Zurück Ins Leben Geliebt (Colleen Hoover)
Zurück Ins Leben Geliebt (Colleen Hoover)
Roman
Apartment #1816.
Großartig.
Nachdem ich meinen Koffer geholt habe, bleibe ich ratlos vor dem
Schlafenden stehen. Vielleicht wacht er ja von selbst auf? Er lehnt mit dem
Oberkörper halb an der Tür, seine langen Beine ragen ausgestreckt in den
Gang hinein, das Kinn ruht auf der Brust.
»Äh … Entschuldigung?«
Keine Reaktion.
»Hallo?« Ich stupse ihn leicht mit dem Fuß an. »Ich muss in die
Wohnung, vor der Sie liegen.«
Der Typ, der noch ziemlich jung aussieht, bewegt sich unmerklich. Er
öffnet langsam die Lider und starrt auf meine Schienbeine.
Sein Blick wandert ein Stückchen höher, dann zieht er die Brauen
zusammen, beugt sich mit verwunderter Miene vor und pikst mit dem
Zeigefinger in mein Knie, als hätte er noch nie ein Frauenbein aus der Nähe
gesehen. Danach schließt er die Augen wieder und lässt sich gegen die Tür
zurücksinken.
Na toll.
Corbin hat mir geschrieben, dass er für einen Langstreckenflug eingeteilt
ist und erst morgen nach Hause kommt. Seufzend ziehe ich mein Handy
noch einmal aus der Tasche und rufe ihn an. Vielleicht hat er ja einen Tipp,
was ich jetzt machen soll.
»Tate?«, meldet er sich. »Was gibt’s? Alles okay?«
»Ich bin heil hier angekommen«, sage ich. »Aber jetzt stehe ich vor
deinem Apartment und kann nicht rein, weil ein Betrunkener davor liegt.
Was soll ich tun?«
»Ein Betrunkener? Bist du sicher, dass du vor der richtigen Wohnung
stehst?«
»Ganz sicher.«
»Und du bist sicher, dass er betrunken ist?«
»Absolut.«
»Komisch«, sagt er. »Was hat der Typ an?«
»Warum willst du das wissen?«
»Wenn er eine Pilotenuniform anhat, wohnt er wahrscheinlich auch im
Haus. Die Hausverwaltung hat einen Deal mit unserer Airline.«
Der Typ trägt keine Uniform, sondern Jeans und ein schwarzes T-Shirt,
und als ich ihn jetzt näher betrachte, stelle ich fest, dass er verdammt gut
aussieht.
»Keine Uniform«, sage ich.
»Und du kommst nicht an ihm vorbei?«
»Er lehnt an deiner Tür. Wenn ich sie aufschließe, fällt er direkt in die
Wohnung.«
Corbin denkt einen Moment lang nach. »Okay. Am besten fährst du
noch mal nach unten und sprichst mit Cap«, schlägt er vor. »Das ist der alte
Mann, der den Aufzug bedient. Ich hab ihm gesagt, dass du heute Abend
ankommst. Er kann dir helfen.«
Ich seufze, weil ich unglaublich müde bin und einfach nur noch so
schnell wie möglich ins Bett möchte. Außerdem kann ich mir nicht
vorstellen, wie mir ein so alter Mann eine große Hilfe sein sollte.
»Ich krieg das schon irgendwie hin. Kannst du bitte dranbleiben, bis ich
in der Wohnung bin? Nur zur Sicherheit.« Das Handy zwischen Schulter
und Ohr geklemmt, krame ich in meiner Umhängetasche nach dem
Schlüssel, den er mir geschickt hat, und schließe auf. Leider wird der
betrunkene Typ nicht wach, sondern sinkt – genau, wie ich es befürchtet
hatte – Zentimeter für Zentimeter nach hinten. Zwischendurch stöhnt er und
öffnet kurz die Augen, scheint ansonsten aber nichts mitzubekommen.
»Echt schade, dass er so besoffen ist«, sage ich zu Corbin. »Eigentlich
sieht er ziemlich gut aus.«
Corbin kann über meinen Kommentar nicht lachen. »Tate, du gehst jetzt
sofort in die Wohnung und machst die Tür hinter dir zu, damit ich endlich
auflegen kann. Ich hab keine Zeit für blöde Witze.«
Ich verdrehe die Augen. Typisch, dass er sofort wieder den strengen
großen Bruder heraushängen lässt, wie er es früher schon gemacht hat.
Vielleicht war es doch keine so gute Idee, bei ihm einzuziehen. Andererseits
blieb mir gar keine andere Wahl. Ich hätte es niemals geschafft, in der
kurzen Zeit bis zum Semesterbeginn einen Job und eine Wohnung zu
finden.
Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, Corbin hätte seinen Beschützerkomplex
endlich abgelegt und würde mich als ebenbürtig betrachten – schließlich bin
ich mittlerweile dreiundzwanzig und er ist nur zwei Jahre älter.
Als wir beide noch zu Hause gewohnt haben, hatte er an jedem Typen,
mit dem ich mich getroffen habe, irgendetwas auszusetzen. Keiner war ihm
gut genug. Überhaupt fand er, dass ich mit den falschen Leuten befreundet
war und immer alles falsch gemacht habe. Selbst das College, an dem ich
mich beworben habe, hat ihm nicht gepasst. Nicht, dass ich je auf seine
Meinung gehört hätte. Weil wir die letzten Jahre so weit voneinander
entfernt gewohnt haben, hielten sich die Konflikte in Grenzen. Mal sehen,
wie es wird, wenn wir jetzt wieder zusammenleben. Falls er mich weiter so
bevormundet, könnte das zur ultimativen Zerreißprobe werden.
Als ich mit der freien Hand nach dem Koffer greifen will, um ihn an
dem Betrunkenen vorbeizuziehen, rutscht mir die Tasche von der Schulter.
Der Versuch, sie mir quer über die Brust zu schlingen, scheitert, weil ich
immer noch das Telefon zwischen Schulter und Ohr klemmen habe und mit
der anderen Hand die Tür festhalte. Irgendwann lasse ich die Tasche
genervt einfach fallen. Mit der linken Hand halte ich unter Aufbietung
meiner ganzen Kraft die Tür fest, damit der Typ nicht rückwärts ins
Apartment fällt, während ich mit dem rechten Fuß von hinten gegen seinen
Rücken drücke und mich abmühe, ihn seitlich Richtung Türrahmen zu
schieben.
Es ist zwecklos.
»Er ist zu schwer, Corbin. Ich muss auflegen, damit ich mit beiden
Händen anpacken kann.«
»Nein. Leg nicht auf«, sagt mein Bruder. »Steck das Handy
meinetwegen in die Hosentasche, aber leg nicht auf.«
Ich blicke an der Tunika und den Leggings hinunter, die ich anhabe.
»Keine Taschen. Ich schieb dich in meinen BH.«
Corbin macht Würgegeräusche, aber davon lasse ich mich nicht
abhalten. Nachdem das Handy sicher verstaut ist, ziehe ich den
Wohnungsschlüssel aus dem Schloss, damit ich ihn nachher nicht vergesse.
Als ich ihn in meine Tasche werfen will, landet er knapp daneben auf dem
Boden. Egal, darum kümmere ich mich später. Erst einmal bücke ich mich,
packe den Betrunkenen unter den Achseln und hieve ihn unter größter
Kraftanstrengung zur Seite.
»Sorry, Kumpel«, keuche ich. »Ich störe dein Nickerchen nur ungern,
aber ich muss in dieses Apartment und du liegst im Weg.«
Irgendwie gelingt es mir, ihn mit dem Oberkörper so gegen den
Türrahmen zu lehnen, dass er nicht umkippt. Anschließend drücke ich die
Tür weiter auf und drehe mich zu meinem Koffer.
Eine Hand schließt sich um mein Fußgelenk.
Ich erstarre.
Dann sehe ich nach unten.
»Hey! Sofort loslassen!« Der Tritt, den ich seiner Hand verpasse, ist mit
Sicherheit schmerzhaft. Der Typ schaut mit glasigem Blick zu mir auf und
will sich an mir hochziehen. Ich verliere das Gleichgewicht, stolpere mit
rudernden Armen rücklings in die Wohnung und falle zu Boden.
»Ich … ich muss da rein.« Er versucht hinter mir her ins stockdunkle
Apartment zu kriechen, worauf ich sofort in den Panikmodus schalte, meine
Beine anziehe und gleichzeitig die Tür zuschlage – während er immer noch
mein Fußgelenk umklammert.
»Shit!«, brüllt er, weil seine Hand jetzt im Türspalt klemmt. Ich öffne sie
gerade so weit, dass er sich befreien kann, und stoße sie anschließend
schnell ganz zu. Keuchend richte ich mich auf, schiebe den Riegel vor und
hänge zur Sicherheit auch noch die Kette ein.
Sobald sich mein Atem wieder einigermaßen beruhigt hat, höre ich mein
Herz brüllen.
Seit wann hat mein Herz eine Stimme?
Noch dazu eine tiefe Männerstimme?
Es hört sich an, als würde es »Tate! Tate!« brüllen.
Corbin!
Ich ziehe das Handy aus meinem BH und drücke es mir ans Ohr.
»Tate? Rede mit mir! Was ist los?«
Ich halte das Handy ein paar Zentimeter von mir weg, so laut schreit er.
»Alles gut gegangen«, beruhige ich ihn. »Ich bin drin. Die Tür ist zu.«
»Jesus, Tate!« Jetzt klingt er erleichtert. »Du hast mich zu Tode
erschreckt. Was war denn?«
»Er wollte in die Wohnung, aber ich hab schnell die Tür zugeschlagen,
sobald ich drin war. Jetzt ist er ausgesperrt.« Ich schalte das Deckenlicht an,
als mir plötzlich etwas klar wird.
Na toll, Tate.
Langsam drehe ich mich wieder zur Tür.
»Äh … Corbin?« Ich schlucke trocken. »Es kann sein, dass ich ein paar
Sachen draußen gelassen habe, die ich brauche. Ich würde sie mir ja holen,
aber der betrunkene Typ will aus irgendeinem Grund unbedingt in die
Wohnung, deswegen mache ich die Tür jetzt bestimmt nicht noch mal auf.
Irgendwelche Vorschläge, was ich tun soll?«
Corbin schweigt ein paar Sekunden. »Was hast du im Gang gelassen?«
»Meinen … Koffer.«
»Gott, Tate«, murmelt er.
»Und meine … Tasche.«
»Warum hast du die denn draußen gelassen?«
»Es kann auch sein, dass der … Schlüssel zum Apartment draußen auf
dem Boden liegt.«
Darauf sagt Corbin gar nichts mehr. Er stöhnt nur. »Ich rufe Miles an,
vielleicht ist er ja schon zu Hause. Gib mir zwei Minuten.«
»Moment mal. Wer ist Miles?«
»Er wohnt gegenüber. Egal, was ist, mach die Tür nicht auf, bis ich dich
zurückgerufen habe.«
Corbin legt auf und ich lehne mich gegen die Wand und atme erst einmal
tief durch.
Verdammt, ich bin erst knapp dreißig Minuten hier und mache meinem
Bruder jetzt schon das Leben schwer. Hoffentlich lässt er mich überhaupt
bei sich wohnen, bis ich einen Job finde, mit dem ich mich während meines
Aufbaustudiengangs über Wasser halten kann. Da ich examinierte
Krankenschwester bin, habe ich mich in einer großen Klinik in der Nähe als
Springerin für Nacht- und Wochenenddienste beworben. Wenn ich Glück
habe, verdiene ich so viel, dass ich mein Erspartes nicht anbrechen muss.
Das Handy klingelt. »Hey.«
»Tate?«
»Ja.« Warum fragt er immer, ob ich es bin? Er hat mich angerufen, wer
außer mir sollte sich an meinem Handy denn bitte sonst melden?
»Ich hab Miles erreicht.«
»Cool. Kann er den Betrunkenen in Schach halten, während ich meine
Sachen reinhole?«
»Eher nicht.« Corbin zögert. »Hör mal, ich muss dich um einen großen
Gefallen bitten.«
Ich lehne den Kopf gegen die Tür, weil ich ahne, dass ich ihm in den
nächsten Monaten eine Menge Gefallen tun muss, um mich dafür zu
revanchieren, dass er mich bei sich wohnen lässt. Sein dreckiges Geschirr
spülen? Klar. Seine Schmutzwäsche waschen? Kein Problem. Für ihn
einkaufen? Na sicher.
»Was soll ich machen?«
»Miles braucht deine Hilfe.«
»Dein Nachbar?« In dem Moment, in dem ich es sage, schwant mir
Böses und ich schließe die Augen. »Corbin? Bitte erzähl mir nicht, dass
dieser Miles, den du angerufen hast, um mich vor dem betrunkenen Typen
zu beschützen, der betrunkene Typ ist.«
Corbin seufzt. »Mach die Tür auf und lass ihn rein. Er kann auf der
Couch schlafen. Ich komme morgen früh zurück. Sobald er ausgenüchtert
ist, wird ihm wieder einfallen, wer er ist, dann geht er zu sich rüber. Aber
mir wäre einfach wohler, wenn jemand solange ein Auge auf ihn hat.«
»Gott.« Ich schüttle den Kopf. »Was hast du nur für Nachbarn, Corbin?
Muss ich jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, darauf gefasst sein, von
irgendwelchen besoffenen Männern begrapscht zu werden?«
Pause. »Er hat dich begrapscht?«
»Na ja, begrapscht ist vielleicht übertrieben. Aber er hat mich am Fuß
festgehalten, als ich in die Wohnung wollte.«
Corbin stößt einen Seufzer aus. »Tu mir einfach den Gefallen, Tate. Und
wenn noch irgendetwas ist, rufst du mich sofort an, okay?«
Ich höre seiner Stimme an, dass er sich wirklich Sorgen macht.
»Klar, mach ich«, stöhne ich.
Als ich die Tür öffne, fällt mir der betrunkene Typ entgegen, sein Handy
rutscht ihm aus den Fingern und schlittert über den Boden. Ich drehe ihn
auf den Rücken, worauf er die Augen öffnet und verwirrt zu mir
hochblinzelt.
»Du bist nicht Corbin«, murmelt er und schließt die Augen wieder.
»Stimmt, bin ich nicht. Ich bin deine neue Nachbarin und du schuldest
mir jetzt schon ungefähr hundert Tüten Zucker.«
Ich schiebe die Hände unter seine Achseln und versuche ihn in eine
aufrechte Sitzposition zu wuchten, was kläglich misslingt. Verdammt, ich
glaube nicht, dass ich das schaffe. Wie kann man nur so dermaßen
betrunken sein?
Schließlich packe ich ihn an den Handgelenken und zerre ihn stöhnend
und ächzend Zentimeter für Zentimeter in die Wohnung. Anschließend hole
ich meine Sachen aus dem Gang. Da dieser Miles offenbar nicht in der Lage
ist, sich zur Couch zu bewegen, und ich nicht stark genug bin, um ihn dort
hinzuziehen, bringe ich ihn in die stabile Seitenlage und schiebe ihm ein
Kissen in den Rücken, damit er wenigstens nicht erstickt, falls er sich im
Schlaf übergibt. Das muss genügen.
Ich beobachte ihn noch einen Moment, bis ich mir sicher bin, dass ich
ihn allein lassen kann, dann stehe ich auf und sehe mich um.
Das Wohnzimmer ist so riesig, dass Corbins letztes Apartment ungefähr
dreimal hineinpassen würde. Es geht offen in ein Esszimmer über, die
Küche ist durch eine Theke vom Wohnzimmer getrennt. Abstrakte Bilder
und Farbfotografien bilden einen stimmungsvollen Kontrast zu dem sonst
eher sachlichen Einrichtungsstil und der hellbraunen Couch. In Corbins
voriger Wohnung gab es nichts weiter als einen Futon und einen Sitzsack,
die Wände waren mit Postern von irgendwelchen Models dekoriert.
Kann es sein, dass mein Bruder erwachsen geworden ist?
»Nicht schlecht, nicht schlecht«, murmle ich beeindruckt, während ich
herumgehe und mein neues vorübergehendes Zuhause besichtige. Leider
wird es verdammt schwer für mich werden, etwas zu finden, das es auch
nur halbwegs mit diesem Apartment hier aufnehmen kann.
Ich werfe einen Blick in den Kühlschrank. Mayonnaise, Senf, Ketchup
und Grillsoßen stehen in der Tür, im mittleren Fach gammelt ein
Pappkarton mit einer halb aufgegessenen Pizza vor sich hin und oben steht
eine Milchtüte – leer.
Genau wie früher. So erwachsen ist Corbin dann doch noch nicht.
Unter der Theke entdecke ich ein paar Wasserflaschen. Ich nehme mir
eine und mache mich auf die Suche nach dem Gästezimmer, in dem ich die
nächste Zeit wohnen werde. Anschließend hole ich meinen Koffer, der
neben der Tür steht, wo Corbins Freund immer noch tief und fest schläft,
wuchte ihn aufs Bett und packe aus. In meinem Wagen warten noch drei
weitere Koffer, sechs Umzugskisten und ein ganzes Bündel von Kleidern
auf Bügeln, aber jetzt habe ich keine Energie mehr, die Sachen zu holen.
Morgen ist Corbin wieder da und hat hoffentlich Lust, mir zu helfen.
Nachdem der Koffer ausgeräumt ist, stelle ich ihn in den Wandschrank,
ziehe mir eine Jogginghose und ein Trägershirt an, putze mir die Zähne und
freue mich darauf, mich endlich ins Bett legen zu können. Normalerweise
fände ich es nicht so angenehm, allein mit einem fremden Mann in einer
Wohnung zu schlafen. Aber ich weiß genau, dass Corbin mich niemals mit
einem Typen hier übernachten lassen würde, wenn auch nur im
Entferntesten das Risiko bestünde, dass irgendetwas passieren könnte.
Corbin traut nämlich grundsätzlich keinem männlichen Wesen über den
Weg, wenn es um mich geht. Meiner Meinung nach ist an seinem wirklich
übertriebenen Beschützerinstinkt sein ehemals bester Kumpel Blake schuld.
Meine Freundinnen und ich haben als Fünfzehnjährige alle für die Jungs
aus Corbins Klasse geschwärmt – einfach nur, weil sie zwei Jahre älter
waren als wir –, und ich war monatelang unsterblich in Blake verknallt. An
den Wochenenden übernachtete er öfter bei Corbin und kriegte irgendwann
auch mit, dass ich mich für ihn interessierte. Eins führte zum anderen. Ein
paar Wochen lang knutschten wir nur heimlich, wenn Corbin es nicht
mitbekam, dann outeten wir uns und Blake wurde mein erster Freund. Zu
seiner Erleichterung hatte Corbin damit erst mal kein Problem. Allerdings
konnte er nicht ahnen, wie mein Bruder reagieren würde, wenn er mir das
Herz brach.
Was genau das war, was er tat.
Und wie er es brach.
Mein fünfzehnjähriges Herz zersplitterte in tausend Stücke, als sich
einige Zeit später herausstellte, dass ich nicht das einzige Mädchen war, das
glaubte, Blakes Freundin zu sein. Sobald Corbin Wind davon bekam,
kündigte er ihm die Freundschaft und sorgte dafür, dass mir keiner jemals
wieder zu nahe kam. Die Jungs hatten alle so viel Respekt vor ihm, dass es
für mich schwer war, überhaupt noch welche kennenzulernen. Selbst als er
dann nach seinem Abschluss wegzog, blieb es schwierig, weil sich wegen
der Horrorstorys, die an unserer Schule kursierten, kaum einer an Corbins
kleine Schwester herantraute.
Seitdem habe ich zwar mehrere Beziehungen gehabt, aber der Richtige
ist mir noch nicht über den Weg gelaufen, obwohl ich mit meinem letzten
Freund sogar ein ganzes Jahr zusammengewohnt habe. Leider stellte sich
dann irgendwann heraus, wie vollkommen unterschiedlich unsere
Lebensvorstellungen waren. Ihm wäre es am liebsten gewesen, ich wäre zu
Hause geblieben und hätte Kinder bekommen, ich wollte noch einmal
studieren und danach erst mal in meinem Job weiterarbeiten.
Deswegen habe ich mich entschlossen, nach San Francisco zu ziehen.
Hier werde ich mich ganz auf mein Studium konzentrieren und mich von
Männern erst mal fernhalten. Insofern ist es vielleicht sogar ganz gut, dass
ich bei meinem Bruder wohne.
Bevor ich mich schlafen lege, gehe ich noch mal ins Wohnzimmer, um
nach Corbins Freund zu sehen und das Licht auszumachen. Als ich an der
Küche vorbeikomme, erstarre ich.
Er sitzt auf der äußersten Kante eines Barhockers, hat das Gesicht in die
Hände gestützt und sieht aus, als würde er jeden Moment zur Seite kippen.
»Miles?«
Da er nicht reagiert, gehe ich zu ihm und lege vorsichtig eine Hand auf
seine Schulter. Er schreckt hoch und schnappt nach Luft, als hätte ich ihn
aus einem Traum gerissen.
Einem Albtraum.
Als er vom Hocker aufstehen will, hat er solche Schwierigkeiten, sich
gerade zu halten, dass ich ihm spontan einen Arm um die Schulter lege.
»Junge, Junge. Leg dich lieber auf die Couch«, sage ich. »Ich bring dich
hin.«
Während er neben mir herstolpert, schlingt er einen Arm um meine
Taille und legt dann auch noch sein Kinn auf meinen Kopf, was es
schwieriger macht, ihn zu stützen. »Ich heiße nicht Jungejunge«, lallt er.
»Ich heiße Miles.«
Als wir endlich bei der Couch angekommen sind, befreie ich mich
behutsam aus seinem Griff. »Okay, Miles. Ich schlage vor, dass du dich
jetzt hier schlafen legst.«
Miles fällt auf die Couch und zieht mich dabei mit sich nach unten. Als
ich aufstehen will, hält er mich am Handgelenk fest. »Nicht gehen, Rachel.
Bleib bei mir«, bettelt er.
»Ich heiße nicht Rachel«, sage ich streng und löse seine Finger von
meinem Arm. »Ich heiße Tate.« Keine Ahnung, warum ich ihm meinen
Namen sage, wo er sich doch morgen vermutlich sowieso an nichts mehr
erinnert. Ich gehe das Kissen holen, das ich ihm vorhin unter den Rücken
geschoben habe. Als ich damit zur Couch zurückkehre, hat er das Gesicht
ins Polster gedrückt und krallt die Finger so fest in den Stoff, dass seine
Knöchel weiß hervortreten. Seine Schultern zucken. Im ersten Moment
denke ich, er sei kurz davor, sich zu übergeben, dann wird mir klar, dass ich
mich irre.
Und wie ich mich irre.
Er übergibt sich nicht.
Er weint.
Und zwar so verzweifelt, dass er dabei fast keinen Ton von sich gibt.
Unschlüssig schaue ich zwischen ihm und meinem Zimmer hin und her
und frage mich, ob ich ihn nicht lieber allein lassen sollte. Ich kenne ihn
nicht und habe nicht die geringste Lust, mich in seine Angelegenheiten zu
mischen. Aber statt meinem ersten Impuls zu folgen, zögere ich. Aus
irgendeinem Grund rührt mich der Anblick. Sein Schmerz wirkt echt und
nicht so, als hätte er bloß zu viel getrunken.
Seufzend knie ich mich neben ihn und berühre ihn an der Schulter.
»Miles?«
Er holt tief Luft und dreht langsam den Kopf zu mir. Seine Augen sind
gerötet. Ich weiß nicht, ob vom Alkohol oder vom Weinen. »Es tut mir leid,
Rachel«, schluchzt er, streckt die Arme nach mir aus, zieht mich an sich
und begräbt sein Gesicht an meinem Hals. »Es tut mir so leid.«
Ich habe keine Ahnung, wer diese Rachel ist oder was er ihr angetan hat.
Soll ich in seinem Handy nach ihr suchen und sie anrufen, damit sie
herkommt und ihn tröstet? Aber wenn er ihretwegen solche Schuldgefühle
hat, möchte ich mir lieber gar nicht erst vorstellen, wie wütend sie auf ihn
ist. Sanft drücke ich ihn wieder auf die Couch zurück und schiebe ihm das
Kissen unter den Kopf. »Schlaf jetzt, Miles.«
Sein Blick ist untröstlich. »Wie sehr du mich hasst«, sagt er erstickt und
greift nach meiner Hand. Nach einer Weile fallen ihm die Augen zu und er
stößt einen tiefen Seufzer aus.
Ich erlaube ihm, meine Hand zu halten, bis er in einen unruhigen Schlaf
gefallen ist. Nachdem ich meine Hand weggezogen habe, bleibe ich noch
ein paar Minuten neben ihm sitzen und betrachte ihn.
Selbst schlafend sieht er aus, als wäre er noch immer in seinem Schmerz
gefangen. Er hat die Brauen zusammengezogen und sein Atem geht
stoßweise.
Erst jetzt bemerke ich die blasse, gezackte Narbe, die sich von seinem
rechten Ohr über die Seite seines Unterkiefers bis kurz vor seinen
Mundwinkel zieht. Ich widerstehe dem unerklärlichen Bedürfnis, sie zu
berühren, und streichle ihm – obwohl er das wahrscheinlich gar nicht
verdient – stattdessen tröstend durch die Haare, die in einer perfekten
Mischung aus Karamell- und Blondtönen glänzen.
Vermutlich hat er wegen dem, was er Rachel angetan hat, völlig zu
Recht ein schlechtes Gewissen. Aber wenigstens empfindet er es auch, das
muss man ihm lassen.
Wenigstens liebt er sie so, dass er es bereut.
Zweites Kapitel
MILES
Ich öffne die Tür zum Sekretariat und lege Mrs Borden die
Anwesenheitsliste auf den Schreibtisch. Als ich mich umdrehe und wieder
gehen will, hält sie mich zurück. »Moment noch, Miles. Sie sind doch im
Englischkurs bei Mr Clayton, oder?«
»Ja, stimmt«, antworte ich. »Wieso? Soll ich irgendwas für ihn
mitnehmen?«
Das Telefon klingelt. Sie hebt ab und hält die Sprechmuschel mit der
Hand zu. »Könnten Sie kurz warten?« Sie nickt in Richtung des Büros
unseres Schulleiters. »Er spricht gerade mit einer neuen Schülerin, die auch
in Mr Claytons Kurs ist. Sie könnten ihr den Weg zur Klasse zeigen.«
»Klar.« Ich setze mich auf einen der Stühle neben der Tür. Mir wird
bewusst, dass ich heute zum ersten Mal hier sitze, was bedeutet, dass ich in
den vier Jahren an der Highschool kein einziges Mal irgendetwas
ausgefressen habe, weswegen ich zum Schulleiter musste.
Meine Mutter wäre sicher stolz auf mich, aber ich finde es eher ein
bisschen peinlich. Gehört es nicht dazu, wenigstens einmal im Lauf seiner
Schulkarriere eine Verwarnung zu kassieren? Mir bleibt noch der Rest des
Abschlussjahrs, um mich so danebenzubenehmen, dass ich eine bekomme.
Auch gut, dadurch habe ich wenigstens etwas, worauf ich mich freuen
kann.
Obwohl Handys in der Schule verboten sind, ziehe ich meins aus der
Tasche. Vielleicht sieht Mrs Borden mich ja und meldet es gleich empört
dem Schulleiter. Als ich aufschaue, telefoniert sie immer noch. Sie bemerkt
das Handy, lächelt aber nur und notiert sich etwas, das der Anrufer sagt.
Ich schüttle enttäuscht den Kopf und tippe eine Nachricht an Ian. An
unserer Schule passiert nie etwas, da ist die Ankunft einer neuen Schülerin
gleich die große Sensation.
Ich: Bin im Sekretariat und soll auf ein Mädchen warten, das sich
neu angemeldet hat. 12. Klasse.
Ian: Wie sieht sie aus?
Ich: Hab sie noch nicht gesehen.
Ian: Wenn sie heiß ist, will ich ein Foto.
Ich: Kriegst du. Noch was. Wie viele Verwarnungen hast du dieses
Jahr schon bekommen?
Ian: Zwei. Warum? Was hast du gemacht?
Zwei? Ich muss dringend rebellischer werden, bevor ich meinen Abschluss
mache. Ist bei mir nicht irgendeine Hausarbeit fällig, die ich zu spät
abgeben könnte?
Du bist erbärmlich, Miles.
Die Tür des Schulleiters geht auf, ich stecke das Handy weg, schaue
hoch und …
… will nie wieder wegschauen.
»Miles ist auch in Mr Claytons Kurs, Rachel. Er zeigt dir den Weg«, sagt
Mrs Borden und deutet in meine Richtung. Rachel nickt und geht auf mich
zu.
Auf einmal sind meine Beine zu schwach, um aufzustehen und mich zu
tragen.
Mein Mund hat vergessen, wie man spricht.
Mein Arm hat vergessen, wie man jemandem zur Begrüßung die Hand
gibt.
Mein Herz hat vergessen, dass es warten soll, bis man ein Mädchen
richtig kennengelernt hat, bevor es aus der Brust springt und ihr
entgegenfliegt.
Rachel.
Rachel.
***
Wenn ich unter normalen Umständen morgens die Augen aufschlagen und
in der Zimmertür einen Mann sehen würde, der mich schlecht gelaunt
anstarrt, würde ich laut schreien. Ich würde mit Gegenständen nach ihm
werfen. Ich würde ins Bad rennen und mich einschließen.
Doch ich tue nichts davon.
Ich starre erst mal nur zurück, weil ich mich frage, ob das derselbe Mann
sein kann, der gestern erst betrunken im Hausflur lag, um sich dann später
auf der Couch in den Schlaf zu weinen.
Der Mann in der Tür wirkt nämlich nicht angeschlagen oder traurig,
sondern … einschüchternd. Er sieht mich an, als müsste ich mich für
irgendetwas entschuldigen oder ihm eine Erklärung liefern.
Trotzdem kann es nur der Typ von gestern sein, weil er dieselbe Jeans
und dasselbe schwarze T-Shirt anhat, in denen er auf der Couch
eingeschlafen ist. Der einzige Unterschied ist, dass er heute Morgen ohne
Hilfe aufrecht stehen kann.
»Was ist gestern passiert, Tate? Warum tut meine Hand so verdammt
weh?«
Er kennt meinen Namen. Hat er ihn sich von gestern Abend gemerkt?
Oder hat mein Bruder ihm erzählt, dass ich einziehe? Ich hoffe, dass Corbin
mit ihm über mich gesprochen hat, weil ich eigentlich nicht will, dass er
sich an gestern Abend erinnert. Plötzlich ist es mir peinlich, dass ich ihm
über die Haare gestreichelt habe.
Aber da er anscheinend keine Ahnung hat, was mit seiner Hand passiert
ist, besteht eine gute Chance, dass er sich auch sonst an nichts erinnert.
Jetzt lehnt er sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen und sieht
mich so vorwurfsvoll an, als wäre ich für seinen vermasselten Abend
verantwortlich. Schnaubend drehe ich mich zur Seite, ohne darauf zu
reagieren, dass er offensichtlich eine Entschuldigung von mir erwartet. Ich
habe längst noch nicht ausgeschlafen. »Du kannst die Vorhänge im
Wohnzimmer ruhig zulassen, wenn du gehst«, sage ich und hoffe, dass er
den Wink versteht.
»Wo ist mein Handy?«
Ich ziehe mir die Decke über den Kopf, kneife die Augen zusammen und
versuche seine dunkle samtige Stimme auszublenden, die durch meine
Ohren in meinen Körper schlüpft, sich an den Nervenbahnen
entlangschlängelt und mich an Stellen wärmt, die unter der dünnen Decke
heute Nacht gefroren haben.
Ich rufe mir in Erinnerung, dass der Mensch, dem diese
einschmeichelnde Stimme gehört, mich rüde in meinem Schlaf gestört hat,
ohne mir mit einem Wort dafür zu danken, dass ich ihm gestern Abend
praktisch das Leben gerettet habe. Wo bleibt mein: Es war echt wahnsinnig
nett von dir, Tate, dass du mir geholfen hast, oder zumindest ein Hey, ich
bin übrigens Miles. Nett, dich kennenzulernen?
Aber nein, das ist offenbar zu viel erwartet. Der Typ macht sich
stattdessen Sorgen um sein Handy. Und um seine verstauchte Hand. Er ist
viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er auch nur einen Gedanken
daran verschwenden würde, dass er andere mit seinem rücksichtslosen
Verhalten womöglich vor den Kopf stößt. Und da dieser Typ und seine
unangenehme Persönlichkeit in den nächsten Monaten meine direkten
Nachbarn sein werden, sollte ich vielleicht am besten gleich Klartext mit
ihm reden.
Ich schleudere die Decke von mir, steige aus dem Bett, stapfe auf ihn zu
und stemme die Hände in die Seiten.
»Tu mir einen Gefallen und geh mal einen Schritt zurück, ja?«
Zu meiner Überraschung tut er es. Ich sehe ihm einen Moment in die
Augen, dann knalle ich ihm die Tür vor der Nase zu. Mit einem
triumphierenden Lächeln gehe ich zum Bett zurück, lege mich hinein und
ziehe mir die Decke über den Kopf.
Gewonnen.
Habe ich erwähnt, dass ich morgens extrem unleidlich bin?
Die Tür geht wieder auf.
Nein, sie fliegt auf.
»Sag mal, spinnst du? Was hast du für ein Problem?«
Ich stöhne, dann setze ich mich im Bett auf und sehe ihn an.
»Dich!«, schreie ich. »Du bist mein Problem.«
Er sieht echt geschockt aus, worauf ich sofort ein schlechtes Gewissen
bekomme. Dabei ist er doch derjenige, der sich wie ein Arschloch verhält!
Oder etwa nicht?
Jedenfalls hat er angefangen.
Glaube ich.
Er schüttelt den Kopf, dann stutzt er plötzlich und sieht mich
stirnrunzelnd an.
»Sag mal, haben wir …« Er räuspert sich und zeigt mit dem Finger auf
mich und dann auf sich. »Lief gestern irgendwas zwischen uns? Bist du
deswegen sauer?«
Ich lache laut auf. Mein erster Eindruck hat mich also nicht getrogen. Er
ist ein Arschloch.
Ein Arschloch, das sich offensichtlich regelmäßig bewusstlos säuft und
dabei so viele Mädchen abschleppt, dass er nicht mehr weiß, mit welcher er
etwas hatte und mit welcher nicht.
Als ich den Mund öffne, um ihm zu sagen, was ich von ihm halte, höre
ich, wie jemand in die Wohnung kommt und die Tür zuschlägt. »Tate?«
Das ist Corbin. Ich springe auf und will zu ihm, aber dieser Miles steht
immer noch in der Tür und scheint auf eine Antwort zu warten. Ich sehe ihn
an und bin einen Moment aus dem Konzept gebracht.
Seine Augen sind nicht rot geädert und glasig wie gestern, sondern so
unfassbar klar und meerblau, dass ich beinahe damit rechne, kleine Wellen
darin zu sehen. Ich möchte fast behaupten, seine Augen sind so türkisblau
wie das Wasser in der Karibik, auch wenn ich noch nie dort war und es
nicht wirklich beurteilen kann.
Im nächsten Moment schleudert Miles mich mit einem Blinzeln vom
karibischen Traumstrand wieder zurück nach San Francisco. Zurück in
dieses Zimmer. Zurück zu der Frage, die er mir eben gestellt hat, bevor
Corbin zur Tür reingekommen ist.
»Müsstest du das nicht selbst am besten wissen?«, zische ich und warte
darauf, dass er zur Seite tritt.
Er richtet sich auf, und ich bilde mir ein, förmlich zu sehen, wie er sich
eine unsichtbare Rüstung anlegt, so steif steht er da.
Seinem Blick nach zu urteilen, gefällt ihm die Vorstellung, dass wir
beide etwas miteinander gehabt haben könnten, ganz und gar nicht. Er wirkt
geradezu angeekelt, worauf ich ihn gleich noch unsympathischer finde.
Ein paar Sekunden lang fechten wir ein stummes Blickduell aus, dann
macht er einen Schritt zur Seite und lässt mich vorbei. Corbin biegt gerade
um die Ecke, als ich aus dem Zimmer komme. Fragend sieht er zwischen
Miles und mir hin und her, aber ich gebe ihm mit einem Augenrollen zu
verstehen, dass er falschliegt, falls er denkt, da wäre etwas gewesen.
»Hey, Schwesterherz.« Er breitet die Arme aus und zieht mich an sich.
Das letzte Mal haben wir uns vor sechs Monaten gesehen, und ich muss
daran denken, dass man oft erst merkt, wie sehr man jemanden vermisst hat,
wenn man ihn wiedertrifft. Bei Corbin und mir ist das nicht so. Meinen
Bruder vermisse ich immer. So sehr mir sein Beschützerwahn auf die
Nerven geht, empfinde ich ihn doch gleichzeitig auch als Beweis dafür, wie
nahe wir uns sind.
Corbin lässt mich los, sieht mich an und zupft spielerisch an meinen
Haaren. »Ganz schön lang geworden«, stellt er fest. »Finde ich gut.«
Ich streiche ihm die Haare zurück, die ihm in die Stirn fallen. »Deine
aber auch«, sage ich grinsend. »Finde ich gar nicht gut.« Dabei stimmt das
nicht, ich mag den Surfer-Look an ihm. Wir haben schon oft zu hören
bekommen, man würde sehen, dass wir Geschwister sind, obwohl das
meiner Meinung nach gar nicht stimmt. Er hat zum Beispiel einen viel
dunkleren Teint als ich, um den ich ihn sehr beneide. Abgesehen von
unseren braunen Haaren sehen wir vollkommen unterschiedlich aus und
haben noch nicht mal die gleiche Augenfarbe. Mom sagt immer, zusammen
wären wir wie ein Baum. Corbins grüne Augen seien die Blätter und meine
braunen der Stamm.
Als Kind wollte ich viel lieber Blätteraugen haben, weil Grün meine
Lieblingsfarbe war.
»Na, Alter.« Corbin nickt Miles zu. »Hast wohl eine harte Nacht hinter
dir, was?« Er lacht.
Miles schiebt sich an uns beiden vorbei. »Keine Ahnung«, murmelt er.
»Ich erinnere mich an nichts.« Er geht in die Küche, öffnet einen Schrank
und greift so selbstverständlich nach einem Glas, als wäre er hier zu Hause.
Irgendwie passt mir das nicht.
Der ganze Miles passt mir nicht.
Jetzt zieht er eine Schublade auf, nimmt ein Fläschchen Aspirin heraus,
füllt das Glas mit Wasser und wirft sich zwei Tabletten in den Mund.
»Hast du deine Sachen schon hochgeholt?« Corbin sieht mich fragend
an.
»Nein.« Ich deute zu Miles hinüber. »Ich war gestern Abend zu sehr mit
deinem Nachbarn beschäftigt.«
Der räuspert sich nervös, spült das Glas aus und stellt es in den Schrank
zurück. Ich verkneife mir das Lachen. Irgendwie macht es mir Spaß, ihn zu
ärgern. Es amüsiert mich, dass er wirklich keine Ahnung hat, was gestern
passiert ist. Mal sehen, wie lange ich ihn noch zappeln lasse.
Corbin sieht mich an, grinst und schüttelt unmerklich den Kopf. Er kennt
mich eben.
Als Miles aus der Küche kommt, streift er mich nur mit einem
Seitenblick. »Ich wäre längst rübergegangen«, sagt er zu Corbin. »Aber es
sieht so aus, als hätte ich meinen Schlüssel verloren. Hast du noch meinen
Ersatzschlüssel?«
»Jep.« Corbin geht in die Küche, öffnet eine Schublade und wirft ihm
einen Schlüssel zu. Miles fängt ihn lässig aus der Luft. »Es wäre super,
wenn du in einer Stunde noch kurz Zeit hättest, mit mir Tates Kram aus
dem Auto zu holen. Ich würde vorher nur gern noch schnell duschen.«
»Sicher.« Miles nickt.
»Und du erzählst mir nachher mal in Ruhe, was in deinem Leben so alles
passiert ist«, sagt Corbin zu mir. »Später, wenn es nicht mehr ganz so früh
am Morgen ist.«
Obwohl es sieben Jahre her ist, seit wir zusammen bei unseren Eltern
gewohnt haben, erinnert sich mein Bruder offenbar noch gut daran, dass ich
morgens nur mit Vorsicht zu genießen bin. Zu dumm, dass sein Nachbar das
nicht weiß.
Nachdem Corbin in seinem Zimmer verschwunden ist, drehe ich mich
zu Miles, der offenbar immer noch darauf wartet, dass ich seine Fragen
beantworte. Weil ich inzwischen nur noch will, dass er endlich geht,
bekommt er seine Antworten alle auf einmal.
»Du lagst gestern Abend, als ich hier angekommen bin, total besoffen im
Hausflur und hast versucht, dich zusammen mit mir ins Apartment zu
drängen. Ich hatte in dem Moment keine Ahnung, wer du bist, deswegen
habe ich die Tür vielleicht ein bisschen brutaler als nötig zugedrückt, um
dich draußen zu halten, okay? Deine Hand ist nicht gebrochen, höchstens
verstaucht. Wenn du Eis drauflegst, ist in ein paar Stunden alles wieder gut.
Und nein, zwischen uns ist nichts gelaufen. Nachdem Corbin mir gesagt
hat, wer du bist, habe ich dich reingelassen und dir auf die Couch geholfen.
Ach so, und dein kostbares Handy liegt auf dem Boden neben der
Wohnungstür, wo es dir gestern runtergefallen ist, weil du zu betrunken
warst, um es festzuhalten.«
Sein Blick verrät mir nicht, was er denkt, ist aber so durchdringend, dass
ich mich abwende und auf mein Zimmer zugehe, weil ich seine Intensität
nicht ertrage. An der Tür drehe ich mich noch mal um. »Wenn du in einer
Stunde wiederkommst und ich die Möglichkeit hatte, richtig wach zu
werden, können wir es ja noch mal versuchen.«
Miles’ Kiefer spannt sich an. »Was versuchen?«, fragt er.
»Uns kennenzulernen. Auf dem richtigen Fuß.«
Ich schließe die Tür und schaffe so eine Barriere zwischen mir und
dieser Stimme.
Diesem Blick.
***
»Wie viele Kartons sind es denn?«, fragt Corbin und zieht seine Schuhe an,
die neben der Tür stehen. Ich greife nach meinem Wagenschlüssel.
»Sechs. Außerdem drei Koffer und jede Menge Klamotten auf Bügeln.«
Corbin geht zum Apartment gegenüber, schlägt mit der flachen Hand
einmal gegen die Tür und folgt mir dann zum Aufzug. »Hast du Mom
schon Bescheid gegeben, dass du gut angekommen bist?«, fragt er und
drückt auf den Knopf.
»Ja, großer Bruder, ich hab ihr gestern Abend noch eine SMS
geschrieben.«
In dem Moment, in dem der Aufzug kommt, höre ich, wie hinter mir
eine Tür aufgeht, drehe mich aber nicht um. Wir betreten die Kabine und
Corbin legt die Hand vor die Lichtschranke, um den Aufzug für Miles
aufzuhalten.
Als er lässig angeschlendert kommt, ahne ich, dass ich den Kampf
verlieren werde. Den Kampf, von dem mir bis dahin nicht einmal bewusst
war, dass ich ihn führe. Es passiert mir nicht oft, dass ich einen Typen
anziehend finde, aber wenn es passiert, ist es mir lieber, es ist jemand, den
ich anziehend finden möchte.
Miles gehört nicht dazu. Einen Kerl, der sich ins Koma säuft, wegen
einem anderen Mädchen einen Weinkrampf bekommt und sich am nächsten
Morgen nicht mal erinnern kann, ob er dich am Abend vorher flachgelegt
hat, will ich nicht anziehend finden. Allerdings ist es schwierig, jemanden
zu ignorieren, dessen reine körperliche Präsenz so übermächtig ist.
»Ich denke, wir schaffen es in zwei Fuhren«, sagt Corbin, als er auf den
Knopf fürs Erdgeschoss drückt.
Miles bleibt einen Moment vor der Aufzugtür stehen und sieht mich mit
einem Ausdruck an, den ich nicht deuten kann. Ich erwidere seinen Blick
trotzig, weil ich nach wie vor auf das Dankeschön warte, das bis jetzt noch
nicht gekommen ist.
»Hallo«, sagt er schließlich, ohne zu lächeln, und streckt mir die Hand
hin. »Miles Archer. Ich wohne gegenüber.«
»Ich dachte, das hätten wir schon geklärt«, sage ich verwirrt und
betrachte misstrauisch seine ausgestreckte Hand.
»Und ich dachte, wir versuchen es noch mal«, antwortet er. »Diesmal
auf dem richtigen Fuß.«
Ach ja, das hatte ich vorhin wohl so ausgedrückt.
»Tate Collins.« Ich schüttle ihm die Hand. »Freut mich. Ich bin Corbins
Schwester.«
Der forschende Blick, mit dem er mich von oben bis unten betrachtet, ist
mir ein bisschen unangenehm, weil Corbin neben uns steht, aber der liest
irgendetwas auf seinem Handy und achtet gar nicht auf uns.
Nach einer Weile wendet Miles seinen Blick ab und zieht ebenfalls sein
Handy aus der Tasche. Ich nutze die Gelegenheit, um ihn näher in
Augenschein zu nehmen.
Ich glaube, ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der so viele
Widersprüche in sich vereint. Es ist, als wären zwei Schöpfer in Streit
darüber geraten, wie dieser Miles werden sollte, als er erschaffen wurde.
Sein männlich markantes Gesicht mit der Narbe auf der Wange steht in
scharfem Kontrast zu der lockenden Weichheit seiner Lippen. In seinen
Haaren mischt sich Braun zu gleichen Teilen mit Blond, und obwohl sie
glatt sind, wellen sie sich an den Spitzen leicht. Gestern habe ich erlebt, wie
er von einem Heulkrampf geschüttelt wurde, aber jetzt wirkt er völlig
emotionslos. Einerseits gibt er sich gleichgültig, andererseits ist da eine
nicht nachlassende Wachsamkeit in seinem Blick. Die Nüchternheit, mit der
er sich heute präsentiert, passt nicht zu dem Alkoholexzess von gestern
Abend. Selbst seine Augen können sich nicht entscheiden, ob sie auf sein
Handy oder zu mir schauen wollen, denn sein Blick huscht ein paarmal hin
und her, bevor der Aufzug im Erdgeschoss angekommen ist.
Ich steige als Erste aus. Als Cap uns sieht, stemmt er sich aus seinem
Sessel hoch. Corbin und Miles begrüßen ihn mit einem Nicken und gehen
gleich weiter.
»Guten Morgen, Tate. Wie war Ihre erste Nacht bei uns?«, fragt er mich
lächelnd.
Dass er meinen Namen kennt, überrascht mich nicht. Gestern wusste er
ja auch, in welches Stockwerk ich muss.
Ich bleibe stehen und sehe Miles nach, der hinter Corbin auf den
Ausgang zugeht. »Ehrlich gesagt war sie ziemlich abenteuerlich. Mein
Bruder hat nicht gerade ein glückliches Händchen, was die Auswahl seiner
Freunde angeht, fürchte ich.«
Cap sieht jetzt auch zu Miles rüber. Die runzeligen Lippen zu einer
schmalen Linie gepresst, schüttelt er leicht den Kopf. »Der Junge konnte
wohl nicht anders«, sagt er milde.
Ich weiß nicht, ob er das auf Corbin bezieht oder auf Miles, frage aber
nicht nach.
»Hoppla. Ich glaube, bei mir sind gerade ein paar Tropfen in die Hose
gegangen.« Cap seufzt und schlurft in Richtung der Toilette.
Ich sehe, wie er durch die Tür verschwindet, und frage mich, ab
welchem Alter man das Gespür dafür verliert, was man zu fremden Leuten
sagen kann und was nicht. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass Cap
immer schon zu den Menschen gehörte, die einfach aussprechen, was ihnen
durch den Kopf geht. Vielleicht ist sogar genau das der Grund, warum ich
den alten Mann sofort ins Herz geschlossen habe.
»Tate, kommst du?«, ruft Corbin von der Tür. Ich laufe los, um den
beiden zu zeigen, wo ich meinen Wagen abgestellt habe.
Wir müssen dreimal gehen, bis wir alle meine Sachen nach oben
befördert haben, nicht zweimal.
Dreimal die ganzen achtzehn Stockwerke rauf und runter, ohne dass
Miles auch nur ein einziges Wort mit mir wechselt.
Viertes Kapitel
MILES
Das war der kurze Dialog, der mich in die Situation gebracht hat, in der ich
gerade bin. Ich sitze auf der Couch. Mein Vater sitzt vor mir und gesteht
mir etwas, das ich lieber nicht gehört hätte.
»Ich hätte es dir früher erzählen sollen, Miles. Aber ich habe gezögert,
weil …«
»Weil du ein schlechtes Gewissen hast?«, unterbreche ich ihn. »Weil du
dich geschämt hast?«
Sein Blick ist verletzt und fast bereue ich es, so hart zu ihm sein. Ich
sage es trotzdem:
»Sie ist noch nicht mal ein Jahr tot.«
Mir ist kotzübel.
Er kommt nicht gut damit klar, kritisiert zu werden. Schon gar nicht von
mir. Er ist daran gewöhnt, dass sein Sohn alles, was er tut, gut findet.
Verdammt, das fand ich ja auch immer. Bis jetzt.
»Miles, ich weiß, dass es schwierig für dich ist, das zu akzeptieren, aber
ich brauche deine Unterstützung. Du hast keine Ahnung, wie schwer es für
mich war, nach ihrem Tod wieder Fuß zu fassen.«
»Schwer?« Jetzt stehe ich. Rede lauter. Ich verhalte mich, als würde es
mir persönlich etwas ausmachen, obwohl es das in Wirklichkeit nicht tut.
Mir ist es scheißegal, dass er sich wieder mit Frauen trifft. Von mir aus soll
er treffen, wen er will. Ficken, wen er will.
Ich glaube, ich reagiere nur deswegen so heftig, weil sie es nicht tun
kann. Man hat keine Möglichkeit mehr, um seine Ehe zu kämpfen, wenn
man tot ist. Das ist der Grund, warum ich diesen Kampf an ihrer Stelle
führen muss.
»So wahnsinnig schwer kann es nicht gewesen sein, Dad.«
Ich muss mich bewegen.
Gehe mit großen Schritten durchs Wohnzimmer.
Bleibe vor der Wand stehen.
Kehre wieder um.
Das verdammte Haus ist zu klein für meine Enttäuschung, für meine
Hilflosigkeit.
Dabei ist es wahrscheinlich gar nicht so sehr die Tatsache, dass er sich
mit jemandem trifft. Sondern der Blick in seinen Augen, wenn er von ihr
spricht. Meine Mutter hat er nie so angesehen. Daran merke ich, dass das
mit der Neuen nichts Oberflächliches ist. Es ist etwas Ernstes. Ich ahne,
dass sie sich in unserem Leben einnisten und Wurzeln schlagen wird wie
eine giftige Pflanze. Bald wird es nicht mehr nur Dad und mich geben,
sondern Dad, mich und Lisa. Dabei ist der Geist meiner Mutter doch noch
überall im Haus zu spüren.
Dad sitzt mit verschränkten Händen vor mir und sieht zu Boden.
»Ich kann noch nicht sagen, ob das mit uns etwas von Dauer ist, aber ich
würde es gern mit ihr versuchen. Lisa ist … Sie macht mich glücklich.
Manchmal muss man einfach den ersten Schritt wagen, wenn man möchte,
dass es weitergeht.«
Ich öffne gerade den Mund, um etwas Sarkastisches zu antworten, als es
an der Haustür klingelt. Mein Vater sieht mich an und steht zögernd auf. Er
kommt mir plötzlich kleiner vor als sonst.
»Ich verlange nicht von dir, dass du sie magst. Ich verlange auch nicht,
dass du Sachen mit uns unternimmst. Ich wünsche mir nur, dass du nett zu
ihr bist.« Sein Blick ist fast flehend und ich fühle mich mies.
Ich nicke. »Das werde ich, Dad. Das weißt du.«
Wir umarmen uns und das Gefühl ist tröstlich und traurig zugleich. Es
fühlt sich nicht so an, als würde ich den Mann umarmen, den ich siebzehn
Jahre lang auf ein Podest gestellt habe, sondern jemanden, der auch nur ein
Mensch ist.
Dad bittet mich, Lisa zu begrüßen, während er sich in der Küche um das
Essen kümmert, also tue ich ihm den Gefallen. Bevor ich die Tür öffne,
schließe ich kurz die Augen und lasse meine Mutter wissen, dass für mich
niemand jemals ihren Platz einnehmen wird, ganz egal, wie sich die Sache
zwischen dieser Lisa und Dad entwickeln wird.
»Miles?«
Ich sehe sie an. Sie ist das genaue Gegenteil von meiner Mutter und das
macht mich froh. Sie ist viel kleiner als meine Mutter. Sie ist nicht so
hübsch wie meine Mutter. Diese Frau hat überhaupt nichts an sich, das sich
mit meiner Mutter vergleichen ließe, also versuche ich es erst gar nicht. Ich
akzeptiere sie als das, was sie ist: ein Gast, der heute bei uns zu Abend isst.
Ich nicke. »Sie müssen Lisa sein. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Ich
deute hinter mich. »Mein Vater ist gerade noch in der Küche beschäftigt.«
Lisa macht einen Schritt auf mich zu und umarmt mich, was mich einen
Moment lang so in Schockstarre versetzt, dass ich unfähig bin, die Geste zu
erwidern.
Dann sehe ich das Mädchen, das hinter ihr steht. Und das Mädchen, das
hinter ihr steht, sieht mich.
Du
wirst
dich
in
mich
verlieben,
Rachel.
»Miles?«
Sie sagt es ein bisschen wie ihre Mutter,
nur trauriger.
Lisa sieht zwischen uns beiden hin und her.
»Ihr kennt euch?«
Rachel nickt nicht.
Ich nicke auch nicht.
Es fühlt sich an wie eine eiskalte Dusche, deren Wasser sich als Pfütze aus
Tränen zu unseren Füßen sammelt.
»Ja, er, äh …« Rachel stammelt.
Ich will ihr zu Hilfe kommen. »Rachel ist auf meiner Schule«, platze ich
heraus und bereue sofort, das gesagt zu haben, denn was ich wirklich sagen
will, ist:
Rachel ist das Mädchen,
in das ich mich verlieben werde.
Aber das stimmt nicht mehr. Rachel kann nicht das Mädchen sein, in das
ich mich verliebe, weil Rachel jetzt zu dem Mädchen geworden ist, das
womöglich bald so etwas wie meine Stiefschwester ist.
Zum zweiten Mal an diesem Abend wird mir kotzübel.
Lisa schlägt lächelnd die Hände zusammen. »Das ist ja ein Zufall«, sagt sie.
»Wie toll. Das erleichtert mich.«
Mein Vater kommt. Er umarmt Lisa, sagt »Hallo, Rachel« zu Rachel und
dass er sich freut, sie wiederzusehen.
Mein Vater kennt Rachel.
Rachel kennt meinen Vater.
Mein Vater ist Lisas neuer Freund.
Mein Vater fliegt oft nach Phoenix.
Mein Vater war oft in Phoenix, als meine Mutter krank war.
Mein Vater ist ein Arschloch.
»Stell dir vor, Rachel und Miles kennen sich schon«, erzählt Lisa. »Sie ist
auf seiner Schule.«
Mein Vater lächelt, und ich sehe, wie erleichtert er ist.
»Gut. Gut«, sagt er, als würde es irgendetwas gutmachen, wenn er das Wort
zweimal sagt.
Tut es nicht.
Schlecht. Schlecht.
»Na, dann wird der Abend ja viel weniger verkrampft als befürchtet«, sagt
er mit einem Lachen.
Ich sehe Rachel an.
Sie sieht mich an.
Ich darf mich nicht in dich verlieben, Rachel.
Ihre Augen sind traurig.
Meine Gedanken sind trauriger.
Und du darfst dich nicht in mich verlieben.
Sie tritt mit zögernden Schritten ins Haus und schaut dabei zu Boden. Es
sind die traurigsten Schritte, die ich jemals jemanden habe machen sehen.
Ich schließe die Tür.
Es ist die traurigste Tür, die ich jemals habe schließen müssen.
Fünftes Kapitel
TATE
»Wie sieht es denn bei dir mit Thanksgiving aus? Hast du frei?«, fragt
meine Mutter.
Ich klemme mir das Handy ans Ohr und krame den Wohnungsschlüssel
aus meiner Tasche. »Ja, aber dafür hab ich den Dienst an Weihnachten
übernommen. Im Augenblick kann ich ja nur an den Wochenenden und
Feiertagen arbeiten.«
»Gut. Richte Corbin aus, dass wir noch nicht tot sind, falls er jemals das
Bedürfnis haben sollte, uns anzurufen.«
Ich lache. »Sage ich ihm. Ich liebe dich.«
Nachdem ich aufgelegt habe, stecke ich das Handy lächelnd in die
Tasche meines Schwesternkittels. Heute hatte ich den letzten
Einführungstag, ab morgen Abend geht es dann richtig los.
Ich war völlig überrascht, dass ich die Stelle schon nach dem ersten
Vorstellungsgespräch bekommen habe, weil ich es mir viel komplizierter
vorgestellt hatte, hier in San Francisco einen Job zu ergattern. Bis jetzt bin
ich total glücklich. Meine Kolleginnen und Kollegen sind alle nett und die
Arbeitszeiten überschneiden sich nicht mit meinem Stundenplan. Unter der
Woche bin ich jeden Tag an der Uni und habe Vorlesungen und Praxiskurse,
an den Wochenenden übernehme ich Dienste an der Klinik. Besser hätte ich
es mir gar nicht wünschen können.
Auch in der Stadt fühle ich mich wahnsinnig wohl. Okay, ich bin erst
seit zwei Wochen in San Francisco, und vielleicht ist es noch zu früh, um
Pläne zu machen, aber im Moment könnte ich mir gut vorstellen, nach
meinem Abschluss ganz hierzubleiben.
Corbin und ich kommen bisher bestens miteinander klar, was vermutlich
auch damit zu tun hat, dass er als Pilot sehr oft unterwegs ist.
Ich lächle immer noch, als ich die Tür aufschließe. Möglicherweise habe
ich ja endlich meinen Platz im Leben gefunden. Meine gute Laune verfliegt
allerdings in dem Moment, in dem ich drei Typen in unserem Wohnzimmer
sehe, von denen ich nur zwei kenne. Corbins Nachbar Miles steht an der
Küchentheke, der verheiratete Aufreißer aus dem zehnten Stock fläzt sich
auf der Couch und neben ihm sitzt irgendein blonder Typ.
Was zum Teufel macht Miles hier?
Was zum Teufel macht überhaupt irgendeiner von denen hier?
Gereizt ziehe ich meine Schuhe aus und schleudere die Tasche auf die
Theke. Corbin kommt erst in zwei Tagen zurück, ich hatte mich so darauf
gefreut, eine ruhige Wohnung vorzufinden und noch ein bisschen lernen zu
können.
»Es ist Donnerstag«, sagt Miles, als er mein fragendes Gesicht sieht, als
wäre das irgendeine Erklärung.
»Das ist richtig«, antworte ich kühl. »Und morgen ist Freitag.« Ich
wende mich an die beiden anderen Kerle. »Was macht ihr in Corbins
Apartment?«
Der blonde Schlaksige steht sofort auf und kommt mit ausgestreckter
Hand auf mich zu. »Hey. Du bist bestimmt Tate«, sagt er. »Ich heiße Ian.
Dein Bruder und ich sind befreundet. Miles kenne ich schon seit der
Highschool.« Er deutet auf den Typen aus dem Aufzug, der sitzen geblieben
ist. »Und das ist Dillon.«
Dillon nickt mir zu, sagt aber nichts. Das muss er auch nicht. Sein
schmieriges Grinsen offenbart alles.
Miles zeigt auf den Fernseher, auf dem irgendein Sportsender läuft. »Das
ist so eine Art Tradition. Donnerstags treffen wir uns immer bei Corbin, um
das Footballspiel zu schauen.«
Es ist mir vollkommen egal, ob das eine Tradition oder sonst was ist. Ich
muss lernen.
»Corbin ist aber nicht zu Hause. Könnt ihr euer Spiel nicht auch bei dir
drüben schauen? Ich brauche Ruhe.«
Miles reicht Dillon eine Flasche Bier und sieht mich an. »Ich hab keinen
Kabelanschluss.« Na klar, er hat keinen Kabelanschluss. »Und Dillons Frau
will nicht, dass wir bei ihnen unten schauen.« Natürlich will sie das nicht.
Ich verdrehe die Augen, gehe in mein Zimmer und knalle die Tür etwas
lauter zu, als ich es eigentlich vorhatte.
Als ich gerade meinen Kittel ausgezogen habe und in eine Jeans und das
T-Shirt geschlüpft bin, in dem ich letzte Nacht geschlafen habe, klopft es an
der Tür. Ich reiße sie so dramatisch auf, wie ich sie vorher zugeknallt habe.
Wow.
Keine Ahnung, warum mir das nicht schon vorher aufgefallen ist, aber
erst jetzt, als Miles direkt vor mir im Türrahmen steht – ihn ausfüllt –,
bemerke ich, wie groß und breitschultrig er ist. Wenn wir uns umarmen
würden, wäre mein Ohr genau auf Höhe seines Herzens und sein Kinn auf
Höhe meines Scheitels. Beim Küssen müsste ich mich auf die Zehenspitzen
stellen und den Kopf zurücklegen, um seine Lippen zu erreichen. Er würde
seine Arme um meine Taille schlingen und mich so an sich ziehen, dass
unsere Lippen sich wie zwei Puzzlestücke ineinanderfügen würden …
Was sind das für bescheuerte Gedanken, Tate?
Gar nichts würde sich ineinanderfügen, weil die Stücke zu zwei total
unterschiedlichen Puzzles gehören.
Irgendetwas Beunruhigendes geht in meinem Inneren vor sich. Etwas,
das mir unangenehm ist, weil ich weiß, was es bedeutet. Dieses komische
Flattern in meinem Brustkorb bestätigt den Verdacht, den ich am Tag nach
meinem Einzug hatte: Mein Körper fängt an, Miles zu mögen.
Ich kann nur hoffen, dass mein Kopf nicht folgt.
»Wenn du Ruhe zum Lernen brauchst, kannst du gern zu mir
rübergehen«, sagt Miles.
Es ärgert mich, dass sein Angebot sofort ein erneutes Flattern in mir
auslöst. Ich will die Vorstellung, möglicherweise gleich in seinem
Apartment zu sitzen, nicht aufregend finden – aber, verdammt, ich kann
nichts dagegen tun.
»Wir sind wahrscheinlich noch zwei Stunden hier«, sagt er.
Irgendwo tief in seiner sexy Stimme höre ich so etwas wie ein leichtes
Schuldgefühl mitschwingen, auch wenn man wahrscheinlich einen
Suchtrupp bräuchte, um es wirklich zu lokalisieren.
Ich seufze und denke mir, dass ich eine ziemliche Zicke bin. Das ist
nicht meine Wohnung. Mit welchem Recht will ich Corbins Freunden
verbieten, donnerstags hier ihr Footballspiel zu schauen, wenn sie das
immer so machen?
»Ich bin nach der Arbeit einfach ziemlich erschossen«, sage ich. »Ist
schon okay. Tut mir leid, dass ich zu deinen Freunden so unhöflich war.«
»Meinem Freund. Einzahl«, korrigiert Miles mich. »Mit Dillon bin ich
nicht befreundet.«
Er wirft kurz einen Blick zum Wohnzimmer und lehnt sich dann an den
Türrahmen – offenbar ein Zeichen dafür, dass meine Erlaubnis, das Spiel
hier zu sehen, für ihn nicht zwangsläufig das Ende unserer Unterhaltung
bedeutet.
»Du hast einen Job?« Er deutet auf den Kittel, der auf dem Bett liegt.
»Ja, hab ich.« Warum will er, nachdem er mich die letzten beiden
Wochen völlig ignoriert hat, auf einmal mit mir reden? »Als
Krankenschwester in der Notaufnahme.«
Zwischen seinen Augenbrauen bildet sich eine steile Falte, von der ich
nicht sagen kann, ob sie Verwirrung oder Interesse signalisiert. »Ich dachte,
du studierst noch?«
»Stimmt. Das ist ein Aufbaustudiengang, in dem ich meinen Master als
medizinische Assistentin für Anästhesie mache. Danach darf ich
eigenständig Narkosen durchführen. Meine Ausbildung zur
Krankenschwester habe ich schon hinter mir.«
Er sieht mich einen Moment lang an, bevor er sich vom Türrahmen
abstößt. »Klingt doch gut«, sagt er, aber sein Gesicht bleibt dabei ernst.
Warum lächelt er nie?
»Tja, dann geh ich mal wieder.«
Ich bleibe in der Tür stehen und sehe ihm nach, wie er ins Wohnzimmer
schlendert und sich zu den anderen auf die Couch setzt. Kurz darauf gehe
ich in die Küche, um mir etwas zu essen zu suchen, und bemerke, dass
Dillon mich ungeniert beobachtet, während Miles sich anscheinend nur für
die Sportsendung interessiert.
Der Kühlschrank gibt, wie zu erwarten, nicht viel her, weil ich in den
letzten Tagen weder zum Kochen noch zum Einkaufen gekommen bin, aber
wenigstens sind Käse, Schinken und Toastbrot da, sodass ich mir ein
Sandwich machen kann. Als ich mich mit den Zutaten in der Hand
umdrehe, starrt Dillon mich immer noch an. Nur dass er jetzt nicht mehr auf
der Couch sitzt, sondern ungefähr einen Meter von mir entfernt steht.
»Hey.« Er geht grinsend zum Kühlschrank und öffnet ihn. »Wir beide
haben uns ja schon kennengelernt.«
Ich denke, was Dillon angeht, bin ich mit Miles einer Meinung. Ich mag
ihn nicht.
Dillon ist das genaue Gegenteil von Miles. Wenn Miles mich ansieht,
gibt er mir keine Möglichkeit, auch nur im Entferntesten zu erraten, was in
ihm vorgeht. Was Dillon denkt, ist offensichtlich. Im Moment zieht er mich
gerade mit Blicken aus.
»Stimmt«, sage ich knapp und gehe um ihn herum zur Theke, wo ich
Käse, den Schinken und die Mayonnaise neben ein Holzbrett lege. Danach
hole ich das Toastbrot aus dem Vorratsschrank und beginne zwei
Sandwiches zu machen. Das zweite ist für Cap. In der kurzen Zeit, die ich
hier wohne, haben wir uns ein bisschen angefreundet. Mittlerweile weiß
ich, dass er an manchen Tagen vierzehn Stunden lang arbeitet. Nicht weil
das irgendwer von ihm verlangen würde, sondern weil er keine Lust hat,
allein in seinem Apartment zu hocken. Ich habe mir angewöhnt, ihm
manchmal eine Kleinigkeit zu essen runterzubringen und mich ein bisschen
mit ihm zu unterhalten. Weil mir neben Studium und Job wenig Freizeit
bleibt, habe ich in San Francisco noch nicht viele Leute kennengelernt und
bin froh, wenigstens einen Freund zu haben – auch wenn er schon über
achtzig ist.
Dillon lehnt lässig an der Theke. »Sexy Kittel, den du da vorhin
anhattest. Bist du Krankenschwester oder so was?« Er öffnet sein Bier und
hebt es an den Mund, hält aber inne, bevor er einen Schluck trinkt, als
würde er erst meine Antwort abwarten wollen.
»Genau«, antworte ich.
Er lächelt und nimmt dann einen großen Schluck. Ich widme mich mit
allergrößter Sorgfalt der Fertigstellung meiner Sandwiches und lasse mir
deutlich anmerken, dass ich kein Bedürfnis habe, mich zu unterhalten, aber
Dillon will das offensichtlich nicht verstehen. Er bleibt in der Küche und
starrt mich weiter an.
Sollte er hoffen, dass ich ihm auch ein Sandwich mache, kann er sich
schon mal auf eine Enttäuschung einstellen.
»Ich bin übrigens auch Pilot«, sagt er schließlich. Obwohl ich zugeben
muss, dass er es in neutralem Ton sagt, wirkt es trotzdem angeberisch auf
mich. Schließlich habe ich ihn nicht nach seinem Beruf gefragt. »Ich arbeite
für dieselbe Fluglinie wie Corbin.«
Er sieht mich an, als würde er erwarten, dass ich ihn jetzt ganz toll finde.
Er kann nicht wissen, dass alle Männer in meiner Familie Piloten sind.
Mein Großvater war Pilot. Mein Vater war bis zu seiner Pensionierung vor
ein paar Monaten Pilot. Mein Bruder ist Pilot.
»Falls du es darauf anlegst, mich zu beeindrucken, ist das die falsche
Methode, Dillon. Ich stehe auf Männer, die ein bisschen zurückhaltender
und vor allem weniger verheiratet sind als du.« Ich nicke vielsagend in
Richtung seines Eherings.
In diesem Moment kommt Miles in die Küche. »Das Spiel fängt gleich
an«, sagt er zu Dillon. Der Tonfall klingt beiläufig, aber sein drohender
Blick drückt deutlich aus, dass er sich wieder ins Wohnzimmer verziehen
soll.
Dillon seufzt, als hätte Miles ihm mit seiner Bemerkung die Tour
vermasselt. »Es hat mich sehr gefreut, dich wiederzusehen, Tate«, sagt er zu
mir und tut so, als hätte er sowieso vorgehabt, wieder rüberzugehen.
»Warum setzt du dich nicht zu uns?«, fragt er und sieht Miles dabei
herausfordernd an, obwohl er mit mir spricht. »Anscheinend fängt das Spiel
gerade an.« Er richtet sich auf und schiebt sich an Miles vorbei Richtung
Couch.
Miles ignoriert ihn, zieht einen Schlüssel aus der Hosentasche und
drückt ihn mir in die Hand. »Und du gehst zum Lernen rüber in mein
Apartment.«
Das ist kein Angebot.
Das ist eine Aufforderung.
»Schon okay. Hier kann ich auch arbeiten.« Ich lege den Schlüssel auf
die Theke und schraube das Mayonnaiseglas zu. Ich werde mich von den
drei Jungs garantiert nicht aus meiner eigenen Wohnung ausquartieren
lassen. Das wäre ja noch schöner. »So laut ist der Fernseher auch nicht«,
sage ich, reiße Küchenpapier von der Rolle und wickle die Sandwiches
darin ein.
Miles geht einen Schritt auf mich zu und beugt sich vor, bis seine Lippen
dicht an meinem Ohr sind. Ich bin mir sicher, dass ich die Sandwiches
gerade zerquetsche, weil mein ganzer Körper plötzlich wie von einem
heißen Stromschlag durchzuckt wird.
»Kann sein, aber ich finde es nicht okay. Also geh. Deine beiden
Sandwiches kannst du ja mitnehmen.«
Ich sehe auf die Sandwiches herunter. Aus irgendeinem Grund fühlt es
sich an, als hätte er sie gerade beleidigt. »Die sind nicht beide für mich«,
sage ich trotzig. »Das eine bringe ich Cap runter.«
Der Blick, mit dem er mich mustert, ist wieder mal unergründlich.
Eigentlich müsste es verboten sein, andere Leute so anzusehen. Er gibt mir
das Gefühl, ein Ausstellungsobjekt zu sein, das er völlig ungeniert
betrachten kann.
»Du hast Cap ein Sandwich gemacht?«
Ich nicke. »Er freut sich immer, wenn ich ihm was bringe«, sage ich mit
einem Schulterzucken.
Miles sieht mich – das Ausstellungsobjekt – weiter unbewegt an, dann
beugt er sich noch einmal vor, nimmt den Schlüssel von der Theke und
schiebt ihn mir in die Hosentasche.
Ich kann nicht einmal sagen, ob seine Finger dabei überhaupt meine
Jeans berühren, trotzdem durchzuckt es mich wieder von den Haarspitzen
bis zu den Zehen. Ich hole scharf Luft und sehe auf meine Hüfte. Wow, was
war das?
Während ich noch wie erstarrt dastehe, geht Miles ins Wohnzimmer
zurück, als wäre nichts passiert, dabei steht meine Hüfte in Flammen.
Mit zitternden Knien zwinge ich mich, einen Fuß vor den anderen zu
setzen und das Apartment zu verlassen. Ich glaube, ich brauche erst mal
Zeit, um zu verarbeiten, was eben passiert ist.
Nachdem ich Cap sein Sandwich gebracht habe, tue ich, was Miles
gesagt hat, hole meine Unterlagen und gehe zum Lernen zu ihm rüber. Ich
mache das nicht, weil er es möchte, und auch nicht, weil ich wirklich so
dringend lernen müsste, sondern vor allem, weil ich wahnsinnig gespannt
bin, was mich dort erwartet. Es ist, als hätte er mir zusammen mit seinem
Wohnungsschlüssel auch den Zugang zu seinen Geheimnissen gegeben.
***
Eigentlich hätte ich mir denken können, dass mir Miles’ Apartment nicht
den geringsten Einblick in die Tiefe seiner Seele geben wird. Den
verwehren ja sogar seine Augen.
Okay, es ist ruhiger hier, und gut, ich habe wirklich zwei volle Stunden
konzentriert durchgearbeitet, aber das ist vor allem dadurch begünstigt
worden, dass es hier nichts gibt, das mich hätte ablenken können.
Gar nichts.
An den weiß gestrichenen Wänden hängt kein einziges Bild. Nirgends
steht ein Foto. Es gibt keinerlei Erinnerungsstücke oder Dekogegenstände.
Nichts, das Farbe in den Raum bringen würde. Der schwere Eichentisch,
der den Küchenbereich vom Wohnzimmer trennt, steht nackt und kahl da.
Ich denke daran, wie Corbin und ich aufgewachsen sind. Bei uns war der
Küchentisch der Mittelpunkt des Hauses. Er war immer mit einem
hübschen Läufer dekoriert, darüber hing ein kunstvoll geschmiedeter
Leuchter und das Geschirr passte zur jeweiligen Jahreszeit.
Miles besitzt noch nicht einmal eine Obstschale.
Das einzig Auffällige hier ist das Regal, das von oben bis unten mit
Büchern gefüllt ist. Männer, die lesen, fand ich immer schon spannend.
Vielleicht verrät mir ja seine Lektüre mehr über das, was ihn beschäftigt
und interessiert. Ich klappe meine Unterlagen zu und stehe auf, um das
Regal näher in Augenschein zu nehmen.
Regalreihe um Regalreihe Bücher über … Luftfahrt.
Ich bin ein bisschen enttäuscht darüber, dass ich nach dieser Inspektion
seiner Wohnung nicht mehr über Miles sagen kann, als dass er anscheinend
seinen Beruf über alles liebt und null Komma null Einrichtungssinn besitzt.
Mal sehen, ob in der Küche mehr zu finden ist. Ich öffne den
Kühlschrank, der aber auch nicht wirklich etwas hergibt. Styroporbehälter
mit Resten von irgendwelchen Take-away-Imbissen. Grillsoßen und
Mayonnaise. Orangensaft. Der Inhalt ähnelt dem von Corbins Kühlschrank.
Irgendwie traurig.
Ich suche in den Hängeschränken, bis ich ein Glas finde, gieße mir
Orangensaft ein, trinke ihn und spüle das Glas aus. Im Becken steht ein
kleiner Stapel Geschirr, das ich bei der Gelegenheit auch gleich mit abspüle.
Nicht einmal die Teller, von denen er isst, haben Charakter – sie sind völlig
schmucklos, einfach nur langweilig weiß.
Am liebsten würde ich sofort in die Stadt gehen und für ihn einkaufen:
bunte Vorhänge, geschmackvolles Geschirr, ein paar Bilder und vielleicht
ein, zwei Pflanzen. In diese Wohnung muss dringend ein bisschen Leben
gebracht werden.
Was ist dieser Miles für ein Mensch? Eine Freundin hat er, soweit ich es
beurteilen kann, nicht. Jedenfalls habe ich ihn bisher noch nie mit einem
Mädchen gesehen und der Anblick seiner Wohnung spricht auch dagegen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau, die regelmäßig hier wäre, der
Versuchung widerstanden hätte, sie wenigstens ein kleines bisschen
gemütlicher zu machen, also nehme ich an, dass es keine gibt, die
regelmäßig da ist.
Wobei ich zugeben muss, dass das bei meinem Bruder nicht so viel
anders ist. Schon früher hat er nie viel über seine Beziehungen geredet, was
vermutlich auch daran lag, dass er nie länger mit einem Mädchen
zusammen war. Jedes Mal wenn er mir eine neue Freundin vorgestellt hat,
war er in der nächsten Woche schon wieder solo. Natürlich kann ich nicht
beurteilen, wer es mit wem nicht lange ausgehalten hat, bin mir aber
ziemlich sicher, dass meistens er derjenige war, der gegangen ist.
Schließlich kriege ich mit, wie er belagert wird und ständig irgendwelche
Nachrichten aufs Handy bekommt.
Angesichts der One-Night-Stands, die Corbin sich so leistet, ist sein
Versuch, mich möglichst von allen männlichen Wesen abzuschirmen, umso
absurder. Wahrscheinlich kennt er sich einfach selbst zu gut und will auf
keinen Fall, dass ich an einen Typen wie ihn gerate.
Ob Miles so ist wie Corbin?
»Spülst du etwa mein Geschirr?«
Ich zucke so zusammen, dass mir fast das Glas aus der Hand gerutscht
wäre. Nachdem ich tief durchgeatmet habe, stelle ich es ins Becken zurück
und drehe mich um.
»Na ja, ich war mit Lernen fertig«, sage ich, »und das Geschirr war
dreckig.«
Er lächelt.
Glaube ich zumindest.
Denn sobald ich mir einbilde, ein leichtes Kräuseln um seine
Mundwinkel zu entdecken, ist es auch schon wieder verschwunden.
Falscher Alarm.
»Die Jungs sind gegangen«, verkündet Miles, womit er mir vermutlich
zu verstehen geben möchte, dass ich jetzt auch gehen kann. Er greift nach
der Flasche Orangensaft, die noch auf der Theke steht, und stellt sie in den
Kühlschrank zurück.
»Ach so, ja«, murmle ich. »Ich hatte Durst.«
Er dreht sich zu mir, lehnt sich gegen die Kühlschranktür und
verschränkt die Arme vor der Brust. »Du darfst jederzeit von meinem Saft
trinken, Tate.«
Ich kann mir ein leises Prusten nicht verkneifen. Ja, ich weiß, total
kindisch.
Er verzieht keine Miene. Gott echt, was ist mit diesem Mann los?
Weil ich nicht möchte, dass er mir meine Enttäuschung ansieht, wende
ich mich wieder zum Spülbecken, öffne den Wasserhahn und spüle den
letzten Rest Schaum weg. »Wie lange wohnst du eigentlich schon hier?«,
frage ich, um die unbehagliche Stille zu durchbrechen.
»Vier Jahre.«
Ich weiß selbst nicht, warum ich lache.
Er sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an.
»Na ja, es ist nur, weil … dein Apartment …« Ich mache eine
Handbewegung Richtung Wohnzimmer und sehe dann wieder ihn an. »Es
sieht ziemlich kahl aus. Ich dachte, du wärst vielleicht gerade erst
eingezogen und hättest noch keine Zeit gehabt, dich richtig einzurichten.«
Ich hatte nicht vor, ihn zu beleidigen, fürchte aber, dass ich gerade genau
das getan habe.
Er sieht sich in seiner Wohnung um, während er meine Bemerkung
sacken lässt. Ich wünschte, ich könnte sie zurücknehmen, aber das geht
leider nicht. Es hat auch keinen Sinn, irgendetwas zu erklären, das würde es
nur noch schlimmer machen. Also schweige ich.
»Ich arbeite sehr viel«, sagt er schließlich. »Und ich bekomme nie
Besuch. Wahrscheinlich war es mir deswegen nie wichtig.«
Ich will ihn fragen, warum er nie Besuch bekommt, spüre aber, dass das
zu weit gehen würde. »Apropos Besuch. Wieso hast du vorhin so betont,
dass dieser Dillon kein Freund von dir ist?«
Miles zuckt mit den Schultern und lehnt den Kopf an die
Kühlschranktür. »Dillon ist ein Arschloch, der keinen Respekt vor seiner
Frau hat«, sagt er knapp. Dann stößt er sich vom Kühlschrank ab und geht
aus der Küche in sein Schlafzimmer. Er lässt die Tür offen, damit ich ihn
noch hören kann. »Ich dachte, ich warne dich, bevor du auf ihn reinfällst.«
»Auf Typen wie Dillon falle ich nicht rein«, sage ich.
»Dann ist ja gut.«
Dann ist ja gut? Ha! Miles möchte nicht, dass ich Dillon gut finde, das
finde ich gut.
»Corbin würde ausrasten, wenn du was mit ihm anfängst. Er hasst
Dillon …«
Oh. Es geht ihm also nur um Corbin. Nicht gut.
Als er kurz darauf aus dem Zimmer kommt, trägt er nicht mehr die Jeans
und das T-Shirt von eben, sondern eine dunkle Stoffhose und ein weißes
Hemd, das noch offen ist.
Eine Pilotenuniform.
»Ach, du bist auch Pilot?«, frage ich perplex. Es ist mir peinlich, dass
meine Stimme klingt, als wäre ich beeindruckt.
Miles nickt und verschwindet in einer kleinen Kammer neben der
Küche. »Daher kenne ich Corbin«, sagt er. »Wir haben zusammen die
Ausbildung gemacht.« Er kommt mit einem Korb voll frisch gewaschener
Wäsche wieder, stellt ihn auf die Theke und nimmt ein paar T-Shirts heraus,
die er faltet und in eine Reisetasche steckt. »Corbin ist echt in Ordnung. Ich
mag ihn sehr.«
Sein Hemd ist immer noch offen.
Ich starre auf seine nackte Brust und seinen Bauch.
Hör auf, ihm auf den Bauch zu starren.
Oh Gott, er hat das »V«. Ich stehe total auf diese beiden Muskelstränge,
die entlang des Sixpacks verlaufen und im Bund der Hose verschwinden,
als würden sie auf einen geheimen Zielpunkt zusteuern.
Verdammt, Tate, du starrst ihm direkt in den Schritt.
Während Miles sein Hemd zuknöpft, bündle ich mit übermenschlicher
Anstrengung alle meine Kräfte und zwinge mich, ihm wieder ins Gesicht zu
sehen.
Wörter. Ich sollte welche im Kopf haben, die sich in solchen Fällen
sagen lassen, kann sie im Moment aber nicht finden. Vielleicht liegt es doch
daran, dass ich gerade erfahren habe, dass er Pilot ist.
Aber Dillon hat mir auch gesagt, dass er Pilot ist, und bei ihm hat mich
das völlig kaltgelassen. Im Gegensatz dazu haben Männer, die ihre
fabelhaften Bauchmuskeln spielen lassen, während sie Wäsche falten und
beiläufig erwähnen, dass sie Pilot sind, anscheinend eine
megabeeindruckende Wirkung auf mich.
Miles schließt den letzten Knopf an seinem Hemd, bückt sich nach
seinen Schuhen und zieht sie an. Ich sehe ihm zu, als säße ich im Publikum
und er wäre die Hauptfigur auf einer Bühne.
»Ist das eine gute Idee?«, frage ich, erleichtert darüber, dass es mir
gelingt, einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen. »Ich meine, du
hast eben mit den Jungs Bier getrunken und jetzt willst du ein Flugzeug
fliegen?«
Miles zieht seine Uniformjacke an und greift nach der Reisetasche. »Ich
habe heute Abend nur Wasser getrunken«, sagt er, bevor er aus der Küche
geht. »Alkohol ist nicht so mein Ding. Und ich trinke grundsätzlich nie,
wenn ich noch fliegen muss.«
Kopfschüttelnd folge ich ihm ins Wohnzimmer und nehme meine
Unterlagen vom Tisch. »Alkohol ist nicht dein Ding?«, frage ich ungläubig.
»An dem Abend, an dem ich eingezogen bin, lag jemand stockbesoffen im
Flur und ließ sich nicht aufwecken.«
Er öffnet die Apartmenttür. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst,
Tate«, sagt er ungerührt. »Wir haben uns morgens im Aufzug
kennengelernt, schon vergessen?«
In seinen Augen liegt kein Blitzen und er lächelt auch nicht, sodass ich
nicht weiß, ob er das ernst meint oder einen Witz macht.
Miles zieht die Tür hinter uns zu, ich gebe ihm seinen
Wohnungsschlüssel zurück und er schließt ab, während ich bei mir drüben
aufschließe.
»Tate?«
Ich bin versucht, so zu tun, als hätte ich nichts gehört, damit er meinen
Namen noch einmal sagen muss. Aber dann drehe ich mich doch um und
hoffe, dass er mir nicht anmerkt, was seine Stimme in mir anrichtet.
»Der Abend, an dem du mich im Flur gefunden hast, war eine
Ausnahme, okay? Eine sehr seltene Ausnahme.«
In seinem Blick und vielleicht sogar in seiner Stimme schwingt etwas
mit. Etwas Unausgesprochenes.
Er scheint darauf zu warten, dass ich etwas sage, damit er zum Aufzug
gehen kann. Ich sollte mich verabschieden. Ihm vielleicht einen sicheren
Flug wünschen. Aber das mache ich lieber nicht – in dieser Hinsicht bin ich
abergläubisch. Was soll ich stattdessen sagen? Danke, dass ich bei dir
lernen durfte? Dann bis zum nächsten Mal?
»Hatte die Ausnahme etwas mit dem zu tun, was mit Rachel passiert
ist?«
WARUM habe ich das gerade gesagt?
Miles’ Gesichtszüge erstarren zu Eis, seine ganze Körperhaltung ändert
sich von einem Moment zum anderen. Natürlich erinnert er sich nicht
daran, dass er in seinem betrunkenen Zustand geweint und mich mit ihrem
Namen angesprochen hat.
Schnell, Tate. Erklär es ihm und versuche zu retten, was zu retten ist.
»Es ist nur, weil … Du hast mich an dem Abend, an dem du betrunken
warst, Rachel genannt und anscheinend gedacht, ich wäre sie«, stammle
ich. »Deswegen dachte ich, es hätte etwas mit dem zu tun, was zwischen
euch passiert ist, und dass du deswegen … du weißt schon.«
Miles holt tief Luft und strafft die Schultern. Er will sich offensichtlich
nicht anmerken lassen, dass ich einen ganz wunden Punkt bei ihm getroffen
habe.
»Gute Nacht, Tate«, sagt er und wendet sich ab.
Alles klar. Anscheinend spricht er nicht mit mir über Rachel. Ist es ihm
peinlich, dass ich ihn in einem Moment der Schwäche erlebt habe? Ist er
sauer auf mich, weil ich es erwähnt habe? Traurig?
Was auch immer ich getan habe … ich bereue es total, das Thema
angesprochen und dieses eisige Unbehagen erzeugt zu haben, das jetzt
zwischen uns steht.
Ich trete in Corbins Wohnung und schließe die Tür. Aber auch nachdem
ich sie ins Schloss gezogen habe, kann ich die Beklemmung noch spüren.
Sie ist nicht draußen im Hausflur geblieben, sie ist mir gefolgt.
Sechstes Kapitel
MILES
Ich schalte das Handy aus, weil ich will, dass ihre Nachricht die letzte des
Tages ist. Ich schließe die Augen.
Ich falle, Rachel.
Ich verfalle.
Siebtes Kapitel
TATE
Mittlerweile ist es zwei Wochen her, dass Miles sich im Hausflur von mir
verabschiedet hat, aber erst zwei Sekunden, seit ich das letzte Mal an ihn
gedacht habe. Ja, ich denke ziemlich oft an ihn. Dafür sehe ich ihn umso
seltener. Anscheinend fliegt er genauso viele Strecken wie Corbin, wenn
nicht sogar noch mehr. Obwohl es natürlich angenehm ist, das Apartment
für mich allein zu haben, freue ich mich immer, wenn mein Bruder in San
Francisco ist und ich jemanden zum Reden habe. Ehrlich gesagt hätte ich
auch nichts dagegen, wenn Corbin und Miles mal beide gleichzeitig
freihätten, um ihn näher kennenzulernen, doch das ist noch nie der Fall
gewesen, seit ich hier wohne.
Corbin und ich fahren über Thanksgiving zu unseren Eltern. Ich habe
gerade meine Reisetasche abgestellt, um die Tür hinter uns abzuschließen,
als ich sehe, wie mein Bruder zu Miles rübergeht.
»Miles hat bis Montag frei und nichts vor«, erklärt er, als er an die Tür
klopft. »Also habe ich ihn gefragt, ob er nicht bei uns feiern möchte.«
Ich hatte keine Ahnung, dass er Miles eingeladen hat. Einen Moment
lang bleibe ich mit offenem Mund stehen, dann drehe ich mich um, greife
nach meiner Tasche und gehe schnell zum Aufzug. Miles soll mir auf
keinen Fall ansehen, wie sehr ich mich freue, dass er mitkommt.
Als die beiden wenig später in den Aufzug steigen, habe ich mich wieder
im Griff und bemühe mich, ein möglichst unbeteiligtes Gesicht zu machen.
Miles nickt mir wortlos zu. Das ist die ganze Begrüßung. Wegen meiner
unglücklichen Bemerkung von letztem Mal sage ich lieber auch nichts zu
ihm. Er hat sich nicht extra schick gemacht, was ich gut finde, sieht aber in
seiner Jeans und dem 49ers-T-Shirt extrem attraktiv aus.
Als mein Blick weiter nach oben wandert, sehe ich ihm aus Versehen
direkt in die Augen. Ups. Ich weiß nicht, ob ich lächeln oder verlegen
wegschauen soll, entscheide mich dann aber dafür, seinen Blick trotzig zu
erwidern. Soll er doch wegschauen.
Er tut es nicht. Die ganze Fahrt bis ins Erdgeschoss starren wir uns mit
unbewegter Miene an. Als wir schließlich unten ankommen, bin ich
erleichtert, dass Miles als Erster aussteigt, weil ich die letzten sechzig
Sekunden kein einziges Mal Atem geholt habe und dringend nach Luft
schnappen muss.
»Wohin geht’s?«, erkundigt sich Cap mit Blick auf unsere Reisetaschen.
»Wir fahren über Thanksgiving zu meinen Eltern nach San Diego«,
antwortet Corbin. »Was ist mit Ihnen, Cap? Haben Sie etwas vor?«
»Erfahrungsgemäß starten an den Feiertagen hier eine Menge Flüge«,
antwortet Cap. »Ich werde wohl dableiben und arbeiten.« Er zwinkert mir
zu, bevor er sich Miles zuwendet. »Und was ist mit dir, Junge? Feierst du
Thanksgiving zu Hause?«
Miles gibt ihm keine Antwort. Er seufzt nur und sieht den alten Mann
genauso stumm an wie mich eben im Aufzug. Ich bin enttäuscht, weil ich
insgeheim gehofft hatte, unser kleines Blickduell wäre vielleicht seine ganz
persönliche Art zu flirten gewesen, aber anscheinend schaut er jeden so an.
Es vergehen einige ziemlich unbehagliche Sekunden. Vielleicht mag Miles
es auch einfach nicht, als »Junge« bezeichnet zu werden.
»Ich wünsche Ihnen ein schönes Thanksgiving, Cap«, sagt er schließlich,
wendet sich ab und folgt Corbin zum Ausgang.
Ich sehe Cap achselzuckend an. »Na, das kann ja eine lustige Fahrt
werden«, sage ich leise. »Scheint, als hätte Mr Archer mal wieder einen
schlechten Tag.«
Cap lächelt. »Nein, nein«, sagt er und schlurft wieder zu seinem Platz.
»Manche Menschen mögen es einfach nicht, wenn man ihnen Fragen stellt,
das ist alles.« Er lässt sich in den Sessel fallen und hebt die Hand zum
Abschied. Ich salutiere, bevor ich ebenfalls zum Ausgang gehe.
Warum entschuldigt Cap Miles’ unhöfliches Verhalten ihm gegenüber?
Entweder mag er ihn aus irgendwelchen Gründen, oder er ist ein so netter
Mensch, dass er grundsätzlich jeden in Schutz nimmt.
»Soll ich fahren?« Miles deutet auf die Fahrertür.
»Gerne.« Corbin nickt und geht zur Beifahrerseite. Ich steige hinten ein
und zögere kurz, weil ich nicht weiß, ob es strategisch günstiger ist, mich
direkt hinter Miles zu setzen oder vielleicht besser in die Mitte oder doch
lieber hinter Corbin. Aber eigentlich spielt es keine Rolle, wo ich sitze. Ich
kann ihm sowieso nicht entkommen.
Miles ist überall.
So ist das, wenn es einen instinktiv zu jemandem hinzieht. Vorher war
derjenige nirgends und dann auf einmal ist er in allem, ob man es will oder
nicht.
Ich würde zu gern wissen, ob ich für ihn auch irgendwo bin, schlage mir
diesen Gedanken aber sofort wieder aus dem Kopf. Ich spüre es, wenn ein
Mann etwas von mir will, und bei Miles bemerke ich keines der üblichen
Signale. Genau deswegen muss ich auch schnellstens einen Weg finden,
meine Gefühle für ihn wieder abzuschalten. Das Letzte, was ich im Moment
gebrauchen kann, ist irgendeine idiotische Schwärmerei für einen Typen,
der mich nicht einmal wahrnimmt. Ich muss mich aufs Studium und auf
meinen Job konzentrieren.
Um mich abzulenken, ziehe ich ein Buch aus der Tasche und beginne zu
lesen. Miles macht das Radio an und Corbin schiebt seinen Sitz zurück und
streckt die Beine aus. »Weckt mich erst, wenn wir angekommen sind,
okay?«, sagt er und zieht sich seine Basecap über die Augen.
Miles stellt den Rückspiegel ein. Als er sich umdreht, um aus der
Parklücke zu fahren, begegnen sich unsere Blicke.
»Sitzt du bequem oder soll ich meinen Sitz noch ein bisschen
vorstellen?« Er legt den Gang ein und sieht mich im Spiegel an.
Ich versuche, möglichst neutral zu lächeln. »Alles perfekt.« Er soll mir
auf keinen Fall anmerken, dass ich ihn attraktiv finde, aber natürlich auch
nicht denken, ich würde ihn nicht dabeihaben wollen.
Miles schaut auf den Straßenverkehr, ich schaue in mein Buch.
Dreißig Minuten vergehen und irgendwann bekomme ich vom Lesen
Kopfschmerzen. Ich klappe das Buch zu, lehne mich zurück, schlüpfe aus
meinen Schuhen und lege die Füße auf die Mittelkonsole. Miles betrachtet
mich einen Moment lang im Rückspiegel, und sein Blick fühlt sich an wie
eine Hand, die jeden Zentimeter meines Körpers abtastet. Im nächsten
Moment schaut er wieder auf die Straße.
Es ist unmöglich zu erraten, was ihm durch den Kopf geht. Er lächelt
nie. Er lacht nie. Er flirtet nicht. Seine unbewegte Miene wirkt wie ein
Schutzschild, den er zwischen sich und der Welt aufgebaut hat.
Ich habe mich immer schon zu den eher stillen Typen hingezogen
gefühlt. Die meisten Männer reden für meinen Geschmack viel zu viel;
manchmal empfinde ich es als richtig schmerzhaft, dass sie meinen, jede
Erkenntnis, die sie haben, sofort der Welt mitteilen zu müssen. Miles ist der
Erste, bei dem ich mir wünsche, er wäre weniger wortkarg. Ich möchte
jeden seiner Gedanken kennen, besonders den, der sich jetzt gerade hinter
seinem stoischen Gesichtsausdruck verbirgt.
Ich betrachte ihn nachdenklich im Rückspiegel, als sich unsere Blicke
wieder treffen und ich verlegen nach meinem Handy greife. Aber dieser
Spiegel ist wie ein Magnet, von dem mein Blick immer wieder angezogen
wird.
Und kaum schaue ich hinein, tut er es ebenfalls.
Ich gucke schnell weg.
Verdammt.
Diese Fahrt wird die gefühlt längste meines ganzen Lebens, das weiß ich
jetzt schon.
Nach drei Minuten wage ich den nächsten verstohlenen Blick und werde
prompt wieder von ihm erwischt.
Ich muss lächeln, weil ich mich plötzlich frage, was wir hier eigentlich
spielen.
Er lächelt auch.
Miles lächelt.
Gleich darauf sieht er wieder auf die Fahrbahn, doch das Lächeln
umspielt seine Mundwinkel noch ein paar Sekunden länger. Ich weiß es,
weil ich nicht aufhören kann, auf seinen Mund zu starren. Am liebsten
würde ich dieses Lächeln fotografieren, bevor es wieder verschwindet, aber
dann würde er mich zu Recht für ziemlich gestört halten.
Miles legt seinen Ellbogen auf die Konsole und stößt dabei versehentlich
gegen meine Füße.
»Oh, Entschuldigung«, sage ich und will sie wegziehen, als er die Hand
auf meinen linken Fuß legt.
»Schon okay. Lass nur«, sagt er.
Ich starre mit angehaltenem Atem auf meinen Fuß. Miles’ Daumen
bewegt sich und streichelt über meinen Spann, bevor er die Hand wieder
wegnimmt.
Das war Absicht. Eindeutig. Ich presse die Schenkel zusammen und
halte die Luft an. Er hat meinen Fuß gestreichelt. Ich muss mir auf die
Unterlippe beißen, um mein verstohlenes Lächeln zu verbergen.
Auf einmal bin ich mir ziemlich sicher, dass du mich doch auch ganz
interessant findest, Miles.
***
Kaum sind wir ausgestiegen, nutzt mein Vater die Gelegenheit und
kommandiert die Jungs dazu ab, zusammen mit ihm die
Weihnachtslichterketten am Haus anzubringen. Ich trage in der
Zwischenzeit unser Gepäck ins Haus und quartiere Miles und Corbin in
meinem ehemaligen Kinderzimmer ein, weil es das einzige mit zwei Betten
ist. Meine Tasche stelle ich in Corbins altes Zimmer und gehe dann in die
Küche, um Mom bei der Vorbereitung des Abendessens zu helfen.
Bei uns in der Familie war Thanksgiving nie so ein großes Fest, da mein
Vater als Pilot natürlich gerade an den Feiertagen, an denen besonders viele
Flüge gebucht werden, häufig arbeiten musste. Letztes Jahr waren Mom
und ich sogar nur zu zweit, weil sowohl Dad als auch Corbin geflogen sind.
Aber dieses Jahr feiern wir alle zusammen.
Mit Miles.
Meine Eltern haben offenbar nichts dagegen, dass er den Abend bei uns
verbringt, im Gegenteil scheinen sich beide zu freuen, einen von Corbins
Freunden kennenzulernen. Ich glaube, ich bin die Einzige, die seine
Anwesenheit ein bisschen nervös macht.
»Hier, Schatz. Kannst du die schon mal schälen?« Meine Mutter reicht
mir den Topf mit den hart gekochten Eiern für die Russischen Eier, die es
traditionell bei uns an Thanksgiving gibt. Während ich behutsam die
Schalen abpule, stellt sie sich gegenüber von mir an die Theke, stützt das
Kinn in die Hände und beobachtet mich. »Ziemlich gut aussehender Kerl,
dieser Miles.« Sie versucht, es beiläufig klingen zu lassen, aber mich kann
sie damit nicht täuschen. Ich weiß genau, dass es sie brennend interessiert,
wie ich ihn finde.
Meine Mom ist wirklich toll. Ich liebe sie über alles, habe aber schon
vor langer Zeit gelernt, dass es klüger ist, ihr gewisse Dinge nicht zu
erzählen. Als ich zwölf war und zum ersten Mal meine Tage bekam, fand
sie das so aufregend, dass sie als Allererstes drei ihrer besten Freundinnen
anrief und es ihnen brühwarm erzählte. Seitdem weiß ich, dass Geheimnisse
ab dem Moment keine mehr sind, in dem sie ihr zu Ohren kommen.
»Stimmt, er sieht ganz gut aus«, behaupte ich, obwohl ich in
Wirklichkeit finde, dass er umwerfend aussieht mit seinen vollen
goldbraunen Haaren, den unfassbar blauen Augen, den breiten Schultern
und den dunklen Bartstoppeln, die seine Wangen bedecken, sobald er ein
paar Tage frei hat. Außerdem riecht er immer so männlich-frisch, als wäre
er eben erst aus der Dusche gestiegen. Er ist einfach …
Gott, was ist nur los mit mir?
So bin ich nicht.
»Hat er eine Freundin?«
»Wer? Miles?« Ich zucke mit den Achseln. »Ich kenne ihn kaum,
Mom«, sage ich und greife nach dem Messer.
Meine Mutter grinst ihr wissendes Grinsen, das ich hasse.
Wahrscheinlich hat es keinen Zweck, sie anlügen zu wollen. Sie ist
meine Mutter. Sie weiß sowieso immer alles.
Achtes Kapitel
MILES
»Tate? Wir haben einen Notfall!« Corbin kommt in die Küche gestürzt.
Miles folgt dicht hinter ihm. Als mein Bruder zur Seite tritt, sehe ich, dass
Miles’ Hand so stark blutet, dass es tropft. Miles sieht mich an, als würde er
erwarten, dass ich ihn auf der Stelle verarzte. Aber wir sind hier nicht in der
Notaufnahme. Wir sind in der Küche meiner Mutter.
»Können Sie mir helfen, Schwester?« Miles umklammert seine verletzte
Hand. Auf dem Boden hat sich bereits eine kleine Blutlache gebildet.
»Mom!«, brülle ich. »Wo ist der Erste-Hilfe-Kasten?«
»Im Bad!«, ruft sie von oben herunter. »Unter dem Waschtisch.«
Ich deute in die Richtung, in der das Bad liegt, und laufe los. Miles folgt
mir. Ich bücke mich, hole den Kasten aus dem Schrank und stelle ihn aufs
Waschbecken. Danach klappe ich den Toilettendeckel runter, sage Miles, er
soll sich setzen, setze mich selbst auf den Rand der Badewanne und ziehe
seine Hand in meinen Schoß.
»Wie ist das passiert?«, frage ich, während ich die Wunde reinige. Es ist
ein tiefer Schnitt im Daumenballen.
»Die Leiter wäre fast gekippt und ich bin schnell hin und hab sie
festgehalten.«
Ich schüttle missbilligend den Kopf. »Du hättest sie einfach fallen lassen
sollen.«
»Ging nicht«, sagt er. »Corbin stand drauf.«
Ich sehe kurz in seine unglaublich blauen Augen und dann schnell
wieder auf seine Hand. »Das muss genäht werden.«
»Bist du dir sicher?«
»Absolut«, sage ich. »Ich kann dich zum Notarzt fahren.«
»Kannst du es nicht selbst nähen?«
»Nein, Miles.« Ich sehe ihn an. »Der Schnitt ist echt tief, das sollte ein
Chirurg in der Klinik machen. Außerdem geht das nicht ohne Betäubung.«
Er wühlt mit seiner unverletzten Hand in dem Kasten und fördert ein
steriles Nähset zutage. »Versuch’s einfach.«
»Verdammt. Miles. Das ist nicht so, als würde ich mal eben einen
abgerissenen Knopf annähen.«
»Ich habe aber keine Lust, wegen eines kleinen Schnitts den ganzen Tag
in einem Krankenhaus herumzusitzen. Mach es einfach, so gut du kannst.
Ich beiße die Zähne zusammen.«
Ich will auch nicht, dass er den ganzen Tag im Krankenhaus herumsitzt,
weil er dann nicht hier wäre. »Okay, aber gib mir nicht die Schuld, wenn
sich deine Hand entzündet und du stirbst.«
»Falls sich meine Hand entzündet und ich sterbe, werde ich zu tot sein,
um dir noch an irgendwas die Schuld zu geben.«
»Das überzeugt mich«, sage ich und stehe auf.
Nachdem ich alles, was ich für die kleine OP brauche, auf dem
Waschtisch angeordnet habe, stemme ich den Fuß auf den
Badewannenrand, breite ein Handtuch über meinen Schenkel und bitte
Miles, seinen Arm daraufzulegen.
Er tut, was ich gesagt habe, und sieht dann zu mir auf.
Sein Arm liegt auf meinem Schenkel.
Ich atme tief durch.
Okay, das geht so nicht.
Wenn ich nicht riskieren will, dass meine Hand total zittert, muss ich
eine andere Position finden.
»So klappt das nicht«, sage ich mit Krankenschwesterstimme. »Rutsch
mal direkt neben das Waschbecken.« Ich bitte ihn, den Arm auf den
Waschtisch zu legen, und beuge mich darüber. Eigentlich war es vorher
zum Nähen besser, aber ich weiß genau, dass ich es niemals geschafft hätte,
konzentriert zu arbeiten.
»Das wird höllisch wehtun«, warne ich ihn.
Miles lacht nur, als hätte er schon ganz andere Schmerzen ertragen.
Als ich das Fleisch mit der Nadel durchsteche, zuckt er nicht einmal mit
der Wimper.
Er gibt keinen Laut von sich, während ich arbeite. Dann und wann sieht
er von seiner Hand auf und schaut mir ins Gesicht. Wir schweigen beide –
wie immer.
Ich versuche, mich auf die Hand zu konzentrieren, die vor mir liegt, auf
die Wunde, die dringend geschlossen werden muss, aber unsere Gesichter
sind sich so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spüren kann,
wenn er ausatmet. Und er atmet oft aus.
»Du wirst bestimmt eine Narbe zurückbehalten«, flüstere ich heiser.
Wo ist der Rest meiner Stimme geblieben?
Ich weiß, dass es wehtut, aber Miles lässt sich immer noch nichts
anmerken. Als die Nadel zum vierten Mal durch die Haut dringt, halte ich
die Luft an, um nicht an seiner Stelle zu stöhnen.
Meine ganze Aufmerksamkeit sollte darauf gerichtet sein, was ich hier
tue, aber ich bin mir viel zu sehr der Tatsache bewusst, wie dicht ich vor
ihm stehe. Dass seine unverletzte Hand auf seinem Knie liegt. Dass eine
Fingerspitze mein Knie berührt.
Ich habe keine Ahnung, wie das sein kann, aber alles, was ich spüre, ist
diese Fingerspitze. Es ist, als würde sie den Stoff meiner Jeans versengen.
Hier stehe ich, blicke auf eine klaffende Wunde, Blut sickert ins Handtuch,
die Nadel durchsticht Fleisch und ich kann nur an diese kaum
wahrnehmbare Berührung seines Fingers denken.
Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn da keine Stoffschicht zwischen
uns wäre?
Unsere Augen begegnen sich für den Bruchteil einer Sekunde und ich
sehe hastig wieder auf seine Hand. Er nicht. Er sieht mich unverwandt
weiter an und ich versuche zu ignorieren, dass seine Atemzüge schneller
werden.
Ich weiß nicht, ob sich sein Atem beschleunigt, weil er Schmerzen hat
oder weil ich so dicht vor ihm stehe.
Jetzt berühren zwei Fingerspitzen mein Knie.
Drei.
Ich hole tief Luft und bemühe mich, meine Gedanken auf den letzten
Stich zu richten.
Es gelingt mir nicht.
Das ist Absicht. Diese Berührung ist kein versehentliches Streifen. Miles
berührt mich, weil er mich berühren will. Seine Finger wandern tastend um
mein Knie herum und gleiten an meinem Bein entlang nach oben. Mit
leisem Seufzen legt er seine Stirn an meine Schulter und drückt meinen
Schenkel.
Ich habe keine Ahnung, wie es möglich sein kann, dass ich noch
aufrecht stehe.
»Tate«, sagt er leise. Seine Stimme klingt so schmerzerfüllt, dass ich
innehalte, weil ich denke, dass es jetzt doch zu viel ist. Ich warte darauf,
dass er mich bittet, ihm einen Moment Zeit zu geben. Deswegen hat er mein
Bein berührt, oder? Weil ich ihm wehtue?
Als er nichts mehr sagt, mache ich den letzten Stich, greife zur Schere
und verknote den Faden.
»Das war’s«, verkünde ich und lege die Nadel auf den Waschtisch. Miles
lässt mein Bein nicht los, also bleibe ich so stehen.
Seine Hand streicht unendlich langsam außen an meinem Schenkel
hinauf und dann entlang der Hüfte höher zur Taille.
Atme, Tate. Du musst atmen.
Er umfasst meine Taille und zieht mich, den Kopf immer noch an meiner
Schulter, näher an sich heran. Ich lege die Hände auf seine Schultern, weil
ich mich an etwas festhalten muss, um nicht zu Boden zu sinken. Sämtliche
Muskeln in meinem Körper versagen ihren Dienst.
Er hat mich so dicht an sich gezogen, dass ich jetzt zwischen seinen
Beinen stehe. Als er den Kopf hebt, muss ich die Augen schließen, weil ich
zu nervös bin, um ihn anzusehen.
Ich spüre, dass er mich beobachtet, halte meine Augen aber weiter
geschlossen. Ich weiß nicht, warum ich das tue. Ich kann nicht mehr
denken. Außer an Miles.
Ich glaube, er will mich küssen.
Ich weiß, dass ich ihn küssen will.
Seine unverletzte Hand streicht meinen Rücken hinauf und ich beuge
mich ihm unwillkürlich entgegen. Es fühlt sich an, als würden seine
Fingerkuppen an jeder Stelle, die sie berühren, brennende Male
hinterlassen. Sein Mund ist nur noch wenige Zentimeter von meinem
entfernt. Er ist mir so nah, dass ich nicht sagen kann, ob es sein Atem ist
oder seine Lippen, die ich hauchzart am Hals spüre.
Ich habe das Gefühl zu sterben, und in dem ganzen verdammten Erste-
Hilfe-Kasten gibt es nichts, das mich retten könnte.
Miles legt die Hand in meinen Nacken und dann … sterbe ich.
Oder ich werde geküsst. Ich kann nicht sagen, was von beidem passiert,
weil ich mir ziemlich sicher bin, dass es sich gleich anfühlt. In dem
Moment, in dem Miles seine Lippen auf meine legt, spüre ich alles. Die
elementarsten Gefühle. Es ist, als würde ich leben und sterben und
gleichzeitig wiedergeboren werden.
Oh Gott … er küsst mich.
Seine Zunge ist in meinem Mund und kost zärtlich meine Zunge und ich
kann nicht mal sagen, wie es dazu gekommen ist. Aber es ist gut so. So gut.
Und dann beginnt er sich langsam aufzurichten, ohne die Lippen von
meinen zu lösen. Zusammen mit mir geht er ein paar Schritte, bis die Wand
hinter mir seine Hand ersetzt, die meinen Kopf gehalten hat. Jetzt schließen
sich seine Finger wieder um meine Taille.
Oh mein Gott, sein Mund ist so … so besitzergreifend.
Er gräbt seine Finger in meine Taille.
Ich höre unterdrücktes Stöhnen.
Seine Hand streicht wieder zu meinem Bein hinab.
Töte mich, Miles. Töte mich. Ich bin bereit.
Er hebt mein Bein an, legt es sich um die Hüfte und presst sich dann so
eng an mich, dass ich in seinem Mund aufseufze. Der Kuss kommt zu
einem abrupten Ende.
Warum löst er sich von mir? Nein! Hör nicht auf, Miles.
Er lässt mein Bein sinken und drückt die Stirn an die Wand hinter mir,
als brauche er Halt.
Nicht, Miles. Mach weiter. Leg deine Lippen wieder auf meine.
Ich drehe den Kopf, aber seine Augen sind geschlossen.
Er bereut, was er getan hat.
Mach die Augen nicht auf, Miles. Ich will das Bedauern darin nicht
sehen.
Einen langen Moment stehen wir so da und ringen beide nur nach Luft.
Ein paar tiefe Atemzüge später stößt Miles sich jäh von der Wand ab und
geht zum Waschbecken, ohne mich noch einmal anzusehen. Stumm reißt er
eine Verbandspackung auf.
Ich stehe noch immer mit dem Rücken gegen die Wand gepresst. Ich
glaube, ich werde auf ewig hier stehen bleiben. Ich bin ein Teil dieser
Wand. Das ist alles, was ich bin.
»Das hätte ich nicht tun sollen«, sagt er. Seine Stimme ist fest. Hart wie
Stahl. Wie ein Schwert.
»Schon okay«, sage ich leise. Meine Stimme ist alles andere als fest. Sie
ist flüssig. Sie verdunstet.
Er schafft es, sich die Hand zu verbinden, die ich eben genäht habe.
Dann dreht er sich zu mir um.
Sein Blick ist so fest, wie es seine Stimme eben war. Stählern wie die
Klinge eines Schwerts, das den Faden durchtrennt, an dem das bisschen
Hoffnung hing, das während unseres Kusses in mir aufgekeimt war.
»Lass nicht zu, dass ich das noch mal mache«, sagt er.
Ich wünsche mir mehr als alles andere, dass er es noch einmal macht,
aber das sage ich ihm nicht. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich es nicht
sagen, weil sein Bedauern mir die Kehle zuschnürt.
Er öffnet die Badezimmertür und geht.
Ich stehe immer noch an der Wand.
Was
zur
Hölle …?
***
***
Ich knipse das Licht aus und liege mit offenen Augen im Bett. Miles und
ich haben nicht noch einmal über das gesprochen, was zwischen uns
passiert ist, obwohl wir nach dem Essen bestimmt zehn Minuten allein
waren, während ich seine Hand neu verbunden habe.
Wir haben nicht gesprochen, seine Finger haben mein Knie nicht berührt
und er hat mich nicht ein einziges Mal angesehen. Stattdessen hat er die
ganze Zeit auf seine Hand gestarrt, als hätte er Angst, sie könnte sich in
Luft auflösen, falls er sie nicht im Auge behält.
Ich weiß nicht, was dieser Kuss vorhin zu bedeuten hatte und was ich
von Miles halten soll. Ich weiß nur, dass er sich offenbar von mir genauso
angezogen fühlt wie ich mich von ihm, sonst hätte er mich nicht geküsst.
Und ehrlich gesagt reicht mir das. Er muss mich nicht einmal mögen. Ich
will nur, dass er mich attraktiv findet, das mit dem Mögen kann dann später
noch dazukommen.
Die Minuten dehnen sich ins Endlose, ich schließe die Augen und
versuche einzuschlafen, aber es hat keinen Sinn. Als ich mich gerade zum
x-ten Mal von einer Seite zur anderen gedreht habe, sehe ich durch die
Milchglasscheibe in der Tür, wie jemand durch den Flur schleicht und einen
Moment vor meinem Zimmer stehen bleibt. Mit angehaltenem Atem warte
ich darauf, dass die Tür aufgeht, doch dann verschwindet der Schatten und
die Schritte entfernen sich. Ich bin mir fast sicher, dass das Miles war, aber
das liegt vielleicht auch nur daran, dass er im Moment mein ganzes Denken
beherrscht. Um mich zu beruhigen, atme ich ein paarmal tief durch und
überlege, ob ich ihm folgen soll. Beim dritten Atemzug springe ich aus dem
Bett.
Ich denke allen Ernstes daran, mir noch einmal die Zähne zu putzen,
obwohl ich das eben erst getan habe. Nach einem prüfenden Blick in den
Spiegel öffne ich die Tür und gehe, so leise ich kann, in die Küche.
Als ich um die Ecke biege, sehe ich ihn tatsächlich lässig an der Theke
lehnen, als hätte er auf mich gewartet.
Warum war er sich so sicher, dass ich kommen würde?
»Hey«, sage ich und tue so, als wäre es Zufall, dass wir uns hier
begegnen, obwohl es nach Mitternacht ist. »Kannst du auch nicht
schlafen?« Ich gehe an ihm vorbei zum Kühlschrank, nehme eine Flasche
Orangensaft heraus, gieße mir ein Glas ein, trinke einen Schluck und lehne
mich dann genauso lässig an die Theke wie er. Er sieht mich zwar an, aber
meine Frage beantwortet er nicht. Ich wedle mit der Hand vor seinem
Gesicht herum. »Oder schlafwandelst du gerade?«
Er grinst und betrachtet mich mit einem Blick, der mir vorkommt, als
würde er mich in sich aufsaugen. »Und du? Liebst du Orangensaft so sehr,
dass du ohne eine nächtliche Dosis nicht einschlafen kannst?«
Ich zucke nur mit den Schultern. Miles kommt auf mich zu und deutet
mit fragendem Blick auf mein Glas. Ich gebe es ihm, er trinkt einen Schluck
und gibt es mir zurück, ohne den Blickkontakt ein einziges Mal zu
unterbrechen.
Doch, ja. Ich liebe Orangensaft. Jetzt liebe ich ihn jedenfalls definitiv.
»Ich liebe Orangensaft auch sehr«, sagt er, obwohl ich ihm keine
Antwort gegeben habe.
Nachdem ich das Glas abgestellt habe, ziehe ich mich auf die
Arbeitsfläche, sodass ich ihm gegenübersitze. Ich lasse mir nicht anmerken,
wie sehr mir seine Gegenwart den Atem raubt. Es ist, als wäre er überall.
Er füllt die Küche aus.
Das gesamte Haus.
Als mir das Schweigen zu lang dauert, beschließe ich, den ersten Schritt
zu tun.
»Ist es wirklich sechs Jahre her, seit du das letzte Mal eine Freundin
hattest?«
Das Nicken kommt ohne jedes Zögern und schockt mich genauso sehr,
wie es mich mit Genugtuung erfüllt. Ich kann nicht sagen, warum das so ist.
Vielleicht freue ich mich einfach darüber, dass Miles doch nicht so ein
Frauenheld ist, wie ich befürchtet hatte.
»Wow. Aber hast du wenigstens …?« Ich verstehe selbst nicht, warum
mir die Frage peinlich ist.
»Sex gehabt?«, beendet er den Satz für mich.
Ich schlucke. »Ja.«
»Nicht alle Menschen wollen dasselbe«, sagt er. Seine Stimme ist warm
und weich wie eine Daunendecke. Ich will mich darin wälzen und
einkuscheln.
»Jeder will Liebe«, sage ich. »Oder wenigstens Sex. Das ist die
menschliche Natur.«
Was führen wir hier für ein Gespräch?
Miles verschränkt die Arme vor der Brust und stellt einen Fuß vor den
anderen. Ich spüre, wie er wieder seinen unsichtbaren Schutzschild
hochfährt und sich wappnet, um nicht zu viel von sich preiszugeben.
»Die meisten Leute schaffen es nicht, das eine ohne das andere gut zu
finden«, sagt er. »Weil ich aber das andere nicht will, verzichte ich lieber
auf beides.« Er beobachtet mich, als würde er abwarten, wie ich auf seine
Worte reagiere. Ich bemühe mich, mir nicht anmerken zu lassen, was in mir
vorgeht.
»Und was von beidem willst du nicht, Miles?« Ich hasse mich selbst
dafür, dass meine Stimme so dünn und piepsig klingt. »Liebe oder Sex?«
Seine Augen verändern sich nicht, aber um seine Mundwinkel herum tut
sich etwas. Ein kaum vorhandenes Lächeln wird sichtbar. »Ich glaube, die
Antwort darauf kennst du schon, Tate.«
Wow.
Ich atme langsam aus. Es ist mir egal, dass er mitbekommt, was seine
Worte in mir anrichten. Der Klang seiner Stimme, wenn er meinen Namen
sagt, erregt mich so sehr, wie sein Kuss es getan hat. Ich schlage die Beine
übereinander und denke, dass das meine Art ist, mich gegen ihn zu
wappnen.
Sein Blick fällt auf meine nackten Schenkel, die mein hochgerutschtes
Schlaf-T-Shirt freigibt, und ich sehe, wie er Luft holt.
Sechs Jahre. Kaum vorstellbar.
Ich senke die Lider, weil ich ihm eine Frage stellen möchte, bei der ich
ihm nicht in die Augen schauen kann. »Wie lange ist es her, dass du ein
Mädchen geküsst hast?«
»Sechs Stunden«, antwortet er wie aus der Pistole geschossen. Jetzt sehe
ich ihn doch an und er grinst, weil er natürlich weiß, wie ich die Frage
gemeint habe.
»Genauso lang«, schiebt er nach einer kleinen Pause leise hinterher.
»Sechs Jahre.«
Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber irgendetwas verändert sich in mir.
Etwas in mir schmilzt. Etwas, das hart war oder gefroren und aus dem mein
Schutzschild bestanden hat, verflüssigt sich in dem Moment, in dem ich
begreife, was unser Kuss wirklich bedeutet hat. Alles in mir ist in
Bewegung, nur ich selbst kann mich nicht mehr aus eigener Kraft bewegen.
»Ist das wahr?«, frage ich ungläubig.
Er schaut mich an und schweigt.
Ich bin ratlos. Verwirrt. Wie kann das sein? Miles sieht fantastisch aus.
Er hat einen tollen Job. Er küsst phänomenal, und ich hatte nicht den
Eindruck, dass es ihm keinen Spaß gemacht hat. Aus welchem Grund hat er
sich so lange etwas versagt, das er so leicht hätte haben können?
»Was steckt dahinter?«, frage ich. »Hast du eine Geschlechtskrankheit?«
Das ist die Krankenschwester in mir. Wenn es um medizinische Fragen
geht, kenne ich keine Hemmungen.
»Nein.« Er lacht. »Ich bin kerngesund.« Eine andere Erklärung liefert er
mir allerdings nicht.
»Du hast also sechs Jahre lang kein einziges Mädchen geküsst – und
dann küsst du mich?«, frage ich. »Du bist echt verdammt schwer zu
durchschauen, Miles. Weißt du, dass ich die ganze Zeit über das Gefühl
hatte, dass du mich nicht magst und nichts mit mir zu tun haben willst?«
Er fragt nicht nach, warum ich dieses Gefühl hatte, also nehme ich an,
dass er sich mir gegenüber ganz bewusst so verhalten hat.
»Es ist nicht so, dass ich nichts mit dir zu tun haben will, Tate.« Er fährt
sich seufzend durch die Haare und massiert seinen Nacken. »Aber es
stimmt schon, dass ich gar nicht erst darüber nachdenken will, ob ich dich
mag oder nicht. Ich will niemanden mögen. Ich will keine Beziehung. Ich
will niemanden lieben. Ich will am liebsten nur …« Er verschränkt die
Arme wieder vor der Brust und sieht auf den Boden.
»Du willst nur was?«, dränge ich ihn, den Satz zu Ende zu sprechen. Er
hebt den Kopf, sieht mich direkt an, und es fällt mir sehr schwer, ruhig
sitzen zu bleiben, weil sein Blick so hungrig ist, so voller Sehnsucht.
»Ich fühle mich von dir angezogen, Tate«, sagt er leise. »Ich will dich,
aber ich will dich ohne das Drumherum.«
Ich kann endgültig nicht mehr denken.
Gehirn – geschmolzen.
Herz – Butter.
Aber seufzen kann ich noch, also tue ich es.
Ich warte, bis ich wieder denken kann. Und dann denke ich nach.
Angestrengt.
Okay, er hat gerade zugegeben, dass er Sex mit mir will. Er will nur
nicht, dass dieser Sex zu irgendwas führt. Warum schmeichelt mir das?
Meine natürliche Reaktion sollte eigentlich sein, ihm eine runterzuhauen.
Aber die Tatsache, dass er sich entschieden hat, mich zu küssen, nachdem
er sechs Jahre lang keine andere geküsst hat, fühlt sich für mich an, als hätte
ich gerade so eine Art Preis verliehen bekommen.
Miles beobachtet mich. Wahrscheinlich denkt er, ich bin empört. Wenn
er wüsste, dass ich im Gegenteil das Bedürfnis habe, zu jubeln.
Tja, und was soll ich jetzt sagen? Unser Verhältnis war ja von Anfang an
merkwürdig und widersprüchlich, aber das jetzt, das ist die Krönung.
»Sehr seltsame Unterhaltung, die wir da führen, oder?«, spreche ich es
aus.
Er lacht auf. »Ja.«
Dieses »Ja« aus seinem Mund und mit seiner Stimme ausgesprochen
klingt so viel schöner als jedes Ja, das ich in meinem Leben je gehört habe.
Wahrscheinlich würde Miles es schaffen, jedes Wort schön klingen zu
lassen. Ich überlege, welches Wort ich total schrecklich finde. Lachs. Das
klingt kurz und abgehackt und irgendwie eklig. Ich frage mich, ob es seiner
Stimme gelingen könnte, mich dieses grässliche Wort lieben zu lassen.
»Kannst du bitte mal Lachs sagen.«
Miles hebt verwundert die Augenbrauen. Er findet mich komisch.
Das ist mir egal.
»Bitte tu mir den Gefallen.«
»L…achs«, sagt er mit leichtem Zögern.
Ich lächle. Wunderschön. Lachs ist mein neues Lieblingswort.
»Du bist merkwürdig«, sagt er belustigt.
Ich löse meine Beine voneinander und bemerke, dass sein Blick kurz
nach unten wandert, bevor er mich wieder anschaut. »Okay, Miles«, sage
ich. »Mal sehen, ob ich dich gerade richtig verstanden habe. Du hast seit
sechs Jahren keinen Sex mehr gehabt. Du hast seit etwas mehr als sechs
Stunden kein Mädchen mehr geküsst. Du hast kein Interesse an einer
Beziehung oder daran, dich zu verlieben. Aber du hast gewisse
Bedürfnisse.«
Er sieht mich ruhig an. »Sprich weiter.«
»Du willst eigentlich nichts mit mir zu tun haben, aber du findest mich
anziehend. Du willst Sex mit mir, aber nicht mit mir zusammen sein. Du
willst dich nicht in mich verlieben und genauso wenig soll ich mich in dich
verlieben.«
Er grinst. »Ich habe das Gefühl, du hast mich durchschaut.«
Oh nein, das habe ich nicht, Miles. Ganz bestimmt nicht.
»Also gut. Aber falls wir uns dazu entschließen, es miteinander zu
probieren, sollten wir es besser langsam angehen lassen«, sage ich. »Ich
will dich auf keinen Fall dazu bringen, irgendetwas zu tun, wozu du
innerlich noch nicht bereit bist. Ich meine … du bist ja praktisch Jungfrau.«
Sein Grinsen verschwindet. Und im nächsten Moment höre auch ich auf
zu lächeln, weil er so entschlossen auf mich zukommt, dass mir der Atem
stockt. Er stützt sich neben meinen Schenkeln auf die Arbeitsplatte, beugt
sich vor und bringt seinen Mund dicht an mein Ohr. »Es ist sechs Jahre her,
Tate.« Seine Stimme ist rau. »Glaub mir, wenn ich dir sage … Ich bin
bereit.«
Das Archiv meiner Lieblingswörter ist gerade um ein paar Neuzugänge
angewachsen. Sie lauten Glaub und mir und wenn und ich und dir und sage
und bin und bereit.
Oh ja. Lieblingswörter. Alle acht.
Miles richtet sich wieder auf, und ich bin mir sicher, ihm ist nicht
entgangen, dass ich die Luft angehalten habe. Er geht rückwärts, bis er mir
wieder gegenübersteht, und schüttelt den Kopf, als würde er sich selbst über
das wundern, was zwischen uns passiert. »Sorry. Ich fasse es nicht, dass ich
gerade gesagt habe, dass ich nur Sex von dir will. Welcher Mann macht so
was?«
Ich schlucke. »So ungefähr … alle?«
Er lacht, aber ich spüre, dass er sich in dieser Rolle nicht wirklich
wohlfühlt. Vielleicht hat er aber auch nur Angst, dass ich nicht damit
umgehen kann. Damit könnte er zwar durchaus recht haben, aber das werde
ich ihm garantiert nicht sagen. Wenn er denkt, dass ich damit nicht
umgehen kann, wird er nämlich alles zurücknehmen, was er gesagt hat. Und
wenn er zurücknimmt, was er gesagt hat, werde ich nie mehr so einen Kuss
erleben wie den, den er mir vor ein paar Stunden gegeben hat.
Ich bin mit allem einverstanden, was er will, wenn das bedeutet, dass er
mich noch einmal so küsst. Besonders, wenn es bedeutet, dass er
möglicherweise mehr mit mir tut, als mich bloß zu küssen.
Bei dem Gedanken wird meine Kehle eng. Ich greife nach dem
Orangensaft und trinke einen Schluck, während ich fieberhaft nachdenke.
Er will mich für Sex.
Ich habe Lust auf Sex, weil ich auch schon länger keinen mehr gehabt
habe.
Dass die Chemie zwischen uns stimmt, ist mehr als offensichtlich, und
ich kann mir niemand Geeigneteren für eine unverbindliche Bettbeziehung
vorstellen als meinen Nachbarn, den Wäsche faltenden Piloten.
»Okay, Miles.« Ich stelle das Glas ab und beuge mich leicht nach vorne.
»Du bist Single. Ich bin Single. Du arbeitest viel zu viel und ich will
unbedingt mein Studium durchziehen und muss nebenher Dienste im
Krankenhaus schieben, sodass ich eigentlich sowieso für nichts anderes
mehr Zeit habe. Selbst wenn wir es wollten, würde eine normale Beziehung
unter diesen Umständen gar nicht funktionieren. Dafür ist in unseren Leben
einfach kein Platz. Wir brauchen uns auch keine Sorgen zu machen, dass
unsere Freundschaft darunter leiden könnte, weil wir nicht befreundet sind.
Du willst Sex mit mir? Alles klar, ich bin dabei. Lass uns Sex haben. Viel
Sex.«
Er sieht meinen Mund an, als wären all die Wörter, die ich damit
ausgesprochen habe, soeben seine neuen Lieblingswörter geworden. »Viel
Sex?«, sagt er.
Ich nicke. »Ja«, bestätige ich. »Sehr viel Sex.«
Sein Blick ist herausfordernd, als hätten wir uns beide gerade auf eine
ganz spezielle Mutprobe eingelassen. »Abgemacht«, sagt er.
Ich nicke noch einmal. »Abgemacht.«
Als Miles sich nicht rührt, obwohl ich ihm gerade gesagt habe, dass ich
bereit bin, sehr viel Sex mit ihm zu haben, ohne die geringsten Erwartungen
daran zu knüpfen, wird mir klar, dass ich ihn definitiv falsch eingeschätzt
habe. Offenbar macht ihn das alles noch nervöser als mich. Wobei ich mir
ziemlich sicher bin, dass unsere Nervosität unterschiedliche Gründe hat. Ich
glaube, er ist nervös, weil er wirklich um jeden Preis vermeiden möchte, in
eine Beziehung zu rutschen.
Und ich bin nervös, weil ich tatsächlich nicht weiß, ob ich in der Lage
bin, »nur« Sex mit ihm zu haben. Die Anziehungskraft, die ich zwischen
uns spüre, reißt mir den Boden unter den Füßen weg. Trotzdem tue ich so,
als wäre Unverbindlichkeit kein Problem für mich, obwohl ich mir absolut
vorstellen kann, dass sich mehr zwischen uns entwickelt.
»Heute wird das aber nichts mehr mit dem Sex«, sagt er.
Oh.
»Warum nicht?«
»Ich hab in meinem Portemonnaie nur ein einziges Kondom, und das ist
so alt, dass es sich mittlerweile wahrscheinlich schon aufgelöst hat.«
Ich lache und stelle fest, dass ich auch seinen Humor sehr anziehend
finde.
»Aber ich würde dich gern noch mal küssen«, sagt er lächelnd.
Ich bin überrascht, dass er nicht längst dabei ist, es zu tun. »Sehr gerne«,
gebe ich zurück.
Miles stößt sich von der Theke ab, geht langsam auf mich zu und stellt
sich so vor mich, dass er zwischen meinen Beinen steht. Währenddessen
sieht er mich die ganze Zeit forschend an, als würde er damit rechnen, dass
ich meine Meinung im letzten Moment ändere. Dabei steht mein Entschluss
fest. Vielleicht will ich es sogar noch mehr als er.
Er streicht mir durch die Haare und fährt mit den Daumen sanft über
meine Wangen. Sein Blick ist jetzt auf meinen Mund gerichtet. Er holt tief
Luft. »Du machst es mir so schwer, zu atmen.«
Und dann küsst er mich. In dem Moment, in dem er seine Lippen auf
meine legt, schmilzt auch der letzte Rest von mir dahin. Ich versuche mich
zu erinnern, ob es jemals einen Mann gegeben hat, dessen Kuss sich so
unfassbar gut angefühlt hat. Seine Zunge streicht über meine Lippen, taucht
zwischen ihnen hindurch, füllt mich, nimmt mich in Besitz.
Oh … mein … Gott.
Ich
liebe
seinen
Mund.
Ich neige mich ihm entgegen, um mehr von ihm in mich aufnehmen zu
können. Er dreht den Kopf, um mich besser erforschen zu können. Seine
Zunge hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis, denn sie weiß nach all den
Jahren genau, was sie tun muss. Er lässt seine verletzte Hand auf meinen
Schenkel sinken, während er mit der anderen meinen Hinterkopf umfasst
und unsere Bewegungen lenkt. Ich klammere mich nicht mehr an seinem
Shirt fest, wie ich es im ersten Moment noch getan habe, sondern gleite an
seinen Armen hinauf, über seinen Nacken, seinen Rücken, fahre ihm durch
die Haare.
Als ich leise stöhne, zieht er mich mit einem Ruck zur Kante der
Arbeitsplatte vor und presst sich noch enger an mich.
»Nein, Sie sind eindeutig nicht schwul«, sagt eine tiefe Stimme hinter
uns.
Oh Gott.
Dad!
Scheiße.
Miles löst sich von mir.
Ich rutsche von der Arbeitsfläche.
Mein Vater geht an uns vorbei zum Kühlschrank und nimmt eine Flasche
Mineralwasser heraus, als wäre es ganz normal, seinen Thanksgiving-Gast
dabei zu erwischen, wie er mit seiner Tochter herumknutscht. Er dreht sich
um, sieht uns an und nimmt einen tiefen Schluck aus der Flasche.
»Geh ins Bett, Tate«, sagt er, stellt die Flasche zurück und lässt uns dann
in der Küche allein.
Ich stehe mit auf den Mund gepresster Hand da. Miles’ Miene ist
versteinert. Wir wären jetzt wahrscheinlich beide gern tot. Er noch mehr als
ich, da bin ich mir sicher.
»Wir sollten wirklich ins Bett«, sagt er. »Jeder in seins.«
Ich nicke stumm.
Wir berühren uns nicht, als wir aus der Küche gehen. Vor meiner
Zimmertür bleibe ich stehen.
Miles sieht schnell nach links und nach rechts, um sich zu vergewissern,
dass wir allein sind, dann beugt er sich vor und raubt mir noch einen letzten
langen Kuss. Ohne die Lippen von ihm zu lösen, gehe ich rückwärts in
mein Zimmer, aber Miles schafft es irgendwie, sich von mir loszureißen.
»Bist du sicher, dass es für dich okay ist?«, fragt er und sucht in meinen
Augen nach Zweifeln.
Ich weiß nicht, ob es okay ist. Es fühlt sich gut an und er schmeckt gut
und ich kann mir nichts vorstellen, was ich im Moment lieber tun würde, als
mich auf dieses Abenteuer mit ihm einzulassen. Was mir Sorgen macht, ist
eher, dass ich nichts über die Gründe weiß, die hinter seiner sechsjährigen
Sex-Abstinenz stecken.
»Du machst dir zu viele Gedanken«, sage ich mit gezwungenem
Lächeln. »Würde es dir helfen, wenn wir so etwas wie Regeln aufstellen, an
die wir uns halten müssen?«
Er tritt einen Schritt zurück und sieht mich schweigend an. »Vielleicht«,
sagt er nachdenklich. »Mir fallen gerade aber nur zwei Regeln ein, die mir
wichtig wären.«
»Und die wären?«
Seine Augen fixieren mich mehrere Sekunden lang. »Stell mir keine
Fragen zu meiner Vergangenheit«, sagt er mit fester Stimme. »Und erwarte
niemals eine Zukunft.«
Mir gefallen beide nicht. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich mich
umdrehen und davonrennen sollte, stattdessen nicke ich. Ich nicke, weil ich
nehme, was ich kriegen kann. Mit Miles bin ich nicht mehr Tate. Ich bin
geschmolzen. Und etwas, das geschmolzen ist, kann nicht stehen, gehen
oder rennen, es kann nur fließen. Und genau das ist es, was ich will.
Mit ihm zusammen dahinfließen.
»Okay, dann jetzt zu meiner Regel«, sage ich leise. Er wartet. Mein Kopf
ist leer. Was ist das für eine Regel, die ich gern festlegen würde? Es gibt
keine. Warum hat er Regeln und ich nicht? Er wartet immer noch. »Äh …
ich bin mir noch nicht ganz sicher, wie ich sie formulieren soll, aber eines
Tages sage ich sie dir und dann musst du dich daran halten.«
Miles lacht leise. Er beugt sich vor, drückt mir einen Kuss auf die Stirn
und geht zum Nachbarzimmer. Bevor er die Tür öffnet, wirft er noch einmal
einen Blick über die Schulter.
Ich bilde mir ein, dass der Ausdruck, den ich dabei auf seinem Gesicht
wahrnehme, Angst ist. Ich wünschte nur, ich wüsste, was ihm Angst macht.
Wovor ich Angst habe, weiß ich dagegen genau.
Davor, wie es enden wird.
Zehntes Kapitel
MILES
Regel Nummer eins, die besagt, dass keine Küsse ausgetauscht werden
dürfen, wenn mein Vater und ihre Mutter zu Hause sind, wurde inzwischen
außer Kraft gesetzt.
Sie wurde dahingehend geändert, dass Küsse nur hinter verschlossener Tür
ausgetauscht werden dürfen.
Regel Nummer zwei hat bisher aber leider Bestand. Kein Sex.
Zusätzlich wurde kürzlich noch eine dritte Regel eingeführt: keine
nächtlichen Besuche.
Lisa – ganz pflichtbewusste Mutter – hat die Angewohnheit, mitten in der
Nacht noch mal nach Rachel zu schauen.
Sie hat ja vielleicht recht, aber ich hasse sie dafür.
Wir wohnen jetzt schon seit einem ganzen Monat unter einem Dach.
Darüber, dass uns nur noch fünf Monate bleiben, reden wir nicht. Auch
nicht darüber, was wird, falls mein Vater und ihre Mutter heiraten. Wir
reden nicht darüber, dass unsere Verbindung dann sehr viel länger bestehen
bleiben wird als die fünf Monate, die wir uns geben.
Feiertage.
Wochenendbesuche.
Familienfeste.
Wir würden uns immer wieder sehen … als »Geschwister«.
Wir reden nicht darüber, weil sich das, was wir tun, dann womöglich falsch
anfühlen würde.
Wir reden auch deswegen nicht darüber, weil es schwer ist. Ich kann nicht
über den Tag hinausdenken, an dem sie nach Michigan zieht und ich
hierbleibe. Ich kann mir keinen Zeitpunkt vorstellen, an dem sie nicht mein
Ein und Alles ist.
»Sonntag sind wir wieder zurück«, kündigt Dad an.
»Du hast das Haus für dich allein. Rachel übernachtet bei einer Freundin.
Frag doch Ian, ob er hier schlafen will.«
»Hab ich schon«, lüge ich.
Auch Rachel hat gelogen. Sie bleibt hier. Wir wollten nicht, dass sie
misstrauisch werden. Es ist schwierig genug, es vor ihnen zu verbergen.
Rachel nicht die ganze Zeit verliebt anzustarren und jedes ihrer Worte
aufzusaugen. Ich würde Dad so gern von ihr vorschwärmen: wie klug sie
ist, was für interessante Sachen sie im Unterricht sagt, wie schlagfertig sie
ist und wie nett. Ich würde ihm gern sagen, dass ich mich in ein tolles
Mädchen verliebt habe, das ich ihm vorstellen möchte, weil ich mir sicher
bin, dass er sie genauso toll finden würde.
Er findet sie toll. Aber nicht so, wie ich mir das wünschen würde. Nicht als
meine Freundin.
Bevor sie fahren, sagt Lisa zu Rachel, dass sie nichts anstellen soll, aber sie
macht sich nicht wirklich Sorgen.
Rachel stellt nie etwas an. Rachel hält sich an die Regeln.
Bis auf Regel Nummer drei. Die werden wir dieses Wochenende definitiv
brechen.
Wir werden die Nacht zusammen verbringen.
Wir tun so, als wären wir Mann und Frau und das Haus wäre unser Haus.
Wir tun so, als wäre es unsere Küche. Ich stelle mich hinter sie, während sie
am Herd steht und für uns kocht, schlinge die Arme um sie, halte sie fest,
küsse ihren Nacken.
Ich halte sie vom Schneiden und Rühren und Würzen ab, weil es nichts
Schöneres gibt, als sie zu fühlen und zu berühren. Sie tut so, als würde ich
sie stören, aber ich weiß, dass sie es genießt.
Nach dem Essen setzen wir uns auf die Couch. Wir schauen einen Film,
gucken aber nicht hin. Wir können nicht aufhören, uns zu küssen. Wir
küssen uns, bis unsere Lippen brennen. Streicheln uns, bis unsere Finger
taub werden. Bis jede Faser in unserem Körper schmerzt, weil wir kaum an
uns halten können.
Es wird ein langes Wochenende werden.
Ich beschließe, dass ich dringend eine Dusche brauche, weil ich sonst nicht
in der Lage bin, Regel Nummer zwei noch länger einzuhalten.
Ich dusche in ihrem Bad. In meinem alten Bad. Ich mag es jetzt lieber als
früher. Ich mag es, ihre Sachen hier stehen zu sehen. Ich sehe ihren Rasierer
und stelle mir vor, wie sie ihn benutzt. Ich sehe die Shampoo-Flaschen und
stelle mir vor, wie sie ihren Kopf unter dem Wasserstrahl neigt, um den
Schaum auszuspülen.
Ich finde es schön, dass meine Dusche jetzt ihre Dusche ist.
»Miles?« Sie klopft, dann ist sie auch schon im Bad. Das Wasser prasselt
heiß auf meine Haut, aber als ich ihre Stimme höre, wird mir noch heißer.
Ich ziehe den Duschvorhang auf. Vielleicht öffne ich ihn absichtlich weit,
weil ich sie dazu bringen möchte, Regel Nummer zwei brechen zu wollen.
Ihr Blick sieht, was er sehen soll, und sie holt tief Luft.
Ich lache.
Sie schaut mich an.
Sie sagt es nicht, aber sie will zu mir unter die Dusche.
»Komm her«, lade ich sie ein.
Meine Stimme ist so heiser, als hätte ich geschrien.
Ich schließe den Vorhang wieder, während sie sich auszieht. Ich habe sie
noch nie ohne Kleidung gesehen. Ich habe nur berührt, was sich darunter
verbarg.
Plötzlich werde ich nervös.
Sie macht das Licht aus.
»Ist das okay für dich?«, fragt sie schüchtern.
»Klar«, sage ich, obwohl ich mir wünsche, sie wäre selbstbewusster. Ich
will dafür sorgen, dass sie selbstbewusster wird.
Sie zieht den Vorhang auf, und erst sehe ich nur einen Fuß, den sie in die
Dusche setzt, dann folgt der Rest von ihr. Ich schlucke.
Das Licht, das durch den Türspalt fällt, taucht ihren Körper in einen
weichen Schimmer.
Ich kann genug von ihr sehen.
Ich kann sie perfekt sehen.
Sie schaut mir in die Augen. Ich würde gern wissen, ob sie schon einmal
mit einem Jungen geduscht hat, frage sie aber nicht. Ich gehe auf sie zu,
weil ich das Gefühl habe, dass sie Angst hat. Sie soll keine Angst haben.
Ich habe Angst.
Ich umfasse ihre Schultern und ziehe sie behutsam unter den Wasserstrahl.
Ich presse mich nicht an sie, obwohl ich mich danach sehne, es zu tun. Ich
halte Abstand.
Muss Abstand halten.
Das Einzige, das uns verbindet, sind unsere Lippen. Ich küsse sie sanft,
berühre kaum ihren Mund, aber es tut so weh. Es tut schlimmer weh als alle
anderen Küsse, die wir jemals ausgetauscht haben. Küsse, bei denen unsere
Lippen zusammenprallten, unsere Zähne aufeinanderschlugen. Hektische,
eilige Küsse, feucht vor ungeduldigem Verlangen. Küsse, die damit
endeten, dass ich sie in die Lippe biss oder sie mich.
Aber keiner dieser Küsse tat so weh wie dieser und ich weiß nicht, warum
ausgerechnet er jetzt so schmerzt.
Ich muss mich von ihr lösen. Als ich ihr sage, dass ich eine kleine Auszeit
brauche, nickt sie und schmiegt ihre Wange an meine Brust. Ich lehne mich
gegen die Wand und ziehe sie eng an mich, während ich mit geschlossenen
Augen dastehe.
Ich spüre, wie die Worte in mir die Mauer zu durchbrechen versuchen, die
ich um sie herum errichtet habe. Immer, wenn ich mit ihr zusammen bin,
drängen sie nach außen, aber ich schichte Ziegel auf Ziegel, um die Mauer
zu verstärken. Rachel muss diese Worte nicht hören.
Ich muss sie nicht sagen.
Trotzdem wollen sie mit aller Gewalt nach draußen. So ist es immer, wenn
wir uns so nah sind. Jedes Mal endet es damit, dass ich eine kleine Auszeit
brauche und dass Rachel sie mir gibt. Jetzt wollen die Worte dringender
heraus als je zuvor. Sie wollen an die Luft. Sie verlangen, gehört zu werden.
Die Mauer kann nur soundso lang standhalten, bis sie einstürzt.
Unsere Lippen können sich nur soundso oft berühren, ohne dass die in mir
aufgestauten Wörter über die Mauer schwappen und durch die Risse
quellen und in meiner Kehle aufsteigen, bis ich Rachels Gesicht in beide
Hände nehme und ihr in die Augen sehe und zulasse, dass sie alle
Hindernisse niederreißen, die zwischen uns und dem unvermeidlichen
Zerbrechen unserer Herzen stehen.
Die Wörter kommen sowieso.
»Ich kann nichts sehen«, sage ich.
Ich weiß, dass sie nicht weiß, wovon ich spreche. Ich will es nicht erklären
müssen, aber … die Wörter kommen sowieso. Sie sind stärker.
»Wenn ich daran denke, was sein wird, wenn du nach Michigan ziehst und
ich hierbleibe, dann … sehe ich nichts. Früher hatte ich die Zukunft, die ich
mir gewünscht habe, immer klar vor Augen. Jetzt sehe ich da nur Leere.«
Ich küsse die Träne weg, die ihre Wange hinabrollt.
»Ich ertrage das nicht«, sage ich. »Du bist das Einzige, was ich sehen
möchte, und wenn ich dich nicht haben kann … dann hat nichts mehr einen
Sinn. Mit dir ist es besser, Rachel. Alles ist besser mit dir.« Ich küsse sie
fest auf den Mund, und jetzt, wo die Wörter sich befreit haben, ist auch der
Schmerz verschwunden.
»Ich liebe dich«, sage ich, und damit sind auch die letzten Wörter
ausgesprochen.
Ich küsse sie, um ihr gar nicht erst die Gelegenheit zu geben, etwas darauf
zu antworten. Sie soll nichts sagen, wofür sie noch nicht bereit ist. Erst
recht soll sie nicht sagen, dass das, was ich fühle, falsch ist.
Sie legt die Arme um mich, zieht mich an sich, eng, noch enger, und
schlingt ihre Beine um meine, als würde sie versuchen, in mich
hineinzukriechen.
Dabei ist sie doch schon längst in mir.
Und dann finden sich unsere Lippen mit einem Mal wieder, hungrig,
hektisch, Zähne aufeinanderschlagend, beißend, keuchend.
Rachel stöhnt und ich spüre, wie sie versucht, sich von meinem Mund zu
lösen, aber meine Hand ist in ihren Haaren vergraben und ich presse meinen
Mund auf ihren und hoffe, dass sie niemals Luft holen muss.
Sie stemmt sich gegen mich, bis ich sie loslasse.
Ich lege meine Stirn auf ihre und atme schwer, um meine Gefühle im Zaum
zu halten und daran zu hindern, voranzupreschen.
»Miles«, sagt sie atemlos. »Miles, ich liebe dich. Ich habe solche Angst. Ich
will nicht, dass das mit uns zu Ende geht.«
Du liebst mich, Rachel.
Ich halte sie an den Schultern ein Stück von mir weg und sehe ihr in die
Augen.
Sie weint.
Sie soll keine Angst haben müssen. Ich verspreche ihr, dass alles gut wird.
Dass wir warten, bis wir unseren Abschluss gemacht haben, und es ihnen
dann sagen. Dass sie es dann akzeptieren müssen. Wenn wir nicht mehr zu
Hause wohnen, wird alles anders. Dann wird alles gut. Sie werden es
verstehen müssen.
Ich sage ihr, dass wir das hier haben.
Sie nickt wie im Fieber.
»Wir haben das hier«, antwortet sie.
Ich drücke meine Stirn gegen ihre. »Genau so ist es, Rachel. Wir haben das
hier.«
»Ich kann dich nicht aufgeben. Auf keinen Fall.«
Sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände und küsst mich.
Du hast dich in mich verliebt, Rachel.
Ihr Kuss nimmt ein Gewicht von meiner Brust, das so schwer war, dass ich
mich jetzt fühle, als würde ich schweben.
Und sie schwebt mit mir.
Ich drehe sie langsam mit dem Rücken zur Wand, hebe ihre Arme über
ihren Kopf, flechte meine Finger in ihre, sehe ihr tief in die Augen und
dann …
… brechen wir Regel Nummer zwei, bis sie in tausend Scherben liegt.
Dreizehntes Kapitel
TATE
In meinem Kopf blinken bunte Lämpchen auf und ich höre eine Melodie,
als hätte ich eben den Jackpot geknackt. Er hat sich heimlich meine
Nummer besorgt!
Nach einer Viertelstunde höre ich, wie drüben der Fernseher ausgeschaltet
wird. Fünf Sekunden nachdem Corbin in sein Zimmer gegangen ist und die
Tür zugemacht hat, öffne ich meine. Ich schleiche mich durchs Apartment,
schlüpfe hinaus und stoße im Flur fast mit Miles zusammen, der
anscheinend gerade von seiner Besorgung zurückgekommen ist. Er hat eine
Plastiktüte in der Hand, die er aber so hält, dass ich ihren Inhalt nicht sehen
kann.
»Perfektes Timing«, sagt er und schließt seine Tür auf. »Nach dir, Tate.«
Nein, Miles. So funktioniert das bei uns nicht. Du führst, ich folge. Du
bist das Boot, ich bin das Wasser.
»Möchtest du etwas trinken?«
Ich bleibe zögernd stehen, als er in die Küche geht. Worauf habe ich
mich da nur eingelassen? Ich habe Angst, dass er schon sehr bald merken
wird, dass ich noch nie eine Beziehung gehabt habe, in der es so etwas wie
Regel Nummer eins und zwei gab. Wenn sowohl die Vergangenheit als auch
die Zukunft tabu sind, bleibt nur die Gegenwart. Aber genau die überfordert
mich. Ich habe gerade keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll.
Schließlich entscheide ich mich dafür, in die Küche zu gehen. »Was
kannst du mir denn anbieten?«, frage ich.
Miles hat die Tüte auf die Theke gestellt. Als er meinen neugierigen
Blick bemerkt, schiebt er sie so weit weg, dass ich nicht hineinsehen kann.
»Sag du mir, was du willst, und ich schaue mal nach, ob ich es dahabe«,
sagt er.
»Orangensaft.«
Er greift grinsend in die Tüte und zieht eine Flasche Orangensaft hervor.
Dass er extra welchen besorgt hat, beweist, wie fürsorglich er ist.
Wahrscheinlich beweist es aber auch, dass es nicht viel braucht, um mich
dahinschmelzen zu lassen. Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass meine Regel
lautet: Tu nichts, was mich dazu verleiten könnte, mich nicht mehr an deine
Regeln halten zu wollen.
Ich nehme ihm den Orangensaft lächelnd aus der Hand. »Und was hast
du noch gekauft?«
Er zuckt mit den Achseln. »Sachen.«
Er sieht mir zu, wie ich den Deckel aufschraube und aus der Flasche
trinke. Er sieht mir zu, wie ich den Deckel wieder zuschraube und den Saft
auf die Theke stelle. Aber er sieht nicht, welcher Entschluss in mir gereift
ist, und ist deshalb vollkommen unvorbereitet, als ich mich blitzschnell
vorbeuge und mir die Tüte schnappe.
Ich habe sie schon in der Hand, als er von hinten einen Arm um meine
Taille schlingt und mich festhält. »Leg sie wieder zurück, Tate.«
Ich werfe schnell einen Blick hinein.
Kondome.
Lachend werfe ich die Tüte auf die Theke. Miles lässt seine Arme nicht
sinken, als ich mich umdrehe. »Ich würde jetzt gern irgendeine bescheuerte
oder peinliche Bemerkung machen, aber mir fällt blöderweise keine ein. Tu
einfach so, als hätte ich was gesagt, und lach drüber.«
Er lacht nicht, hält mich aber immer noch umschlungen. »Du bist echt
merkwürdig«, sagt er.
»Ist mir egal.«
Er lächelt. »Was wir hier machen, ist merkwürdig.«
Es mag merkwürdig sein, aber für mich fühlt es sich verdammt gut an.
»Ist merkwürdig für dich gut oder schlecht?«
»Beides«, sagt er. »Keins von beidem.«
»Du bist merkwürdig«, sage ich.
Er grinst. »Ist mir egal.«
Und dann streicht er mir langsam über den Rücken bis zu den Schultern
hinauf und anschließend die Arme hinab, bis seine Finger meine
umschließen.
Als ich den Verband spüre, fällt mir auf, dass ich seine Verletzung ganz
vergessen hatte. »Wie geht es deiner Hand?«
»Alles gut«, behauptet er.
»Ich schaue mir die Naht morgen noch mal an«, sage ich.
»Morgen bin ich nicht mehr da«, sagt er. »Ich muss in ein paar Stunden
los zum Flughafen.«
Mir schießen zwei Gedanken durch den Kopf. Erstens: Oh nein, warum
muss er gleich schon wieder weg? Zweitens: Warum bin ich hier, wenn er
gleich schon wieder wegmuss?
»Aber wäre es dann nicht besser, wenn du dich vorher noch
ausschläfst?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich kann jetzt nicht schlafen.«
»Du hast es doch noch nicht mal versucht«, sage ich. »Du kannst kein
Flugzeug fliegen, wenn du vorher nicht geschlafen hast, Miles.«
»Der erste Flug ist eine Kurzstrecke und ich bin bloß Copilot.«
Okay, Schlaf ist aktuell anscheinend kein Programmpunkt. Tate schon.
Tate steht also auf der Prioritätenliste über Schlaf.
Ich frage mich, was über Tate steht.
»Tja dann«, flüstere ich und lasse seine Hand los. Ich zögere, weil ich in
meinem Kopf nichts finde, was diesem dann folgen könnte.
Wir schweigen.
Es ist ein etwas verkrampftes Schweigen.
»Tja dann«, sagt auch er. Die Finger seiner gesunden Hand schieben sich
zwischen meine Finger und spreizen sie. Meine Finger mögen seine Finger.
»Möchtest du wissen, wie lang es bei mir her ist, seit ich das letzte Mal
Sex hatte?«, frage ich.
Es ist nur fair, es ihm zu sagen, wenn man bedenkt, dass meine gesamte
Familie darüber informiert ist, wann er das letzte Mal Sex hatte.
»Nein«, antwortet er. »Aber ich möchte dich küssen.«
Hm. Ich weiß zwar nicht, was ich davon halten soll, dass er sich so
wenig für mich interessiert, aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um das zu
analysieren, schließlich hat er einen sehr konkreten Wunsch geäußert.
»Dann küss mich.«
Seine Finger lösen sich von meinen, er lächelt und umfasst meinen
Nacken. »Hoffentlich schmeckst du wieder nach Orangen.«
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Wörter.
Ich zähle sie und suche in meinem Kopf nach einer Schublade, in der ich
sie sicher verwahren kann. Auf das Etikett schreibe ich: Sätze, an die ich
mich später erinnern kann, wenn seine idiotischen Regeln meine Gegenwart
traurig und einsam gemacht haben.
Miles ist in meinem Mund. Er fordert Raum und Aufmerksamkeit. Ich
schließe die Schublade in meinem Geist und kehre zu ihm zurück.
Mach weiter, Miles. Ich will mich ganz von dir beherrschen lassen.
Offenbar schmecke ich tatsächlich nach Orangen, denn er küsst mich so
hungrig, als könnte er nicht genug davon bekommen. Und mir geht es
genauso. Eng an ihn gepresst, gebe ich mich seinem Kuss hin und stelle mir
vor, wie ich in ihn hineinschlüpfe und ihn von Kopf bis Fuß mit dem Tate-
Virus infiziere.
Irgendwann löst er sich keuchend von mir, um Atem zu holen. »Ich hatte
vergessen, wie gut sich das anfühlt.«
Vergleicht er mich? Ich will nicht, dass er mich mit derjenigen
vergleicht, bei der es sich für ihn auch so gut angefühlt hat. Oder
womöglich besser?
»Soll ich dir mal was sagen?«, fragt er.
Ja. Ich will es hören. Ich will alles hören, was er mir zu sagen hat. Aber
statt es auszusprechen, beschließe ich, dass das jetzt der Moment der Rache
dafür ist, dass er vorhin so wenig Interesse an dem gezeigt hat, was ich ihm
gern gesagt hätte.
»Nein«, sage ich, nehme sein Gesicht in die Hände und ziehe seinen
Mund wieder an meinen. Er erwidert meinen Kuss nicht sofort, weil er
wahrscheinlich nicht weiß, was er von meinem knappen »Nein« halten soll,
holt den Rückstand nach kurzem Zögern aber schnell wieder auf. Ich
glaube, er findet mein scheinbares Desinteresse genauso verletzend wie ich
seines vorher, weshalb er jetzt seine Hände einsetzt, um sich wiederum an
mir zu rächen. Ich kann nicht sagen, wo genau er mich berührt, denn sobald
ich seine Finger an einer Stelle meines Körpers spüre und zu genießen
beginne, sind sie schon wieder woanders. Er berührt mich überall und
nirgends, gar nicht und pausenlos zugleich.
Ich mag es, dass ich unseren Kuss nicht nur fühlen, sondern auch hören
kann. Ich mag, wie es sich anhört, wenn seine Lippen über meine gleiten.
Ich mag unseren erregten Atem, während wir einander verschlingen. Sein
leises Stöhnen, sobald unsere Zungen sich vereinigen. Die Männer, die ich
bisher geküsst habe, waren eher leiser als ich.
Miles nicht. Miles will mich und er will, dass ich es weiß. Das liebe ich.
Und wie ich es liebe.
»Tate«, raunt er irgendwann an meinen Lippen, »lass uns ins
Schlafzimmer rübergehen.«
Als ich nicke, löst er sich von meinem Mund und greift über die Theke,
um die Schachtel mit den Kondomen aus der Tüte zu nehmen. Er geht vor,
macht dann aber noch einmal kehrt und holt auch noch den Orangensaft.
Als er sich an mir vorbeischiebt, um mich an der Hand zu nehmen und ins
Schlafzimmer zu führen, zwinkert er mir zu.
Die Gefühle, die dieses Zwinkern in mir auslöst, machen mir Angst vor
dem, was ich fühlen werde, wenn er in mir ist. Ich weiß nicht, ob ich das
überleben werde.
Als wir kurz darauf im Schlafzimmer stehen, erstarre ich. Vielleicht liegt
es daran, dass wir in seiner Wohnung sind und er allein das Tempo und die
Bedingungen diktiert, jedenfalls fühle ich mich plötzlich ausgeliefert.
»Was ist?«, fragt Miles. Er zieht seine Schuhe aus, geht zum
angrenzenden Bad, macht das Licht aus und schließt die Tür.
»Ich bin bloß ein bisschen … nervös«, flüstere ich und sehe mich im
Schlafzimmer um. Was wir hier gleich tun, wird normalerweise nicht vorher
besprochen, sondern entwickelt sich spontan aus der Hitze eines Moments
heraus. In der Regel weiß keiner der Beteiligten, was oder ob überhaupt
etwas passieren wird.
Miles und ich wissen genau, was passieren wird.
Er setzt sich aufs Bett. »Komm her.«
Unsicher lächelnd gehe ich zu ihm. Er umfasst von hinten meine
Oberschenkel und drückt über dem T-Shirt seine Lippen auf meinen Bauch.
Ich lege ihm die Hände auf die Schultern. Er sieht zu mir auf, und der
Ausdruck in seinen Augen ist so ruhig, dass ich mich sofort entspanne.
»Wir können es langsam angehen lassen«, sagt er. »Es muss nicht heute
Nacht passieren, Tate. Das ist keine Bedingung.«
Ich lache, schüttle aber gleichzeitig den Kopf. »Nein, ist schon gut. Du
musst in ein paar Stunden weg und bist dann – wie lange fort? Vier, fünf
Tage?«
»Diesmal sind es neun«, sagt er.
Neun. Ich hasse diese Zahl.
»Ich möchte nicht, dass du nach sechs Jahren noch mal ganze neun Tage
warten musst, wo du dir doch schon solche Hoffnungen gemacht hast«,
versuche ich die Stimmung durch einen Witz aufzulockern. »Das wäre ja
Folter.«
Seine Hände gleiten meine Schenkel hinauf, streichen über meine
Hüften zum Bauch, dann öffnet er den Knopf meiner Jeans.
»Zu warten und mir dabei vorzustellen, bald das hier mit dir machen zu
dürfen, ist keine Folter«, sagt er ernst, und während er sehr langsam den
Reißverschluss herunterzieht, schlägt mein Herz so heftig, dass es sich
anfühlt, als würde in meinem Brustkorb jemand hämmern. Vielleicht
zimmert sich mein Herz ja eine Leiter zum Himmel, weil es weiß, dass es
gleich explodieren und sterben wird, wenn er so weitermacht.
»Für mich wäre es Folter«, flüstere ich heiser.
Jetzt ist der Reißverschluss offen. Miles lässt seine Hand in meine Jeans
gleiten und beginnt sie nach unten zu schieben.
Ich schließe die Augen und versuche nicht zu schwanken, obwohl mir
schwindelig wird, weil er gerade mit der anderen Hand mein T-Shirt so weit
hochgezogen hat, dass er seine Lippen auf meinen nackten Bauch drücken
kann. Das Gefühl ist so überwältigend, dass ich nach Luft schnappe.
Jetzt spüre ich seine Hände an meinen nackten Schenkeln. Miles hat mir
die Jeans inzwischen bis zu den Knien hinuntergeschoben, seine Zunge
leckt heiß über meinen Bauch und ich verkralle die Finger in seinen dichten
Haaren.
Als ich die Hose an den Fußgelenken spüre, steige ich gleichzeitig aus
der Jeans und meinen Schuhen. Miles streicht mit den Handflächen wieder
meine Beine hinauf, dann packt er mich am Po und zieht mich mit einem
Ruck auf seinen Schoß. Ich keuche auf.
Ich kann nicht sagen, warum ich selbst so passiv bleibe, als wäre ich
komplett unerfahren. Aber ich habe nichts dagegen, dass er die Führung
übernimmt.
Ganz und gar nichts.
Gehorsam hebe ich die Arme, als er mir das Top über den Kopf zieht. Er
wirft es hinter mich auf den Boden, beugt sich vor und küsst mich wieder,
während er sich am Verschluss meines BHs zu schaffen machen.
Gleich habe ich nur noch ein einziges Kleidungsstück an und er ist
immer noch völlig angezogen.
Er lehnt sich zurück und betrachtet mich. »Du bist schön«, flüstert er.
Seine Zeigefinger gleiten unter die Träger des BHs, damit er sie mir über
die Schultern ziehen kann. Ich halte den Atem an, während ich darauf
warte, dass er ihn ganz abgestreift hat. Vor lauter Verlangen danach, seinen
Mund auf meiner Haut zu spüren, kann ich nicht mehr klar denken. Als der
BH fällt und meine Brüste entblößt, atmet Miles leise aus. »Wow«, sagt er.
Ich bilde mir ein, dass seine Stimme leicht zittert.
Der BH landet ebenfalls auf dem Boden. Miles lächelt, legt seine Lippen
auf meine und küsst mich so zart, dass ich wieder das Gefühl habe, zu
schmelzen. Er lehnt sich zurück, nimmt mein Gesicht in die Hände und
sieht mich fragend an. »Hast du Spaß?«
Ich muss mir auf die Unterlippe beißen, um mich daran zu hindern, so
breit zu lächeln, wie ich es eigentlich möchte. Miles beugt sich vor,
schnappt sich meine Lippe mit dem Mund und liebkost sie kurz. »Mach das
nicht noch mal«, sagt er. »Ich mag dein Lächeln.«
Natürlich lächle ich wieder.
Ich lasse meine Hände abwärtswandern und zupfe auffordernd an seinem
T-Shirt, worauf er die Arme in die Höhe reckt, damit ich es ihm ausziehen
kann. Danach lehne ich mich zurück, betrachte ihn so eingehend, wie er
mich vorher betrachtet hat, und streiche andächtig über seinen muskulösen
Brustkorb. »Du bist auch schön.«
Er bringt mich mit leichtem Druck seiner Hände dazu, den Rücken
durchzubiegen, senkt seinen Mund zu meinen Brüsten, die sich ihm
entgegenrecken, und umspielt mit der Zungenspitze sanft eine Brustwarze.
Als ich leise aufstöhne, nimmt er sie ganz in den Mund.
Mit einer Hand streichelt er zu meiner Hüfte hinunter und fährt dann mit
den Fingern unter dem Bund meines Slips entlang. »Ich würde dich jetzt
gern auf den Rücken legen«, raunt er. Als ich stumm nicke, steht er
mühelos mit mir auf, dreht sich um und lässt mich aufs Bett gleiten. Er
beugt sich über mich und zieht mir den Slip ein Stück herunter, während
seine Zunge wieder zwischen meine geöffneten Lippen gleitet. Ich nestle
fiebrig am Knopf seiner Jeans, aber er richtet sich hastig auf. »Das würde
ich an deiner Stelle noch nicht machen«, warnt er. »Sonst ist es schneller
vorbei, als es angefangen hat.«
Mir ist egal, wie lang es dauert. Ich will einfach nur, dass er sich endlich
auch auszieht.
Miles kniet sich neben mich, hebt mein rechtes Bein an, um mir den Slip
über den Fuß zu streifen, und macht dann das Gleiche mit dem linken.
Anschließend steht er vom Bett auf, tritt einen Schritt zurück und sieht auf
mich herab. Dabei schaut er mir definitiv nicht in die Augen.
»Wow«, sagt er noch einmal.
Ich liege splitternackt vor ihm, während er bis auf das T-Shirt noch
vollständig bekleidet ist. »Du bist noch angezogen«, sage ich. »Das ist ein
bisschen unfair, oder?«
Miles schüttelt den Kopf, atmet tief durch, dann lässt er seinen Blick
langsam über meinen Körper wandern, bis er bei meinen Augen angelangt
ist. »Das ist einfach zu hart, Tate. Ich schaffe das nicht.«
Ich spüre, wie Enttäuschung in mir aufsteigt.
Miles beugt sich, immer noch kopfschüttelnd, zum Nachttisch, greift
nach der Kondomschachtel, nimmt eines heraus und reißt die Verpackung
mit den Zähnen auf.
»Es tut mir leid«, sagt er mit rauer Stimme, während er sich die Jeans
aufknöpft. »Ich hatte fest vor, dich nach allen Regeln der Kunst zu
verführen und langsam in den Wahnsinn zu treiben, damit du den Abend
heute nie mehr vergisst.« Mittlerweile hat er sich die Jeans ausgezogen und
sieht mich an, aber ich habe Schwierigkeiten, den Blickkontakt zu halten,
weil er sich zusammen mit der Hose gleich auch noch die Boxershorts
ausgezogen hat und jetzt vollkommen nackt vor mir steht. »Aber ich
fürchte, ich … ich kann einfach nicht mehr so lange warten.«
Er kniet sich zwischen meine Beine und streift das Kondom über. »Ich
mache es nachher wieder gut, versprochen«, sagt er und wartet auf mein
Einverständnis.
»Miles«, flehe ich atemlos. »Nicht so viel reden, bitte. Ich will dich in
mir spüren.«
»Danke, Tate.« Er beugt sich vor und küsst mich zärtlich, dann hebt er
mein linkes Bein hoch und legt es sich über die Hüfte. Im nächsten Moment
dringt er so unerwartet schnell in mich ein, dass ich einen leisen Schrei
nicht unterdrücken kann. Er fragt nicht, ob er langsamer machen soll,
sondern stößt so heftig zu, dass wir uns so nah sind, wie sich zwei
Menschen nur sein können.
Ich stöhne in seinem Mund, er stöhnt an meinem Hals und ich spüre
seine Lippen und Hände auf einmal überall. Was wir miteinander tun, ist
roh. Es ist sinnlich und lustvoll und alles andere als geräuschlos. Das
Tempo nimmt zu, und als ich unter meinen Händen spüre, wie sich die
Muskeln in Miles’ Rücken anspannen, ahne ich, dass er recht hatte: Es wird
nicht lange dauern.
»Tate«, keucht er. »Gott, Tate.«
Seine Schenkel verhärten sich und er beginnt am ganzen Körper zu
zittern. »Oh Gott«, stöhnt er und presst seine Lippen hart auf meine, bevor
er mit einem Mal ganz still wird, trotz des Schauders, der ihn von den
Schultern bis zu den Beinen erfasst. Er hebt den Kopf, atmet tief aus und
drückt seine Stirn an meine Schläfe. »Oh mein Gott, Tate!«, stößt er hervor.
Immer noch zitternd. Immer noch tief in mir.
In dem Moment, in dem er sich aus mir herauszieht, spüre ich, wie seine
Lippen an meinem Hals abwärtsgleiten, bis sie bei meinen Brüsten
angekommen sind, die er aber nur kurz mit der Zunge liebkost, bevor er
wieder zu meinem Mund zurückkehrt. »Ich möchte dich schmecken«, sagt
er. »Ist das in Ordnung?«
Ich nicke.
Und wie ich nicke.
Miles steht auf, um das Kondom zu entsorgen, und kehrt schnell wieder
zu mir zurück. Ich lasse ihn keine Sekunde aus den Augen, weil es – auch
wenn er das nicht wissen wollte – beinahe ein ganzes Jahr her ist, seit ich
das letzte Mal Sex hatte. Das sind zwar nicht einmal annähernd die sechs
Jahre, die er gewartet hat, aber doch lang genug, um nicht einen Moment
von dem, was hier gerade passiert, verpassen zu wollen. Zumal ich jetzt
gerade einen perfekten Blick auf das makellose V zwischen seinen Lenden
habe und sowieso nicht wegschauen kann.
Er betrachtet meinen Körper mit der gleichen Faszination wie ich seinen,
während er seine Hand langsam über meinen Bauch und dann weiter nach
unten zu meinen Schenkeln gleiten lässt. Er spreizt sie sanft und betrachtet
mich mit solcher Hingabe und Lust, dass ich die Augen schon allein
deshalb offen halten muss, damit ich sehen kann, wie er mich ansieht. Er
muss mich gar nicht berühren – mitzubekommen, was mein Anblick in ihm
auslöst, erregt mich mehr als alles, was ich mir vorstellen kann.
Aber dann berührt er mich doch, und in dem Moment, in dem seine
Finger in mich hineingleiten, fällt es mir plötzlich erheblich schwerer, ihn
weiter anzusehen. Sein Daumen massiert die Stellen außerhalb meines
Körpers, die er erreichen kann, was dazu führt, dass ich aufstöhne und den
Kopf aufs Bett zurückfallen lasse, wobei sich meine Lider automatisch
schließen.
Ich bete, dass er nicht aufhört. Ich will auf gar keinen Fall, dass er damit
aufhört.
Nach einer Weile richtet Miles sich ein Stück auf, dann spüre ich
plötzlich wieder seinen Mund auf meinem, und die unendliche Sanftheit,
mit der er mich küsst, steht in köstlichem Gegensatz zum Druck seiner
Finger und seines Daumens. Seine Lippen küssen sich zu meinem Hals und
der Kuhle des Schlüsselbeins hinunter, weiter zu den Brüsten, wo sie erst
bei der einen, dann bei der anderen einen Moment kosend verweilen, bis sie
schließlich den Bauch hinab zum Nabel wandern, immer weiter nach unten,
noch weiter …
Oh Gott!
Miles beugt sich zwischen meine Beine und lässt seine Finger tief in mir,
während seine lockende Zungenspitze mich teilt und dazu zwingt, den
Rücken durchzudrücken und loszulassen.
Ich lasse los.
Lasse einfach los.
Mein Stöhnen ist so laut, dass ich vermutlich gerade die Bewohner des
gesamten Stockwerks wecke, aber das ist mir egal.
Ich bohre die Fersen in die Matratze und dränge mich seinem Mund
entgegen, während mein Körper sich zugleich von ihm wegstemmt, weil
das, was ich fühle, so unfassbar intensiv ist, dass ich es kaum ertragen kann.
Miles nimmt die Finger aus mir heraus, packt mich an den Hüften, presst
mich an seinen Mund und lässt nicht zu, dass ich mich von ihm
wegbewege – zum Glück.
Ich greife mit beiden Händen in seine Haare und tue ihm wahrscheinlich
weh, weil ich mich so darin verkralle, aber auch das ist mir egal. Ich halte
seinen Kopf fest, damit er den Mund nicht von der Stelle wegbewegt, an der
er mir so viel Lust bereitet, dass ich einen Punkt erreiche, an dem ich noch
nie zuvor gewesen bin.
Sobald meine Beine zu zittern beginnen und seine Finger wieder ihren
Weg in mich finden, taste ich nach dem Kissen und drücke es mir aufs
Gesicht, um meine Schreie zu ersticken, weil ich nicht will, dass er wegen
nächtlicher Ruhestörung aus dem Apartment geworfen wird.
Es fühlt sich an, als würde ich hoch in die Luft gehoben, es fühlt sich an,
als würde ich fliegen. Als könnte ich den Sonnenaufgang sehen, wenn ich
hinunterschaute. Als würde ich noch höher steigen und … höher.
Ich …
Oh mein Gott.
Ich …
Jesus.
Ich … das ist … Er.
Ich falle.
Ich schwebe.
Wow.
Wow, wow, wow.
Ich will nie mehr auf dem Boden aufkommen.
Als ich schwer atmend auf dem Bett zerschmolzen bin, küsst Miles sich
gierig meinen Körper hinauf und legt seine Lippen auf meine.
»Noch mal«, sagt er, ist plötzlich weg und gleich wieder da und auch
schon wieder in mir. Ich lasse die Augen geschlossen. Meine Arme liegen
über meinem Kopf, er verschränkt seine Finger mit meinen und dann dringt
er tief in mich ein, lässt mich sich ganz spüren. Wir pressen die Wangen
aneinander, sein Gesicht ist ins Kissen gedrückt, und diesmal sind wir vor
Erschöpfung beide ganz still.
Er dreht den Kopf, bis seine Lippen an meinem Ohr sind, dann
verlangsamt er seinen Rhythmus, gleitet in mich hinein und zieht sich im
nächsten Moment vollständig aus mir heraus. Das wiederholt er ein
paarmal, während ich nur daliege und mich darauf konzentriere, ihn zu
fühlen.
»Tate«, flüstert er, als er sich das nächste Mal aus mir herauszieht, und
hält schwer atmend inne. »Eins kann ich jetzt schon mit
einhundertprozentiger Sicherheit sagen …«
Er dringt wieder in mich ein.
»Das …«
Er zieht sich heraus und dringt wieder ein.
»… ist …«
Noch einmal.
»… das …«
Und noch einmal.
»… Beste …«
Und noch einmal.
»… was …«
Und noch einmal.
»… ich …«
Und noch einmal.
»… je …«
Und noch einmal.
»… gefühlt …«
Und noch einmal.
»… habe …«
Er hält einen kurzen Moment inne. Ich spüre seine schweren Atemzüge
an meinem Ohr, und er hält meine Hände so fest, dass es wehtut. Aber er
gibt keinen einzigen Laut von sich, als er zum zweiten Mal kommt.
Wir bewegen uns nicht.
Lange Zeit liegen wir so da.
Ich bin außerstande, mir das selig erschöpfte Lächeln vom Gesicht zu
wischen, und ziemlich sicher, dass ich es ab jetzt für immer mit mir
herumtragen werde.
Miles stemmt sich auf die Ellbogen und sieht auf mich herab. Er lächelt
mich an, und auf einmal fällt mir auf, dass wir uns kein einziges Mal in die
Augen gesehen haben, während er in mir war. War das nur Zufall?
»Irgendwelche Kommentare?«, fragt er grinsend. »Oder
Verbesserungsvorschläge?«
Ich lache. »Tut mir leid, ich … Ich bin … Ich kann nicht … Keine
Worte …«, stammle ich, um ihn wissen zu lassen, dass ich wohl noch ein
bisschen Zeit brauche, bevor ich wieder etwas sagen kann.
»Sprachlos?« Miles nickt zufrieden. »Das ist noch besser.«
Er gibt mir einen Kuss auf die Wange, dann steht er auf und geht ins
Bad. Ich schließe die Augen und frage mich, wie zur Hölle diese Sache
zwischen uns jemals gut gehen soll.
Das wird sie nicht.
Das kann ich jetzt schon sagen, weil ich spüre, dass ich das hier nie mehr
mit einem anderen Mann machen will.
Nur noch mit Miles.
Er kommt wieder ins Zimmer, bückt sich nach seiner Boxershorts und
hebt auch meinen Slip und die Jeans auf, die er wortlos neben mich aufs
Bett legt.
Ich schätze, das ist ein Hinweis darauf, dass ich mich jetzt anziehen soll.
Ich setze mich auf und lasse mir von ihm auch meinen BH und das T-
Shirt reichen. Er lächelt dabei, aber mir fällt es schwer, dieses Lächeln zu
erwidern.
Als ich kurz darauf fertig angezogen vor ihm stehe, nimmt er mich in die
Arme. »Ich hab meine Meinung übrigens geändert«, verkündet er. »Jetzt bin
ich mir ziemlich sicher, dass die kommenden neun Tage Folter sein
werden.«
Ich verbeiße mir wieder mein Lächeln, aber diesmal merkt er es nicht,
weil er mich immer noch im Arm hält.
Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Dann schlaf gleich gut, Tate.
Bis bald.«
Irgendwie schlucke ich meine Enttäuschung herunter und finde die
Kraft, noch einmal zu lächeln.
»Gute Nacht.« Auf dem Weg zur Wohnungstür höre ich, wie er sich aufs
Bett fallen lässt.
Ich weiß nicht, wie ich das, was ich fühle, einordnen soll. Miles hat mir
nicht mehr versprochen als das, was zwischen uns passiert ist. Wir haben
genau das getan, wozu ich mich bereitwillig einverstanden erklärt habe. Wir
hatten Sex – nicht mehr und nicht weniger.
Aber ich habe nicht mit diesem überwältigenden Gefühl von Scham
gerechnet. Ich schäme mich nicht, weil ich darüber enttäuscht bin, dass er
mich sofort nach dem Sex verabschiedet hat, sondern weil ich von mir
selbst enttäuscht bin. Ich hatte mir eingeredet, ich würde diese rein auf Sex
beschränkte Beziehung so sehr wollen wie er, aber mein wild schlagendes
Herz lässt mich befürchten, dass ich nicht in der Lage sein werde, mich in
Bezug auf Miles auf irgendetwas zu beschränken.
Tief in mir höre ich eine kleine Stimme sagen, dass es vielleicht
vernünftiger wäre, mich frühzeitig aus der Affäre zu ziehen, bevor es zu
kompliziert wird. Aber da ist gleichzeitig eine andere Stimme, die mich
drängt, locker zu bleiben und mitzunehmen, was ich kriegen kann. Eine
Stimme, die sagt, dass ich es mir bei all meiner verdammt harten Arbeit
verdient habe, ein bisschen unverkrampften Spaß zu haben. Diese Stimme
ist lauter.
Und wenn ich daran denke, welchen unglaublichen Genuss Miles mir
gerade bereitet hat, und mir vorstelle, dass ich das öfter haben kann, bin ich
bereit, seine Unverbindlichkeit zu akzeptieren. Vielleicht lerne ich mit ein
bisschen Übung ja, selbst etwas cooler zu sein.
Als ich gerade die Tür zu unserem Apartment öffnen will, bekomme ich
mit, wie Corbin mit jemandem redet, und drücke das Ohr an die Tür, um zu
lauschen. Da keine zweite Stimme zu hören ist, nehme ich an, dass er mit
jemandem telefoniert.
Verdammt, ich kann da jetzt nicht reingehen. Er denkt, ich liege im Bett
und schlafe.
Ich sehe über die Schulter zu Miles’ Apartment, aber dorthin kann ich
auf keinen Fall zurück. Das würde wirken, als hätte ich mir eine Ausrede
ausgedacht, um bei ihm sein zu können, und außerdem würde er dann noch
weniger Schlaf bekommen.
Vielleicht setze ich mich einfach eine halbe Stunde in die Lobby und
warte dort, bis Corbin fertig telefoniert hat und schlafen geht. Dabei ist es
eigentlich lächerlich, dass ich ihm gegenüber so ein Geheimnis daraus
mache, schließlich bin ich eine erwachsene Frau. Aber ich möchte
unbedingt vermeiden, dass Miles Schwierigkeiten mit ihm bekommt – und
genau das würde passieren.
Also gehe ich zum Aufzug und fahre nach unten. Ich könnte auch einen
Nachtspaziergang machen oder eine kleine Spritztour …
»So spät wandern Sie noch im Haus herum, Tate?«
Obwohl es schon weit nach Mitternacht ist, sitzt Cap an seinem Platz.
»Wollen Sie mir vielleicht ein bisschen Gesellschaft leisten?« Er deutet auf
den zweiten Sessel.
Ich setze mich seufzend neben ihn. »Diesmal habe ich aber leider nichts
zu essen dabei.«
Er schnalzt mit der Zunge. »Denken Sie, ich würde mich nur deswegen
über Ihre Besuche freuen, Tate?« Er schüttelt den Kopf. »So eine gute
Köchin sind Sie nun auch wieder nicht.«
Ich lache und merke, wie befreiend das ist. Die letzten beiden Tage
waren ziemlich intensiv.
»Wie war Thanksgiving?«, erkundigt sich Cap. »Hatte der Junge eine
gute Zeit?«
Ich sehe ihn an. »Der Junge?«
Er nickt. »Mr Archer. Hat er den Feiertag nicht mit Ihnen und Ihrem
Bruder verbracht?«
»Ach so, ja.« Ich nicke. Am liebsten würde ich antworten, dass ich mir
ziemlich sicher bin, dass Mr Archer sogar das beste Thanksgiving seit sechs
Jahren erlebt hat, aber das verkneife ich mir dann doch lieber. »Soweit ich
weiß, hatte Mr Archer eine großartige Zeit.«
»Und was hat das Lächeln zu bedeuten?«
Ich tausche das Lächeln, von dem ich nicht wusste, dass es auf meinem
Gesicht lag, sofort gegen eine neutralere Miene aus. »Welches Lächeln?«
Cap lacht. »Ist da vielleicht etwas zwischen Ihnen und dem Jungen?«,
sagt er. »Sind Sie womöglich dabei, sich in ihn zu verlieben, Tate?«
»Wie bitte?« Ich schüttle den Kopf. »Nein. Nein, so ist das nicht. Mit
Liebe hat das nichts zu tun.«
»Womit denn dann?«
Ich wende schnell das Gesicht ab, als ich merke, wie mir die Röte in die
Wangen schießt.
Cap lacht. »Ich bin vielleicht alt, aber das bedeutet nicht, dass ich
gewisse Signale nicht mehr lesen könnte«, sagt er. »Haben Sie beide etwa
beschlossen, eine … wie nennt man das heutzutage? … eine Freundschaft
mit gewissen Vorzügen einzugehen?«
Ich beuge mich vor und verberge mein Gesicht in den Händen. Ich kann
nicht fassen, dass ich diese Unterhaltung mit einem achtzigjährigen Mann
führe.
»Die Frage möchte ich lieber nicht beantworten.«
»Verstehe«, sagt Cap mit nachdenklichem Nicken.
Wir schweigen beide einen Moment, während wir verarbeiten, was ich
gerade mehr oder weniger zugegeben habe.
»So ist das also«, sagt Cap schließlich. »Vielleicht heißt das ja, dass der
Junge in Zukunft hin und wieder mal ein Lächeln sehen lässt. Das wäre
schön.«
Ich nicke zustimmend, weil ich ganz seiner Meinung bin. Von mir aus
dürfte Miles gern auch mehr als nur ein Lächeln sehen lassen. »Können wir
jetzt trotzdem über was anderes reden?«
»Aber sicher.« Cap zieht seine buschigen grauen Augenbrauen hoch.
»Habe ich Ihnen schon erzählt, wie ich im dritten Stock mal eine Leiche
gefunden habe?«
Erleichtert, dass wir das Thema gewechselt haben, schüttle ich den
Kopf, wenn ich auch gleichzeitig verwirrt darüber bin, dass die Erwähnung
einer Leiche bei mir Erleichterung auslöst.
Ich fürchte, ich bin genauso merkwürdig wie Cap.
Vierzehntes Kapitel
MILES
»Glaubst du, wir tun es deswegen so gern, weil es besser wäre, es nicht zu
tun?«, fragt Rachel.
Sie redet vom Küssen.
Wir küssen uns oft und viel.
Wir nehmen jede Gelegenheit wahr, die sich bietet, und auch wenn sich uns
keine bietet, hält uns das nicht davon ab.
»Du meinst, wegen meinem Dad und deiner Mutter?«
»Ja.« Sie schnappt nach Luft, weil ich mich gerade an ihrem Hals
hinaufküsse.
Ich mag es, dass ich ihr den Atem raube.
»Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir uns das erste Mal gesehen
haben, Rachel?«
Sie stöhnt leise, und das heißt, dass sie sich erinnert.
»Weißt du noch, wie ich dich zu Mr Claytons Klassenzimmer gebracht
habe?«
Wieder stöhnt sie.
»Schon an dem Tag wollte ich dich küssen.« Ich bin jetzt bei ihrem Mund
angekommen und sehe ihr in die Augen. »Wie war das bei dir? Wolltest du
mich auch küssen?«
»Ja«, sagt sie, und ich sehe in ihrem Blick, dass sie an diesen Tag
zurückdenkt.
An den Tag,
an dem sie mein
Ein und Alles
wurde.
»Damals hatten wir noch keine Ahnung, dass unsere Eltern ein Paar sind«,
sage ich. »Und trotzdem hatten wir beide Lust, uns zu küssen. Deswegen
glaube ich nicht, dass es etwas mit ihnen zu tun hat.«
Rachel lächelt.
»Siehst du?«, flüstere ich und streiche mit meinen Lippen zart über ihre, um
ihr zu beweisen, wie schön sich das anfühlt.
Sie hebt den Kopf vom Kissen und stützt sich auf die Ellbogen.
»Oder tun wir es vielleicht nur, weil wir einfach grundsätzlich gern
küssen?«, fragt sie. »Egal, wen?«
Das macht sie häufig. Ich habe ihr schon oft gesagt, dass sie Anwältin
werden sollte, weil sie alles infrage stellt. Aber ich liebe sie auch genau
dafür, deswegen gehe ich immer auf ihre Gedankenexperimente ein.
»Interessante Theorie«, sage ich. »Ich küsse wirklich gern. Ich kenne
niemanden, der nicht gern küsst. Trotzdem gibt es für mich einen großen
Unterschied zwischen unseren und anderen Küssen.«
Sie sieht mich gespannt an. »Und der wäre?«
Ich senke meinen Mund auf ihren. »Du«, flüstere ich. »An unseren Küssen
mag ich besonders gern, dass du es bist, die ich küsse.«
Ich glaube, damit habe ich ihre Frage befriedigend beantwortet, denn sie
sagt darauf nichts mehr, sondern küsst jetzt mich.
Ich mag es, dass Rachel alles hinterfragt.
Dadurch betrachte ich selbst auch alles aus einem anderen Blickwinkel.
Ich habe schon immer gern geküsst. Aber die Mädchen, die ich vor Rachel
geküsst habe, fand ich nur im Allgemeinen anziehend und nicht im
Besonderen.
Es war schön, diese Mädchen zu küssen. Klar.
Küssen macht Spaß.
Aber wenn man einen Menschen gern küsst, weil er der Mensch ist, der er
ist, dann liegt der große Unterschied nicht in dem Spaß, den man hat, wenn
man denjenigen küsst.
Der Unterschied liegt in dem Schmerz, den man spürt, wenn man
denjenigen nicht küsst,
Es tut weh, wenn ich Rachel nicht küsse.
Vielleicht erklärt das ja auch, warum es so verdammt wehtut, in jemanden
verliebt zu sein.
Ich mag es, dich zu küssen, Rachel.
Fünfzehntes Kapitel
TATE
Als ich meine Antwort schon abgeschickt habe, bereue ich es, mir nicht
zehn Minuten gegeben zu haben, weil ich noch nicht geduscht habe. Es ist
kurz vor zwölf Uhr mittags. Hinter mir liegt ein anstrengender Nachtdienst,
nach dem ich gleich ins Bett gefallen bin. Wenn ich gewusst hätte, dass
Miles schon wieder zu Hause ist, hätte ich mich sofort nach der Arbeit unter
die Dusche gestellt. Ich dachte, er kommt erst morgen zurück. Tja, falsch
gedacht. Aber vielleicht ist das ja eine gute Übung in Sachen Lässigkeit.
Ich ziehe meine Schlafanzughose aus, schlüpfe in eine Jeans und binde
mir die Haare im Nacken zu einem Knoten. Das T-Shirt, in dem ich
geschlafen habe, behalte ich einfach an.
Als ich wenig später gegenüber klopfe, höre ich Miles rufen, dass ich
reinkommen soll. Ich drücke die Tür auf und sehe ihn im Wohnzimmer vor
dem Fenster auf einem Stuhl stehen und mit einem Zollstock hantieren.
»Könntest du mir kurz beim Ausmessen helfen?«, fragt er. »Ich habe
beschlossen, Vorhänge zu kaufen, weiß aber nicht genau, wie man misst.
Von der Decke bis zum Boden oder bloß vom oberen Fensterrahmen aus?«
Er will Vorhänge kaufen!
Ich hole einen zweiten Stuhl, trage ihn zum Fenster und steige darauf.
»Es kommt darauf an, welche Art von Vorhängen du kaufst und wie du
sie befestigen willst. Am besten nehmen wir beide Maße, dann kannst du
dich später noch entscheiden«, schlage ich vor.
Er trägt ein dunkelblaues T-Shirt, das seine meerblauen Augen noch
klarer strahlen lässt als sonst. Sie wirken so hell, als könnte man durch sie
hindurch in ihn hineinsehen. Der Gedanke bringt mich fast zum Lachen,
weil ich keinen Menschen kenne, der undurchschaubarer ist als Miles.
Wir messen zuerst die Breite und dann die Länge sowohl von der Decke
als auch vom oberen Fensterrahmen aus. Miles tippt die Maße, die ich ihm
nenne, in sein Handy ein. Nachdem wir die Stühle wieder zum Esstisch
zurückgetragen haben, zeigt er auf den Boden. »Was ist mit einem
Teppich?«, fragt er. »Meinst du, ich sollte auch noch einen Teppich
kaufen?«
Ich zucke mit den Achseln. »Wenn du einen schönen findest. Warum
nicht?«
Miles betrachtet stirnrunzelnd den nackten Boden.
»Ich glaube, ich weiß nicht mehr, was schön ist«, seufzt er, wirft den
Zollstock auf den Tisch und sieht mich an. »Kommst du mit?«
Ich zwinge mich, ruhig zu bleiben und nicht sofort begeistert zu nicken,
bevor ich überhaupt weiß, was er vorhat. »Wohin denn?«
Er streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn und greift nach seiner
Jacke, die auf der Couch liegt. »Irgendwohin, wo man Vorhänge kaufen
kann.«
Ich sollte ihm sagen, dass ich keine Zeit habe. Paare kaufen zusammen
Vorhänge. Vielleicht auch gute Freunde. Aber nicht Tate und Miles, die ein
reines Sex-Verhältnis haben, mit Regeln, deren Einhaltung durch solche
Unternehmungen gefährdet werden könnte. Und trotzdem kann ich mir im
Moment nichts vorstellen, was ich lieber machen würde.
»Klar«, sage ich lässig und zucke mit den Achseln. »Ich hol nur schnell
meine Jacke.«
***
»Hast du eine Lieblingsfarbe?«, frage ich ihn auf dem Weg nach unten. Ich
versuche, mich auf die Aufgabe zu konzentrieren, wegen der wir
gemeinsam unterwegs sind, kann aber an nichts anderes denken als daran,
wie sehr ich mich nach seiner Berührung sehne. Eine Umarmung, ein Kuss,
egal was. Seit der Nacht, in der wir miteinander geschlafen haben, haben
wir uns nicht mehr gespürt. Während er weg war, haben wir nicht
telefoniert und uns auch nicht geschrieben.
»Schwarz?«, antwortet er zögernd, als wäre er sich selbst nicht sicher.
»Ich mag Schwarz.«
Ich schüttle den Kopf. »Schwarze Vorhänge gehen gar nicht. Das ist zu
düster. Es muss ja nichts Knalliges sein, aber schon irgendeine Farbe.«
»Dunkelblau?«, fragt er. Mir fällt auf, dass er mir nicht mehr ins Gesicht
sieht, sondern seinen Blick langsam über meinen Körper wandern lässt.
Fast kommt es mir so vor, als könnte ich die Berührung seiner Augen auf
meiner Haut spüren.
»Dunkelblau könnte funktionieren«, sage ich leise und frage mich, ob
wir diese Unterhaltung vielleicht nur führen, um überhaupt über irgendwas
zu reden. An der Intensität, mit der er mich ansieht, erkenne ich, dass er
genauso wenig wie ich ernsthaft über die Farben von Vorhängen oder
Teppichen nachdenkt.
»Musst du heute Abend arbeiten, Tate?«
Ich nicke, ohne mir anmerken zu lassen, wie sehr mich seine Frage
freut – und wie sehr ich es liebe, dass er meinen Namen so oft sagt. Ich
liebe es, wie er meinen Namen sagt. Vielleicht sollte ich verlangen, dass er
ihn jedes Mal sagen muss, wenn er mich anspricht. Das könnte meine Regel
sein. »Aber ich muss erst um zehn im Krankenhaus sein.«
Der Aufzug hält im Erdgeschoss und wir steigen gleichzeitig aus. Miles
legt mir fast unmerklich die Hand auf den Rücken, und der plötzliche
Stromstoß, der mich durchfährt, nimmt mir einen Moment die Luft. Ich war
schon oft verknallt und auch schon schwer verliebt, aber kein Mann hat es
je geschafft, mit einer einzigen Berührung so etwas in mir auszulösen.
Sobald wir in der Halle stehen, nimmt er die Hand wieder weg, aber ich
bilde mir ein, ihre Abwesenheit jetzt beinahe noch deutlicher zu spüren als
ihre Berührung vorher. Jedes kleinste bisschen, das er mir von sich gibt,
lässt mich wünschen, ich würde mehr bekommen.
Cap ist nirgends zu sehen, aber das überrascht mich nicht. Ich habe
mittlerweile mitbekommen, dass er auch kein Morgenmensch ist. Vielleicht
haben wir uns deswegen von Anfang an so gut verstanden.
»Sollen wir zu Fuß gehen?«, fragt Miles.
Ich nicke, obwohl es heute ziemlich kalt ist. Aber ich gehe gern zu Fuß
und bin außerdem vor ein paar Wochen an einem Laden vorbeigekommen,
der interessant aussah und nur ein paar Straßen entfernt liegt. Vielleicht
können wir dort etwas Passendes finden.
»Nach dir.« Er hält mir höflich die Tür auf. Ich trete hinaus und ziehe
meine Jacke enger um mich. Miles ist ganz bestimmt nicht der Typ, der mit
Mädchen Hand in Hand geht, deswegen mache ich gar nicht erst den
Versuch, meine Hand für ihn verfügbar zu halten. Stattdessen verschränke
ich die Arme vor der Brust, um mich zu wärmen.
Wir gehen nebeneinanderher, ohne etwas zu sagen, aber damit habe ich
kein Problem. Ich muss mich nicht ständig unterhalten und beginne zu
ahnen, dass Miles in dieser Beziehung ähnlich ist.
»Gleich da drüben ist ein Geschäft, in dem es ganz gute Sachen gibt«,
sage ich und deute nach rechts, als wir die nächste größere Kreuzung
erreichen. Wir kommen an einem älteren Mann vorbei, der auf dem
Gehweg sitzt und nur ein abgetragenes dünnes Jackett anhat. Vor ihm steht
ein Styroporbecher für Münzen. Seine Handschuhe sind durchlöchert.
Mir tun diese Leute total leid, die kein Zuhause haben und niemanden,
der sich um sie kümmert. Corbin regt sich immer auf, weil ich an keinem
Obdachlosen vorbeigehen kann, ohne ihm Geld für Essen zu geben. Er sagt,
die meisten würden auf der Straße leben, weil sie Alkoholiker sind oder
drogenabhängig und dass ich nur ihre Sucht unterstütze.
Ehrlich gesagt ist es mir vollkommen egal, wofür sie mein Geld
ausgeben. Jeder, der obdachlos ist, weil sein Bedürfnis nach irgendeiner
Droge stärker ist als sein Bedürfnis nach einem Zuhause, hat mein ganzes
Mitgefühl. Vielleicht ist das ja die Krankenschwester in mir. Ich glaube
nicht, dass Menschen sich freiwillig dafür entscheiden, süchtig zu werden.
Jede Sucht ist eine Krankheit, und es tut mir unendlich leid, Leute zu sehen,
die so leben müssen, weil sie sich selbst nicht helfen können.
Wenn ich mein Portemonnaie dabeihätte, würde ich dem alten Mann
etwas geben.
Miles ist schon weitergeschlendert und sieht über die Schulter zu mir
zurück, weshalb ich mich beeile, zu ihm aufzuschließen. Ich sage ihm nicht,
was mir gerade durch den Kopf gegangen ist. Es ist sinnlos. Ich habe zu oft
mit Corbin darüber diskutiert, ohne dass es etwas gebracht hätte, und habe
kein Bedürfnis, andere davon zu überzeugen, dass ich recht habe.
»Hier ist es«, sage ich und bleibe vor dem Laden stehen.
Miles geht langsam an der Schaufensterfront entlang. »Hey, wie wäre es
mit dem hier?« Er zeigt auf ein Fenster, in dem ein Schlafzimmer
ausgestellt ist. Vor dem Bett liegt ein hellgrauer Teppich mit blauen und
schwarzen geometrischen Mustern. Er gefällt mir gut.
Die Vorhänge sind allerdings nicht dunkelblau, sondern ebenfalls grau
mit einem vertikalen weißen Streifen im linken Vorhangschal.
»Gefällt mir gut«, antworte ich.
Miles öffnet die Tür und lässt mich wieder vorgehen. Noch bevor sie
hinter uns zugefallen ist, kommt eine Verkäuferin auf uns zugestöckelt und
erkundigt sich, ob wir etwas Bestimmtes suchen. Miles deutet in Richtung
des Schaufensters. »Ich hätte gern diese Vorhänge. Und den Teppich.«
»Sehr gerne.« Die Verkäuferin lächelt und gibt uns ein Zeichen, ihr zu
folgen. »Wie groß ist denn das Fenster, für das Sie die Vorhänge
brauchen?«
Miles zieht sein Handy aus der Tasche und liest ihr die Maße vor. Die
Verkäuferin hilft uns, passende Vorhangstangen auszusuchen, und sagt
dann, dass sie im Lager nachsehen muss, ob die Ware vorrätig ist. Beim
Anblick der vielen tollen Möbel und Dekogegenstände bekomme ich richtig
Lust, mir meine eigene Wohnung einzurichten. Ich rechne zwar damit, noch
einige Zeit bei Corbin wohnen zu bleiben, bis ich weiß, wo ich hinziehen
will, aber es kann nichts schaden, jetzt schon mal ein paar Ideen zu
sammeln. Bei mir dauert es erfahrungsgemäß etwas länger als bei Miles, bis
ich mich entscheide, etwas zu kaufen.
»Das ging ja jetzt rasend schnell«, sage ich zu ihm.
»Enttäuscht?«, fragt er.
Ich schüttle den Kopf. Ehrlich gesagt, bin ich sogar erleichtert. Shoppen
gehört nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.
»Glaubst du, ich hätte mir mehr Zeit lassen und mich noch in anderen
Läden umschauen sollen?«, fragt Miles. Er steht mit dem Rücken zur
Verkaufstheke, hat die Ellbogen aufgestützt und betrachtet mich. Ich mag
es, wie er mich ansieht – so als wäre ich das Objekt, das ihn in diesem
Geschäft am allermeisten interessiert.
»Nein, wozu? Wenn dir das, was du ausgesucht hast, gefällt, würde ich
nicht weitersuchen. Meistens spürt man es doch instinktiv, wenn man das
Richtige gefunden hat.«
Unsere Blicke begegnen sich und ich muss schlucken. Sein
Gesichtsausdruck ist so ernst, dass ich nicht weiß, was ich davon halten
soll. Er macht mich nervös und erregt mich gleichzeitig. Miles stößt sich
von der Theke ab und geht einen Schritt auf mich zu. »Komm mit.« Seine
Finger schließen sich um meine und ich folge ihm.
Mein Puls rast.
Entspann dich, Tate. Er hat bloß deine Hand genommen. Kein Grund,
gleich auszuflippen.
Miles führt mich zu einem dreiteiligen Paravent, der mit asiatischen
Schriftzeichen verziert ist. Ich habe nie verstanden, warum sich Leute
solche Teile ins Schlafzimmer stellen. Meine Mutter hat auch einen, aber
ich bezweifle, dass sie sich jemals dahinter umgezogen hat.
»Was soll das werden?«, frage ich.
Miles dreht sich im Gehen zu mir um, grinst und zieht mich hinter den
Schirm. Ich muss lachen, weil ich mir vorkomme, als wäre ich wieder in
der Highschool und wir würden uns vor einem Lehrer verstecken.
»Schsch.« Miles lächelt und legt mir den Zeigefinger auf die Lippen.
Ich höre schlagartig auf zu lachen, aber nicht, weil ich die Situation nicht
mehr lustig finden würde, sondern weil ich in dem Moment, in dem ich
seinen Finger auf meinen Lippen spüre, vergessen habe, wie man lacht.
Ich habe alles vergessen.
Ich kann mich nur auf seinen Finger konzentrieren, der über meine
Unterlippe zum Kinn hinabgleitet. Miles’ Blick folgt der Fingerspitze, die
sich sehr, sehr langsam weiter hinabbewegt, meine Kehle entlang, zwischen
meinen Brüsten hindurch zum Bauch hinunter.
Obwohl es nur ein Finger ist, ist die Wirkung auf mich so, als würde
Miles mich mit tausend Händen gleichzeitig berühren. Meine Lungen und
ihre plötzliche Unfähigkeit, ausreichend Sauerstoff aufzunehmen, sind der
Beweis dafür.
Seine Augen sind immer noch auf seinen Zeigefinger gerichtet, als er am
Bund meiner Jeans direkt über dem Knopf innehält. Er berührt nicht einmal
Haut, nur Stoff, aber das würde man in Anbetracht meines wild
schlagenden Herzens nicht vermuten. Jetzt kommt seine ganze Hand ins
Spiel, mit der er über dem T-Shirt leicht meinen Bauch streichelt. Und dann
packt er mich mit beiden Händen an den Hüften und zieht mich an sich.
Er schließt einen Moment die Augen, und als er sie wieder öffnet, schaut
er nicht mehr nach unten, sondern sieht mich direkt an. »Seit du heute zur
Tür reingekommen bist, will ich dich küssen«, sagt er.
Sein Geständnis bringt mich zum Lächeln. »Aber du kannst warten.«
»Irrtum.« Er streicht mir mit einer Hand durch die Haare und schüttelt
den Kopf. »Wenn ich warten könnte, würdest du jetzt nicht mit mir hier
stehen.«
Ich überlege noch, was genau er mir damit sagen möchte, als er seine
Lippen auf meine presst und es mir unmöglich macht, über irgendetwas
nachzudenken. Ich bin nur noch in der Lage zu fühlen und mich diesem
Mann hinzugeben, der mich in Besitz nimmt.
Diesmal ist sein Kuss sehr langsam und bedächtig – das genaue
Gegenteil von meinem Puls, der in einem irrwitzigen Tempo pocht. Seine
rechte Hand liegt in meinem Nacken und die andere in meinem Rücken,
während er meinen Mund mit solcher Gelassenheit und Hingabe erforscht,
als hätte er vor, sich dafür den ganzen Tag Zeit zu lassen.
Ich muss den letzten verbliebenen Rest meiner Selbstbeherrschung
zusammenkratzen, um ihm nicht in die Arme zu springen und die Beine um
seine Hüften zu schlingen. Hätte ich doch nur die Gelassenheit, über die er
aus irgendeinem Grund verfügt, aber seine Finger und seine Lippen machen
mich hilflos.
Als das Klackern der Absätze der Verkäuferin durchs Geschäft hallt,
beendet Miles den Kuss abrupt und mein Herz schreit auf. Zum Glück ist
dieser Schrei nur zu fühlen, nicht zu hören.
Statt sich abzuwenden und wieder nach vorn zu gehen, nimmt Miles
mein Gesicht in die Hände und sieht mich mehrere Sekunden lang stumm
an. Mit den Daumen streicht er unendlich zart über meine Wangen und
atmet langsam aus. Er schließt die Augen und runzelt die Stirn, als hätte er
Schmerzen. Dann presst er seine Stirn gegen meine.
»Tate.«
Er sagt meinen Namen ganz leise und so, als müsste er mit sich
kämpfen. »Ich mag …« Er öffnet die Augen und sieht mich an. Jetzt ist
seine Stimme fast nicht mehr zu hören. »Ich mag es, dich zu küssen, Tate.«
Ich weiß nicht, warum es ihm so schwerfällt, diesen Satz auszusprechen,
aber sobald er ihn gesagt hat, lässt er mich los und tritt so schnell um den
Paravent herum, als würde er versuchen, vor sich selbst zu fliehen.
Ich mag es, dich zu küssen, Tate.
Auch wenn er es vielleicht schon wieder bereut, mir dieses Geständnis
gemacht zu haben, weiß ich jetzt schon, dass ich es mir für den Rest des
Tages immer und immer wieder vorsagen werde.
Während Miles zur Kasse geht und zahlt, streife ich durch den Laden,
ohne wirklich etwas um mich herum wahrzunehmen. Ich fühle mich ein
bisschen so, als wäre ich in Trance.
»Die Sachen werden Ihnen heute Mittag geliefert«, sagt die Verkäuferin
gerade zu Miles, als ich nach ein paar Minuten zurückkomme. Sie reicht
ihm die Kreditkarte und macht Anstalten, die Tüte, die auf der Theke steht,
herunterzunehmen und hinter sich zu stellen. »Die da nehme ich gleich
mit«, sagt Miles und greift danach.
Er dreht sich zu mir. »Können wir?«
Sobald wir nach draußen treten, erschauere ich unwillkürlich, als wäre es
noch viel kälter geworden, während wir im Laden waren. Vielleicht liegt
das aber auch an Miles, der dafür gesorgt hat, dass mir eben verdammt heiß
geworden ist. Wir gehen ein Stück in Richtung des Apartmentblocks und
ich will gerade etwas zu ihm sagen, da merke ich, dass er stehen geblieben
ist. Als ich mich nach ihm umsehe, zieht er etwas aus der Tüte.
Er reicht dem Obdachlosen, der immer noch in sich zusammengesunken
am Straßenrand sitzt, eine Wolldecke, die er offenbar eben im Laden
gekauft hat. Der alte Mann sieht zu ihm auf und nimmt sie stumm entgegen.
Keiner der beiden sagt ein Wort.
Miles nickt ihm zu, dann kommt er zu mir, ohne mich anzusehen. Ich
widerstehe dem Impuls, ihm zu danken. Denn das sähe so aus, als würde
ich glauben, er hätte das für mich getan.
Aber das war nicht der Grund, das spüre ich.
Er hat es für den alten Mann getan, der gefroren hat.
***
Als wir vorhin oben aus dem Aufzug gestiegen sind, hat Miles gesagt, dass
er mich die neuen Sachen erst sehen lassen möchte, wenn er alles fertig
eingerichtet hat. Ehrlich gestanden war mir das ganz recht, weil ich noch
ein ziemliches Lernpensum für die Uni zu erledigen hatte und ganz schön in
Stress gekommen wäre, wenn ich ihm geholfen hätte.
Ich hatte den Eindruck, dass er sich richtig darauf gefreut hat, die
Vorhänge anzubringen. Jedenfalls soweit man jemandem, der so
zurückhaltend ist wie Miles, Vorfreude anmerken kann.
Mittlerweile ist es später Nachmittag und ich muss in vier Stunden
wieder in der Klinik sein. Als ich mich gerade frage, ob ich heute noch
etwas von ihm höre, summt mein Handy.
Jetzt ärgere ich mich darüber, aber wie hätte ich ahnen sollen, dass er mit
mir zusammen essen möchte?
Ich mache ihm schnell eine Portion zurecht. Genau in dem Moment, in dem
ich damit auf den Flur hinaustrete, geht bei ihm drüben die Tür auf. Miles
nimmt mir den Teller aus der Hand. »Wartest du kurz?«, fragt er und
verschwindet im Apartment. Nach ein paar Sekunden kommt er ohne den
Teller wieder zurück. »Okay. Bist du so weit?«
Er lächelt nicht. Keine Ahnung, warum ich trotzdem weiß, dass er sich
darauf freut, mir alles zu zeigen. Vielleicht höre ich es in seiner Stimme.
Irgendetwas darin hat sich verändert. Es rührt mich, dass ihn etwas so
Schlichtes wie die Tatsache, dass er neue Vorhänge und einen Teppich
gekauft hat, so glücklich macht. Ich habe den Verdacht, dass es in seinem
Leben sonst nicht viel gibt, das ihn glücklich macht.
Miles hält die Tür weit auf und lässt mich eintreten. Obwohl es bloß
Vorhänge sind, ist die Wirkung enorm. Die ganze Atmosphäre hat sich
verändert und auf einmal wirkt das Apartment richtig wohnlich.
Unglaublich, dass er vier Jahre hier gelebt und es erst jetzt geschafft hat,
sich einzurichten.
»Die sehen toll aus«, sage ich anerkennend. »Du hast echt Geschmack.«
Dann bemerke ich den Teppich.
»Ich weiß, ich weiß«, sagt Miles, als er meinen verwirrten Blick sieht.
»Das ist noch nicht die endgültige Stelle, an der er liegen soll.«
Er hat den Teppich nicht in die Mitte des Raums oder vor die Couch
gelegt, sondern direkt ans Fenster vor die zugezogenen Vorhänge.
»Ich habe gehofft, dass du ihn vielleicht mit mir einweihst.«
Sein Gesichtsausdruck ist so zaghaft hoffnungsvoll, dass ich lächeln
muss. »Ach so, verstehe.« Ich betrachte den Teppich. »Gute Idee.«
Ich frage mich, ob er ihn jetzt sofort einweihen oder lieber erst essen
will, aber solange seine Pläne in mein dreistündiges Zeitfenster passen, ist
mir alles recht.
Einen Moment lang ist es still, während wir beide den Teppich ansehen.
»Essen kann ich auch nachher noch«, sagt er schließlich, womit die Frage,
die mir eben durch den Kopf gegangen ist, beantwortet ist.
Wir sehen uns an und grinsen. Miles zieht sich sein T-Shirt über den
Kopf, ich schleudere meine Schuhe von den Füßen und innerhalb kürzester
Zeit landet auch der Rest unserer Klamotten neben dem Teppich auf dem
Boden.
Sechzehntes Kapitel
MILES
Corbin: Hast du Lust, essen zu gehen? Wann bist du mit der Arbeit
fertig?
Ich: In zehn Minuten. Wo soll ich hinkommen?
Corbin: Wir sind sowieso in der Nähe und holen dich einfach am
Haupteingang ab, okay?
Wir?
War ich eben noch ganz ruhig, verdoppelt sich jetzt die Geschwindigkeit
meines Herzschlags, als ich Corbins Antwort lese. Meint er mit »wir«
womöglich sich und Miles? Ich habe mitbekommen, dass Miles gestern
Abend nach Hause gekommen ist.
So schnell ich kann, schreibe ich das Übergabeprotokoll fertig, lege
einen kurzen Abstecher in den Waschraum ein, um zu überprüfen, ob ich
halbwegs vorzeigbar aussehe, und laufe zum Ausgang.
Draußen sehe ich sie zu dritt auf dem Parkplatz warten. Corbin, Miles
und Ian. Ian lächelt, als ich auf sie zugehe, weil er der Einzige ist, der in
meine Richtung schaut. Corbin dreht sich um.
»Cool, dass es so schnell ging. Wir wollen ins Jack’s, ist das okay für
dich?«
Die drei geben ein ziemlich heißes Team ab. Und das liegt nicht nur
daran, dass sie alle verdammt gut aussehen, sondern vor allem daran, dass
sie ihre Pilotenuniformen tragen. Ich komme mir in meinem albern
bedruckten Krankenschwesterkittel und der sackartigen Hose neben ihnen
ziemlich bescheuert vor. »Ja, klar«, sage ich. »Ich sterbe vor Hunger.«
Als wir in Richtung des Restaurants losziehen, werfe ich Miles einen
Blick zu, aber er grüßt mich nur mit einem knappen Nicken, schiebt die
Hände in die Jackentaschen und geht voraus. Weil ich nicht den Eindruck
machen will, als würde ich ihm nachrennen, gehe ich neben Corbin her.
»Gibt es irgendwas zu feiern?«, erkundige ich mich. »Warum seid ihr in
Uniform unterwegs? Ich dachte, ihr habt frei.«
Über meinen Kopf hinweg tauschen Ian und Corbin ein stummes
Grinsen aus. Miles dreht sich nicht um.
»Kannst du dich noch daran erinnern, wie Mom und Dad mal mit uns ins
La Caprese gegangen sind, als wir noch Kinder waren?«, fragt Corbin.
Ich erinnere mich gut an den Abend, obwohl ich damals nicht älter als
fünf oder sechs gewesen sein kann: das teure Restaurant, Dad, der über das
ganze Gesicht strahlte, Mom, die vor Stolz platzte. An dem Tag war mein
Vater zum Flugkapitän befördert worden.
»Ach komm!« Ich bleibe stehen und sehe Corbin ungläubig an. »Bist du
etwa Kapitän geworden? Aber das kann nicht sein. Du bist doch noch viel
zu jung dafür.« Ich weiß genau, wie lange es dauert, bis man diesen
Karriereschritt macht, weil man dafür unter anderem eine sehr hohe Anzahl
von Flugstunden angesammelt haben muss. Deshalb sind die meisten unter
Dreißigjährigen noch Copiloten.
Corbin schüttelt den Kopf. »Nein, ich nicht.« Er deutet auf Miles. »Aber
unser Mr Ich-übernehme-so-viele-Dienste-wie-ich-bekommen-kann hat den
Rekord gebrochen und darf sich ab heute jüngster Kapitän der Flotte
nennen.«
Ich sehe Miles an, der jetzt auch stehen geblieben ist und die Situation
offensichtlich peinlich findet. Seine Bescheidenheit macht ihn mir noch
sympathischer. Ich bin mir sicher, wenn sein Nicht-Freund Dillon zum
Kapitän befördert worden wäre, würde er jetzt auf der Theke irgendeiner
Bar stehen und es per Megafon in die Welt hinausplärren.
»Das ist keine große Sache«, wehrt Miles ab. »Wir sind nur eine kleine
Fluglinie. Bei uns gibt es nicht so viele Leute, die man befördern kann.«
Ian schüttelt den Kopf. »Jetzt versuch es nicht kleinzureden, Miles. Ich
bin nicht befördert worden. Corbin ist nicht befördert worden. Dillon ist
nicht befördert worden. Du hast ein Jahr nach uns dort angefangen und bist
erst vierundzwanzig.« Er schüttelt den Kopf. »Reib es uns ruhig ein
bisschen unter die Nase. Glaub mir, wir würden es im umgekehrten Fall
auch so machen.«
Ich mag Ian. Er hat mir mal erzählt, dass er und Miles sich schon seit der
Highschool kennen, aber auch wenn ich das nicht wüsste, ist es
offensichtlich, wie eng die beiden befreundet sind. Ian ist wirklich stolz auf
ihn und kein bisschen neidisch. Ich freue mich für Corbin, dass er so tolle
Arbeitskollegen hat. Aus irgendeinem Grund habe ich mir immer
vorgestellt, er würde hier in San Francisco ein ziemlich einsames Leben
führen, viel zu viel arbeiten und wenig echte Freundschaften aufbauen. Tja,
anscheinend sind es nicht nur die Brüder, die sich unnötige Sorgen um ihre
Schwestern machen. Wir können das offenbar auch ganz gut.
Als wir das Restaurant erreicht haben, hält Corbin uns die Tür auf. Ian
geht als Erster rein. »Ich muss noch mal schnell für kleine Bruchpiloten«,
sagt er. »Wartet nicht auf mich, ich finde euch dann schon.«
Während mein Bruder mit der Kellnerin am Empfang spricht, drehe ich
mich lächelnd zu Miles um. »Herzlichen Glückwunsch, Captain.« Ich
flüstere es fast, obwohl Corbin es sicher nicht verdächtig finden würde,
wenn ich Miles gratuliere. Irgendwie habe ich das Gefühl, es hat mehr
Bedeutung, wenn nur Miles es hören kann.
Er lächelt. Nachdem er sich mit einem Blick versichert hat, dass Corbin
uns den Rücken zudreht, beugt er sich schnell zu mir und drückt mir einen
Kuss in die Haare.
Warum bin ich eigentlich so verdammt empfänglich für alles, was er tut?
Ich sollte nicht zulassen, dass ein Mann in mir auslösen kann, was Miles
mit diesem flüchtigen Kuss auslöst. Ich fühle mich, als würde ich plötzlich
schweben, fallen oder … fliegen. Jedenfalls spüre ich meine Beine nicht
mehr.
»Danke«, sagt er genauso leise und zeigt mir sein wunderschönes –
bescheidenes – Lächeln. Er stupst mich mit der Schulter an und sieht zu
Boden. »Du siehst umwerfend aus, Tate.«
Ich möchte mir diesen Satz auf eine Plakatwand kleben und jeden
Morgen auf dem Weg zur Uni oder in die Klinik daran vorbeifahren. Ich
würde mir nie mehr auch nur einen einzigen Tag freinehmen.
Auch wenn ich ihm gern glauben möchte, sehe ich ihn zweifelnd an.
»Umwerfend? In einem Kittel, der mit Minnie-Mäusen bedruckt ist?«
Er beugt sich so weit vor, dass sich unsere Schultern berühren. »Ich hatte
immer schon eine Schwäche für Minnie Maus«, raunt er mir ins Ohr.
Ich lächle übers ganze Gesicht, werde aber sofort wieder ernst, als
Corbin sich zu uns umdreht. »Wollt ihr an einen Tisch oder lieber in eine
Nische?«
Miles und ich zucken beide mit den Schultern. »Egal.«
Die Kellnerin führt uns gerade an unsere Plätze, als Ian von der Toilette
zurückkommt. Corbin und er gehen vor, danach komme ich und Miles folgt
dicht auf. Sehr dicht. Er legt eine Hand an meine Taille und beugt sich zu
mir vor. »Ich hab übrigens auch eine Schwäche für Krankenschwestern«,
flüstert er.
Ich hebe die Schulter, um das Ohr zu reiben, in das er gerade geflüstert
hat. In meinem Nacken haben sich sämtliche Härchen aufgestellt. Miles
lässt meine Taille los, sobald wir die Nische erreichen. Corbin und Ian
rutschen jeweils rechts und links in die Bank, ich setze mich neben Corbin,
sodass ich gegenüber von Miles sitze.
Ian und Corbin ordern Bier, Miles bestellt sich genau wie ich eine Cola.
Ich bin ein bisschen verwundert über seine Getränkewahl. Zwar hat er vor
ein paar Wochen behauptet, Alkohol wäre nicht »sein Ding«, aber
angesichts der Tatsache, dass er an dem Abend unserer ersten Begegnung
vollkommen betrunken war, finde ich es schon erstaunlich, dass er noch
nicht einmal zu einem solchen Anlass wie heute etwas trinkt. Als unsere
Getränke kommen, hebt Ian sein Glas.
»Darauf, dass du uns gezeigt hast, wer der wahre Meister ist!«
»Mal wieder«, sagt Corbin trocken.
»Darauf, dass ich doppelt so häufig fliege wie ihr beide zusammen«,
sagt Miles lachend.
Ian zwinkert ihm zu. »Corbin und ich haben ein Sexleben, das es uns
einfach nicht erlaubt, so viel zu arbeiten wie du.«
Corbin hebt warnend die Hand. »Bitte kein Wort über mein Sexleben vor
meiner kleinen Schwester.«
»Für wie naiv hältst du mich?«, frage ich. »Es ist nicht so, als würde ich
nicht mitbekommen, dass du nicht immer im Cockpit sitzt, wenn du nicht
zu Hause übernachtest.«
Corbin stöhnt. »Trotzdem. Themawechsel.«
Den Gefallen tue ich ihm gern. Es gibt andere Dinge, die mich weitaus
brennender interessieren. »Wie lange kennt ihr drei euch eigentlich
schon?«, frage ich in die Runde, obwohl ich insgeheim hoffe, dass Miles
mir antwortet.
»Miles und ich haben deinen Bruder auf der Flugakademie
kennengelernt. Miles kenne ich schon ewig … seit wir neun oder zehn
waren«, sagt Ian.
»Wir waren elf«, korrigiert ihn Miles. »In der fünften Klasse haben wir
uns angefreundet.«
Ich habe keine Ahnung, ob meine Frage nicht womöglich gegen Regel
Nummer eins verstößt, aber Miles macht nicht den Eindruck, als wäre ihm
das Thema unangenehm.
Die Kellnerin bringt uns einen Korb mit Brot und erkundigt sich, ob wir
uns schon entschieden hätten, allerdings hat keiner von uns die Karte
bislang auch nur aufgeklappt, also geht sie wieder.
Corbin greift nach seiner Karte und überfliegt das Angebot. »Ich kann ja
immer noch nicht glauben, dass du nicht schwul bist«, sagt er plötzlich
kopfschüttelnd zu Miles.
Miles sieht ihn über den Rand seiner Speisekarte hinweg an. »Ich
dachte, wir würden heute nicht über unsere Sexleben reden?«
»Das hast du falsch verstanden«, sagt Corbin. »Ich habe gesagt, dass wir
vor meiner Schwester nicht über mein Sexleben reden. Du hast ja gar keins,
über das man reden könnte.« Er legt die Karte auf den Tisch und sieht Miles
an. »Aber mal ganz im Ernst. Warum triffst du dich nie mit Frauen?«
Miles legt seine Karte ebenfalls hin, greift nach seinem Colaglas und
schwenkt es nachdenklich. »Ganz im Ernst? Okay. Ich glaube einfach nicht
daran, dass es sich lohnt, so viel in eine Beziehung zu investieren. Im
Endeffekt ist es das nicht wert.«
Niemand sagt etwas. Ich halte die Luft an und habe einen Moment lang
Angst, die Jungs könnten gehört haben, wie gerade eben in meinem Herzen
etwas zersplittert ist.
Corbin lehnt sich zurück. »Oh Mann, deine letzte Freundin muss eine
echte Zicke gewesen sein.«
Ich lasse Miles nicht aus den Augen, während ich auf seine Reaktion
warte. Vielleicht erhasche ich einen Blick in seine Vergangenheit.
Miles schüttelt nur leicht den Kopf und tut Corbins Vermutung mit
einem Stirnrunzeln ab. Ian räuspert sich leise und wirkt plötzlich sehr ernst.
Es ist offensichtlich, dass er über das, was in Miles’ Vergangenheit
vorgefallen ist, Bescheid weiß. Aber schon im nächsten Moment setzt er
sich auf und grinst. »Miles hat überhaupt keine Zeit für Frauengeschichten.
Er ist zu sehr damit beschäftigt, Firmenrekorde zu brechen und der jüngste
Flugkapitän zu werden, den unsere Airline je gesehen hat. Lasst uns auf ihn
anstoßen.«
Wir heben unsere Gläser.
Mir entgeht der dankbare Blick nicht, den Miles Ian zuwirft, und ich
frage mich, ob ich wohl jemals erfahren werde, was in seinem Leben
passiert ist. Gleichzeitig mache ich mir nicht zum ersten Mal Sorgen, dass
ich mich auf etwas eingelassen haben könnte, das mich auf lange Sicht
überfordert. Denn eins habe ich jetzt schon gemerkt: Je mehr Zeit ich mit
Miles verbringe, desto größer wird mein Bedürfnis, alles über ihn zu
erfahren.
»Lasst uns feiern«, schlägt Corbin vor.
»Ich dachte, das tun wir gerade«, sagt Miles.
»Nein, ich meinte, nach dem Essen. Ich bin dafür, dass wir heute noch
einen draufmachen. Wir müssen ein Mädchen finden, das deine
Durststrecke beendet.«
Ich verschlucke mich fast an meiner Cola, schaffe es aber zum Glück,
sie nicht herauszuprusten. Miles hat es trotzdem bemerkt. Er stupst mich
unter dem Tisch mit dem Fuß an und schiebt ihn dann zwischen meine
Füße.
»Für mich ist es perfekt, so wie es ist«, sagt er. »Außerdem sehnt sich
euer Captain mehr danach, ins Bett zu kommen, als Party zu machen.«
Die Buchstaben auf der Speisekarte verschwimmen vor meinen Augen
und statt der Namen der einzelnen Gerichte sehe ich nur noch die Wörter
Durststrecke, beenden und ins Bett vor mir.
»Ich bin auf jeden Fall dabei«, sagt Ian. »Soll sich der Captain ruhig ins
Bett legen und seinen Colarausch ausschlafen. Wir Copiloten lassen uns
von ihm nicht den Spaß verderben.«
Miles’ Blick ist so durchdringend, dass mir heiß und kalt wird, während
er in seiner Bank unmerklich so weit nach vorn rutscht, bis sich unsere Knie
berühren. »Oh ja. Der Gedanke an mein Bett ist echt verdammt
verlockend.« Er sieht von mir zu den beiden anderen. »Lasst uns endlich
unser Essen bestellen, damit ich schneller ins Bett komme. Ich hab das
Gefühl, dass ich seit neun Tagen nicht mehr richtig im Bett gewesen bin,
und konnte schon die ganze Zeit an gar nichts anderes mehr denken.«
Mittlerweile stehen meine Wangen in Flammen. Genau wie gewisse
andere Stellen meines Körpers.
»Echt verrückt. Am liebsten würde ich jetzt gleich ins Bett gehen.«
Miles sieht mich kopfschüttelnd an. »Hier an Ort und Stelle …«
Die Temperatur meines Restkörpers nähert sich der meiner Wangen an.
»Was für ein Langweiler unser Captain ist.« Corbin lacht. »Wir hätten
statt ihm heute Abend lieber Dillon mitnehmen sollen.«
»Nein, hätten wir ganz bestimmt nicht«, sagt Ian sofort und verdreht die
Augen.
»Was hat Dillon eigentlich Schlimmes gemacht?«, frage ich. »Warum
hasst ihr ihn alle so?«
Corbin zuckt mit den Schultern. »Es ist nicht so, dass wir ihn hassen.
Wir können ihn bloß nicht ausstehen und haben das leider erst gemerkt,
nachdem wir ihn zu unserem Football-Abend eingeladen hatten. Der Typ ist
einfach ein Arschloch.« Er wirft mir einen warnenden Blick zu. »Bei dem
musst du echt aufpassen«, sagt er mit seiner Großer-Bruder-Stimme. »Dass
er verheiratet ist, hält ihn nämlich nicht davon ab, alles zu bespringen, was
nicht bei drei auf den Bäumen ist.«
Was habe ich diese Predigten in den letzten Jahren vermisst.
»Glaubst du, dass er gefährlich ist?«
»Nein«, sagt Corbin wegwerfend. »Aber ich weiß, dass er ein
Charakterschwein ist, dem nichts heilig ist. Allerdings glaube ich nicht,
dass er es riskieren würde, sich an dich ranzumachen. Ich hab ihm nämlich
deutlich gesagt, dass du tabu bist.«
Ich lache. »Das ist total übertrieben, Corbin. Ich bin dreiundzwanzig. Du
kannst aufhören, dich wie Dad aufzuführen.«
Er verzieht das Gesicht und sieht einen Moment lang tatsächlich aus wie
unser Vater. »Vergiss es«, knurrt er. »Du bist meine kleine Schwester. Der
Mann, der dich bekommt, muss gewissen Ansprüchen gerecht werden und
Dillon kommt da nicht mal annähernd ran.«
Er hat sich in den letzten Jahren wirklich kein bisschen verändert. So
sehr mich sein Beschützerinstinkt immer schon genervt hat, so sehr liebe
ich Corbin dafür, dass er für mich nur das Beste will. Ich fürchte bloß, dass
das, was er für das Beste für mich hält, gar nicht existiert.
»Ich glaube nicht, dass es den Mann, der deinen Ansprüchen gerecht
werden kann, überhaupt gibt.«
Er nickt selbstzufrieden. »Damit könntest du verdammt recht haben.«
Ob er Ian und Miles auch davor gewarnt hat, etwas mit mir anzufangen?
Wahrscheinlich eher nicht. Außerdem hat er Miles bis vor Kurzem ja noch
für schwul gehalten und deshalb wahrscheinlich gar nicht als Gefahr
betrachtet.
Wird Miles Corbins hohen Ansprüchen gerecht?
Ich würde gern wissen, wie er auf das, was mein Bruder gesagt hat,
reagiert, schaue ihn aber lieber nicht an. Womöglich würden die anderen
beiden mir anmerken, wie es um mich steht. Stattdessen schüttle ich den
Kopf und sage lachend zu Corbin: »Ich wünschte, ich wäre die Ältere von
uns beiden.«
»Glaub nicht, dass das einen Unterschied machen würde«, sagt mein
Bruder ungerührt.
***
Etwa eine Stunde später hebt Ian die Hand und winkt nach der Kellnerin.
»Lasst euer Geld stecken. Ich lade euch ein«, verkündet er, als sie die
Rechnung bringt.
Nachdem er den Betrag und zusätzlich ein großzügiges Trinkgeld auf
den Tisch gelegt hat, bedanken wir uns bei ihm, stehen auf und strecken
uns.
»Also, wie sieht es jetzt bei euch aus?«, fragt Miles. »Was habt ihr vor?«
»Feiern«, antwortete Corbin, ohne zu zögern.
»Ich habe eine Zwölf-Stunden-Schicht hinter mir«, sage ich. »Ich bin
todmüde.«
»Könnte ich zusammen mit dir nach Hause fahren?«, fragt Miles. »Ich
will wirklich nur noch ins Bett.«
Es gefällt mir, dass er das Wort immer wieder so betont, obwohl die
Gefahr besteht, dass Corbin es mitbekommt. Als wollte er sicherstellen,
dass ich auf jeden Fall begreife, dass er keineswegs vorhat, zu schlafen.
»Ja, klar«, antworte ich. »Ich parke vor der Klinik.«
»Dann steht die Abendplanung fest«, sagt Corbin. »Die Lahmärsche
fallen ins Bett, Ian und ich gehen feiern.« Die beiden klatschen sich ab und
ziehen dann gemeinsam los. »Wir trinken einen für dich mit, El Capitán«,
ruft Corbin noch über die Schulter.
Miles und ich bleiben im Lichtkegel der Straßenlaterne vor dem
Restaurant stehen und sehen zu, wie die zwei von der Dunkelheit
verschluckt werden. Ich deute zur Lampe hinauf, deren Licht unglaublich
gleißend strahlt.
»Wieso leuchtet die so hell?«, frage ich. »Ich fühle mich, als würden wir
unter einem Bühnenscheinwerfer stehen.«
Miles legt den Kopf in den Nacken und betrachtet die Lampe
stirnrunzelnd. »Und welches Stück wird gespielt? Ich würde sagen: ›Der
englische Patient‹.« Er deutet auf seine Uniform und meinen Kittel. »Die
passenden Kostüme haben wir jedenfalls an. Krankenschwester und Pilot.«
Warum Pilot? Wenn wir in der Bühnenfassung des »Englischen
Patienten« spielen würden, wäre er doch wohl eher der Soldat als der Pilot.
Schließlich ist er es, mit dem Hana ein Verhältnis hat.
Andererseits ist der Pilot derjenige, der ein Geheimnis hat.
»Hey, das ist verrückt«, sage ich. »Weißt du, dass der Film der Grund
war, warum ich unbedingt Krankenschwester werden wollte?«
Miles schiebt die Hände in die Hosentaschen und sieht mich erstaunt an.
»Ach, echt?«
Ich lache. »Nein.«
Miles lächelt.
Er lächelt für mich!
»Wollen wir?« Er wendet sich in die Richtung, in der das Krankenhaus
liegt, und wir gehen los.
In der seligen Leere, die in meinem Kopf herrscht, entsteht ein wirklich
schlechtes Gedicht.
***
***
Es ist Donnerstag.
Footballabend.
Normalerweise bekomme ich schon schlechte Laune, wenn ich vor der
Wohnungstür stehe und die penetrante Stimme des Sportmoderators höre.
Aber heute klingt sie wie Musik in meinen Ohren, weil ich mir ziemlich
sicher bin, dass Miles freihat und mit den anderen vor dem Fernseher sitzt.
Ich kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen, auch wenn ich keine
Vorstellung davon habe, wie es mit uns weitergehen soll. Genau wie beim
letzten Mal haben wir uns in der Zeit, die er weg war, weder geschrieben
noch miteinander telefoniert.
Mir ist bewusst, dass es wahrscheinlich ein ganz großer Fehler ist, die
Sache nicht schleunigst zu beenden. Dafür dass das, was zwischen uns
läuft, eigentlich nicht über Sex hinausgehen sollte, fühlt es sich von meiner
Seite aus viel zu ernst an. Seit dem Abend, an dem Miles mich in meinem
Wagen zum Schreien gebracht hat, denke ich endgültig an nichts und
niemand anderen mehr als an ihn. Es ist mir peinlich, zugeben zu müssen,
dass meine Hand zittert, als ich den Schlüssel im Schloss drehe und die Tür
aufdrücke, nur weil ich weiß, dass er vielleicht da ist.
Als ich ins Wohnzimmer komme, sieht Corbin auf und nickt mir zu. Ian
hebt die Hand zu einem kurzen Winken, ohne den Blick vom Fernseher zu
nehmen. Dillon zieht mich mal wieder mit Blicken aus und grinst
anzüglich, worauf ich innerlich die Augen verdrehe.
Miles tut nichts, weil er nicht da ist.
Mein ganzer Körper sackt vor Enttäuschung in sich zusammen. Ich
werfe meine Tasche auf den Sessel und versuche mir einzureden, dass ich
erleichtert bin, weil ich mich dadurch umso besser auf den Stoff
konzentrieren kann, den ich heute noch für die Uni lernen muss.
»Im Kühlschrank ist noch ein Rest Pizza, falls du Hunger hast«, ruft
Corbin.
»Oh, cool.« Als ich in die Küche gehe und einen Teller aus dem Schrank
hole, höre ich Schritte hinter mir. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Ich
spüre eine Hand auf der Schulter und drehe mich strahlend zu Miles um.
Nur dass es nicht Miles ist.
»Hey, Tate.« Dillon greift um mich herum in den Schrank und lässt
dabei seine andere Hand von meiner Schulter zu meiner Hüfte
hinuntergleiten. »Ich wollte mir bloß ein Glas für mein Bier holen«, sagt er,
als würde das in irgendeiner Weise rechtfertigen, dass er mich angrapscht.
Sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt.
Ich könnte mich für das strahlende Lächeln ohrfeigen, mit dem ich mich
eben umgedreht habe. Das hat ihn garantiert auf falsche Gedanken
gebracht.
»In meiner Hosentasche wirst du wohl kaum eins finden«, fauche ich
und schlage seine Hand weg.
Genau in diesem Moment kommt Miles in die Küche. Sein Blick
wandert von meiner Hüfte zu Dillon. Er hat alles mitbekommen und schaut
Dillon jetzt an, als hätte der gerade einen Mord begangen.
»Seit wann trinkst du dein Bier aus einem Glas?«, fragt er.
Dillon sieht Miles nur kurz an, bevor er sich wieder zu mir dreht und mir
zuzwinkert. »Seit Tate so verführerisch hier vor dem Schrank steht.«
Verdammt. Er bildet sich tatsächlich ein, ich hätte mit ihm geflirtet.
Miles geht zum Kühlschrank und öffnet ihn. »Was macht eigentlich
deine Frau heute, Dillon?«
Er holt nichts heraus, steht nur da und starrt hinein. Ich bin mir sicher,
dass noch niemand diesen Kühlschrankgriff so fest umklammert hat wie er
in diesem Moment.
»Die arbeitet«, antwortet Dillon grinsend und schaut dabei mich an.
»Und zwar noch mindestens vier Stunden.«
Miles schließt den Kühlschrank mit einem Knall und geht drohend auf
Dillon zu. »Soweit ich weiß, hat Corbin dir eindeutig zu verstehen gegeben,
dass du die Hände von seiner Schwester lassen sollst. Respektier das
gefälligst.«
Dillon mahlt mit dem Kiefer und sieht Miles herausfordernd an. »Sieht
für mich aber eher so aus, als ginge es hier um das, was du willst, und
weniger um das, was Corbin will.«
Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Ich finde die Situation furchtbar und
möchte auf keinen Fall, dass es meinetwegen zum offenen Streit zwischen
den beiden kommt, aber … verdammt, ich kann nichts dagegen tun, dass
ich mich gleichzeitig über Miles’ Reaktion freue. Ich wünschte nur, ich
wüsste, was ihn so aufbringt – dass Dillon verheiratet ist und mit mir flirtet
oder dass ich es bin, mit der er flirtet.
Plötzlich steht Corbin in der Küche.
Ich schlucke trocken.
»Wer will was?«, fragt er.
Miles tritt einen Schritt zurück und dreht sich so, dass Corbin freien
Blick auf Dillon hat. »Unser Kollege hier will deine Schwester flachlegen.«
Jesus, Miles! Musst du es gleich so drastisch ausdrücken?
Corbins Augen verengen sich. »Geh nach Hause zu deiner Frau, Dillon«,
sagt er.
Vielleicht sollte ich Dillon ja verteidigen, aber ich habe das Gefühl, dass
Miles und Corbin schon länger nach einem Grund gesucht haben, ihn
loszuwerden. Abgesehen davon habe ich auch gar keine Lust, einen Typen
zu verteidigen, der sich hinter dem Rücken seiner Frau so schamlos an
andere Frauen ranmacht.
Dillon starrt Corbin einen Moment lang schweigend an, dann grinst er
und wendet sich betont lässig noch einmal zu mir.
Der Kerl scheint sich ja geradezu nach einer Abreibung zu sehnen.
»Ich wohne in 1012«, sagt er. »Komm mich doch bei Gelegenheit mal
besuchen. Unter der Woche bin ich abends immer allein.« Dann dreht er
sich um und schiebt sich an Miles und Corbin vorbei aus der Küche. »Und
ihr beide könnt mich mal.«
Corbin will ihm mit geballten Fäusten hinterher, aber Miles packt ihn am
Arm, zieht ihn zurück und lässt ihn erst wieder los, als die Wohnungstür
zufällt.
Corbin ist feuerrot im Gesicht und sieht so wütend aus, dass ich fast
lachen muss. Es würde mich nicht wundern, wenn Dampf aus seinen Ohren
schießen würde. So habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt. Ich fühle
mich, als wäre ich plötzlich wieder fünfzehn – nur dass ich jetzt
anscheinend gleich zwei überbehütende Brüder habe.
»Du streichst die Nummer von seinem Apartment sofort wieder aus
deinem Gedächtnis, Tate«, sagt Corbin streng.
Glaubt er etwa ernsthaft, ich würde auch nur im Entferntesten mit dem
Gedanken spielen, bei diesem Ekelpaket vorbeizuschauen?
»Stell dir vor, Corbin, auch ich habe gewisse Ansprüche«, sage ich
würdevoll.
Er nickt, holt noch einmal tief Luft und geht ins Wohnzimmer zurück.
Miles lehnt an der Theke und starrt zu Boden. Ich warte, bis er den Kopf
hebt und mich ansieht. Nach einem kurzen Blick ins Wohnzimmer richtet er
sich auf und kommt auf mich zu. Mit jedem Schritt, den er sich mir nähert,
drücke ich mich fester gegen die Arbeitsfläche hinter mir, als könnte ich so
der beinahe unerträglichen Intensität in seinen Augen entrinnen.
Jetzt steht er vor mir.
Er riecht nach Apfel.
Verbotene Frucht.
»Frag mich, ob du bei mir drüben lernen kannst«, flüstert er.
Ich nicke, obwohl ich nicht verstehe, wozu ich das tun soll. »Kann ich
bei dir drüben lernen?«
Er lacht. »Nein, ich meinte, dass du mich vor deinem Bruder fragen
sollst«, sagt er leise. »Damit du einen Grund hast, zu mir zu gehen.«
Ich spüre, wie ich rot werde.
Damit ist wohl endgültig der Beweis erbracht, dass ich nicht mehr ich
selbst bin, wenn er in meiner Nähe ist. Ich verflüssige mich. Werde
willenlos. Tue alles, was mir gesagt wird. Alles, was er von mir will.
»Ach so«, sage ich verlegen. »Okay. Das ergibt natürlich mehr Sinn.«
Er lächelt immer noch, und mir wird plötzlich bewusst, wie sehr ich
dieses Lächeln vermisst habe. Er sollte die ganze Zeit so lächeln.
Für immer.
Für mich.
Nachdem er ins Wohnzimmer zurückgegangen ist, laufe ich ins Bad, um
zu duschen.
***
Ich habe nicht geahnt, dass eine so begabte Schauspielerin in mir steckt.
Allerdings war meine Strategie auch ziemlich ausgeklügelt. Ich habe
absichtlich gewartet, bis das Spiel besonders spannend wurde und die drei
jubelnd von der Couch aufsprangen, und bin dann wutentbrannt aus
meinem Zimmer geschossen.
»Jetzt reicht es mir. Entweder ihr stellt den Fernseher leiser oder ihr geht
zu Miles rüber«, habe ich gebrüllt. »Ich versuche hier zu lernen.«
Miles musste sich ein Lächeln verbeißen, Ian schaute mich leicht irritiert
an und Corbin verdrehte die Augen. »Geh du doch zu Miles rüber«, meinte
er. »Wir schauen hier das Spiel.« Er sah Miles an. »Sie kann doch zu dir,
oder?«
»Klar«, sagte Miles und stand auf. »Ich geh schnell mit und lasse sie
rein.«
Ich habe meine Sachen gepackt und bin mit ihm rüber.
»Ich muss aber wirklich lernen«, sage ich. Keine Ahnung, was er sich
vorstellt, wie es jetzt weitergeht. Aber es kann nichts schaden, ihn wissen
zu lassen, dass er nicht automatisch ganz oben auf meiner Prioritätenliste
steht, bloß weil er ein paar Tage weg war und jetzt wieder da ist.
Auch wenn genau das der Fall ist.
»Und ich muss wirklich das Footballspiel schauen.« Miles nickt in
Richtung der Tür und geht dann trotzdem auf mich zu. Er nimmt mir meine
Unterlagen ab, bringt sie zum Esstisch und kommt wieder zu mir zurück. Er
bleibt erst stehen, als sein Mund auf meinem liegt und mein Rücken sich
gegen die Apartmenttür presst.
Miles umfasst meine Taille und ich schlinge die Arme um seinen
Nacken, während seine Zunge zwischen meine Lippen gleitet. Mit leisem
Stöhnen zieht er mich fester an sich. Ich vergrabe die Hände in seinen
Haaren und beginne, alles um mich herum zu vergessen.
Nach ein paar Minuten hört er unvermittelt auf, mich zu küssen, tritt
einen Schritt zurück und sieht mich so vorwurfsvoll an, als wäre es meine
Schuld, dass er wieder gehen muss. Er fährt sich mit einem frustrierten
Seufzer durch die Haare.
»Du hast vorhin gar nichts mehr gegessen. Ich bringe dir was von der
Pizza«, sagt er und streckt die Hand nach dem Türknauf aus. Verwirrt trete
ich zur Seite und er geht.
Ich werde einfach nicht schlau aus ihm.
Ein paar Minuten später breite ich am Esstisch gerade meine Sachen aus,
als die Tür auffliegt. Miles kommt mit einem Teller herein, auf dem ein
großes Stück Pizza liegt. Er geht in die Küche, stellt den Teller in die
Mikrowelle und kommt mit einer Entschlossenheit im Blick auf mich zu,
die mich instinktiv aufspringen und zurückweichen lässt, bis ich die
Tischkante im Rücken spüre.
Er drückt mir einen Kuss auf die Lippen. »Ich muss wieder rüber«, sagt
er. »Alles klar bei dir?«
Ich nicke.
»Brauchst du noch irgendwas?«
Ich schüttle den Kopf.
»Saft und Wasser stehen im Kühlschrank.«
»Danke.«
Er küsst mich noch einmal, bevor er mich loslässt und zur Tür
hinausgeht.
Ich lasse mich auf den Stuhl fallen.
Er ist so fürsorglich.
Daran könnte ich mich gewöhnen.
Ich ziehe mein Skript heran und fange an zu lesen. Nach etwa einer
halben Stunde beginnt mein Handy neben mir zu summen.
Ich lege das Telefon wieder neben mich und schaffe es nicht, das Grinsen
auf meinem Gesicht auszuknipsen.
***
Eine Stunde später geht die Tür wieder auf. Ich drehe mich um und sehe,
wie Miles sie hinter sich zumacht und sich dagegenlehnt. »Das Spiel ist
vorbei«, verkündet er.
Ich lege lächelnd meinen Stift weg. »Perfektes Timing. Ich bin auch
gerade fertig geworden.«
Sein Blick fällt auf meine Unterlagen. »Corbin erwartet wahrscheinlich,
dass du gleich rüberkommst.«
Ist das seine Art, mir zu verstehen zu geben, dass ich gehen soll? Ich
versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, als ich
aufstehe und meine Sachen zusammenräume.
Miles kommt auf mich zu, nimmt mir die Bücher aus der Hand, legt sie
wieder hin und hebt mich mit einem Ruck auf den Tisch.
»Das bedeutet nicht, dass du gehen sollst«, sagt er bestimmt und sieht
mir in die Augen.
Diesmal lächle ich nicht. Wenn er mich mit dieser Eindringlichkeit
ansieht, wird mir immer ein bisschen mulmig.
Er drängt sich sanft zwischen meine Beine, ohne mich loszulassen. »Ich
habe nachgedacht«, sagt er mir leise ins Ohr. Der warme Hauch seines
Atems streift meinen Hals und ich bekomme eine Gänsehaut. »Wegen heute
Abend, weil du doch den ganzen Tag in der Uni warst.« Jetzt schiebt er
seine Hände unter meinen Po und hebt mich hoch. »Und weil du praktisch
jedes Wochenende durcharbeitest.« Ich schlinge die Schenkel um seine
Hüften, als er mich in sein Schlafzimmer trägt.
Nachdem er mich aufs Bett gelegt hat, kniet er sich über mich, streicht
mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sieht mir in die Augen. »Mir ist
klar geworden, dass du nie eine Pause machst.« Er haucht Küsse entlang
meines Kinns bis zum Ohr. »Thanksgiving war das letzte Mal, dass du
einen ganzen Tag freihattest, oder?«
Ich nicke und verstehe nicht, warum er so viel redet, kann aber
gleichzeitig nicht genug bekommen von seiner Stimme. Er schiebt die
Hände unter mein T-Shirt, lässt sie langsam über meinen Bauch nach oben
wandern und umfasst meine Brüste. »Du musst erschöpft sein, Tate.«
Ich schüttle den Kopf. »Nein. Nein, bin ich nicht.«
Das ist gelogen.
Ich bin wahnsinnig erschöpft.
Miles knabbert an meinem Hals und späht zu mir hinauf. »Du lügst.«
Jetzt streicht er mit den Daumen zart über den dünnen Stoff meines BHs,
unter dem sich meine Brustwarzen sofort aufrichten. »Ich merke doch, dass
du müde bist.« Er senkt seinen Mund auf meinen und gibt mir einen Kuss,
der so federleicht ist, dass ich ihn kaum spüre. »Ich möchte dich einfach nur
ein paar Minuten lang küssen, okay? Und danach gehst du rüber und ruhst
dich aus. Du sollst nicht denken, ich würde erwarten, dass du mit mir
schläfst, nur weil ich jetzt wieder da bin.«
Er küsst mich, aber selbst der zärtlichste Kuss verblasst gegen das, was
er eben allein mit Worten in mir ausgelöst hat. Ich hätte niemals gedacht,
dass seine Fürsorglichkeit mich derart erregen kann.
Ich will ihn so sehr.
Er schiebt eine Hand unter meinen BH und gleitet dabei mit der Zunge
zwischen meine Lippen. Die Entschlossenheit, mit der er meinen Mund
erobert, löst in mir Schwindelgefühle aus, und ich frage mich, ob ich davon
jemals genug bekommen werde.
Miles hat zwar gerade angekündigt, mich nur ein paar Minuten lang
küssen zu wollen, aber anscheinend sprechen wir nicht dieselbe Sprache,
jedenfalls unterscheidet sich seine Definition von »küssen« erheblich von
meiner.
Sein Mund ist überall.
Genau wie seine Hände.
Er schiebt mir das Shirt nach oben und zieht den BH auf einer Seite so
herunter, dass sich ihm meine Brust entgegenwölbt. Langsam und
konzentriert lässt er seine Zungenspitze darübergleiten und sieht
währenddessen die ganze Zeit zu mir auf. Seine Lippen sind warm und
seine Zunge ist noch wärmer, sodass ich gar nicht anders kann, als leise zu
stöhnen.
Ohne die Lippen von mir zu nehmen, stützt er sich auf den Ellbogen und
streichelt über meinen nackten Bauch. Seine Hand wandert über meine
Jeans und dann die Innenseite meiner Beine hinunter. Als er an der Naht
entlang wieder nach oben streichelt, lasse ich den Kopf ins Kissen
zurücksinken und schließe die Augen.
Ich liebe seine Definition von »küssen«.
Er schiebt die Hand zwischen meine Schenkel und beginnt langsam an
meiner empfindlichsten Stelle zu reiben, bis ich in Flammen stehe und ihn
stumm anflehe, mich zu erlösen. Sein Mund ist mittlerweile zu meinem
Hals hinaufgewandert, wo er weiter an mir knabbert und leckt.
Jeder Versuch, mein Stöhnen zu unterdrücken, scheitert, aber wie soll
ich es auch schaffen, still zu bleiben, solange er diese Gefühle in mir
hervorruft? Dazu ist er selbst auch nicht stumm. Er stöhnt mit mir
zusammen, seufzt und raunt meinen Namen, weshalb ich beschließe, dass
es keinen Grund gibt, mich zurückzuhalten. Ich liebe die Laute, die er von
sich gibt, wenn er mich küsst.
Ich liebe sie.
Mit der rechten Hand knöpft er meine Jeans auf, ohne seine Position zu
verändern oder seine Lippen von meinem Hals zu nehmen, zieht den
Reißverschluss auf und lässt die Finger in meine Hose gleiten. Die
Bewegungen sind die gleichen wie vorher, nur dass ich sie jetzt eine Million
Mal intensiver wahrnehme und weiß, dass ich ihnen nicht lange standhalten
werde.
Ich biege mich Miles’ Hand entgegen und muss gleichzeitig dem
Bedürfnis widerstehen, mich von ihm wegzustemmen, weil das, was er tut,
so schön ist, dass ich es fast nicht aushalte. Wie kann es nur sein, dass er
besser als ich selbst weiß, wie ich berührt werden muss?
»Gott, Tate. Du bist so unglaublich feucht.« Miles zieht mit zwei
Fingern meinen Slip zur Seite. »Ich will dich richtig spüren.«
Okay, das war’s.
Ich bin erledigt.
Seine Finger gleiten in mich hinein, sein Daumen bleibt außen und
entlockt mir ein hilfloses »Oh Gott« und »Nicht aufhören, bitte nicht
aufhören« nach dem anderen. Miles presst seine Lippen auf meine und
nimmt mein leises Wimmern und mein Seufzen in sich auf, bis sich in mir
schließlich alles zusammenzieht und mein Körper unter ihm erzittert.
Das Gefühl hält so lange an und ist so unfassbar intensiv, dass ich nicht
loslassen will, als es irgendwann schließlich doch abebbt. Ich will nicht
mehr ohne seine Finger sein. Ich will mit ihnen in mir einschlafen.
Wir liegen reglos da und sind beide zu nichts anderem mehr fähig, als
keuchend nach Luft zu ringen. Sein Mund ist noch immer auf meinen
gepresst und unsere Augen sind geschlossen, aber er küsst mich nicht. Nach
ein paar Minuten nimmt er schließlich langsam die Hand aus meiner Jeans,
zieht den Reißverschluss hoch und richtet sich auf, um den Knopf zu
schließen.
Oh Gott, Miles.
Ich bin froh, dass ich liege, andernfalls würde ich wahrscheinlich
ohnmächtig zusammenbrechen.
»Wow«, seufze ich und atme aus. »Das kannst du aber ziemlich gut.«
Sein Lächeln wird breiter. »Freut mich, dass es dir gefallen hat.« Er
beugt sich über mich und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Und jetzt
geh schnell nach Hause und ruh dich endlich aus.«
Er macht Anstalten, mich vom Bett zu heben, aber ich halte ihn an den
Armen fest und ziehe ihn zu mir herunter. »Warte.« Ich drehe ihn auf den
Rücken und hocke mich rittlings auf ihn. »Du bist noch gar nicht auf deine
Kosten gekommen.«
»Ich sehe das nicht so eng«, sagt er und wälzt sich mit mir zusammen
wieder so herum, dass ich unter ihm liege. »Corbin fragt sich bestimmt
schon, was du noch so lange hier treibst.« Er steht auf und zieht mich an
den Handgelenken vom Bett. Aber in der nächsten Sekunde nimmt er mich
noch einmal so fest in die Arme, als wäre er eigentlich auch noch nicht
bereit, mich gehen zu lassen.
»Wenn Corbin mich fragt, sage ich ihm einfach, dass ich mit meinem
Lernpensum noch nicht durch war.«
Miles schüttelt den Kopf. »Du musst wirklich rüber, Tate«, sagt er ernst.
»Er hat sich bei mir dafür bedankt, dass ich dich vor Dillon gerettet habe.
Was meinst du, wie er es finden würde, wenn er wüsste, dass ich das aus
purem Egoismus getan habe?«
Ich schüttle den Kopf. »Es ist mir egal, wie er das finden würde. Was wir
machen, geht ihn nichts an.«
Miles legt mir eine Hand an die Wange. »Mir ist es aber nicht egal. Er ist
mein Freund. Ich will nicht, dass er herausfindet, was für ein Heuchler ich
bin.« Er küsst mich noch einmal auf die Stirn und zieht mich aus dem
Schlafzimmer, bevor ich noch irgendetwas sagen oder tun kann. Im
Wohnzimmer packt er meine Unterlagen zusammen und drückt sie mir in
die Hände, hält mich dann aber noch einmal zurück, als ich die
Wohnungstür öffne und gehen will. Er sieht auf mich herab und diesmal
liegt in seinem Blick etwas anderes als sonst. Es ist nicht das Begehren, das
ich so oft darin gesehen habe. Nicht die Wachsamkeit oder die
Distanziertheit, die ich zur Genüge kenne. Auch keine Enttäuschung. Es ist
etwas Unausgesprochenes. Als wäre da etwas, das er mir sagen will, was
ihm aber aus irgendwelchen Gründen unmöglich ist.
Er nimmt mein Gesicht in beide Hände und presst seinen Mund so hart
auf meinen, dass ich mit dem Hinterkopf gegen den Türrahmen stoße.
Miles küsst mich so besitzergreifend und mit einer solchen
Verzweiflung, dass es mich traurig machen würde, wenn ich seinen Kuss
nicht gleichzeitig so genießen würde. Irgendwann holt er tief Luft, löst sich
von mir, sieht mir in die Augen und atmet langsam aus. Dann tritt er einen
Schritt zurück und wartet darauf, dass ich gehe.
Was auch immer das eben war: Ich will mehr davon.
Irgendwie schaffe ich es, trotz meiner weichen Knie über den Hausflur
zu gehen und die Tür von Corbins Apartment zu öffnen. Das Wohnzimmer
ist dunkel. Ich lege meine Unterlagen auf die Theke, als ich höre, dass im
Bad Wasser rauscht.
Er duscht.
Ohne nachzudenken gehe ich sofort wieder zu Miles rüber und klopfe.
Die Tür schwingt so schnell auf, als hätte er dahintergestanden und
gewartet.
Er sieht mich überrascht an.
»Corbin ist unter der Dusche«, sage ich atemlos.
Ich weiß gar nicht, ob er überhaupt verstanden hat, was ich gesagt habe,
so schnell zieht er mich in sein Apartment und schlägt die Tür hinter mir zu.
Er reißt mich an sich und im nächsten Moment ist sein Mund wieder
überall.
Ich verliere keine Zeit, knöpfe mit fliegenden Fingern seine Jeans auf
und zerre sie ihm über die Hüften. Wortlos tut er dasselbe bei mir und streift
mir die Jeans zusammen mit dem Slip nach unten. Dann führt er mich zum
Esstisch, wo er mich umdreht und meinen Oberkörper nach unten drückt.
Nachdem er sich die Jeans ausgezogen hat, spreizt er meine Beine, stellt
sich dicht hinter mich und fasst mich fest um die Taille. Ich halte die Luft
an und im nächsten Moment dringt er auch schon in mich ein.
»Oh Gott!«, stöhnt er unterdrückt.
Ich muss mich festhalten, aber da ist nichts, also presse ich die
Handflächen auf den Tisch.
Miles beugt sich vor und drückt seinen Brustkorb gegen meinen Rücken.
Sein Atem geht stoßweise, ich spüre ihn heiß in meinem Nacken. »Warte.
Ich … ich muss ein Kondom holen.«
»Okay«, keuche ich.
Aber es tut unglaublich gut, ihn so in mir zu spüren. Ich will nicht, dass
es aufhört. Als ich merke, wie er sich aus mir zurückzieht, kann ich nicht
anders, als mich an ihn zu pressen und ihn noch tiefer in mich
aufzunehmen.
»Nicht!« Miles gräbt die Finger so fest in meine Taille, dass ich
aufstöhne. »Tu das nicht, Tate.«
Es klingt wie eine Warnung.
Aber vielleicht will er mich auch nur herausfordern?
Als ich mich erneut gegen ihn presse, atmet er heftig aus und löst mit
einer ruckartigen Bewegung die Hüften von mir. Seine Hände umklammern
immer noch meine Taille und sein Körper ist eng an meinen geschmiegt,
aber er ist nicht mehr in mir.
»Ich nehme die Pille«, flüstere ich.
Miles rührt sich nicht.
Ich schließe die Augen. Das halte ich nicht aus. Er muss irgendetwas
tun. Egal, was. Ich sterbe sonst.
»Tate …«, sagt er heiser.
Ich warte, aber mehr kommt nicht. Wir verharren vollkommen reglos.
»Verdammt.« Er beugt sich über mich und legt die Hände auf meine, die
ich immer noch auf den Tisch presse, verschränkt seine Finger fest mit
meinen und vergräbt das Gesicht in meinem Nacken. »Okay, du hast es so
gewollt.«
Und dann stößt er so unerwartet heftig in mich hinein, dass ich
aufschreie. »Schsch …« Er presst eine Hand auf meinen Mund und hält
inne, um mir einen Moment Zeit zu geben, ihn zu spüren.
Aber schon in der nächsten Sekunde zieht er sich stöhnend aus mir
heraus, um gleich darauf erneut zuzustoßen. Wieder schreie ich auf, doch
diesmal erstickt seine Hand jeden Laut.
Er macht weiter.
Härter.
Schneller.
Jeder seiner Stöße wird von einem Stöhnen begleitet und ich gebe Laute
von mir, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie in mir habe. So
etwas wie das habe ich noch nie erlebt.
Ich wusste nicht, dass es so wild sein kann. So roh. So … animalisch.
Ich drehe den Kopf und presse die Wange auf die Tischplatte.
Schließe die Augen.
Und lasse mich von ihm nehmen.
***
»Dein Nabel wölbt sich vor.« Ich streichle über ihren nackten Bauch und
küsse ihn. »Süß.«
Ich lege mein Ohr darauf und schließe die Augen. »Da drin ist es bestimmt
einsam«, sage ich. »Hey, Kumpel, fühlst du dich da drin allein?«
Rachel lacht. »Warum denkst du eigentlich die ganze Zeit, dass es ein Junge
ist? Was, wenn es ein Mädchen wird?«
Ich sage ihr, dass ich unser Kind lieben werde, ganz egal, ob es ein
Mädchen oder ein Junge wird. Ich liebe ihn ja jetzt schon.
Oder sie.
Ihre Mom und mein Dad machen mal wieder einen Wochenendtrip.
Wir spielen wieder mal Mann und Frau.
Nur dass wir es diesmal wirklich sind.
Vater, Mutter, Kind.
»Und wenn er ihr einen Heiratsantrag macht?«
Ich sage Rachel, dass das nicht passieren wird. Er würde vorher mit mir
darüber sprechen. So gut kenne ich ihn.
»Wir müssen es ihnen bald erzählen«, sage ich.
Sie nickt. Sie weiß, dass wir es ihnen sagen müssen. Jetzt ist sie schon im
vierten Monat. In zwei Monaten sind wir mit der Schule fertig. Man kann
schon etwas sehen.
»Sollen wir es ihnen morgen erzählen?«
Rachel nickt. »Okay.«
Ich robbe mich von ihrem Bauch weg, ziehe sie an mich und lege meine
Hand an ihre Wange.
»Ich liebe dich, Rachel.«
Jetzt hat sie keine Angst mehr.
Sie sagt mir, dass sie mich auch liebt.
»Du machst das echt toll«, lobe ich sie. Sie sieht mich fragend an. Ich lächle
und streichle ihren Bauch. »Wie du ihn in dir wachsen und gedeihen lässt.
Ich bin mir sicher, dass in deinem Bauch das tollste Baby heranwächst, das
jemals in einer Frau herangewachsen ist.«
Sie lacht laut.
Du liebst mich so sehr, Rachel.
Ich sehe das Mädchen an, dem ich mein Herz geschenkt habe, und frage
mich, wie es sein kann, dass ich so ein Glück habe.
Ich frage mich, ob sie mich so liebt, wie ich sie liebe.
Ich frage mich, wie mein Vater reagieren wird. Ich frage mich, ob Lisa mich
hassen wird. Ich frage mich, ob sie beschließen wird, mit Rachel wieder
nach Phoenix zu ziehen. Ich frage mich, wie ich sie davon überzeugen soll,
dass wir es schaffen können.
»Wie sollen wir ihn nennen?«, frage ich Rachel.
Sie strahlt. Über Namen spricht sie gern.
Falls es ein Mädchen wird, will sie es Claire nennen.
Nach ihrer verstorbenen Großmutter.
Ich sage ihr, dass ich die Frau, deren Namen unsere Tochter tragen wird,
gerne kennengelernt hätte. Rachel sagt, dass ihre Großmutter mich
bestimmt geliebt hätte. Ich sage ihr, dass ich den Namen Claire liebe.
»Und wenn es ein Junge wird?«, frage ich.
»Den Jungennamen darfst du aussuchen.«
»Das ist eine ziemlich große Verantwortung«, sage ich. »Schließlich muss
er sein Leben lang damit herumlaufen.«
»Dann denk dir lieber einen guten Namen aus.«
Lieber einen guten.
»Einen, der eine Bedeutung für dich hat.«
Einen, der eine Bedeutung für mich hat.
Ich sage ihr, dass ich den perfekten Namen für ihn weiß.
Sie will wissen, welchen. Aber ich sage ihr, dass sie ihn erst erfährt, wenn
es sein Name geworden ist.
Wenn er auf der Welt ist.
Sie sagt, dass ich spinne. Dass sie sich weigert, unseren Sohn auf die Welt
zu bringen, solange sie nicht weiß, wie er heißen wird.
Ich lache und sage, dass sie gar keine Wahl hat.
Sie sagt mir noch mal, dass ich spinne.
Deswegen liebst du mich, Rachel.
Einundzwanzigstes Kapitel
TATE
***
Um Punkt sieben klopft es leise an der Tür. Seine Pünktlichkeit macht mich
noch wütender, obwohl es dafür keinen Grund gibt. Normalerweise weiß
ich es sehr zu schätzen, wenn andere mich nicht warten lassen. Aber
vermutlich wird mich alles, was Miles heute Abend tut oder sagt, wütend
machen.
Ich atme tief durch, gehe zur Tür und öffne sie.
Miles steht mit einem Sicherheitsabstand von einem Meter vor mir und
sieht zu Boden. Er hat die Hände in den Jackentaschen, und als er den Blick
hebt, hält er seinen Kopf weiterhin gesenkt, was ich als Zeichen seines
schlechten Gewissens deute, auch wenn er wahrscheinlich gar keins hat.
»Willst du mitkommen?«
Seine Stimme dringt sofort wieder in mich ein. Schwächt mich.
Verflüssigt mich. Ich nicke stumm, trete in den Gang hinaus und schließe
die Tür hinter mir ab. Ich versuche, den Blick in seinen Augen zu lesen,
aber inzwischen sollte ich wissen, dass das unmöglich ist. Er geht
schweigend zum Aufzug, ich folge ihm.
Ich drücke den Knopf und wir warten. Keiner sagt ein Wort. Es dauert
gefühlte Jahre, bis der Aufzug kommt. Als sich die Tür endlich öffnet,
seufzen wir beide erleichtert auf.
Aber sobald wir eingestiegen sind und sich die Tür wieder geschlossen
hat, wird meine Brust eng und ich bekomme kaum noch Luft.
Ich spüre, dass Miles mich ansieht, weigere mich aber, seinen Blick zu
erwidern.
Ich schaffe es nicht.
Ich komme mir so erbärmlich vor. Mir steigen fast die Tränen in die
Augen. Was stehe ich hier mit ihm im Aufzug, obwohl ich nicht die
geringste Ahnung habe, wo er überhaupt mit mir hinwill? Was bin ich für
eine jämmerliche dumme Kuh, dass ich mich freiwillig so vor ihm
erniedrige?
»Verzeih mir.« Seine Stimme ist leise, klingt aber überraschend
aufrichtig.
Ich sehe ihn nicht an. Reagiere nicht.
Er macht einen Schritt auf mich zu, greift an mir vorbei und drückt auf
den Nothalteknopf des Aufzugs. Sein Finger bleibt darauf liegen, während
er mich ansieht, aber ich halte den Blick weiter zu Boden gerichtet. Mein
Gesicht ist auf Höhe seines Brustkorbs und ich presse die Zähne
aufeinander. Ich werde ihn nicht ansehen.
Das werde ich nicht tun.
»Tate. Bitte verzeih mir«, wiederholt er. Er berührt mich nicht und ist
trotzdem überall. Er steht so dicht neben mir, dass ich seinen Atem spüren
kann und auch, dass es ihm wirklich leidtut. Aber ich weiß ja nicht einmal,
was ich ihm eigentlich verzeihen soll. Er hat mir nie mehr als Sex
versprochen, und das ist genau das, was er mir gegeben hat.
Sex.
Nicht weniger, aber definitiv auch nicht mehr.
»Verzeih mir«, sagt er ein drittes Mal. »Du hattest das nicht verdient.«
Jetzt legt er den Finger unter mein Kinn und hebt mein Gesicht an,
sodass ich ihn ansehen muss. Die Berührung löst so viel in mir aus, dass ich
die Kiefer noch fester aufeinanderpresse. Ich tue, was ich kann, um meinen
Schutzschild aufrechtzuerhalten, weil es immer schwerer wird, meine
Tränen zurückzudrängen.
In seinen Augen liegt wieder der Ausdruck, den ich am Donnerstag darin
gesehen habe, als er mich an der Tür zum Abschied geküsst hat – bevor das
Schlimme passiert ist. Ich sehe das Unausgesprochene darin, das, was er
nicht imstande ist zu sagen.
Sein Gesicht verzieht sich, als würde er körperlichen Schmerz
empfinden. Er beugt sich zu mir und legt seine Stirn an meine. »Es tut mir
so leid.«
Meine Arme hängen an mir herab, meine Augen sind geschlossen, und
so gerne ich jetzt auch weinen würde, ich werde es nicht tun. Nicht vor ihm.
Ich weiß immer noch nicht, wofür er sich konkret entschuldigt, aber das ist
vielleicht gar nicht so wichtig. Es kommt mir vor, als wollte er sich für alles
entschuldigen: dafür, dass er etwas mit mir angefangen hat, obwohl er von
vornherein wusste, dass es nicht gut enden würde. Dafür, dass er nicht in
der Lage ist, über seine Vergangenheit zu sprechen. Dafür, dass er nicht in
der Lage ist, eine gemeinsame Zukunft zu planen. Dafür, dass er mich
zerstört hat, als er mich nackt stehen ließ, in sein Zimmer ging und die Tür
zuwarf.
Er legt mir eine Hand in den Nacken, umfasst mit der anderen meine
Taille, zieht mich an sich und drückt seine Wange an meinen Kopf. »Ich
kann dir nicht erklären, was los war, Tate«, sagt er. »Aber ich schwöre, ich
wollte dir nicht wehtun. Verdammt, ich weiß doch selbst nicht, was ich
tue.«
Die ehrliche Reue in seiner Stimme weckt in mir das Bedürfnis, ihn zu
halten. Ich hebe die Hände, kralle mich am Kragen seines Hemds fest und
presse mein Gesicht an seine Brust. Mehrere Minuten lang stehen wir so da.
Komplett verloren. Komplett überwältigt von dem Neuen, was da plötzlich
zwischen uns ist.
Komplett verwirrt.
Irgendwann lässt er mich los und drückt auf den Knopf für die
Tiefgarage. Der Aufzug setzt sich wieder in Bewegung, und ich habe immer
noch kein Wort gesagt, weil ich nicht einmal eine Vorstellung davon habe,
was ich sagen könnte. Als die Tür aufgeht, greift Miles nach meiner Hand
und hält sie, bis wir bei seinem Wagen angekommen sind. Er öffnet die
Beifahrertür, wartet, bis ich eingestiegen bin, und geht dann zur anderen
Seite.
Es ist das erste Mal, dass ich in seinem Auto sitze.
Ich bin überrascht, weil es ein ganz normales Mittelklassemodell ist.
Corbin verdient gut und gibt sein Geld gern für schöne Dinge aus. Aber
dieser Wagen ist Understatement pur. Genau wie Miles.
Schweigend fahren wir durch die Dunkelheit. Das Schweigen macht
mich müde und auch, dass ich nicht weiß, wo er mich hinbringt. Das Erste,
was ich zu ihm sage, seitdem er mich zerstört hat, ist deshalb: »Wo fahren
wir hin?«
Er atmet aus, als wäre er erleichtert, endlich meine Stimme zu hören; als
wäre allein dadurch, dass ich etwas gesagt habe, jedes Unbehagen zwischen
uns verpufft.
»Zum Flughafen«, sagt er. »Aber das hat nichts mit meinem Job zu tun.
Ich fahre manchmal hin, um mir die startenden Maschinen anzuschauen.«
Er tastet, ohne hinzusehen, nach meiner Hand. Die Berührung ist
tröstlich und flößt mir zugleich Angst ein. Die Wärme seiner Hand weckt in
mir die Sehnsucht, meinen ganzen Körper an ihn zu schmiegen, aber es
erschüttert mich, wie stark diese Sehnsucht ist.
Wir haben kein weiteres Wort mehr gewechselt, als wir schließlich am
Flughafen ankommen. Miles biegt in eine Straße ein, die nur von
Flughafenmitarbeitern befahren werden darf, und hält schließlich auf einem
Parkplatz, von dem aus man die gesamte Landebahn im Blick hat.
Mehrere Passagierjets stehen auf der asphaltierten Fläche und warten auf
ihre Erlaubnis zum Abflug. Als Miles nach links deutet, sehe ich, dass eines
der Flugzeuge zu rollen beginnt und Geschwindigkeit aufnimmt. Der
Innenraum des Wagens füllt sich mit dem Grollen der Triebwerke, als die
Maschine an uns vorbeizieht. Wir sehen, wie sie abhebt, die Räder
einklappt, in den Himmel steigt und von der schwarzen Nacht verschluckt
wird.
»Kommst du öfter her?«, frage ich, ohne ihn anzusehen.
Er lacht belustigt und ich drehe mich erstaunt zu ihm um.
»Na ja, das klang wie ein lahmer Anmachspruch«, erklärt er.
Miles’ Lächeln bringt mich ebenfalls zum Lächeln. Sein Blick fällt auf
meinen Mund und mein Lächeln bringt sein Lächeln zum Verschwinden.
»Ja, ich komme öfter her«, beantwortet er meine Frage knapp und sieht
aus dem Fenster, als sich der nächste Jet zum Abflug bereit macht.
In diesem Moment begreife ich, dass es zwischen uns tatsächlich nicht
mehr ist wie vorher. Etwas hat sich verändert – etwas Gewaltiges –, und ich
kann nicht sagen, ob es gut ist oder schlecht.
Er hat mich hierher mitgenommen, weil er reden möchte.
Ich weiß nur noch nicht, worüber.
»Miles?« Ich will, dass er mich wieder ansieht. Er tut es nicht.
»Das ist kein Spaß mehr«, sagt er leise. »Das, was wir tun.«
Ich mag diesen Satz nicht. Ich will, dass er ihn zurücknimmt, weil er wie
eine Klinge ist, die mir einen Stich ins Herz versetzt. Aber er hat recht. »Ich
weiß«, sage ich.
»Und wenn wir es jetzt nicht beenden, wird es schlimmer.«
Diesmal stimme ich ihm nicht zu, obwohl ich weiß, dass er auch in
diesem Punkt recht hat. Aber ich will es nicht beenden. Bei dem Gedanken,
nie mehr mit ihm zusammen sein zu können, breitet sich lähmende Leere in
mir aus. »Was habe ich getan, um dich so wütend zu machen?«
Er wirft mir einen kurzen Blick zu, und ich erkenne seine Augen kaum
wieder, weil eine solche Härte in ihnen liegt. »Das war alles ich, Tate«, sagt
er. »Du darfst nicht einen Moment lang denken, meine Probleme hätten
irgendetwas mit dem zu tun, was du tust oder nicht tust.«
Seine Antwort verschafft mir zwar minimale Erleichterung, aber ich
habe noch immer keine Ahnung, was am Donnerstag so fürchterlich
schieflief. Wir sehen uns weiter an, warten wahrscheinlich beide darauf,
dass der andere die Stille mit Worten füllt.
Ich weiß nicht, was in Miles’ Vergangenheit vorgefallen ist, aber es muss
wahnsinnig schmerzhaft gewesen sein, wenn er nach sechs Jahren immer
noch nicht darüber hinweg ist.
»Du tust so, als wäre es etwas Schlimmes, dass wir uns mögen.«
»Vielleicht ist es das ja«, sagt er.
Kurz denke ich, dass es mir das Liebste wäre, er würde schweigen, weil
alles, was er sagt, mir nur noch mehr wehtut und mich noch mehr verwirrt.
»Also hast du mich hergebracht, um es … zu beenden?«
Er seufzt. »Ich hatte mir gewünscht, dass wir beide Spaß daran haben,
aber ich glaube, du hattest andere Erwartungen als ich. Ich will dich nicht
verletzen, und wenn wir so weitermachen, dann … werde ich es tun.« Er
schaut wieder aus dem Fenster.
Ich habe das wilde Bedürfnis, auf irgendetwas einzuschlagen, stattdessen
fahre ich mir nur mit beiden Händen hilflos übers Gesicht und lasse mich in
den Sitz zurückfallen. Ich bin noch nie jemandem begegnet, der so wenig
sagt, wenn er spricht. Miles hat es in der Kunst der ausweichenden
Antworten zur Meisterschaft gebracht.
»Das reicht mir nicht, Miles. Du musst mir mehr geben als das.
Vielleicht eine einfache Erklärung? Was zur Hölle ist mit dir passiert?«
Er mahlt mit den Kieferknochen und umklammert das Lenkrad mit
beiden Händen. »Ich habe dich um zwei Dinge gebeten, Tate. Frag mich
nicht nach meiner Vergangenheit und erwarte niemals eine Zukunft. Du tust
beides.«
Ich nicke. »Stimmt, Miles. Du hast recht. Das tue ich, weil ich dich
gernhabe und weil ich weiß, dass du mich gernhast, und weil das, was wir
erleben, wenn wir zusammen sind, phänomenal ist. Ich tue das, was
normale Menschen tun, wenn sie jemanden kennenlernen, von dem sie das
Gefühl haben, dass er gut zu ihnen passt. Sie öffnen sich demjenigen und
erlauben ihm Zugang zu ihrem Inneren. Sie ficken diesen Menschen nicht
auf dem Esstisch und gehen dann weg und geben ihm das Gefühl, ein Stück
Dreck zu sein.«
Nichts.
Miles gibt mir nichts.
Keine Reaktion. Gar keine.
Er blickt starr nach vorn und startet den Wagen. »Du hattest mit dem,
was du damals in der Küche deiner Eltern gesagt hast, völlig recht«, sagt er,
schaltet in den Rückwärtsgang und stößt aus der Parklücke. »Es ist gut, dass
wir uns nicht wirklich gekannt haben. Wären wir vorher miteinander
befreundet gewesen, hätte es das jetzt nur noch härter gemacht.«
Ich wende mich ab, um ihn nicht sehen zu lassen, wie sehr mich seine
Worte treffen. Ich wünschte, ich könnte sie an mir abprallen lassen, aber es
macht mich wahnsinnig wütend, wenn ich daran denke, wie unbeschreiblich
schön unsere guten Momente sind und wie leicht sich die hässlichen
Momente vermeiden lassen würden, wenn Miles nicht ständig gegen
irgendetwas in ihm selbst ankämpfen würde.
»Tate?« Seine Stimme klingt schuldbewusst.
Am liebsten würde ich ihm an die Kehle gehen.
Er hält den Wagen an und legt mir eine Hand auf die Schulter. »Tate. Ich
habe das nicht so gemeint.«
Ich stoße seine Hand weg. »Hör auf, dich zu entschuldigen«, presse ich
zwischen den Zähnen hervor. »Entweder gibst du zu, dass du mehr von mir
willst als Sex, oder du bringst mich jetzt sofort nach Hause.«
Er ist still. Alles in mir hofft, dass er über das nachdenkt, was ich gerade
gesagt habe.
Sag es, Miles. Bitte sag es.
Der Wagen rollt wieder los.
***
»Aber was haben Sie denn erwartet, Tate?« Cap reicht mir noch ein
Taschentuch.
Als Miles und ich nach Hause gekommen sind, war mir der Gedanke,
auch noch zusammen mit ihm im Aufzug nach oben zu fahren, so
unerträglich, dass ich mich wortlos neben Cap gesetzt habe. Miles
gegenüber habe ich es geschafft, die Fassung zu bewahren, aber als ich
neben Cap saß, bin ich zusammengebrochen. Alles, was passiert ist, floss
aus mir heraus, jedes kleine Detail, egal ob Cap es hören wollte oder nicht.
Nachdem ich mir über die Nase gewischt habe, lasse ich das
Taschentuch zu den anderen fallen, die in einem Häufchen vor mir auf dem
Boden liegen. »Ich hab mir was vorgemacht«, schniefe ich. »Ich hab mir
eingeredet, ich würde damit klarkommen, dass er vielleicht nie mehr von
mir wollen wird. Aber wenn ich ehrlich bin, dann … habe ich insgeheim
wahrscheinlich doch gehofft, dass er seine Meinung ändert, wenn ich ihm
Zeit gebe.«
Cap greift nach dem Mülleimer neben sich und stellt ihn zwischen uns,
damit ich die Taschentücher hineinwerfen kann. »Wenn der Junge nicht in
der Lage ist zu erkennen, wie schön er es mit Ihnen haben könnte, ist er es
nicht wert, dass Sie ihm Ihre Zeit schenken.«
Ich nicke und bin vollkommen seiner Meinung. Ich habe weiß Gott
Wichtigeres zu tun, als meine Zeit an ihn zu verschwenden, aber aus
irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass Miles durchaus in der Lage
wäre zu erkennen, wie schön er es mit mir haben könnte.
Es kommt mir vor, als würde er sich auch wünschen, dass mehr aus uns
werden würde, aber irgendetwas würde ihn zurückhalten. Verdammt, ich
will wissen, was das ist.
»Habe ich Ihnen schon mal meinen Lieblingswitz erzählt?«, fragt Cap.
»Nein.« Froh über den Themenwechsel, schüttle ich den Kopf und ziehe
noch ein Taschentuch aus der Schachtel, die er mir hinhält.
»Klopf, klopf«, sagt er.
Ich habe nicht erwartet, dass er mir einen Kinderwitz erzählen würde,
spiele aber mit. »Wer ist da?«, frage ich.
»Feuer«, sagt er.
»Feuer? Feuer wer?«
»Feuerwehr!«, ruft er und schlägt sich vor Lachen auf die Schenkel.
Ich starre ihn an. Und dann lache ich mit.
Ich lache so laut, wie ich es schon seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr
getan habe.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
MILES
***
***
»Corbin weiß von Miles und mir«, sage ich zu Cap, als ich mich in den
Sessel setze, der mittlerweile zu meinem Stammplatz geworden ist.
»Oje«, seufzt er. »Hat der Junge es überlebt?«
Ich nicke. »Für den Moment ja. Allerdings weiß ich nicht, wie lange
noch.«
Die Eingangstür geht auf und Dillon tritt in die Halle. Er zieht sich die
Mütze vom Kopf und schüttelt die Regentropfen heraus, während er zum
Lift geht.
»Manchmal wünsche ich mir, die Flüge, die ich nach oben schicke,
würden abstürzen«, murmelt Cap.
Ich nehme an, das heißt, dass er Dillon auch nicht besonders
sympathisch findet. Allmählich beginnt mir der Kerl fast leidzutun.
Als er an uns vorbeikommt, steht Cap auf, aber Dillon ist schneller. »Ich
bin durchaus in der Lage, den Aufzugknopf selbst zu drücken, alter Mann«,
zischt er.
Ich erinnere mich vage daran, vor zehn Sekunden so etwas wie
Mitgefühl für Dillon empfunden zu haben. Das nehme ich wieder zurück.
»Na, Tate.« Dillon zwinkert mir zu. »Was machst du so?«
»Siehst du doch. Ich wasche Elefanten«, sage ich mit todernster Miene.
Dillon sieht mich verwirrt an.
»Wer dumme Fragen stellt«, brummt Cap, »sollte sich nicht wundern,
wenn er dumme Antworten bekommt.«
Die Aufzugtür geht auf und Dillon verdreht die Augen, bevor er
einsteigt.
Cap sieht mich grinsend an, im nächsten Moment heben wir beide die
Hand und klatschen uns ab.
Vierundzwanzigstes Kapitel
MILES
***
Rachel legt den Brief zur Seite, dann beugt sie sich zu mir und umarmt
mich.
»Das heißt, wir können jetzt schon ausziehen?«, fragt sie.
Ich liebe die Vorfreude in ihrer Stimme.
Ich nicke. Rachel ist erleichtert. Es wird sich gut anfühlen, als richtiges Paar
zusammenzuwohnen.
»Hast du deinen Vater schon gefragt?«
Ich erinnere sie daran, dass wir beide volljährig sind. Wir müssen
niemanden mehr um Erlaubnis bitten.
Wir müssen nur noch informieren.
Rachel sagt, dass sie das am liebsten gleich tun würde.
Also gehen wir Hand in Hand ins Wohnzimmer, um meinem Dad und ihrer
Mom zu sagen, dass wir ins Studentenheim ziehen werden.
Wir beide zusammen.
Fünfundzwanzigstes Kapitel
TATE
***
***
»Miles.«
Ich liebe meinen Namen, wenn er aus ihrem Mund kommt. Sie geht
sparsam damit um und sagt ihn nur, wenn sie mich braucht. Nur in
dringenden Fällen.
»Miles.«
Sie hat meinen Namen ein zweites Mal gesagt.
Das heißt, dass es dringend ist.
Ich drehe mich um und setze mich auf.
Sie sieht mich mit großen Augen an.
»Miles.« Das war das dritte Mal. »Miles.« Das vierte.
»Es tut weh.«
Verdammt, es geht los.
Ich springe aus dem Bett und greife nach der gepackten Tasche. Ich helfe
Rachel beim Anziehen. Ich helfe ihr zum Wagen.
Sie hat Angst.
Vielleicht habe ich sogar noch mehr Angst als sie.
Ich halte während der Fahrt ihre Hand und sage ihr, dass sie atmen soll.
Keine Ahnung, warum ich das sage. Sie weiß selbst, dass sie atmen muss.
Ich weiß nicht, was ich ihr sonst sagen soll.
Ich fühle mich so hilflos.
Vielleicht braucht sie ihre Mutter.
»Soll ich sie anrufen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Noch nicht«, sagt sie. »Lieber erst hinterher.«
Sie will, dass nur ich bei ihr bin. Nur wir beide. Das finde ich schön. Ich
will auch nicht, dass andere dabei sind.
Ein Pfleger hilft ihr aus dem Wagen und bringt uns in ein Zimmer. Ich bin
für Rachel da, besorge ihr, was sie braucht.
»Möchtest du Eis?«
Ich hole es ihr.
»Soll ich dir ein feuchtes Tuch holen?«
Ich bringe es ihr.
»Stört dich der Fernseher?«
Ich schalte ihn aus.
»Brauchst du noch eine Decke? Du siehst aus, als wäre dir kalt.«
Ich hole ihr keine zusätzliche Decke. Ihr ist nicht kalt.
»Willst du noch mehr Eis?«
Sie will kein Eis.
Sie will, dass ich den Mund halte.
Ich halte den Mund.
»Gib mir deine Hand, Miles.«
Ich gebe sie ihr.
Ich will sie zurück.
Sie drückt so fest zu, dass es wehtut.
Ich lasse sie meine Hand trotzdem weiter halten.
Sie ist still, gibt keinen Laut von sich, atmet nur.
Sie ist unglaublich.
Ich weine, ohne zu wissen, warum.
Verdammt, ich liebe dich so sehr, Rachel.
»Gleich hat sie es geschafft«, sagt die Ärztin.
Ich küsse Rachel auf die Stirn.
Und dann passiert es.
Ich bin Vater
Sie ist Mutter.
»Es ist ein Junge«, sagt die Ärztin.
Sie legt ihn ihr auf die Brust.
Rachel hält ihn.
Sie hält mein Herz.
Er hört auf zu schreien.
Er öffnet blinzelnd die Augen.
Rachel weint.
Rachel lacht.
Rachel bedankt sich bei mir.
Bei mir. Als wäre nicht sie diejenige, die das hier geschaffen hat.
Rachel spinnt.
»Ich liebe ihn jetzt schon so furchtbar, Miles«, sagt sie. Sie weint immer
noch. »Ich liebe ihn so sehr.«
»Ich liebe ihn auch«, sage ich. Ich streichle ihn. Ich würde ihn gern halten,
aber noch lieber möchte ich sie halten. Sie sieht so wunderschön aus mit
ihm in den Armen.
Rachel sieht zu mir auf.
»Sagst du mir jetzt bitte, wie er heißt?«
Ich hatte gehofft, unser Baby würde ein Junge werden, damit ich die
Chance bekomme, ihr seinen Namen zu sagen,
weil ich weiß, dass sie ihn lieben wird.
Ich hoffe, sie erinnert sich an den Moment, in dem sie
mein Ein und Alles wurde.
Miles ist auch in Mr Claytons Kurs, Rachel.
Er zeigt dir den Weg.
»Er heißt Clayton.«
Rachel lacht und schluchzt gleichzeitig.
Sie erinnert sich.
»Der Name ist perfekt«, sagt sie und hat Tränen in der Stimme. Jetzt weint
sie richtig.
Sie möchte, dass ich ihn halte.
Ich setze mich zu ihr aufs Bett und nehme ihn.
Ich halte ihn im Arm.
Halte meinen Sohn.
Rachel lehnt ihren Kopf an meine Schulter und wir sehen auf ihn hinunter.
Wir betrachten ihn lange.
Ich sage Rachel, dass er ihre roten Haare hat. Rachel sagt, dass er meine
Lippen hat. Ich sage Rachel, dass ich hoffe, er hat ihre Persönlichkeit. Sie
schüttelt den Kopf und sagt, sie hofft, dass er wird wie ich.
»Er wird unser Leben so viel schöner machen«, sagt sie.
»Das wird er.«
»Wir haben so viel Glück, Miles.«
»Das haben wir.«
Rachel drückt meine Hand.
»Wir haben das hier«, flüstert Rachel,
»Und wie wir das hier haben«, sage ich.
Clayton gähnt und wir lachen.
Wie kann ein Gähnen nur so süß sein?
Ich streichle über seine kleinen Finger.
Wir lieben dich so sehr, Clayton.
Siebenundzwanzigstes Kapitel
TATE
Ich steige aus dem Aufzug, gehe zu Cap rüber und lasse mich erschöpft in
den Sessel neben ihm fallen. Nachdem ich vorhin von der Arbeit
gekommen bin, habe ich mich sofort an den Schreibtisch gesetzt und die
folgenden zwei Stunden ohne Pause für die Uni gelernt. Inzwischen ist es
nach zehn und ich habe immer noch meine Arbeitsklamotten an und nichts
im Magen. Aber genau deswegen bin ich hier unten. Cap hat uns Pizza
bestellt.
Ich reiche ihm ein Stück, nehme mir selbst eines, dann klappe ich den
Deckel zu und stelle den Karton vor mich auf den Boden. Während ich
hungrig abbeiße, hält Cap sein Stück immer noch in der Hand und
betrachtet es kopfschüttelnd.
»Was sind das nur für Zeiten, in denen eine Pizza schneller kommt als
die Polizei oder ein Krankenwagen?«, sagt er. »Es ist gerade mal zehn
Minuten her, dass ich beim Lieferdienst angerufen habe.« Er nimmt einen
Bissen, kaut und schließt genießerisch die Augen.
Nachdem wir unsere Stücke aufgegessen haben, nehme ich mir ein
zweites und sehe ihn fragend an, aber er schüttelt den Kopf. Ich stelle die
Schachtel wieder auf den Boden.
»Wie ist die Stimmung?«, erkundigt er sich. »Macht die Versöhnung
zwischen Ihrem Bruder und dem Jungen Fortschritte?«
Es bringt mich zum Lachen, dass er Miles immer als den Jungen
bezeichnet. Ich nicke. »Sieht ganz so aus«, sage ich mit vollem Mund.
»Zumindest haben sie den letzten Football-Abend ohne Blutvergießen
hinter sich gebracht. Wobei das wahrscheinlich auch daran lag, dass Miles
die ganze Zeit so getan hat, als wäre ich Luft. Ich weiß nicht, wie ich das
finden soll. Er macht das aus Respekt gegenüber Corbin, das verstehe ich
schon, aber gleichzeitig ist es auch ein bisschen respektlos mir gegenüber,
oder?«
Cap nickt verständnisvoll, obwohl ich mir nicht sicher bin, dass er mich
wirklich versteht. Trotzdem tut es gut, jemanden zu haben, der mir zuhört.
»Okay, er hat mir die ganze Zeit heimlich Nachrichten aufs Handy
geschickt, während er im Wohnzimmer neben Corbin saß«, sage ich. »Aber
dann gibt es auch wieder Wochen so wie im Moment, in denen er unterwegs
ist und mir das Gefühl gibt, ich würde gar nicht existieren. Keine
Nachrichten. Kein Anruf. Gar nichts. Ich glaube allmählich, dass er sich
immer erst dann wieder daran erinnert, dass ich ja auch noch da bin, wenn
er zu Hause ist.«
Cap schüttelt den Kopf. »Das bezweifle ich, Tate. Ich bin mir ziemlich
sicher, dass der Junge viel häufiger an Sie denkt, als Sie ahnen.«
Ich schaue skeptisch, auch wenn ich ihm gern glauben würde.
»Aber falls er es nicht tut«, fährt Cap fort, »dürfen Sie ihm das auch
nicht übel nehmen. Schließlich war das nicht Teil Ihrer Abmachung,
stimmt’s?«
Ich verdrehe die Augen. Auch wenn Cap natürlich recht hat, lasse ich
mich nicht gern daran erinnern, dass Miles nicht derjenige ist, der
irgendwelche Regeln bricht. Ich bin es, die Probleme damit hat.
»Wie bin ich da nur reingeraten?«, seufze ich, ohne eine Antwort zu
erwarten. Ich weiß genau, wie ich da hineingeraten bin, und auch, wie ich
wieder herauskommen würde … ich will es bloß nicht.
»Kennen Sie den Spruch mit den Zitronen?«, fragt Cap. »Wenn das
Leben dir Zitronen gibt …«
»… mach Limonade daraus«, beende ich den Satz.
Cap sieht mich kopfschüttelnd an. »Nein, so geht der Spruch nicht«,
behauptet er. »Wenn das Leben dir Zitronen gibt, überleg dir, wer es
verdient hat, dass du ihm den Saft in die Augen spritzt.«
Ich lache, nehme mir ein drittes Stück Pizza und frage mich, wie es
passieren konnte, dass dieser achtzigjährige Mann mein bester Freund
geworden ist.
***
Zu wissen, dass wirklich alles gut ist, erfüllt mich mit noch mehr
Erleichterung.
»Das war Corbin«, sage ich zu Miles. »Er schreibt, dass es dir auch gut
geht. Falls du dir Sorgen um dich selbst gemacht haben solltest.«
Miles lacht. »Er hat sich nach mir erkundigt? Ich wusste, dass er mich
nicht ewig hassen wird.«
Ich lächle. Die Tatsche, dass Corbin sich vergewissert hat, dass Miles
nichts passiert ist, macht mich noch glücklicher.
»Wann kommt er wieder?« Miles zieht mich enger an sich.
»Erst in zwei Tagen.« Ich sehe ihn an. »Seit wann bist du eigentlich
wieder da?«
»Etwa seit zwei Minuten. Ich hatte mein Handy gerade ans Ladekabel
gesteckt, als du angerufen hast.«
»Ich bin froh, dass du wieder da bist.«
Er sagt nicht, dass er auch froh ist, wieder da zu sein, sondern gibt mir
nur einen Kuss. Wahrscheinlich will er mir keine falschen Hoffnungen
machen.
Er zieht mich auf seinen Schoß. »Ich weiß, dass die Umstände, weshalb
du nur halb angezogen bist, schrecklich waren, aber … ich finde es
trotzdem toll, dass du keine Schlafanzughose anhast.«
Seine Hände gleiten über meine Schenkel. Er zieht mich an sich und
küsst mich erst auf die Nasenspitze, dann aufs Kinn.
»Miles?« Ich streiche ihm durch die Haare, lasse die Hände seinen
Nacken bis zu den Schultern hinabgleiten. »Ich hab mir schreckliche
Sorgen um Corbin gemacht, aber ich hatte auch um dich Angst«, flüstere
ich. »Deswegen habe ich gesagt, dass ich froh bin, dass du wieder da bist.«
Sein Blick wird weich und die Anspannung in seinem Gesicht löst sich.
Ich weiß nichts über seine Vergangenheit und sein sonstiges Leben, aber
mir ist nicht entgangen, dass er niemanden angerufen hat, um zu sagen, dass
es ihm gut geht. Das macht mich traurig für ihn.
Sein Blick wandert an meinem T-Shirt hinab, dann greift er nach dem
Saum, zieht es mir behutsam über den Kopf und wirft es zu Boden. Jetzt
habe ich nichts als meinen Slip an.
Er beugt sich vor, schlingt die Arme um meine Taille und zieht mich an
sich. In dem Moment, in dem ich seine Lippen heiß um meine Brustwarze
spüre, schließe ich unwillkürlich die Augen. Meine Arme sind von
Gänsehaut überzogen, als er meinen Rücken hinab und dann meine
Schenkel entlangstreichelt. Sein Mund wandert zur anderen Brust, während
er gleichzeitig die Finger seitlich in meinen Slip schiebt.
»Ich fürchte, dass ich dir den leider vom Leib reißen muss, weil ich auf
gar keinen Fall möchte, dass du aus meinem Schoß aufstehst«, sagt er mit
rauer Stimme.
Ich lächle. »Ist okay. Ich hab noch mehr davon.«
Ich spüre, wie er an meine Brüste gepresst grinst, während er
versuchsweise am Slip zieht, doch der Stoff ist zu stabil gewebt und gibt
nicht nach. Miles versucht es an einer anderen Stelle. Vergeblich.
»Hey, das tut weh«, protestiere ich lachend.
Er seufzt frustriert. »Wenn die das in Filmen machen, sieht es immer
total einfach und sexy aus.«
Ich setze mich auf. »Versuch es noch mal«, sage ich. »Na los, du kannst
das schaffen, Miles. Ich weiß es.«
Miles packt den Slip entschlossen an der linken Seite und zerrt mit aller
Kraft daran.
»Aua!«, schreie ich, als das Gummiband auf der rechten Seite
schmerzhaft in mein Fleisch schneidet.
Er presst sein Gesicht lachend an meinen Hals. »Entschuldige bitte«,
sagt er. »Du hast nicht zufällig eine Schere in Griffweite?«
Bei dem Gedanken, er könnte sich jetzt auch noch mit einer Schere an
mir zu schaffen machen, wird mir dann doch etwas mulmig, weshalb ich
kurz entschlossen aufstehe, den Slip ausziehe und mit dem Fuß
wegschleudere.
»Wow. Dieses Schauspiel macht meinen kläglichen Versuch, sexy sein
zu wollen, vollkommen wett«, sagt Miles.
»Die Kläglichkeit deines Versuchs, sexy zu sein, hat dich erst sexy
gemacht.«
Miles lacht und ich setze mich wieder auf seinen Schoß. Er umfasst
meine Hüften und zieht mich noch ein Stück näher. »Mein Versagen macht
dich also an, ja?«, fragt er grinsend.
»Oh ja«, murmle ich. »Und wie.«
Seine Hände sind wieder auf mir und streichen meinen Rücken hinauf
und dann die Arme hinab. »Ich hatte von dreizehn bis ungefähr sechzehn
eine Phase, da hättest du dich sofort in mich verliebt«, sagt er. »Damals hab
ich mich ständig zum Affen gemacht. Ich war ein Totalversager. Besonders
beim Football.«
Ich grinse. »Endlich erfahre ich mal was Interessantes über dich. Erzähl
mir mehr.«
»Baseball war auch ganz schlimm.« Er presst seinen Mund auf meinen
Hals. »Ich war so doof, dass ich sogar in Erdkunde durchgefallen bin.« Er
küsst sich zu meinem Ohr hinauf.
»Gott, ist das scharf«, stöhne ich. »Sprich weiter.«
Er streicht mit den Lippen über meine Wange zu meinem Mund und
zieht mich dann zu einem Kuss an sich, der so hauchzart ist, dass ich ihn
kaum spüre. »Aber Küssen war das Allerschlimmste. Es war erbärmlich.
Einmal hätte ich ein Mädchen mit meiner Zunge fast erstickt.«
Ich muss lachen.
»Soll ich dir zeigen, wie ich es gemacht habe?«
Als ich nicke, packt er mich an den Schultern, legt mich rücklings auf
die Couch, hockt sich über mich und befiehlt: »Mund auf.«
Ich gehorche. Miles quetscht seine Lippen auf meine, stößt mir seine
Zunge in den Rachen und gibt mir den widerlichsten Kuss, den ich jemals
bekommen habe. Ich versuche ihn lachend wegzudrücken, habe aber keine
Chance. Als ich das Gesicht zur Seite drehe, leckt er mir einmal quer über
die Wange, worauf ich noch hysterischer lachen muss.
»Oh mein Gott, Miles! Das war schrecklich.«
Er sieht mich an und nickt. »Seitdem habe ich aber dazugelernt.«
»Das kann ich bestätigen«, sage ich aus vollem Herzen.
Wir lächeln beide. Ihn so entspannt zu erleben, erfüllt mich mit den
unterschiedlichsten Gefühlen. Einerseits macht es mich glücklich, dass wir
so albern sein und so viel Spaß miteinander haben können – aber
gleichzeitig macht es mich auch sauer, weil ich nicht anders kann, als mir
mehr davon zu wünschen. Mehr von ihm.
Wir sehen uns schweigend an, bis er mir ganz langsam den Kopf
zuneigt. Erst haucht er nur winzige Küsse rings um meine Lippen, dann
werden die Küsse länger und eindringlicher, bis seine Zunge schließlich
meine Lippen teilt und der Kuss, den ich bekomme, nichts Verspieltes mehr
an sich hat.
Unser Atem beschleunigt sich, das Spielerische verwandelt sich in Ernst
und bald fliegen seine Sachen Stück für Stück auf den Boden, wo meine
schon liegen.
»Couch oder Bett?«, flüstert er.
»Beides«, hauche ich.
Er gehorcht.
***
»Und wenn er schwul wird?«, fragt Rachel. »Würde dir das was
ausmachen?«
Sie hält Clayton im Arm.
Ich sitze an ihrem Bett und sehe sie an, wie sie ihn ansieht.
Rachel spielt wieder Advokatin des Teufels und stellt mir Fragen, die mich
zum Nachdenken bringen.
Sie sagt, dass wir diese Dinge jetzt besprechen müssen, damit wir als Eltern
später auf alles vorbereitet sind.
»Mir würde es nur etwas ausmachen, wenn er das Gefühl hätte, nicht offen
mit uns darüber sprechen zu können. Ich wünsche mir, dass er weiß, dass er
uns immer alles sagen kann.«
Rachel lächelt Clayton an, aber ich weiß, dass das Lächeln mir gilt.
Weil ihr meine Antwort gefallen hat.
»Und wenn er nicht an Gott glaubt?«, fragt sie.
»Er kann glauben, an wen oder was er will. Ich hoffe nur, dass ihn sein
Glaube – oder eben die Entscheidung, an nichts zu glauben – glücklich
macht.«
Rachel lächelt wieder.
»Was, wenn er irgendein total entsetzliches, grausames und herzloses
Verbrechen begeht und dafür lebenslänglich ins Gefängnis kommt?«
»Dann würde ich mich fragen, was ich als Vater falsch gemacht habe«,
antworte ich.
Rachel sieht mich an. »Auf Grundlage dieses Verhörs gehe ich davon aus,
dass er niemals ein Verbrechen begehen wird, weil du der beste Vater bist,
den ich mir vorstellen kann.«
Jetzt lächle ich.
Wir schauen beide zur Tür, als eine Schwester hereinkommt.
»Es ist so weit.«
Rachel stöhnt. Ich schaue verwirrt. Rachel sieht meine fragende Miene.
»Seine Beschneidung.«
Ich spüre einen Kloß im Hals. Wir haben vorher darüber gesprochen, dass
Rachel ihn beschneiden lassen möchte, aber wenn ich daran denke, was er
gleich durchmachen muss, kommen mir plötzlich doch Zweifel.
»Es tut ihm nicht weh«, sagt die Schwester. »Er bekommt eine Betäubung.«
Sie will ihn Rachel aus den Armen nehmen, aber ich gehe dazwischen.
»Warten Sie«, sage ich. »Ich muss noch mal kurz mit ihm reden.«
Die Schwester tritt zurück und Rachel reicht ihn mir. Ich halte ihn im Arm
und sehe auf ihn herab.
»Tut mir total leid, Clayton. Ich weiß, dass das gleich nicht schön für dich
wird und dass du vielleicht denkst, sie rauben dir deine Männlichkeit …«
»Er ist gerade mal einen Tag alt«, sagt Rachel lachend. »Da ist noch nicht
viel Männlichkeit, die man ihm rauben kann.«
Ich sage ihr, dass sie sich bitte raushalten soll, weil Clayton und ich hier
gerade einen sehr wichtigen Vater-Sohn-Moment erleben, weswegen sie so
tun muss, als wäre sie gar nicht da.
»Keine Sorge, Mommy ist gerade aus dem Zimmer gegangen«, sage ich zu
Clayton und zwinkere Rachel zu. »Also noch mal: Du denkst jetzt
vielleicht, dass die dir deine Männlichkeit rauben, aber später wirst du uns
dafür dankbar sein. Besonders wenn du anfängst, dich näher mit Mädchen
zu beschäftigen. Was hoffentlich erst der Fall ist, wenn du achtzehn und
vernünftig bist, aber wahrscheinlich eher mit sechzehn passiert. Bei mir war
es jedenfalls so.«
Rachel streckt die Arme nach ihm aus. »Okay, das reicht jetzt für euer
erstes Vater-Sohn-Gespräch«, sagt sie mit gespielter Strenge. »Ich glaube,
während unserem Sohn seine Männlichkeit geraubt wird, müssen wir
festlegen, über welche Themen du dich mit ihm in welchem Alter
unterhalten solltest.«
Ich drücke Clayton einen Kuss auf die Stirn und gebe ihn Rachel zurück.
Sie küsst ihn auch und reicht ihn dann der Schwester.
Wir schauen ihm beide hinterher, als er rausgetragen wird.
Dann sehe ich Rachel an, krabble schnell zu ihr ins Bett und lege mich
neben sie.
»Wir haben sturmfreie Bude«, flüstere ich. »Lass uns knutschen.«
Rachel zieht eine Grimasse. »Ich fühle mich gerade nicht besonders sexy«,
sagt sie. »Mein Bauch ist schwabbelig und meine Brüste spannen und ich
müsste dringend duschen, aber das traue ich mich nicht, weil mir immer
noch alles wehtut.«
Ich zupfe am Kragen ihres Nachthemds und spähe hinein. »Wie lange
bleiben die so?«, frage ich grinsend.
Rachel lacht und stößt meine Hand weg.
»Und dein Mund, wie geht es dem?«, frage ich.
Sie versteht nicht.
»Na ja, ich frag mich bloß, ob dein Mund auch wehtut, weil ich dich gern
küssen würde.«
Sie lächelt. »Meinem Mund geht es großartig.«
Ich sehe auf sie herab.
Das zwischen uns fühlt sich auf einmal so anders an.
So echt.
Bis gestern hat es sich angefühlt, als würden wir Mann und Frau spielen.
Natürlich lieben wir uns und meinen es mit unserer Beziehung sehr ernst,
aber seit ich miterlebt habe, wie Rachel unserem Sohn das Leben geschenkt
hat, kommt mir das Davor verglichen mit dem, was ich jetzt für sie
empfinde, wie ein Kinderspiel vor.
»Ich liebe dich, Rachel. Noch mehr, als ich dich gestern geliebt habe.«
Sie sieht mich an, als wüsste sie genau, was ich meine. »Wenn du mich
heute mehr liebst, als du mich gestern geliebt hast, dann freue ich mich jetzt
schon auf morgen«, sagt sie.
Ich beuge mich hinab und küsse sie.
Weil ich gar nicht anders kann.
***
Ich stehe im Flur vor Rachels Zimmer. Clayton hat alles gut überstanden
und jetzt schlafen beide.
Die Schwester hat gesagt, er hätte kaum geweint. Obwohl ich den starken
Verdacht habe, dass sie das allen Eltern erzählt, glaube ich ihr.
Ich ziehe mein Handy raus und schreibe Ian.
Mein Vater kommt mit zwei Bechern Kaffee auf mich zu.
Ich stecke das Handy in die Tasche und greife nach dem Becher, den er mir
hinhält.
»Er sieht aus wie du«, sagt er.
Er versucht, es zu akzeptieren.
»Tja, und ich sehe aus wie du«, sage ich und hebe meinen Becher. »Auf
unsere Gene!«
Dad stößt mit mir an.
Er gibt sich Mühe.
Er lehnt sich an die Wand und schaut auf seinen Kaffee.
Er will irgendetwas sagen, das spüre ich.
»Was gibt’s?«, frage ich.
Er hebt den Blick.
»Ich bin stolz auf dich.«
Es ist ein ganz schlichter Satz.
Nur fünf Wörter.
Fünf der stärksten Wörter, die ich je gehört habe.
»Natürlich kann ich nicht behaupten, dass es das ist, was ich mir für dich
gewünscht habe. Niemand will, dass sein Sohn schon mit achtzehn Vater
wird, aber … ich bin stolz auf dich. Darauf, wie du damit umgegangen bist.
Wie du dich gekümmert hast.« Er lächelt. »Du hast aus einer schwierigen
Situation das Beste gemacht. Ich bin mir sicher, das hätten die meisten
Erwachsenen nicht so hingekriegt.«
Ich lächle. »Danke.«
Aber damit ist unsere Unterhaltung anscheinend noch nicht beendet.
»Miles …«, sagt er zögernd. »Wegen Lisa und … deiner Mom.«
Ich hebe die Hand. Ich will dieses Gespräch nicht führen. Nicht heute. Er
soll diesen Tag nicht benutzen, um zu rechtfertigen, was er meiner Mutter
angetan hat.
»Ist okay, Dad. Darüber reden wir ein anderes Mal.«
Er schüttelt den Kopf. Sagt, dass er heute darüber reden muss. Dass es
wichtig ist.
Nein, will ich widersprechen. Nein, ist es nicht.
Clayton ist wichtig.
Ich will mich nur auf Clayton und auf Rachel konzentrieren und nicht
darüber nachdenken, dass mein Vater ein Mensch ist, der schreckliche
Entscheidungen trifft, wie wir alle.
Aber das sage ich ihm nicht.
Ich höre ihm zu.
Weil er mein Vater ist.
Neunundzwanzigstes Kapitel
TATE
Ich gehe mit meinem Handy ins Wohnzimmer, wo Corbin auf der Couch
sitzt. »Es gibt einen Pool auf dem Dach?«
Mein Bruder nickt, ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen.
»Mhmm.«
»Machst du Witze?«, sage ich. »Ich wohne jetzt schon so lange hier und
du hast mir nie erzählt, dass es einen Pool gibt?«
Jetzt sieht er mich an und zuckt mit den Schultern. »Ich hasse Pools.«
Oh Mann. Ich könnte ihm eine runterhauen.
Ich: Corbin hat mir nie gesagt, dass es hier einen Pool gibt. Ich zieh
mich schnell um und komm rüber.
Miles: ;-)
***
Erst als ich schon in Miles’ Apartment bin und die Tür hinter mir zudrücke,
fällt mir auf, dass ich vor lauter Eile gar nicht angeklopft habe, wie ich es
sonst immer tue. Miles, der in der Tür seines Schlafzimmers steht und mich
stirnrunzelnd ansieht, macht nicht den Eindruck, als fände er das in
Ordnung.
»Ups. Entschuldige, dass ich so reinplatze …«
»Dein Bikini ist ganz schön knapp«, sagt er kritisch.
Ich schaue an mir herunter. »Du meinst, ich kann so nicht hoch? Ich hab
doch extra noch Shorts drübergezogen.«
Weil ich mir plötzlich sehr nackt vorkomme, drücke ich mir das
Badetuch an den Körper und verschränke die Arme vor der Brust.
Miles geht kopfschüttelnd auf mich zu. »Es ist nur …« Er grinst. »Na
ja … hoffen wir mal, dass da oben um diese Uhrzeit niemand mehr ist. Ich
glaube nämlich nicht, dass ich verheimlichen kann, wie gut du mir in
deinem Bikini gefällst.« Er sieht an seinen Shorts herunter, die sich im
Schritt ziemlich auffällig wölben.
Ich lache. Dann lag es also gar nicht daran, dass ich nicht angeklopft
habe.
Miles legt mir beide Hände auf den Po und zieht mich an sich. »Ich hab
meine Meinung geändert, Tate«, erklärt er. »Ich möchte doch lieber
hierbleiben.«
»Wie du willst«, sage ich. »Aber dann wirst du sehr, sehr einsam sein.
Ich gehe nämlich schwimmen.«
Miles drückt mich gegen die Tür und gibt mir einen Kuss. »Du aber
auch«, sagt er. »Deswegen komme ich doch lieber mit.«
***
Miles tippt den Code für den Zugang zum Dach in das Display neben der
Tür und hält sie mir auf. Erleichtert stelle ich fest, dass außer uns
tatsächlich niemand da ist, und sehe mich mit offenem Mund um. Der
Anblick des im Sternenlicht glitzernden Infinity Pools vor der Skyline der
Stadt raubt mir den Atem. An drei Seiten des Beckens stehen Liegestühle
aufgereiht und es gibt sogar einen Jacuzzi.
»Ich fasse es nicht, dass ihr mir das hier beide verschwiegen habt«, sage
ich empört. »Wenn ich daran denke, was ich all die Monate verpasst habe!«
Miles nimmt mir das Badetuch ab, legt es auf einen der niedrigen
Tische, die rings um den Pool verteilt stehen, und macht den Knopf an
meinen Shorts auf. »Verzeihst du mir, wenn ich dir sage, dass ich heute
auch zum ersten Mal hier bin?« Er schiebt mir die Shorts über die Hüften.
»Zieh dich aus«, flüstert er lächelnd. »Ich will mit dir baden gehen.«
Während ich aus meinen Shorts steige, streift Miles sich sein T-Shirt
über den Kopf. Ich habe eine Gänsehaut, weil es doch ziemlich kalt ist, aber
vom beheizten Wasser steigt einladend Dampf auf. Vorsichtig gehe ich die
Treppe hinunter, die in den Pool führt, Miles macht einen Kopfsprung ins
tiefe Ende. Sobald meine Beine umspült werden, nehme ich die nachtkalte
Luft umso deutlicher wahr, breite die Arme aus und lasse mich ganz in das
warme Wasser sinken. Ich schwimme einige Züge, dann lege ich die Arme
auf den Beckenrand und sehe auf die Stadt hinunter.
Miles kommt zu mir geschwommen, umfängt mich von hinten und stützt
sich rechts und links von mir auf den Rand. Den Oberkörper an meinen
Rücken gepresst, legt er seine Schläfe an meine, während wir die Aussicht
in uns aufnehmen.
»Unglaublich schön«, flüstere ich.
Miles sagt nichts.
Schweigend sehen wir mehrere Minuten lang auf die in der Dunkelheit
funkelnden Lichter der Stadt hinaus. Miles schöpft mir immer wieder
warmes Wasser über die Schultern, um meine Gänsehaut zu vertreiben.
»Bist du in San Francisco aufgewachsen oder erst später
hierhergezogen?« Ich drehe mich langsam zu ihm um, sodass ich ihn
ansehen kann. Miles lässt seine Hände auf dem Beckenrand liegen.
»Ich bin hier ganz in der Nähe aufgewachsen«, sagt er, während er über
meine Schulter hinweg weiter auf die Stadt blickt.
Ich würde gern wissen, wo genau er gelebt hat, aber diese Frage
verkneife ich mir. Seine Körpersprache gibt mir deutlich zu verstehen, dass
er darüber nicht sprechen will. Er will nie über sich sprechen.
»Hast du noch Geschwister?«, taste ich mich trotzdem langsam weiter.
Vielleicht komme ich ja mit dieser Frage durch.
Jetzt sieht er mir in die Augen und presst die Lippen zusammen. »Was
soll das, Tate?« Seine Stimme klingt ruhig, aber ich merke, dass er gereizt
ist.
»Wieso? Ich versuche nur, mich ganz normal mit dir zu unterhalten«,
verteidige ich mich.
»Es gibt genug andere Themen, über die ich lieber rede als über mich
selbst.«
Aber das ist das Einzige, was mich interessiert, Miles.
Ich nicke, weil ich einsehe, dass ich die von ihm aufgestellte Regel zwar
nicht breche, aber doch ziemlich strapaziere. Er fühlt sich einfach sofort
unwohl, sobald es ihm zu persönlich wird.
Ich drehe mich wieder zur Stadt. Miles steht nach wie vor hinter mir,
doch etwas hat sich verändert. Er ist angespannt. Wachsam.
Verteidigungsbereit.
Ich weiß nichts über ihn. Gar nichts. Bisher hat er seine Eltern mit
keinem Wort erwähnt, während er meinen Vater und meine Mutter sogar
persönlich kennengelernt hat. Er hat in meinem Kinderbett geschlafen, will
mir aber nicht einmal sagen, wo er seine Kindheit verbracht hat. Bei ihm
weiß ich nie, was ich sagen oder tun darf, damit er nicht sofort wieder
dichtmacht, während ich ihm gegenüber völlig offen bin und nichts vor ihm
verberge.
Er bekommt mich als genau die zu sehen, die ich bin.
Ich bekomme ihn gar nicht zu sehen.
Verstohlen wische ich mir eine Träne weg, die mir irgendwie aus dem
Augenwinkel entwischt ist und über meine Wange rollt. Miles soll mich auf
keinen Fall weinen sehen. Auch wenn ich in den letzten Wochen versucht
habe, mit aller Kraft dagegen anzukämpfen, muss ich mir eingestehen, dass
das, was ich für ihn empfinde, endgültig weit über unverbindlichen Sex
hinausgeht. Und ich muss mir genauso eingestehen, dass ich niemals in der
Lage sein werde, es zu beenden. Ich habe solche Angst, ihn zu verlieren,
dass ich mich mit dem wenigen begnüge, das ich bekomme, obwohl ich
genau weiß, dass ich viel mehr verdient hätte.
Miles dreht mich behutsam an den Schultern wieder zu sich. Als ich ihn
nicht ansehe, sondern aufs Wasser starre, legt er einen Zeigefinger unter
mein Kinn und hebt mein Gesicht an. Ich weigere mich weiterhin, ihm in
die Augen zu sehen, und blinzle meine Tränen zurück.
»Hey, es tut mir leid.«
Ich weiß nicht, wofür er sich entschuldigt. Ich weiß nicht einmal, ob er
selbst weiß, wofür er sich entschuldigt. Aber wir beide wissen, dass meine
Tränen etwas mit ihm zu tun haben. Wahrscheinlich ist das der Grund,
warum er sich entschuldigt. Weil er nicht in der Lage ist, mir zu geben, was
ich möchte.
Er gibt es auf, mich zwingen zu wollen, ihn anzusehen, und zieht mich
stattdessen an seine Brust. Ich drücke mein Ohr an die Stelle, wo ich seinen
Herzschlag höre, und er legt sein Kinn auf meinen Kopf.
»Denkst du, wir sollen es vielleicht lieber sein lassen?«, fragt er leise.
Seine Stimme klingt beinahe ängstlich, so als würde er sich verpflichtet
fühlen, mich das zu fragen, obwohl er zugleich hofft, dass ich Nein sage.
»Nein«, flüstere ich.
Er seufzt. Es könnte ein Seufzer der Erleichterung sein, aber ich will mir
nichts einreden. »Wirst du mir ehrlich antworten, wenn ich dich etwas
frage?«
Ich zucke nur mit den Achseln, weil ich ganz bestimmt nichts
versprechen werde, ohne die Frage zu kennen.
»Machst du das alles vielleicht nur deswegen mit, weil du hoffst, dass
ich meine Meinung irgendwann ändere? Weil du denkst, es gäbe eine
Chance, dass ich mich doch noch in dich verliebe?«
Das ist der einzige Grund, warum ich das alles mitmache, Miles.
Aber das sage ich nicht. Ich sage gar nichts.
»Das kann ich nämlich nicht, Tate. Ich bin einfach zu …« Er beendet
den Satz nicht, was mir die Zeit gibt, jedes einzelne seiner Worte zu
analysieren – vor allem die Tatsache, dass er nicht Ich will nicht gesagt hat,
sondern Ich kann nicht. Aber warum kann er nicht? Denkt er, ich wäre nicht
die Richtige für ihn? Ist es die Furcht, mir eines Tages womöglich das Herz
brechen zu müssen? Ich frage ihn nicht, was genau er damit meint, weil mir
keine Antwort einfällt, die mich überzeugen würde. In meinen Augen gibt
es keine Rechtfertigung dafür, dass er es sich selbst versagt, glücklich zu
sein.
Vielleicht frage ich ihn aber auch deshalb nicht, weil ich ahne, dass der
wahre Grund einer sein könnte, auf den ich nicht vorbereitet bin.
Möglicherweise unterschätze ich, was er erlebt hat. Was ihn zu dem
gemacht hat, was er ist. Denn dass irgendetwas vorgefallen sein muss, ist
klar. Etwas, das ich höchstwahrscheinlich gar nicht nachvollziehen könnte,
selbst wenn er es mir erzählen würde. Etwas, das ihm die Kraft genommen
hat, sich den Geistern der Vergangenheit zu stellen, so wie Cap es gedeutet
hat.
Miles zieht mich enger an sich und hält mich so fest, wie er nur kann.
Das ist mehr als eine Umarmung. Er hält mich so, als hätte er Angst, ich
könnte ertrinken, würde er mich loslassen.
»Tate«, flüstert er. »Ich weiß, dass ich bereuen werde, was ich dir gleich
sage. Aber mir ist wichtig, dass du es weißt.« Er hält mich gerade weit
genug von sich weg, um seine Lippen in meine Haare zu drücken, dann
zieht er mich wieder an sich. »Wenn ich in der Lage wäre, jemanden zu
lieben, dann … wärst du das.« Ich spüre, wie sich mein Herz mit Hoffnung
füllt und im selben Moment zersplittert, sodass sie augenblicklich wieder
herausströmt. »Aber dazu bin ich nun mal nicht in der Lage und
deswegen … Wenn es für dich zu hart …«
»Ist es nicht!«, unterbreche ich ihn hastig, weil ich bereit bin, alles zu
tun, damit er das mit uns nicht beendet. Irgendwie finde ich die Kraft, ihm
in die Augen zu schauen und so überzeugend zu lügen, wie ich es in
meinem ganzen Leben noch nie geschafft habe. »Es ist gut. Genau so, wie
es ist, ist es gut.«
Er weiß, dass ich lüge. Ich sehe den Zweifel in seinem besorgten Blick,
trotzdem nickt er. Bevor er noch etwas sagen kann, schlinge ich die Arme
um seinen Nacken und nähere mich seinem Mund. Als ich höre, wie die Tür
aufgeht, drehe ich mich um und sehe Cap, der aufs Dach geschlurft kommt.
Er betätigt einen Schalter an der Wand, mit dem sich die Düsen des Jacuzzi
abschalten lassen, und wendet sich wieder zur Tür, da bemerkt er, dass
jemand im Wasser ist.
»Sind Sie das, Tate?« Er kneift die Augen zusammen und späht zu uns
rüber.
»Ja, ich bin’s. Guten Abend, Cap«, rufe ich, ohne die Arme von Miles’
Nacken zu lösen.
Cap betrachtet uns lächelnd. »Hat euch schon mal jemand gesagt, dass
ihr ein verdammt hübsches Paar abgebt?«
Ich zucke innerlich zusammen. Obwohl ich natürlich weiß, dass Cap es
nur gut meint, ist das jetzt wahrscheinlich der denkbar ungünstigste
Moment, Miles so etwas zu sagen.
»Sie können ruhig schon gehen«, erwidert Miles kühl. »Wir machen
dann das Licht aus.«
Cap schüttelt den Kopf, als wäre er enttäuscht, und dreht sich zur Tür.
»Das war sowieso nur eine rhetorische Frage«, murmelt er. Ich sehe, wie er
die Hand an die Stirn legt und salutiert. »Gute Nacht, Tate«, sagt er laut.
»Gute Nacht, Cap.«
Sobald die Tür hinter ihm zugefallen ist, lasse ich die Hände sinken und
schiebe Miles von mir, bis er einen Schritt zurücktritt, sodass ich um ihn
herumschwimmen kann. Auf dem Rücken lasse ich mich zur anderen Seite
des Beckens hinübergleiten.
»Warum bist du immer so unfreundlich zu ihm?«, frage ich.
Miles stößt sich von der Beckenwand ab und krault auf mich zu, ohne
mich aus den Augen zu lassen. Beinahe prallt er gegen mich, stoppt aber
gerade noch rechtzeitig, indem er sich zu beiden Seiten meines Kopfs am
Beckenrand festhält. Das warme Wasser umplätschert meine Brüste.
»Ich bin nicht unfreundlich zu ihm.« Er beugt sich zu mir und küsst sich
sanft von meinem Hals nach oben, bis sein Mund ganz nah an meinem Ohr
ist. »Ich beantworte nur nicht gerne Fragen.«
Ja, das ist mir auch schon aufgefallen.
Ich neige den Kopf, um ihm ins Gesicht zu sehen. Obwohl ich versuche,
mich auf seine Augen zu konzentrieren, ist das gar nicht so einfach, weil
kleine Wassertröpfchen auf seinen Lippen glitzern, die ich am liebsten
wegküssen würde. »Aber er ist ein alter Mann. Man soll zu alten Menschen
nicht unfreundlich sein. Und außerdem ist er ein verdammt witziger Typ,
wenn man ihn näher kennenlernt.«
Miles lacht leise. »Du magst ihn, was?«
Ich nicke. »Ich mag ihn sogar sehr. Manchmal mag ich ihn mehr als
dich.«
Jetzt lacht Miles laut, dann umfasst er meinen Nacken und küsst mich
auf die Wange. »Ich mag es, dass du ihn magst.« Er sieht mir in die Augen.
»Und ich werde nie wieder unfreundlich zu ihm sein, versprochen.«
Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht zu breit zu lächeln. Es war nur ein
winzig kleiner Schritt in meine Richtung, aber trotzdem macht Miles mich
damit sehr glücklich.
»Hey.« Er streicht mit dem Daumen über meinen Mund. »Habe ich dir
nicht gesagt, dass du dein Lächeln niemals verstecken darfst?« Er neigt sich
vor und beißt sanft in meine Unterlippe.
Kann es sein, dass die Temperatur im Pool gerade um zehn Grad
gestiegen ist?
Jetzt haucht Miles zarte Küsse meine Kehle entlang. Ich spüre seine
warmen Atemzüge an meiner Haut und lehne den Kopf an den Beckenrand,
während er seinen Mund über meinen Hals wandern lässt.
»Ich will nicht mehr schwimmen«, murmelt er und küsst sich vom
Schlüsselbein wieder nach oben zu meinem Mund zurück.
»Was willst du stattdessen?«, frage ich mit schwacher Stimme.
»Dich«, sagt er, ohne zu zögern. »Und zwar unter der Dusche. Von
hinten.«
Ich schlucke. »Das … ist eine … sehr detaillierte Ankündigung.«
»Und danach will ich dich in meinem Bett«, flüstert er. »Ich will, dass
du über mir kniest, noch nass vom Duschen.«
Ich atme scharf ein. »Okay, dann …«, setze ich an, aber er verschließt
meinen Mund mit seinem, bevor ich den Satz ganz ausgesprochen habe.
Und wieder einmal wird mein Bedürfnis, vielleicht endlich mehr über
ihn zu erfahren, hinweggespült von dem, was er mir als Einziges freiwillig
zu geben bereit ist.
Dreißigstes Kapitel
MILES
Schweigend gehen wir durch den Flur, bis wir zu einem leeren Warteraum
kommen. Mein Vater setzt sich.
Ich nehme widerstrebend gegenüber von ihm Platz und warte. Er ahnt nicht,
dass er mir nichts Neues erzählen wird. Dass ich längst weiß, wie lange er
und Lisa schon heimlich ein Paar sind.
»Deine Mutter und ich …« Sein Blick wandert zu Boden.
Er schafft es noch nicht einmal, mir in die Augen zu sehen.
»Wir waren in unserer Ehe nicht so glücklich, wie du das vielleicht
angenommen hast. Als du fünfzehn warst, haben wir beschlossen, uns
scheiden zu lassen, sobald du deinen Schulabschluss hast. Es schien uns
rücksichtsvoller dir gegenüber und vernünftiger, noch so lange zu warten.«
Als ich fünfzehn war? Schon vor so vielen Jahren?
»Wir waren schon seit einem Jahr kein wirkliches Paar mehr, als ich auf
einer Geschäftsreise Lisa kennengelernt habe.«
Jetzt sieht er mich an. Sein Blick ist aufrichtig.
»Dann kam die Diagnose. Selbstverständlich bin ich bei deiner Mutter
geblieben, um ihr in der Zeit beizustehen, in der sie mich am meisten
gebraucht hat.«
Etwas in meiner Brust zieht sich schmerzhaft zusammen.
»Vermutlich hast du dir schon gedacht, dass ich Lisa länger kenne«, sagt er.
»Wahrscheinlich hast du mich gehasst, weil du dachtest, ich hätte hinter
dem Rücken deiner Mutter eine Affäre begonnen, während sie krank war.
Der Gedanke, dass du das denken könntest, war mir unerträglich.«
»Warum hast du ihn mich dann denken lassen?«, frage ich. »Du hättest mir
früher sagen können, wie es wirklich war.«
Er sieht wieder zu Boden. »Ich hatte die kleine Hoffnung, du wüsstest es
vielleicht doch nicht, und dachte, es würde mehr kaputt machen als
irgendwem nützen, wenn ich es dir sage. Ich wollte nicht, dass du weißt,
dass die Ehe deiner Eltern gescheitert ist. Ich wollte nicht, dass du denkst,
deine Mutter wäre verbittert gewesen, bevor sie gestorben ist …«
»Das war sie nicht«, sage ich sofort. »Du warst für sie da, Dad. Wir waren
beide für sie da.«
Er ist dankbar, dass ich das sage, und es ist ja auch wahr.
Meine Mutter war glücklich mit ihrem Leben.
Glücklich mit mir.
Ich frage mich, ob sie jetzt von mir enttäuscht wäre.
»Sie wäre stolz auf dich gewesen, Miles«, sagt mein Vater. »Stolz darauf,
wie toll du das alles hinkriegst.«
Ich umarme ihn.
Mir war nicht klar, wie dringend ich es gebraucht habe,
dass mir jemand das sagt.
Einunddreißigstes Kapitel
TATE
Ich versuche, Corbin zuzuhören, der mir von einem Telefongespräch mit
unserer Mutter erzählt, kann aber nur daran denken, dass Miles jeden
Moment nach Hause kommen müsste. Er war über zehn Tage lang weg. Mit
Ausnahme der Wochen, während der wir nicht miteinander gesprochen
haben, ist das die längste Zeit, die wir uns jemals nicht gesehen haben.
»Hast du es Miles schon gesagt?«, fragt Corbin.
»Ihm was gesagt?«
Corbin sieht mich überrascht an. »Na, dass du ausziehst.« Er deutet auf
den Topflappen, der neben mir auf der Theke liegt. Ich werfe ihn ihm zu.
»Nein.« Ich schüttle den Kopf. »Wahrscheinlich mach ich das heute
Abend.«
Am liebsten hätte ich es ihm gleich an dem Tag erzählt, an dem ich die
Zusage des Vermieters bekommen habe, aber dazu hätte ich ihn anrufen
oder ihm schreiben müssen, und das tun wir grundsätzlich nur, wenn wir
beide zu Hause sind. Wir haben nie darüber gesprochen, warum das so ist.
Ich denke, es hilft uns, eine gewisse Distanz zu wahren.
Abgesehen davon ist es auch keine so große Sache. Schließlich ziehe ich
nicht in eine andere Stadt, sondern bloß ein paar Straßen weiter und damit
etwas näher zur Uni und zur Klinik, was ein klarer Vorteil ist. Die Wohnung
ist längst nicht so nobel wie die von Corbin, aber ich freue mich darauf,
bald wieder mein eigenes Reich zu haben.
Natürlich mache ich mir Gedanken, ob der Umzug das Verhältnis
zwischen Miles und mir irgendwie verändern wird. Vielleicht ist das ja auch
der Grund dafür, dass ich ihm noch nicht einmal erzählt habe, dass ich eine
Wohnung suche, obwohl ich schon seit ein paar Wochen mehrere
Suchaufträge bei Immobilienportalen laufen habe. Irgendwo in meinem
Hinterkopf sitzt wahrscheinlich die leise Angst, er könnte endgültig einen
Schlussstrich ziehen, weil es ihm zu unbequem wird, wenn ich nicht mehr
direkt gegenüber wohne.
Wir sehen zur Tür, als jemand klopft und sie gleichzeitig öffnet. Corbin
verdreht die Augen.
Es dauert wohl doch noch, bis er sich endgültig an den Gedanken
gewöhnt hat.
Miles kommt in die Küche und strahlt mich an, wird aber sofort wieder
ernst, als er sich an Corbin wendet.
»Hey«, begrüßt er ihn. »Du kochst? Was gibt’s?« Er lehnt sich mit vor
der Brust verschränkten Armen an die Theke, aber anstatt Corbin
anzusehen, bedenkt er den Rock, den ich anhabe, mit einem anerkennenden
Grinsen.
»Abendessen«, antwortet Corbin knapp, ohne sich zu ihm umzudrehen.
Vielleicht dauert es sogar noch länger, als ich gedacht hätte.
Miles sieht mich an. »Hey, Tate.«
Ich grinse. »Hey, Miles.«
»Wie sind deine Zwischenprüfungen gelaufen?«
»Gut.«
»Du siehst umwerfend aus«, formt er lautlos mit den Lippen, damit
Corbin nichts mitbekommt.
Ich wünschte, wir wären allein. Es kostet mich ziemlich viel
Selbstbeherrschung, mich nicht auf ihn zu stürzen und ihn in Grund und
Boden zu küssen.
Corbin weiß natürlich ganz genau, warum Miles hier ist, aber wir
respektieren, dass er ein Problem mit der Art unserer Beziehung hat, und
halten uns deshalb in seiner Gegenwart mit Zärtlichkeiten zurück.
Miles kaut auf seiner Unterlippe, zupft unruhig am Ärmel seines T-Shirts
und lässt mich nicht aus den Augen. Keiner von uns dreien sagt etwas.
»Ach, scheiß drauf«, stößt Miles plötzlich hervor, kommt direkt auf
mich zu, nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich.
Er küsst mich richtig.
Vor Corbin.
Analysier das bloß nicht, Tate.
Im nächsten Moment nimmt er meine Hand und zieht mich aus der
Küche. Corbin starrt immer noch auf den Herd und versucht, uns zu
ignorieren.
Okay. Es wird wohl noch sehr, sehr, sehr lange dauern.
Erst als wir im Flur stehen, löst Miles seine Lippen von meinen. »Ich
konnte heute an nichts anderes denken«, sagt er atemlos. »An absolut nichts
anderes.«
»Ich auch nicht.«
Er führt mich aus dem Apartment über den Gang. Sein Gepäck steht vor
der Tür.
»Warum stehen deine Sachen draußen?«
Miles schließt auf. »Ich bin noch nicht zu Hause gewesen«, sagt er,
greift nach seinem Gepäck und hält die Tür für mich auf.
»Wie? Du bist als Allererstes zu uns rübergekommen?«
Er nickt, wirft die Tasche auf die Couch und stellt den Rollkoffer
daneben. »Jep.« Er zieht mich an sich. »Ich sage dir doch, dass ich an nichts
anderes gedacht habe, Tate.« Lächelnd beugt er sich zu mir, um mich zu
küssen.
Ich lache. »Du hast mich also vermisst!«, sage ich neckend.
Miles erstarrt und richtet sich auf. So wie er reagiert, könnte man
meinen, ich hätte ihm gerade eröffnet, dass ich ihn liebe.
»Entspann dich«, sage ich. »Du darfst mich vermissen, Miles. Das
verstößt gegen keine deiner Regeln.«
Er geht Richtung Küche und wechselt das Thema, wie er es in solchen
Situationen immer tut. »Möchtest du was trinken?« Von einer Sekunde auf
die andere ist alles anders. Sein ganzes Verhalten. Von seinem Lächeln und
der Freude darüber, mich wiederzusehen, ist nichts mehr übrig.
Und das ist der Moment, in dem mit einem Mal alles in sich
zusammenbricht. Plötzlich sehe ich klar, und die Wahrheit fühlt sich an wie
ein Erdrutsch, der mich unter sich begräbt.
Er kann noch nicht einmal zugeben, dass er mich vermisst hat.
Ich habe tatsächlich die Hoffnung gehabt, dass seine Unfähigkeit, sich
mir zu öffnen, eines Tages verschwinden würde, wenn ich nur genug
Geduld beweise und ihn nicht dränge. Ich naives, dummes Ding habe
wirklich geglaubt, er würde vielleicht einfach nur Zeit brauchen, um mit
dem, was sich zwischen uns entwickelt, klarzukommen. Aber jetzt weiß ich
plötzlich: Es liegt gar nicht an ihm.
Es liegt an mir.
Ich bin diejenige, die nicht klarkommt.
»Alles okay?«, höre ich Miles aus der Küche fragen. Als ich nicht
antworte, späht er ins Wohnzimmer.
»Hast du mich vermisst, Miles?«
Sein Schutzschild fährt sofort hoch. Er wendet den Blick ab und
verschwindet wieder in der Küche. »Wir sagen uns solche Sachen doch
nicht, Tate.« Die Härte ist wieder in seine Stimme zurückgekehrt.
Meint er das ernst?
»Ach ja?« Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu. »Miles – das ist nur eine
Phrase. Wenn man jemandem sagt, dass man ihn vermisst hat, geht man
damit keinerlei Verpflichtung ein. Das bedeutet nicht, dass man denjenigen
liebt. Man sagt sich das auch unter Freunden.«
Miles lehnt an der Theke und sieht mich ruhig an. »Aber wir sind
niemals Freunde gewesen. Und ich will auf keinen Fall gegen die einzige
Regel verstoßen, die du aufgestellt hast, indem ich dir falsche Hoffnungen
mache. Deswegen sage ich es nicht.«
Ich kann nicht erklären, was mit mir passiert, weil ich es selbst nicht
begreife. Aber es fühlt sich an, als würden alle Sätze, mit denen er mich
jemals verletzt hat, gleichzeitig auf mich niedergehen wie spitze Klingen.
Ich will ihn anbrüllen. Ich will ihn hassen. Ich will, dass er mir verdammt
noch mal sagt, was zur Hölle in seinem Leben passiert ist, dass er zu
jemandem wurde, der mir mehr wehtun kann als jemals ein Mensch zuvor.
Ich habe es satt, in der Warteschleife festzustecken.
Ich habe es satt, so zu tun, als würde es mir nichts ausmachen, dass er
nichts von sich preisgibt.
Ich habe es satt, mir einzureden, er wäre nicht überall. Er wäre nicht
alles für mich. Mein Ein und Alles.
»Was hat sie mit dir gemacht?«, flüstere ich.
»Tu das nicht«, stößt er zwischen den Zähnen hervor, und ich spüre, dass
diese drei Wörter eine Warnung sind. Eine Drohung.
Ich habe es satt, den Schmerz in seinen Augen zu sehen, ohne den Grund
dafür zu kennen.
Ich habe es satt, Regeln beachten zu müssen.
»Erzähl es mir.«
Er wendet sich ab und umklammert die Theke. »Geh nach Hause, Tate.«
»Fick dich.« Ich drehe mich um und gehe aus der Küche. Als ich das
Wohnzimmer durchquere, höre ich, wie er mir hinterherkommt, und
beschleunige meine Schritte. Ich habe es schon zur Tür geschafft und sie
geöffnet, als er über mich hinweggreift und sie wieder zuschlägt.
Mit geschlossenen Augen atme ich tief durch und stähle mich innerlich,
weil ich weiß, dass mich das, was er jetzt gleich sagen wird, endgültig
zerschmettern wird.
Ich spüre ihn in meinem Rücken, seine Lippen sind an meinem Ohr.
»Ganz richtig. Nur darum ging es, Tate. Ums Ficken. Das habe ich vom
ersten Tag an immer wieder deutlich gemacht.«
Ich lache. Wie sollte ich auch sonst reagieren? Und dann drehe ich mich
um und sehe ihn an. Er steht zur vollen Größe aufgerichtet vor mir und
weicht keinen Zentimeter zurück. Ich habe ihn noch nie so einschüchternd
erlebt wie in diesem Moment.
»Das nennst du deutlich?«, stoße ich hervor. »Gott, was bist du nur für
ein Arschloch, Miles.«
Er rührt sich keinen Millimeter, aber ich sehe, wie er mit den Kiefern
mahlt. »Was war denn bitte unklar? Es gab nur zwei Regeln, an die du dich
halten musstest. Einfacher geht es nicht.«
Ich lache ungläubig, und dann brülle ich endlich all das aus mir heraus,
was ich die ganze Zeit zurückgehalten habe. »Es ist ein Riesenunterschied,
ob man jemanden fickt oder Liebe macht. Du hast mich seit über einem
Monat nicht mehr gefickt, Miles. Jedes Mal, wenn du in mir bist, machst du
Liebe mit mir. Ich erkenne das daran, wie du mich ansiehst. Du vermisst
mich, wenn wir nicht zusammen sind. Du denkst die ganze Zeit an mich.
Du kannst nicht mal zehn Sekunden warten und erst in dein Apartment
gehen, um deine Sachen reinzubringen, weil du dich so sehr nach mir
sehnst. Also wage es nicht, mir zu sagen, du hättest irgendetwas deutlich
gemacht, denn du bist der widersprüchlichste Mensch, der mir jemals
untergekommen ist.«
Ich ringe nach Atem.
Es fühlt sich an, als würde ich zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit
wieder Luft bekommen.
Miles kann mit dem, was ich ihm gerade gesagt habe, anfangen, was er
will. Ich habe es satt.
Er atmet kontrolliert aus und geht ein paar Schritte rückwärts. Dann
verzieht er das Gesicht und dreht sich weg, als würde er nicht wollen, dass
ich die Gefühle sehe, die irgendwo tief in seinem Inneren offenbar doch
vorhanden sind. Er legt eine Hand in den Nacken und bleibt mindestens
eine Minute lang mit dem Rücken zu mir stehen, ohne sich zu rühren.
Danach beginnt er schwer zu atmen, als würde er mit aller Kraft dagegen
ankämpfen … zu weinen. Mein Herz zieht sich zusammen, als ich begreife,
was passiert.
»Verdammt, Tate«, bricht es aus ihm hervor. »Was tue ich dir nur an?«
Er geht zur Wand, lässt sich zu Boden rutschen und vergräbt das Gesicht
in den Händen, als könnte er die Gefühle, die ihn übermannen, so aufhalten.
Seine Schultern zittern, aber er gibt nicht das geringste Geräusch von sich.
Er weint.
Miles Archer weint.
Es ist dasselbe herzzerreißende und vollkommen lautlose Weinen, das
ich in der Nacht erlebt habe, in der ich ihn zum ersten Mal gesehen habe.
Dieser erwachsene Mann, der sich monatelang hinter einem
Schutzschild aus undurchdringlichem Stahl verborgen hat, bricht vor
meinen Augen in sich zusammen.
»Miles?«, flüstere ich. Meine Stimme klingt winzig vor dem
Hintergrund der übermächtigen Stille, die den Raum erfüllt. Ich gehe vor
ihm in die Knie, lege die Arme um ihn und beuge mich zu seinem Gesicht
hinunter.
Ich frage ihn nicht noch einmal, was passiert ist, denn plötzlich habe ich
höllische Angst davor, er könnte es mir erzählen.
Zweiunddreißigstes Kapitel
MILES
Ich reibe ihm tröstend über den Rücken, streiche ihm durch die Haare, halte
ihn. Er weint so sehr, dass ich wünschte, ich könnte ihn vergessen lassen,
was ich gerade zu ihm gesagt habe. Ich würde ihm diesen Schmerz so gern
abnehmen und ihm sagen, dass nichts so schlimm sein darf, dass es so
wehtut. Was auch immer passiert ist – was auch immer er getan hat –, kein
Mensch hat es verdient, sich so zu fühlen, wie er sich gerade fühlt.
»Miles.« Ich ziehe ihm die Hände vom Gesicht, umfasse es und drehe es
zu mir. Er hält die Augen geschlossen. »Ich muss es gar nicht wissen.«
Er schlingt die Arme um mich und vergräbt den Kopf an meiner Brust.
Sein Atem geht schnell und stoßweise, als würde er mit aller Macht
versuchen, die Gefühle, die ihn gerade übermannt haben, wieder zu
unterdrücken. Ich streichle ihm über den Kopf und drücke ihm Küsse in die
Haare, auf die Schläfen und Wangen, bis er sich schließlich zurücklehnt und
mich ansieht.
Kein Schutzschild, keine Rüstung und keine Mauer dieser Welt, ganz
gleich wie stark, könnte das Ausmaß der Zerstörung, das ich in seinen
Augen sehe, jetzt noch verstecken. Der Schmerz ist so offensichtlich, so
übermächtig, dass ich den Atem anhalten muss, um nicht mit ihm
zusammen zu weinen.
Was ist nur mit dir passiert, Miles?
»Ich brauche es nicht zu wissen, Miles«, flüstere ich noch einmal.
Er lässt die Hände meinen Rücken hinaufgleiten, zieht mich an sich,
drückt den Mund hart und schmerzhaft auf meinen und beugt sich
zusammen mit mir vor, bis ich unter ihm auf dem Boden liege. Er zerrt an
meinem T-Shirt, küsst mich mit wilder Verzweiflung und füllt meinen
Mund mit dem Geschmack seiner Tränen.
Und ich? Ich lasse mich von ihm benutzen, um seinen Schmerz zu
betäuben. Ich gebe alles, was er braucht, um ihm etwas Linderung zu
verschaffen.
Seine Hand gleitet unter meinen Rock. Er zieht mir im selben Moment
den Slip herunter, in dem ich seine Jeans öffne und sie ihm über die Hüften
streife. In der nächsten Sekunde packt er meine Hände und presst sie über
meinem Kopf auf den Boden.
Er legt die Stirn an meine und schließt die Augen. Ich behalte meine
offen, während er sich zwischen meine Beine schiebt, die ich bereitwillig
für ihn spreize. Die Schläfe an seine gedrückt, spüre ich, wie er langsam in
mich eindringt. Als er ganz in mir ist, atmet er tief aus, und ich ahne, dass
etwas von dem Schmerz, den er eben durchlebt hat, von ihm abfällt.
Er zieht sich aus mir heraus und stößt dann wieder mit aller Kraft in
mich hinein.
Es tut weh.
Gib mir deinen Schmerz, Miles.
»Oh mein Gott, Rachel«, flüstert er.
Oh mein Gott, Rachel …
Rachel, Rachel, Rachel.
Das Echo ihres Namens hallt in meinem Kopf wider.
Oh.
Mein.
Gott.
Rachel.
Ich wende das Gesicht von ihm ab. Ich habe noch nie zuvor eine solch
tiefe Verletzung erfahren. Das ist der schlimmste Schmerz, den ich je erlebt
habe.
Der allerschlimmste.
Miles hält in der Bewegung inne, als er begreift, was er gerade gesagt
hat. Das Einzige, was sich jetzt noch bewegt, sind die Tränen, die aus
meinen Augen rinnen.
»Tate«, flüstert er, und die Stille zwischen uns zerspringt in tausend
Scherben. »Tate, es tut mir so leid.«
Ich schüttle den Kopf, aber die Tränen hören nicht auf zu fließen.
Irgendwo tief in mir spüre ich, wie sich etwas verhärtet. Etwas, das einmal
flüssig war, erstarrt zu Eis, und das ist der Moment, in dem ich weiß, dass
es endgültig vorbei ist.
In dem Augenblick, in dem er ihren Namen geflüstert hat, hat er alles
gesagt. Sie besitzt die Vergangenheit, gegen die ich niemals ankommen
werde, und die eine Zukunft mit ihm unmöglich macht, weil er sie
niemanden erleben lassen wird, der nicht sie ist.
Rachel.
Aber ich werde niemals erfahren, weshalb das so ist, weil er es mir nicht
sagen wird.
Miles beginnt sich aus mir herauszuziehen, doch ich presse die Schenkel
zusammen. Er seufzt an meiner Wange. »Ich schwöre bei Gott, Tate, ich
habe … Ich habe nicht an sie gedacht.«
»Sei still«, flüstere ich, weil ich nicht will, dass er zu rechtfertigen
versucht, was gerade passiert ist. »Bring es einfach zu Ende, Miles.«
Er hebt den Kopf und sieht auf mich herab. Ich erkenne das Bedauern
inmitten der frischen Tränen, die in seinen Augen schimmern. Ich weiß
nicht, ob ich ihn mit der Brutalität dessen, was ich gerade gesagt habe, so
tief getroffen habe, oder ob er wie ich spürt, dass es das jetzt war, jedenfalls
sieht er aus, als wäre ihm gerade noch einmal das Herz gebrochen worden.
Falls das überhaupt möglich ist.
Eine Träne fällt aus seinem Auge und landet schwer auf meiner Wange.
Ich spüre, wie sie herunterrollt und sich mit meinen Tränen vereinigt.
Ich will einfach nur, dass es vorbei ist.
Ich lege eine Hand an seinen Hinterkopf und ziehe seinen Mund an
meinen. Er bewegt sich nicht mehr in mir, also wölbe ich mich ihm
entgegen und nehme ihn tief in mich auf. Er stöhnt in meinen Mund,
bewegt zögernd das Becken, hält wieder inne. »Tate …«, sagt er an meinen
Lippen.
»Beende es einfach, Miles«, schluchze ich unter Tränen. »Beende es.«
Er legt eine Hand an meine Wange und presst seine Lippen an mein Ohr.
Jetzt weinen wir beide heftiger. Das ist das Ende, dabei bin ich mir so
sicher, dass ich mehr für ihn bin, als er es mich sein lässt. Ich weiß, dass ich
so viel mehr bin. Ich spüre ganz deutlich, wie sehr er mich lieben möchte,
aber was ihn davon abhält, ist zu stark, als dass ich dagegen ankommen
könnte. Weinend schlinge ich einen Arm um seinen Nacken. »Bitte«, flehe
ich ihn an. »Bitte, Miles.« Ich bettle um etwas, von dem ich selbst nicht
weiß, was genau es eigentlich ist.
Wieder dringt er in mich ein. Hart. So hart, dass ich von ihm wegrutsche,
weshalb er die Arme unter meine Schultern schiebt und mich eng an sich
zieht, während er noch mehrmals zustößt. Es sind langsame, tiefe Stöße,
von denen jeder einzelne uns laut aufstöhnen lässt.
»Härter«, flehe ich.
Er stößt härter zu.
»Schneller.«
Er bewegt sich schneller.
Keuchend ringen wir nach Atem, während die Tränen unter unseren
Lidern hervorquellen. Was wir tun, ist intensiv. Es ist herzzerbrechend.
Zerstörerisch.
Hässlich.
Und dann ist es vorbei.
Sobald sein Köper auf meinem zur Ruhe gekommen ist, stemme ich
mich gegen seine Schultern und er rollt sich von mir herunter. Ich setze
mich auf, wische mir mit beiden Händen übers Gesicht, dann taste ich nach
meinem Slip, ziehe ihn an und stehe auf. Miles’ Finger schließen sich um
mein Fußgelenk. Genau wie in der Nacht, in der wir uns kennengelernt
haben.
»Tate«, sagt er mit einer Stimme, in der alles zu hören ist. Jedes einzelne
der in ihm widerstreitenden Gefühle tränkt jeden einzelnen Buchstaben
meines Namens.
Ich winde mich aus seinem Griff.
Auf dem Weg zur Tür spüre ich ihn immer noch in mir. Spüre immer
noch seinen Mund auf meinem. Spüre immer noch die Feuchtigkeit seiner
Tränen auf meinen Wangen.
Ich öffne die Tür und gehe hinaus.
Die Tür hinter mir zuzuziehen ist das Schwierigste, was ich in meinem
Leben je getan habe.
Ich schaffe es noch nicht einmal, die zwei Meter zu Corbins Apartment
hinüberzugehen.
Im Flur breche ich zusammen.
Ich bin flüssig.
Nichts als Tränen.
Vierunddreißigstes Kapitel
MILES
***
Miles,
Rachel hat mir einen Brief geschrieben.
es tut mir leid, aber …
Nein.
ich kann so nicht weitermachen. Es tut einfach zu weh.
Nein, nein, nein.
Mom und ich werden wieder nach Phoenix zurückziehen. Sie hat auch
schon mit deinem Vater darüber gesprochen. Was passiert ist, betrifft uns
alle. Auch sie und ihn.
Clayton bringt Familien zusammen.
Miles reißt sie auseinander.
Ich habe versucht, bei dir zu bleiben. Ich habe versucht, dich zu lieben.
Aber jedes Mal, wenn ich dich ansehe, sehe ich ihn. Er ist in allem. Wenn
ich bei dir bleibe, wird alles immer er sein. Du weißt das. Ich vertraue
darauf, dass du mich verstehst. Ich sollte dir nicht die Schuld geben.
Aber du tust es.
Es tut mir so leid.
Du sagst mir in einem Brief, dass du aufgehört hast, mich zu lieben,
Rachel?
In Liebe
Ich spüre es. Ich spüre das Hässliche. Es ist durch jede Pore in mich
eingedrungen. Pulsiert in meinen Adern. Sickert in meine Erinnerungen.
Breitet sich bis in meine Zukunft aus.
Rachel.
Der Unterschied zwischen der hässlichen und der schönen Liebe besteht
darin, dass die schöne Liebe so wunderbar leicht ist, dass du das Gefühl
hast zu fliegen. Sie hebt dich empor und trägt dich. Die schöne Liebe lässt
dich ein Stück über dem Rest der Welt schweben. Du siehst auf all das
Schlechte hinunter und denkst: Wow. Bin ich froh, dass ich hier oben sein
kann.
Aber manchmal zieht die schöne Liebe nach Phoenix zurück.
Die hässliche Liebe ist zu schwer, um mit nach Phoenix zu gehen. Die
hässliche Liebe lässt dich nicht schweben, sie zieht dich
H
I
N
A
B.
Drückt dich runter.
Ertränkt dich.
Du blickst aus der Tiefe empor und denkst: Ich wäre so gern da oben.
Aber du bist es nicht.
Die hässliche Liebe verschlingt dich.
Sie nimmt von dir Besitz.
Bringt dich dazu, alles zu hassen.
Und dir wird klar, dass es das nicht wert ist. Nur wenn du der schönen
Liebe entsagst, wirst du nie mehr Gefahr laufen, noch einmal ihre hässliche
Seite erleben zu müssen.
Also gibst du sie auf. Du gibst sie ganz auf. Du willst gar keine Liebe
mehr, ganz egal welche, weil selbst die schönste Liebe das Schlimme nicht
aufwiegen kann.
Ich werde nie mehr jemanden lieben. Ich werde niemals mehr
irgendjemandem erlauben, mich zu lieben, Rachel.
Nie mehr.
Fünfunddreißigstes Kapitel
TATE
»Zusammen mit den beiden ist der Wagen dann voll.« Corbin deutet auf die
letzten Kartons, die nach unten gebracht werden müssen.
»Bring du sie doch schon mal runter und warte auf mich«, sage ich. »Ich
mach noch schnell einen letzten Rundgang und komme dann nach.«
»Alles klar.« Corbin bückt sich, um die Kartons hochzuhieven, und ich
drücke den Aufzugknopf. Als ich wieder zum Apartment zurückgehe,
bleibe ich einen Moment im Flur stehen und starre auf die Tür gegenüber.
Ich habe Miles seit letzter Woche nicht mehr gesehen. Insgeheim hatte
ich die leise Hoffnung, er würde sich melden oder vorbeikommen, um sich
zu entschuldigen, aber das ist nicht passiert. Wofür sollte er sich auch
entschuldigen? Er hat mich nie belogen und mir nie irgendetwas
versprochen, das er nicht gehalten hätte.
Er ist immer schonungslos ehrlich gewesen, wenn man von den wenigen
Situationen absieht, in denen er nichts gesagt, sondern mich nur angeschaut
hat. Sein Blick schien Gefühle widerzuspiegeln, von denen ich geglaubt
habe, er könnte sie vielleicht nur nicht in Worte fassen. Aber inzwischen
habe ich begriffen, dass ich mir diese Gefühle höchstwahrscheinlich
eingebildet habe. Dass sie pures Wunschdenken waren.
Ich wandere ein letztes Mal durchs Apartment, um sicherzustellen, dass
ich wirklich alles eingepackt habe, und dann bin ich bereit zu gehen.
Nachdem ich die Tür hinter mir abgeschlossen habe, tue ich etwas, das ich
so nicht geplant hatte. Es ist, als hätte sich etwas in mir verselbstständigt
und eine Entscheidung getroffen, die jetzt in die Tat umgesetzt wird, ohne
dass ich irgendeinen Einfluss darauf habe.
Meine Hand schließt sich zur Faust und klopft an Miles’ Tür. Ich weiß
nicht, was mich dazu treibt – ein plötzlicher Anfall von Tollkühnheit oder
die pure Verzweiflung.
Kaum habe ich an der Tür geklopft, bereue ich es auch schon. Ich
beschließe, exakt zehn Sekunden zu warten. Sollte sich die Tür bis dahin
nicht geöffnet haben, renne ich zum Aufzug und alles ist gut.
Leider öffnet sie sich schon nach sieben Sekunden.
Meine Gedanken rotieren und Panik setzt ein, als ich begreife, was ich
gerade getan habe. Aber bevor ich eine Chance habe, davonzurennen, steht
plötzlich Ian in der Tür. Sein Blick wird mitleidig, als er sieht, wer vor ihm
steht. »Tate.« Er schaut schnell über die Schulter hinter sich. »Moment. Ich
hole ihn.«
Ich bin wie in Trance und kann nur stumm nicken. Mein Herz springt
aus meiner Brust und plumpst zu Boden.
Ian geht zum Schlafzimmer. »Tate ist an der Tür«, höre ich ihn sagen.
Ich analysiere jede Silbe dieses Satzes. Sagt Ian ihn so, als würde er dabei
genervt die Augen verdrehen, weil er weiß, dass ich der letzte Mensch bin,
den Miles sehen will? Oder so, als würde er damit rechnen, dass Miles sich
freut, weil er vielleicht darauf gehofft hat, dass ich irgendwann komme? Ian
kennt Miles besser als jeder andere Mensch. Leider bleibt seine Stimme
vollkommen neutral, und es ist absolut nicht herauszuhören, was in ihm
vorgeht.
Sobald ich Miles’ Schritte höre, versuche ich anhand ihres Klangs zu
erraten, in welcher Stimmung er ist. Beeilt er sich, zur Tür zu kommen?
Zögert er? Ist er wütend, dass ich hier bin?
Als er vor mir steht, bringe ich es nicht fertig, ihn anzusehen.
Mein Blick ist starr auf seine Füße gerichtet, aber das hilft mir natürlich
auch nicht, die Selbstsicherheit aufzubringen, die ich so dringend brauche.
Meine Kehle fühlt sich so eng an, dass ich jetzt schon weiß, wie
gequetscht und schwach meine Stimme klingen wird. »Ich ziehe aus«,
presse ich mühsam hervor und starre weiter auf seine Füße. »Ich wollte
mich nur verabschieden.«
Keine Reaktion. Nichts. Miles rührt sich nicht, sagt kein Wort.
Irgendwann nehme ich all meinen Mut zusammen und lasse den Blick bis
zu seinem Gesicht hinaufwandern. Als ich seine vollkommen gleichgültige
Miene sehe, würde ich am liebsten einen Schritt zurücktreten, aber ich habe
Angst, dass ich dann über mein Herz stolpern würde.
Und ich will nicht, dass er mich fallen sieht.
Wie grenzenlos dumm die Entscheidung war, mich von ihm
verabschieden zu wollen, wird mir erst klar, als er doch noch etwas sagt.
»Lebwohl, Tate.«
Sechsunddreißigstes Kapitel
MILES
Jetzt
***
Ich steige aus dem Aufzug, gehe durch die Halle und lasse mich in den
leeren Sessel neben Cap fallen. Der alte Mann schaut mich nicht einmal an,
sondern blickt weiter zum Ausgang.
»Du hast sie gehen lassen«, sagt er, ohne die Enttäuschung in seiner
Stimme zu verbergen.
Ich antworte nicht.
Er stützt sich auf die Lehnen des Sessels und hievt sich in eine andere
Position. »Es gibt Menschen, die werden mit den Jahren klüger. Die
meisten werden leider nur älter.« Er sieht mich an und seufzt. »Du gehörst
zu denen, die bloß älter werden, Miles, weil du immer noch derselbe
Dummkopf bist wie am Tag deiner Geburt.«
Cap kennt mich gut genug, um zu wissen, warum es nicht anders
kommen konnte. Er kennt mich mein ganzes Leben lang, weil er schon vor
meiner Geburt als Hausmeister in den Gebäuden gearbeitet hat, die uns
gehören. Erst für meinen Großvater, später dann für meinen Vater. Sehr
wahrscheinlich weiß er sogar mehr über mich und meine Familie als ich
selbst.
»Es musste so kommen, Cap«, sage ich, als würde das entschuldigen,
dass ich das erste und einzige Mädchen habe gehen lassen, dem es in sechs
Jahren gelungen ist, mich in meinem Innersten zu berühren.
»Musste, ja?«, brummt er.
So oft ich in den vergangenen Jahren hier unten bei ihm saß und ihm
erzählt habe, was bei mir gerade so los ist, hat er nicht ein einziges Mal
seine persönliche Meinung zu einer der Entscheidungen geäußert, die ich
für mich getroffen habe. Er weiß, wie mein Leben aussieht, seit Rachel
nicht mehr Teil davon ist. Ab und zu gibt er den einen oder anderen weisen
Spruch von sich, aber niemals eine Meinung. Wenn ich ihm in den letzten
Monaten von Tate erzählt habe, hatte er immer ein offenes Ohr für mich,
aber nie einen Rat. Das ist genau das, was ich an ihm schätze.
Ich ahne, dass sich das jetzt ändern wird.
»Bevor Sie mir eine Moralpredigt halten, Cap …«, versuche ich ihm
zuvorzukommen. »Sie wissen selbst, dass es für Tate so das Beste ist.« Ich
drehe mich zu ihm und sehe ihn an. »Das wissen Sie genauso wie ich.«
Cap lacht leise und nickt. »Darauf kannst du wetten, dass es für das
Mädchen so das Beste ist.«
Ich starre ihn verblüfft an. Hat er mir etwa gerade zugestimmt? »Also
sind Sie auch der Meinung, dass ich damit die richtige Entscheidung
getroffen habe?«
Cap bleibt einen Moment still, dann atmet er aus und verzieht das
Gesicht, als würde er meine Frage am liebsten nicht beantworten.
Schließlich lehnt er sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Ich habe mir vorgenommen, mich niemals in dein Leben einzumischen,
Junge. Man sollte sowieso niemals versuchen, jemandem einen Rat zu
geben, der in einer Situation ist, die man selbst nicht beurteilen kann. In den
achtzig Jahren, die ich jetzt schon auf dieser Welt bin, habe ich noch nie
etwas durchmachen müssen, das dem, was du erleben musstet, auch nur
annähernd nahekäme. Ich weiß nichts – gar nichts – darüber, wie das, was
dir passiert ist, für dich gewesen sein muss oder was es in dir angerichtet
hat. Aber allein schon bei dem Gedanken daran tut alles in mir weh. Und
das gibt mir eine kleine Vorstellung von dem Schmerz, den du spüren
musst. Tief in dir drin. Im Herzen. In den Knochen. Und in deiner Seele.«
Ich schließe die Augen, obwohl ich stattdessen lieber die Ohren
schließen würde, wenn das ginge. Ich will das nicht hören.
»Von den Menschen um dich herum weiß keiner, wie es sich anfühlt, du
zu sein. Ich nicht. Dein Vater nicht. Deine Freunde nicht. Noch nicht einmal
Tate. Es gibt nur einen einzigen Menschen, der fühlt, was du fühlst. Nur
einen einzigen Menschen, der leidet, wie du leidest. Nur einen einzigen
Menschen, der diesen kleinen Jungen genauso schmerzhaft vermisst wie
du.«
Ich kneife die Augen zusammen. Auch wenn ich versuche, die Richtung
zu akzeptieren, die Cap diesem Gespräch jetzt gibt, fällt es mir fast
übermenschlich schwer, nicht sofort aufzuspringen und zu gehen. Er steht
ihm nicht zu, Rachel mit hineinzuziehen.
»Hör zu, Miles.« Caps Stimme ist leise, und trotzdem liegt eine
Dringlichkeit darin, als wollte er mich beschwören, ihn ernst zu nehmen.
Dabei tue ich das immer. Er beugt sich zu mir vor. »Du denkst, du hättest
dem Mädchen an dem Tag des Unfalls für immer die Chance genommen,
jemals wieder Glück empfinden zu können, und dass es dir deswegen selbst
auch nicht zusteht, glücklich zu sein. Aber wenn du dich nicht irgendwann
dazu entschließt, dich der Vergangenheit zu stellen, wirst du nie darüber
hinwegkommen. Dann wirst du diesen einen fürchterlichen Tag an jedem
einzelnen Tag aufs Neue erleben, bis du stirbst. Wenn du dich allerdings mit
eigenen Augen davon überzeugst, dass es ihr gut geht, könntest du dir
vielleicht auch selbst erlauben, dich wieder gut zu fühlen.«
Ich fahre mir mit beiden Händen übers Gesicht, stütze die Ellbogen auf
die Knie und starre auf den Boden. Zwischen meinen Füßen zerplatzt eine
Träne auf dem Marmor. »Und was, wenn es ihr nicht gut geht?«, flüstere
ich.
Cap bleibt still. Ich wende mich ihm zu und sehe zum ersten Mal in den
vierundzwanzig Jahren, die ich ihn schon kenne, Tränen in seinen Augen
schimmern.
»Dann wird sich wohl nichts ändern. Dann kannst du dir weiterhin
sagen, dass du kein Lebensglück verdienst, weil du ihres zerstörst hast.
Dann kannst du weiterhin jeden von dir wegstoßen, der Gefühle in dir
weckt.« Er senkt die Stimme. »Ich weiß, dass dir die Vorstellung, dich mit
deiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, Todesangst einjagt, Miles. Das
geht uns allen so. Aber manchmal müssen wir es tun. Nicht für uns, sondern
für die Menschen, die wir mehr lieben als uns selbst.«
Siebenunddreißigstes Kapitel
RACHEL
»Brad!«, rufe ich. »Es hat geklingelt.« Ich greife nach dem
Küchenhandtuch und trockne mir die Hände ab.
»Bin schon unterwegs.« Ich höre seine Schritte im Flur und werfe einen
prüfenden Rundumblick durch die Küche, um sicherzustellen, dass meine
Mutter nichts zu kritisieren findet. Die Arbeitsflächen sind sauber. Der
Boden ist gewischt.
Okay, Mom, dann lass mal hören, was dir diesmal nicht passt.
»Moment, ich hole sie«, sagt Brad an der Tür.
Ich stutze. Wenn es meine Mutter wäre, würde er das niemals sagen.
»Rachel?« Er erscheint mit angespannter Miene in der Küchentür.
Diesen Blick sehe ich bei ihm nicht oft. Er ist für Situationen reserviert, in
denen er mir etwas sagen muss, von dem er weiß, dass ich es nicht hören
will oder dass es mir wehtun wird. Mein erster Gedanke ist, dass
irgendetwas mit meiner Mutter passiert ist.
»Brad«, flüstere ich und klammere mich an der Theke fest. »Was ist
los?« Ich spüre, wie die vertraute Panik in mir aufsteigt, mit der ich so
lange gelebt habe, die sich in der letzten Zeit aber nur noch gelegentlich
zeigt.
So wie in diesem Augenblick, in dem mein Ehemann Angst hat, mir
etwas zu sagen, von dem er nicht sicher ist, wie ich es aufnehmen werde.
»An der Tür wartet jemand, der dich sehen möchte«, sagt er.
Mir fällt niemand ein, dessen Besuch Brad so in Sorge versetzen würde.
»Wer denn?«
Er geht auf mich zu, sieht mir fest in die Augen und fasst mich an den
Schultern, als würde er damit rechnen, dass ich zu Boden sinke. »Es ist …
Miles.«
Ich rühre mich nicht.
Ich sinke nicht zu Boden, aber Brad hält mich trotzdem. Er nimmt mich
in die Arme und zieht mich an seine Brust.
»Was will er?« Meine Stimme zittert.
Brad schüttelt den Kopf. »Das hat er nicht gesagt.« Er sieht mich an.
»Wenn du es möchtest, sage ich ihm, dass er wieder gehen soll.«
Ich schüttle sofort den Kopf. Das würde ich ihm nicht antun. Nicht,
nachdem er den ganzen weiten Weg nach Phoenix auf sich genommen hat.
Nicht nach fast sieben Jahren.
»Brauchst du erst noch ein paar Minuten? Ich kann ihn ins Wohnzimmer
bitten.«
Ich verdiene diesen Mann nicht. Wirklich. Was wäre nur aus mir
geworden, wenn ich ihm nicht begegnet wäre? Auch wenn es eine Weile
gedauert hat, bis ich ihm die ganze Geschichte erzählen konnte, weiß er,
dass ich Miles einmal so geliebt habe, wie ich jetzt ihn liebe, und was wir
durchgemacht haben.
»Ich komme klar«, sage ich, obwohl das nicht stimmt. Ich weiß nicht, ob
ich Miles sehen will. Ich habe keine Ahnung, warum er hier ist. »Kommst
du damit klar?«
Brad nickt. »Er sieht ziemlich … aufgewühlt aus. Ich denke, du solltest
mit ihm sprechen.«
Er beugt sich vor und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Ich bin im
Arbeitszimmer, falls du mich brauchst.«
Ich nicke. Und dann küsse ich ihn auf den Mund. Hart.
Nachdem er weggegangen ist, stehe ich noch einen Moment in der
Küche und versuche, mich zu sammeln. Mein Herz schlägt gegen meine
Rippen. Ich hole tief Luft, aber das kann mich auch nicht beruhigen.
Schließlich straffe ich die Schultern und gehe dann in den Flur hinaus.
Miles steht mit dem Rücken zu mir. Als er meine Schritte hört, dreht er
nur leicht den Kopf – fast so, als hätte er genauso viel Angst, mich
anzusehen, wie ich ihn.
Er wendet sich mir ganz langsam zu. Ganz vorsichtig. Und dann schauen
wir uns in die Augen.
Es ist sechs Jahre her – bald sieben –, und in dieser langen Zeit ist er zu
einem vollkommen anderen Menschen geworden, während er gleichzeitig
doch derselbe geblieben ist. Vor mir steht immer noch Miles, aber jetzt ist
er ein erwachsener Mann, und ich frage mich, welche Gedanken ihm jetzt
gerade durch den Kopf gehen, während er mich betrachtet.
»Hey«, sagt er zurückhaltend. Auch seine Stimme hat sich verändert. Es
ist nicht mehr die Stimme eines Teenagers.
»Hey.«
Miles löst den Blick von meinem und lässt ihn schweifen. Er sieht sich
in meinem Zuhause um. Einem Zuhause, in dem ich ihn nie zu sehen
erwartet hätte. Wir stehen uns eine volle Minute lang schweigend
gegenüber. Vielleicht sind es sogar zwei Minuten.
»Rachel, ich …« Er sieht mich wieder an. »Ich weiß nicht, warum ich
hier bin.«
Aber ich weiß es.
Ich sehe es in seinen Augen. In den Augen, die ich in den Monaten, die
wir zusammen waren, so gut kennengelernt habe. Ich kannte all seine
Gedanken. All seine Gefühle. Er hat sie nie verbergen können, weil es so
viele waren. Miles hat immer so viel gefühlt.
Ich weiß, dass er hier ist, weil er etwas von mir braucht. Allerdings kann
ich nicht sagen, was genau das ist. Antworten vielleicht? Eine Möglichkeit,
das Kapitel »Miles und Rachel« abzuschließen? Jedenfalls bin ich froh,
dass er bis jetzt damit gewartet hat, weil ich mittlerweile vielleicht in der
Lage bin, ihm zu geben, was er sucht.
»Es ist gut, dich zu sehen«, sage ich.
Meine Stimme klingt genauso vorsichtig und zurückhaltend wie seine.
Es ist seltsam, jemanden, dem man einmal so nahe gewesen ist, unter ganz
anderen Umständen nach langer Zeit wiederzusehen.
Ich habe diesen Mann geliebt. Ich habe ihn aus tiefstem Herzen und
tiefster Seele geliebt. Ich habe ihn so sehr geliebt, wie ich jetzt Brad liebe.
Aber ich habe ihn auch gehasst.
»Komm rein«, sage ich und deute ins Wohnzimmer. »Lass uns reden.«
Er tritt zwei zögernde Schritte auf mich zu. Ich drehe mich um und er
folgt mir.
Wir setzen uns beide auf die Couch. Er macht es sich nicht bequem,
sondern kauert auf der äußersten Kante, beugt sich vor und stützt die
Ellbogen auf die Knie. Wieder sieht er sich um. Sieht sich mein Zuhause an.
Mein Leben.
»Du bist mutig«, sage ich. Er schaut mich an und wartet darauf, dass ich
weiterrede. »Ich habe auch darüber nachgedacht, Miles. Mich bei dir zu
melden. Aber ich …« Ich sehe zu Boden. »Ich habe es nicht geschafft.«
»Warum nicht?«, fragt er.
Ich sehe ihn wieder an. »Aus dem gleichen Grund, aus dem du dich
nicht bei mir gemeldet hast. Wir wissen nicht, was wir sagen sollen.«
Er lächelt, aber es ist nicht das Lächeln, das ich so an ihm geliebt habe.
Dieses Lächeln ist wachsam, und ich frage mich, ob ich das mit ihm
gemacht habe. Ob ich für die Traurigkeit in ihm verantwortlich bin. Da ist
so viel Traurigkeit in ihm.
Miles nimmt ein gerahmtes Foto von mir und Brad vom Beistelltisch
und betrachtet es. »Liebst du ihn?«, fragt er, ohne den Blick von dem Bild
zu nehmen. »Liebst du ihn so, wie du mich geliebt hast?« In seiner Stimme
liegt keine Verbitterung oder Eifersucht. Nur Neugier.
»Ja«, antworte ich. »Genauso sehr wie dich.«
Er stellt das Bild wieder zurück, sieht es weiter an.
»Wie geht das?«, flüstert er.
Seine Frage lässt Tränen in meinen Augen aufsteigen, weil ich genau
weiß, warum er mich das fragt. Diese Frage habe ich mir selbst jahrelang
gestellt, bis ich Brad begegnet bin. Ich habe nicht daran geglaubt, jemals
wieder einen Menschen so lieben zu können. Ich habe nicht daran geglaubt,
jemals wieder so lieben zu wollen. Warum sollte man sich freiwillig in eine
Situation begeben, die einen im schlimmsten Fall so unerträgliche
Schmerzen erleben lässt, dass man sich wünscht, man wäre tot?
»Ich möchte dir etwas zeigen, Miles.«
Ich stehe auf und strecke ihm die Hand entgegen. Er betrachtet sie, bevor
er zögernd danach greift. Er drückt leicht zu, dann steht er auf und folgt mir.
Als wir vor dem Zimmer angekommen sind, halte ich einen Moment
inne, bevor ich den Knauf drehe. Mein Herz ist schwer. Alles, was wir
durchgemacht haben, und all die damit verbundenen Gefühle drängen an
die Oberfläche, und das tut so weh. Aber ich weiß, dass ich diese Gefühle
zulassen muss, wenn ich ihm helfen will. Schließlich öffne ich die Tür und
gehe in den Raum, ohne Miles’ Hand loszulassen.
Der Druck seiner Finger verstärkt sich. »Rachel«, flüstert er und seine
Stimme ist ein einziges Flehen an mich. Er will wieder hinaus in den Flur,
aber das lasse ich nicht zu. Ich ziehe ihn zum Bett.
Er steht neben mir, aber ich spüre, wie er mit sich ringt, weil er nicht hier
sein möchte.
Der Griff, mit dem er meine Hand hält, ist jetzt so fest, als würde er den
Schmerz, den er fühlt, an mich weitergeben. Er stößt hörbar Luft aus, als er
sie anschaut. Ich sehe, wie sich sein Adamsapfel ruckartig bewegt, wie er
schluckt und dann tief Atem holt.
Seine andere Hand umfasst die Kante des Bettchens so fest wie meine
Hand. »Wie heißt sie?«, fragt er.
»Claire.«
Sein ganzer Körper reagiert. Seine Schultern beginnen zu zucken und
ich sehe, dass er versucht, den Atem anzuhalten, aber es hilft nichts. Nichts
kann ihn vor den Gefühlen schützen, die ihn durchströmen. Auch ich kann
ihm nicht helfen. Er entreißt mir seine Hand und presst sie sich auf den
Mund, um die Luft zu unterdrücken, die stoßweise aus seinen Lungen
drängt. Im nächsten Moment flieht er rückwärts aus dem Zimmer. Ich gehe
ihm hinterher und sehe, wie er mit dem Rücken gegen die Wand im Flur
stößt und sich daran zu Boden gleiten lässt, während ihm die Tränen
kommen.
Er versucht nicht, sie zurückzudrängen. Stattdessen lehnt er den Kopf
zurück und sieht zu mir auf.
»Sie …« Er deutet auf Claires Zimmer und versucht etwas zu sagen,
braucht aber mehrere Anläufe, bis er den Satz herausgebracht hat. »Sie ist
seine Schwester«, presst er schließlich hervor und ringt nach Luft. »Du …
du hast ihm eine Schwester geschenkt, Rachel.«
Ich sinke neben ihm zu Boden, lege meinen Arm um seine Schultern und
streiche ihm durch die Haare. Er drückt die Handballen an die Stirn,
schließt die Augen und weint beinahe tonlos in sich hinein.
»Miles.« Ich mache keinen Versuch, das Schluchzen in meiner Stimme
zu verbergen. »Schau mich an.«
Er lehnt den Kopf wieder nach hinten, schafft es aber nicht, mir in die
Augen zu sehen.
»Es tut mir leid, dass ich dir die Schuld gegeben habe. Du hast ihn
genauso verloren wie ich. Ich wusste damals einfach nicht, wie ich anders
damit umgehen soll …«
Meine Stimme bricht, als ich mir klarmache, dass ich ihn sechs lange
Jahre habe warten lassen, um ihm das zu sagen. Er zieht mich eng an sich
und hält mich. Ich lasse mich von ihm halten und halte ihn, bis wir das
ganze Ausmaß der Reue und Vergebung irgendwann so tief in uns
aufgenommen haben, dass wir endlich wieder einfach nur Miles und Rachel
sein können. Bis die Tränen versiegen.
Natürlich ist es nicht so, als hätte ich nicht gewusst, was ich ihm angetan
habe. Ich habe jeden Tag daran gedacht. Aber als es passiert ist, war ich erst
achtzehn und die Trauer hat mich aufgefressen. Nach dem Unfall gab es
nichts mehr, das mir wichtig gewesen wäre.
Gar nichts.
Ich wollte bloß noch vergessen. Stattdessen wachte ich jeden Morgen
auf und spürte da, wo ich Clayton hätte spüren müssen, nur Leere. Ich habe
Miles die Schuld gegeben. Ich habe ihm vorgeworfen, dass er mich gerettet
hat, obwohl es für mich nach Claytons Tod keinen Grund gab,
weiterzuleben. Tief in mir wusste ich, dass Miles getan hatte, was er konnte.
Ich wusste, dass er nicht schuld war, aber ich war nicht in der Lage, rational
zu denken oder zu vergeben. Ich war überzeugt davon, dass ich in meinem
Leben nie mehr imstande sein würde, irgendetwas anderes zu empfinden als
Schmerz. Und so war es auch.
Bis ich drei Jahre später Brad getroffen habe.
Ich weiß nicht, wen Miles kennengelernt hat, bin mir aber sicher, dass es
da jemanden gibt, weil ich in seinen Augen den Kampf sehe, der in seinem
Inneren stattfindet. Genau diesen Blick habe ich früher gesehen, wenn ich
in den Spiegel geschaut und mich gefragt habe, ob ich jemals wieder fähig
sein werde, Liebe für jemanden zu empfinden.
»Liebst du sie?«, frage ich. Ich muss nicht wissen, wer sie ist oder wie
sie heißt. Ich spüre, dass Miles nicht hier ist, weil er mich noch liebt. Er ist
hier, weil er nicht weiß, ob er dazu überhaupt noch in der Lage ist.
Er legt seufzend sein Kinn auf meinen Kopf. »Ich habe Angst, dass ich
nicht mehr lieben kann.«
Er drückt seine Lippen in meine Haare und ich schließe die Augen. In
seiner Brust höre ich sein Herz schlagen. Dieses Herz, von dem er fürchtet,
es wäre nicht mehr fähig zu lieben, obwohl es in Wirklichkeit viel zu sehr
liebt. Durch den Unfall wurde uns das genommen, was wir am meisten
geliebt haben, und danach ist nichts mehr so gewesen, wie es war. Unsere
Welt war eine andere. Sein Herz war ein anderes.
»Ich habe ununterbrochen geweint«, erzähle ich leise. »Die ganze Zeit.
Unter der Dusche. Im Auto. Im Bett. Immer, wenn ich allein war, habe ich
geweint. In den ersten Jahren war mein Leben von einer ständigen
Traurigkeit erfüllt, die so schwer war, dass nichts zu mir durchdringen
konnte. Noch nicht einmal die kleinsten guten Momente.«
Er zieht mich enger an sich und sagt mir ohne Worte, dass er weiß, wie
sich das anfühlt. Miles weiß genau, wovon ich spreche.
»Als ich Brad kennengelernt habe und wir uns nähergekommen sind,
habe ich irgendwann festgestellt, dass die Traurigkeit nicht mehr
Dauerzustand war. Plötzlich merkte ich, dass es längere Augenblicke gab,
in denen ich nicht total niedergedrückt war. Dass ich mich nachts, wenn er
bei mir war, nicht in den Schlaf geweint hatte. Auf einmal gab es auch
wieder die guten Momente.«
Ich hole Luft, weil ich seit längerer Zeit nicht mehr daran gedacht habe
und jetzt spüre, wie nahe mir das alles immer noch geht. Wie frisch es auf
einmal wieder ist. Wie real. Ich richte mich kurz auf, atme tief durch und
lege meinen Kopf auf Miles’ Schulter. Er schmiegt seinen Kopf an meinen,
greift nach meiner Hand und verschränkt unsere Finger.
»Nach einer Weile habe ich gemerkt, dass die glücklichen Momente mit
Brad häufiger wurden und dass es bald mehr gute als traurige Momente
gab, bis mein Leben dann irgendwann nicht mehr von der Trauer bestimmt
wurde, sondern von meinem Glück mit Brad.«
Ich spüre, wie Miles leise ausatmet, und werte das als Zeichen dafür,
dass er weiß, wovon ich rede. Dass er diese glücklichen Momente
zusammen mit ihr erlebt hat.
»Als ich mit Claire schwanger war, hatte ich die ganzen neun Monate
über solche Angst davor, kein Glück empfinden zu können, wenn ich sie
zum ersten Mal sehen würde. Sie haben sie mir gleich nach der Geburt auf
die Brust gelegt, genau wie Clayton damals. Und Claire sah aus wie er,
Miles. Ganz genau wie er. Ich hielt sie in den Armen und schaute sie an und
mir liefen Tränen übers Gesicht. Gute Tränen. Zum ersten Mal, seit ich
Clayton damals in den Armen gehalten habe, war ich wieder in der Lage,
vor Glück zu weinen.«
Ich lasse seine Hand los, um mir über die Augen zu wischen, dann hebe
ich den Kopf und sehe ihn an. »Das wünsche ich dir auch, Miles«, sage ich
zu ihm. »Du hast es verdient, wieder Glück empfinden zu können.«
Miles nickt. »Ich möchte sie so sehr lieben, Rachel.« Es klingt, als
würde er den Satz in einem einzigen Atemstoß herausschleudern, als hätte
er viel zu lange in ihm darauf gewartet, freigelassen zu werden. »Ich
wünsche mir das mit ihr so sehr. Aber ich habe Angst, dass das andere für
immer da sein wird.«
»Der Schmerz wird auch nicht verschwinden, Miles. Niemals. Aber
wenn du dir erlaubst, sie zu lieben, wirst du ihn nur manchmal fühlen, statt
dass er für immer dein gesamtes Leben durchdringt.«
Miles sagt darauf nichts, schlingt nur den Arm um mich und drückt seine
Lippen fest auf meine Stirn. Dann nickt er, um mir zu signalisieren, dass er
versteht.
»Du hast das hier, Miles«, wiederhole ich die Beschwörungsformel, mit
der wir uns früher so oft getröstet haben. »Du hast das hier.«
Er lacht, und beinahe bilde ich mir ein zu spüren, wie etwas von der
Schwere von ihm abfällt.
»Weißt du, wovor ich am meisten Angst hatte, als ich hierhergekommen
bin?«, sagt er. »Ich hatte Angst, dass es dir genauso gehen würde wie mir.«
Er streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelt. »Ich bin so
froh, dass es nicht so ist. Es ist gut, dich glücklich zu sehen.«
Er zieht mich noch einmal an sich. »Danke, Rachel«, flüstert er und
küsst mich sanft auf die Wange, bevor er mich loslässt, um aufzustehen.
»Dann fahre ich jetzt schnell wieder zurück. Es gibt eine Million Dinge, die
ich ihr sagen muss.«
Er geht durch den Flur, und als er sich noch einmal zu mir umdreht, sehe
ich in seinen Augen eine ruhige Gewissheit, die vorher nicht da gewesen
ist.
»Weißt du was, Rachel?« Er lächelt. »Ich bin stolz auf dich.«
Dann verschwindet er um die Ecke, und ich bleibe auf dem Boden
sitzen, bis ich höre, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fällt.
Und ich bin stolz auf dich, Miles.
Achtunddreißigstes Kapitel
TATE
Ich schlage die Wagentür zu und gehe die Treppe zu meinem Apartment
hinauf, das im ersten Stock eines niedrigen Wohnblocks liegt. Eigentlich
finde ich es gut, mich bewegen zu müssen, statt immer nur mit dem Aufzug
zu fahren, aber Cap fehlt mir doch sehr. Es war einfach schön zu wissen,
dass da immer jemand war, bei dem ich mir meinen Kummer von der Seele
reden konnte, auch wenn ich aus seinen Kommentaren nicht immer schlau
geworden bin.
Seit meinem Umzug sind zwei Wochen vergangen, und obwohl ich jetzt
allein wohne, bin ich es doch nie. In der Uni und in der Notaufnahme habe
ich so viel zu tun, dass ich keine Zeit habe, an etwas anderes zu denken,
aber sobald ich die Wohnungstür hinter mir schließe, ist Miles da. Er ist
immer noch ständig um mich, und ich warte auf den Tag, an dem sich das
endlich ändert. An dem es anfängt, weniger wehzutun. An dem ich ihn nicht
mehr ganz so sehr vermisse.
Ich würde sagen, dass er mir das Herz gebrochen hat, wenn es so wäre,
doch das hat er nicht. Glaube ich jedenfalls. Mit Bestimmtheit weiß ich es
nicht, weil ich mein Herz nicht mehr spüre, seit ich es vor der Tür seines
Apartments habe liegen lassen. Ich rede mir ein, dass es mir bald besser
gehen wird, wenn ich einfach einen Tag nach dem anderen überstehe, aber
das sagt sich leichter, als es getan ist. Besonders, wenn der Tag in den
Abend übergeht und ich allein in meinem Bett liege und in die Nacht
hineinlausche.
Die Stille war noch nie so laut wie seit dem Tag, an dem Miles mir
Lebewohl gesagt hat.
Mir graut jetzt schon davor, die Tür aufzuschließen, dabei bin ich erst im
Treppenhaus. Als ich den oberen Absatz erreicht habe und mich nach links
wende, erstarre ich und muss mich an der Wand abstützen, weil meine Knie
plötzlich unter mir nachgeben.
Zum ersten Mal seit zwei Wochen spüre ich in meiner Brust wieder mein
Herz schlagen.
»Miles …?«
Er sitzt, den Oberkörper an die Tür gelehnt, vor meinem Apartment auf
dem Boden und sieht aus, als würde er schlafen. Während ich langsam auf
ihn zugehe, frage ich mich, ob ich mich freuen oder mir eher Sorgen
machen sollte, dass er hier ist. Er trägt nicht seine Pilotenuniform, sondern
Jeans und T-Shirt. Die dunklen Stoppeln auf seinem Kinn lassen darauf
schließen, dass er schon seit ein paar Tagen nicht mehr geflogen ist. Auf
seinem rechten Wangenknochen ist ein dunkel verfärbter Bluterguss zu
erkennen. Ich zögere. Was ist, wenn er wieder so betrunken ist wie bei
unserer ersten Begegnung? Ich weiß nicht, ob ich damit jetzt umgehen
könnte. Andererseits bleibt mir auch diesmal nichts anderes übrig, als ihn
zu wecken, weil er den Zugang zu meiner Wohnung blockiert.
Ich atme tief durch. Was wird jetzt auf mich zukommen? Meine größte
Befürchtung ist, dass ich mich wieder von ihm einwickeln lasse, sobald er
wach ist. Ich werde ihn in meine Wohnung lassen und ihm das geben,
weswegen er hergekommen ist, obwohl er es nicht verdient hat.
Plötzlich macht er die Augen auf. »Tate.« Er rappelt sich vom Boden
hoch, und ich weiche unwillkürlich zurück, weil ich vergessen hatte, wie
groß er ist. Wie übermächtig seine Präsenz ist, wenn er so vor mir steht.
»Seit wann bist du schon hier?«, frage ich.
Er wirft einen Blick auf sein Handy, das er in der Hand hält. »Seit …
sechs Stunden.« Er grinst etwas verlegen. »Ich bin wohl eingeschlafen und
jetzt muss ich ziemlich dringend pinkeln. Darf ich bei dir kurz aufs Klo?«
Was für eine absurde Bitte. Ich würde gern lachen, aber ich habe
vergessen, wie man das macht.
Miles tritt einen Schritt zur Seite, damit ich aufschließen kann. Meine
Hand zittert, als ich die Tür öffne, hineingehe und auf das Badezimmer
deute. »Bitte schön.«
Ich sehe ihm nicht hinterher, sondern warte, bis er die Tür hinter sich
geschlossen hat, dann lasse ich mich auf die Couch fallen und begrabe das
Gesicht in den Händen.
Ich hasse ihn dafür, dass er hergekommen ist. Ich hasse mich selbst
dafür, dass ich ihn reingelassen habe, ohne zu fragen, was er hier überhaupt
will. Und ich hasse die Tatsache, dass ich ihn rausschmeißen muss, sobald
er aus dem Bad kommt. Aber es gibt keine andere Möglichkeit. Ich kann
mir das nicht mehr antun.
Ich bin immer noch dabei, mich innerlich zu sammeln, als die Tür
aufgeht und Miles ins Wohnzimmer kommt. Ich sehe zu ihm auf und kann
nicht mehr wegschauen.
Etwas ist anders.
Er ist anders.
Das Lächeln auf seinem Gesicht … die Ruhe in seinem Blick … seine
Art zu gehen, die mir fast so vorkommt, als würde er schweben.
Wie kann er sich in zwei Wochen so verändert haben?
Miles setzt sich dicht neben mich auf die Couch und beugt sich zu mir.
Ich schließe die Augen und warte darauf, dass er etwas sagt, das mich
verletzt. Denn das ist das Einzige, wozu er in der Lage ist.
»Tate«, flüstert er. »Ich vermisse dich.«
Was hat er gesagt …?
Ich und vermisse und dich.
Das sind mit Sicherheit die drei Wörter, die ich als Allerletztes von ihm
erwartet habe. Ich erkläre sie umgehend zu meinen neuen Lieblingswörtern.
»Sag das noch mal, Miles.«
»Ich vermisse dich, Tate«, wiederholt er, ohne zu zögern. »Sehr. Und
nicht erst jetzt. Seit wir uns kennengelernt haben, habe ich dich an jedem
einzelnen Tag vermisst, den wir nicht zusammen waren.«
Er legt den Arm um mich.
Und ich verflüssige mich.
Ich lasse mich gegen seine Brust fallen, klammere mich in sein T-Shirt
und schließe die Augen, als ich seine Lippen spüre, die er in meine Haare
presst.
»Schau mich an«, bittet er leise und zieht mich ganz nah an sich heran.
Ich tue es. Ich schaue ihn an. Und diesmal sehe ich ihn. Da ist kein
Schutzschild, den er hochgefahren hat. Da ist keine unsichtbare Mauer, die
es mir unmöglich macht zu erahnen, was in ihm vorgeht. Diesmal erlaubt er
mir, ihn so zu sehen, wie er ist. Und er ist schön.
Viel schöner als vorher. Was auch immer sich in ihm verändert hat – es
muss etwas ganz Entscheidendes gewesen sein.
»Ich möchte dir etwas sagen«, sagt er. »Aber es fällt mir schwer, es
auszusprechen, denn du bist der erste Mensch, dem ich es sagen will.«
Ich wage kaum zu atmen, weil seine Worte mir Angst machen, trotzdem
nicke ich.
»Ich hatte einen Sohn.« Er sieht auf unsere ineinander verschränkten
Hände. Ich glaube nicht, dass ich jemals so viel Schmerz in einer Stimme
gehört habe wie in seiner in diesem Moment.
Ich hole tief Luft. Miles sieht mich mit Tränen in den Augen an, und ich
erwidere seinen Blick ruhig, obwohl ich innerlich taumle.
»Vor sechs Jahren ist er gestorben.« Er sagt es leise und wie aus weiter
Ferne. Ich höre seiner Stimme an, wie schwer es ihm fällt, das aussprechen
zu müssen. Ich will ihm sagen, dass er still sein soll. Ich will ihm sagen,
dass ich nicht wissen muss, was passiert ist, wenn es ihm so wehtut. Ich will
mit bloßen Händen die Traurigkeit aus seiner Seele reißen und ihn dann in
den Arm nehmen, aber stattdessen lasse ich ihn weiterreden.
Miles senkt wieder den Blick. »Ich bin noch nicht so weit, dass ich dir
alle Einzelheiten erzählen kann. Dafür brauche ich noch Zeit.«
Ich nicke und drücke seine Hand.
»Aber ich werde dir von ihm erzählen, das verspreche ich. Und auch von
seiner Mutter, von Rachel. Ich will, dass du alles aus meiner Vergangenheit
erfährst.«
Als ich mich zu ihm beuge, um ihn zu küssen, zieht er mich eng an sich
und drückt seine Lippen so fest auf meine, als wollte er mich stumm um
Verzeihung bitten.
»Tate«, flüstert er nach einer Weile an meinem Mund, und ich spüre, wie
er lächelt. »Ich war noch nicht fertig. Hör mir zu.«
Er lehnt sich zurück und malt mit dem Zeigefinger Kreise auf meine
Schulter. »Ich bin hier in der Bay Area geboren und aufgewachsen. Wir
haben in einem Vorort von San Francisco gewohnt.« Jetzt sieht er mich
wieder an und spricht schneller. »Ich bin Einzelkind. So etwas wie ein
Lieblingsessen habe ich nicht, weil ich gutes Essen liebe und fast alles mag.
Ich wollte immer schon Pilot werden. Als ich siebzehn war, ist meine
Mutter an Krebs gestorben. Mein Vater hat vor etwas über einem Jahr eine
Frau geheiratet, die in seinem Unternehmen arbeitet. Sie ist echt nett und
die beiden sind glücklich zusammen. Ich habe mir immer einen Hund
gewünscht, aber wir hatten nie einen …«
Wie verzaubert beobachte ich seinen Blick, der über mein Gesicht
wandert, während er mir von seiner Kindheit erzählt, von seiner
Freundschaft zu Ian und wie er meinen Bruder kennengelernt hat.
Er legt seine Hand auf meine. »Du erinnerst dich sicher noch an den
Abend, an dem wir uns … kennengelernt haben«, sagt er zögernd. »Den
Abend, an dem du mich im Hausflur gefunden hast.« Jetzt senkt er den
Blick wieder. »Das war der Tag, an dem mein Sohn sechs Jahre alt
geworden wäre.«
Ich weiß, dass er gesagt hat, ich soll ihm zuhören, aber ich kann nicht
anders, als die Arme um ihn zu schlingen. Er lehnt sich zurück und zieht
mich zu sich auf den Schoß.
»Ich musste mich mit aller Kraft davor bewahren, mich in dich zu
verlieben, Tate«, bricht es aus ihm hervor. »Die Gefühle, die jedes Mal in
mir hochkamen, wenn ich mit dir zusammen war, haben mir höllische
Angst gemacht. Sechs Jahre lang habe ich geglaubt, ich hätte die totale
Kontrolle über mein Leben und mein Herz. Wenn ich mit dir zusammen
war, gab es immer wieder Momente, in denen mir alles egal war und ich
kurz davor war, mich auf dich einzulassen. Aber sobald mir solche
Gedanken kamen, habe ich sie sofort wieder weggedrückt, weil ich solche
Angst und solche Schuldgefühle hatte. Ich dachte, ich hätte dich nicht
verdient. Ich habe mir eingeredet, ich dürfte niemals wieder wirkliche
Erfüllung und Glück empfinden, weil ich den beiden Menschen, die ich in
meinem Leben bisher am allermeisten geliebt habe, für immer die Chance
genommen habe, glücklich zu werden.«
Meine Schultern beben. Miles zieht mich enger an sich, holt tief Luft
und küsst mich auf die Schläfe.
»Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich mich dir gegenüber so oft wie ein
Arschloch verhalten und so verdammt lang gebraucht habe«, sagt er rau.
»Ich fürchte, ich werde dir niemals genug dafür danken können, dass du
trotzdem irgendetwas Gutes in mir gesehen hast. Dass du mich nicht
aufgegeben hast. Dass du daran geglaubt hast, dass wir eine gemeinsame
Zukunft haben können … Das bedeutet mir mehr als alles, was jemals ein
Mensch für mich getan hat.« Er legt die Hände an meine Wangen und neigt
meinen Kopf, sodass ich ihm in die Augen sehen muss. »Wenn du willst,
dann gehört meine Vergangenheit von jetzt an dir, auch wenn es sein kann,
dass ich sie dir nur stückchenweise gebe. Ich erzähle dir alles, was du über
mich wissen willst, okay? Aber ich habe auch einen Wunsch: Ich möchte,
dass du mir dafür deine Zukunft schenkst.«
Mir laufen die Tränen übers Gesicht, und er wischt sie mit den Daumen
weg, obwohl er das nicht tun müsste. Es ist mir vollkommen egal, dass ich
weine, denn es sind keine traurigen Tränen. Ganz im Gegenteil.
Statt zu antworten, küsse ich ihn so lange und so innig, bis meine Lippen
irgendwann genauso wehzutun beginnen wie mein Herz. Aber diesmal tut
es nicht weh, weil es verletzt wurde, sondern weil es randvoll ist mit Glück.
Behutsam streiche ich über die Narbe auf seiner Wange. Ich weiß, dass
er mir irgendwann erzählen wird, woher sie stammt. Ich berühre auch die
bläulich verfärbte Stelle unter seinem Auge, erleichtert darüber, dass ich ihn
endlich alles fragen kann, ohne damit gegen irgendeine Regel zu verstoßen.
»Wie ist das passiert?«
Miles lässt mit einem leisen Lachen den Kopf gegen die Rückenlehne
fallen. »Ich wusste ja nicht, wo du jetzt wohnst, und musste Corbin nach
deiner Adresse fragen. Es hat mich einiges gekostet, ihn davon zu
überzeugen, dass er sie mir unbesorgt geben kann.«
Ich küsse ihn sanft auf die lädierte Wange. »Er hat dich geschlagen?«,
sage ich ungläubig.
»Nicht zum ersten Mal«, gibt er zu. »Aber ich bin mir ziemlich sicher,
dass es das letzte Mal war. Ich glaube, er hat sich endlich damit
abgefunden, dass wir zusammen sind … Allerdings erst, nachdem ich ihm
versprochen habe, mich an seine Bedingungen zu halten.«
»Oh.« Das macht mich etwas nervös. »Und was sind das für
Bedingungen?«
»Erstens darf ich dir nicht das Herz brechen«, sagt Miles. »Zweitens darf
ich dir auf gar keinen Fall das gottverdammte Herz brechen. Und drittens
darf ich dir auf gar keinen gottverdammten Fall das gottverdammte Herz
brechen.«
Ich muss laut lachen, weil sich das wirklich original nach meinem
Bruder anhört. Miles lacht mit mir und dann blicken wir uns eine Weile
einfach nur stumm in die Augen. Ich kann alles darin sehen. Jedes einzelne
Gefühl.
»Weißt du was, Miles?«, sage ich lächelnd. »Du siehst mich an, als
würdest du ziemlich auf mich stehen.«
Er schüttelt den Kopf. »Ich stehe nicht auf dich, Tate. Ich fliege auf
dich.«
Er zieht mich wieder auf seinen Schoß, und dann schenkt er mir den Teil
von sich, den er mir die ganze Zeit über nicht schenken konnte.
Sein Herz.
Neununddreißigstes Kapitel
MILES
Als ich aus dem Bad komme, bleibe ich einen Moment in der Zimmertür
stehen und sehe ihr beim Schlafen zu. Tate weiß es nicht, aber das mache
ich immer so, wenn sie hier bei mir übernachtet. Ihr Anblick ist für mich
der perfekte Start in einen neuen Tag.
Das erste Mal habe ich sie am Morgen nach unserem verunglückten
Kennenlernen so betrachtet. Ich konnte mich nicht mehr an viel von dem
erinnern, was am Abend vorher passiert war. Eigentlich an gar nichts –
außer an sie. Ich wusste noch, dass ich auf der Couch gelegen und wie sie
mir über den Kopf gestreichelt und geflüstert hatte, dass ich jetzt schlafen
soll. Als ich am nächsten Morgen begriff, dass ich nicht bei mir zu Hause,
sondern in Corbins Apartment war, dachte ich im ersten Moment, ich hätte
dieses Mädchen nur geträumt. Aber dann sah ich ihre Tasche auf dem
Sessel liegen.
Auf der Suche nach ihr habe ich ins Gästezimmer geschaut, wo sie
schlafend im Bett lag. Und in dem Augenblick passierte etwas in mir, das
ich bisher nur einmal erlebt hatte: in dem Moment, in dem ich Rachel
damals im Sekretariat das erste Mal sah.
Ich fühlte mich, als würde ich schweben.
Wie friedlich und entspannt sie schlummerte. Sie sah aus wie ein Engel.
Der Anblick ihrer Haut und ihrer Haare und ihrer Lippen … all das löste
plötzlich Gefühle in mir aus, die mir in den vergangenen sechs Jahren
fremd geworden waren.
Ich habe mir lange verboten, irgendetwas für jemanden zu empfinden.
Hatte mich unter Kontrolle. Aber was ich für Tate an diesem Tag
empfunden habe, hätte ich nicht kontrollieren können. Unmöglich. Beim
besten Willen nicht.
Das weiß ich, weil ich es versucht habe.
Und wie ich es versucht habe.
Aber in der Sekunde, in der sie die Augen aufgeschlagen und mich
angesehen hat, wusste ich es. Dieses Mädchen würde entweder mein
endgültiger Untergang sein oder diejenige, die mich ins Leben zurückholt.
Allerdings hatte ich nicht die geringste Absicht, mich von irgendwem ins
Leben zurückholen zu lassen. Ich hatte mich in meiner Situation
eingerichtet und die oberste Priorität für mich ganz klar definiert: Ich wollte
mich mit aller Kraft davor schützen, noch einmal so etwas erleben zu
müssen wie das, was ich durchgemacht hatte.
Aber Tate hat es immer wieder geschafft, mich diese Priorität kurzzeitig
vergessen zu lassen.
An dem Tag, an dem ich die Kontrolle über mich verlor und nicht anders
konnte, als sie zu küssen, änderte sich alles. Danach wollte ich mehr von
ihr. Viel mehr. Ich wollte ihren Mund und ihren Körper und ihre Seele. Als
ich gespürt habe, wie sehr ich auch ihr Herz wollte, habe ich mich
gezwungen, unseren Kuss abrupt zu beenden.
Aber im Laufe der Jahre hatte ich die Kunst, mich selbst zu belügen,
ziemlich perfektioniert. Ich glaubte, ich sei so stark, mich damit
zufriedengeben zu können, sie körperlich zu besitzen. Ich wollte mich nicht
noch einmal so verletzlich machen wie damals als Achtzehnjähriger, aber
ich wollte auch sie nicht verletzen. Ganz bestimmt nicht. Das war das
Letze, was ich wollte.
Und trotzdem hab ich es getan. Obwohl ich mir einredete, mit offenen
Karten zu spielen, habe ich ihr mehr als einmal brutal wehgetan. Jetzt
würde ich ihr mein Leben zu Füßen legen, um das wiedergutzumachen.
Ich gehe zum Bett und setze mich vorsichtig auf die Kante. Als sie spürt,
wie sich die Matratze senkt, öffnet sie die Augen einen kleinen Spalt und
der Hauch eines Lächelns spielt um ihre Lippen, bevor sie sich die Decke
über den Kopf zieht und zur anderen Seite dreht.
Im Laufe des halben Jahres, das wir jetzt offiziell zusammen sind, habe
ich begriffen, dass Tate morgens ihre Zeit braucht, um wach zu werden.
Aber obwohl es wirklich noch sehr früh ist, beuge ich mich vor und küsse
die Stelle auf der Decke, unter der ich ihr Ohr vermute.
»Ich muss dich leider wecken, Schlafmütze«, flüstere ich.
Sie stöhnt, als ich die Decke vorsichtig anhebe, zu ihr ins Bett schlüpfe
und sie von hinten umarme.
»Tate, du musst aufstehen. Unser Flug geht gleich.«
Jetzt ist sie schlagartig hellwach.
»Wie bitte?« Sie rollt sich herum und zieht die Decke von unseren
Köpfen. »Welcher Flug?«
»Wirst du dann schon sehen.« Ich versuche mir mein Lächeln zu
verbeißen. »Steh auf, zieh dich an und lass uns losfahren.«
Sie betrachtet mich misstrauisch, wofür ich angesichts der Tatsache, dass
es noch nicht mal fünf Uhr morgens ist, vollstes Verständnis habe. »Ich
weiß, dass du weißt, wie selten es vorkommt, dass ich mal einen ganzen
Tag freihabe«, sagt sie. »Ich kann also nur hoffen, dass dieser Flug es wert
ist, dass du mich dafür um meinen wohlverdienten Schlaf bringst.«
Ich lache und gebe ihr einen Kuss. »Das hängt davon ab, ob wir es
schaffen, pünktlich am Flughafen zu sein.« Ich klopfe mit der flachen Hand
auf die Matratze. »Hopp. Raus aus den Federn!«
Sie wirft lachend die Decke von sich, rutscht zur Bettkante und lässt sich
von mir auf die Füße ziehen. »Du machst es einem mit deiner Fröhlichkeit
wirklich verdammt schwer, morgenmuffelig zu sein, Miles.«
***
Unten in der Lobby wartet Cap schon mit dem frisch gepressten
Orangensaft und der Tüte mit dem Frühstück, das ich ihn gebeten hatte zu
besorgen. Ich finde es toll, dass er und Tate sich so gut verstehen. Als ich
ihr gestanden habe, dass ich ihn schon mein ganzes Leben lang kenne, hatte
ich ein bisschen Angst, sie würde sauer reagieren. Und tatsächlich war sie
auch ein bisschen eingeschnappt. Sie hatte Sorge, er könnte mir alles erzählt
haben, was sie ihm anvertraut hat. Aber in der Beziehung konnte ich sie
beruhigen. Cap ist nicht umsonst einer der wenigen Menschen, denen ich
absolut bedingungslos vertraue.
Ohne mich irgendwie zu belehren, hat er immer das Richtige zu sagen
gewusst. Er hat es auf seine sehr eigene Art geschafft, mich zum
Nachdenken darüber zu bringen, ob mein Verhalten gegenüber Tate richtig
ist. Zum Glück gehört er zu den Menschen, die im Alter klüger werden. Er
wusste genau, was mit uns beiden los war.
»Guten Morgen, Tate«, begrüßt er sie lächelnd und hält ihr den Arm hin,
damit sie sich bei ihm unterhaken kann.
Tate sieht zwischen uns beiden hin und her.
»Was wird das?«, fragt sie Cap, als er sie zum Ausgang führt.
Er lächelt. »Der Junge hat mich zu meinem ersten Flug in einem
richtigen Flugzeug eingeladen und diese Erfahrung wollte ich gern mit
Ihnen teilen.«
»Wie bitte?«, sagt sie ungläubig. »Unser hauseigener Captain ist noch
nie geflogen?«
»Bis jetzt immer nur Fahrstühle«, sagt er achselzuckend.
Das strahlende Lächeln, das Tate mir über die Schulter zuwirft, reicht,
um diesen Tag jetzt schon zu einem der schönsten meines Lebens zu
machen, und dabei hat er noch nicht einmal richtig angefangen.
***
»Alles okay bei Ihnen, Cap?«, frage ich ins Mikro meines Headsets.
Der alte Mann, der direkt hinter Tate sitzt, reckt den Daumen in die
Höhe, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Es ist noch dunkel am
Himmel, was bedeutet, dass es nicht so furchtbar viel zu sehen gibt, aber
allein die Tatsache, dass wir wirklich fliegen, fasziniert ihn so sehr, wie ich
es mir erhofft hatte.
Ich konzentriere mich auf die Kontrollanzeigen, bis wir die optimale
Flughöhe erreicht haben, und stelle Caps Kopfhörer dann auf stumm. Aus
dem Augenwinkel bemerke ich, dass Tate mich lächelnd beobachtet.
»Soll ich dir sagen, warum wir heute hier sind?«, frage ich.
Sie nickt in Caps Richtung. »Weil er noch nie geflogen ist.«
Ich schüttle den Kopf. »Nicht nur. Weißt du noch, worüber wir im Auto
geredet haben, als wir nach Thanksgiving von deinen Eltern nach Hause
gefahren sind?«
Sie nickt.
»Du hast mich und Corbin damals gefragt, wie es ist, einen
Sonnenaufgang im Flugzeug zu erleben. Aber das ist nichts, was man mit
Worten beschreiben kann, Tate.« Ich deute aus dem Fenster. »Das muss
man mit eigenen Augen sehen.«
Sie dreht sich um und blickt hinaus. Die Hände gegen die Scheibe
gepresst, schaut sie gebannt zu, wie die Sonne langsam durch die Wolken
bricht. Mir ist zwar unbegreiflich, wie das überhaupt möglich ist – aber in
diesem Moment verliebe ich mich noch mehr in sie.
Erst als sich die Kabine komplett mit strahlendem Sonnenlicht gefüllt
hat, dreht sie sich wieder zu mir um. In ihren Augen stehen Tränen. Sie sagt
kein Wort, greift nur nach meiner Hand und hält sie.
***
»Wartest du noch kurz?«, bitte ich Tate. »Ich habe einen Fahrer bestellt, der
Cap nach Hause bringt, weil ich noch mit dir frühstücken wollte.«
Tate bleibt sitzen, während ich Cap die Stufen hinunterhelfe. Als ich ihn
zu der am Rand des Flugfelds wartenden Limousine führe, zieht er ein
kleines Kästchen aus der Jackentasche und drückt es mir in die Hand. »Bitte
schön.«
Ich stecke es ein und will wieder zum Flieger gehen, als er mich noch
einmal zurückruft.
»Ich hab noch was vergessen, Junge.«
Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihm um.
Er deutet auf die Cessna und macht dann eine weit ausholende Geste
zum Himmel. »Herzlichen Dank dafür!«
Ich lächle und öffne gerade den Mund, um ihm ebenfalls zu danken, da
ist er schon eingestiegen.
»Du bist ziemlich unglaublich, Miles Mikel Archer«, sagt Tate, als ich
kurz darauf wieder im Cockpit sitze. »Außerdem siehst du verdammt sexy
aus, wenn du ein Flugzeug fliegst. Ich finde, das sollten wir öfter machen.«
Sie steht auf und gibt mir einen Kuss.
»Bleib sitzen«, bitte ich sie. »Ich möchte dir noch was sagen.« Ich drehe
mich zu ihr, nehme ihre Hände in meine und hole tief Luft, um ihr endlich
zu sagen, was sie viel zu lange nicht hören durfte. »Als du mich gefragt
hast, wie es ist, vom Himmel aus den Sonnenaufgang zu sehen …«, sage
ich und sehe ihr in die Augen. »Das war der Moment, in dem ich zum
ersten Mal nach sechs Jahren gespürt habe, dass ich mir wünsche,
irgendwann vielleicht wieder lieben zu können. Und dafür möchte ich dir
danken.«
Tate beißt sich auf die Unterlippe.
»Nicht.« Ich zupfe sanft an ihrer Lippe. »Ich hab dir doch gesagt, dass
du das nicht tun sollst. Dein Lächeln liebe ich nämlich fast so sehr, wie ich
dich liebe.«
Ich beuge mich zu ihr, um sie zu küssen, und hole dabei das schwarze
Kästchen aus der Tasche. Als ich mich zurücklehne, fällt ihr Blick darauf.
Ihre Augen werden groß und sie presst sich die Hand auf den Mund.
»Miles?« Sie schaut zwischen dem Kästchen und mir hin und her.
»Was …?«
»Es ist nicht das, was du denkst«, unterbreche ich sie und hebe den
Deckel ab. »Na ja, jedenfalls wahrscheinlich nicht ganz das, was du
vielleicht denkst.«
Ich nehme den Schlüssel aus dem Kästchen und lege in ihr in die
geöffnete Handfläche.
Sie betrachtet ihn lange, dann sieht sie mich lächelnd an.
»Tate?«, sage ich feierlich. »Willst du mit mir zusammenziehen?«
Sie schaut noch einmal auf den Schlüssel und sagt dann zwei Wörter, die
mich breit grinsen lassen.
»Verdammt« und »Ja«.
Wieder beuge ich mich zu ihr, und unsere Lippen, Arme und Beine
fügen sich nahtlos ineinander wie die Teile eines Puzzles, als Tate auf
meinen Schoß klettert.
Sie sitzt rittlings auf mir.
Im Cockpit eines Flugzeugs.
Es ist wahnsinnig eng.
Und es fühlt sich perfekt an.
»Ich bin aber keine besonders gute Köchin«, sagt sie warnend. »Du bist
ein viel besserer Hausmann als ich. Ich bin unordentlich. Ich wasche die
weißen und die farbigen Sachen zusammen. Und dass ich morgens
ungenießbar bin, weißt du ja schon.« Sie hält mein Gesicht mit beiden
Händen umfangen und zählt mit ernster Miene all die schlechten
Eigenschaften auf, die sie angeblich hat. Als wüsste ich nicht ganz genau,
worauf ich mich einlasse.
»Ich weiß, was ich will, Tate«, unterbreche ich sie. »Ich will deine
Unordnung. Ich will, dass du deine Klamotten auf meinem Boden
herumliegen lässt. Ich will, dass du deine Zahnbürste auf mein
Waschbecken legst. Ich will, dass du deine Schuhe in meinen Flur stellst.
Ich will, dass die Reste des merkwürdigen Essens, das du kochst, in
meinem Kühlschrank stehen.«
Sie lacht.
»Und dann ist da noch was.« Ich ziehe das andere kleine Kästchen, das
ich mitgebracht habe, aus der Jacke, klappe es auf und halte es ihr hin. »Ich
will, dass du meine Zukunft bist, Tate. Für immer.«
Als sie mit offenem Mund auf den Ring starrt, bekomme ich plötzlich
Angst. Vielleicht geht ihr das alles viel zu schnell, und sie weiß gar nicht,
ob sie den Rest ihres Lebens mit mir verbringen möchte. Ich dagegen habe
nicht die geringsten Zweifel daran. Wir sind zwar erst seit einem halben
Jahr offiziell zusammen, aber mir hat mal jemand gesagt, dass man es
instinktiv spürt, wenn man das Richtige für sich gefunden hat.
Ihr Schweigen macht mich so nervös, dass ich den Ring schnell aus dem
Kästchen nehme und ihr über den Finger streife. »Möchtest du zusammen
mit mir die zweite Regel brechen, Tate? Ich würde dich nämlich wirklich
sehr gerne heiraten.«
Sie muss nicht einmal Ja sagen. Ihre Tränen, ihr Kuss und ihr Lachen
sagen alles.
Als sie sich schließlich zurücklehnt und mich anschaut, sehe ich in ihrem
Blick so viel Liebe und so viel Vertrauen, dass es mir einen Stich versetzt.
Sie ist schön. Die Zuversicht in ihren Augen ist schön. Das Lächeln auf
ihrem Gesicht ist schön. Die Tränen, die ihr übers Gesicht fließen, sind
schön.
Ihre
Liebe
ist
schön.
Tate lässt den Atem, den sie angehalten hat, langsam ausströmen und beugt
sich zu mir. Ihr Kuss ist voller Zärtlichkeit und uneingeschränkter
Zuneigung, so als würde sie mit ihren Lippen das stumme Versprechen
besiegeln, dass sie von jetzt an mein ist.
Mein Ein und Alles.
Für immer.
»Weißt du was, Miles?«, flüstert sie an meinem Mund. »Ich hab noch nie in
einem Flugzeug Sex gehabt.«
Ich muss grinsen, weil es ist, als wäre sie in meinen Kopf gekrochen und
hätte meine Gedanken gelesen.
»Und ich hab noch nie mit meiner Verlobten Sex gehabt.«
Sie lässt ihre Hände langsam meinen Nacken hinuntergleiten und streicht
über meinen Oberkörper, bis ihre Finger am Knopf meiner Jeans
angekommen sind.
»Dann sollten wir das schleunigst nachholen«, sagt sie heiser und beendet
ihren Satz mit einem Kuss.
Und als sie ihre Lippen auf meine legt, fühlt sich das an, als würde der
letzte eisige Rest des Gletschers, der mein Herz ummantelt hat, in der Hitze
ihres Kusses schmelzen und verdampfen.
Wer auch immer sich den Ausdruck »Ich liebe dich zu Tode« ausgedacht
hat, hat offensichtlich nie die Art von Liebe kennengelernt, die Tate und
mich verbindet. Sonst hätte er gewusst, dass es in Wirklichkeit »Ich liebe
dich ins Leben« heißen muss. Denn genau das ist es, was Tate getan hat –
sie hat mich zurück ins Leben geliebt.
Epilog
Colleen Hoover stand mit ihrem Debüt ›Weil ich Layken liebe‹, das sie
zunächst als eBook veröffentlichte, sofort auf der Bestsellerliste der New
York Times. Mittlerweile hat sie auch in Deutschland die SPIEGEL-
Bestsellerliste erobert. Mit ihren zahlreichen Romanen, die alle zu
internationalen Megasellern wurden, verfügt Colleen Hoover weltweit über
eine riesengroße Fangemeinde. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei
Söhnen in Texas.
Katarina Ganslandt wurde 1966 geboren, lebt mit ihrem Freund Sascha und
Hund Elmo in Berlin und sammelt am liebsten alle möglichen Arten von
nützlichem und unnützem Wissen an, wenn sie nicht gerade Bücher aus
dem Englischen übersetzt. Mittlerweile sind über hundert Titel
zusammengekommen.
Als Tate zum Studium nach San Francisco zieht, stolpert sie dort gleich am
ersten Abend über Miles Archer: Miles, der Freund ihres Bruders, der
niemals lächelt, meistens schweigt und so attraktiv ist, dass Tate bei seinem
Anblick Herzflattern und weiche Knie bekommt. Miles, der seit sechs
Jahren keine Frau mehr geküsst hat und offensichtlich eine schwere Bürde
mit sich herumträgt, die ihn bis heute unfähig macht, sich auf eine
Beziehung einzulassen. Miles, von dem Tate sich besser fernhalten sollte,
wenn ihr ihr Gefühlsleben lieb ist.
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