Jîyan Alkan
Frei wie Totgeborene, vom Jahre Null bis Dimension Null
“Der unmittelbare sichtbare Geist wurde dann in einen mittelbar-hörbaren Geist
übersetzt, wobei, wie bei jeder Übersetzung manches verloren gehen musste. Aber die
Gebärdensprache ist die eigentliche Muttersprache der Menschheit.” schrieb Balázs in seinem
1924 veröffentlichten Buch “Der sichtbare Mensch”. In dem folgenden Jahrhundert berichtet
Engell von der Selbstvernichtung der Sichtbarkeit: “Die Welt wird parallel dazu nicht mehr als
Gesamtheit von Dingen, sondern als Gesamtheit von Wahrnehmungen und Beobachtungen
konzipiert; sie rutscht damit weiter ins Unbeobachtbare.” D
er Tod des Kinos ist in der
Medienhistoriographie zu finden, beklagt wird er nicht, denn er hängt zusammen mit einem
unmittelbaren, unsichtbaren, unhörbaren Tod. Das Kino des Spektakels ist daher eine
Landschaft aus Katakomben.
Künstlich zusammengesetzte Daten werden auf brutalste Art und Weise heraus dem sinnlichen
Leben verdrängt und digitalisiert, Kameraobjektive haben alles erfasst, was anschaubar in der
Welt der Phänomene ist. Wirklichkeit wurde auf Abbilder herabgesetzt und ersetzt. Wie Flusser
artikuliert hat: “Die erste Einbildungskraft macht Abbilder, welche als Vorbilder dienen sollen,
und die zweite macht Vorbilder, welche Kalkulationen abbilden sollen” Die verzerrten Abbilder
der Wirklichkeit werden zu Orientierungen des Menschen, wie aufgetrennte Faden, die nicht
mehr dem ursprünglichen Gewebe entsprechen. Dieser codierte Blick setzt sich aus den
gesellschaftlichen Maßstäben der Wahrnehmung und dem kollektiven Unbewussten zusammen.
Abbildungen, die durch das vermeintlich Objektive geprägt werden, kontrollieren die Sinngefüge
der Weltanschauungen.
Die Sortierer- und Bewerter*innen der oben genannten Codes - die
Medienwissenschaftler*innen - gravieren die Grabsteinen der Toten und verzieren die
versiegelten Grabkammern. Medienwissenschaft interessiert sich nicht mehr für den lebenden
Menschen und die dreidimensionale intersubjektive Welt, aus der Medien entstehen. An wen die
Medienwissenschaft ihre Bewertung und Sortierung richtet ist unklar. Ein*e Adressat*in ist
abwesend, stattdessen produziert sie ins Leere. Filmeleistende s prechen nur die Sprache der
gesellschaftlichen Codes, die durch subjektive und vereinheitlichte Beobachtungen und
Wahrnehmungen konstituiert ist. Ihre Assoziationen sind frei wie Totgeborene. Ihre Filme
kommunizieren nicht. Ihre Weltanschauung ist geformt aus der immer gleichen Perspektive. Die
Werke der Filmemacher*innen, die die Vorbilder dieser etablierten Annahmen und
Assoziationen dekonstruieren, werden- laut Flussers Worten- als Terrorakt gekennzeichnet.
Und doch ist der Konsens zwischen der Medienwissenschaft und dem
Leistungsfilm überwältigend. Medienwissenschaftler*innen sprechen die Hochsprache. Sie mit
Stolz besitzen die Trümmer einer erheblichen Medienlandschaft und eine unkommunizierbare
Macht. Beide Parteien des Konsens wissen über die Katakomben unter der Erde Bescheid, auf
denen ihre Beine stehen. Es wird totgeschwiegen, aber doch erstreckt sich der Muff von 1000
Jahren auf die Erde ins Neuland der Bedeutungslosigkeit,vom Jahre Null bis Dimension Null.
Flussers Hypothese über die neue, sich aus der Krise der Linearität rettende
Einbildungskraft, kommt auf den ersten Blick widersprüchlich vor, da die sogenannte radikale
“Kulturrevolution” erneut auf die Zukunft der belanglos entschlüsselten Codes angewiesen ist,
welche als Abgrenzungen dienen. Was Flusser nicht beachtet hat/Womit Flusser nicht gerechnet
hat, ist die Zyklizität der Kulturgeschichte. Die Kulturgeschichte entsteht aus kumulativ
wirkenden Wiederholungen, Verbreitungen und Verzögerungen und nicht bloß aus linearen
Kausalitäten. Die “westliche” großzügige Medienwissenschaft ist an sich komplexer als sie sich
eingesteht. Der Tod des Kinos kann ruhig noch ein Jahrhundert im akademischen Betrieb auf
seine Entdeckung warten. Was Flusser aber anhand seiner Lebensart veranschaulicht, ist, dass
das Leben sich in einem künstlichen Medium gestaltet. Die Gesellschaft des Spektakels ist durch
ihre Zerrissenheit aus der Wirklichkeit von einem Theater des Absurdes verdrängt. Das Leben ist
das einzige wahre Medium für diejenigen, die die Sinngefüge, ihre Sinn-Nehmung selbst
bestimmen, die ihre Einstellung zum Leben nicht wahrnehmen sondern wahrgeben. Sie werden
sowohl durch den Orkus als auch auf der Erde wandern und das Freisein der Wirklichkeit mit der
angesprochenen Einbildungskraft befriedigen. Für sie ist das Leben die Bühne und der Akt des
Lebens eine Performance. Durch solche sinngemäßen Übersetzungen wird das Wirkliche
kommuniziert.
Das am meisten übersetzte Buch (sogar in Dialekte wie z.B Bayerisch) abgesehen
von religiösen Werken ist “Der kleine Prinz”. Er versinnlicht dies in minimalistischem
Sinne.“Wir jedoch, die wir das Leben verstehen, wir scheren uns natürlich einen Dreck um
Zahlen.” Jenseits von den quantifizierbaren Dimensionen befindet sich die Einbildungskraft des
Menschen, die keiner Neuerfindung bedarf. “Man sieht nur mit dem Herzen. Das Wesentliche ist
für die Augen unsichtbar” Es ist erforderlich, die Freiheit der Totgeborenen in ihrem Doppelsinn
zu ergreifen. Wo die Dimensionen der Zahlen untergehen, taucht das Unsichtbare auf: der
bodenlose Mensch.