gemeinden formieren sich nun andernorts, so in Antiochia und Damaskus.
9. “Saulus aber schnaubte noch mit Drohen und Morden gegen die Jün-
ger des Herrn“. Er ließ sich vom Hohenpriester einen Brief nach Damaskus
ausstellen, damit er die Anhänger des Herrn dort aufspüren und gefesselt
nach Jerusalem führen könne. „Als er aber auf dem Wege war und in die
Nähe von Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Him-
mel und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm:
Saul, Saul; was verfolgst du mich? Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der
sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Steh auf und geh in die Stadt; da
wird man dir sagen, was du tun sollst.“
Die Männer, die bei ihm waren, hatten nur die Stimme gehört aber
nichts gesehen. Saulus aber blieb drei Tage lang blind. Während dieser Zeit
aß und trank er nicht. Man brachte ihn nach Damaskus wo er einquartiert
wurde. Zu ihm kam ein Jünger namens Hananias, der in sein Haus vom
Geist geleitet worden war mit dem Auftrag, die Hand auf Saulus zu legen,
dass dieser wieder sehend und vom heiligen Geist erfüllt werde; denn Sau-
lus sollte Gottes auserwähltes Werkzeug sein, werde dafür aber viel Leid
tragen müssen. Als nun Hananias ihm die Hand auflegte, da „fiel es von
seinen Augen wie Schuppen, und er wurde sehend“. Saulus ließ sich taufen
und nahm wieder Speis und Trank zu sich.
Saulus blieb noch einige Tage „und alsbald predigte er in den Synago-
gen von Jesus, dass dieser Gottes Sohn sei.“ Die Leute, die ihn hörten, wa-
ren verstört, denn sie wussten, dass Saulus gekommen war, die Jünger zu
verhaften. Saulus aber trieb die Juden mit der Kraft des Wortes in die Enge
und so beschlossen sie, ihn zu töten. Doch er bekam Wind von dem Kom-
plott und ließ sich des nachts „in einem Korb die Mauer hinab.“ Er kam
dann nach Jerusalem zu den Jüngern, die sich anfangs vor ihm fürchteten,
aber Barnabas legte ein Wort für ihn ein und berichtete von dem Geschehen
in Damaskus. So verblieb er noch einige Tage in Jerusalem, predigte und
„stritt auch mit den griechischen Juden“. Da sie um sein Leben fürchte-
ten, geleiteten ihn die Jünger nach Caesarea und „schickten ihn weiter nach
Tarsus“. Die Gemeinden im ganzen Lande hatten nun Frieden.
„Es geschah aber, als Petrus überall im Land umherzog, dass er auch zu
den“ Christen in Lydda an der Küste kam. Dort traf er einen Mann an, der
seit acht Jahren gelähmt war und Petrus heilte ihn im Namen Jesu. Nahebei,
in Joppe, war eine Jüngerin namens Tabita verstorben, die sich durch viele
gute Werke hervorgetan hatte. Man sandte nach Petrus und als dieser kam,
374 11. Die Apostelgeschichte
traf er viele weinende Frauen an. Er trieb sie alle hinaus, kniete nieder,
„betete und wandte sich zu dem Leichnam und sprach: Tabita, steh auf!
Und sie schlug die Augen auf und als sie Petrus sah, setzte sie sich auf“.
Viele, die von Petrus Tat hörten, kamen zum Glauben.
10. In Caesarea lebte ein römischer Hauptmann namens Kornelius mit
seiner Familie. Er und mit ihm sein Haus waren fromm und gottesfürch-
tig. Er betete viel und gab auch reichlich Almosen. Eines Tages erschien
Kornelius ein Engel, der ihm auftrug, in Joppe nach einem Simon Petrus
zu senden. Kornelius tat wie geheißen. Während die von ihm gesandten
Männer noch auf dem Weg waren, stieg Petrus auf das Dach des Hauses,
um zu beten. Da er hungrig war, bat er um etwas zu essen. „Während sie
ihm aber etwas zubereiteten, geriet er in Verzückung“. Und er erblickte ein
vom Himmel herabgelassenes Tuch auf dem sich allerlei Tiere und Vögel
befanden. Eine Stimme befahl ihm, diese zu schlachten. Petrus zögerte und
wand ein, dass es verboten wäre, etwas Unreines zu essen. Die Stimme aber
sprach: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten“. Dreimal
geschah dies bevor das Tuch wieder zum Himmel hinaufgenommen wurde.
Als Petrus noch über die Bedeutung der Erscheinung nachsann befahl ihm
der Geist, hinabzusteigen; denn drei Männer suchten ihn. Diese waren zu
ihm von dem Geist gesandt worden.
Petrus beherbergte die Männer und zog am nächsten Tag mit ihnen nach
Caesarea. Dort erwarteten ihn bereits Kornelius mit Verwandten und Freun-
den. Als Kornelius Petrus erblickte, fiel er ihm zu Füssen und betete ihn an.
„Petrus aber richtete ihn auf und sprach: „Steh auf, ich bin auch nur ein
Mensch.“ Und er sagte weiter, dass es eigentlich einem jüdischen Manne
nicht erlaubt sei, mit einem Fremden zu verkehren, doch Gott habe ihm
gezeigt, dass man keinen Menschen als unrein ansehen solle. Kornelius be-
richtete von seiner Erscheinung woraufhin Petrus sagte: „Nun erfahre ich
in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht; sondern in jedem Volk, wer
ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm.“ Und er lehrte über Chris-
tus, der getötet doch von Gott wieder auferweckt worden war. Jesus selbst
hatte ihnen geboten, seine Zeugen zu sein, so dass alle durch seinen Na-
men die „Vergebung der Sünden empfangen sollen.“ Während Petrus noch
sprach, „fiel der heilige Geist auf alle, die dem Wort zuhörten.“ Und die
gläubig gewordenen Juden gerieten außer sich, dass nun die Gabe des hei-
ligen Geistes auch auf Heiden ausgegossen wurde; „denn sie hörten, dass
11.2. Die Ausbreitung des christlichen Glaubens in Palästina 375
sie in Zungen redeten und Gott hoch priesen.“ Petrus aber befahl, dass man
sie in dem Namen Jesu Christi taufe.
11. Die Apostel und Brüder in Jerusalem hörten, dass Petrus bei Nicht-
juden eingekehrt war und mit ihnen das Mahl geteilt hatte, und als er wieder
nach Jerusalem zurückkehrte machten die gläubig gewordenen Juden ihm
deswegen Vorwürfe. Petrus aber erzählte ihnen von der Erscheinung und
der Stimme, die ihn über die wahre Reinheit belehrt hatte. Der Geist hat-
te die Begegnung herbeigebracht und die Anwesenden erfüllt. „Wenn nun
Gott ihnen die gleiche Gabe gegeben hat wie auch uns, die wir zum Glau-
ben gekommen sind an den Herrn Jesus Christus: wer war ich, dass ich Gott
wehren konnte.“ Die das aber hörten, was Petrus berichtete, sprachen: „So
hat Gott auch den Heiden die Umkehr gegeben, die zum Leben führt!“
Die aber von der Verfolgung wegen des Stephanus geflohen waren „gin-
gen bis nach Phönizien und Zypern und Antiochia“ und verkündeten dort
den Juden das Wort. Einige unter ihnen predigten das Evangelium den Grie-
chen „und eine große Zahl wurde gläubig“. Die Kunde davon erreichte auch
die Gemeinde in Jerusalem und sie sandte Barnabas nach Antiochia, um die
dortige Situation zu erkunden. Er gewann einen erfreulichen Eindruck und
holte noch Saulus aus Tarsus hinzu. Beide zusammen verbrachten sie ein
ganzes Jahr in Antiochia und lehrten. Es war hier, dass die Jünger erstmals
Christen genannt wurden.
Ein Prophet aus Jerusalem sagte eine große Hungersnot voraus, die den
ganzen Erdkreis treffen werde. So beschloss man, für die Brüder in Judäa
zu sammeln und diese Gabe den Ältesten dort durch Barnabas und Saulus
zu schicken.
12. Die Gemeinde in Jerusalem spürte aber die harte Hand des König
Herodes. Dieser ließ einige misshandeln und Jakobus, den Bruder des Jo-
hannes, töten. Den Juden gefiel es und so ließ Herodes auch noch Petrus
verhaften und ins Gefängnis werfen. Er wurde mit Ketten gefesselt und
von zwei Soldaten bewacht. In der Nacht erschien der Engel des Herrn und
führte ihn in die Freiheit. Die Ketten waren von seinen Händen abgefallen
und das Tor zur Stadt öffnete sich von selbst. Die Wachen merkten nichts.
Erst auf der Straße kam Petrus so richtig zu sich und begriff, dass der En-
gel des Herrn ihn errettet hatte. Als er sich wieder gefasst hatte, „ging er
zum Haus Marias, der Mutter des Johannes mit dem Beinamen Markus,
wo viele beieinander waren und beteten.“ Die Anwesenden waren über alle
376 11. Die Apostelgeschichte
Maßen erstaunt als Petrus zu ihnen kam. Er berichtete von seiner Befreiung
durch den Engel und sprach, dies auch „dem Jakobus und den Brüdern“ zu
verkündigen. „Dann ging er hinaus und zog an einen anderen Ort.“
Als man Herodes berichtete, dass Petrus nicht aufzufinden sei, „ver-
hörte er die Wachen und ließ sie abführen.“ Daraufhin zog er wieder nach
Caesarea hinab. Auf seinem Thron sitzend redete er zu den Leuten aus Ty-
rus und Sidon, die sich von ihm Frieden erbaten. Das Volk rief aus: Dies
ist die Stimme Gottes, nicht die eines Menschen. Sogleich aber wurde er
von einem Engel geschlagen und, „von Würmern zerfressen, gab er den
Geist auf.“ Das Wort Gottes aber breitete sich weiter aus. Nachdem Barna-
bas und Saulus ihre Gabe in Jerusalem überbracht hatten, kehrten sie nach
Antiochia zurück und Johannes Markus begleitete sie.
Kommentar
Zu 9. Mittels einiger erbaulicher Erzählungen verdeutlicht der Verfasser
die Ausbreitung des christlichen Glaubens über Jerusalem hinaus. Erster
Anknüpfungspunkt ist die Begegnung des Evangelisten Philippus mit dem
Magier Simon. Diese wie auch andere Schilderungen haben nur geringen
historischen Wert, da sie hauptsächlich als Glaubenszeugnisse zu verstehen
sind was ihnen einen arg gekünstelten, theologisch überfrachteten Aufbau
verleiht, der nicht frei von Brüchen ist. So lässt sich Simon zwar, beein-
druckt von Philippus Wunderwirken, taufen aber dann spielt Philippus kei-
nen Part mehr in der Episode und wird von Petrus ersetzt, der anscheinend
seine Arbeit durch die Geisttaufe zur Vollendung bringen muss, d.h. die Le-
gitimität der philippinischen Mission wird durch einen autorisierten Vertre-
ter der Jerusalemer Urgemeinde durch Handauflegung und Ausgießen des
Heiligen Geistes bestätigt. Auch Simon strebt diese Geisttaufe an; denn in
seiner Vorstellung ist damit eine Machtübertragung verbunden, und in der
Hoffnung wieder ein Großer zu werden, bietet er Petrus Geld für diese Tau-
fe an. Später wird man die Praxis des käuflichen Erwerbs geistlichen Gu-
tes als Simonie bezeichnen. Recht überzeugend ist der Vorgang aber nicht.
Warum sollte Simon für die Taufe Geld bieten wenn er sie umsonst haben
konnte? Es mag sein, dass diese Erzählung den Gläubigen klarmachen soll-
te, dass Taufe ohne inneren Wandel nutzlos ist. So handelte es sich bei dem
Glauben des Simon nur um eine Scheinbekehrung.
11.2. Die Ausbreitung des christlichen Glaubens in Palästina 377
Der Historiker Josephus berichtet in der Tat von dem Wirken eines Si-
mon Magus. Ihm zufolge soll sich seiner simonischen Bewegung in Sama-
rien der größte Teil der Bevölkerung angeschlossen haben und noch bis ins
2. Jahrhundert einflussreich gewesen sein. Nun aber ist es ein gedanklicher
Kurzschluss, dieses Phänomen auf Magie und Zauber reduzieren zu wol-
len. In Wirklichkeit war es ein Synkretismus aus samaritanisch-jüdischen
Elementen mit hellenistischem Gedankengut, wie es J. Roloff (Die Apo-
stelgeschichte) erklärt. Als solches sollte man es eher als eine Art kulturge-
schichtliches Angebot auf dem Markt der Religionen begreifen, dass dem
Bedürfnis nach Erlösung in der hellenistischen Welt Rechnung trug.
Die nächste Heilstat vollbringt Philippus an einem äthiopischen Käm-
merer, einem Eunuchen, d.h. Kastrierten. Solch einem ist nach Dtn 23,1
die Aufnahme in die jüdische Gemeinschaft verwehrt, doch ist ihm als
sog. Gottesfürchtiger eine begrenzte Teilnahme am jüdischen Kult gestat-
tet. Auffallend bei dieser Geschichte ist die Führung durch den Geist (die
Geisterfüllung ist ein gerade für die griechisch-christlichen Gemeinden ty-
pischer Wesenszug), der Philippus erst in die Öde bei Gaza führt, dann in
die Nähe des Wagens des Äthiopiers bringt (ein Nubier aus dem Bereich
des heutigen Sudans) und ihn dann wieder von ihm hinweg entrückt. Die
Vorstellung einer Geistentrückung ist typisch für die naive Gläubigkeit der
Antike. Die tiefere Bedeutung der Erzählung liegt darin, dass mit der Taufe
des Äthiopiers die christliche Mission wieder einen Schritt vorangebracht
wird. Nun wird der erste Heide, dem eine innere Umkehr zugeschrieben
wird, getauft – und dies durch göttlichen Auftrag.
Zu 9. Die Bekehrung des Saulus ist eine zentrale Erzählung für das
Christentum; denn sie beschreibt die Lebenswende ihres wohl wirkungs-
mächtigsten Missionars und Theologen. Saulus (Paulus ist sein römischer
Name) hatte sich auf den Weg gemacht, um in unbarmherzigen Hass die
Auslöschung der christlichen Sekte voranzutreiben. Sein ‚tödlicher Ernst‘
hob ihn von seinem eher liberalen und milden pharisäischen Lehrer Gama-
liel ab. Für ihn galt nur entweder-oder, Freund oder Feind. So wie Paulus
mit fanatischem Eifer das jüdische Gesetz zu bewahren suchte, so wird er
später mit brennendem Ehrgeiz seine Vorstellung einer gesetzeslosen Hei-
denmission durchzusetzen suchen. Ob Saulus für die Verfolgung der Chris-
ten überhaupt autorisiert war, wird häufig bezweifelt; denn Damaskus lag
außerhalb der Jurisdiktion des jüdischen Sanhedrin. Zuzutrauen ist es ihm
378 11. Die Apostelgeschichte
allemal, dass er auf eigene Faust die Christenhetze betrieb, vielleicht aus-
gestattet mit einem Empfehlungsschreiben des Hohen Rates.
Doch praktisch von einem Augenblick zum anderen, so erscheint es je-
denfalls, wird aus dem Todfeind der Christenheit der glühendste Verehrer
von Jesus Christus. Es hat zahlreiche Versuche gegeben, das Rätsel die-
ser Bekehrung zu lösen. Manche Exegeten folgen der Bibel wörtlich und
erkennen darin ein reales, äußerlich wahrnehmbares Geschehen. Andere
deuten es psychologisch und vermuten einen schon lange schwelenden Ge-
wissenskonflikt in Saulus, der weiter durch das Martyrium des Stephanus
angeheizt wurde und sich eines Tages eruptiv löste. Paulus selbst gibt nur
spärliche Hinweise zu seiner eigenen Bekehrung (z.B. 1 Kor 15,8). Persön-
lich bedeutete sie für ihn ein Zeugnis für seine Berufung zum Apostelamt.
Ob nun dem Ganzen ein innerer Reifungsprozess voranging oder aber, we-
niger wahrscheinlich, ein singuläres Ereignis der auslösende Faktor war, in
Paulus sollte jedenfalls die Heidenmission ihre Führungsfigur finden.
Nun gibt es einige Unstimmigkeiten in der Bekehrungsgeschichte. Zum
einen erzählt sie Lukas gleich dreimal, wohl um ihre Wichtigkeit zu beto-
nen (Apg 9,1–9; 22,6–16; 12,18), erzählt sie aber jedes Mal unterschiedlich.
So hören in 9,7 die Männer zwar die Stimme aber sehen niemanden wäh-
rend in 22,9 es gerade umgekehrt ist. Die Flucht des Saulus aus Damaskus
ist mit Paulus eigenen Erinnerungen kaum zu harmonisieren. Nach Apg
9,23–26 wurde Paulus von den Juden mit Mordplänen verfolgt und setzte
sich nach geglückter Flucht zunächst nach Jerusalem ab. Paulus aber betont
ausdrücklich, dass er nach seiner Bekehrung zunächst nicht nach Jerusalem
ging, sondern nach Arabien, drei Jahre später nach Damaskus zurückkehrte
und von da aus erst nach Jerusalem ging (Gal 1,17f). Lukas beschuldigt die
Juden, Saulus töten zu wollen, Paulus hingegen schreibt, dass ihm der Statt-
halter des Nabatäerkönigs Aretas nachstellte (2 Kor 11,32f). Offensichtlich
war Lukas der Arabienaufenthalt des Paulus nicht bekannt gewesen und so
rückt er den ersten Jerusalembesuch unmittelbar an die Zeit nach seiner Be-
kehrung heran. Wahrscheinlich hatte sich Paulus aus Arabien zurückziehen
müssen, weil er dem dortigen König lästig geworden war. Vom Statthalter
des Königs, der seinerzeit Damaskus beherrschte, bedrängt, entzog er sich
durch die Flucht nach Jerusalem.
Nicht weniger zweifelhaft ist Lukas Beschreibung von Paulus Aufent-
halt in Jerusalem, wo er sich anscheinend mit den Aposteln verbrüderte.
11.2. Die Ausbreitung des christlichen Glaubens in Palästina 379
Das anschaulich gemalte Bild eines Paulus, gleichsam Arm in Arm mit
den apostolischen Oberhäuptern Jerusalem durchwandernd (Apg 9,26–28),
geht ja wohl an der Wirklichkeit vorbei. Paulus schreibt nur von einer flüch-
tigen Begegnung mit Petrus und Jakobus während er die anderen Apostel
nicht traf (Gal 1,18f). So ganz nebenbei erfahren wir aber, dass sich auch
bereits in Galiläa, dem Heimatland Jesu, christliche Gemeinden gebildet
hatten. Überall in Palästina scheinen nun Ableger der Jerusalemer Urge-
meinde zu entstehen oder bereits entstanden zu sein.
Der Verfasser fügt nun zwei erbauliche Wundergeschichten ein, die zur
Hinführung zum eigentlichen Höhepunkt dienen, der Bekehrung des Kor-
nelius. Bemerkenswert an diesen Erzählungen ist, dass die Heilung des ge-
lähmten Mannes durch Petrus auffallend an Mk 2,1–12 erinnert und er die
verstorbene Christin mit der gleichen Formel aufweckt, die Jesus schon
verwendet hatte (Mk 5,41). Das soll wohl besagen, dass der eigentliche
Wohltäter Jesus selbst ist.
Zu 10. Petrus Begegnung mit Kornelius ist nicht nur eine Bekehrungs-
geschichte, sondern sie markiert vor allem einen entscheidenden Wende-
punkt des Christentums; denn mit ihr werden die grundsätzlichen Fragen
der christlichen Mission verhandelt, nämlich inwiefern der Übertritt eines
Heiden zum christlichen Glauben auch die Unterordnung unter das jüdi-
sche Gesetz erfordert. Noch verstanden sich die christlichen Gemeinden
ja als Teil des Judentums und sahen sich zunächst nur zu einer inneren
Erneuerung Israels berufen. Im Vordergrund stand zunächst das Speisege-
bot, das Problem der Tischgemeinschaft einschließlich des gemeinsamen
Abendmahls. Ohne ein echtes Miteinander hier blieb die Forderung nach
einer Vertiefung der Gemeinschaft in der Gemeinde lediglich ein formaler
Anspruch.
Petrus wird nun selbst durch einen Eingriff Gottes gezeigt, dass für
die Christen die zuvor geltenden jüdischen Reinheitsvorschriften aufgeho-
ben sind. Schritt für Schritt wird er zur Einsicht gebracht, dass Gott alle
Menschen in sein Heil einschließen will und dass deshalb die religiösen
Schranken überwunden werden müssen. Der Hauptmann Kornelius war
zwar fromm aber doch nur ein Gottesfürchtiger, da unbeschnitten. Vom jü-
dischen Standpunkt aus galt er als unrein. Petrus wird nun mittels eines
vom Himmel hinuntergelassenen Tuches, auf dem sich ein Gemenge von
reinen und unreinen Tieren befindet, klar gemacht, dass für Gott menschli-
380 11. Die Apostelgeschichte
ab, die Tür wurde von unsichtbaren Händen geöffnet, die Wachen waren
in einen ‚zauberhaften Tiefschlaf‘ gefallen und er selbst, als ob noch im
Traumzustand, herausgeführt. Wenn das man kein Wunder ist.
So durchzieht das hilfreiche Wirken des Engels bzw. Geistes wie ein
roter Faden die Apostelgeschichte. Ein tatkräftiges Eingreifen der himm-
lischen Welt ist ja nun auch in der antiken Welt Bestandteil des Denkens.
Schon in der Ilias sind die griechischen Götter vollauf damit beschäftigt,
den trojanischen Krieg zu lenken und nach 2 Kön 19,35 hat ein Engel sage
und schreibe 185.000 Soldaten der assyrischen Armee in einer Nacht umge-
legt. Für die Gemeinden waren solche Geschichten natürlich glaubensstär-
kend und halfen z.B. den schnöden Tod des Jakobus zu verdrängen. Man
kann sich regelrecht vorstellen, wie früher die Hörer der dramatisch aufge-
bauten Schilderung von Petrus wunderbaren Befreiung in atemloser Span-
nung gelauscht haben. Wie dann Petrus einsam in der Nacht an die Tür des
Hauses der Maria klopft. Werden die Nachbarn etwas merken? Wird die
Flucht gelingen? Und dann die Erleichterung, dass alles gutgegangen ist.
Lukas war in der Tat ein begnadeter Schriftsteller gewesen.
Der Petruslegende lässt sich auch entnehmen, dass Veränderungen in
der Führungsstruktur der Jerusalemer Urgemeinde stattgefunden haben.
Schon in Apg 11,30 ist von den Ältesten die Rede und Petrus ordnet noch
vor seinem Weggang an, dass die Begebenheit seiner Rettung Jakobus und
den Brüdern mitgeteilt werden soll. Es scheint, dass ein neu konstituierter
Ältestenrat mit Jakobus, dem Bruder Jesu, an der Spitze von den Aposteln
die Führung der Gemeinde übernommen hat.
Barnabas und Paulus kehren aus Jerusalem nach Antiochia zurück. Ein
neues Kapitel in der Kirchengeschichte konnte beginnen. Von Antiochia
geht eine Missionsbewegung bis nach Kleinasien und Europa aus.
Propheten, verdammte ihn als „Sohn des Teufels“ und belegte ihn mit ei-
nem Fluch, dass er eine Zeitlang nicht sehen solle. Von dieser Stunde an
wurde er blind und der Statthalter, der das alles sah, wurde gläubig.
Johannes ging von hier nach Jerusalem zurück während Paulus und
Barnabas nach Antiochia in Pisidien (Kleinasien) weiterzogen. Der Vor-
steher der dortigen Synagoge bat sie, ein Wort Gottes zu reden. „Da stand
Paulus auf“ und redete zu ihnen über die Geschichte Israels von der Zeit
der Vorväter bis zu der des König David aus dessen Geschlecht Gott einen
Heiland für das ganze Volk verheißen hatte. Dieser Heiland ist Jesus Chris-
tus doch die Männer Jerusalems hatten ihn nicht erkannt und ans Kreuz
geschlagen. Gott hatte ihn aber nicht der Verwesung überlassen sondern
wieder auferweckt. Wer nun Jesus annimmt, dem wird Vergebung zuteil,
und er wird gerecht werden so wie es das Gesetz Mose nicht vermochte.
Die Gemeinde nahm Paulus Rede mit Wohlgefallen auf und bat ihn,
sie am folgenden Sabbat fortzusetzen. An diesem Tag „kam fast die ganze
Stadt zusammen, das Wort Gottes zu hören.“ Die große Zahl der Menschen
erfüllte die Juden mit Neid und sie fingen an zu lästern. Paulus aber sagte
ihnen direkt, dass, sollten sie das Wort Gottes von sich stoßen, dann werde
er sich den Heiden zuwenden, hatte doch bereits Jesaja (49,6) geschrieben:
„Ich habe dich zum Licht der Heiden gemacht, damit du das Heil seiest bis
an die Enden der Erde.“ Als nun die beiden ihre neue Lehre verbreiteten,
da hetzten die Juden die gottesfürchtigen vornehmen Frauen und Männer
gegen die Missionare auf, dass sie vertrieben wurden. Paulus und Barnabas
aber schüttelten „zum Zeugnis gegen sie“ den Staub von ihren Füssen und
begaben sich nach Ikonion.
14. Aus Ikonion mussten sie schon bald wieder flüchten, da eine von
den Juden aufgehetzte Menge sie steinigen wollte. Sie entkamen nach Ly-
kaonien (zentrales Kleinasien) „und predigten dort das Evangelium.“ In
Lystra heilte Paulus einen gelähmten Mann und das Volk glaubte, die bei-
den seien Götter in der Gestalt von Menschen. Sie nannten Barnabas Zeus
und Paulus Hermes. Als sie ihnen sogar opfern wollten, da zerrissen die
beiden Missionare ihre Kleidung und schrieen: „Ihr Männer, was macht
ihr da? Wir sind auch sterbliche Menschen wie ihr und predigen euch das
Evangelium, dass ihr euch bekehren sollt von diesen falschen Göttern zu
dem lebendigen Gott, der Himmel und Erde und das Meer und alles was
384 11. Die Apostelgeschichte
darin ist, gemacht hat.“ Dieser Gott, den ihr nicht kanntet, hat unter euch
gewirkt und für euch gesorgt, so dass ein jeder das Nötigste zum Leben hat.
Kaum konnten die beiden Apostel das Volk davon abhalten, ihnen zu
opfern, da mischten sich Juden aus Antiochia und Ikonion unter die Menge
und wiegelte sie auf, dass man Paulus steinigte. Man hielt ihn für tot aber
unter dem Schutz seiner Jünger „stand er auf und ging in die Stadt“.
Barnabas und Paulus zogen weiter und machten in den Städten wo sie
predigten viele zu Jüngern und „ermahnten sie, im Glauben zu bleiben und
sagten: Wir müssen durch viele Bedrängnisse in das Reich Gottes einge-
hen.“ Sie setzten in jeder Gemeinde Älteste ein und fuhren schließlich mit
dem Schiff zurück nach Antiochia und erstatteten ihrer Gemeinde Bericht.
Hier blieben sie eine längere Zeit.
15. Es kamen aber einige von Judäa nach Antiochia und belehrten die
Brüder, dass es der Beschneidung bedürfe, um als Jünger im Glauben an-
erkannt werden zu können. Da man sich nun untereinander stritt wurde
entschieden, dass Paulus und Barnabas zusammen mit einigen Gemein-
degliedern nach Jerusalem gehen sollten, um dort den Ältesten die Frage
der Beschneidung vorzulegen. Nachdem die beiden dort von den Ältesten
und Aposteln empfangen worden waren, mischten sich gläubig gewordene
Pharisäer ein und beharrten darauf, dass die Beschneidung notwendig sei.
Petrus aber ergriff das Wort und erinnerte sie daran, wie Gott ihm selbst ge-
zeigt habe, dass er zwischen Juden und Heiden keinen Unterschied mache.
Warum also sollte ihnen ein Joch auferlegt werden, „das weder unsre Väter
noch wir haben tragen können.“
Nachdem Paulus und Barnabas über ihre Missionsarbeit unter den Hei-
den berichtet hatten, ergriff Jakobus nun selbst das Wort. Er bestätigte die
Worte des Petrus und wies darauf hin, dass schon der Prophet Amos (9,11f)
voraussah, dass die Heiden zu Gott finden werden. Deshalb solle man ihnen
keine unnötigen Lasten auferlegen sondern ihnen nur vorschreiben, „dass
sie sich enthalten sollen von Befleckung durch Götzen und von Unzucht
und vom Erstickten und vom Blut.“
Die Gemeinde folgte dem Rat des Jakobus und beschloss, Paulus und
Barnabas zusammen mit einigen auserwählten Männern zurück nach An-
tiochia zu schicken. Auch gab man ihnen einen Brief mit, in dem der Be-
schluss der Gemeinde festgehalten war. In Antiochia wurde die Nachricht
mit Freude aufgenommen. Silas und andere Propheten aus Jerusalem blie-
11.3. Die Missionsreisen des Paulus (Apg 13 – 20) 385
ben noch eine Weile, lehrten und mahnten die Brüder und gingen dann
wieder zurück nach Jerusalem.
Paulus und Barnabas entschlossen sich nach einer längeren Weile zu
einer zweiten Missionsreise. Allerdings kam es zwischen den beiden zum
Bruch, da Barnabas darauf beharrte, Johannes Markus mitzunehmen wäh-
rend Paulus „es nicht für richtig hielt, jemanden mitzunehmen, der sie in
Pamphylien verlassen hatte“. So zog man getrennt weiter, Mission zu trei-
ben, Barnabas mit Markus und Paulus mit Silas.
16. In Kleinasien fand Paulus in Timotheus einen weiteren Jünger für
die Weiterreise. Da aber Timotheus der Sohn einer gläubigen Jüdin und ei-
nes griechischen Vaters war, ließ er ihn beschneiden. In den Städten auf ih-
rem Weg festigten sie dort die Gemeinden im Glauben und teilten ihnen die
Beschlüsse der Apostelversammlung in Jerusalem mit. Der heilige Geist
leitete sie, verwehrte ihnen die Reise in bestimmte Provinzen und brachte
sie schließlich in das legendäre Troas. Dort hatte Paulus des nachts die Er-
scheinung eines Mannes aus Mazedonien, der ihn bat, nach Mazedonien zu
kommen und den Menschen dort zu helfen.
So setzten sie nach Mazedonien über und kamen nach Philippi, der
wichtigsten Stadt dieser römischen Provinz. Am Sabbattag suchten Pau-
lus und seine Begleiter die Frauen am Fluss auf, die dort regelmäßig zu-
sammenkamen und gewannen Lydia, eine gottesfürchtige Purpurhändlerin,
für den Glauben an Christus. Auch ihr ganzes Haus bekehrte sich und die
Missionare wurden hier als Gäste aufgenommen.
Eines Tages kam ihnen auf dem Weg zur Gebetsstätte eine Sklavin mit
einem Wahrsagegeist entgegen, deren prophetische Gaben ihren Herren viel
Gewinn einbrachte. Diese Frau wurde ihnen allmählich lästig, da sie ih-
nen immerzu folgte und dabei unaufhörlich schrie: „Diese Menschen sind
Knechte des allerhöchsten Gottes, die euch den Weg des Heils verkündi-
gen.“ Im Namen Jesu befahl Paulus, dass ihr der böse Geist ausfahre. Als
der Geist nun die Sklavin verlassen hatte, da sahen sich die Eigentümer
um ihren Gewinn gebracht. Im Zorn ergriffen die Männer Paulus und Silas,
schleppten sie vor die Stadtrichter und klagten sie an, dass diese Aufruhr in
der Stadt verursachten und falsche Ordnungen verkündigten.
Paulus und Silas wurden geschlagen und ins Gefängnis geworfen. Sie
beteten „und die Gefangenen hörten sie“. Da geschah ein großes Erdbe-
ben. Das Gebäude wankte, die Türen öffneten sich und von den Gefange-
386 11. Die Apostelgeschichte
nen fielen alle Fesseln ab. Der Aufseher, der das alles sah, wollte sich in
sein Schwert stürzen, doch Paulus hielt ihn davon ab und versicherte ihm,
dass keiner der Gefangenen entflohen sei. Zitternd fiel er Paulus und Silas
zu Füßen und fragte, was er tun müsse, um gerettet zu werden. „Sie spra-
chen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!“ Er und
die Seinen ließen sich taufen und anschließend bewirtete er die beiden in
seinem Hause. Als am nächsten Tag die Stadtrichter verfügten, dass Pau-
lus und Silas freigelassen werden sollten, sprach Paulus, dass man ihnen
als römische Bürger Unrecht angetan habe und dass die Stadtrichter selbst
kommen und sie hinausführen sollten. Die Stadtrichter waren bestürzt, re-
deten ihnen gut zu und baten sie, die Stadt zu verlassen. Die Missionare
verabschiedeten sich von Lydia und ihren Brüdern und machten sich wie-
der auf den Weg.
17. In Thessalonich konnten sie viele gottesfürchtige Griechen, darun-
ter auch angesehene Frauen, für den Glauben gewinnen. Die Juden aber er-
eiferten sich und da sie Paulus und Silas selbst nicht habhaft werden konn-
ten, schleppten sie den Wirt der Missionare und andere vor die Oberen der
Stadt und klagten sie an, dass sie Aufrührer beherbergen. Diese lehnen sich
gegen des Kaisers Gebote auf und verkündigen Jesus als König, so redeten
sie gegen die Missionare. Die Angeklagten wurden erst gegen eine Kaution
wieder freigelassen.
Auch im nächsten Ort brach bald wieder Unruhe aus, und es wurde
beschlossen, dass man Paulus zu seiner Sicherheit bis nach Athen gelei-
te, während Silas und Timotheus vorerst zurück bleiben sollten. Der An-
blick all der Götzenbilder in Athen verstimmte Paulus und er suchte das
Streitgespräch mit den dortigen Philosophen. Diese aber sahen in ihm einen
Schwätzer, der nur fremde Götter verkündigen wolle. Da sie aber an allen
neuen Lehren interessiert waren, nahmen sie Paulus mit zum Areopag, dass
er sich dort erkläre. Paulus redete zu ihnen über den Altar in der Stadt, der
die Inschrift trug: „Dem unbekannten Gott.“ Diesen nun wollte Paulus den
Menschen hier verkündigen. Er sprach vom Schöpfergott, den man suchen
solle; denn dieser „ist nicht ferne von einem jeden von uns . . . In ihm le-
ben, weben und sind wir, wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben:
Wir sind eines Geschlechts.“ Gott darf aber nicht mit menschengemachten
Bildern verwechselt werden. Bisher lebten die Menschen in Unwissenheit,
nun aber ist es an der Zeit, Busse zu tun. Gott hat einen Menschen erwählt
11.3. Die Missionsreisen des Paulus (Apg 13 – 20) 387
und ihn vom Tode zum Leben erweckt, dass sie alle zum Glauben kommen.
Die meisten spotteten über Paulus Rede von der Auferstehung der Toten;
nur einige fanden zum Glauben und schlossen sich ihm an.
18. Paulus verließ Athen und kam nach Korinth. Dort tat er sich mit
Aquila und Priszilla, ein jüdisches Ehepaar, zusammen. Sie hatten Rom we-
gen eines Edikts des Kaisers Klaudius verlassen müssen. Beide waren wie
er von Beruf Zeltmacher. Neben seiner Arbeit lehrte Paulus in der örtlichen
Synagoge und brachte viele Juden und Griechen zum Glauben, unter ih-
nen den Vorsteher der Synagoge. Nachdem Silas und Timotheus auch nach
Korinth gekommen waren, vermochte er sich ganz auf die Verkündigung
konzentrieren. Zu den Juden aber, die sich ihm widersetzten, sagte er: „Eu-
er Blut komme über euer Haupt, ohne Schuld gehe ich von nun an zu den
Heiden.“
„Es sprach aber der Herr durch eine Erscheinung in der Nacht zu Pau-
lus: Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht! Denn ich bin
mit dir und niemand soll sich unterstehen, dir zu schaden; denn ich ha-
be ein großes Volk in dieser Stadt.“ So blieb Paulus anderthalb Jahre in
dieser Stadt und lehrte das Wort Gottes. Als aber ein neuer Statthalter na-
mens Gallio in Achaja ernannt wurde, zogen empörte Juden Paulus vor den
Richterstuhl. Doch der Statthalter wies ihre Anklage zurück; denn Fragen
über jüdische Religion interessierten ihn nicht. Die wutentbrannte Volks-
menge fiel danach über den neuen Vorsitzenden der Synagoge her „und
(sie) schlugen ihn vor dem Richterstuhl“, aber der Statthalter nahm keine
Notiz von ihnen.
Längere Zeit später machte sich Paulus auf den Rückweg nach Antio-
chia. Vor der Abreise ließ er sich sein Haupt wegen eines Gelübdes scheren.
Er zog durch Ephesus, Caesarea und Jerusalem und von dort wieder hinab
nach Antiochia. Doch es hielt ihn dort nicht lange und schon bald brach
er zu seiner dritten Missionsreise auf, die ihn zunächst durch Gebiete in
Kleinasien führen sollte.
19. Nach Ephesus war ein Mann namens Apollos gekommen, der im
brennenden Geist Jesus verkündigte, doch nur von der Taufe des Johannes
wusste. Aquila und Priszilla, die Paulus seinerzeit bis Ephesus begleitet
hatten, halfen ihm, das Wort Gottes besser zu verstehen. Die Jünger gaben
ihm einen Empfehlungsbrief und so reiste er später nach Korinth in Achaja.
388 11. Die Apostelgeschichte
Paulus machte sich zu Fuß auf den Rückweg während die anderen Jün-
ger ihm im Schiff vorausfuhren. Bei einem späteren Aufenthalt wurde Pau-
lus an Bord genommen. Man erreichte schließlich Milet an der Küste von
Kleinasien. Aus Ephesus, das Paulus aus Zeitgründen nicht aufsuchen woll-
te, kamen die von ihm gerufenen Gemeindeältesten und er hielt ihnen eine
lange Abschiedsrede. Er bezeugte ihnen, dass er dem Herrn durch alle An-
fechtungen gedient hatte, viele zum Glauben geführt habe aber nun nach
Jerusalem fahren werde und doch nicht weiß, was ihm dort begegnen wer-
de, „nur dass der heilige Geist in allen Städten mir bezeugt, dass Fesseln
und Bedrängnisse auf mich warten.“ Hinfort werden sie ihn nicht mehr se-
hen. Er ermahnte sie, auf sich selbst und die Herde acht zu geben, „in der
euch der heilige Geist eingesetzt hat zu Bischöfen, zu weiden die Gemeinde
Gottes, die er durch sein eigenes Blut erworben hat.“
Er wisse, so Paulus weiter, dass nach ihm reißende Wölfe mit Irrlehren
zu ihnen kommen werden. So gilt es, wachsam zu bleiben. Paulus wies
auf seine Hände mit denen er seinen Unterhalt verdient hatte. Nie war er
jemanden zur Last gefallen und immer hat er sich nach dem Wort Jesu
gerichtet: „Geben ist seliger als nehmen“. Nach diesen Worten kniete er
nieder und betete mit allen. Betrübt und weinend geleiteten die Jünger ihn
daraufhin zum Schiff.
Kommentar
Die Schilderung der Missionsreisen des Paulus mit ihren Mühsalen und Ge-
fahren, in ihrem Auf und Ab von Erfolg und Rückschlägen, bildet das Herz-
stück der Apostelgeschichte. Rechtfertigung und Begründung der Mission
erst zu den Juden und dann zu den Heiden wird in eingeschobenen Re-
deteilen und dem Bericht über den Apostelkonvent gegeben. Vier größere
Themen sind erkennbar: 1) die Legitimation und Führung der Missionsar-
beit durch den Heiligen Geist als Ausdruck des Willen Gottes; 2) die wie-
derkehrende Ablehnung und Verfolgung durch die Juden und der Erweis
der Legalität des christlichen Glaubens aufgrund schonender Behandlung
durch die römische Staatsmacht; 3) Aufweis der Überlegenheit des Chris-
tentums über das Heidentum durch Demonstrationen seiner Macht durch
Wunderwerke und 4) das Wirken des Paulus als das eines idealen Missio-
nars und Vorbild für die Christen. Diese vier Themen sind eingebettet in
390 11. Die Apostelgeschichte
Lukas theologischer Konzeption von Verheißung und Erfüllung als der Weg
des Heils.
Zu 13. Es ist der Beginn des großen Missionswerkes, die Entstehung
einer heidenchristlichen Kirche. Barnabas und Paulus wurden vom Geist
selbst für den Dienst der Evangelisation ausgewählt. Die Berufung erfolg-
te während einer Besinnungsphase, in der die prophetisch begabten Ge-
meindeglieder sich durch Beten und Fasten auf den Empfang des Heiligen
Geistes vorbereiteten. Die Reise, auf der sie von Johannes Markus begleitet
wurden, führte sie zunächst nach Zypern. Dort ließ der römische Prokonsul
sie rufen, da er Näheres über den neuen Glauben erfahren wollte. Doch ein
falscher Prophet und Zauberer, wohl ein Hofastrologe, stellte sich ihnen in
den Weg, wahrscheinlich weil er den Verlust von Einfluss und Pfründen be-
fürchtete. In einer Machtdemonstration, in der es letztlich um einen Kampf
zwischen Gott und widernatürlichen Mächten ging, bezwang Paulus den
Magier. Dieser Erfolg überzeugte den Prokonsul von der Überlegenheit der
neuen Religion, und er wurde gläubig.
Die Erzählung, die an die Auseinandersetzung zwischen Petrus und Si-
mon den Magier erinnert, soll die Überlegenheit des christlichen Glaubens
aufzeigen. Ihr geschichtlicher Hintergrund ist wohl der ständige Konkur-
renzkampf, in dem sich das Christentum mit wandernden Propheten, Gauk-
lern und Magiern befand. So sah es sich genötigt, sich mit eigenen Macht-
demonstrationen zu beweisen.
Johannes Markus wird lediglich als Gehilfe bezeichnet, von einer Be-
rufung durch den Geist ist nicht die Rede. Dieser Kunstgriff des Verfassers
erlaubt es, seine eigenwillige Rückkehr nicht als Ungehorsam gegen den
Geist zu werten. So zogen also Barnabas und Paulus alleine durch Klein-
asien weiter. Dabei missionierten sie in Städten was den Vorteil bot, dass es
hier jüdische Synagogen gab, die sich für sie als ersten Anlaufpunkt darbo-
ten, und vom strategischen Gesichtspunkt war es von hier aus leichter, die
Botschaft ins Umland zu tragen.
Schon in Antiochia in Pisidien bot sich Paulus eine erste Gelegenheit
in der Synagoge sein Publikum, das sich aus Juden und heidnischen Sym-
pathisanten, die sog. Gottesfürchtigen, zusammensetzte, anzusprechen. Mit
einem heilsgeschichtlichen Rückblick und allerdings fragwürdigen Bewei-
sen aus der Schrift belegte er, dass Jesus in der Tat der erwartete Retter
seines Volkes ist. Er war von den Juden getötet worden aber Gott hatte ihn
11.3. Die Missionsreisen des Paulus (Apg 13 – 20) 391
ihren Ursprung nahm, ist mehr als unglaubwürdig. Der Verfasser griff wohl
auf eine alte phrygische Sage über die Einkehr von Zeus und Hermes in
Menschengestalt zurück, die auch dem römischen Dichter Ovid als Vorlage
diente. Lukas mag mit dieser Sage die Ursünde des Heidentums hat hervor-
heben wollen, nämlich die Aufhebung der Grenze zwischen dem Gott und
dem Menschen.
Die erste Missionsreise ist beendet. Der Rückweg führte sie über die
von ihnen gegründeten Gemeinden, denen sie durch die Einsetzung von
Ältesten eine erste organisatorische Struktur gaben. Nach Phil 1,1 wurden
in den griechischen Gemeinden allerdings zunächst Aufseher (griech.: epi-
skopos) eingesetzt, deren Funktion sich später in das Amt des Bischofs
entwickelte. Eine Ältestenverfassung nach jüdischem Vorbild war demnach
den von Paulus gegründeten Gemeinden fremd.
Zu 15. Im Jahre 48 n. Chr. fand der sog. Apostelkonvent statt, der
manchmal auch als erste Synode in der Kirchengeschichte bezeichnet wird.
Unter Auslegern wird immer noch kontrovers diskutiert ob die erste Missi-
onsreise überhaupt vor diesem Konvent stattgefunden hatte und nicht irr-
tümlich von Lukas vordatiert worden war. Es spricht viel dafür, dass die
Beschlüsse des Konzils erst eine weiterführende Heidenmission angestoßen
hatten und das sog. Aposteldekret dann der Regelung der neu gegründeten
Gemeinden diente. Jedenfalls war der unmittelbare Anlass der Versamm-
lung das Kommen von Judenchristen nach Antiochia und deren Forderung
nach Beschneidung auch der Heidenchristen was zum innergemeindlichen
Streit führte. Aus der Sicht der Judenchristen, die sich noch den jüdischen
Synagogen und damit dem mosaischen Gesetz verbunden fühlten, ist die-
se Forderung verständlich. Demgegenüber machte die antiochenische Seite
geltend, dass das Heil nicht mehr in der Erfüllung des Gesetzes sondern
allein im Glauben an Christus liegt. Eine fortdauernde Bindung an das Ge-
setz würde ja bedeuten, so argumentierte man, dass das von Gott in Jesus
gewährte Heil unvollständig wäre. Der Apostelkonvent in Jerusalem hatte
sich zusammengefunden, um eine Lösung für diesen Disput zu finden.
Die Jerusalemer Urgemeinde wurde mittlerweile von einem Ältestenrat
unter dem Vorsitz von Jakobus, dem leiblichen Bruder Jesu, geführt. Gleich
zu Beginn der Versammlung insistierten einige zum Christentum konver-
tierte Pharisäer darauf, dass die Heiden erst dann in die Gemeinschaft der
Christen aufgenommen werden sollten nachdem sie beschnitten worden
11.3. Die Missionsreisen des Paulus (Apg 13 – 20) 393
sind und allgemein sich zur Einhaltung von Moses Gesetz verpflichtet ha-
ben. Dass gerade sie diese Forderung erhoben versteht sich gegen den Hin-
tergrund zunehmender Verfolgung der Christen und der Tatsache, dass ihre
Treue zur Tora besonders scharf unter die Lupe genommen wurde. Nach-
dem die Pharisäer ihre Vorbehalte geltend gemacht hatten, beriet sich das
Gremium der Kirchenführung in einer geschlossenen Sitzung, und es kam
zu kontroversen Auseinandersetzungen bis Petrus das Wort ergriff und auf
seine eigene Erfahrung mit der Bekehrung des römischen Hauptmannes
verwies wonach Gott selber die Geltung des Reinheitsgebotes aufgehoben
hatte. Somit wäre die Forderung nach Erfüllung des Gesetzes eine unnö-
tige Last, die ja noch nicht einmal die Juden tragen konnten, ja, sie wäre
eine Versuchung Gottes. Der Konvent einigte sich schließlich auf eine von
Jakobus vorgetragene Kompromissformel, nach der den Heiden vier Mini-
malforderungen wie das Verbot der Unzucht und die Abstinenz von Göt-
zenopferfleisch auferlegt werden sollten. Diese waren bereits in der Schrift
als verbindlich genannt worden (Lev 17 und 18).
So, wie Lukas den Ablauf des Apostelkonvents schildert, trug er sich
mit Sicherheit nicht zu. Zum einen wird Jakobus kaum aus der Septua-
ginta zitiert haben, nach der sich aus der Prophetie des Amos 9,11f eine
Heilsprophetie für die Heiden herauslesen lässt (Apg 15,15ff), nach der
hebräischen Fassung, die doch wohl in der Versammlung benutzt worden
war, aber nicht. Zum anderen beschreibt Paulus den Verlauf des Konvents
in seinem Galaterbrief wesentlich anders. Entweder stellt Paulus selbst eine
verzerrte Sicht dar oder aber Lukas Schilderung trifft so nicht zu. Paulus er-
wähnt die Minimalforderungen überhaupt nicht und schreibt, dass ihm kei-
nerlei Auflagen gemacht worden seien und dass er sich lediglich zu einer
Kollekte für die Armen verpflichtet habe (Gal 2,6.10). Lukas weiß nur von
einer früheren Kollektenreise des Paulus und Barnabas (Apg 11,27–30).
Dort begründet er sie mit einer Hungersnot, die aber zu der Zeit gar nicht
bestand. So ist es anzunehmen, dass Lukas eine Verwechslung unterlaufen
ist und die Armenkollekte und die Erhebung der Minimalforderungen in
einen falschen Kontext gebracht hat.
Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass diese Minimalforderungen
erst zu einem späteren Zeitpunkt erhoben wurden. Das könnte man indi-
rekt auch aus dem Streit zwischen Paulus und Barnabas, der dem Aufbruch
zur zweiten Missionsreise voranging, schließen. Nach Lukas Darstellung
394 11. Die Apostelgeschichte
entzündete sich der Zwist an der Person des Markus, den Paulus wegen sei-
ner früheren vorzeitigen Abreise für unzuverlässig hielt. Der wahre Grund
aber wird wohl der sog. antiochenische Zwischenfall kurz nach dem Kon-
vent gewesen sein, der Lukas anscheinend nicht bekannt war. Paulus hatte
sich mit Petrus und Barnabas überworfen, weil die beiden sich nicht länger
an einen Tisch mit den Heiden setzen wollten was er ihnen als Heuche-
lei vorwarf (Gal 2,11f). Dieser Streit ist eigentlich nur verständlich wenn
man annimmt, dass die Minimalforderungen im damaligen Beschluss noch
gar nicht enthalten gewesen waren. Jedenfalls fand sich Paulus isoliert in
der antiochenischen Gemeinde und das Vertrauensverhältnis zwischen ihm
und Barnabas war gestört. So entschied er sich, sich von der Gemeinde zu
lösen und auf eigene Faust seine Mission zu den Heiden zu starten. Dafür
fand er in Silas einen willigen und ihm wohlgesonnten Mitarbeiter.
Zu 16. In Lystra, wo Paulus zuvor gesteinigt worden war, gewann er
in Timotheus, Sohn einer jüdischen Mutter und eines griechischen Vaters,
einen weiteren Mitarbeiter. Obwohl Paulus die Beschneidung als Bedin-
gung für den Übertritt zum Christentum grundsätzlich ablehnte, ließ er Ti-
motheus beschneiden, da dieser nach jüdischer Vorstellung aus einer illegi-
timen Mischehe stammte. Paulus wollte wohl auch nicht das Verhältnis zu
den Juden unnötig belasten. Somit setzte das erweiterte Missionsteam seine
Inspektionsreise durch die früher gegründeten Gemeinden fort. Der heilige
Geist diktierte in Folge den weiteren Reiseverlauf indem er das Vordringen
in den westlichen Küstenbereich verwehrte und als Traumgesicht Paulus
anwies, nach Mazedonien zu gehen.
Von Troas aus, noch bekannt aus der griechischen Sage des Homer,
setzten sie nun nach Europa über und erreichten Philippi, wo früher der
Alexanderfeldzug seinen Ausgang genommen hatte, das aber jetzt unter rö-
mischer Herrschaft stand. Eine jüdische Synagoge schien es zu der Zeit dort
noch nicht gegeben haben. Paulus traf nur einige Frauen an einer Gebets-
stätte am Fluss an und fand in Lydia, eine vermögende aber unverheiratete
Händlerin von in Purpur gefärbten Kleiderstoffen, die selbst aus Kleinasien
stammte, seine erste Konvertitin in Europa. Mit ihr schloss sich gleich ihr
ganzes Haus dem neuen Glauben an. In der Antike war es üblich, dass nicht
nur die Familie sondern auch die Bediensteten und Sklaven der Glaubens-
entscheidung des Haushaltsvorstandes folgten.
11.3. Die Missionsreisen des Paulus (Apg 13 – 20) 395
Bei seinen täglichen Gängen durch Philippi folgten den drei Missiona-
ren eine von einem dämonischen Geist besessene Sklavin, die sie andauernd
als Knechte des höheren Gottes ausrief. Paulus, dem diese Begleitung läs-
tig geworden war, trieb den Geist aus, was wiederum den Zorn der Eigen-
tümer der Sklavin hervorrief, die sich nun um ihre Einkunftsquelle beraubt
fühlten. Sie klagten Paulus aber nicht wegen des wirtschaftlichen Schadens
sondern wegen angeblich anti-römischer Propaganda an und brachten sie
damit ins Gefängnis.
Was sich dann im Gefängnis zugetragen haben soll, klingt arg unrea-
listisch. Da werden die Gefangenen durch ein großes Erdbeben, das aber
anscheinend nirgendwo Schaden anrichtete, von ihren Ketten befreit. Nach-
dem sich die Türen geöffnet hatten, blieben all die Insassen des Gefängnis-
ses brav in ihren Zellen sitzen anstatt die Flucht zu ergreifen, und Paulus
konnte durch die Wände gewahr werden, dass sich der Gefängniswärter in
sein Schwert stürzen wollte. Offensichtlich hat der Verfasser eine alte Le-
gende weiter ausgearbeitet, um damit die Überlegenheit des christlichen
Glaubens vorführen zu können. Als Vorlage könnte ihm auch das Drama
‚Die Bakchen‘ des griechischen Tragödiendichters Euripides gedient ha-
ben. Auch in diesem öffnen sich die Türen des Gefängnisses und lösen sich
die Fesseln der gefangenen Backchen auf wundersame Weise.
Zu 17. Paulus und seine Begleiter setzten ihre Reise westwärts fort und
erreichten Thessalonich, Provinzhauptstadt und Sitz des römischen Prokon-
suls. Als freie Stadt besaß sie das Recht auf Selbstverwaltung. Paulus Reden
fanden großen Widerhall, sehr zum Missfallen der Juden, die mal wieder ei-
ne Hetzkampagne gegen ihn starteten. Der Pöbel konnte zwar der Missio-
nare nicht habhaft werden, doch man ergriff einige Christen und klagte sie
vor den Oberen der Stadt der Volksverhetzung und des Hochverrats an, er-
reichte aber nicht viel damit. Währenddessen verließen Paulus und seine
zwei Begleiter die Stadt im Schutze der Nacht mit dem Ziel Athen.
In Athen war Paulus, der bis hierher von christlichen Brüdern beglei-
tet worden war, auf sich allein gestellt; denn Silas und Timotheus waren
zurückgeblieben (Apg 17,15). Nach 1 Thess 3,1f soll Timotheus jedoch zu-
nächst dort mit ihm gewesen sein. In Athen suchte Paulus den Kontakt mit
den Intellektuellen, den Philosophen, und hielt laut Lukas auf dem Areo-
pag, einem hochgelegenen Felsen in Athen, dem Areshügel, wo auch der
gleichnamige Rat tagte, eine Rede. Lukas hat anscheinend Paulus Aufent-
396 11. Die Apostelgeschichte
halt in Athen, das viel von seinem ursprünglichen Glanz verloren hatte,
dem Wirken des Sokrates nachempfunden, der auf den Straßen die Leute
anzusprechen pflegte.
Die Philosophen hatten Paulus zunächst mit herablassender Gering-
schätzigkeit behandelt, ihn sogar einen Körnerpicker genannt, also als je-
manden, der sich seine eigene Wahrheit aus fremdem Geistesgut zusam-
menkramt. Er suchte seine Hörer für sich einzunehmen, indem er zu ihnen
sagte, dass er die Auffassung griechischer Dichter wohl teile, dass in Gott
„leben, weben und sind wir“. Das klingt verdächtig nach göttlicher Imma-
nenz so wie es die Stoiker verstanden, doch machte er auch klar, dass er
nicht daran denke, von der Vorstellung der Verschiedenheit Gottes von den
Menschen abzurücken. Ihm war auch der Altar mit einer dem unbekannten
Gott gewidmeten Inschrift aufgefallen. Das war für ihn Beweis, erklärte er
seinen Hörern, dass die Menschen in der Tat nach Erkenntnis dieses Gottes
strebten wenn sie auch weiterhin noch im Dunkeln tappten. Paulus war nun
derjenige, der ihnen das rechte Wissen über diesen Gott vermitteln konn-
te. Es ist der fürsorgliche Schöpfergott, der zwar nicht ferne von uns aber
doch verschieden von uns ist. Er tadelte die Praxis, sich von dem Gott ein
Bildnis zu machen und dieses dann anzubeten, als ob der Gott nun selbst
darin manifestiert wäre. Doch mit solch einer Rede konnte Paulus kaum
offene Türen einrennen; denn seine Zuhörer, die Philosophen, hatten sich
längst von einer naiven Volksfrömmigkeit entfernt. Und als er dann noch
anfing, von der Aufweckung Jesu von den Toten zu sprechen, da dürfte ihr
Interesse schon bald erloschen gewesen sein; denn nach ihrer Lehre wird
die unsterbliche Seele ja gerade im Tode von der bloßen Hülle des Körpers
zum ewigen Leben befreit. Seine Drohung mit dem letzten Gericht wird
dann wohl nur noch milden Spott bei ihnen ausgelöst haben und so blieb
Paulus ein wirklicher Erfolg in Athen versagt. Zu einer Gemeindegründung
kam es nicht.
Zu 18. Nun also Korinth, eine wegen ihrer Unsittlichkeit verrufene Ha-
fenstadt. Hier fand er Unterkunft bei einem jüdischen Ehepaar, das we-
gen eines Ediktes des römischen Kaisers Klaudius 49 n. Chr. Rom hatte
verlassen müssen. Paulus war gelernter Lederarbeiter bzw. Zeltmacher und
finanzierte seinen Lebensunterhalt zumindest teilweise durch seiner Hände
Arbeit. Erst als nun seine beiden Mitarbeiter in Korinth eintrafen und Spen-
den aus Philippi mitbrachten, konnte er sich ganz auf die Verkündigung
11.3. Die Missionsreisen des Paulus (Apg 13 – 20) 397
konzentrieren. Über die ihn ablehnenden Juden sprach er ein Blutwort, das
die Schwere ihrer Schuld ausdrücken sollte, die den Verlust des Heils nach
sich zieht. Eine nächtliche Erscheinung, die ihm gute Arbeitsbedingungen
in Aussicht stellte, bewog ihn, seinen Aufenthalt in Korinth auf anderthalb
Jahre auszudehnen. Die Juden konnten nichts gegen ihn ausrichten, woran
auch der Amtsantritt des Gallio (51–52 n. Chr.), ein älterer Bruder des Phi-
losophen Seneca, nichts zu ändern vermochte; denn der war nicht an einem
interreligiösen Streit interessiert und verwarf ihre Anklagen gegen Paulus.
Paulus und seine Mitarbeiter, zusammen mit dem inzwischen zum
Christentum konvertierten Ehepaar Priszilla und Aquila, machten sich auf
den Rückweg. Lukas erwähnt, dass Paulus sich seine Haare wegen eines
Gelübdes scheren ließ. Das weist auf die jüdische Praxis des Nasiräat hin,
was eine besondere Weihe zu Gott bedeutet. Dem gesetzlichen Brauch nach
hätte er sich aber seine Haare erst im Tempel scheren lassen dürfen. Nach
kurzen Besuchen in Ephesus und Jerusalem traf er wieder in Antiochia ein,
wo sich Gelegenheit ergab, sein gestörtes Verhältnis zur Gemeinde wieder
ins Reine zu bringen als auch die Vorbereitungen für die in Paulus Brie-
fen erwähnte Armenkollekte zu treffen. Danach brach er zu seiner dritten
Missionsreise auf, zur Visitation der bereits von ihm gegründeten Gemein-
den.
Zu 19. Merkwürdigerweise hatte sich Paulus auf der Rückreise den Bit-
ten der Juden, länger in Ephesus zu verweilen, zunächst verweigert. Nun
aber, etwa im Jahre 53 n.Chr., traf er zu einem über zwei Jahre währenden
Aufenthalt ein und widmete sich in dieser Zeit dem Gemeindeaufbau. Vor
ihm hatte bereits ein Apollos, ein wortgewaltiger jüdischer Mann aus Alex-
andria, gewirkt. Dieser war zwar Christ und besaß die Gabe des Geistes,
wusste auch um die Bedeutung Jesu, kannte aber nur die Taufe des Johan-
nes. Dieser Apollos kam wahrscheinlich aus der Täuferbewegung, die sich
bis nach Kleinasien ausgebreitet hatte was zu einer Konkurrenzsituation
zwischen Christen und Johannesjüngern geführt hatte.
Paulus war hier also in eine Gemeinde gekommen, die er selbst nicht
gegründet hatte. Sein Wirken wird aber zu einem enormen Aufschwung
geführt haben, war sein Name doch schon bald in weiten Teilen des Lan-
des bekannt geworden. Über Paulus wurden ungewöhnliche Wundertaten
berichtet, sodass die Kranken sich bereits Heilung nur durch Berührung
der von ihm getragenen Kleidung erhofften. Andere, sieben Söhne eines
398 11. Die Apostelgeschichte
Hohenpriesters, wollten sich die Kraft Jesu zunutze machen und in sei-
nem Namen böse Geister austreiben. Doch ein böser Geist weigerte sich,
zu weichen; der von ihm Besessene entwickelte übermenschliche Kräfte
und richtete alle sieben übel zu.
Eine solche Praxis der Magie im Namen Jesu scheint dazumal nicht
ungewöhnlich gewesen zu sein. Dies belegt zum Beispiel ein antiker Zau-
berpapyrus, auf dem zu lesen ist: ‚Ich beschwöre dich bei Gott, dem Gott
der Hebräer‘ (W. de Boor: Die Apostelgeschichte). Es fragt sich, von wem
Lukas über Paulus Machttaten erfahren hatte, sicherlich nicht von Paulus
selbst; denn der schreibt, dass seine judenchristlichen Gegner sich über sei-
nen Mangel an Wundertaten mokierten während er sich selbst nur seiner
Schwachheit rühmen wollte (2 Kor 12,19). Überhaupt, wie grenzt man den
Glauben des frommen Volkes in die heilende Kraft von Paulus Tüchern von
dem magischen Tun der Beschwörer ab, außer, dass Paulus selbstlos gab,
die anderen aber sich bereichern wollten. Auch Jesus trieb Dämonen aus
und schien den Exorzismus in seinem Namen nicht verbieten zu wollen
(Mk 9,38f).
Paulus trug bereits den Wunsch mit sich, nach Rom zu reisen und
schickte schon mal Timotheus nach Mazedonien voraus. In Ephesus aber
erwartete ihn neues Ungemach. Diesmal war es ein Silberschmied, der die
ganze Stadt mit seinen Anschuldigungen, dass Paulus das Gewerbe ruinie-
re, da er das Ansehen der Göttin Diana in Verruf bringe, in Aufruhr versetz-
te. Als sich die Hysterie der Menge noch weiter steigerte und sogar Lynch-
justiz drohte, schritt der Kanzler ein und vermochte das Volk mit seiner
Feststellung, dass die Ehre der Göttin niemals in Gefahr stand beschmutzt
zu werden, beruhigen.
In dieser Erzählung wird das unheilvolle Ineinanderwirken von patrio-
tischen, religiösen und wirtschaftlichen Interessen vor Augen geführt. Das
Devotionalengewerbe verschaffte Arbeit und Brot und konnte durch Pau-
lus Wirken, das ja die Existenz anderer Götter in Frage stellte, schweren
Schaden nehmen. Ein Abfall von den alten Göttern wiederum würde einen
Ansehensverlust der Stadt, das sich als kulturelles Zentrum der Götterver-
ehrung rühmte, nach sich ziehen.
Paulus Jünger hatten ihn davon abgehalten, das Bad der Menge zu su-
chen. Paulus war eben kein Feigling; diesen Eindruck will wohl der Verfas-
ser vermitteln. Außerdem war er von den ihm freundlich gesinnten Oberen
11.3. Die Missionsreisen des Paulus (Apg 13 – 20) 399
(Asiarchen) gewarnt worden. Das will aber nicht so recht einleuchten. Soll-
ten ausgerechnet die Hüter des Kultes demjenigen wohlgesonnen sein, der
ihre eigene Existenz bedrohte? Hier hat wohl Lukas eine erbauliche Ge-
schichte komponiert, in der allerdings ein historischer Kern steckt; denn in
2 Kor 1,6ff schreibt Paulus selbst von einer lebensbedrohenden Gefahr, der
er in der Provinz Asia ausgesetzt gewesen war. Nimmt man jedoch Lukas
Schilderung ernst, dann gewinnt man den Eindruck, dass Paulus Wirken
anscheinend das ganze Heidentum ins Wanken zu bringen vermochte.
Zu 20. Paulus durchzog mit seinen Getreuen auf dem Weg zurück in die
Heimat noch einmal Griechenland und Mazedonien. Den direkten Schiffs-
weg nach Syrien vermied er wegen der Gefahr eines Anschlags auf sein
Leben und so kam er zunächst nach Troas. Hier durfte Paulus noch einmal
seine wunderwirksame Kraft unter Beweis stellen, als er einen jungen Zu-
hörer, der zu Tode gefallen war, wieder ins Leben zurückzurufen vermochte
und zwar in der Weise wie es vormals der alttestamentliche Elia getan hatte.
Die ganze Episode ist in einer Beiläufigkeit erzählt, dass man das Wunder
schon fast gar nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Nach dem Vorfall setzte
Paulus seine Predigt fort, als wäre nichts gewesen.
Er traf sodann in Milet ein, wohin er die Vorsteher aus der nicht weit
entfernten Gemeinde in Ephesus riefen ließ und hielt ihnen eine lange Ab-
schiedsrede. Im Rückblick erwähnte er noch einmal die Stationen seiner
Missionsarbeit, die er unter Leiden, in Demut und durch viele Anfechtun-
gen hindurch getan hatte. Nun würden ihn in Jerusalem neue Bedrängnisse
erwarten, ja vielleicht sogar der Tod. So wird es wohl ein Abschied für
immer sein. Er hatte sein Bestes gegeben, Schuld wird man bei ihm nicht
finden können. Wer seinem geistlichen Ruf nicht gefolgt war, der hatte sich
selbst des ewigen Lebens beraubt. Nun waren sie auf sich allein gestellt und
in Zukunft hätten sie, die Hirten Gottes, sich vorrangig um ihre Herde zu
kümmern; denn Feinde würden die Gemeinde bedrohen und falsche Lehren
aus ihrer Mitte kommen. An ihm sollten sie sich ein Vorbild nehmen; denn
niemals hatte er nach materiellen Gewinn gestrebt. Niemanden war er zur
Last gefallen, hatte er sich doch durch eigene Hände Arbeit verdient was
er brauchte. Den Schwachen aber solle ihre Hilfe gelten, getreu nach dem
Wort Jesu: „Geben ist seliger als nehmen“. Der Abschied nach Paulus Rede
fiel sehr emotional aus und man geleitete ihn noch zu dem Schiff, das ihn
nun in die Heimat bringen sollte.
400 11. Die Apostelgeschichte
11.4. Die Verhaftung des Paulus und sein Weg nach Rom (Apg
21–28)
21. Paulus und seine Begleiter erreichten Tyrus an der phönizischen Küste.
Dort wurde ihm von Jüngern eine Warnung des Heiligen Geistes gegeben,
die verlautete, „er solle nicht nach Jerusalem hinaufziehen“. Nach einem
kurzen Aufenthalt ging es aber weiter nach Caesarea wo Paulus einige Tage
im Hause des Philippus verbrachte. Ein Prophet aus Judäa suchte ihn auf
und band sich als Zeichen von Paulus künftiger Gefangenschaft mit des-
sen Gürtel Hände und Füße. Paulus aber ließ sich auch durch inständiges
Bitten der Jünger nicht von seinem Entschluss abbringen, nach Jerusalem
hinaufzuziehen und sagte, er wäre bereit, dort „für den Namen des Herrn“
zu sterben. So machte sich Paulus mit seinen Begleitern auf den Weg nach
Jerusalem wo er bei einem Christen aus Zypern Unterkunft zu nehmen ge-
dachte.
In Jerusalem wurde Paulus herzlichst von den Brüdern aufgenommen
und am nächsten Tag suchte er Jakobus und die Ältesten auf. Diese lob-
ten seine Arbeit unter den Heiden, wiesen allerdings auch darauf hin, dass
man über ihn sage, er lehre den Juden, dass sie ihre Kinder nicht mehr
beschneiden und sie auch sonst nicht mehr nach den alten Ordnungen zu
leben hätten. Um nun den Verdacht auszuräumen, dass Paulus sich nicht
mehr an das Gesetz Mose halte, solle er sich mit vier anderen Männern,
die ein Gelübde auf sich genommen hatten, reinigen lassen und die Kosten
dafür übernehmen. Paulus befolgte ihren Rat, „reinigte sich am nächsten
Tag mit ihnen und ging in den Tempel“ um dort die Erfüllung der Weihe
anzuzeigen.
Am Ende der Tage der Reinigung aber legten Juden aus Asien Hand an
Paulus und erhoben Anklage, dass er eine falsche Lehre verbreite und den
Tempel entweihe, dadurch, dass er einen Griechen aus Ephesus in den Tem-
pel geführt habe. Es kam zu einem Volksauflauf und Paulus geriet in Le-
bensgefahr. Seine Rettung verdankte er dem Einschreiten eines römischen
11.4. Die Verhaftung des Paulus und sein Weg nach Rom (Apg 21–28) 401
Oberst doch die Menge bedrängte die Soldaten so sehr, dass sie Paulus tra-
gen mussten. Paulus aber bat den Oberst, zu dem Volk reden zu dürfen. Die
Bitte wurde ihm gewährt.
22. Paulus redete auf hebräisch und eine große Stille entstand. Sich
selbst bezeichnete er als einen gesetzestreuen Pharisäer, als einen „Eiferer
für Gott“, der die neue Lehre bis auf den Tod verfolgt hatte. Er redete von
seinem Erlebnis in Damaskus und der Erscheinung Jesu Christi, seiner kur-
zen Blindheit und seinen Auftrag von Gott her, hinfort als Zeugen für den
Gerechten zu wirken. In Jerusalem erschien ihm wieder Jesus, der ihn zur
Eile aufrief, die Stadt zu verlassen; denn hier wäre sein Zeugnis wertlos.
Noch aber lastete die schwere Blutschuld, die er durch seine Verfolgungen
auf sich geladen hatte, auf ihm. Jesus aber sprach zu ihm: „Geh hin; denn
ich will dich in die Ferne zu den Heiden senden.“
Als die Menge dies hörte wurde sie wieder aufs äußerste erregt und
schrie: „Hinweg mit diesem von der Erde! Denn er darf nicht mehr leben.“
Der Oberst ließ Paulus in die Burg abführen und befahl, ihn zu geißeln
um herauszufinden, warum das Volk wegen ihm in einen solchen Aufruhr
geraten war. Paulus aber fragte, ob es wohl erlaubt wäre, einen römischen
Bürger „ohne Urteil zu geißeln?“. Er fügte hinzu, dass er als römischer
Bürger geboren worden war. Der Oberst fürchtete sich; denn es war nicht
rechtens, einen römischen Bürger zu binden. Am nächsten Tag löste man
des Paulus Ketten und der Oberst ließ eine Versammlung des Hohen Rates
anberaumen, dass Paulus verhört werde.
23. Vor dem Hohen Rat verteidigte sich Paulus, dass er immer ein Le-
ben „mit guten Gewissen vor Gott geführt“ habe. Als ihm einer auf Befehl
des Hohepriesters Hananias auf den Mund schlug, da schleuderte Paulus in
seinem Zorn dem Hohepriester entgegen: „Gott wird dich schlagen, du ge-
tünchte Wand!“. Als ihm vorgehalten wurde, er schmähe den Hohepriester
Gottes, entschuldigte er sich und sagte, er hätte nicht gewusst, um wen es
sich handle.
Paulus erkannte, dass sich der Hohe Rat aus Sadduzäern und Phari-
säern zusammensetzte. Er selbst sagte von sich, er sei ein Pharisäer, der
wegen seiner Hoffnung auf die Auferstehung angeklagt wäre. Mit diesen
Worten säte er Zwietracht in die Versammlung, da nun die Pharisäer Partei
für Paulus ergriffen. Die Versammlung artete in einen regelrechten Tumult
aus. Wiederum musste der Oberst einschreiten und Paulus vor der erregten
402 11. Die Apostelgeschichte
Menge beschützen. In der folgenden Nacht aber stand der Herr bei ihm und
sprach: „Sei getrost“. Denn wie du für mich in Jerusalem Zeuge warst, so
musst du auch in Rom Zeuge sein.“
Vierzig Juden verpflichteten sich mit einem Eid, Paulus zu ermorden.
Mit dem Wissen der Hohenpriester planten sie, ihn beim Gang zum Hohen
Rat zu töten. Doch der Sohn der Schwester des Paulus hörte von dem Kom-
plott und teilte es Paulus mit. Der verwies ihn weiter an den Oberst. Der
Oberst verpflichtete den jungen Mann zum Schweigen und rüstete noch in
der Nacht eine Abteilung Soldaten aus, die den Gefangenen zum Statthalter
Felix in Caesarea zu bringen hatten. Ein ihm übermittelter Brief informierte
den Statthalter über den Sachverhalt. Nachdem er Paulus über seine Her-
kunft befragt hatte entschied Felix: „Ich will dich verhören, wenn deine
Ankläger auch da sind. Und er ließ ihn in Gewahrsam halten im Palast des
Herodes.“
24. Einige Tage später erschienen der Hohepriester Hananias mit eini-
gen Ältesten und ihrem Anwalt vor dem Statthalter Felix, um eine förm-
liche Anklage gegen Paulus zu erheben. In einer äußerst höflichen und
schmeichelnden Anrede trug der Anwalt die Anklagepunkte vor. Sie be-
sagten, dass Paulus als Anführer der Sekte der Nazarener überall Aufruhr
errege und er sogar versucht habe, den Tempel zu entweihen. Paulus wies
alle Vorwürfe zurück. Er war überzeugt, dass man keine Beweise dafür fin-
den werde. Er habe sich immer an das Gesetz der Väter gehalten und hege
wie auch die Ankläger eine Hoffnung auf „eine Auferstehung der Gerech-
ten wie der Ungerechten“. So habe er ein gutes Gewissen vor Gott und was
die Entweihung des Tempels betrifft, sollten doch die Juden aus Asien, die
ihn bezichtigten, ihn selbst hier verklagen.
Felix ließ den Prozess vertagen, ohne eine Entscheidung zu treffen.
Paulus blieb zwar Gefangener, aber unter erleichterten Haftbedingungen.
Felix und seine jüdische Frau suchten ihn privat auf, um mehr von ihm
über den Glauben an Jesus Christus zu hören. Als Paulus von dem zukünf-
tigen Gericht redete, erschrak Felix und brach fürs erste das Gespräch ab.
Er ließ ihn jedoch danach noch mehrere Male holen, um mit ihm zu reden,
hoffte wohl auch auf Geld von Paulus Anhängern. Nach zwei Jahren wurde
Felix von seinem Nachfolger Festus abgelöst. Paulus aber blieb weiterhin
gefangen.
11.4. Die Verhaftung des Paulus und sein Weg nach Rom (Apg 21–28) 403
25. Schon kurz nach Amtsantritt begab sich Festus nach Jerusalem und
traf dort mit den Oberen der Juden zusammen. Die drängten ihn, Paulus
nach Jerusalem zu verlegen, doch planten sie im Geheimen einen Hinter-
halt. Festus lehnte ihr Gesuchen ab und legte ihnen nahe, ihre Anklage ge-
gen Paulus selbst in Caesarea vorzubringen. In Caesarea hielt Festus Ge-
richt, doch die Juden konnten auch diesmal ihre Anklagen nicht mit Bewei-
sen stützen während Paulus noch einmal seine Unschuld beteuerte.
Festus wollte sich mit den Juden gut stellen und fragte Paulus, ob er sich
in Jerusalem unter ihm richten lassen wolle. Paulus antwortete, dass er sehr
wohl bereit sei, für ein jegliches Unrecht vor Gericht gerade zu stehen und
falls er schuldig befunden werde, dafür zu sterben. Sodann berief er sich auf
den Kaiser. Festus entschied nach einer Besprechung mit seinen Ratgebern:
„Auf den Kaiser hast du dich berufen, zum Kaiser sollst du ziehen.“
König Agrippa und seine Frau Berenike machten dem neuen Statthal-
ter ihre Aufwartung. Festus weihte sie in der Sache Paulus ein und beton-
te, dass gemäss römischen Recht der Angeklagte einem ordentlichen Ver-
fahren unterworfen werden müsse. Mit der Anklage aber, bei der es „um
Fragen des Glaubens und über einen verstorbenen Jesus, von dem Paulus
behauptete, er lebe“ ginge, könne er weiter nichts anfangen. Paulus hatte
sich nun nicht in Jerusalem richten lassen wollen und berief sich auf sein
Recht als römischer Bürger, seine Unschuld vor dem kaiserlichen Gericht
zu verteidigen.
Am nächsten Tag kamen Agrippa und seine Frau „mit großem Geprän-
ge“ in den Palast und Festus stellte ihnen den Gefangenen Paulus vor. Er,
Festus, hoffe, dass Agrippa im Gespräch mit Paulus sich Aufschluss über
die Situation verschaffen könne, sodass er dem Kaiser im Begleitbrief ent-
sprechend Mitteilung machen könne.
26. Paulus in seiner Rede vor König Agrippa betonte, dass er als Pha-
risäer immer in der „allerstrengsten Richtung unseres Glaubens“ gelebt ha-
be, aber angeklagt sei wegen der Hoffnung auf die Verheißung, dass die
Toten auferstehen werden. Er selbst war einer der schärfsten Verfolger der
Jesus-Anhänger gewesen und „wütete maßlos gegen sie“. Bis nach Damas-
kus plante er, sie zu verfolgen, doch auf dem Weg dahin umleuchtete ihn
ein überaus helles Licht und eine Stimme sprach zu ihm: „Saul, Saul, was
verfolgst du mich. Es wird dir schwer sein, wider den Stachel zu löcken.“
Dieser Stimme musste er gehorsam sein, und so begann er, die Botschaft
404 11. Die Apostelgeschichte
Christi im ganzen Lande und darüber hinaus zu verkündigen, dass die Men-
schen sich zu Gott bekehren. Darum wolle man nun ihn selbst töten, doch
habe er Gottes Hilfe bis auf den heutigen Tag erfahren und bleibe Zeuge
vom Leiden Christi und seiner Auferstehung von den Toten. Dieses hatten
auch Mose und die Propheten geweissagt.
Festus unterbrach ihn mit den Worten: „Paulus, du bist von Sinnen! Das
große Wissen macht dich wahnsinnig.“ Paulus entgegnete, dass er „wahre
und vernünftige Worte“ rede. Er wandte sich wieder an den König und frag-
te ihn: „Glaubst du, König Agrippa, den Propheten?“ woraufhin Agrippa
erwiderte: „Es fehlt nicht viel, so wirst du mich noch überreden und einen
Christen aus mir machen.“ Das wünsche er sich sehr, sprach daraufhin Pau-
lus.
Der König und seine Gattin zogen sich mit Festus zur Beratung zurück.
Sie befanden, dass Paulus nichts getan hatte, für das er den Tod oder Ge-
fängnis verdiene. Hätte er sich nicht auf den Kaiser berufen, könne man ihn
freilassen.
27. Und so sandte man Paulus nach Rom. Unter der Aufsicht eines
römischen Hauptmannes bestieg er mit anderen Gefangenen ein Schiff, mit
dem sie zunächst zur Provinz Lysien im westlichen Kleinasien fuhren. Von
dort aus ging es dann weiter nach Kreta. Das Wetter verschlechterte sich
zusehends und Paulus warnte, dass ihnen viel Leid und großer Schaden
widerfahren würde, sollten sie die Reise fortsetzen. Der Hauptmann aber
schlug Paulus Warnung in den Wind und befahl den Aufbruch von Kreta;
denn man wollte in einem geschützteren Hafen überwintern. Doch schon
bald wurden sie von einem gewaltigen Sturmwind bedroht und es blieb
ihnen nichts anderes übrig, als das Schiff treiben zu lassen. Die Seeleute
warfen Ladung und Schiffsgerät ins Meer und „umspannten zum Schutz
das Schiff mit Seilen“. Doch das Schiff blieb ein Spielball des Unwetters
und man gab bald jegliche Hoffnung auf Rettung auf.
Paulus wandte sich an die Männer und sprach: ‚Ihr hättet auf mich hö-
ren sollen, doch bleibt unverzagt; denn ein Engel verhieß mir in der Nacht,
dass keiner umkommen wird und ich selber vor den Kaiser treten werde‘.
Nach vierzehn Tagen wähnte man, Land erreicht zu haben. Als die Seeleute
auf dem Beiboot fliehen wollten, sagte Paulus zum Hauptmann, dass, soll-
ten diese flüchten, dann werde keiner gerettet werden. Daraufhin ließ der
Hauptmann die Taue zum Beiboot kappen. Paulus ermahnte die Männer,
11.4. Die Verhaftung des Paulus und sein Weg nach Rom (Apg 21–28) 405
sich mit Nahrung zu stärken, „dankte Gott vor ihnen allen und“ brach das
Brot „und fing an zu essen.“ Die Männer folgten seinem Beispiel und war-
fen danach den Rest des Getreides über Bord. Am nächsten Morgen ließen
sie das Schiff auf das Land zutreiben, doch als es auf eine Sandbank auf-
lief zerbrach es „unter der Gewalt der Wellen“. Die Soldaten wollten die
Gefangenen töten, dass niemand entfliehen könne, doch der Hauptmann,
der insbesondere um das Leben Paulus besorgt war, verhinderte es. Alle
erreichten lebend das sichere Land.
28. Die Einheimischen, die sie freundlich aufnahmen, nannten ihre In-
sel Malta. Als nun Paulus Feuer machen wollte, da biss sich an seiner Hand
eine Schlange fest. Die Leute hielten ihn nun für einen Mörder, dem durch
die Göttin der Rache sein verdientes Schicksal widerfuhr. Doch als Paulus
die Schlange ins Feuer schlenkerte ohne dass er erkennbaren Schaden erlitt,
da „änderten sie ihre Meinung und sprachen: Er ist ein Gott.“
Paulus wirkte viele Heilungswunder auf der Insel, zuerst am Sohn ei-
nes begüterten Mannes. Seine Taten bewogen die Inselbewohner, ihm große
Ehre zu geben und sie mit all dem was sie brauchten, auszustatten. Nach
drei Monaten brach man wieder auf und sie fuhren mit einem anderen
Schiff aus Alexandria weiter zur Küste Italiens. In einem Küstenort wurden
Paulus und seine Begleiter von Brüdern empfangen und beherbergt bevor
sie ihren Weg fortsetzten. Noch bevor sie Rom erreichten, da kam ihnen ei-
ne Abordnung der römischen Gemeinde entgegen, dessen Anblick Paulus
mit großer Zuversicht erfüllte. Nach Ankunft in der Hauptstadt wurde er in
einer von einem Soldaten bewachten Wohnung untergebracht.
Schon drei Tage später rief Paulus die Angesehensten der Juden zu sich
und erklärte ihnen, warum er als Gefangener nach Rom gebracht worden
war. Obwohl nichts gegen ihn vorlag und ihn die Römer freilassen woll-
ten, hatten ihn die Juden mit ihren Anschuldigen bedrängt, sodass er sich
schließlich auf den Kaiser berufen musste. Er wollte aber mit ihnen hier
über seine Hoffnung sprechen, derentwegen er die Ketten trage.
Den Juden in Rom war von den Vorfällen nichts zu Ohren gekommen,
doch wollten sie mehr von ihm über die Sekte hören, der „an allen Enden
widersprochen wird.“ Man einigte sich auf einen Termin. Am festgesetz-
ten Tag predigte Paulus ihnen von Jesus und erklärte ihnen die neue Leh-
re. Doch die Juden waren über diesen Glauben untereinander uneins und
verließen Paulus, als er zu ihnen das Wort des Propheten Jesaja über die
406 11. Die Apostelgeschichte
Verstockung des Volkes redete (Jes 6,9f). Paulus sprach über sie: „So sei
es euch kundgetan, dass den Heiden dies Heil Gottes gesandt ist; und sie
werden es hören.“
Paulus verblieb zwei Jahre in seiner Wohnung und predigte und ver-
kündigte ungehindert „das Reich Gottes und lehrte von dem Herrn Jesus
Christus.“
Kommentar
Zu 21. Paulus sagte in seiner Abschiedsrede in Milet: „Siehe, durch den
Geist gebunden, fahre ich nach Jerusalem . . . “ (Apg 20,22). Dann aber
heißt es „durch den Geist, er solle nicht nach Jerusalem hinaufziehen“ (Apg
21,4) während ein paar Zeilen weiter der Geist ihm in anschaulicher Gestalt
eine Warnung übermittelte, welches Schicksal er in Jerusalem zu erwarten
hat (Apg 21,11). Liest man diese Texte zusammen, dann erscheinen die
Weisungen des Geistes widersprüchlich und man bekommt den Eindruck,
dass sich Paulus durch seinen Entschluss, nach Jerusalem zu gehen, dem
Geist widersetzt hatte.
Paulus erreichte Jerusalem. Dort wurde er zwar freundlich aber auch
mit großer Sorge aufgenommen. Jakobus, der Leiter der Urgemeinde, teil-
te ihm mit, dass viele Judenchristen in Palästina ihm vorwerfen, er lehre
in den von ihm gegründeten Gemeinden, dass auch für die Juden das mo-
saische Gesetz nicht mehr gelte und sie somit ihre Kinder nicht mehr zu
beschneiden brauchten. Um nun diesen Vorwurf zu entkräften und seine
unverbrüchliche Verbundenheit zum Judentum zu demonstrieren, solle er
einen gottesdienstlichen Akt im Tempel vollziehen. Dieser bestünde aus ei-
nem öffentlich vollzogenen Reinigungritual; denn nach dem Gesetz hatte
er sich durch den Umgang mit Heiden verunreinigt. Auch solle er die Kos-
ten für die Entweihung von vier Männern übernehmen, die sich in einem
Nasiräat- Gelübde verpflichtet hatten.
Es hieß, dass Paulus in Eile war, Pfingsten nach Jerusalem zu kommen
(Apg 20,16). Was war der Grund seiner Reise? Hatte er vor, sich für seine
Heidenmission zu rechtfertigen? Jakobus forderte von ihm einen öffentli-
chen Beweis seiner Gesetzestreue. Kann man sich aber als guter Jude aus-
weisen und gleichzeitig eine gesetzeslose Heidenmission betreiben? Nun
hatten die Judenchristen Paulus beschuldigt, er verführe seine jüdischen
Gemeindeglieder zum Abfall vom mosaischen Gesetz. Doch der Vorwurf
11.4. Die Verhaftung des Paulus und sein Weg nach Rom (Apg 21–28) 407
ist nicht haltbar. Denn soweit wir wissen hatte er den Juden ihre Freiheit be-
lassen, selbst zu entscheiden, ob sie beim Übertritt zum christlichen Glau-
ben die überlieferten Gesetze und Gebräuche weiterhin für sich als bindend
betrachten wollten. Er selber hatte ja mit der Beschneidung von Timothe-
us beispielhaft vorgeführt, dass er ihre Gültigkeit nicht generell in Frage
stellte. Paulus hatte nur gefordert, dass die Heiden nicht unter das Gesetz
gezwungen werden sollten und diese Forderung war ja vom Apostelkonvent
abgesegnet worden. Sein öffentlicher Akt der kultischen Reinigung stellte
somit lediglich eine persönliche Würdigung des Gesetzes dar, aber keine
Abkehr von der Heidenmission.
Seine kultische Reinigung hatte aber noch eine weiter reichende Be-
deutung. Hätte er den von ihm erwarteten Dienst verweigert, dann wäre
die Einheit von Heidenchristentum und Judenchristentum gefährdet gewe-
sen. Jakobus, Jesus leiblicher Bruder, hatte Paulus eine Brücke gebaut; aber
auch seine eigene Situation war heikel genug. Er musste zwischen den
Forderungen seiner judenchristlichen Brüder einerseits und den Erwartun-
gen des Paulus hinsichtlich seiner Heidenmission andererseits vermitteln.
Die Situation der Judenchristen ist aus dem historischen Kontext durch-
aus verständlich. Insbesondere seit der Thronbesteigung Neros in Rom (54
n.Chr.) hatte der jüdische Nationalismus an Brisanz gewonnen und soll-
te sich schließlich als Kulturkampf im römisch-jüdischen Krieg 66 n.Chr.
entladen. Um sich nicht wegen der Heidenmission als römerfreundlich ver-
dächtig zu machen, fühlten sich die Judenchristen besonders gefordert, ihre
Treue zum Gesetz unter Beweis zu stellen. Dies führte zum Erstarken eines
pharisäisch-gesetzestreuen Flügels in der Gemeinde, der von Jakobus nicht
ignoriert werden konnte.
Nun war aber auch Paulus unter Druck. Der wahre Grund für seine Rei-
se nach Jerusalem war wohl die Überbringung der Kollekte für die Armen
gewesen (Apg 24,17). Hätte nun die Gemeinde in Jerusalem die Annahme
der Kollekte verweigert, dann wäre die Einheit der Kirche und damit das
Lebenswerk des Paulus bedroht gewesen. Paulus musste also seine Geset-
zestreue unter Beweis stellen, damit die Gemeinde ihm gegenüber wohl-
gesonnen war. Der Fakt, dass Lukas die Kollekte eher verschämt später
wie eine Nebensache erwähnt gibt Grund zur Annahme, dass trotz all sei-
nes Entgegenkommens sich ihm die Gemeinde versagt hatte. Lukas konnte
408 11. Die Apostelgeschichte
dies nicht direkt erwähnen weil es nicht in den Rahmen des großen Paulus
und seiner Heidenmission passte.
Vielleicht sollte die Übergabe der Kollekte nach der Reinigung statt-
finden, aber dann kam ein Vorfall dazwischen, der dies verhinderte. Juden
aus der Diaspora beschuldigten Paulus der Entweihung des Tempels, hat-
ten sie doch fälschlich angenommen, dass einer von Paulus griechischen
Begleitern mit ihm im den Nichtjuden unter Todesstrafe verbotenen heili-
gen inneren Bezirk des Tempels gesehen wurde. Bevor die erregte Menge
ihn lynchen konnte schritt ein römischer Offizier ein. Wenn es heißt, dass
auf Grund des Drängens der Menge die Soldaten Paulus in ihrer Mitte tra-
gen mussten, dann ist es wohl eher wahrscheinlich, dass Paulus schwer
verletzt war. Dann aber ist es auch nicht vorstellbar, dass Paulus in seiner
Verfassung noch eine lange Rede halten konnte.
Zu 22. Der Oberst aber, so der Verfasser, erlaubte Paulus auf dessen
Bitte hin, sich an das Volk zu wenden. Nur mit einer Handbewegung ver-
mochte er die mordlüsterne Menge zum Schweigen zu bringen. Das klingt
ebenso unglaubwürdig wie die vom Oberst erteilte Sprecherlaubnis. In sei-
ner Verteidigungsrede, in der er mit keinem Wort auf den Vorwurf der Tem-
pelentweihung einging, betonte Paulus seine jüdische Identität und seinen
Eifer für das Gesetz, den er besonders in seiner fanatischen Verfolgung der
Christen unter Beweis gestellt hatte. Doch in einer Erscheinung vor Damas-
kus hatte sich ihm Christus in den Weg gestellt und er musste erkennen,
dass Gott selbst hier eingegriffen und ihn als Zeugen für die Sache Jesu
berufen hatte. Jesus erschien ihm noch einmal im Tempel zu Jerusalem und
bestätigte seine Sendung zu den Heiden.
Die Rede soll deutlich machen, dass er, Paulus, immer auf dem Boden
jüdischer Rechtmäßigkeit gestanden hatte, Gott ihm aber gezeigt habe, dass
in Jesus die Erfüllung der den Juden gegebenen messianischen Verheißun-
gen liegt und dass er daher nur Gottes Willen folgt, wenn er die christliche
Botschaft mit der gleichen Hingabe verbreitet, wie er vormals als Pharisäer
sich für das Gesetz ereifert hatte. Da sich die Juden aber schuldhaft von
Jesus abgewandt hatten, gilt diese Verheißung nun den Heiden. Dass dieser
Jesus sich nun ausgerechnet im heiligen Tempel offenbart haben soll und
die Behauptung, dass die Juden aufgrund ihrer Unbelehrbarkeit aus dem
Heil ausgeschlossen seien, empörte die Menge über alle Maßen und wie-
der rettete nur das rechtzeitige Eingreifen des Oberst Paulus das Leben. Der
11.4. Die Verhaftung des Paulus und sein Weg nach Rom (Apg 21–28) 409
Oberst wollte ihn foltern lassen, um mehr über Paulus herauszufinden, doch
Paulus wies auf sein römisches Bürgerrecht hin. Auf Misshandlung eines
römischen Bürgers stand die Todesstrafe. Warum aber ließ ihn der Oberst
dann bis zum folgenden Morgen in Ketten?
Zu 23. Ob nun die Verhandlung am Tag nach Paulus Verhaftung vor
dem Hohen Rat überhaupt stattgefunden hat, ist äußerst zweifelhaft. Wenn
überhaupt, wird sie nicht wie geschildert abgelaufen sein. Zunächst lag es
nicht in der Macht des Oberst, eine derartige Verhandlung einzuberufen.
Auch hätte es das jüdische Reinheitsgesetz einem Heiden niemals erlaubt,
einer Sitzung des Hohen Rats beizuwohnen und letztlich, wie hätte er, der
doch kein aramäisch sprach, überhaupt etwas von dem was gesagt wurde,
verstehen können. Auch ist es nicht glaubhaft, dass die Sadduzäer und Pha-
risäer über die Auferstehungsfrage in Streit geraten waren. Wenn es auch
zutrifft, dass beide Parteien darüber eine andere Überzeugung vertraten, so
war dass doch nicht neu. Im Rat war man jahrelang zusammengewesen,
warum sollte auf ein Wort des Paulus hin sich plötzlich ein handgreiflicher
Disput über theologische Differenzen entzündet haben? Eher ist es wahr-
scheinlich, dass Lukas glaubte, dass eine Versammlung stattfand und er
dessen Ablauf seinem theologischen Konzept anpasste. Vielleicht wollte er
damit zeigen, dass das Judentum, da es sich der Heilsbotschaft verschlossen
hatte, auch seine innere Orientierung und Identität verloren hatte.
Die Römer mussten bereits zweimal eingreifen, um Paulus Leben zu
schützen. Doch er blieb weiterhin in Gefahr. Diesmal plante eine jüdische
Gruppe, die sich eidlich gebunden hatte, ein Mordkomplott gegen ihn. Die
Planung des Anschlags ist durchaus realistisch dargestellt. Die sogenannten
Dolchmänner oder Sikarier hatten zu der Zeit immer wieder Mordanschlä-
ge gegen Landsleute ausgeführt, die man römerfreundlicher Tendenzen ver-
dächtigte. Der Hass auf Paulus als abtrünniger Jude war so groß, dass man
in diesem Fall sogar bereit war, mit den Gegnern, den Sadduzäern, zusam-
menzuarbeiten. Doch der Mordanschlag wurde verraten und wieder einmal
waren es die Römer, die Paulus in Schutz nahmen. Nicht nur der römische
Offizier wird als überaus freundlich und fürsorglich geschildert, auch der
Statthalter Felix wird in ein günstiges Licht gerückt. Der wirkliche Felix
wird von Historikern allerdings als brutal und verschlagen bezeichnet. So
entsteht der Eindruck einer kompetenten und umsichtigen Schutzmacht, die
410 11. Die Apostelgeschichte
Paulus wieder und wieder aus den Klauen einer mordgeilen und hasserfüll-
ten Judenschaft rettet.
Zu 24. Wenige Tage später traf die jüdische Gesandtschaft in Caesa-
rea ein und ein ordentliches Gerichtsverfahren wurde eröffnet. Der Anwalt
der Juden bezichtigte Paulus eines verderblichen Charakters und der Rä-
delsführer einer die nationale Sicherheit bedrohenden Sekte der Nazarener
zu sein. Weitere Anklagepunkte waren Unruhestiftung und Schändung des
Tempels. Paulus wies alle Anklagepunkte zurück und widerlegte zunächst
den Vorwurf der Erregung öffentlichen Ärgernisses. Er sagte, dass er erst
wenige Tage im Lande sei während der niemand ihn in der Öffentlichkeit
als Agitator gesehen habe. Er war wegen der Überbringung eines Almosens
für das Volk nach Jerusalem gekommen und nicht um Unruhen zu schüren.
Im Tempel hielt er sich nur aus religiösen Gründen auf. Seine Ankläger
forderte er auf, Beweise für die Tempelentweihung beizubringen. Wahr ist
wohl, dass er eine führende Rolle in dem ‚Weg des Herrn‘ spiele, doch
weise er die Unterstellung zurück, dass dies eine lediglich aufrührerische
Sekte sei. Im Gegenteil, die neue Jesus Religion sehe sich im Einklang mit
den Propheten und dem Gesetz, teile die Hoffnung auf eine Auferstehung
der Toten mit den meisten Juden, und ihre Anhänger seien überzeugt, dass
durch sie die Verheißung Gottes an die Väter zu ihrer Erfüllung kommen
werde.
Felix vertagte den Prozess bis zur Ankunft des Oberst aus Jerusalem.
Paulus blieb gefangen, erhielt aber Hafterleichterung. Doch änderte sich in
den nächsten zwei Jahren nichts an seiner Situation; denn Felix war nicht an
einer Wiederaufnahme des Prozesses interessiert. Er suchte Paulus lediglich
gelegentlich zusammen mit seiner jüdischen Frau Drusilla zu unverbindli-
chen Gesprächen auf. Drusilla war bereits seine dritte Frau, sie selbst die
Schwester des jüdischen Königs Agrippa II. Felix, ein Heide und ehemali-
ger Sklave, hatte sie mit Hilfe der Künste eines Magiers dazu verleitet, sich
von ihrem ersten Mann scheiden zu lassen und sich mit ihm zu vermählen.
Felix wird Paulus wohl kaum aufgesucht haben, um mit ihm Glaubensfra-
gen zu diskutieren, sondern seine eigentliche Motivation dürfte Geldgier
gewesen sein. Des Verfassers Hinweis auf Felix Bestechlichkeit dürfte zu-
treffend sein, ist aber seinem Bemühen, ihn als korrekten und kompetenten
Staatsmann zu schildern, eher kontraproduktiv.
11.4. Die Verhaftung des Paulus und sein Weg nach Rom (Apg 21–28) 411
Zu 26. Vor den Gang nach Rom hat Lukas noch eine Verteidigungsrede
des Paulus vor König Agrippa eingeschoben, die ersichtlich dazu dient, in
dem jüdischen König einen weiteren Zeugen für Paulus Unschuld aufzei-
gen zu können. Agrippa I war ein Urenkel Herodes des Großen, der mit
seiner eigenen Schwester Berenike in einem inzestuösen Verhältnis zusam-
menlebte. Berenike selber wurde später zeitweilig die Geliebte des römi-
schen Kaisers Titus. Dem königlichen Paar erklärte Festus die „Sache des
Paulus“, nicht ohne zu betonen, dass er immer als korrekter Sachwalter
römischen Rechts gehandelt habe. Er beschrieb die Anklagepunkte gegen
Paulus und setzte hinzu, dass es hier seiner Meinung nach um einen inner-
religiösen Streit der Juden ginge und der Angeklagte keine todeswürdigen
Verbrechen begangen habe. Da er sich nun aber auf den Kaiser berufen ha-
be, wird er sich in Rom verantworten müssen. Er aber, Festus, hoffe, da
es ihm an konkreten Punkten für das Begleitschreiben an den Kaiser fehle,
dass König Agrippa mehr über den Angeklagten herausfinden könne.
Man könnte meinen, dass Festus auch einfach die Prozessakten, also
die protokollierten Aussagen von Kläger und Angeklagten, nach Rom hätte
mitschicken können aber Agrippa sollte eben als weiterer Entlastungszeu-
ge für Paulus auftreten. Die Reden sind wohl fiktiv. Wer hätte sie denn
auch aufschreiben sollen, um sie dann den Christen zu übermitteln? Hinzu
kommt, dass Paulus Zitat von Jesu Aussage ‚Es wird dir schwer sein, wider
den Stachel zu löcken‘ fast wörtlich mit der Warnung des in Menschen-
gestalt verkleideten Gottes Dionysos an den Thebanerkönig Theusus, sich
nicht einem Gott zu widersetzen, da er doch nur ein Mensch sei, überein-
stimmt (Euripides: Die Bakchen). Kaum vorstellbar, dass Paulus hier aus
der klassischen Tragödie des Euripides zitiert hatte. Lukas aber dürfte mit
griechischem Gedankengut wohl vertraut gewesen sein.
Schon die Erwähnung der Anwesenheit zahlreicher Notabeln lässt eine
Szene von großem Pomp, Würde und Wichtigkeit vor dem inneren Au-
ge entstehen, eine angemessene Kulisse für die weltgeschichtliche Bedeu-
tung des sich entfaltenden Christentums. Zu seiner Verteidigung trug Paulus
wieder seine persönliche Biographie vor, von Verfolgung der Christen bis
hin zu seiner Lebenswende, die durch die Christus-Erscheinung eingelei-
tet wurde. Er belegte aus der Schrift seine Überzeugung, dass Jesu Kom-
men von Mose und den Propheten geweissagt worden war. Wegen dieses
11.4. Die Verhaftung des Paulus und sein Weg nach Rom (Apg 21–28) 413
Glaubens und seiner Hoffnung auf die Auferstehung stehe er nun hier als
Angeklagter da.
Festus tat die Rede des Paulus als das Produkt eines überarbeiteten
Geistes ab während Agrippa zumindest nachdenklich erschien. Beide wa-
ren sich aber einig, dass Paulus unschuldig ist und dass er freigelassen wer-
den könne, hätte er sich nicht auf den Kaiser berufen.
Man mag Lukas Darstellung des Auftretens von Paulus vor König
Agrippa als unhistorisch abtun, doch sie setzt wichtige theologische Akzen-
te. Das hellstrahlende Licht, das die Damaskusbegegnung heraushebt, sym-
bolisiert den göttlichen Einbruch in die gegenwärtige Situation der Fins-
ternis, in welcher sich die Menschheit befindet. Aus diesem existentiellen
Verlorensein in einem Kreislauf von Sünde und Tod kann es für alle, Ju-
den wie Heiden, nur Errettung durch Hinwendung zu Jesus geben. So wie
Jesu Unschuld im Verhör gegen ihn beteuert wird, so gilt es fast analog
auch für Paulus. Immer wieder auch betonte Paulus seine Überzeugung,
dass in Jesus die Verheißung der Väter ihre Erfüllung gefunden hat. Doch
an einen leidenden und wieder auferstandenen Messias konnten die Juden
nicht glauben. Dagegen stand ihre eigene Erkenntnis aus der Schrift.
Zu 27. Und nun begann Paulus letzte Reise als Gefangener Roms, doch
auch so blieb er im Zentrum des Geschehens, das einer Odyssee gleicht.
Da er als Sträfling während der Überfahrt aber höchstwahrscheinlich an-
gekettet gewesen war, fragt man sich, wie er seine Autorität hat behaupten
können. Das ‚wir‘ im Text deutet darauf hin, dass auch einige seiner Ge-
fährten auf dem Schiff gewesen waren, vielleicht als private Passagiere. Das
ist durchaus möglich, fand die Überfahrt doch üblicherweise auf Handels-
schiffen statt, auf denen der römische Staat Plätze für sein Personal und die
Gefangenen anmietete. Bis dahin hat man aber den Eindruck, Paulus wäre
allein gewesen. Weder schien ihm einer seiner Glaubensbrüder beigestan-
den zu haben als sein Leben durch den Lynchversuch der Juden bedroht
war noch war irgendeiner zu seiner Verteidigung im Gericht aufgestanden.
Paulus erging es wohl ähnlich wie Jesus.
Die Gefangenen standen unter Aufsicht eines römischen Hauptmannes,
der schon bald ein freundschaftliches Verhältnis zur Paulus entwickelte und
seinen Rat schätzte, doch dessen Warnung vor einer Weiterfahrt wegen der
widrigen Wetterverhältnisse buchstäblich in den Wind schlug. Paulus aber
erweist sich allen Gefahren als überlegen und seine Souveränität und Vor-
414 11. Die Apostelgeschichte
aussicht, gewährt durch die Führung des Geistes, sichert ihm die Achtung
der Besatzung. Weder das bedrohliche Fehlverhalten der Matrosen, die das
Beiboot kapern wollten, noch die Tötungsabsicht der Soldaten nach dem
Schiffbruch auf Malta, können Gottes Plan gefährden, Paulus nach Rom zu
führen.
Es ist davon auszugehen, dass die Schiffsreise im großen und ganzen
authentisch ist und vielleicht im Kern auf einen Reisebericht zurückgeht.
Im Detail aber wird sie von Lukas in der Art einer homerischen Saga er-
zählt, wobei er die Gefährlichkeit und das Abenteuer der Schifffahrt in der
Antike allem Anschein nach wirklichkeitsgetreu nachempfunden hat. Un-
denkbar aber erscheint, dass der Sträfling Paulus im Geheul des tosenden
Sturmes an die versammelten Männer eine aufmunternde Rede hat halten
können. Nicht plausibel auch ist die Behauptung, dass der römische Haupt-
mann über die Führung eines Privatschiffes bestimmen konnte. Und gänz-
lich unwahrscheinlich ist die Vorstellung, dass die Matrosen bei völliger
Dunkelheit und heftigem Seegang mit einem Beiboot flüchten und damit
die relative Sicherheit des Schiffes aufgeben wollten.
Zu 28. Die Episode mit der Schlange und die von Paulus auf der Insel
vollbrachten Heilungswunder sollen seine übernatürlichen Fähigkeiten de-
monstrieren. Allerdings will Lukas ihn nicht als eine fast göttliche Person
verherrlichen sondern die himmlische Lenkung betonen, die hinter all dem
Geschehen steht. Die Wundertaten des Paulus regten die Großzügigkeit der
Menschen an, so dass die Schifffahrer gut versorgt für die Weiterreise wa-
ren. Nach Ankunft in Italien ging es dann zu Fuß weiter. Man fand dabei
noch Gelegenheit, die Gastfreundschaft einer einheimischen Christenge-
meinde zu genießen. Die Weiterreise des Paulus gestaltet sich mehr und
mehr wie ein Triumphzug; denn jetzt gesellen sich auch noch Brüder aus
den römischen Gemeinden dazu. In Rom darf Paulus dann, allerdings unter
Bewachung eines Soldaten, in eine Privatwohnung einziehen.
Man erhält den Eindruck, dass die Römer Paulus eher wie einen Gast
als einen Gefangenen behandeln. Aber dies ist ja im Einklang mit der rö-
merfreundlichen Tendenz des Lukas, sowohl in der Apostelgeschichte als
auch im Evangelium. Befremdlich ist nur, dass wir von den römischen
Christen nichts mehr hören. Warum hüllt sich Lukas da in Schweigen?
Aber nun wird es noch einmal spannend. Paulus traf in Rom auf Vertre-
ter der jüdischen Synagoge. Noch einmal tritt die Ablehnung des Judentums
11.4. Die Verhaftung des Paulus und sein Weg nach Rom (Apg 21–28) 415
Das Christentum nahm seinen Anfang in Jerusalem. Hier bildete sich kurz
nach Jesu Tod im Jahre 30 n. Chr. eine Urgemeinde mit den Jüngern als
ihren Kern. Die Apostelgeschichte schildert, dass diese zwar im Laufe der
nächsten Monate und Jahre durch Verkündigung und Lehre eine wachsen-
de Zahl von Anhängern dazugewann, in Folge aber auch mehr und mehr
das Missfallen der religiösen Autoritäten erregte. Der zunehmende öffent-
liche Druck führte um 32 n. Chr. zu Prozess und Hinrichtung des Stephanus
und einer ersten Verfolgungswelle der Christen. Viele Anhänger des Weges,
wie sich die Jesus-Bewegung zunächst nannte, flüchteten aus Jerusalem und
trugen die Botschaft Jesu nach Judäa und darüber hinaus. Als Paulus 46 n.
Chr. sein eigenes Missionswerk begann waren also bereits 14 weitere Jahre
ins Land gegangen und während dieser Zeit erste Gemeinden wie z. B. in
Antiochia und vielleicht auch in Rom gegründet worden. Paulus war also
genau genommen nicht der erste Missionar gewesen, doch hatte er zielstre-
biger, systematischer und erfolgreicher als alle seine Vorgänger im Diens-
te seines Herrn gearbeitet. Als unermüdlicher reisender, weder Tod noch
Teufel scheuender Missionar, ist er im kollektiven Gedächtnis des Chris-
tentums verhaftet geblieben. Allerdings können sich unsere Erkenntnisse
über ihn nur auf die Selbstzeugnisse in seinen Briefen und auf die lukani-
sche Apostelgeschichte stützen; denn in außerbiblischen Quellen wird er
nirgends erwähnt.
Paulus hat seine Bewunderer wie auch seine Verächter. Für die einen
ist er eine Gestalt von weltgeschichtlicher Größe, der die kleine christliche
Gemeinde davor bewahrt hatte, in das Judentum assimiliert zu werden wo-
mit sie ihr eigenständiges Profil hätte aufgeben müssen. Ihnen gilt er als
Begründer der christlichen Theologie und damit als eigentlicher Stifter des
Christentums, dessen Briefe als so wegweisend und exemplarisch empfun-
den worden waren, dass man sie sammelte, miteinander austauschte und
zuweilen redaktionell bearbeitete. Sein theologisches Erbe wurde in einer
paulinischen Schule weitergeführt und je nach Situation neu ausgelegt. An-
418 12. Paulus, der erste christliche Missionar
dere sehen in ihm einen fanatisch verbohrten Rechthaber, der jegliche Ab-
weichung von der wahren Lehre, wie er sie verkündigte, als Ausgeburt des
Teufels diffamierte, einer, der die schlichte und volkstümliche Botschaft
des Jesus Christus in eine komplexe Dogmatik übertrug und damit dessen
Sinn verfälschte und für den die Welt ein Jammertal und Gott ein zorniger
Rächer war, der nur durch das Opfer des eigenen Sohns versöhnt werden
konnte.
Man wird Paulus und seinem Wirken nur gerecht werden können, wenn
man sein Schaffen im Kontext beurteilt. Wie auch aus seinen Briefen her-
vorgeht, entwickelte er seine Theologie und Ethik vornehmlich als Antwort
auf Probleme, Herausforderungen und Bedrohungen innerhalb und außer-
halb der christlichen Gemeinden. Sein Denken allerdings war von seiner
sozialen und religiösen Umwelt vorgeprägt worden. Beginnen wir also zu-
nächst mit einer Beschreibung dieser Umwelt, in der Paulus gelebt und ge-
wirkt hatte.
Paulus waren diese paganen Zeremonien und Feste aus eigenem Er-
leben bekannt. Liegt es da nicht nahe, darauf zu schließen, dass die früh-
christlichen Sakramente von Taufe und Herrenmahl den Stempel ihrer heid-
nischen Herkunft tragen und sich sogar das Evangelium vom Sterben und
Wiederauferstehen des Christus von den Mysterienkulten zumindest in sei-
nen Grundzügen herleiten lässt? Gerade die zur Ekstase neigenden, vom
Heidentum zum Christentum konvertierten Korinther werden die Herren-
mahlzeit wohl im Sinne eines Mysterienkultes verstanden haben. Gegen
diesen Hintergrund erscheint der Übergang zur neuen Religion weniger als
Abbruch sondern als Kontinuität; denn viele Elemente der paganen Vergan-
genheit hatten sich ja in christlichen Ritualen erhalten. Das Christentum be-
fand sich in Konkurrenz zu den heidnischen Mysterienkulten und verdankte
seine Anziehungskraft zum Teil gerade auch seiner Ähnlichkeit mit diesen.
Es ist fraglich, ob sich eine völlig fremde Religion überhaupt hätte durch-
setzen können. So entstand das Christentum wohl in dieser eigentümlichen
Gemengelage von Heidentum und Judentum wobei es Impulse von beiden
aufgenommen hat. Der eigentliche Geburtshelfer aber war Paulus gewesen.
Bezeichnend für den Aberglauben dieser Zeit war auch das Treiben von
Wunderheilern, Magiern und selbst-ernannten Astrologen, unter denen sich
natürlich auch allerlei Scharlatane tummelten, denen es nur um das schnelle
Abzocken ging. Überall aber im Reich kursierten Erzählungen über Wun-
der, Zauber und Magie, in denen sich die Hoffnungen der Menschen auf
Besserung ihrer Lebensumstände kristallisierten. Durch den Enzyklopädis-
ten Plinius der Ältere sind wir über eine lange Liste von Zauberkünsten
unterrichtet. Plinius selber hielt dies alles für Schabernack und verwerfli-
chen Aberglauben; die einfachen Leute aber waren leicht zu beeindrucken
und nahmen Berichte darüber zumeist für bare Münze.
Die Juden mischten in dem Geschäft mit der naiven Gläubigkeit der
Menschen kräftig mit. Mit Hilfe der Magie versucht der Zauberkünstler
sich die Kraft übersinnlicher Mächte dienstbar zu machen, so zum Bei-
spiel in der Beschwörung von Dämonen, bei der vor allem die Manipula-
tion von geheimen Namen eine Rolle spielt. Hier hatten die Juden offen-
sichtlich einen Geschäftsvorteil; denn sie hatten einen Gott, dessen Namen
nicht genannt werden durfte. Hunderte magische Papyri, auch solche mit
dem geheimnisvollen und unaussprechbaren Namen des jüdischen Gottes
YHWH, sind bei Ausgrabungen gefunden worden. Sogar von Alexander
12. Paulus, der erste christliche Missionar 421
dem Großen wird berichtet, dass er das Tetragrammaton, also das Vierbuch-
stabenwort YHWH, verehrte. Der Anwendungsbereich der Magie reichte
von Liebes- und Schadenzauber bis hin zu Heilung von Migräne. Heiler,
die sich auf Wunderkräfte beriefen, boten ihre Dienste gegen Zahlung an
während in den mit dem Halbgott Asklepios verbundenen Heilstätten Men-
schen in der Erwartung der nächtlichen Erscheinung eines Traumgesichtes
in besonderen Liegeräumen dahinschlummerten und auf ihre Gesundung
hofften. Dazu gab es noch das Orakelwesen. Die sich in Trance verset-
zenden Weissager wie die Pythia in Delphi gaben Entscheidungshilfe für
besondere Anlässe im Leben, sei es der Antritt einer Reise, Rat bei einer
anstehenden Verheiratung oder für eine politische Situation.
Der Kaiserkult dominierte das öffentliche Leben. So mancher Herr-
scher ließ sich bereits zu Lebzeiten in den Rang eines Gottes erheben. Ca-
ligula führte sich wie ein orientalischer Despot auf und die von ihm einge-
forderte Verehrung grenzte an Irrsinn, so wenn er zum Beispiel sein Lieb-
lingspferd in den Rang eines Priesters erheben ließ. Gewöhnlich aber wurde
bei der Verbrennung der Leiche der Aufstieg des Geistes des verstorbenen
Imperators in den Himmel bezeugt und ihm damit Götterstatus eingeräumt.
Das bekränzte Bild des Gottkaisers wurde in Prozessionen herumgeführt,
Priester verrichteten ihre Opfer für den vergöttlichten Kaiser im Tempel
und man feierte Feste zu seinen Ehren.
Schließlich ist neben Kult und Götterglauben noch der Einfluss der grie-
chischen Philosophie, insbesondere auf die gehobene Klasse, zu erwähnen.
Zu Zeiten des Paulus war die Attraktivität des Epikureismus bereits am
Schwinden. Diese Lehre begreift sich als eine Anleitung zum individuel-
len Glück. Der Pfad dahin beruht auf der Überwindung von Ängsten und
der Vermeidung von Schmerzen. Das Ideal des Epikuriers ist das Erreichen
eines inneren Zustandes von Seelenruhe. Die vorherrschende Philosophie
aber war die Stoa. Ähnlich wie beim Epikureismus geht es auch bei ihr
um das gelingende Leben, das, so glaubte man, nur im Einklang mit der
Natur und der Einfügung in sein Geschick erreicht werden kann. Während
aber Epikur den Göttern nur eine nebensächliche Rolle einräumt, vertritt
die Stoa die Ansicht, dass die Weltvernunft oder der Logos das ganze Uni-
versum durchdringt und dass Gott daher in allen Dingen des Seins zu finden
ist.
422 12. Paulus, der erste christliche Missionar
„Sie sind Diener Christi – ich rede töricht: ich bin’s weit mehr! Ich habe
mehr gearbeitet, ich bin öfter gefangen gewesen, ich habe mehr Schläge er-
litten, ich bin oft in Todesnöten gewesen. Von den Juden habe ich fünfmal
erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen; ich bin dreimal mit Stöcken ge-
schlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten,
einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer. Ich bin oft gereist,
ich bin in Gefahr gewesen, durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Ge-
fahr unter Juden, in Gefahr unter Heiden, in Gefahr in Städten, in Gefahr in
Wüsten, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter falschen Brüdern; in Mü-
he und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost
426 12. Paulus, der erste christliche Missionar
und Blöße, und außer all dem noch das, was täglich auf mich einstürmt,
und die Sorge für alle Gemeinden.“ (2 Kor. 11,23–28).
4,13 f, wo Paulus seine körperliche Schwäche erwähnt, findet sich eine An-
deutung, wie sehr ihnen die körperlichen Strapazen und Entbehrungen im
galatischen Hochland mit seinen steilen Bergpässen, den extremen Tem-
peraturen, Hunger und Durst, wohl zugesetzt hatten. Schließlich aber er-
reichten die drei Missionare den aus der homerischen Sage bekannten, an
der Westküste Kleinasiens gelegenen Ort Troas, und setzten von hier nach
Europa über, ermutigt durch ein Traumbild, das Paulus nächtens erschi-
en. Im makedonischen Philippi fand Paulus in der Purpurhändlerin Lydia
seine erste Konvertitin, gleichsam die Keimzelle einer kleinen Gemeinde
mit der er sich immer besonders verbunden wusste, die einzige, von der
er sich unterstützen ließ. Sein Eingriff in die Beziehung zwischen Sklavin
und Herr wurde mit Gefängnis geahndet, aus dem sie aber des Nachts auf
wundersame Weise durch ein Erdbeben befreit wurden. Nachdem sie von
den örtlichen Behörden rehabilitiert worden waren, setzten sie ihren Weg
gen Süden nach Thessalonich weiter.
Paulus eigene Beschreibung des Aufenthaltes in Thessalonich weicht
in wesentlichen Punkten von der in der Apostelgeschichte ab. Zum einen
ist er dort wohl sehr viel länger geblieben (1 Thess 2,9) und zum anderen
scheinen sich keine Juden sondern nur Heiden dem neuen Glauben ange-
schlossen zu haben (1 Thess 1,9). Allerdings kam Paulus hier wiederum
mit den Juden in Konflikt und musste erneut flüchten. So nahm er den Weg
über Beröa nach Athen wo er unter den Philosophen für das Evangelium
warb, doch im Grunde nur Hohn und Spott erntete. Eigentlich hatte er vor-
gehabt, Thessalonich noch einmal einen Besuch abzustatten, wurde aber
daran gehindert (1 Thess 2,18). In Sorge um die Beständigkeit ihres Glau-
bens schickte er stattdessen nun Timotheus zu ihnen (1 Thess 3,1f) und
blieb allein zurück in Athen. Da seine Mission hier keinen Erfolg zeitigte
zog er weiter nach Korinth wo er gegen 50 n. Chr. eintraf und hier 1 1/2
Jahre bleiben sollte.
Korinth hatte in der Antike einen üblen Ruf, ein Ort von sprichwörtli-
cher Verderbtheit und Sittenlosigkeit. Das Verbum ‚korinthiazesthai‘ hatte
in der griechischen Umgangssprache die Bedeutung von ‚Unzucht treiben‘.
Im Tempel, welcher der Liebesgöttin Aphrodite gewidmet war, gaben sich
eintausend Sklavinnen als Huren der freischaffenden Liebe hin. Ihre Diens-
te wurden besonders von den Seeleuten gerne angenommen. Nun mag das
Bild sexueller Zügellosigkeit das Image von Korinth eintrüben, doch wird
430 12. Paulus, der erste christliche Missionar
hierin auch viel Übertreibung liegen. Der römische Philosoph Seneca je-
denfalls glaubte, dass man das Laster nicht einem Zeitalter oder einem Ort
anhängen dürfe, eher ist es eine Art genetischer Programmfehler im Men-
schen. Es ist allerdings auch wahr, dass Paulus in seinen Briefen an die
Korinther über Aspekte sexueller Moral besonders ausführlich schrieb.
In Korinth verdingte sich Paulus zunächst als Zeltmacher bei einem ju-
denchristlichen Ehepaar namens Aquila und Priszilla, das aus Rom geflüch-
tet war und das in dem lederverarbeitenden Gewerbe zu Wohlstand gekom-
men war. Erst nach dem Eintreffen von Silas und Timotheus in Korinth,
die Gaben aus Philippi mitbrachten, konnte er sich ganz der Verkündigung
widmen. Und als auch noch eine Anklage, die von den Juden gegen ihn bei
dem Statthalter Gallio vorgebracht worden war, abgewiesen wurde, konn-
te der Gemeindeaufbau relativ ungestört voranschreiten. In Korinth führte
Paulus das Herrenmahl ein, dessen Grundkonzept wahrscheinlich auf ei-
ner urkirchlichen Tradition beruht (1 Kor 11,23–26). Sein Ablauf scheint
dem griechischen agape-Gastmahl nachempfunden gewesen zu sein, war
es doch mit einem gemeinschaftlichen Essen verbunden. Vorsteher wurden
mit der Aufgabe der Gestaltung des Gottesdienstes betraut (1 Thess 5,12).
Hieraus entwickelte sich später das Amt des Bischofs. Ansonsten spricht
Paulus nur von Aposteln, Propheten und Lehrern (1 Kor 12,28). Von Pries-
tern ist niemals die Rede, warum auch, wenn das Ende so nahe war. Eine
Kirche so wie wir sie heute verstehen, schwebte ihm zumindest nicht vor.
In Korinth schrieb Paulus auch seinen ersten Brief an die Thessaloni-
cher, die älteste uns erhaltene Schrift des Neuen Testaments. Timotheus
war zwar mit guten Nachrichten aus Thessalonich zurückgekehrt (1 Thess
3,6), doch die Brüder dort trieb die Sorge um, was denn nun mit den vor
der Wiederkehr Jesu Verstorbenen geschehen würde. In diesem, in einem
freundschaftlichen Ton gehaltenen Antwortbrief, gibt er seiner Vorstellung
Ausdruck, dass die Entschlafenen am Tag der Wiederkunft Christi den Grä-
bern entsteigen und zusammen mit den noch Lebenden von Gott dem Herrn
zugeführt und in den Himmel entrückt werden (1 Thess 4,13–18).
Nach Beendigung seines Aufenthaltes in Korinth segelte Paulus zusam-
men mit dem Ehepaar Aquila und Priszilla nach Ephesus. Dort wird er
mehrere Jahre intensivster Schaffenskraft verbringen, aber auch persönli-
che Bedrängnis erfahren und mit schwersten Problemen in den von ihm
gegründeten Gemeinden zu ringen haben.
12. Paulus, der erste christliche Missionar 431
aber ist, dass Paulus sich sehr wohl einer akuten Verfolgungssituation aus-
gesetzt sah und im Gefängnis um sein Leben bangen musste (Phil 1,21–
24). Die Gemeinde in Ephesus war nicht von ihm gegründet worden aber
er wirkte hier zusammen mit Apollos, einem in Alexandria in den Geis-
teswissenschaften und der Rhetorik ausgebildeten Judenchristen, der auch
in der Schrift bewandert war. Nur hat Lukas die Reihenfolge der Tätigkeit
dieses Apollos falsch herum beschrieben; denn wie 1 Kor 16,12; 3,4–9 be-
legen, war Apollos zunächst in Korinth tätig bevor er zusammen mit Paulus
in Ephesus wirkte. Nach Lukas aber treffen sich die beiden nie (Apg 19,1).
Vor seinem Einzug in Ephesus hatte Paulus noch die Gemeinden in Ga-
latien und Phrygien aufgesucht. Von den Auseinandersetzungen mit den
Heiden abgesehen beschäftigten ihn in der nächsten Zeit vor allem Proble-
me mit den Gemeinden in Korinth und Galatien. Wie aus dem ersten Korin-
therbrief hervorgeht, hatte sich in der dortigen Gemeinde eine Art Konkur-
renzdenken breit gemacht. Mitglieder brüsteten sich mit ihren Geistesgaben
und fühlten sich ihren Brüdern als überlegen. Paulus bemühte sich, diesen
Höhenflug der Charismen auf die Erde zurückzuholen indem er auf sei-
nen eigenen uneigennützigen Einsatz und Christi Lebenshingabe am Kreuz
verwies. Er erläuterte die Praxis der christlichen Freiheit, die ihre Grenze in
der Rücksichtsnahme auf die sogenannten Schwachen in der Gemeinde fin-
den sollte und nimmt Stellung zu innergemeindlichen Fragen wie sexuelle
Moral und das Verhältnis von Mann und Frau.
Vor Absenden dieses ersten Briefes an die Korinther hatte Paulus bereits
Timotheus zu ihnen geschickt, wohl in der Absicht, die nötigen Korrekturen
im Gemeindeleben anzumahnen. Doch Timotheus kommt mit schlechten
Nachrichten zurück und berichtet vom Eindringen fremder Missionare, die
den geistlichen Enthusiasmus propagieren, also das was Paulus gerade hat
dämpfen wollen. In mehreren Briefen, die im 2. Korinther zusammengefügt
worden sind, reagiert Paulus, indem er unter anderem die Legitimität seines
Amtes als Apostel begründet. Diese Briefe, von Titus überbracht, bringen
nicht den gewünschten Erfolg und so reist Paulus kurzentschlossen selbst
nach Korinth. Doch der Graben zwischen ihm und der Gemeinde vertieft
sich und es kommt zu konfrontativen Auseinandersetzungen. Frustriert und
enttäuscht kehrt Paulus wieder zurück nach Ephesus. Emotional aufgewühlt
schreibt er den Korinthern unter Tränen (2 Kor 2,4) einen harten, polemi-
schen Brief. In ihm setzt er sich mit dem Imponiergehabe seiner Gegner
12. Paulus, der erste christliche Missionar 433
diese Fremdmissionare sind dabei, sein ganzes Werk in Frage zu stellen und
seine Arbeit zu unterminieren. Für ihn sind es ‚Feinde des Kreuzes Christi‘
(Phil 3,18); denn ihre Forderung nach Gesetzlichkeit ist ein Angriff auf sein
Verständnis von Christus als den einzigen Heilsweg.
Endlich, nachdem er in Makedonien überwintert hatte, kam er in Ko-
rinth an und blieb dort die nächsten drei Monate (56 n. Chr.). Hier schmie-
dete Paulus schon wieder Zukunftspläne. Nach der Ablieferung der Kol-
lekte in Jerusalem plante er, über Rom zu reisen und von dort aus zu einer
weiteren Mission nach Spanien und ans westliche Mittelmeer aufzubrechen
(Röm 15,23–26). War dieses Vorhaben realistisch? Es gilt zu bedenken,
dass im Gegensatz zu den bereits von ihm missionierten Osten man in die-
sen Gebieten Latein sprach und dass es hier keine größeren Judengemein-
den mit Synagogen gab, die als Anlaufpunkte dienen konnten.
Im Haus des Gajus in Korinth arbeitete Paulus nun an dem Römerbrief,
der von Literaten und Theologen als sein tiefsinnigstes Werk beurteilt wird,
ein Stück herausragender Weltliteratur. Sein Zentrum bildet die Rechtfer-
tigungslehre, die Lehre von der Rechtfertigung nur aus Glauben und nicht
aus Werken. Es bleibt sich zu fragen, warum Paulus ausgerechnet an die
ihm nicht bekannte christliche Gemeinde in Rom einen solchen ausführ-
lichen, systematisch gegliederten Brief geschrieben hatte. Die in ihm ent-
haltene voll entwickelte theologische Botschaft ist aber nicht nur an die
Römer sondern an die ganze Christenheit gerichtet. Es ist sein theologi-
sches Vermächtnis das er hier formuliert hat, wohl im Bewusstsein, dass
die bevorstehende Reise nach Jerusalem zur Ablieferung der Kollekte vol-
ler Ungewissheit und Gefahren war. So bat er die Gemeinde, dass man für
ihn bete, „damit ich errettet werde von den Ungläubigen in Judäa und mein
Dienst, den ich für Jerusalem tue, den Heiligen willkommen sei“ (Röm
15,30f). Es stand für ihn alles auf dem Spiel. Es ging um sein Leben und
sein Werk. Es ging bei der Kollekte auch um die Einheit der Kirche; denn
sie sollte als Liebesgabe das Band der Gemeinschaft zwischen Heiden- und
Judenchristen festigen.
Was Paulus seinerzeit durch den Kopf ging, als er diesen Brief aufsetz-
te, darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen, aber wie aus seinen Zei-
len hervorgeht, beschäftigte ihn wahrscheinlich der Gedanke, wie er wohl
in Jerusalem empfangen werden würde. Hatten die ihm feindlich gesinnten
pharisäischen Judenchristen inzwischen in Jerusalem die Oberhand gewon-
12. Paulus, der erste christliche Missionar 435
nen, womit die Entfremdung zwischen ihm und der Gemeinde dort besie-
gelt wäre? Auf welche Seite hatten sich der Herrenbruder Jakobus und seine
Vertrauten geschlagen? Würde er wirklich noch in Jerusalem willkommen
geheißen und nicht eher wie ein Abtrünniger behandelt werden?
Paulus überreichte den Römerbrief seiner Gehilfin Phöbe, die ihn der
Gemeinde in Rom überbringen soll. Er selbst reiste zunächst über Make-
donien zurück nach Troas wo sich der denkwürdige Zwischenfall mit dem
Fenstersturz des jungen Mannes ereignete. Dann segelte er weiter nach Mi-
let und ließ von dort die Ältesten aus Ephesus rufen, denen er eine bewe-
gende Abschiedsrede hielt. Weiter ging es über Tyrus in Phönizien nach
Ptolemais und von dort nach Cäsarea, wo er noch einmal mit dem Evange-
listen Philippus und seine Familie zusammentraf und der Prophet Agabus
ihm mit einer Zeichenhandlung Unheil verhieß. Dann zog er hinauf nach
Jerusalem und übernachtete zunächst bei einem alten Jünger. Jakobus selbst
bot ihm keine Gastfreundschaft an. Ein ungutes Zeichen?
Von Jerusalem nach Rom (Apg 21,15–28)
Lukas musste vom Tod des Paulus Kenntnis gehabt haben. Warum sonst
gestaltete er seine letzte Reise nach Jerusalem wie den Zug eines Märtyrers,
angereichert mit rührenden Abschiedszenen. Sicherlich, Paulus wusste um
die Gefahren, die vor ihm lagen. Aber war er dem Tod zuvor nicht schon
mehrere Male knapp entronnen? Immerhin hatte er noch Pläne für eine
ausgreifende Mission im westlichen Mittelmeer.
Wahr ist allerdings auch, dass Paulus sich in Jerusalem mit zwei ver-
schiedenen Gegnern konfrontiert sah. Die Feindschaft der Juden gegenüber
den Christen war in den letzten Jahren eher noch gewachsen. Nur wenige
Jahre später (62 n. Chr.) sollte der Herrenbruder Jakobus hingerichtet wer-
den und nur kurz vor Paulus Ankunft war der Hohepriester Hananias ermor-
det worden. Die zelotische Partei schürte den Hass gegen die Römer. Auf-
ruhr und Aufstände, angefacht durch Widerstandkämpfer, harte Übergriffe
der römischen Obrigkeit, von Banden verbreitete Furcht und Angst im Lan-
de, all dies heizte die Stimmung immer mehr auf. Die Christen mussten sich
da bedeckt halten, um sich nicht unnötig des Verdachts einer anti-jüdischen
Gesinnung auszusetzen.
In dieser Situation nun kam Paulus nach Jerusalem, wohl um 57 n. Chr.,
er, der das jüdische Gesetz für irrelevant erklärt und an seine Stelle den
neuen Messias, Jesus Christus, gesetzt hatte, er, der in den Augen der Ju-
436 12. Paulus, der erste christliche Missionar
Seite die bösen Juden, die ihm nach dem Leben trachteten und auf der an-
deren die wohlwollenden und sich immer korrekt verhaltenden Römer, die
Paulus Schutz gewährten.
Wenn wohl die Gefahren auch real waren, so strapaziert es doch den
gesunden Menschenverstand, dass Paulus, der doch für die Römer nur ein
gewöhnlicher Gefangener war, sich zur Leitfigur auf dem Schiff entwickeln
konnte. Aber Lukas wollte nun mal glaubhaft herausstellen, dass nichts
Gottes Plan mit Paulus verhindern konnte. Und so durfte Paulus Ratschlä-
ge geben, die Besatzung mit Hinweis auf eine Engelerscheinung ermuntern
und schließlich auch noch Anweisungen für die Rettung des Schiffes geben.
Zweifel an ihrer geschichtlichen Glaubwürdigkeit lässt schon die Tatsache
aufkommen, dass uns die Erzählung in zwei verschiedenen Versionen über-
liefert worden ist.
Nach Überwinterung auf der Insel Malta, wo man gestrandet war,
brachte ein anderes Schiff die Besatzung und die Gefangenen nach Puteoli
in Italien, südlich von Rom. Von hier aus legte man die letzte Etappe zu
Fuß zurück, nicht ohne dass Paulus einige erholsame Tage bei der hiesi-
gen christlichen Gemeinde vergönnt waren, die Erlaubnis des römischen
Hauptmannes immer vorausgesetzt. Unterwegs, als ob er sich auf einem
Triumphzug befände, empfing er Abgesandte der römischen Gemeinde,
von der man danach nichts wieder hört. Sodann hatte er das Privileg, in
Rom in einer Privatwohnung, bewacht nur von einem Soldaten, unterge-
bracht zu werden. Paulus war am Ziel seiner Wünsche. Leider widersetzten
sich die Juden der Stadt, die er zu einem privaten Empfang einlud, wieder
einmal seinen Bekehrungsversuchen und so schleuderte er ihnen die pro-
phetischen Verstockungsworte (Jes 6,9–10) entgegen und tat ihnen kund,
dass von nun an das Heil den Heiden gilt.
Über das Ende des Paulus gibt es nur Vermutungen. Einige halten es
für möglich, dass Paulus nach einer gewissen Zeit aus der Haft frei kam
und tatsächlich Spanien aufgesucht hatte, später aber noch einmal verhaftet
wurde. Belege dafür gibt es allerdings nicht. Wahrscheinlich ist eher, dass
er während der von Nero initiierten Christenverfolgungen im Jahre 64 n.
Chr. seinen Tod fand, hingerichtet als römischer Bürger durch das Schwert.
Über einige Daten in Paulus Biographie haben wir Gewissheit, über
andere lässt sich nur mehr oder weniger spekulieren. So lassen sich unter
Vorbehalt die wichtigsten Stationen im Leben des Paulus wie folgend nen-
nen:
438 12. Paulus, der erste christliche Missionar
Nun ist die Schöpfung eine gefallene Schöpfung; denn das Geschöpf
hat sich von seinem Schöpfer losgesagt und sich eine eigene Wirklichkeit,
von Gott getrennt, aufgebaut, und da es wahres Leben nur in Christus durch
Gott gibt, ist er daher der Sünde und dem Tod verfallen. So ist menschliche
Existenz durch einen Makel und Mangel gekennzeichnet, fehlt ihr doch der
Geist Christi, der erst die Einheit des Menschen mit Seele und Leib herbei-
führt (1 Thess 5,23). Paulus geht also von einer ganzheitlichen Sicht des
Menschen aus wie er denn auch für seine Weiterexistenz nach dem Tode
ein leibliches Zusammensein mit Christus voraussieht (1 Thess 4,16f). Die
Menschheit aber, die sich durch die Einrichtung einer widernatürlichen,
eigenen Ordnung dem Schöpfer verweigert hat, hat sich Gott zum Feind
gemacht. So droht des Allmächtigen Zorn und Gericht. Doch hat Gott in
seiner Gnade der gefallenen Menschheit noch einmal eine Chance zur Um-
kehr gegeben indem er seinen eigenen Sohn, Jesus Christus, gesandt hat.
Also ist das Evangelium von Christus eigentlich nichts anderes als Got-
tes erneutes Rufen, verbunden mit dem Angebot der Rettung welches im
Glauben an Christus nur angenommen zu werden braucht. Gott hat durch
das Opfer Christi am Kreuz seine Liebe erwiesen, damit der Mensch sich
mit ihm versöhne (2 Kor 5,20) und so die Feindschaft überwunden werde.
Christus ist für Paulus die Zentralgestalt schlechthin; es ist das Geschick
Christi, das für die Menschheit durch Gott zu Heil und Erlösung bestimmt
worden ist.
Warum sollte sich Christi Tod als heilsam erweisen? Um dies zu ver-
stehen, muss man Kreuz und Auferstehung zusammen sehen (1 Kor 15,12–
19). Das Heil für die Christen wird dadurch ermöglicht, so Paulus, weil
Christus stellvertretend für uns mit dem Fluch des Kreuzes (Dtn 21,22f)
im Gehorsam zu Gott auch unsere Sünden auf sich genommen hat, und
indem er in seiner Auferstehung den Tod besiegte und damit die Vergäng-
lichkeit des Lebens überwand, hat er auch unsere Sünden ausgetilgt (Gal
3,13; 2 Kor 5,21). Jesu heilwirkender Tod unterscheidet sich grundsätzlich
von dem jüdischen kultischen Sühneverständnis; denn während die vorge-
schriebenen Opferhandlungen und der symbolische Akt der Austreibung
des Sündenbockes (Lev 16) auf Wiederholung angelegt sind, werden durch
Jesu Sühnetod unsere Sünden ein für allemal ausgelöscht. Jesus hat sozu-
sagen sein Leben als Lösegeld dahingegeben, um uns aus der Knechtschaft
von Sünde und Tod freizukaufen (1 Kor 7,22f).
12. Paulus, der erste christliche Missionar 441
Eine solche Auslegung wird für die meisten wohl schwerlich nachzu-
vollziehen sein. In alledem bleibt es aber festzuhalten, dass Paulus Gott als
das eigentliche Subjekt des Handelns begreift. Gott hat das Geschick Chris-
ti inszeniert und bleibt in Christus mit der Welt verbunden; „denn Gott war
in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre
Sünden nicht zu“ (2 Kor 5,19). So ist zu folgern, dass, in wem Christi Geist
wohnt, der hat auch Gottes Geist in sich (Röm 8,9), und wer also zu Chris-
tus gehört, der ist inwendig total verändert, so dass er eine neue Kreatur,
eine neue Schöpfung geworden ist. Erst dann wird Gott „alles in allem“ (1
Kor 15,28) sein. Dieses neue Leben hat Gott für uns als Gnadengeschenk in
Aussicht gestellt, auf dass wir erkennen mögen, dass der Tod Jesu eigent-
lich eine Liebesgabe war. Bedingung ist, dass wir uns im Glauben mit Jesus
Christus einlassen und ihn als unseren Herrn annehmen. Schwer vereinbar
jedoch mit dieser Überzeugung, dass der Mensch sich frei für Christus ent-
scheiden könne, ist der Erwählungsgedanke; denn gemäß diesem bestimmt
Gott, wer zu ihm gehören wird oder nicht (z.B. 1 Thess 1,4; Röm 8,30).
Zweites Thema: Die Rechtfertigung des Menschen – Die Sünde und
der Glauben
Glauben bedeutet Vollzug der Annahme des rettenden Evangeliums vom
gekreuzigten und wieder auferstandenen Jesus Christus. Glaube ist also ein
Heilsglaube, da er die Antwort auf den werbenden Gott und dessen Erwäh-
lungshandeln ist, durch das die Menschen in ihrer Zuordnung zu Christus
statt Zorn Heil erlangen. Der Vorgang des zum-Glauben-Kommen ist kein
langsames Reifen sondern ein spontaner Wechsel von einem inneren Zu-
stand der Feindschaft in einen des Friedens und der Freundschaft mit Gott,
bewirkt durch die Einsicht, dass Gott das Geschick der Welt in der Hand
hält. So ähnlich hatte ja auch Paulus seine eigene Lebenswende empfun-
den. Es ist der Übertritt von einer Existenz geprägt durch Sünde und Tod
in eine geformt durch Liebe, Hoffnung und Glauben, was den Eintritt in
ein wirkliches Leben in Christus und Gott bedeutet. Nur in diesem Schritt,
vollzogen im Glauben, kann der Mensch also gerechtfertigt werden. Werke
in sich selber aber sind nichtig.
Der Glaube geht die ganze Person an; denn sie wird durch den Emp-
fang des Geistes neu gestaltet. Der Geist aber drängt zur Liebe und führt
aus der Knechtschaft der Sünde in die Freiheit des neuen Menschen (Röm
6,18–23) in Christus/Gott. Andererseits ist dieses Heil nur vorläufig; denn
442 12. Paulus, der erste christliche Missionar
es garantiert nicht die Rettung vor dem drohenden Endgericht: der Mensch
steht immer wieder neu in der Bewährung seines Glaubens. Gibt er ihn
preis, dann droht der Rückfall in die Sünde und damit in den Tod. Doch
dem Christen winkt als Lohn für seine Treue im Glauben die Erlangung
des ewigen Lebens. Dieses Ziel ist Ansporn zu einer Art Wettlauf, in dem
der Christ, gerüstet mit den Waffen des Lichts, dem Schutzkleid des Glau-
bens und den Helm der Hoffnung tragend (Röm 13,12; 1 Thess 5,8), seinen
Sieg über die Verführungen und den Betrug der Sünde erringen wird (1 Kor
9,24–27).
Der Mensch trägt Verantwortung für das was er ist. Ist er aber in einem
Zustand der Sünde, dann befindet er sich in einem inneren Kampf, in dem
er zwar das Gute wollen will, da er aber dem Fleisch verhaftet und so der
Sünde verfangen ist, das Böse tut (Röm 7,17–19); denn der Ausgang der
Sünde kann nur das Schlechte sein. Die Sünde ist so mit der Person vereint,
dass sie gleichsam wie ein zweites Ich in ihm waltet was in dem Menschen
ein Empfinden der Fremdherrschaft hervorruft. Ein derartiges Verfallensein
der Sünde kann nur Hoffnungslosigkeit bewirken. Die einzige Rettung aus
diesem Zustand völliger Entfremdung vom wahren Sein vollzieht sich im
Glauben an die erlösende Macht in Jesus Christus.
Glaube bedeutet ein Zusammensein mit Jesus in Gott, Sünde ihr Ge-
trenntsein. In der Distanz zu Gott verfehlt der Mensch das Leben. Er fühlt
eine innere Leere in sich, die er in einem sich ständig nährenden Zwang
des Begehrens zu füllen sucht, doch das nie zu einem Ende findet, da die
Begierde aus sich heraus ständig neues Begehren schafft, ein Begehren, das
den Menschen auch von seinem Nächsten trennt; denn das Begehren denkt
nur an sich und macht ihn zur wahren Liebe unfähig. Seine Quelle ist die
Sünde, die den Menschen besetzt und einen inneren Zwiespalt hervorruft,
dem er nicht entrinnen kann. Seine einzige Möglichkeit findet er in dem
neuen Sein in Christus, begründet in Evangelium, Taufe und Geist. Damit
aber stirbt der alte Mensch und er wird eine neue Schöpfung (Röm 6,2–6).
Ist der Mensch frei? Paulus Einstellung könnte man als einen abge-
schwächten Determinismus bezeichnen. Nach ihm hat der sündige Mensch
die Kontrolle über sein eigenes Tun verloren. Wie aber kann er dann für
sein Handeln verantwortlich gemacht werden? Genau genommen eigent-
lich nur für die Verweigerung seines Glaubens an Jesus Christus. Und auch
der Heide, dem Christus noch nicht bekannt war, wird schuldig gesprochen;
12. Paulus, der erste christliche Missionar 443
denn er hätte den wahren Gott ja an seinen Werken erkennen können (Röm
1,18–20). Aber Paulus denkt nicht logisch konsequent. Zum einen steht der
Freiheit des Menschen der Erwählungsgedanke entgegen, doch wenn er zu-
weilen in das alte jüdische Denken von Tat-Ergehen verfällt, so wenn er da-
von spricht, dass der Mensch ernten wird, was er gesät hat (Gal 6,7), dann
scheint er damit zu implizieren, dass der Mensch eben doch frei ist, zu tun
oder zu lassen. Frage, bezieht er sich hier auf alle Menschen oder nur auf
den Christen, dessen Freiheit ja auch den möglichen Rückfall einschließt?
Wie frei also ist der Mensch wirklich in seinem Handeln?
Drittes Thema: Das Gesetz und Israel
Die Sünde und das Gesetz stehen in einem ursächlichen Zusammenhang
zueinander. So ist das Gesetz die Kraft der Sünde (1 Kor 15,56); denn es
zeigt klar die Grenzen zwischen gut und böse auf (Röm 3,20), und im Über-
treten des Gesetzes, welches ja den Willen Gottes reflektiert, macht sich
der Mensch schuldig und dies wird ihm als Sünde angerechnet (Röm 5,13).
Hier also wird der Mensch für seine Tat zur Verantwortung gezogen, die
damit von Paulus als willentlicher Vollzug in Freiheit des Handelns gedeu-
tet wird. Doch Sünder sind sie alle, die Juden, die seit Mose unter dem
Gesetz leben als auch die gottlosen Heiden (Röm 5,13); denn diesen ist in
ihr Herz geschrieben, was das Gesetz fordert (Röm 2,15). Wieder erscheint
Paulus Gedankengang widersprüchlich. Einerseits spricht er von der Sünde
als die den Menschen kontrollierende Macht, andererseits bestreitet er hier
ja gerade wieder, dass der Mensch keine Wahl hätte.
Ist denn „das Gesetz Sünde“? (Röm 7,7) fragt sich Paulus. Er verneint
das, denn das Gesetz ist doch himmlischen Ursprungs (Gal 3,19). Auch fin-
den wir bereits im Gesetz das Gebot der Nächstenliebe, das sich allerdings
erst in der christlichen Liebe erfüllt (Röm 13,8–10). So schlecht also kann
das Gesetz nicht sein. Doch Paulus hat eine höchst ambivalente Einstel-
lung zum Gesetz. So behauptet er, dass das Gesetz nur Zorn anrichtet (Röm
4,15); denn es nährt die Sünde, da Verbote ja gerade das Begehren stärken,
sie auch zu übertreten. So spricht er denn auch von dem Fluch des Gesetzes
(Gal 3,13) und vom Gesetz als den Buchstaben, der tötet (2 Kor 3,6). Dem
entgegen findet er, dass das Gesetz und seine Gebote „heilig, gerecht und
gut“ (Röm 7,12.16) sind. Was denn nun? Das Gesetz ist für Paulus quasi
ein Auslaufmodell. Es hat seine Schuldigkeit getan und dem jüdischen Volk
als eine Art Zuchtmeister gedient (Gal 3,24). Damit hat es aber bereits auf
444 12. Paulus, der erste christliche Missionar
gegeben worden ist. Wer aber so denkt wie Paulus, der entreißt dem Juden-
tum das Eigentum an ihrer Schrift und übergibt es den Christen.
Dass Paulus so abwertend vom Judentum schreibt, deren glühender An-
hänger er doch vormals selbst gewesen war, ist wohl auch aus seiner Er-
fahrung von Verfolgung und Unterdrückung durch die Juden zu verstehen.
Diese verurteilten ihrerseits Paulus gesetzesfreie Heidenmission als gottes-
lästerlich und glaubten sich im Recht, eine solche Häresie zu unterbinden.
Gerade die identitätsstiftenden Marker wie die Beschneidung oder die Spei-
segebote hatten den Juden das Überleben als ein Volk ermöglicht. Paulus
Forderungen waren daher unrealistisch; denn mit der Aufgabe der kultu-
rellen Identität wäre ja auch eine kollektive Selbstauflösung und das Ende
des jüdischen Sonderweges verbunden. Das wäre aus jüdischer Sicht ein
unverantwortlicher Weg, ja ein Verrat am göttlichen Bunde gewesen.
Da wundert es dann, dass Paulus, nachdem er Gesetz und Judentum so
negativ beurteilt hat, in seinem letzten Brief, dem Römerbrief, zu einer eher
positiven Bewertung gelangt. Schon in seinem Anfang lässt er einen heils-
geschichtlichen Vorrang Israels anklingen (Röm 1,16; 3,1f). Ihm wurden
von Gott die Kindschaft, der Bund, das Gesetz und die Verheißungen an-
vertraut (Röm 9,4f). Nun aber war Israel dem Evangelium ungehorsam ge-
blieben. Ist es daher von Gott verstoßen worden? Mitnichten, beharrt Paulus
(Röm 11,1). Auch sein Ungehorsam hatte sein Gutes und diente Gott; denn
durch den Fall Israels „ist den Heiden das Heil widerfahren“ (Röm 11,11).
Ihnen sind nun die Verheißungen Israels gegeben worden und in der Kirche
sind sie erfüllt. Gerade aber die Gnadengabe Gottes an die Heiden soll die
Eifersucht der Juden reizen, sodass sie durch die Annahme Christi schließ-
lich doch noch aus dem Tode in das Leben gerettet werden (Röm 11,15).
Paulus ist überzeugt, dass die jetzige Verstockung Israels nicht von Dauer
sein wird. Sie wird beendet werden wenn das Evangelium alle Heiden er-
reicht hat und die von Gott bestimmte Zahl der Geretteten erfüllt ist. Dann
wird Jesus selbst von Zion aus als der endzeitliche Erlöser kommen und alle
Gottlosigkeit wird ihr Ende haben. Alle Menschen werden dann in Gottes
Barmherzigkeit eingeschlossen sein (Röm 11,25f.32).
Wie sich Paulus diese Rettung vorgestellt hat, muss sein Geheimnis
bleiben. Er erwähnt einen geheimnisvollen Rest, denen diese Gnade wider-
fahren wird (Röm 11,4f). Ausgeschlossen davon dürften davon wohl die
bereits Verstorbenen sein, die das Heilsangebot ausgeschlagen hatten. Hat
446 12. Paulus, der erste christliche Missionar
Paulus vielleicht seine Hoffnung auf eine letzte und erfolgreichere Verkün-
digung unter den Juden gesetzt, nach Abschluss seiner geplanten Mission
in Spanien? Merkwürdig ist auch sein Zitat aus Jesaja, wobei er den aus
Zion kommenden Retter mit Christus identifiziert.
Doch zum einen wird Jesus nicht aus Zion sondern aus dem Himmel
erwartet (1 Thess 1,10, 4,16) und zum anderen ist die Reihenfolge bei Jesaja
eine ganz andere: erst wird Israel errettet und danach werden die Heiden
zum Licht der göttlichen Herrlichkeit ziehen (Jes 59,20–60,3).
Viertes Thema: Kirche und Endzeit
Paulus hatte immer an das unmittelbar bevorstehende Ende der Welt ge-
glaubt und in dieser Überzeugung sind ihm die meisten Christen gefolgt.
Die Gläubigen warteten nun auf das Kommen Christi vom Himmel (1 Thess
4,15; 1,10). Sie hielten sich als von Gott erwählt (1 Thess 1,4), mit ihrem
Herrn Christus am Ende der Zeit zusammen zu leben (1 Thess 4,17). Pau-
lus fordert, dass sie als Erwählte Gottes eine Existenz in Heiligkeit zu füh-
ren haben. Das bedeutet für ihn, dass die Christen einander in brüderlicher
Liebe zugetan sein sollen und weltliche Laster wie Unzucht zu vermeiden
hätten. Ihren bürgerlichen Pflichten sollen sie nachkommen und dem Staat
gegenüber gehorsam sein, ist dieser doch von Gott eingesetzt (Röm 13,1).
Paulus propagiert nicht den Rückzug aus der Welt sondern eine gelasse-
ne Distanz zu ihr. Dabei spielen gesellschaftlicher Rang und die Ehe keine
Rolle mehr; „denn die Zeit ist kurz“ (1 Kor 7,29–31). Viel wichtiger ist es,
sich auf das Kommen Christi vorzubereiten und damit auch auf das drohen-
de Gericht.
Wenn nun doch bald alles vorbei ist, welche Rolle kann dann demnach
noch die Kirche spielen? Als eine übergreifende Organisationsform wird
sie sicherlich nicht in der Vision des Paulus gelegen haben. Kirche spiel-
te sich auf der Ebene der einzelnen Gemeinden ab, die sich miteinander
im Geiste Christi verbunden fühlten. Das Universale, der im Evangelium
wirkende Christus, konkretisierte sich somit in der Gemeinschaft der Gläu-
bigen durch Gottesdienst und Herrenmahl in der jeweiligen Ortsgemeinde.
Lediglich rudimentäre Vorläufer eines Kirchenamtes wie die des Vorstehers
existierten zu Paulus Zeiten und an eine weitere organisatorische Entwick-
lung war auch gar nicht gedacht; denn, wie gesagt, das Ende war ja nahe.
Die Idee eines priesterlichen Beamtentums wäre den Christen damals lä-
cherlich vorgekommen.
12. Paulus, der erste christliche Missionar 447
Vorausschickend soll betont sein, dass Paulus auch ein Kind seiner Zeit
war und es daher ungerecht wäre, würden wir ihn nach heutigen morali-
schen Standards wie sie z.B. in der UN-Charta für Menschenrechte veran-
kert sind beurteilen wollen. Dann müssten wir auch, um nur ein Beispiel zu
nennen, Geistesgrößen wie Plato, Sokrates und Aristoteles als charakter-
los verurteilen, nur weil sie sich nicht gegen herrschende gesellschaftliche
Normen und soziale Praktiken wie Sklaverei und Päderastie gewandt hat-
ten. Sicherlich aber hatte Paulus wie alle Menschen auch seine guten und
seine schlechten Seiten. Beginnen wir mit letzteren.
Paulus war nicht jemand, der den Dialog mit seinen Gegnern suchte. Im
Gegenteil, sie waren für ihn ‚falsche Brüder‘ und ‚Überapostel‘, die mit der
List einer Schlange seine Gemeinden nur zu verführen trachteten (2 Kor
11,3f). In polemischer Weise belegt er sie mit Schimpfworten wie ‚Hun-
de‘ und ‚böswillige Arbeiter‘ (Phil 3,2), die im Dienste des Satans stehen.
Wer so denkt, ist nicht offen für Argumente, welche den eigenen Über-
zeugungen entgegen stehen. Die andere Seite wird von vornherein unter
einem Fluch gesehen (Gal 1,8f), wie könnte man sich da überhaupt mit ihr
einlassen. Paulus vertritt eine einseitige und intolerante Sicht und ist kein
wirklicher Sucher nach der Wahrheit, Zweifel kennt er nicht. Nur sein ei-
gener Standpunkt gilt, alles andere wird als Lüge oder Verdrehung abgetan.
So bleiben nur zwei Alternativen: Entweder „Unterwerfung oder Abbruch
der Beziehungen“ (J. Becker). Im Wettbewerb mit seinen Gegnern gibt es
nur Sieg oder Niederlage.
Auch reagiert er hoch emotional. Er fühlt ‚überschwängliche Freude‘
und ist stolz auf seine Gemeinde (2 Kor 7,4), wirbt um sie mit einem wei-
ten Herz (2 Kor 6,11), hofft auf göttlichen Trost „in all unserer Trübsal“ (2
Kor 2,4), dies aber aus Liebe. Paulus scheint auch von Eifersucht getrie-
ben zu sein, nämlich, dass falsche Apostel ihm seine Gemeinde abspenstig
machen könnten (2 Kor 11,2ff); denn der Ruhm sollte ihm ganz allein ge-
hören (2 Kor 11,10). Mit dem Ruhmeskranz seiner Leistungen will er ja
vor den Herrn Jesus treten. So ist die Gemeinde seine „Ehre und Freude“
(1 Thess 2,19f). Ist dies alles prahlerische Pose und dient als Beweis, dass
er sich seinen „Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes“ (Phil 3,14)
redlich verdient hat? Waren all seine Bemühungen letztlich nur daraufhin
ausgerichtet, dass er sein eigenes Heil finde? Glaubte er sich in einem Wett-
12. Paulus, der erste christliche Missionar 449
bewerb, in dem es galt, so viele Trophäen wie möglich zu erringen, die ihm
das Tor zum Himmel öffnen sollten? Andererseits betont er aber, dass sich
letztlich all sein Rühmen nur Christus verdankt, dem er sich als Diener ver-
pflichtet fühlt (z.B. Röm 15,17). In Christus gründet sich seine „Hoffnung
der zukünftigen Herrlichkeit“ (Röm 5,2f). Nur dessen will er sich rühmen,
nicht seinen eigenen Leistungen.
Ist es da angemessen, Paulus beurteilen zu wollen? Wir mögen ihn dafür
kritisieren, dass er seine Gegner so abschätzig abkanzelte, doch fallen sei-
ne Schmähungen im historischen Vergleich noch eher harmlos aus. So be-
zeichnete man in der frühen Kirche ihre Gegner als ‚Bestien in Menschen-
gestalt‘, ‚Kinder des Teufels‘, ‚Erstgeborene des Satans‘ oder ‚giftspeiende
Drachen‘, während ihre Lehren als Lügengespinste, Schlamm, Pest, wil-
des Heulen oder Geblök abgetan wurden. Kirchenlehrer Tertullian verglich
die Frau mit einem Tempel, der über einer Kloake erbaut ist und bezeich-
nete sie als Einfallstor zum Teufel. Der heilige Augustin sah in der Frau
eine Zusammenführung von Geschlechts- und Ausscheidungsorganen: ‚in-
ter faeces et urinam nascimur‘. Solcherlei Diffamierungen des anderen Ge-
schlechts und das Denken welches solche Auswürfe produzierte haben das
Bild der Frau auf Jahrhunderte beschmutzt.
Es ließe sich also argumentieren, dass Paulus mit seinen Schimpfwör-
tern den Boden für Verhetzung, Ächtung und Verteufelung von Widersa-
chern und letztlich auch für die Verfolgung Andersdenkender durch die al-
lein selig machende katholische Kirche bereitet hat. Andererseits stammt
von ihm das erhebende Hohelied der Liebe als auch sein Aufruf zur brü-
derlichen Liebe, und wenn er schreibt, man solle Böses nicht mit Bösem
vergelten und diejenigen segnen, die einen verfolgen, so befindet er sich im
Einklang mit der gewaltlosen jesuanischen Ethik.
Wir können Paulus auch zu gute halten, dass er im Gegensatz zu den
ihm nachfolgenden Kirchenoberen eine geradezu progressive Sicht auf die
Frauen vertrat. Zwar anbefahl er den Frauen angeblich Schweigen in der
Kirche (1 Kor 14,34), doch ist das wohl eine spätere Einfügung, steht dieser
Text doch im Widerspruch zu 1 Kor 11,5, wo das Recht der Frau zu reden
als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Dazu passt, dass für Paulus das
Verhältnis der Geschlechter auf gegenseitigen Respekt gebaut sein solle (1
Kor 11,11), wenn er auch den Mann als Abglanz des Bildes Gottes sieht (1
Kor 11,7) und ihm dann doch einen höheren Rang einräumt. Andererseits,
450 12. Paulus, der erste christliche Missionar
nen Briefen aufgreift, belegen, dass naturgemäß zwischen Ideal und Wirk-
lichkeit eine erhebliche Kluft bestand. Doch sollte man auch die Schwie-
rigkeiten der Menschen, sich von ihrem alten Leben zu lösen, zur Kenntnis
nehmen. Dazu gehörte sicherlich ein gerütteltes Maß an Mut. Nicht nur die
Furcht vor Verfolgung sondern auch soziale Isolation dürfte der Preis für
die Annahme des neuen Glaubens gewesen sein. Dafür aber wurde man
Mitglied einer zwar kleinen, aber einer auf Gedeih und Verderb verschwo-
renen Gemeinschaft und erhielt darüber hinaus noch die Aussicht auf einen
Platz im Himmel.
„Und ein Mann namens Onesiphorus, der gehört hatte, dass Paulus nach
Iconium käme, ging mit seinen Kindern Simmias und Zeno und seinem
Weibe Lektra dem Paulus entgegen, um ihn bei sich aufzunehmen. Titus
hatte ihm nämlich erzählt, welches Aussehen Paulus hätte. Denn er hatte
ihn (bisher) nicht im Fleisch gesehen, sondern nur im Geist. Und er ging an
die königliche Straße, die nach Lystra führt, stellte sich dort auf, um ihn zu
erwarten, und sah sich (alle), die vorbeikamen, auf die Beschreibung des
Titus hin an. Er sah aber Paulus kommen, einen Mann klein von Gestalt,
mit kahlem Kopf und krummen Beinen, in edler Haltung mit zusammenge-
wachsenen Augenbrauen und ein klein wenig hervortretender Nase, voller
Freundlichkeit; denn bald erschien er wie ein Mensch, bald hatte er eines
Engels Angesicht“.
Dieser Extrakt aus der Acta Pauli vom Ende des 2. Jahrhunderts ist
das einzige Dokument, das Aufschluss über das Äußere von Paulus gibt.
Wieweit diese Beschreibung aber zutrifft oder lediglich literarische Fikti-
on ist, bleibt unsicher. In seinen Briefen beschreibt sich Paulus jedenfalls
selbst als schwach und kümmerlich in seiner Rede (2 Kor 10,10) und dürfte
in der Tat von der äußeren Erscheinung her nicht beeindruckend gewesen
sein. Zumindest geben diese Briefe uns Anhaltspunkte, die mit etwas mehr
Zuversicht auf seinen Charakter schließen lassen. So lässt sich z.B. sagen,
dass Paulus ein sehr mutiger Mann gewesen war, der weder Gefahr noch
Mühe scheute, seine Mission voranzutreiben. Man hat errechnet, dass Pau-
lus mehr als 17 000 km auf seinen Reisen zu Fuß, auf Schiffen oder Wagen
zurückgelegt hatte. Was hatte diesen Mann zu einem solchen Einsatz moti-
viert?
452 12. Paulus, der erste christliche Missionar
Nun schreibt er von sich: „Alles aber tue ich um des Evangeliums wil-
len, um an ihm teilzuhaben“ (1 Kor 9,23). Selber sieht er sich in einem
Wettkampf um einen Preis: „Wisst ihr nicht (dass zwar alle laufen) . . . aber
(nur) einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt“ (1 Kor
9,24). Im Wettkampf gewinnt in der Tat nur einer den Siegespreis und die
anderen gehen leer aus, aber so will er es ja nicht gemeint haben; denn er
fordert seine Mitstreiter auf, es ihm gleichzutun. Zwar wünscht er für die
anderen den gleichen Lohn, doch ist sein ganzes Handeln eben danach aus-
gerichtet, um eben diesen Preis zu erhalten. Man könnte zynisch sagen, er
predigt die Liebe und die Güte nicht um ihrer selbst willen sondern weil
nur auf diesem Wege das ewige Leben erlangt werden kann. Ist diese Kritik
gerecht?
Hinzu kommt, dass er in gewisser Weise Partizipant und Schiedsrichter
ist, hat er doch die Regeln des Kampfes selbst bestimmt. Er allein glaubt
sich im Besitz der Wahrheit und diffamiert alle, die diese nicht mit ihm
teilen und fühlt sich persönlich beleidigt, wenn jemand eine andere Mei-
nung vertritt. In Korinth kam es zu einem Affront zwischen ihm und ei-
nem Gemeindemitglied was zu tiefen Spannungen zwischen Paulus und
der Gemeinde führte. Möglich ist es, dass er sich selbstherrlich und ar-
rogant aufgeführt hatte und die anderen daran Anstoß genommen hatten.
Vielleicht neigte er zu Jähzorn und ließ sich zu Wutausbrüchen verleiten.
Zumindest wäre dies eine typische Reaktion für einen Menschen, der kei-
nen Widerspruch duldet. Paulus bezeichnet sich zwar öfter als Diener und
Sklave Christi (z.B. Röm 1,1); verfügte aber auch über ein starkes Ich (z.B.
1 Kor 7,6–12). Zumindest ist sein häufiger Gebrauch des ‚Ich‘ Ausdruck
großer Willensstärke, die ihn befähigte, seinen Weg trotz aller Hindernisse
unerschrocken weiterzugehen.
Nun ist er aber auch ruhmessüchtig. Nicht nur, dass er äußerst viel Wert
auf seine Berufung als Apostel legt (Gal 1,11–24), aber auch sonst achtet er
eifersüchtig darauf, dass ihm der Ruhm von keinem streitig gemacht wird
(1 Kor 9,15) und es sind ja die von ihm gegründeten Gemeinden, die seinen
Ruhm begründen (1 Kor 15,31). Ist es da ein Wunder, wenn er die Fremd-
missionare, die ihm seinen Ruhm abjagen wollen, mit Schimpfworten trak-
tiert? Doch niemals sucht er den sachlichen Dialog mit den Andersdenken-
den. Alles was er tut, ist, sich gegen Vorwürfe, wie z.B. dass er zum Bleiben
in der Sünde ermuntert (Röm 3,8), zur Wehr zu setzen. Die Lehre aber sei-
12. Paulus, der erste christliche Missionar 453
ner Widersacher verdammt er in Bausch und Bogen (Gal 1,9). So kann man
ihm vorwerfen, dass seine Intoleranz und sein Schwarz-Weiß-Denken dem
jungen Christentum viel Konfliktpotential aufgeladen hat. Nach unserem
heutigen Verständnis würden wir Paulus als einen Fanatiker und Funda-
mentalisten bezeichnen.
Es ist wohl fair zu sagen, dass Paulus mit dem gleichen Eifer, der glei-
chen Verbissenheit und gnadenlosen Härte, dem gleichen Hass mit dem er
einst die Christen verfolgte nun deren Feinde angriff, wenn auch nur in
schroffer Widerrede (vgl. 2 Kor 11,2ff). Und man müsste sich eigentlich
fragen, wie er wohl, hätte er dazu die Macht gehabt, mit diesen, die er
ja auch schon mal als in Menschengestalt verkleidete Teufel bezeichnete,
umgegangen wäre. Hätte er sie öffentlich an den Pranger stellen oder sie
ins Gefängnis werfen oder sie gar hinrichten lassen? Als er noch gläubiger
Pharisäer war machte er mit den Christen dazumal ja auch nicht viel Feder-
lesens. Bedenklich ist schon, dass die Kirche, nachdem sie im römischen
Reich die Macht errungen hatte, eine tiefe Blutspur in der Geschichte zog.
Aber wo viel Hass ist, da ist oftmals auch große Liebe, als ob die Liebe
mit dem Hass wächst, aber was für eine Qualität besitzt dann eine solche
Liebe? Ein Beispiel aus dem täglichen Leben: Jemand, der (die) seine(n)
Partner(in) abgöttisch liebt, wird mit brennender Eifersucht, die zuweilen
von Hass nicht mehr zu trennen ist, auf Untreue reagieren und den (die)
Rivalen oder Rivalin zu vernichten suchen. Paulus jedenfalls war ein hoch
emotionaler und leidenschaftlich engagierter Mensch gewesen. Mit so viel
Passion setzte er sich für seine Gemeinden und seinen Herrn ein, die für
ihn alles bedeuteten. Die Liebe, die er für sie empfand, duldete keine Ablen-
kung durch eine Beziehung zu einem anderen Geschlecht und so verzichtete
er, anders als z.B. Petrus auf Heirat (1 Kor 9,5). Paulus fühlte sich geradezu
mystisch zu Christus hingezogen so wie es sich im Christus-Hymnus ver-
dichtet (Phil 2,6–11). In seinen Briefen finden sich Hinweise, die es nahe
legen, dass Paulus in der Tat zur Mystik neigte. Dafür spricht schon mal
sein Christus-Bewusstsein. Ferner ist sein ganzes Denken ganzheitlich an-
gelegt, typisch für die kontemplative Seinswelt eines Mystikers. Er schreibt
aus der Erinnerung von „unaussprechlichen Worten“, die er im dritten Him-
mel gehört haben will (2 Kor 12,2–4). Und über allem steht die Liebe, die
sich im Tun konkretisieren will.
454 12. Paulus, der erste christliche Missionar
Zu den Früchten des christlichen Geistes zählt Paulus zwar u.a. auch
Freude, Friede und Güte, aber vor allem die Liebe (Gal 5,22). Fürwahr,
zu einer solch liebenden Gesinnung ruft Paulus seine Brüder immer wie-
der auf, mahnt sie im Geiste Christi zu leben und des anderen Last tragen
zu helfen; denn, so glaubt er, wird das Gesetz Mose erfüllt, das da heißt:
‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘. Zugestanden, Paulus liebte zwar
die Seinen, die mit ihm auf gleicher Wellenlänge lagen, aber liebte er auch
seine Feinde? Liebte er wohl die Heiden, hasste aber ihre Lebensform, die
er so einseitig verunglimpfte? Sicherlich, er schreibt, dass der Rache kein
Raum gegeben werden solle und man sogar seinem Feinde Gutes tun müsse
(Röm 12,19–20), doch andererseits schleudert er seinen Widersachern has-
serfüllte Fluchworte entgegen, die verdächtig der Schmährede des mt Jesus
gegen die Schriftgelehrten ähneln (Mt 23), doch die wohl Jesus von späte-
ren Redaktoren in den Mund gelegt worden ist. Jesus selber soll noch am
Kreuz um Vergebung für seine Feinde gebetet haben. Ob dies nun historisch
zutrifft oder nicht, es läge zumindest in Jesu Charakter so etwas gesagt zu
haben. Bei Paulus hat man seine Zweifel.
Jesus predigte die einfache, vertrauensvolle Hingabe an einen liebenden
Vater, Paulus komplizierte diese Liebe durch einen bekenntnisgebundenen
Glauben. Paulus wird man wohl immer als den ersten großen Theologen
ansehen und ihm den Verdienst als Baumeister des Christentums zuspre-
chen, doch hat er uns auch einige Bürden hinterlassen, nicht zuletzt die,
dass nun die Wahrheit in unveränderliche Formen gegossen war.
Kapitel 13:
Die Bibel: Eine Bilanz
Die Bibel ist offensichtlich nicht so einzigartig wie die meisten Gläubigen
es glauben möchten. Historische Ereignisse wie die Zerstörung von Jerusa-
lem und Tempel haben ein bestimmtes Verständnis von Jahwe geprägt. In
der Sicht der biblischen Autoren ist es ein Gott, der ein Volk erwählt, einen
Bund mit ihm schließt, dann aber eifersüchtig über die Einhaltung dieses
Bundes wacht und diejenigen bestraft, die ihn nicht halten. Anfangs dürfte
sich Jahwe gar nicht mal so sehr von den Göttern seiner Umgebung, so wie
z.B. der babylonische Marduk, unterschieden haben. Wie auch diese glich
er eher einem überirdischen Anführer einer Sippe oder eines Volkes. Erst
nach langen Kämpfen konnte er seinen Führungsanspruch gegen die Kon-
kurrenz wie sein größter Widersacher Baal durchsetzen, stieg zunächst zu
eine Art Vorsitzender eines Götterrates auf (Psalm 82,1) und wurde zuletzt
als nur der eine Gott, der existiert, erkannt. Mit der Behauptung, Jahwe
sei der eine, einzige Gott, nimmt die Bibel in der Tat eine besondere Stel-
lung ein, begründete sie damit doch den Monotheismus. Nur die allerdings
kurzfristige religiöse Revolution des ägyptischen Pharaos Echnaton, der
um 1352 v. Chr. unter Ausschaltung aller Götter die Verehrung der Son-
nenscheibe einführte, lässt sich damit vergleichen. Andererseits sind alt-
orientalische Einflüsse auf die Entwicklungsgeschichte der Bibel nicht zu
übersehen. Das reicht von der am babylonischen Gilgamesch Epos ange-
lehnten Sintflutgeschichte bis hin zur Krönungstheologie des Psalm 2, die
offensichtlich ägyptischen Ursprungs ist.
Die Bibel will natürlich den Eindruck vermitteln, dass der Gang der Ge-
schichte in Gottes Hand liegt und Er die Geschicke der Völker leitet, und
diese Sicht wird wohl auch von den meisten Gläubigen geteilt. Wenn man
nun dagegen hält, dass die Entstehung der Bibel selbst auf einen bestimm-
ten historischen Kontext zurückzuführen ist, dann dürfte es für manchen
wie Blasphemie klingen, stellt doch eine solche Behauptung ihre Autorität
in Frage. Unbestreitbar ist natürlich, dass die Bibel einen großen Einfluss in
der Geschichte der Menschheit gehabt hat und immer noch hat, doch ist sie
456 13. Die Bibel: Eine Bilanz
war zwar im Besitz anderer Völker gewesen aber der wirkliche Eigentümer
war ja Gott, der Gott Israels, und der hatte alles Recht, über die Zuteilung
seines Eigentums zu entscheiden. Der vorherige Eigentümer betete außer-
dem den falschen Gott an, und deshalb musste er gehen, entweder freiwillig
oder er wurde vernichtet. So stellte man sich dann vor, wie die Besitzer-
greifung Kanaans vonstatten gegangen sein könnte. Die Wahrheit aber sah
anders aus; denn in Wirklichkeit war die Besiedelung Kanaans ein langer
entwicklungsgeschichtlicher Prozess gewesen während dessen sich Sippen,
die eine ähnliche Kultur teilten, zusammenschlossen, um gegen feindliche
Übergriffe besser gewappnet zu sein. In der Pflege gemeinsamer Bräuche
und Überzeugungen verstärkte sich dann mit der Zeit ein sippenübergrei-
fendes Gemeinschaftsgefühl.
Wenn wohl auch der Einzug in Kanaan und die damit verbundenen Er-
oberungskriege wie in der Bibel geschildert weitgehend Fiktion sein dürf-
ten, so wurden und werden sie doch als wahr geglaubt und dieser Glaube,
verbunden mit dem Gedanken der Erwählung, hat eine verheerende Wir-
kungsgeschichte zur Folge gehabt. Man denke in dem Zusammenhang an
die Verfolgung Andersgläubiger, die Kreuzzüge bis hin zur Apartheids-
ideologie in Südafrika. Allerdings hat die Bibel der Vorstellung einer Er-
wählung auch eine ganz andere Deutung gegeben und dieser radikal ande-
re Sinn wird im Gottesknechtlied des Deuterojesaja deutlich (Jes.53). Der
Knecht Gottes, zumeist mit Israel identifiziert, wird nicht zum Herrschen,
sondern zum Dienen erwählt. In seinem unschuldigen Leiden für die Sün-
den anderer bereitet er den Weg zu Frieden, Vergebung und Versöhnung.
In den Verkündigungen der Propheten findet sich in der Bibel somit
auch eine andere Stimme. Zwar reden auch sie von Strafe und Vernichtung,
aber sie entwerfen auch ein alternatives, visionäres Bild von einer friedli-
chen und versöhnten Welt, in der die Fülle des Lebens gegeben ist. Gott
hat „Gedanken des Friedens und nicht des Leides“, so der Prophet Jeremia
und weiter sagt er vom HERRN: „Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben
und in ihren Sinn schreiben“ (Jer. 29,11; 31,33). Also, man tut der Bibel
unrecht, wenn man nur ihre dunkle Seite sehen will. Jesaja ruft auf, die
„Schwerter zu Pflugscharen“ (Jes. 2,4) zu machen und entwirft eine beein-
druckende Vision vom kommenden Friedenreich (Jes. 9,1–6.11) während
Hesekiel schon mal erkennen lässt, dass eine pauschale Bestrafung nicht
mit dem Konzept der Gerechtigkeit vereinbar ist. Nicht länger sollen die
460 13. Die Bibel: Eine Bilanz
Verfehlungen der Väter auf die Söhne bis in die 3. und 4. Generation heim-
gesucht werden, sondern „jeder soll für seine Sünden sterben“ (Dtn. 24,16;
vgl. Hes. 18).
Doch ach, der erhoffte Frieden blieb aus, der Zustand von Rechtlosig-
keit, Ausbeutung und Unterdrückung setzte sich fort. Ein Gefühl der Ent-
täuschung, Hoffnungslosigkeit und von Resignation breitete sich aus und so
mancher war schließlich überzeugt, dass nur noch eine dramatische göttli-
che Intervention helfen konnte. Als die Hellenen im zweiten vorchristlichen
Jahrhundert mit dem Religionsedikt den Juden auch noch die Ausübung
ihres Kultes bei Strafe des Todes untersagten und damit ihre Identität als
Volk bedrohten, da reagierten die Juden unter Führung der Makkabäer mit
einem Aufstand gegen ihre Unterdrücker. Den religiösen Überbau dazu lie-
ferte Daniel mit seiner apokalyptischen Vision eines neuen Himmels und
einer neuen Erde. Hatte der Prediger Kohelet (Ekklesiastes) zuvor noch
zaghaft die Ausweglosigkeit der Situation beklagt, wollte sich die Genera-
tion des Daniel und der Makkabäer damit nicht abfinden. Was einzig half,
so glaubte man, war die revolutionäre Umgestaltung entweder durch göttli-
chen Eingriff oder eigenen Aktionismus mit Gott an ihrer Seite. Der revo-
lutionäre Widerstand führte tatsächlich zu Freiheit und Eigenstaatlichkeit,
doch leider glitt die hasmonäische Dynastie später wieder ab in Despotie.
Ein neues Denken musste her und dieses sollte von Jesus kommen. Er wird
allen gewaltsamen Bemühen zu einer Umgestaltung der Gesellschaft eine
Absage erteilen und allein auf die Macht der Liebe setzen, von der er sich
eine innere Wandlung des Menschen erhofft.
Wer aber nun glaubt, dass im Neuen Testament die Gedanken des Frie-
dens, der Vergebung und brüderlichen Liebe zu einem versöhnlichen Ab-
schluss gebracht werden, wird doch so einige Male enttäuscht werden.
Greifen wir das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, auf.
Es hätte sich angeboten, dieses Buch mit in unsere biblische Geschichte
hineinzunehmen, handelt es sich doch dabei um Johannes Visionen vom
Ende der Geschichte, aber seine ausufernde Phantasie ist dann doch zu bi-
zarr und in Teilen regelrecht absurd. Nur um einige Beispiele zu nennen.
Da fallen die Sterne auf die Erde und das Himmelsgewölbe rollt sich zu-
sammen, doch die Erde übersteht das alles wenngleich mit regionaler Ver-
wüstung (Offb. 6,12–17). Es wird der Satan erst gefesselt, in den Abgrund
geworfen und nach einer tausendjährigen Verbannung wieder freigelassen.
13. Die Bibel: Eine Bilanz 461
wollte den anderen entscheidend schwächen aber nicht von der Landkarte
ausradieren; schließlich braucht ein Sieger auch Besiegte, an denen man
seine Macht demonstrieren kann.
Israel strebte nicht nach Hegemonie; denn sein Interesse begrenzte sich
auf das heilige Land, das es von fremden Einflüssen rein zu halten galt. Si-
cherlich gab es Bestrebungen wie unter David und anderen Königen nach
ihm, das Staatsgebiet zu erweitern, doch die realen militärischen Kräftever-
hältnisse ließen eine weitergehende Machtentfaltung nicht zu. Wenn also
schon der Einfluss nach außen eher gering war, dann war es umso wichti-
ger, ihn im Inneren zu behaupten. Da die Priester nun eine gesellschaftlich
herausragende Stellung hatten, ja Priestertum und Königtum fielen zuwei-
len ineinander, liefen die Bestrebungen darauf hinaus, das Eindringen von
fremden Götterglauben zu bekämpfen und das Land rein zu halten. Schließ-
lich duldete Jahwe ja keine Rivalen. In der historischen Wirklichkeit war es
ein Jahrhunderte währender Prozess bis sich Jahwe schließlich durchset-
zen konnte und der Monotheismus in Israel fest etabliert war. Diese Ent-
wicklung lief nicht ohne Gewalt ab; denn es galt, dem Jahwe-Glauben sein
Monopol zu sichern und die Nation gegen die Umwelt fremder Götter ab-
zugrenzen.
Das Hellenentum mit seiner Vielzahl von Göttern hatte keine Berüh-
rungsängste mit fremden Religionen. Im Gegenteil, man suchte andere Göt-
ter dem eigenen Pantheon einzugliedern. Auch unter dem Dach Roms leb-
ten zahlreiche Völker mit ihrer je eigenen Kultur und ihrem Glauben in
relativ friedlicher Koexistenz zusammen. Nur die Juden und Christen wa-
ren zeitweise Verfolgungen ausgesetzt, da man sie wegen ihrer Weigerung,
dem Kaiser als Gott zu huldigen mangelnder Loyalität verdächtigte und sie
als Bedrohung für die Reichseinheit empfand. Die römischen Priester wa-
ren lediglich eine Art Staatsbeamte mit einem begrenzten Aufgabenbereich,
dem Opferwesen. Die Religion war neben der Innen- und Außenpolitik,
dem Rechtswesen, der Erziehung und dem Finanzwesen nur ein Teil der
Staatsbürokratie und die Priester demnach nicht viel mehr als Funktionäre.
Im Gegensatz zu Israel übten sie keine Macht im Staat aus.
Aus der Geschichte ließ sich also folgern, dass der Polytheismus in der
Tendenz weniger zu Gewalt neigt als der Monotheismus. In mancher Be-
ziehung ist der Monotheismus wie er uns besonders im Alten Testament
erscheint eher vergleichbar mit einer Ideologie oder einem krassen Natio-
464 13. Die Bibel: Eine Bilanz
nalismus. Der Einfall in Kanaan ruft da Assoziationen auf wie z.B. der
Völkermord in Rwanda oder die mörderische Kampagne der Steinzeitkom-
munisten in Kambodscha, denen die bürgerliche Klasse ein Hindernis im
Aufbau der neuen Gesellschaft war. Man denke an die Säuberungen Maos
und Stalin und nicht zuletzt den Holocaust in Nazideutschland. Immer ging
es um die Idee der Reinheit, sei es die einer Weltanschauung oder die einer
Rasse. Der Monotheismus aber wird zu einer Ideologie wenn der Glaube
Ausschließlichkeitscharakter annimmt.
Jesus aber bewirkte nichts weniger als eine Revolution und trat damit
den Beweis an, dass der Monotheismus nicht inhärent gewaltfördernd zu
sein braucht. Er nahm die Religion aus der Hand seiner Interessenvertre-
ter, den Priestern, und gab ihn als Glauben zurück an das Volk. Von nun
an konnte sich jeder direkt von Gott angesprochen fühlen. Es brauchte nur
eine innere Umkehr und Zuwendung an einen als barmherzig geglaubten
Gott, der dem reuigen Sünder vergibt. Im Grunde genommen brauchte es
nur eines, wie es der Titel eines Beatle-Songs sagt: ‚All you need is love.‘
Die Liebe im Zentrum einer neuen Beziehung zwischen Gott und den Men-
schen und den Menschen miteinander, das war der revolutionäre Beitrag
Jesu. Alles ist so einfach. Keine komplizierten Dogmen, keine Kirche, aber
ein neues Denken und eine neue innerliche Einstellung, die sich in einem
entsprechenden Tun niederschlägt.
Doch ist das möglich? Kann ein Glaube, der sich auf solch geringem
Inhalt aufbaut, Bestand haben? Allerdings wollte Jesus die Schrift ja nicht
abschaffen, sondern sie erfüllen, wie er sagte, und er war davon überzeugt,
dass das, was ihr noch fehlte, eine universale Liebe ist, die auch den Feind
mit einschließt, und die sich in der rechten Glaubenspraxis eines geschwis-
terlichen Miteinanders erweisen sollte. Aber war der überlieferte Glaube
überhaupt vereinbar mit seinen Vorstellungen von einer bedingungslosen,
undogmatisch sich gebenden Liebe? Man möchte gerne wissen, wie Jesus
selbst über die in der Schrift geschilderten Bluttaten gedacht hatte. Waren
ihm Zweifel in Bezug auf die Autorität der Bibel gekommen wie man es
aus seinem ‚Ich aber sage euch‘ herauslesen könnte? Auch ist zu bedenken,
dass der traditionelle Glaube doch das Selbstverständnis und die Identität
des jüdischen Volkes begründete und von daher auf Abgrenzung angelegt
war.
13. Die Bibel: Eine Bilanz 465
Jesu Lehre aber hatte Sprengkraft, bestritt sie doch im Grunde genom-
men den Priestern ihre Rechtfertigung. So soll er gesagt haben (Joh. 4, 21–
23), dass der wahre Anbeter des Geistes keiner Tempel mehr bedarf, son-
dern er Gott überall anbeten könne und in Lukas 17,21 heißt es: „das Reich
Gottes ist mitten unter euch“ bzw. nach einer anderen Übersetzung: „Se-
het, das Reich Gottes ist inwendig in euch.“ Gott ist also überall dort, wo
wir ihm durch den Vollzug einer Glaubenspraxis der Liebe im Sinne Jesu
Raum geben. Eine solche Lehre musste aber den Widerstand der etablierten
religiösen Autoritäten herausfordern. Jesus war für sie ein Ärgernis, und so
musste er sterben.
Das Dilemma seiner Nachfolger bestand darin, einerseits Jesu Idealen
treu zu bleiben und andererseits den Glauben so zu verpacken, dass er an
kommende Generationen weitergereicht werden konnte. Dazu gebrauchte
es einer neuen Organisationsform, die der Kirche, die sich wie jede Orga-
nisation Regeln, Aufgaben und Ziele gab. Sie entwickelte Glaubenssätze
um die Leitthemen von Jesu Geburt, Auferstehung und seine Beziehung
zu Gott und begründete damit eine neue Religion, dessen reine Lehre es
gegen Häretiker und Andersgläubige zu verteidigen galt, wenn nötig eben
mit Gewalt. Und so schließt sich der Kreis. In dem Moment, wo ein neu-
es Lehrgebäude errichtet wird, dessen Wahrheit als unumstößlich zu gelten
hat, hat man zwar dem Glauben ein festes Gerüst gegeben, aber man hat
letztendlich auch Verrat an Jesus selbst begangen. Denn Jesus hatte weder
eine Kirche gewollt, noch Rituale und neue Dogmen, die ihn selbst zum
Inhalt haben und über die nun gestritten wird.
Wie aus der Apostelgeschichte hervorgeht, war diese Entwicklung be-
reits embryonal in der Jerusalemer Urgemeinde eingeschrieben. Doch war
sie ähnlich wie auch die von Paulus gegründeten Missionsstationen zu-
nächst eher auf Vorläufigkeit angelegt, ging man doch von der bevorste-
henden Wiederkunft Christi aus. Sie alle hatten zunächst mehr den Status
einer Sammlungsbewegung von Christen, die ihrer baldigen Erlösung harr-
ten. Als dann aber die Naherwartung abflachte, begann man sich in der Welt
einzurichten und von den Christen wurde nun erwartet, „ein stilles und ehr-
bares Leben in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit zu führen“ (1 Tim. 2).
Mit zunehmender organisatorischer Verfestigung, der Einrichtung von
Ämtern und dem Beharren auf ein bestimmtes Verständnis von Rechtgläu-
bigkeit, traten dann auch die typischen Probleme menschlicher Gemein-
466 13. Die Bibel: Eine Bilanz
Wäre also eine Gemeinschaft, die sich als treue Sachwalterin des jesua-
nischen Erbes verstanden und sich vornehmlich an der Bergpredigt ausge-
richtet und bei der Durchsetzung ihres Glaubens allein auf ihre Überzeu-
gungskraft gesetzt hätte, realistischerweise möglich gewesen? Zu Anfang
lief es doch noch überwiegend gut. Allerdings war da die Kirche noch in
einer Situation der Machtlosigkeit gewesen. Aber mit der Konstanischen
Wende 312 n. Chr. änderte sich das alles fast schlagartig und aus der ver-
folgten Kirche wurde eine, die Häretiker und Heiden verfolgte, was eine
tiefe Blutspur in der Geschichte zog. Fürwahr, der eifernde Gott, der keine
Rivalen duldet, war zwar in den Hintergrund getreten. Aber seine Stelle
wurde nun von Dogmenbildung und dem Alleinvertretungsanspruch der
Kirche mit der von ihr tradierten Wahrheit eingenommen. Dogmatische
Verhärtung insbesondere über die Auslegung der wahren Natur Jesu führten
zu jahrhundertelangen, oft blutigen Glaubenskämpfen, und die Kirche be-
trieb mit Gewalt Mission unter Andersgläubigen wie den Sachsen während
sich im frühen Mittelalter gerade unter dem Klerus Vetternwirtschaft, Äm-
terschacherei und Sittenlosigkeit breit machte. Ist so die menschliche Natur,
gefangen in den Abgründen seiner Seele, ein Spielball innerer Kräfte von
Geist und Trieb, gut und böse, einmal dahin und ein anderes Mal dorthin
neigend, doch sich immer verschieden in jedem Menschen manifestierend?
Den kirchlichen Dogmen liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Bi-
bel als das Wort Gottes unfehlbar ist, doch wir haben gezeigt, dass sich
auch die Bibel irrt. Insofern geben wir Bibelkritikern wie Richard Dawkins
recht, doch lehnen wir sein pauschal negatives Urteil über die Bibel ab. Sie
ist zwar Menschenwerk, doch wie jeder Mensch hat sie ihre guten und ihre
schlechten Seiten und kann daher allemal auch Quelle der Inspiration sein.
Wir lehnen aber auch Fundamentalchristen wie Klaus Berger (Die Bibelfäl-
scher) ab, die ihre Überzeugung von der Wahrheit der Bibel um den Preis
von Manipulation und Leugnung ihrer offensichtlichen Widersprüche ver-
teidigen. So weist Berger z.B. die Aussage der liberalen Exegese zurück,
dass sich Jesus in der Naherwartung getäuscht hatte. Er stützt sich dabei
auf Mk 9,1–8 und erklärt den Text dahingehend, dass es hier nicht um die
Wiederkunft Jesu geht sondern um die Verwirklichung des Reiches Got-
tes. Wäre es Berger wirklich um Aufklärung gegangen, dann hätte er Mt
24,29–35 und Mk 13,30 hinzuziehen müssen; denn danach erwartete Jesus,
dass das von ihm vorausgesagte Geschehen einschließlich seiner Wieder-
468 13. Die Bibel: Eine Bilanz
zulassen wollen? Sie kann sich doch nicht selbst in Frage stellen wollen.
Auch begreift sie sich als Schutzherrin der Gläubigen, die sich nach der
Geborgenheit einer Gemeinschaft sehnen, in der die gleichen Überzeugun-
gen geteilt werden. Dürfen wir sie ihrer Kleidung berauben und ihre Blöße
enthüllen? Dostojewskis Inquisitor glaubte, dass dies den Menschen nicht
zumutbar sei und es seine Last und Aufgabe sei, den Menschen vor sich
selbst zu schützen und in Ignoranz zu halten, wider die Wahrheit. Bedurfte
es jemals solcher Glaubenswächter? Dienten sie nicht eher dazu, um der
Kirche Macht, Einfluss und Pfründe zu sichern, auch indem sie z.B. den
Gläubigen bis hinein in die Neuzeit den Zugang zu der Bibel verwehrten
und damit einen möglichen Weg zur Erkenntnis verbauten? Kann man nicht
heutzutage dem Gläubigen die Wahrheit über die Bibel zumuten, dass sie
aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit erwachen?
Wird dann in einem zukünftigen mündigen Christentum die Bibel ent-
behrlich sein? Das sicherlich nicht; denn dann würde es sich ja seiner Wur-
zeln berauben, doch ein reifer Glaube wird den kritischen Dialog mit ihr
suchen wollen. Nicht mehr und nicht weniger verlangt ja auch der Geist
der Aufklärung. Jetzt – mit dem Blick auf Europa – wo die Kirche sich wie-
der in einer relativen Situation der Machtlosigkeit befindet, scheint dieser
Geist auch weite Kreise der Christenheit zu erfassen. Es besteht also noch
Hoffnung, andererseits Unsicherheit. Die Geschichte lehrt nämlich, dass
mit der abnehmenden Überzeugungskraft des tradierten Glaubens auch der
Zusammenhalt in der Gesellschaft schwindet was den Niedergang des Staa-
tes einläutet. Das war im antiken Griechenland und in Rom der Fall. Wird
dies auch den Westen treffen, wo auch andere identitätsstiftende Werte wie
Heimat und Tradition in einer globalisierten Welt zerfasern? Doch wenn
der christliche Glaube tatsächlich seine Quelle in Gott hat, dann sollte das
eigentlich Zuversicht für die Zukunft geben. Mit einem solchen Vertrauen
in Gott werden sich schon Wege öffnen.
ANHANG
ANHANG 1: WIDERSPRÜCHE IN DER BIBEL
A: ALTES TESTAMENT
1. Gen. 1,11–13.27–31: Gott erschuf die Pflanzen vor dem Menschen
Vs.
Gen. 2,5–7: Als Gott den Menschen schuf, gab es noch keine Vegetation
2. Gen. 4,15–17: Woher kamen die Leute in der Fremde und Kains Frau?
3. Gen. 6,19f: Noah soll von allen Tieren je ein Paar auf die Arche nehmen
Vs.
Gen. 7,2: Noah soll je sieben Paar von den reinen aber nur ein Paar von den
unreinen Tieren auf die Arche nehmen
Vs
Gen. 8,17–8.20 Noah soll je ein Paar der reinen Tiere zum Opfer schlachten,
tut er das aber, wie sollen sie sich dann vermehren wenn er nach Gen. 6,19f je
nur ein Paar an Bord genommen hat?
4. Gen. 6,3: Gott will, dass die Menschen von nun an nicht länger als 120 Jahre
leben
Vs.
Gen. 9,29: Noah wurde 950 Jahre alt; Gen. 11,10–26: Shems Nachkommen
wurden weitaus älter als 120 Jahre
5. Gen. 11,31: Terach, Abrahams Vater, zog aus Ur in Chaldäa nach Haran. Die
Chaldäer sind erst im 1. Jahrtausend v. Chr. historisch nachgewiesen
6. Gen. 15,13: Israels Gefangenschaft ist 400 Jahre
Vs.
Ex. 12,40: Israels Gefangenschaft ist 430 Jahre
7. Gen. 24,10: Abraham (ca. 1.900 v. Chr.) besitzt Kamele als Reittiere, doch
Kamele wurden erst um 1.000 v. Chr. domestiziert
8. Gen. 26,14.18: Isaak im Konflikt mit Philistern; Philister waren Abkömmlinge
der Seevölker und siedelten an der Küste Kanaans erst ab 1.200 v. Chr.
9. Ex. 1,11: Israeliten verrichten Frondienst in Stadt des Ramses (1279 – 1213 v.
Chr.)
Vs.
1 Kön. 6,1: 480 Jahre seit Exodus vergangen, dann aber hätte der Exodus im
15. Jahrhundert vor Christus stattgefunden haben müssen
474 Anhang
33. 2 Sam. 24,1: Der HERR reizte David gegen das Volk
Vs.
1 Chr. 21,1: Der Satan reizte David gegen das Volk
34. 2. Sam. 24,24: David kauft die Tenne für 50 Lot Silber
Vs.
1 Chr. 21,25: David kauft die Tenne für 600 Lot Gold
35. 1 Kön. 9,11: Salomo gab König Hiram von Tyrus 20 Städte
Vs.
2 Chr. 8,2: König Hiram gab Salomo die Städte
36. 1 Kön. 9,23: Es sind 550 Amtleute
Vs.
2 Chr. 8,10: Es sind 250 Amtleute
37. 1 Kön. 10: Eine Königin von Saba hatte nie existiert
38. 2 Kön. 3,6f: König Joram von Israel bittet König Joschafat mit ihm Krieg
gegen Moabiter zu führen
Vs.
2 Kön. 1,17: König Joram wurde erst König im 2. Jahr der Regierung des
Sohnes von König Joschafat
39. 2 Kön. 16,9: König von Assyrien hörte auf König Ahas und zog gegen Da-
maskus
Vs.
2 Chr. 28,20: König von Assyrien hörte nicht auf König Ahas und zog gegen
ihn
40. 2 Kön. 24,14: 10.000 Israeliten wurden deportiert
Vs.
2 Kön. 24,16: Es waren 8.000 Deportierte
Jer. 52,28: Es waren 3.023 Deportierte
41. 2 Kön. 24,17: Zedekia ist Oheim des Joachin
Vs.
2 Chr. 36,9–10: Zedekia ist Bruder des Joachin
B: NEUES TESTAMENT
1. Mt 2,1: Jesu Geburt z.Zt. Herodes des Großen. Herodes starb 4 v. Chr.
Vs
Lk 2,1–7: Jesu Geburt z.Zt. des Statthalters Quirinius. Quirinius trat sein Amt
in Judäa im Jahre 6 n. Chr. an
Anhang 477
2. Mt 1,1–17 vs. Lk 3,23–38: Die Ahnenlisten von Matthäus und Lukas sind
nicht miteinander kompatibel
3. Lk 9,10: Speisung der 5.000 in Betsaida
Vs
Mk 6,45: Jesus geht erst nach der Speisung der 5.000 nach Betsaida
4. Mt 5,1: Jesu Predigt ist auf einem Berg (die Seligpreisungen)
Vs
Lk 6,17: Jesu Predigt ist auf einer Ebene
5. Mt 8,28: Zwei Besessene in der Gegend der Gadarener/Gerasener
Vs
Mk 5,1–2: Ein Besessener
6. Mt 20,30: Zwei Blinde am Wegesrande in Jericho
Vs
Mk 10,46: Ein Blinder
7. Mt 27,44: Beide Räuber schmähten Jesus
Vs
Lk 23,39–43: Einer der Räuber hatte eine innere Umkehr
8. Jesu letzte Worte:
Mt 27,46: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen
Mk 15,34: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen
Lk 23,34: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht was sie tun
Lk 23,46: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände
Joh 19,30: Es ist vollbracht
9. Szene am Grab:
Mt 28: Es geschah ein großes Erdbeben. Ein Engel stieg vom Himmel, der
den Stein wegwälzte und er setzte sich drauf. Er sprach zu den Frauen als da
waren: Maria von Magdala und die andere Maria.
Mk 16: Der Stein war bereits weggewälzt als die Frauen kamen: Maria von
Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome. Sie sahen einen Jüng-
ling im weißen Gewand sitzen.
Lk 24: Der Stein war bereits weggewälzt als die Frauen kamen: Maria von
Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, Johanna und die anderen. Es traten
zu ihnen zwei Männer in glänzenden Kleidern.
Joh 20:Maria von Magdala kommt zum Grab und sieht zwei Engel in weißen
Gewändern sitzen. Dann sieht sie Jesus, den sie zunächst für den Gärtner hält.
10. Mt 27,3–10: Judas erhängte sich
478 Anhang
Vs
Apg 1,18: Judas war vornüber gestürzt und mitten entzwei gebrochen
11. Apg 5,36: Es ist unmöglich, dass zur Zeit der Hinrichtung des Stephanus (um
32 n. Chr.) die Mitglieder des Hohen Rates über die Bewegung des Theudas
informiert gewesen sein können; denn die ist auf die Jahre 44–46 n. Chr. da-
tiert.
12. Apg 9,7: Die Männer hören die Stimme, sehen aber nichts
Vs
Apg 22,9: Die Männer sehen das Licht, hören aber nichts
13. Apg 9,23–26: Paulus war von Juden bedroht und flüchtete sich aus Damaskus
nach Jerusalem.
Vs
Gal.1,17f: Paulus verließ Damaskus, ging zunächst nicht nach Jerusalem son-
dern
2 Kor 11,32f nach Arabien, kehrte drei Jahre später nach Damaskus zurück
und flüchtete nach Jerusalem da vom Statthalter des König Aretas verfolgt.
14. Apg 19,22: Paulus sandte Timotheus im voraus nach Mazedonien, blieb selbst
in Ephesus (Provinz Asia).
Vs
1 Tim 1,3: Paulus zog nach Mazedonien, Timotheus blieb in Ephesus.
15. Röm 3,28: Der Mensch wird nur aus Glauben, nicht aus Werken gerecht
Vs
Jak 2,24: Der Mensch wird nur durch Werke, nicht allein aus Glauben gerecht
16. 2 Tim 2,25: Buße möglich nach Abfall
Vs
Hebr 6,4–8: Buße nach Abfall unmöglich
ANHANG 2: Eckpunkte der Geschichte
1.710 v. Chr. König Hammurabi erlässt einen der ältesten und den bedeu-
tendsten Rechtstext der Welt, den Codex Hammurabi
1.700 v. Chr. Breites literarisches Schaffen in sumerischer und akkadi-
scher Sprache
1.531 v. Chr. Hethiter zerschlagen das altbabylonische Reich; Dynastie
der Kassiter übernehmen für fast 600 Jahre die Vorherr-
schaft in Babylonien
1.350 v. Chr. Nippur wird neue Residenz der Sumer
900 v. Chr. Babylonien unter assyrischer Vorherrschaft
811 v. Chr. Hängender Garten von Babylon, eines der 7 antiken Welt-
wunder
710 v. Chr. Nach kurzer Unabhängigkeit Einnahme Babylons durch
assyrischen König Sargon I
626 v. Chr. Nabupolassar besiegt Assyrer
605 v. Chr. Nebukadnezzar II. besteigt babyl. Thron; Babylon hat
300.000 Einwohner; Finanz- und Handelszentrum
573 v. Chr. Babylon erobert phönizische Hafenstadt Tyros
D. Assyrien/Syrien
E. Phönizien
1.450 v. Chr. Die Phönizier (Palästina) entwickeln das erste Alphabet;
Übergang zur phonetischen Schrift, übernahmen von Ägyp-
tern die Konsonanten zum Aufzeichnen der semitischen
Sprache und ermöglichten so das buchstabierende Schreiben
wenn auch noch Zeichen für Vokale fehlten.
Um 1.100 v. Chr. war phönizische Schrift in der ganzen Levante verbreitet,
um Jahrtausendwende auch von Aramäern in Syrien und
den Israeliten übernommen, woraus sich aramäische und
althebräische Schrift entwickelten. Griechen verfeinerten
Schrift: entwickelten Zeichen für Vokale.
969 v. Chr. Stadtstaat Tyros steigt zum bedeutendsten Handelszentrum
am Mittelmeer auf, Hiram I. neuer König
814 v. Chr. Phönizien gründet Karthago, Föderation von Stadtstaaten
600 v. Chr. Phönizische Seefahrer umrunden Afrika
350 v. Chr. Phönizische Kunst stark von Griechen beeinflusst
F. Griechenland/Kreta
2.000 v. Chr. Erste europäische (minoische) Kultur auf Kreta
1.625 v. Chr. Naturkatastrophen in der Ägäis, minoische Kultur bricht
zusammen
1.600 v. Chr. Aufstieg der mykenischen Kultur, heroisches Zeitalter (Kö-
nig Agamemnon); mächtige Burg- und Grabanlagen auf
dem Peloponnes
1.200 v. Chr. Schlacht um Troja; Einfall der Dorer u. andere indogerm.
Stämme, Niedergang der mykenischen Kultur, danach
dunkles Zeitalter
979 v. Chr. Gründung von Milet (Kleinasien) durch griechische Siedler
900 v. Chr. Gründung Spartas
776 v. Chr. Erste Olympische Spiele in Griechenland
750 v. Chr. Homer (Ilias und Odyssee)
743–724 v. Chr. Erster Messenischer Krieg, Sparta erobert Messenien
733 v. Chr. Gründung von Syrakus (Sizilien)
685–668 v. Chr. Zweiter Messenischer Krieg
682 v. Chr. Entstehung der Poleis, Adel ersetzt Königtum, Ratsver-
sammlung der Adligen auf Aeropag
660 v. Chr. Gründung von Byzantion (Istanbul) durch Griechen
Anhang 485
G. Israel
1.012 v. Chr. Antritt der Herrschaft Sauls, Beginn der Königszeit
922 v. Chr. Feldzug des Pharaos Schischak in Palästina
878 v. Chr. Feldhauptmann Omri usurpiert Thron in Israel, Baalkult
gewinnt Einfluß
853 v. Chr. Israel in Allianz mit Damaskus gegen Assyrien, Schlacht
bei Karkar endet ohne Sieger
841 v. Chr. Militärrevolte des Jehu
770 v. Chr. Blütezeit Israels unter Jerobeam II: Ostjordanland zurück-
erobert
741 v. Chr. Erste Gebietsverluste Israels unter König Jotham
733–732 v. Chr. Assyrien besetzt Damaskus und erobert Teile Israels; erste
Deportationen
722 v. Chr. Eroberung Samarias und Ende des Königreiches Israel
710 v. Chr. König Hiskia lässt 533 m langen Wassertunnel in Jerusalem
bauen
701 v. Chr. Belagerung Jerusalems durch assyrischen König Sanherib
697 v. Chr. Juda assyrischer Vasall während Regentschaft des König
Manasse
639 v. Chr. König Josia löst sich aus assyrischer Fremdherrschaft
Anhang 487
609 v. Chr. Tod des König Josia bei Schlacht von Megiddo
597 v. Chr. Nebukadnezzar erobert Jerusalem, erste Deportationswelle
587/6 v. Chr. Zerstörung von Jerusalem, Palast und Tempel; zweite De-
portation nach Babylon
Hasmonäer Dynastie
I. Rom
753 v. Chr. Legendäre Gründung durch Romulus am Tiber
510 v. Chr. Sturz der etruskischen Monarchie, Rom wird Republik
291/90 v. Chr. Rom steigt zur stärksten Macht in Italien auf
264–241 v. Chr. Rom gewinnt ersten Punischen Krieg gegen Karthago
218–201 v. Chr. Zweiter Punischer Krieg, Hannibal besiegt Rom, wird aber
anschließend in Nordafrika entscheidend geschlagen
149–146 v. Chr. Dritter Punischer Krieg, Karthago zerstört, wird röm. Provinz
133–121 v. Chr. Landreform der Brüder Graccus scheitert am Widerstand der
Aristokraten
132 v. Chr. Erster Sklavenaufstand blutig niedergeschlagen, 20.000 gekreu-
zigt
92 v. Chr. Erste persisch-römische Krieg beginnt
73 v. Chr. Sklavenaufstand des Spartacus scheitert
63 v. Chr. Julius Caesar wird Pontifex Maximus
60 v. Chr. Triumvirat Caesar, Pompeius und Crassus
49 v. Chr. Caesar überschreitet Rubikon, besiegt Pompeius in Bürger-
krieg, zieht als Triumphator in Rom ein
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kirchener Verlag, Zürich und Neukirchen-Vluyn. 1993
Wilckens, Ulrich: EKK. Der Brief an die Römer (Röm 12–16). Benziger und Neu-
kirchener Verlag, Zürich und Neukirchen-Vluyn. 1982
Wilson, A.N.: Jesus. Sinclair-Stevenson Ltd., London. 1992
Yoder, John Howard: The politics of Jesus. William B. Eerdmans Publishing Com-
pany, Grand Rapids, Michigan. 1992
Zenger, Erich u. a.: Einleitung in das Alte Testament. 7. Auflage Verlag W. Kohl-
hammer GmbH, Stuttgart. 2008
Zimmerli, Walther: Grundriß der alttestamentlichen Theologie. Theologische Wis-
senschaft. Band 3. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart. 1978
Zingsen, Vera: Die Weisheit der Schöpfungsmythen. Wie uralte Geschichten unser
Denken Prägen. Verlag Kreuz GmbH, Stuttgart. 2009
Zingsen, Vera: Freya, Induna § Thor. Vom Charme der germanischen Göttermy-
then. Klöpfer § Meyer, Tübingen. 2010
Zwickel, Wolfgang: Frauenalltag im biblischen Israel. Katholische Bibelanstalt,
Stuttgart. 1980
Über dieses Buch
Fromme Christen sind davon überzeugt, dass die Bibel Gottes Wort und
Jesus Christus sein göttlicher Sohn ist. Der Autor geht dieser Behauptung
nach, indem er die Bibel auf den Prüfstand stellt. Die Kriterien seiner Prü-
fung sind Logik, historische Zuverlässigkeit und Ethik. Er kommt zu dem
Schluss, dass die Bibel ein Produkt ihrer Zeit ist und eine schwer entwirr-
bare Gemengelage aus Fakt, Fiktion, Legende und Mythos darstellt.
In seinem Anliegen, die Wahrheit über die Bibel zu ergründen, schreibt
er aus der soziologischen Perspektive des methodischen Zweifel, verbun-
den mit dem Streben nach Objektivität. Zum besseren Verständnis für den
Laien bietet er zudem eine chronologisch geordnete Zusammenfassung der
geschichtlichen Bücher der Bibel an.
Bibelstudien
Sabine Tischbein
Marc Chagall als Interpret und Vermittler biblischer Lebensdeutung
Der gekreuzigte Jesus von Nazareth als Symbol menschlichen Leidens und menschlicher
Hoffnung in der Auseinandersetzung um das Essenzielle und Überzeitliche
Bd. 13, 2013, 216 S., 24,90 €, br., ISBN 978-3-643-12429-6
Alexander Jaklitsch
Lächelnd von der Bibel zur Heiligen Schrift?!
Humor als mystagogische Hermeneutik
Bd. 11, 2012, 296 S., 29,90 €, br., ISBN 978-3-643-11841-7
Bernd Jörg Diebner
Dat Oole Testament verkloort op Platt
Plattdüütsch Opsätz in Utwohl
Bd. 10, 2012, 288 S., 24,90 €, br., ISBN 978-3-643-11763-2
Reinhard Nordsieck
Die Reich Gottes – Initiative
Fragmente zu einer Reform der Kirche. Mit Impulsen aus der Jesus-Verkündigung und
Leitmotiven für einen neuen Evangelischen Katechismus
Bd. 9, 2012, 96 S., 19,90 €, br., ISBN 978-3-643-11626-0
Hans-Joachim Seidel
Nabots Weinberg. Ahabs Haus. Israels Thron
Textpragmatisch fundierte Untersuchung von 1Kön 21 und seinen Bezugstexten
Bd. 7, 2011, 328 S., 29,90 €, br., ISBN 978-3-643-11357-3
Die biblischen
Bibel auf den Prüfstand stellt. Die Kriterien seiner Prü-
Geschichten:
ihrer Zeit ist und eine schwer entwirrbare Gemenge-
lage aus Fakt, Fiktion, Legende und Mythos darstellt.
Um das Verständnis für den Laien zu erleichtern, prä-
Peter Schildknecht
978-3-643-14295-5
LIT
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