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Ein Plädoyer für Literatur im Unterricht

Authentizität, literarische Funktionen, vereinfachte Texte und kritische Anmerkungen


zur Kompetenzorientierung

Richard Zaiser

In diesem Artikel geht es darum, die Bedeutung der Literatur im Unterricht


hervorzuheben. Es ist das kein einfaches Unterfangen, denn schon vor mehr als 30
Jahren konnte der Sprachwissenschaftler, Henry Widdowson, der auch in Wien
Vorlesungen hielt, einen Abgesang auf die Verwendung von literarischen Texten im
Unterricht schreiben:
There was a time when literature was accorded high prestige in language study, when it
was assumed that part of the purpose of language learning, perhaps even the most
essential part, was to provide access to literary works. There was a time when it was
assumed, furthermore, that the actual process of learning would be enlivened and indeed
facilitated by the presentation of poems, plays, and prose fiction. But that time is past,
and now literature hardly figures at all in language programms. (Widdowson: 1984, 160)

1. Literatur liegt nicht im Trend der Zeit


Literatur und Sprachunterricht hatten lange eine unzertrennliche Einheit gebildet, das
scheint nun endgültig der Vergangenheit anzugehören. Es ist auch nicht ganz einfach,
Literatur zu verteidigen, denn die Verwendung erfordert mehr Geschick und
Arbeitsaufwand als die Beschränkung auf ein Lehrbuch oder ein kompetenzorientiertes
Trainingsbuch. Man kann, denke ich, ruhig sagen, dass die Verwendung von literarischen
Texten in der Schule sowohl Sternstunden der Kreativität und als auch Albträume des
Auswendiglernens gesehen hat. Der gestaltende Umgang mit Sprache und eine
persönliche Sicht auf die Welt erschließen aus meiner Sicht die größte Motivationsquelle,
gleichzeitig ist es auch möglich, mit vorgefertigten Phrasen und reduzierten Inhalten das
Auslangen zu finden. Vom gedankenlosen Auswendiglernen bis zur tiefgehenden
Persönlichkeitsentwicklung ist hier alles möglich.
Literatur scheint ein sehr breites Spektrum zu bieten, weil Verstand, Gefühl, Phantasie
und eigene Erfahrungen zugleich angesprochen werden. Es ist nicht einfach, für eine
bestimmte Lerngruppe, den geeigneten Zugang zu finden. Der Grund, warum die
Literatur durch die Kompetenzorientierung nun gänzlich verschwinden soll, dürfte aber
nicht in der Schwierigkeit der sinnvollen Verwendung im Unterricht liegen: Philosophie,
Literatur, Musik oder Religion, um einige Bereiche zu nennen, welche nicht zu den
Gewinnern derzeitiger Bildungsreformen gehören, fördern konsumkritische Menschen,
deren intellektuelles Vermögen wirtschaftlich nicht voll genutzt werden kann und deren
Bereitschaft zur Anpassung an die vorherrschende Gesellschftsordnung unter dem
Durchschnitt liegen dürfte. Vor allem aber kann man nur schwer standardisierte
Aufgabenstellungen erarbeiten, denn das widerpräche ja dem Sinn der Beschäftigung mit
Literatur.
Verstünde man unter „Kompetenzorientierung“ die Umsetzung des Gelernten für den
aktiven und persönlichen Gebrauch, wäre das zu begrüßen, auch wenn die Idee dazu
keineswegs neu ist; wenn es aber darum geht, das Handlungsvermögen messen zu
wollen, um „geeichte“ Menschen zu produzieren, welche durch die Bezifferung zu
beherrschbaren Einheiten werden, so wie das gegenwärtig der Fall ist, dann muss man
sich nicht nur davon distanzieren, sondern Mittel finden, um sich dagegen zu wehren.
(vgl. Zaiser, 2016)
Um die Verwendung von literarischen Texten im Unterricht zu „retten“ stehen, soweit
ich das abschätzen kann, zwei Möglichkeiten zur Auswahl: Man kann entweder
standardisierte und kompetenzorientierte Aufgaben erstellen (wo die Fragen und
Aufgaben für alle gleich sind und deren Antworten vergleichbar sind), oder man kann des
Kaisers neue Kleider entzaubern helfen. Ich habe mich nach eingehender Beschäftigung
mit dem Diktat der Kompetenzorientierung für zweiteres entschieden. (vgl. Zaiser, 2016)
Damit es hier zu keinen Missverständnissen kommt, möchte ich anfügen, dass ich
überzeugt bin, dass guter Unterricht automatisch kompetenzorientiert ist, ebenso wie
ein „gerechtes Miteinander“ ein demokratisches Verständnis erfordert. Sobald man aber
beginnen würde, das demokratische Verständnis durch eine Prüfung messen zu wollen,
hätte man damit große Probleme und könnte die Demokratie damit sogar gefährden.
(vgl. Zaiser, 60-61, & 88) Ich habe kompetenzorientierten Vorzeigeunterricht erlebt, wo
die Schülerinnen und Schüler so gut wie nichts verstanden haben.
Die Verwendung von literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht ist vom
bildungstheoretischen Ansatz und der Grammatik-Übersetzungs-Methode überschattet.
Ich möchte diese alte Tradition nicht unnötig loben, denn Literatur wurde dadurch oft
„zweckentfremdet“ oder für politische Ideologien gebraucht. Durch den kommunikativen
Ansatz und durch die gegenwärtige Kompetenzorientierung ist die Literatur völlig
verdrängt worden. Es gilt also, neue didaktische Modelle und Erklärungsansätze zu
finden, welche den Anforderungen eines kommunikativen Unterrichts entsprechen, die
literarische Ebene der Texte nicht außer Acht lassen und sprachliche Fertigkeiten in den
Vordergrund stellen. Kurz gefasst, Literatur darf im Unterricht kein Anlass werden, um
Inhaltsangaben auswendig zu lernen oder auf Multiple-Choice Verständnisfragen
reduziert zu werden. Durch die Verwendung von literarischen Texten soll im
Fremdsprachenunterricht ein kreativer Raum geschaffen werden, der die Entwicklung
der Sprachkompetenz der Schülerinnen und Schüler fördert. Leupold formuliert dies für
das Fach Französisch so:
Mit der Zielsetzung eines Französischunterrichts, der auf die Ausbildung einer Wissens-,
einer Handlungs-, einer Lern- sowie einer Persönlichkeitskompetenz angelegt ist, und mit
Bezugnahme auf die Didaktischen Grundsätze [sic.] der Lernerorientierung,
Handlungsorientierung und Prozessorientierung gewinnt auch die Literatur als
Gegenstand im fremdsprachlichen Unterricht eine neue Perspektive. (Leupold, 313)

2. Die Frage nach der Authentizität von Texten


Im kommunikativen Sprachunterricht geht es nicht mehr um das bürgerliche Bildungsgut,
welches literarische Texte darstellen können, sondern um ein „authentisches Erleben“,
wodurch Schülerinnen und Schüler ihr sprachliches Ausdrucksvermögen erweitern und
den persönlichen Zugang zur Sprache festigen können sollen.
Der Begriff der Authentizität ist vielfach diskutiert worden. Widdowsons Überlegungen
scheinen mir dazu besonders wichtig:
I am not sure that it is useful to talk about authentic language as such at all. I think it is
probably better to consider authenticity not as a quality residing in instances of language
but as a quality which is bestowed upon them, created by the response of the receiver.
Authenticity in this view is a function of the interaction between the reader/hearer and the
text which incorporates the intentions of the writer/speaker. We do not recognize
authenticity as something there waiting to be noticed, we realize it in the act of
interpretation. (Widdowson: 1979, 165)
Authentizität ist nicht im Text selbst zu suchen, sondern im Kommunikationsprozess.
Widdowsons Einsicht hätte für den Sprachunterricht eine fundamentale Auswirkung
haben können, leider ist das nicht geschehen.
Man misst authentischen Texten heute noch immer sehr viel Bedeutung zu, und meint,
dass man mit einer Ansage am Bahnhof, einem Zeitungsartikel oder einer
Fernsehnachricht schon alles gewinnen könnte. Der englische Sprachwissenschafter
warnt vor einer Überbewertung authentischer Texte.
Too exclusive a concern for 'authentic' language behaviour as communication can lead to
a disregard of methodological principals upon which the pedagogy of language teaching
must depend. (Widdowson: 1979, 163)
Wenn man sich zusehr auf authentische Materialien konzentriert, vergisst man leicht auf
methodische Prinzipien. Die gleiche Gefahr droht uns in potenzierter Form durch die
Kompetenzorientierung: Sobald man gegenwärtig Übungen im richtigen Textformat
verwendet, braucht man sich weiter keine Gedanken mehr um die Unterrichtsgestaltung
machen.
Durch den kommunikativen Ansatz im Fremdsprachenunterricht ist der Fokus auf eine
authentische Sprache verständlich. Wenn man möchte, dass die Lernenden auch selbst
lebensnahe Sprache verwenden können, ist es auch einsichtig, wenn man eben solche im
Unterricht verwenden will. (vgl. Widdowson: 1979, 164) Doch Widowson hält, wie bereits
erwähnt, fest, dass Authentizität nicht im Text zu suchen ist, sondern im
kommunikativen Prozess und in einer angemessenen Reaktion auf den sprachlichen
Impuls. Wenn ein Linguist oder Literaturwissenschafter ein Gedicht sprachlich und
grammatikalisch analysiert, so ist das Gedicht noch immer „echt“, aber die
kommunikative Absicht des Gedichtes geht dabei verloren: Das Gedicht ist authentisch,
die Auseinandersetzung damit nicht. (vgl. Widdowson: 1979, 166) Man kann hier
anfügen, dass auch die traditionelle Verwendung von literarischen Texten (z.B.
Beschreibung und Vergleiche von Romanfiguren) sehr oft nichts mit der eigentlichen
Absicht von Literatur zu tun hatte.
Sprache wird dadurch authentisch, dass sie innerhalb einer Sprecher/innengruppe,
welche kulturelle Übereinstimmungen oder konkrete Bedürfnisse teilt, entsteht. Die
Schreib- und Sprechabsichten müssen mit den Erwartungen der Leser- und Hörer/innen
näherungsweise übereinstimmen, damit authentische Kommunikation entstehen kann.
(vgl. Widdowson, 1979, 166) Der unmittelbare Zusammenhang und die direkte
Betroffenheit spielen eine wesentliche Rolle. Die Ansage am Bahnhof ist authentisch,
solange die Zuhörenden auf den Zug warten.
Widdowson schreibt, dass das Klassenzimmer keinen authentischen Zusammenhang
liefern kann. Texte welche als authentisch bezeichnet werden, wurden weder für die
Schüler/innen einer Schulklasse geschrieben, noch lässt sich der situative
Zusammenhang im Klassenzimmer rekonstruieren.
Man kann sich im Sprachunterricht entweder auf die reine Textbedeutung oder die
kontextbezogene Aussage konzentrieren, es geht jedoch immer um den
Bedeutungsinhalt. Wenn man sich auf die Bedeutung im Kontext konzentriert, heißt das
noch nicht, dass man dafür authentisches Material von außerhalb in die Klasse bringen
muss, was ohnehin vergeblich sein kann, denn die kontextbezogenen Umstände, welche
einen Text authentisch werden lassen, können nicht in die Klasse hineingetragen
werden:
It is not the case that communicative language teaching focuses on meaning whereas the
benighted structuralist approach did not: It focuses on pragmatic meaning in context
rather than semantic meaning in the code. And the focus on pragmatic meaning does not
require the importation of authentic language use into the classroom. This would be an
impossibility anyway as the classroom cannot replicate the contextual conditions that
made the language authentic in the first place. (Widdowson: 1998, 715)
Diese Überlegungen sind von von grundlegender Bedeutung. Damit ein authentischer
Text seine authentische Funktion bewahren kann, darf er nicht aus dem Zusammenhang
gerissen werden, ebenfalls bleibt ein Text nur für die authentische Zielgruppe wirklich
echt bzw. sinnvoll. Für Lernende einer Sprache wird es somit doppelt unmöglich, einen
ursprünglich authentischen Text als solchen zu verstehen, denn sie gehören ja nicht zur
Gruppe, für die der Text ursprünglich gedacht war:
The authenticity or reality of language use in its normal pragmatic functioning depends on
its being localised within a particular discourse community. Listeners can only
authenticate it as discourse if they are insiders. But learners are outsiders, by definition,
not members of user communities. So the language that is authentic for native speaker
users cannot possibly be authentic for learners. (Widdowson: 1998, 711)
Authentizität ist nach Widdowson also nicht im Text zu finden, sondern in der Interaktion
zwischen dem Leser/Hörer und dem Text. Dieser Ansatz stammt aus dem
kommunikativen Unterricht, den Widdowson vertreten hat, und er liefert auch die beste
Erklärung dafür, welchen Zweck Literatur in erster Linie hat: Es geht darum, eine auf
sich selbst bezogene Begegnung mit der Welt und anderen Menschen zu ermöglichen.
Wenn man den „authentischen Text“ für das Wichtigste hält, weil man damit meint, die
authentischen Situationen ins Klassenzimmer zaubern zu können, ist man nicht so weit
vom traditionellen Literaturunterricht entfernt, wo dem Text ebenso die gröBBte
Aufmerksamkeit geschenkt hat. Im kommunikativen Unterricht kann aber die Wahrung
des Originaltextes nicht im Vordergrund stehen, sondern es geht um die Verwendung
eines Textes der sowohl verständlich als auch inhaltlich relevant ist. Es spricht nichts
gegen eine Vereinfachung, wenn dadurch eine authentische Auseinandersetzung mit dem
Inhalt ermöglicht wird. Es dreht sich um die kommunikative Bedeutung, es geht in erster
Linie nicht mehr um den Text, sondern um die „Interaktion“, das Augenmerk muss auf
einer für die Lernenden authentischen Auseinandersetzung liegen. (vgl. Widdowson:
1990, 44-45)
There is no such thing as authentic language data. Authenticity is realized by approprate
response and the language teacher is responsible for designing a methodology which will
establish the conditions whereby this authenticity can ultimately be achieved.
(Widdowsons: 1979, 171-172)
Nation und Deweerdt stimmen dieser Überlegung zu:
Authenticity is not a characteristic of texts, but is the result of the interaction between a
reader and a text. If a learner reads a text, and responds to it in a way that we might
expect of someone who comprehends the text, then reading the text is authentic for that
learner. This response might involve understanding the text, enjoying its message, seeing
the strengths and weaknesses in its content and expression, or seeing its contribution to
a wider field. (Nation & Deweerdt, 56)
Ich finde diese Theorie äußerst erfrischend, denn, wenn man den Gedanken logisch
weiter verfolgt heißt das auch, dass ein und derselbe Text im Unterricht authentisch
wirken bzw. eingesetzt werden kann und auch nicht. Und es folgt die Einsicht, dass der
Schulunterricht eine eigene Wirklichkeit in sich bergen darf. Nach meiner Erfahrung
nehmen Schülerinnen und Schüler diese schulische Wirklichkeit viel stärker wahr, als alle
mehr oder minder glücklichen Versuche, irgendeine Wirklichkeit von außen in das
Klassenzimmer zu transferieren.
Es ist nicht im Trend der Zeit, die Schule als eigenen Raum zu begreifen. Und doch ist
der schulische Raum mit einem Bahnhof vergleichbar, dessen authentische Existenz
niemand abstreiten wird. Eine Handlung am Bahnhof in Nizza oder Brighton ist von einer
tatsächlichen Notwendigkeit begleitet, die Hörübung mit einer Unterhaltung in der
Bahnhofshalle vierliert jedwede Relevanz, welche sie im Augenblick der Planung für eine
Reise noch hat. In der Schule ist die Situation, wo Lehrer/innen und Schüler/innen über
Inhalte, Überlegungen und Meinungen reden wesentlich „wirklicher“ als die
Abfahrtszeiten für die Reise anderer Leute in einer ungewissen Vergangenheit. Ich
möchte „authentische Hörübungen“ vom Bahnhof weder abschaffen noch möchte ich
mich darüber lustig machen, es geht hier lediglich um eine dringend nötige
Relativierung.
Wenn man der Schule vorwirft, sie wäre völlig realitätsfern, so geschieht das ja sehr oft
mit der Absicht, Bildung und Persönlichkeitsentwicklung durch Ökonomisierung zu
ersetzen. Ich würde sehr dafür eintreten, dass Schule ein abgegrenzter Raum bleiben
soll, ebenso wie das Privatleben. Man muss sich mit diesem Anspruch länger
beschäftigen, um zu sehen, dass das möglicherweise viel moderner und
zukunftsweisender ist, als der derzeitige „Run“ auf die volle Integration der Schule in
den Erwerbsprozess.
Was nun aber ist Literatur, und was davon kann übrig bleiben, wenn man einen Text
soweit vereinfacht, dass Lernende einer zweiten oder dritten Fremdsprache diesen ohne
größere Mühe verstehen können?

3. Literarische Dimensionen (Funktionen)


Wollen wir literarische Texte im Unterricht verwenden, so müssen wir uns fragen, was
diese Texte auszeichnet. Karl Canvat führt in seinem Buch über den Unterricht der
Literatur drei Besonderheiten literarischer Texte an. Es handelt sich dabei um die
Möglichkeit der Interpretation, der Identifikation und der kulturellen Kompetenz - alle
drei Dimensionen, wie nun gezeigt werden soll, regen zur individuellen Interaktion mit
dem Text an, und können damit einen wertvollen Beitrag im kommunikativen Unterricht
bieten.
Zuerst beschreibt Canvat die « polysémie du texte » (die Mehrdeutigkeit des Textes),
welche eine « pluralité de lectures » (vielschichtige Lektüre) ermöglicht. Verschiedene
Lese- und Interpretationsmöglichkeiten entstehen duch die « densité constitutive »
(Dichte des literarischen Textes). (vgl Canvat, 111) Francine Cicurel beschreibt diese
literarische Dimension folgendermaßen:
Le texte littéraire est un texte qui permet l'interprétation. C'est en ce sens qu'on peut
parler d'interaction entre le texte et le lecteur. [...] et c'est le lecteur qui le [le texte]
termine par ses hypothèses interprétatives. (Cicurel, 127)
Der literarische Text ermöglicht eine Interpretation. Auf diese Weise kann man von einer
Interaktion zwischen Text und Leser/in sprechen. [...] und es sind die Leser/innen, die den
Text [bzw. den Kommunikationsvorgang] durch interpretative Annahmen abschließen.
Wenngleich vereinfachte Texte auch in ihrer literarischen Dimension reduziert werden,
wird deutlich, wiesehr diese Komponente dem kommunikativen
Fremdsprachenunterricht entgegenkommt. Ich war erstaunt, wie persönlich relevant die
Ereignisse im Buch „Die Schöne und das Biest“ (La Belle et la Bête 1) für die
Schüler/innen war. Warum messen Fünfzehnjährige dem Gefühlszustand eines
Fabelwesens eine Bedeutung zu?

1 Dieses Buch war eine erfolgreiche Verwendung einer vereinfachten Lektüre mit einer Klasse von
fünfzehnjährigen Schüler/innen (in der ersten Oberstufe bzw.) im 3. Lernjahr.
Der Kaufmann wird vom Fabelwesen im Schloss zurückgehalten, und er muss
versprechen, nachdem er sich von seinen drei Töchtern verabschiedet hat, wieder
zurückzukommen. Wieso soll er das Versprechen einlösen, wieso soll er eine seiner
Töchter statt ihm gehen lassen? Bei der Überlegung dieser Frage werden alle, bewusst
oder unbewusst, den eigenen Erinnerungen nachgehen. Völlig konträr zu
standardisierten Aufgaben, dürfen und sollen die Antworten hier unterschiedlich sein.
Und selbst wenn die Antworten gleich sind, werden die Argumente doch unterschiedlich
sein.
Für den Englischunterricht gibt es sehr gute vereinfachte Bücher in groBBer Zahl, allen
voran sind die Penguin Readers und die Oxford Bookworms zu nennen. Ein
mehrsprachiges Sortiment bietet der talienische „Cideb Verlag“.
Die zweite von Karl Canvat angeführte Dimension ist die « fonction modélisante »
(Erfahrungen in der Vorstellung zu machen), welche wie folgt beschrieben wird:
La lecture littéraire propose au lecteur de vivre sur le mode imaginaire une expérience
qu'il ne pourrait vivre dans la réalité. (Canvat, 112)
Der literarische Text ermöglicht dem Leser oder der Leserin, in der Vorstellung
Erfahrungen zu machen, die er oder sie in der Wirklichkeit nicht erleben könnte.
Die Möglichkeit zur Identifikation ist für die Leser vielleicht darin begründet, dass
fiktionale Texte einen eigenen Wirklichkeitsgehalt haben; Cicurel beschreibt das so:
La lecture [des textes de fiction] offre la particularité [...] de provoquer un effet de réel de
telle sorte que le texte est perçu comme vrai [...]. (Cicurel, 127)
Die Lektüre [von literarischen Texten] birgt die Besonderheit in sich, dass sie einen
Wirklichkeitseffekt hervorruft, wodurch der gelesene Text als wahr empfungen wird.
Schülerinnen und Schüler zeigen im Umgang mit einem Text wie « La Belle et la Bête »
einen erstaunlich hohen Grad an ernsthaftem Wirklichkeitsempfinden über die Vorgänge
und das Verhalten der literarischen Figuren in der Geschichte. Der stark vereinfachte
Text hat also eine authentische Wirkung auf die Schüler. Literarische Texte können durch
ein individuelles Wirklichkeitsempfinden für den schülerzentrierten Unterricht sehr
wertvoll werden.
Die persönliche Betroffenheit, welche durch literarische Texte entsteht, ist für das
Lernen einer Sprache besonders wichtig:
Above all, literature can be helpful in the language learning process because of the
personal involvement it fosters in readers. [...] Engaging imaginatively with literature
enables learners to shift the focus of their attention beyond the more mechanical aspects
of the foreign language system. (Collie & Slater, 5)
The reader is eager to find out what happens as events unfold; he or she feels close to
certain characters and shares their emotional responses. (Collie & Slater, 6)
Als dritte Dimension führt Canvat die « dimension comparative » an,
La lecture implique une compétence culturelle qui permet de mesurer la part de
conformité, d'innovation ou de subversion du texte. (Canvat, 112)
Die Lektüre schließt eine kulturelle Kompetenz ein, welche den Text als konform,
innovativ oder subversiv erkennbar macht.
Die ersten beiden Dimensionen scheinen auch für vereinfachte Texte zu gelten. Der
« Effekt der Wirklichkeit » kann bei literarischen Texten ohne Verlust in das
Unterrichtsgeschehen transportiert werden kann, während das bei Situationen aus dem
wirklichen Leben (Treffen mit Freunden vor dem Kino, Begrüßung der Gastfamilie,
Fragen nach dem Weg - um nur einige Beispiele zu nennen) nur mit großen Verlusten
gelingen kann.
Wie kann der literarische Text wirken?
Literatur kann beruhigen, indem sie das heillose Durcheinander der erlebbaren Welt
ordnet, Cidurel spricht dabei von einer « action de sécurisation » (Cicurel, 126) -
Märchen sind wohl in diese Kategorie einzuordnen. Die zweite Wirkungsart ist das
genaue Gegenteil; viele literarische Werke verfremden den Blick auf die gewohnte
Umwelt, um Folgendes zu bewirken: « mettre en cause, déstabiliser, troubler, faire
découvrir » (Cicurel, 126).
Die Verwendung von Literatur im Unterricht Texte fördert damit eine individuelle und
tiefenwirksame Auseinandersetzung mit Texten und bedeutungsvollen Inhalten, und
liefert darüber hinaus zahlreiche Möglichkeiten für kontextgebundene Rede- und
Schreibanlässe. Wie können diese nun aussehen?

4. Aktivitäten im Umgang mit literarischen Texten


Andreas Nieweler zählt eine Reihe von „schüleraktivierenden und kreativitätsfördernden
Verfahren“ auf, welche „textanalytisch-kognitive Verfahren“(Nieweler, 210) im
zeitgemäßen Unterricht ergänzen sollen. Hier sind einige dieser
„produktionsorientierten“ Verfahren aufgezählt (vgl. Nieweler 208 - 213):
• Erstellen eines Handlungsgerüsts (Bilder im Buch, Klappentext, Titel sollen helfen, einen
groben Handlungsraster zu finden)
• Anbinden an die eigene Erfahrungswelt (Vorwissen / Weltwissen)
• Textpuzzle (Rekonstruieren eines zerschnittenen Textes)
• Textamalgam (zwei Texte müssen entflochten werden, dabei sollen z.B. stilistische
Merkmale helfen)
• (Handlungs-)Lücken füllen (Leerstellen in der Handlung sollen organisch gefüllt werden,
besonders geeignet sind bereits im Text angelegte Handlungssprünge)
• den Schluss (neu) schreiben
• Ergänzen eines inneren Monologs, eines Briefes, einer Tagebuchnotiz
• eine Fortsetzung / eine Vorgeschichte zu einem Text schreiben
• Ändern der Erzählperspektive (von der Er-/Sie-Form in die Ich-Form oder umgekehrt,
Einnehmen einer Nebenfigur)
• Wechseln der Textsorte / Textgattung (von Prosa zur szenischen Darbietung, von der
Novelle zum Märchen oder zum Zeitungsartikel, etc.)
Das „Inszenieren von Texten“, um an den letzten Punkt anzuschließen, erfreut sich nicht
nur in der Unterstufe großer Beliebtheit, sondern kann auch in der Oberstufe eingesetzt
werden.
Collie & Slater bieten in ihrem Buch "Literature in the Language Classroom" viele
Anregungen und Beispiele für die kreative Verwendung von Literatur im Unterricht. Eine
sehr interessante didaktische Aufbereitung ist dabei (neben vielen anderen) die
Kurzgeschichte von Margaret Atwood, "The war in the bathroom" 2. (vgl. Collie & Slater,
220 - 225)

Schlusswort
Zum Abschluss möchte ich an Pennacs viertes „Recht für Leser“ erinnern, das Recht,

2 Atwood, Margaret (1977). Dancing Girls and Other Stories. Toronto: Seal Books.
einen Text zum wiederholten Mal zu lesen. Das wiederholte Lesen (oder Anhören und
Mitlesen wie es bei « La Belle et la Bête » und vielen modernen Lektüren für den
Unterricht möglich ist), ist für die Einprägung von Redewendungen und grundlegendem
Vokabular besonders nützlich. Literarische Texte eignen sich für wiederholtes Lesen ganz
besonders und verlieren ihren Reiz im Besten Fall auch dann nicht, wenn man die
Geschichte schon kennt.
Literarische Texte haben im modernen Fremdsprachenunterricht eine völlig neue
Aufgabe erhalten - die Textanalyse ist kein Selbstzweck mehr sondern bildet die
Grundlage für eine eigenständiges Interagieren mit dem Text. Die Verwendung von
Literatur kann dadurch lebendiger werden und der eigentlichen Aufgabe von
literarischen Texten gerecht werden.

Literaturangaben:
Breen, Michael P. (1985). Authenticity in the Language Classroom. Applied Linguistics (6/1, p.
60-70).
Canvat, Karl (1999). Enseigner la littérature par les genres. Bruxelles: De Boeck & Larcier.
Cicurel, Francine (1991). Lectures interactives en langue étrangère. Paris: Hachette.
Collie, Joanne & Slater, Stephen (2008). Literature in the Language Classroom. (First Edition
1987). Cambridge: Cambridge University Press. (FB Anglistik, SUU-91=26)
Fierling, Nicola Beatrice (2011). The Abridged and the Simplified, the Rewrite and the Simple
Original: Graded Readers and Literature in the EFL Classroom. Diplomarbeit der Universität
Wien.
Leupold, Eynar (2003). Französisch Unterrichten - Grundlagen. Methoden. Anregungen. Seelze-
Velber: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung GmbH.
Nation, Paul I.S. & Deweerdt, Jean-Paul (2001). A defence of simplification. Prospect (16/3, p.
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http://www.ameprc.mq.edu.au/docs/prospect_journal/volume_16_no_3/Prospect_16,3_Arti
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Nieweler, Andreas (2006). Fachdidaktik Französisch. Stuttgart: Klett.
MacDonald, Malcolm N. / Badger, R. & Dasli, Maria (2006). Authenticity, Culture and Language
Learning. Language and Intercultural Communication (Vol. 6, No. 3&4, p. 250-261) Zugriff
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New York, March 1976, and published in Fanselow and Crymes 1976, "On TESOL ’76".)
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Widdowson, Henry G. (1998). Context, Community, and Authentic Language. TESOL Quarterly
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Zaiser, Richard (2016). Der Siegeszug der Kompetenzen. Ursprung, Einfluss aus der Wirtschaft,
Theorie, Umsetzung in der Schule und Zusammenhänge mit gegenwärtigen Trends in der
Gesellschaft. Wien: Selbstverlag (epubli, Berlin). Zugriff unter
http://www.fmi.at/petere.htm am 26.5.2016.

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