Britta Benert & Romana Weiershausen (Hrsg.
Lou Andreas-Salomé
Zwischenwege in der Moderne /
Sur les chemins de traverse de la
modernité
Weitere Informationen zu Lou Andreas-Salomé finden Sie unter
http://andreas-salome.de
Originalausgabe.
© 2019 MedienEdition Welsch
D-83373 Taching am See, Tachenseestr. 6, +49-(0)8681-471 852
[email protected], www.medienedition.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBNs:
978-3-937211-82-4 (Buch)
978-3-937211-83-1 (PDF-E-Book)
Interview mit G. Fraisse von G. Mosna-Savoye
mit freundlicher Genehmigung von
France Culture
(ausgestrahlt am 8. August 2018)
Cover-Abbildung: Aufgang zum Paula Modersohn-Becker
Museum, Bremen (Foto: Maik, Lizenz: CC-BY-2.0;
Link: https://www.flickr.com/photos/geist-ist-geil/4833467104)
Cover-Design: Kontext Medien. Annegret Wehland u. Michael
Brandstätter GbR, www.kontext-medien.de
Satz (Word): Susanne Franz, Riemerling
Druck: Digital Print Group, Nürnberg
Inhalt
Einleitung: Lou Andreas-Salomé – Zwischenwege in der
Moderne
Britta Benert & Romana Weiershausen 7
I. Verortungen 19
Lou Andreas-Salomé heute: Porträt und Perspektiven
Stéphane Michaud 21
„Scharfsinnig wie ein Adler und mutig wie ein Löwe“ –
Lou Andreas-Salomé im Grenzraum akademischer Diszi-
plinen und im Dschungel (männlicher) Deutungen
Irmela von der Lühe 41
Lou Andreas-Salomé : éros et féminisme
Entretien avec Geneviève Fraisse – mené par Géraldine
Mosna-Savoye 61
II. Schreiben zwischen den Disziplinen 77
Die russische Literatur im Lichte von Lou Andreas-
Salomés Betrachtungen zur Moderne
Grażyna Krupińska 79
Existenz als Experiment. Dimensionen der Wahrnehmung
bei Lou Andreas-Salomé
Cornelia Pechota 100
„Gottesschaffen“. Religionspsychologische und reli-
gionshistorische Betrachtung von Gottesvorstellungen
im essayistischen Werk Lou Andreas-Salomés
Katrin Wellnitz 139
Von Spinoza zu Freud. Überlegungen zur klinischen
Theorie von Lou Andreas-Salomé
Manfred Klemann 170
Fast schreiben. Inzwischen Briefe. Anna Freud – Lou
Andreas-Salomé
Brigitte Spreitzer 187
Lou Andreas-Salomé dans les Almanachs de la psychanalyse
Henriette Michaud 210
III. Inédit: Lou Andreas-Salomés „Mein Bekenntniß zu
Deutschland“ (1934) 229
Lou Andreas-Salomé: „Mein Bekenntniß zu Deutschland“
(Ediert von Romana Weiershausen) 231
„Mein Bekenntniß zum heutigen Deutschland“ –
Kommentar
Romana Weiershausen 243
IV. Zum Umgang mit dem Werk heute: Schule und
Edition 265
Mehr als eine spannende Biographie: Ein Plädoyer für eine
‚Behandlung‘ von Lou Andreas-Salomé in der Schule
Annette Kliewer 267
Lou Andreas-Salomé publizieren – gestern und heute
Ursula Welsch 285
V. Inspirationen: Streifzüge mit Lou Andreas-Salomé
in der heutigen Kunst 305
Quand même (Lou) ! Plus même !
Diane Watteau 307
Das Fremde als das Eigene – Schreiben über Fremdheit in
eigenen Texten und bei Lou Andreas-Salomé
Cordula Simon 328
Siglenliste 340
Zu den Autorinnen und Autoren 343
Personenregister 350
Ursula Welsch
Lou Andreas-Salomé publizieren – gestern
und heute
Sie ist nicht einfach: nicht einfach einzuordnen, nicht einfach zu
lesen, nicht einfach zu fassen – und nicht einfach zu publizieren.
Schon zu ihren Lebzeiten schieden sich die Geister der Rezen-
sentinnen und Rezensenten in Bezug auf Lou Andreas-Salomé
und ihre Erzählungen. Die einen bemerkten „feine Seelenmalerei“
(Szczepanski 1895), eine „wahre Fundgrube von psychologischen
Entdeckungen“ (Stöcker 1899) und eine „wundervolle Gegen-
ständlichkeit der Schilderung“ (A. Heine 1911). Die anderen dia-
gnostizierten „unfreiwillige Ironie auf Nietzsches Weltentraum,
auf seine Dichterphilosophie“ (Frank 1896), „schwer genießbar“
(Carsten 1899) und „Überguß des klugen Geredes“ (Engel 1898).
Und manches Urteil, das es zwar gut meint, bleibt dennoch im
Irgendwo hängen und rettet sich in die Bezeichnung „eigenartig“
wie z.B.:
Lou Andreas-Salomé ist vielleicht die eigenartigste, am schwersten zugängliche
Schriftstellerin, die die deutsche Sprache hat. Sie ist gar nicht männisch, aber noch
weniger ist sie weiblich im gewöhnlichen Sinn. Sie giebt viel, aber sie giebt sich
nicht; und es macht den Eindruck, als ob sie sich versagt, nicht weil sie schnöde,
nicht weil sie temperamentlos ist, sondern aus heimlicheren, gar komplizierten
Gründen. (Pauli 1896: 277)
Bis heute scheint sich daran nicht viel geändert zu haben. Nach
wie vor gibt es Stimmen, denen die Satzkonstrukte zu umständlich
sind, die Sprache zu exaltiert, so mancher Plot zu sehr konstruiert
und die Sprache zu wenig poetisch ist. Aber es gibt eben auch die
Anderen, die sich einlassen und die dem nachgehen wollen, was
286 Ursula Welsch
sich darüber hinaus in den Texten Lou Andreas-Salomés entde-
cken lässt.
Es ist gerade diese Uneinheitlichkeit im Urteil ihrer Zeitgenos-
sen, die neugierig macht. Und es stellt sich die Frage, ob die Ursa-
che für diese Indifferenz nicht in einer gewissen Unangepasstheit
an den üblichen Literaturbetrieb und in etwas Experimentier-
freude liegen könnte. Ein Ignorieren literarischer Usancen kann an
Unwissenheit liegen, die Andreas-Salomé durchaus für sich in An-
spruch nimmt (vgl. L 97: „Mich hatte die Literatur als solche noch
nicht sonderlich interessiert […], ich war ‚ungebildet‘ in ihr“), oder
aber daran, dass die überlieferten Formen und Themen für das,
was gesagt werden soll, nicht mehr ausreichen.
Und das könnte Lou Andreas-Salomé zu einer Schriftstellerin
der Moderne machen – einer Schriftstellerin, die uns über ihren
historischen Kontext hinaus auch heute noch etwas zu sagen hat.
Eine Schriftstellerin der Moderne?
Die (literarische) „Moderne“ ist ein schillernder Begriff, der nicht
so einfach dingfest zu machen ist – und er soll hier auch nicht aus-
gelotet werden. Er wird für ein paar Schlaglichter aufgegriffen,
wie Vorbilder, Themen, Erzählweise, Stilfragen und literarische
Formen, und wird benutzt, um einzelne Aspekte zu beleuchten
und zu prüfen, wie „modern“ das Werk von Lou Andreas-Salomé
unter diesem Blickwinkel ist.
Die literarische Moderne wird als Gegenbewegung gegen die
„vorangegangene Periode der Schönfärberei“ verstanden, „gegen
die nun dieser frische Krieg losbrach“ (L 97). Dieser „frische Krieg“
bezieht sich auf die Naturalisten, deren Vertretern Lou Andreas-
Salomé in den 1890er Jahren nahestand und deren Werke hier als
Beginn der literarischen Moderne verstanden werden. Die Vorbil-
der der Naturalisten sind in der skandinavischen Literatur zu fin-
den und nicht zuletzt auch bei Friedrich Nietzsche.
In dieser Zeit beginnt Andreas-Salomés schriftstellerische Kar-
riere – vor allem mit Aufsätzen über Henrik Ibsens Dramen und
Lou Andreas-Salomé publizieren – gestern und heute 287
mit Essays über Friedrich Nietzsche. Auch die naturalistischen
Dramen bespricht sie – und parallel erscheinen Essays über Reli-
gionsthemen wie z.B. „Gottesschöpfung“ (1892) oder „Das Pro-
blem des Islams“ (1894).
Damit sind bereits die beiden biografischen Glücksfälle be-
nannt, die Lou Andreas-Salomés Ruhm als Kennerin der moder-
nen Literatur und Philosophie begründeten und die das
Startkapital auf dem Weg zum schriftstellerischen Erfolg darstell-
ten: ihre persönliche Bekanntschaft mit Friedrich Nietzsche und
ihre Anteilnahme am „Literaturkrieg“ der Naturalisten und
Kenntnis skandinavischer Literatur.
Biografische Glücksfälle – Friedrich Nietzsche und die Naturalisten
Gerade 21 Jahre alt war Lou Andreas-Salomé, als sie 1882 Friedrich
Nietzsche kennenlernte. Er stand noch vor der „Morgenröte“ sei-
ner späteren Popularität. Überraschend erwies sie sich in den Dis-
kussionen als fähig, bei seinen Geistesblitzen mitzuhalten und sie
kongenial zu kontern.
Und: Zwölf Jahre später – zu Nietzsches 50. Geburtstag – ist sie
so selbstbewusst, als noch unbekannte Autorin in die weit über das
akademische Milieu hinaus aufflammende Debatte um Friedrich
Nietzsche einzugreifen – mit Aufsätzen, die später zu dem Buch
Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894) zusammengefasst wur-
den. Und auch hier scheiden sich die Geister: Von „abschreckend
unähnliche[m] Machwerk“ (Kögel 1895: 228) ist die Rede und vom
Zeugnis einer Hingebung an die Gedankengänge einer fremden Persönlichkeit
[…], wie sie in diesem Grade vielleicht nur einem weiblichen Gemüte möglich ist
und die nicht aus einer versteckten Feindseligkeit, sondern nur aus größter inner-
licher Teilnahme an der fremden Person und ihrer Entwicklung entspringen
kann. (Romundt 1895: 523).
Damit wird aus dem biografischen Glücksfall eine Schriftstellerin
in der Moderne: Zumindest der erste Schritt in diese Richtung ist
getan – indem eine junge, noch unbekannte Autorin sich selbstbe-
wusst in einer Debatte zu Wort meldet, in der fast ausschließlich
288 Ursula Welsch
Männer argumentieren. Und sie hat etwas zu sagen, das bis heute
Gültigkeit hat1.
Dann der zweite biografische und persönliche Glücksfall: Ver-
mittelt von ihrem Mann taucht Lou Andreas-Salomé ein in die
allerneuesten literarischen Entwicklungen: den Naturalismus, den
„Leuchtturm“ der Moderne, der literarischen Revolution, die ins
moderne Leben hinein führen will – und die Freie Bühne wird ihre
Bühne für die ersten Aufsätze über Henrik Ibsen und Friedrich
Nietzsche. Insbesondere Henrik Ibsen, das große Vorbild dieser
literarischen Bewegung, gerät in ihren Fokus. Ihr Mann hatte sie
„im Vorlesen verdeutschend“ (L 97) mit seinem Werk vertraut ge-
macht. Lou Andreas-Salomé meldet sich auch hier zu Wort – mit
einem Buch über Ibsens Frauen-Gestalten (1892), das sich neben
den Dramen des Meisters auch dem Frauenthema widmet: Denn
die Hauptfrage kreist stets darum, wann eine Frau frei ist bzw. wie
erfolgreich Ibsens Frauenfiguren bei ihrem Kampf um diese Frei-
heit sind. Die literarische Form ist eine „dichterisch deutende Neu-
darstellung“2 – so Hulda Garborg im Vorwort zu ihrer
Übersetzung des Buchs ins Dänische –, die praktisch nicht einzu-
ordnen ist: Die Ibsen‘schen Dramen werden neu erzählt und dabei
literarisch interpretiert – in einer Sprache, die weit entfernt ist von
sachlicher Analyse. Es entstehen vielmehr neue Kunstwerke.
Der schriftstellerische Erfolg
In den folgenden Jahren wird Lou Andreas-Salomé als Verfasserin
von Kritiken, aber auch mit ihren Romanen und Erzählbänden
berühmt. In rascher Folge erscheinen zwischen 1895 und 1902
sechs Bände bei damals angesagten Verlagen wie J.G. Cotta Nach-
folger und Eugen Diederichs. Insbesondere mit dem ersten Buch
dieser Folge – mit Ruth – trifft sie einen Nerv der Zeit, denn Ruth
1 Vgl. Schwab 2010, 325 ff.
2 Zit. nach Pechota 2012: 213.
Lou Andreas-Salomé publizieren – gestern und heute 289
erlebt bis 1925 zehn Auflagen, die anderen Bände jeweils drei bis
fünf Auflagen – und das, obwohl nahezu alle erzählenden Texte
vorab bereits in Zeitschriften erschienen sind; nur Ruth ist eine
Ausnahme.
Parallel zur literarischen Produktion, die sicherlich mehr Werke
hervorgebracht hat, als damals in Buchform erschienen sind (vgl.
z.B. „Der heimliche Weg“, der nur in einer Zeitschrift erschien und
nun erst im Rahmen der Werkedition in Buchform zugänglich ge-
macht wurde), erscheinen zwischen 1891 und 1902 über 50 Auf-
sätze zu Themen aus Religion, Philosophie, Literatur und Kunst
(neu publiziert in AuE1–3).
Die literarische Arbeit und die Arbeit an den Aufsätzen gehen
in der täglichen Arbeit nahtlos ineinander über. Das belegen die
unpublizierten Tagesnotizen im Lou Andreas-Salomé Archiv Göt-
tingen, die z.B. für Januar und Februar 1898 die Arbeit an folgen-
den Texten nennen: „Ein Wiedersehen“, „Zurück ans All“ (beide
in Menschenkinder), „Eine Ausschweifung“ (mit „Fenitschka“),
„Grundformen der Kunst“, „Religion und Kultur“, „Vom religiö-
sen Affekt“, Buch über Gott (unter dem Titel Der Gott 2016 aus dem
Nachlass publiziert).
Während in den Aufsätzen und Essays zwar ihr philosophisch
geschliffener Verstand immer wieder zu Wort kommt, so findet
sich doch wenig Revolutionäres oder gar Aufrührerisches darin.
Mit Ausnahme der psychoanalytischen Texte wohlgemerkt. Auch
etliche reine Auftragsarbeiten sind dabei wie z.B. „Der Egoismus
in der Religion“ oder so manche Rezension. In den literarischen
Werken dagegen sieht es anders aus. Hier werden Geschichten er-
zählt, die immer noch ansprechen.
Themen der Zeit
Die Erzähltexte greifen – im Vergleich zu den theoretischen Texten
– zwar keine wirklich neuen Themen auf, jedoch in der Explizie-
rung der theoretischen Positionen auf erzählerische Weise
kommen uns die Figuren mit ihren Nöten und schwierigen
290 Ursula Welsch
Lebenssituationen nahe. Es sind Geschichten von enttäuschten
Hoffnungen, unerfüllten Erwartungen und von erkämpften
Selbstbehauptungen.
Die Erzählungen befassen sich mit Themen der Zeit und bringen
in der Regel deren spezifisch weibliche Variante ins Spiel: So geht
es in Ruth um Unterwerfung und psychische Gewalt in einem
Lehrer-Schülerin-Verhältnis, um den Verlust des Glaubens in Aus
fremder Seele, um Pubertät und die Schwierigkeit des Frauwerdens
in Im Zwischenland. Menschenkinder schildert Variationen des
Geschlechterverhältnisses; nicht nur zwischen Mann und Frau,
sondern auch in lesbischer (Erzählung „Mädchenreigen“) und
homosexueller Liebe in Jutta. Es wird in verschiedenen Novellen
hinterfragt, inwiefern das Berufsleben von Frauen an der
(Un-)Möglichkeit von erfüllten Beziehungen etwas ändert.
Und immer wieder gibt es im Erzählwerk auch Künstlergestal-
ten wie z.B. in Das Haus als Gegenentwurf zum tatkräftig sein
Leben gestaltenden Menschen. Daneben finden sich auch Krank-
heitsbilder und Deviationen wie z.B. Masochismus („Eine Aus-
schweifung“) oder eine Hysterika („Das Paradies“), die auf eine
intensive Beschäftigung mit der zeitgenössischen Medizin, Psychi-
atrie und Sexualwissenschaft schließen lassen, wie sie spätestens
in der psychoanalytischen Arbeit Andreas-Salomés manifest wird.
Der Masochismus war allerdings bereits in ihren Gesprächen mit
Friedrich Nietzsche ein Thema.
Es fällt auf, dass eine deutliche Skepsis vorherrscht, was das
Gelingen menschlicher Beziehungen anbelangt. Es gibt in den Er-
zählungen keinen glücklichen Ausgang, bestenfalls eine mit harter
(Beziehungs-)Arbeit aufrecht erhaltene Zusammengehörigkeit
wie in Das Haus – in aller Regel stehen am Ende das Nicht-Gelin-
gen und die Einsamkeit der Protagonistin. Insofern verwundert
der gelegentliche Vergleich mit Autorinnen wie z.B. Eugenie
Marlitt.
Lou Andreas-Salomé publizieren – gestern und heute 291
Erzählweise
Am Vergleich mit Eugenie Marlitt mag vielleicht die Andreas-
Salomésche Erzählweise einen Anteil haben, denn sie ist konven-
tionell zu nennen. Es gibt immer wieder Belege dafür, dass sie vor
allem wohl Goethes Romane sehr genau studiert hat3. Es herrscht
ein auktorialer Erzähler vor, der durch die Geschichte führt. Nur
an wenigen Stellen gibt es eine Ich-Erzählerin (z.B. in Jutta). In aller
Regel gibt es nur einen Handlungsstrang, in den weitere Figuren
einbezogen werden, zumeist um die Zeichnung der Protagonistin
zu schärfen und sie durch Gegenentwürfe abzugrenzen.
In dem, was erzählt wird, geht es nicht so sehr um große Ereig-
nisse oder Geschehnisse – die Handlungsorientierung ist gering.
Es geht vielmehr um Konfliktsituationen, um Befindlichkeiten. Die
Erzählungen sind zum Teil wie Konstruktionen, die sich aus
Gesprächen und erzählten Konstellationen zusammensetzen, die
die Position der jeweiligen Figuren aufzeigen, von ihren Überle-
gungen und Gefühlen berichten. Ein durchaus typisches Beispiel
ist die Erzählung „Der heimliche Weg“, in dem es keine Handlung
im engeren Sinn gibt. Die drei „Scenen einer Ehe“ sind Gespräche,
in denen sich herausstellt, was der eine über den anderen (fälsch-
licherweise) denkt, und wie eine Beziehung zerbricht, die diese
(falschen) Annahmen nicht auflöst und sich damit auch keine
Chance zur Korrektur gibt.
Konventioneller Stil
Alle diese Geschichten werden in einem eher üppigen, z.T. sehr
detailreichen Stil erzählt, der sich für den eiligen Leser viel zu oft
in Nebensächlichkeiten ergeht, wie der Schilderung des Gartens
und des Vogelgezwitschers in Ruth. Diese lassen sich jedoch
durchaus symbolisch interpretieren, z.B. das Aufbrechen der jun-
gen Knospen im Frühjahr als Anspielung auf die Jugendlichkeit
3 Vgl. Pechota 2005, 294ff.
292 Ursula Welsch
der Protagonistin – auf die Entwicklung, die sie im Verlauf dieser
Erzählung durchmachen wird. Der üppige Stil gerät gelegentlich
bis in deutliche Nähe zum Schwulst, insbesondere wenn exaltierte
Emotionen mit überbordenden Superlativen beschrieben werden.
Die Wortwahl scheint eher auf eine süddeutsch-österreichische
Sprachsozialisation zu deuten als auf eine norddeutsche (wie die
ihrer Mutter oder auch diejenige Paul Rées). Es gibt kaum Neolo-
gismen, wenn auch so manche ungewöhnliche Wortbildung wie
z.B. „Gestikulation“, „regenumsprüht“ oder „Schalkslächeln“,
und durchaus komplexe Satzkonstruktionen, die in ihrer Gewun-
denheit vor allem in den Großessays wie z.B. Die Erotik oder den
psychoanalytischen Texten wie z.B. „Narzißmus als Doppelrich-
tung“ einen Höhepunkt erreichen.
Schreibweisen
Über die Jahrzehnte ihrer publizistischen Tätigkeit hinweg ist bei
Lou Andreas-Salomé durchaus eine kontinuierliche Anpassung an
die – damals – neue Rechtschreibung festzustellen. Dazu passt
auch, dass handschriftlich ältere Schreibweisen wie z.B. Ue statt Ü
bis in die 1930er Jahre vorherrschen.
Editorisch stellte sich daher z.B. bei der Publikation der Essay-
bände die Aufgabe, unterschiedliche Schreibweisensysteme unter
einen Hut zu bringen. Schließlich fand 1901 – mitten in Lou
Andreas-Salomés Schaffensperiode – die Orthographische Konfe-
renz statt, die erstmals eine gemeinsame Rechtschreibung aller
deutschsprachigen Staaten festzulegen versuchte. Damals wie
heute war die Akzeptanz dieser Reformbestrebungen durchaus
unterschiedlich. Nicht jede Zeitschrift hielt sich daran, so dass bei
der Publikation der Aufsätze neben individuellen Vorlieben auch
die Schreibweisenpolitik der jeweiligen Zeitschriften eine Rolle
spielte.
Die Inkonsistenzen, die sich damit bei den zwischen 1890 und
1930 entstandenen Texten in einem einzigen Band ergeben, sind
einem engagierten Lektor ein Dorn im Auge, so dass wir uns bei
Lou Andreas-Salomé publizieren – gestern und heute 293
den Aufsatzbänden entschieden, die Schreibweisen der frühen
Texte auf den Stand der späteren zu vereinheitlichen. Insbeson-
dere ß anstelle von ss wurde durch das gesamte Werk hindurch
angeglichen, da Lou Andreas-Salomé es handschriftlich durchgän-
gig verwendet.
Für die literarischen Werke, die zu Lou Andreas-Salomés Leb-
zeiten publiziert wurden, wird in der Edition die erste Auflage der
Buchausgabe als Textstand benutzt, auch wenn der Text komplett
oder zum Teil vorab bereits in Zeitschriften erschienen ist. Denn
es ist nachweisbar, dass die Texte von Lou Andreas-Salomé vor
der Buchpublikation noch einmal überarbeitet wurden, signifikant
ist dies z.B. bei der Novelle „Wolga“ (IZw). Die Vorab-Publikation
in Zeitschriften geschah vor allem unter dem Aspekt zusätzlicher
Honorare und beinhaltete gelegentliche Anpassungen an den
Geschmack dieses spezifischen Publikums4. Der publizistische
Schwerpunkt Lou Andreas-Salomés lag somit vor allem auf den
Buchausgaben. Um die stilistischen Änderungen, die von Verlags-
seite in späteren Auflagen vorgenommen wurden, hat sie sich
kaum gekümmert.
Publikationen aus dem Nachlass werden exakt entsprechend
der Originale publiziert – mit allen Inkonsistenzen, jedoch auf ß
vereinheitlicht, da die für die Typoskripte verwendete Schreibma-
schine nicht über den Buchstaben ß verfügte und daher ss verwen-
det wurde.
Literarische Formen
Die literarischen Formen, in denen sich das Werk von Lou
Andreas-Salomé präsentiert, sind vielfältig, wenn auch meist
nichts Neues: Gedicht, Roman, Erzählung, Novelle, Märchen,
Brief, Aufsatz, Abhandlung, szenische Texte … Die für die
4 Vgl. Benert 2013: 421.
294 Ursula Welsch
literarische Moderne als typisch geltenden Kurzformen wie Ge-
dicht, Novelle, Brief, Essay, Aphorismus etc. sind eben auch dabei.
Daneben findet sich auch einiges Experimentelles, wie z.B. die
symbolistische Traumsequenz „Der goldene Vogel“ von 1919 oder
das Kunstmärchen „Die Geschichten von der Gänseblume und
von den Wolken“ in dem Band Die Stunde ohne Gott und andere Kin-
dergeschichten (1922). Auch die drei szenischen Texte, die uns Lou
Andreas-Salomé hinterlassen hat, sind eher der experimentellen
Literatur zuzuordnen. Sie benutzen märchenhaft-symbolische
Versatzstücke wie die Tarnkappe in dem gleichnamigen Text oder
wie die Figurenbezeichnungen („Stiefmütterchen“, „Grimme-
bold“, „Hüpfehopf“ etc.) in „Der Stiefvater“ (unveröffentlicht),
und es ist nicht immer genau auszumachen, wo eine symbolische
Sequenz endet und eine (Traum-)Sequenz beginnt. Beim symbo-
listischen Märchen Der Teufel und seine Großmutter (1922), das
zumeist psychoanalytisch gedeutet wird, finden sich zudem
Regieanweisungen wie für eine Realisierung als Film – was wahr-
scheinlich durchaus ernst gemeint ist, da die Tagebücher zeigen,
dass Andreas-Salomé eine leidenschaftliche Kinogängerin war
(vgl. IdSbF 83ff.).
Märchen werden von Andreas-Salomé auch gerne dazu be-
nutzt, das Thema eines Buchs in symbolischer Form vorab zu klä-
ren – z.B. das „Märchen zur Einleitung“ im Ibsen-Buch (1892) und
das „Weihnachtsmärchen“ in Drei Briefe an einen Knaben (1917).
Insbesondere beim Ibsen-Buch treffen wir das erste Mal auf eine
Kombination von Textsorten und Inhalten, die die Einordnung in
den üblichen Gattungskanon verweigern: ein Kunstmärchen, das
das Thema des Buch expliziert, wie es sonst nur ein Essay zu tun
vermag, kombiniert mit Essays, die die Interpretation von Thea-
terstücken in eine eigene „dichterisch deutende“, literarische Form
bringen. Eine ähnliche Kombination ergibt sich bei Drei Briefe an
einen Knaben (1917), in denen ein Kunstmärchen in Briefform mit
zwei einigermaßen unverblümten Aufklärungsbriefen kombiniert
Lou Andreas-Salomé publizieren – gestern und heute 295
wird. Das erschwert natürlich die Einordnung in eine der drei
Werkreihen.
Bei den Erzähltexten ist die Klassifizierung einigermaßen ein-
fach, auch wenn man sich fragen kann, weshalb Ruth kein Roman
ist, sondern eine „Erzählung“, und was Ma zum „Porträt“ macht.
Der Begriff „Erzählung“ kann zwar als Überbegriff für alle Erzähl-
formen benutzt werden – auch für den Roman, aber sah das
Andreas-Salomé auch schon so? Die Zeitgenossen jedenfalls hat-
ten mitunter ähnliche Zuordnungsschwierigkeiten, wie z.B. eine
Rezension zu Im Kampf um Gott zeigt: „Auf die eigenartige Dich-
tung dürfte die Bezeichnung ‚Roman‘ nur in beschränktem Sinne
anwendbar sein, und wenn wir sie überhaupt in eine bestimmte
Kategorie einordnen sollten, so würden wir sie wohl am besten als
einen religiös philosophischen Roman bezeichnen.“ (A.F. 1885)
Sind diese Diskrepanzen als Zeichen für eine literarisch nicht
ausreichend versierte Autorin abgetan worden, lässt sich im
Gegenteil fragen, warum eine derart belesene, intellektuell äußerst
rege Schriftstellerin die üblichen Gattungsgrenzen durchbrochen
hat und ob dies als Zeichen für die Modernität der Texte gewertet
werden kann.
Lou Andreas-Salomé – heute
Lou Andreas-Salomé lebte in einer Zeit des Umbruchs, in einer
Zeit, deren gesellschaftliche und künstlerische Auswirkungen bis
heute wirksam sind. Lou Andreas-Salomé teilte das Schicksal vie-
ler Schriftsteller und Intellektueller des späten 19. Jahrhunderts
und der Weimarer Zeit: Sie musste den Ersten Weltkrieg erleben –
und noch viel schlimmer für sie: die russische Revolution mit den
verheerenden Folgen für ihre Familie. Und sie musste die Wirt-
schaftskrise der Weimarer Zeit mit der darauf folgenden Zeit des
Nationalsozialismus erleben, wenn auch den Zweiten Weltkrieg
nicht mehr.
Im Neuanfang nach der Nazizeit und ihrer künstlerischen Ago-
nie liegt der Schwerpunkt der Rezeption Lou Andreas-Salomés auf
296 Ursula Welsch
der biografischen Einordnung – als Freundin berühmter Männer.
Es ist Ernst Pfeiffer zu verdanken, dass wir so genau über das
Leben dieser ungewöhnlichen Frau Bescheid wissen. Er hat ihr
Lebensresümee herausgegeben (Lebensrückblick), er hat uns auch –
in Form der Briefwechsel kombiniert mit Tagebuchauszügen – mit
dem Denken und Erleben in den verschiedenen prägenden Perio-
den dieses Lebens vertraut gemacht; vertraut gemacht damit, wie
sie mit Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund
Freud kommuniziert hat. Auch dies ist ein wichtiger Schritt, der
dafür sorgte, dass die Erinnerung an Lou Andreas-Salomé in
unsere Zeit herüber gerettet wurde – und sie nicht, wie viele ihrer
Schriftstellerkolleginnen, der Vergessenheit anheimfiel. Da tut es
nichts zur Sache, dass er die Texte mal mehr, mal weniger an den
Zeitgeschmack angepasst hat. Sein Verdienst ist das heutige Nach-
leben von Lou Andreas-Salomé.
Andreas-Salomés Werk jedoch – ihre erzählende und ihre essay-
istische Prosa – blieb weitgehend unbeachtet. Zwar blühte am
Ende des 20. Jahrhunderts das Interesses an der Frauenliteratur
des vorangegangenen Jahrhunderts auf, aber das währte nur kurz.
Heute befinden wir uns in einer weiteren Phase der Lou Andreas-
Salomé-Rezeption: Seit ihrem 150. Geburtstag 2011 richtet sich der
Blick wieder auf ihr Werk, auf ihre Intellektualität, auf ihre Fähig-
keit zur Durchdringung komplexer Sachverhalte und Denkgebilde
– bis hin zur intellektuellen Konstruktion ihrer Werke (vgl. „Ihr
zur Feier“ 2011).
Zur ersten Edition des Werks von Lou Andreas-Salomé
Lou Andreas-Salomés 150. Geburtstag kann als Startschuss gelten
für die Realisierung meiner lang gehegten Idee einer möglichst
vollständigen Edition ihres Werks. Der runde Geburtstag fand
eine sehr beachtliche Resonanz in den Medien. Und zum interna-
tionalen Göttinger Symposion „Ihr zur Feier“, eine Veranstaltung
des Lou Andreas-Salomé Instituts für Psychoanalyse, des Lou
Andreas-Salomé Archivs und der MedienEdition Welsch (d.i.
Lou Andreas-Salomé publizieren – gestern und heute 297
mein Verlag), konnte ich die von Hans-Rüdiger Schwab initiierten
und edierten ersten zwei Bände der „Aufsätze und Essays“ vorle-
gen. Die Stimmung auf dem zweitägigen Symposion, bei dem
Literaturwissenschaftler, Philosophen und Psychoanalytiker
vortrugen, war geradezu euphorisch und fand auch im Göttinger
studentischen Publikum unerwartet große Beteiligung.
Das gab den endgültigen Anstoß, die längst überfällige Werk-
edition anzugehen und als außeruniversitäres Unternehmen der
MedienEdition Welsch bekannt zu machen. Des finanziellen Risi-
kos für einen Verlag ohne jegliche Fördermittel war ich mir be-
wusst, aber meine Überzeugung, das Richtige zu tun, überwog.
Mit konzeptionellen Ideen hatte ich mich schon länger befasst:
Eine wissenschaftlich grundierte Werkausgabe sollte es sein, um
so (endlich) eine gesicherte Textbasis für die Lou-Andreas-Salomé-
Forschung zu bieten – frei von historisierenden Blickwinkeln, glät-
tenden Eingriffen und losgelöst von der Biografie der Autorin,
ihrer unverändert verlockenden Gestalt.
Mir war klar, dass die Realisierung dieses Projektes nur im Rah-
men eines Netzwerkes eine Chance haben würde und dass nur
eine enge Zusammenarbeit mit Dorothee Pfeiffer und ihrem pri-
vaten Lou Andreas-Salomé Archiv die unverzichtbare Basis
garantieren könnte. Dorothee Pfeiffer war bereit. Ohne ihre Unter-
stützung und ihren immensen persönlichen Einsatz wäre später so
mancher Band nicht bzw. nicht mit einem fundierten Manu-
skriptabgleich bzw. einem Vergleich mit Original-Satzfahnen zu-
stande gekommen.
Erfreulich rasch fanden sich in dem Netzwerk exzellente
Herausgeberinnen und Herausgeber, die bereit waren, sich der
aufwendigen Editionsarbeit anzunehmen: Bisher waren das Britta
Benert, Edith Hanke, Manfred Klemann, Cornelia Pechota, Brigitte
Rempp, Iris Schäfer, Katrin Schütz, Hans-Rüdiger Schwab, Inge
Weber, Romana Weiershausen und Michaela Wiesner-Bangard.
Und es kommen weitere hinzu: Grażyna Krupińska, Heinz Kulas,
Brigitte Spreitzer, Gerd-Hermann Susen, Daniel Unger, Charlotte
298 Ursula Welsch
Woodford … Hans-Rüdiger Schwab eröffnete die Werkedition,
indem er die zahlreichen, über die Jahre verstreut in verschiedens-
ten Zeitschriften publizierten Aufsätze und Essays zu den Themen
Religion, Philosophie und Literatur sammelte und kommentierte.
Dies war ein wesentliches Desiderat. Er hat bis heute die meisten
Bände herausgegeben.
Meine Erfahrungen mit der Produktion und dem Vertrieb dieser
ersten vierbändigen Essayedition hatte die Entscheidung für ein
insgesamt pragmatisches Vorgehen zur Folge, das sich ausschließ-
lich an den nebenberuflichen Möglichkeiten der Herausgeber-
schaft orientierte, denn alle Beteiligten waren bereit, ohne
garantiertes Honorar zu arbeiten. Ich habe deshalb auf das sonst
für Gesamtausgaben übliche chronologische Vorgehen verzichtet
zugunsten von Einzelbänden, die sich in drei Reihen gruppieren:
– Aufsätze und Essays
– Literarisches Werk
– Tagebücher und Briefe
Was auf den ersten Blick als unkomplizierte Einteilung erscheint,
erwies sich bisweilen als das Gegenteil. Zum Beispiel: Sind Henrik
Ibsens Frauen-Gestalten oder Drei Briefe an einen Knaben jeweils als
literarisches oder sachbezogenes Werk einzuordnen? Dieselbe
Frage stellte sich bezüglich der Erinnerungsbücher an Rainer
Maria Rilke und Friedrich Nietzsche. Die schließlich getroffenen
Entscheidungen sind Ergebnis eingehender Abwägungen und
Diskussionen – wie überhaupt alle Arbeitsschritte der Edition in
enger Zusammenarbeit zwischen den jeweiligen Herausgebern
und mir bewältigt wurden, was uns manchmal schwierige Über-
legungen und lang diskutierte Entscheidungen abverlangt hat.
Mittlerweile ist die Werkedition auf sechzehn Bände angewach-
sen: neun literarische Werke, sechs Essaybände und ein Band
„Tagebücher und Briefe“. Auf dem wissenschaftlichen Markt
wurde diese Werkedition gut angenommen.
Lou Andreas-Salomé publizieren – gestern und heute 299
Über die bekannten Werke hinaus konnten bereits weitere „Per-
len“ aus Lou Andreas-Salomés Werk in die Edition aufgenommen
werden, z.B.:
– „Der heimliche Weg“, eine Erzählung über eine Ehekrise, die
bisher nur in Zeitschriftenform vorlag (Werkedition Bd. 15,
Literarisches Werk Bd. 8),
– „Der Gott“, ein Großessay aus dem Nachlass im Lou Andreas-
Salomé Archiv als Erstausgabe (Werkedition Bd. 10, Aufsätze
und Essays Bd. 5),
die Transskription des Typoskripts besorgte Dorothee Pfeiffer.
In diesem Werk geht es in sechs Kapiteln um Andreas-Salomés
Gottesvorstellungen, vom Gott ihrer Kindheit bis hin zur Iden-
tifizierung von Gott und Tod,
– „Jutta“, eine Trilogie, die als Ganzes erstmals in deutscher
Sprache erscheinen wird (Werkedition Bd. 9, Literarisches
Werk Bd. 5),
– „Russische Texte“, die russischsprachigen Essays, die 1896–
1898 in der Zeitschrift „Severnij Vestnik“ erschienen sind
(Werkedition Bd. 17, Aufsätze und Essays Bd. 7).
Weitere Bände werden folgen. Näheres zum Stand der Werkedi-
tion findet sich stets auf der Website http://andreas-salome.de.
Fazit
Damals wie heute gibt es unterschiedliche Positionen zu Lou
Andreas-Salomé: Die einen interessiert mehr ihr biografischer
Wert im Netzwerk des 19./20. Jahrhunderts, die anderen finden in
der Beschäftigung mit ihrem Werk Befriedigung.
Was ihre Modernität anbelangt, so steht Lou Andreas-Salomé
bei den Themen und Plots und beim Umgang mit den Textarten
wohl tendenziell der Moderne nahe – beim Erzählstil und bei der
Konstruktion ihrer Erzählungen wohl eher nicht. Die Kluft zieht
sich also nicht nur durch ihre Leserschaft – sie findet sich im Werk
Andreas-Salomés selbst!
300 Ursula Welsch
Es ist klar, dass eine reine Zeitgenossenschaft und/oder Vernet-
zung in der damaligen literarischen Szene, in den künstlerischen
und schriftstellernden Zirkeln noch keine Einordnung ihres Werks
in die Moderne zeitigt. Andererseits stellt sich die Frage, welcher
Schriftsteller der Moderne schon alle Kriterien erfüllt, die nach-
träglich von Literaturwissenschaftlern aufgestellt wurden?
Dieses Leben in der Moderne, als Frau und Schriftstellerin, die
die damals modernen Medien in einer Doppelstrategie von Zeit-
schrift und Buch nutzte, die sich an den Fragen und Entwürfen
ihrer Zeit orientierte – thematisch sowie erzählerisch – und die
Geschichten ersann, deren Tiefe und auch Tragik mich immer wie-
der ergreifen: Diese Vielfalt fasziniert mich – und nicht nur mich.
Einige Rezensenten vermerken dies ebenfalls5.
In den nächsten Jahren werden noch etliche hoch spannende
Bände erscheinen, denn mit der Digitalisierung der Archive und
mit dem Übergang von privaten Nachlässen in die wissenschaftli-
chen Archive werden weitere unveröffentlichte Materialien auf-
tauchen, die vielleicht noch unbekannte Aspekte zu Person und
Werk von Lou Andreas-Salomé ans Tageslicht bringen werden.
Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf das, was auf uns zukommt –
und freue mich schon sehr, mich zusammen mit den Herausgebe-
rinnen und Herausgebern in dieses Abenteuer zu begeben!
Literatur
Schriften von Lou Andreas-Salomé
Der Stiefvater (unveröffentlicht; Lou Andreas-Salomé Archiv).
Der goldene Vogel, in: Die Flöte, 2, 1919/20, S. 10.
Aus fremder Seele. Eine Spätherbstgeschichte (1896), hg. von Hans-Rüdiger
Schwab, München 2007 [AfS].
5 Vgl. Löchel 2014: „Und die Warnung vor dem Mann ist eh von zeitloser Gül-
tigkeit“.
Lou Andreas-Salomé publizieren – gestern und heute 301
Amor. Jutta. Die Tarnkappe. Drei Dichtungen, hg. von Ernst Pfeiffer,
Frankfurt a.M. 1981 [AJDT].
„Von der Bestie bis zum Gott“. Aufsätze und Essays Bd. 1: Religion, hg. von
Hans-Rüdiger Schwab, Taching am See 2010 (Werke und Briefe von Lou
Andreas-Salomé, Bd. 1) [AuE1].
„Ideal und Askese“. Aufsätze und Essays Bd. 2: Philosophie, hg. von Hans-
Rüdiger Schwab, Taching am See 2010 (Werke und Briefe von Lou
Andreas-Salomé, Bd. 2) [AuE2].
„Lebende Dichtung“. Aufsätze und Essays Bd. 3.1: Literatur I, hg. von Hans-
Rüdiger Schwab, Taching am See 2011 (Werke und Briefe von Lou
Andreas-Salomé, Bd. 3.1) [AuE3.1].
„Lebende Dichtung“. Aufsätze und Essays Bd. 3.2: Literatur II/Ästhetische
Theorie, hg. von Hans-Rüdiger Schwab, Taching am See 2012 (Werke
und Briefe von Lou Andreas-Salomé, Bd. 3.2) [AuE3.2].
„Mein Dank an Freud“. Aufsätze und Essays Bd. 4: Psychoanalyse, hg. von
Brigitte Rempp und Inge Weber, Taching am See 2012 (Werke und
Briefe von Lou Andreas-Salomé, Bd. 4) [AuE4].
Drei Briefe an einen Knaben (1917), hg. von Brigitte Rempp und Inge We-
ber, Taching am See, 2. Auflage 2014 (Werke und Briefe von Lou
Andreas-Salomé, Bd. 6) [DBaeK].
Nietzsche, F./Rée, P./Salomé, L. von: Die Dokumente ihrer Begegnung,
hg. von Ernst Pfeiffer, Frankfurt a.M. 1970 [DDiB].
Die Erotik (1910), hg. von Katrin Schütz, Taching am See 2015 (Werke
und Briefe von Lou Andreas-Salomé, Bd. 11) [DE].
Der Gott (1909/10), hg. von Hans-Rüdiger Schwab, Taching am See 2016
(Werke und Briefe von Lou Andreas-Salomé, Bd. 10) [DG].
Das Haus. Eine Familiengeschichte vom Ende des vorigen Jahrhunderts
(1919), hg. von Brigitte Spreitzer (Werke und Briefe von Lou Andreas-
Salomé, iVb) [DH].
Der heimliche Weg. Drei Scenen aus einem Ehedrama (1901), hg. von Edith
Hanke, Taching am See 2017 (Werke und Briefe von Lou Andreas-
Salomé, Bd. 15) [DhW].
302 Ursula Welsch
Die Stunde ohne Gott und andere Kindergeschichten (1922), hg. von Britta
Benert, Taching am See 2016 (Werke und Briefe von Lou Andreas-
Salomé, Bd. 12) [DSoG].
Der Teufel und seine Großmutter, Jena 1922 [DTusG].
Fenitschka. Eine Ausschweifung (1898), hg. von Iris Schäfer, Taching am
See 2017 (Werke und Briefe von Lou Andreas-Salomé, Bd. 16) [FEA].
Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894), hg. von Daniel Unger (Werke
und Briefe von Lou Andreas-Salomé, Bd. 18, iVb) [FNisW].
Henrik Ibsens Frauen-Gestalten. Nach seinen sechs Familiendramen: Ein
Puppenheim / Gespenster / Die Wildente / Rosmersholm / Die Frau vom Meere
/ Hedda Gabler (1892), hg. von Cornelia Pechota, Taching am See 2012
(Werke und Briefe von Lou Andreas-Salomé, Bd. 7) [HIF].
In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/13, hg. von Ernst Pfeif-
fer, Zürich/Frankfurt a.M. 1958; hg. von Manfred Klemann, Taching am
See 2017 (Werke und Briefe von Lou Andreas-Salomé, Bd. 14) [IdSbF].
Im Kampf um Gott (Pseud. Henri Lou; 1885), hg. von Hans-Rüdiger
Schwab (iVb) [IKuG].
Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger
Mädchen (1902), hg. von Britta Benert, Taching am See 2013 (Werke und
Briefe von Lou Andreas-Salomé, Bd. 8) [IZw].
Jutta. Trilogie, hg. von Romana Weiershausen (iVb) (Werke und Briefe
von Lou Andreas-Salomé, Bd. 9) [Ju].
Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen, hg. von Ernst
Pfeiffer, Zürich/Wiesbaden 1951 (Frankfurt a.M. 1968ff.) [L].
Ma. Ein Porträt, Stuttgart 1901 (Frankfurt a.M. 1996) [Ma].
Menschenkinder. Novellencyclus (1898), hg. von Iris Schäfer, Taching am
See 2017 (Werke und Briefe von Lou Andreas-Salomé, Bd. 13) [Me].
Rainer Maria Rilke, Leipzig 1928 (Frankfurt a.M. 1988) [RMR].
Ruth. Erzählung (1895), hg. von Michaela Wiesner-Bangard, Taching am
See 2006 [E-Book], 2008 [Paperback]; 2. Auflage 2017 (Werke und Briefe
von Lou Andreas-Salomé, Bd. 5) [Ru].
Lou Andreas-Salomé publizieren – gestern und heute 303
Zeitgenössische Stimmen
Carsten, Fritz (1899): Fenitschka. Eine Ausschweifung. Zwei Erzählun-
gen von Lou Andreas-Salomé, in: Die Gesellschaft, Januar 1899, Bd. 15, 91
(auch in: FEA 223).
Engel, Eduard (1898): Fenitschka. – Eine Ausschweifung, in: Das Litera-
rische Echo 1, 1898/99), Ausgabe vom 15.12.1898, 390–391 (auch in: FEA
221 f.).
A.F. (1885): Im Kampf um Gott, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt,
1885, Nr. 249 vom 6.9.1885 (Suppl.), 1 (auch in: IKuG).
Frank, Ulrich (1896): Ruth, in: Die Zukunft, 16 (1896), 369–370 (auch in:
Ru 271 ff.).
Heine, Anselma (1911): Lou Andreas-Salomé, in: Das literarische Echo 14
(1911), 80–86 (auch in: FEA 231 ff.).
Kögel, Fritz (1895): Friedrich Nietzsche und Frau Lou Andreas-Salomé,
in: Das Magazin für Litteratur, 64, 1895, 225–235 (auch in: FNisW).
Pauli, Hans (1896): Frauen-Litteratur, in: Neue Deutsche Rundschau 7
(1896), 277–278 (auch in: Ru 277 ff.).
Romundt, Heinrich (1895): Noch einmal Friedrich Nietzsche und Frau
Lou Andreas-Salomé, in: Das Magazin für Litteratur 64 (1895), 523–526
(auch in: FNisW).
Stöcker, Helene (1899): Neue Frauentypen, in: Das Magazin für Litteratur
68 (1899), 630–633 (auch in: FEA 224 ff.).
Szczepański, Paul von (1895): Neues vom Büchertisch, in: Velhagen &
Klasings Monatshefte, 10 (1895), 106–111 (auch in: Ru 269 f.).
Weitere Literatur
Benert, Britta (2013): „Lou Andreas-Salomé als Dichterin“, in: IZw 407–
451.
Löchel, Rolf (2014): Aus dem Seelenleben junger Mädchenblüte. Lou
Andreas-Salomés Erzählungen „Im Zwischenland“ wurden nach langer
Zeit neu aufgelegt, in: literaturkritik.de, Ausgabe 04-2014 (http://litera-
turkritik.de/public/rezension.php?rez_id=19026 am 4.1.2018).
304 Ursula Welsch
Pechota Vuilleumier, Cornelia (2005): „O Vater, laß uns ziehn!“ Litera-
rische Vater-Töchter um 1900. Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Lou Andreas-
Salomé, Hildesheim.
Pechota Vuilleumier, Cornelia (2012): „Befreiung im Spiegel der Ande-
ren – Lou Andreas-Salomé und Ibsens Frauen-Gestalten“, in: HIF 209–
254.
Schwab, Hans-Rüdiger (2010): „Der Freigeist, die Frauen, das Leben.
Lou Andreas-Salomés Beiträge zur Philosophie“, in: AuE2, 318–345.
„Ihr zur Feier“. Lou Andreas-Salomé (1861–1937). Interdisziplinäres Sympo-
sium aus Anlass ihres 150. Geburtstages (2011), hg. von Lou Andreas-
Salomé Institut Göttingen, Taching am See.